Alfred Bellebaum . Robert Hettlage (Hrsg.) Glück hat viele Gesichter
Alfred Bellebaum Robert Hettlage (Hrsg.)
Glück ...
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Alfred Bellebaum . Robert Hettlage (Hrsg.) Glück hat viele Gesichter
Alfred Bellebaum Robert Hettlage (Hrsg.)
Glück hat viele Gesichter Annäherungen an eine gekonnte Lebensführung
I
VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Engelhardt / eori Mackrodt VS verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg umschlagbild: "Einer der seiner wege geht." Hans Dieter Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17517-1
Inhalt
Grundlegung Das Prinzip "Glück" Robert Hettlage
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Glücksforschung Glück. Erscheinungsvielfalt und Bedeutungsreichtum Alfred Bellebaum
31
Die Glücksforschung kommt voran Alfred Bellebaum
57
Kulturen und Traditionen Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glücksbegriff Malte Hossen/elder Die Angst vor dem Glück. Anthropologische Motive KarI-Siegbert Rehberg Contemplativus in actione. Glücksvorstellungen im Kulturvergleich Thomas Bargatzky
75 93 113
Haltungen und Maßstäbe Der ideale Körper. Gesundheit, Jugendlichkeit, Schlankheit und kulturelle Werte Alfred Bellebaum
127
6
Generalisierter oder konkreter Anderer? Gertrud Nunner- Winkler Selbstdisziplin: Begründungen, Normen und Praktiken asketischer Lebensweisen Robert Hettlage Maßhalten - Pädagogische Ansichten über eine traditionsreiche Tugend Erwin Hufnagel
Inhalt
153
173 203
Lebensgrundlagen und Erwartungen Historische Lehren für eine ökologische Glücksökonomie Herbert Schaaff Ein glückliches Leben statt immer mehr materiellen Wohlstand. Konsequenzen der Glücksforschung für die Ökonomie Mathias Binswanger Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild in der Postmoderne Manfred Prisching
245
275 293
Verheißungen und Visionen Das Glück und die Schatten der Vergänglichkeit. Religiösphilosophische Konzeptualisierungen von Glück im alten Indien Heinrich von Stietencron Heilsverkündigung und Heilserwartungen im Neuen Testament Alfons Weiser Die Erleuchteten sind unter uns. Spiritualität als moderner Weg zum Glück? Gerhard Schmied
335 353
371
Erlebnisse und Gefühle Lesen als Überlebensmittel Aleida Assmann
389
Inhalt
7
Das Glück des Gourmets Alois Hahn
407
Vermittelte Unmittelbarkeit. Das Glück der ästhetischen Erfahrung Hans-Georg Soeffner
427
Forschungsmethoden
Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen Hans Braun
449
Autorenverzeichnis
463
Grundlegung
Das Prinzip "Glück" Robert Hettlage
Um glücklich zu sein, muss man schon eine Menge Glück haben. Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass das Glück einen überrascht wie ein Lottogewinn. Der Einsatz ist oft relativ gering, das Ergebnis lässt auf sich warten, aber man darf die Hoffnung nie aufgeben. Ob der Glücksfall dann auch wirklich eintrifft, wissen wir nicht. Erzwingen können wir ihn jedenfalls nicht. Ob wir dann richtig glücklich werden, wissen wir auch nicht. Wir sind aber guten Mutes, dass uns dann, wenn uns keiner mehr in der Sonne stünde, dazu schon etwas Zufriedenstellendes einfallen würde. Etwas erfahrungsgesättigter ist die Überzeugung der meisten Menschen, dass man mit einem dauerhaften Glück in diesem Leben wohl nicht zu rechnen hat. Manche halten es - wie die sauren Trauben - gar nicht für erstrebenswert, weil ihnen das Leben dann eintönig vorkäme. Aber die meisten würden dieses Risiko gern auf sich nehmen, wenn das "Schweineglück" in Form von Geld, Erfolg, Macht oder sonstiger Güter bei ihnen vorbeischauen würde. Die tiefere Frage ist allerdings, ob man Anstrengungen unternehmen kann, um glücklich zu sein und nicht nur Glück zu haben, ja ob man sogar glücklich sein kann auch ohne Glück zu haben (Marie von Ebner-Eschenbach). Dafür müsste man aber schon genauer wissen, was das Glück eigentlich ist, wie man es erlangt, wie man es bewahrt und an welche subjektiven und sozialen Vorbedingungen und Anforderungen es geknüpft ist. Daraus wird ersichtlich, dass Glück wohl auch etwas mit Erwartungen und Mentalitäten, mehr noch mit Lebensplanung und Lebensführung zu tun hat. Jedenfalls ist das Bekommen und Haben weniger sicher als das beharrliche Handeln (Aristoteies EN I, 10) . Je nachdem, wie man sein Leben in die Hand nimmt, wachsen die Chancen, etwas Vernünftiges oder wenigstens Tragfähiges daraus zu machen. So gesehen wäre Glück eine Art rechtzeitige, oder vielleicht lebenslange Vorbereitung auf Gelegenheitsstrukturen oder - wie Novalis es zuspitzte - "Talent für das Schicksal". Das ist eine seit Jahrhunderten genährte Auffassung, in der die Philosophen und Theologen mit dem Alltagsverstand vieler Menschen übereinstimmen. Was es mit diesem "Gold der Seele" (Plato) auf sich hat, soll im Folgenden in groben Strichen umrissen werden.
Robert Hettlage
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1. Glück als Prinzip? Die Formulierung "Glück als Prinzip" lässt den erfahrenen Leser an die bekannten Bücher von Ernst Bloch (Das Prinzip Hoffnung, 1973) und Hans Jonas (Das Prinzip Verantwortung, 1984) denken, die sich ebenfalls auf sehr grundsätzliche Fragen des menschlichen Lebens richten. Beide sagen aber nichts darüber, was es mit dem Terminus" Prinzip" auf sich hat. Unter Prinzip wurde von der antiken bis zur neuzeitlichen Philosophie ein Ausgangs- oder Endpunkt bzw. eine Grundlage (arche) verstanden von dem anderes in seiner Entwicklung oder Zielrichtung abhängt und ursächlich beeinflusst wird. Dabei werden verschiedenen Ebenen unterschieden (vgl. Ros 1989: 173 ff.): •
Seins- und Erkenntnisprinzipien: was seinsmäßigen Vorrang hat, kann im Erkennen durchaus "später" erfolgen, da jede Erkenntnis sich zunächst einmal der Sinne bedienen muss (Aristote1es);
•
Logische Prinzipien (Axiome), von denen Schlussfolgerungen ihren Ausgang nehmen;
•
Wert- und Handlungsprinzipien: Erstere leiten die praktische Vernunft in Fragen des Sollens (z.B. die Goldene Regel) an, letztere berücksichtigen bei der Umsetzung der Wertprinzipien im Alltag, dass der zu erreichende Zweck einen beträchtlichen Tribut an die historisch-soziale Verankerung der Menschen zu zahlen hat.
Diese Unterscheidung ist für die Glücksthematik bedeutsam. Ob Glück ein Wertoder Handlungsprinzip ist, lässt sich von verschiedenen Seiten her durchdenken. Als Wertprinzip ist das Glück traditionellerweise Gegenstand der Glücksphilosophie. Sie befasst sich seit der Antike damit, was es inhaltlich bedeutet, wenn Menschen ihr Leben auf das Glück als hohes Gut und als verpflichtende Norm ausrichten. Das ruft nach einer Seinsbestimmung des Menschen. Philosophen, sofern sie sich noch als Metaphysiker verstanden, hatten im Gegensatz zu den Sprachanalytikern und den empirisch verfahrenden Sozialwissenschaftlern bemerkenswert wenig Probleme damit festzulegen, was das "Menschsein" seinem Wesen nach ausmacht. Meist bediente man sich der platonisch-aristotelischen Vorarbeiten, wonach Menschen vernunftbegabte, geistige, freie und reflexionsbeflihigte Wesen seien, deren höchstes Glück (eudaimonia) es sein müsse, dieser Wesensbestimmung zu seiner höchsten Erfüllung zu verhelfen. Glücklich kann der Mensch nur sein, wenn er sein Leben so durchgängig als " animal rationale" führen könne, dass er aus diesem Programm nicht mehr herausfallen kann, wenn also Seins- und Erkenntnisprinzip zusammenfallen. Das ist in diesem Leben nicht oder nur annäherungsweise zu erreichen. Theoretisch ist es aber der Fall, wenn man - mit Begrif-
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fen der platonischen Tradition gesprochen - zur Anschauung der höchsten Ideen des Wahren, Schönen und Guten gelangt. Sie sind ontologisch so vereinnahmend, dass man sich von dieser beseligenden "Schau" (visio beatifica) schlechterdings nicht mehr entfernen kann. Der Aufstieg in diese Sphäre des Seins und Erkennens gelingt den "Sterblichen" aber nur unter großen Mühen und dann nur schrittweise. In der christlichen Tradition wurden Platon und Aristoteles religiös umgedeutet. Der Aufstieg zur Seligkeit (des Paradieses) liegt, was die Zielordnung anbelangt, in der dem Menschen geoffenbarten Möglichkeit, Gott nahe zu kommen, sich als homo novus mit ihm zu vereinigen. Das ist die vollkommenste Seinsweise des Menschen. Sie zu erreichen ist voraussetzungsreich. Denn einerseits müssen die Menschen sich in ihrem Alltag Gott unterstellen. Sie müssen sich bemühen, ein Gott gefälliges, tugendhaftes Leben zu führen, also die Gesetze Gottes (z.B. die 10 Gebote) zu beachten. Das ist durchaus mit Härten gegen sich selbst und seine Leidenschaften oder Impulse verbunden und kann oberflächlichen Zufriedenheitsvorstellungen diametral entgegenstehen. Auf der anderen Seite bedarf die "schwache Kreatur" des ständigen göttlichen Entgegenkommens (d.h. seiner Gnade). Wie die Gnade und die "Werke" ins Verhältnis zu setzen sind, hat den christlichen Konfessionsstreit seit 1517 zu weiten Teilen beherrscht. Andere Weltreligionen kennen ähnliche Konzepte vom menschlichen Aufstieg zur höchsten Vollkommenheit des Seins und der Erkenntnis, auch wenn sie einen jeweils anderen Gottesbegriffhaben und sich auf andere Heilige Schriften beziehen. Für die von christlichen Glaubensvorstellungen inspirierte Sozialethik (vgl. Utz 1958, Messner 1966) stellte sich das Problem, wie ein solches verpflichtendes Streben nach Glückseligkeit in der Gesellschaft auf "menschliche" Weise zu organisieren sei. Wertprinzipien müssen als Verhaltensregelungen konkretisiert werden. Denn jenseits aller abstrakten Betrachtung über den Menschen und das Glück als solche ist ja davon auszugehen, dass die konkreten Menschen mit ihren jeweils gegebenen Verhältnissen zielführend umgehen müssen - auch wenn sie im Prinzip nach dem großen Glück streben. Menschen sind eben unterschiedlich begabt, trainiert oder willens, sich auf den voraussetzungsreichen Weg zur beatitudo zu machen, nicht zu reden von den differenzierten sozialen Voraussetzungen wie Status, Macht, Reichtum, die die Spannweite der Lebenschancen beträchtlich beeinflussen. Einige sind gut ausgestattet mit "Dienstgütern", die das Streben nach Glück erleichtern, andere hingegen sind "minder bemittelt". Einige sind asketische Naturen, die sich über materielle Voraussetzungen erheben können, andere können der rigiden Selbstbegrenzung wenig abgewinnen; einige lieben die abstrakte Sphäre der Wesensbetrachtung, anderen bleibt sie gänzlich fremd. Hier liegen jeweils harte Grenzen der Beeinflussung und der Kurskorrektur. Außer-
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dem widerspricht es unserem Verständnis von menschlichem Leben, sollten wir von irgendeiner Instanz zum Glück gezwungen werden. Ein solcher Versuch der "Zwangsbeglückung" gebiert in der Regel Ungeheuerliches (was nicht besagt, dass gerade dies in der Geschichte utopischer Lebensentwürfe, religiöser Unterwerfungen oder sich areligiös gebender Diktaturen nicht immer wieder versucht wurde). Deswegen hat es in der Sozialethik eine gewisse Tradition, zwischen der Ebene der Wertprinzipien und der Handlungsebene (Handlungsprinzipien) zu unterscheiden. Beide müssen in Einklang gebracht werden. Die allgemeine Wertverpflichtung (z.B. der kategorische Imperativ, dass das Gute zu tun ist), darf nicht an der Komplexität sozialer Situationen scheitern und sich in Be1iebigkeit auflösen. Umgekehrt darfdas freie Handeln nicht überspielt werden, so dass das Risiko der Wertverfehlung nolens volens in Kauf genommen werden muss. Man kommt einfach nicht darum hemm, dass die Individuen selbst - trotz aller Erziehung für ihren jeweiligen Lebensentwurf gerade stehen müssen. Sie müssen ihren Alltag handelnd bewältigen, und das heißt auch: ihre Perspektive gesellschaftlich aushandeln. Also müssen sie auch ihre "Fal;:on", ihrem Weg zum Glück finden, ohne auf Orientierungsmaßtäbe gänzlich verzichten zu können. Das stellt heute ein großes Problem des sich nunmehr gänzlich wertfrei gebenden gesellschaftlichen Diskurses dar. Glück als "Handlungsprinzip" heißt in dieser Denktradition, dass der sicherste Weg zur menschlichen Anstrengung auf dem Weg zur Glückseligkeit in einer gewissen Doppelspurigkeit besteht: Die Energien, die die Menschen dafür einsetzen, um "ihr Glück" in diesem Leben zu finden, müssen so gebündelt werden, dass sie die Wertprinzipien nicht verraten. Das ist der Doppelnatur des Menschen als impulsiv-reflexives, individuell-soziales, körperlich-geistiges, selbstgesteuertesfremdgeleitetes, selbst- und fremdbezogenes Wesen geschuldet. Der Weg über die individuelle, freie Bestimmung der jeweiligen Glücks ist deswegen eine Art "produktiver Umweg" zum allgemeinen, menschlichen Glück der Seele. In der modemen europäischen Kulturgeschichte ist diese Perspektive weitgehend systemfremd geworden. Denn die religiöse Einbindung der Weltanschauung hat stark an Zustimmung eingebüßt. Im "nachmetaphysischen" Zeitalter schrumpft die inhaltlich-materiale Rationalität (des Glücks) zur formalen "insofern, als die Vernünftigkeit der Inhalte zur Gültigkeit der Resultate verflüchtigt. Diese hängt von der Vernünftigkeit der Prozeduren ab, nach denen man Probleme zu lösen versucht" (Habermas 1989:42). Rechtssystem, wissenschaftliche Diskursgemeinschaft und demokratische Ordnung sind die einzigen Garantien der Vernunft. "Als vernünftig gilt nicht länger die in der Welt angetroffene oder die vom Subjekt entworfene bzw. aus dem Bildungsprozess des Geistes erwachsene Ordnung der Dinge, son-
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dem die Problemlösung, die uns im verfahrensgerechten Umgang mit der Realität gelingt. Die Verfahrensrationalität kann eine vorgängige Einheit in der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen nicht mehr garantieren" (ebd. 42 f.). Die traditionale Verklammerung zwischen Diesseits und Jenseits ist gelöst. Für die moderne Wissenschaft war "Gott" anfangs noch eine mögliche Hypothese, später nur noch eine Leerstelle. Seither versucht das Erkenntnisprogramm gänzlich ohne den Verweis auf eine transzendente Sphäre auszukommen. Für die Behandlung der Glücksthematik zeitigt das weitreichende Folgen. Denn von nun an kann Glück nur noch immanent bestimmt werden. Es wird nicht mehr durch den Verweis auf eine transzendente Vollkommenheit und durch "seinsgerechte" (Hyper-)Güter beschrieben, von denen das diesseitige Leben seinen Maßtab erhält. Glücksgüter sind jetzt solche, auf die sich Menschen in der ganzen Mannigfaltigkeit ihres Strebens und Sehnens ausrichten, welche dies in concreto immer seien. Die Soziologie bringt das auf die Formel: Glück ist das, was die Menschen im sozialen Austausch als solches definieren. Und da es keine verpflichtenden Wertprinzipien mehr gibt, die den vemunftgeleiteten Willen steuern könnten (zumal sie als unerkennbar oder als sozial irrelevant gelten), bleibt kein anderes Verfahren mehr als die individuelle Sinnsuche zum einzigem Handlungsrnasstab für das Glück zu erklären. Bezeichnend dafür sind die Arbeiten zur Glückssoziologie und -psychologie. Der letzte Bezugspunkt der Sinnhaftigkeit allen Tuns muss im Individuum und seinen Impulsen und Empfindungen liegen. Glück ist das, was Menschen im sozialen Verkehr durchsetzen und was sie als Glücksempfinden dabei registrieren (Zufriedenheit). Eine andere systematische Verortung gibt es nicht mehr. Wer mehr will, kann das natürlich suchen, aber sein Denken und Tun bleibt hermetisch auf die private Entscheidung innerhalb eines sozialen Kontextes fixiert. Wer sein Glück beim Lesen, Essen, Wandern, Briefmarkensammeln oder in Sexualerfolgen sucht, bitte schön. Andere finden ihre Zufriedenheit im Freizeitsport, beim Fernsehen, in Ayurveda-Sitzungen, beim Bungee-Jumping, beim Heimwerken oder bei SMSpielen. ,,Anything goes", sofern es auf das Einverständnis anderer triffi: oder diese wenigstens nicht belästigt oder beeinträchtigt. An diesen kulturellen Variationen ist die Soziologie vor allem interessiert. Happiness ist alles, was gesteigerte Lebensintensität verspricht und Energieüberschuss (Flow) erzeugt. Korrekturen gibt es nur durch Enttäuschung oder Unvermögen, Langeweile oder Erschöpfung. Verpflichtende Bestimmungen des allgemein-menschlichen Glücks werden - individuell und kollektiv - nicht mehr gesucht. Jeder gestaltet seine Lebensorientierung auf eigenes Risiko. Wenn er es nicht "richtig" angestellt hat, hat er sein (einziges) Leben eben verwirtschaftet.
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"Jeder ist seines Glückes oder Unglückes Schmied". Das scheint uns subjektiv kaum in Frage zu stehen, auch wenn es sich bei genauerem Hinsehen als illusionär erweist. Angesichts so harter Tatsachen wie der unumgänglichen sozialen Einbettung, aber auch der unverschuldeten Katastrophen, des Elends oder Unglücks, der biologischen Grenzen des Alters oder der Krankheit scheint ein solches Prinzip doch etwas kurzschlüssig zu sein. Jedenfalls löst die ungemütliche Tatsache der Selbstverantwortung, die nur auf dem Boden einschränkender Lebensbedingungen zu denken ist, ihre eigenen, auch für die modeme Welt typischen Fragen aus: 1.
2.
3.
Da wir angeblich nur dieses eine hiesige Leben haben, kommt es schon auf die richtige Strategie und den geordneten Einsatz der Kräfte an. Es "muss" doch gelingen, glücklich zu werden. Wenn einzelne Glücksgüter "das" Glück nicht herbeischaffen, dann muss eben noch intensiver nach dem "großen Glück" gesucht werden. Vielleicht ist es doch der große Lottogewinn ("el gordo" wie die Spanier sagen). Er könnte alles auf einen Schlag möglich machen und eine Art von Seligkeit herbeiführen - wohl wissend oder halb wissend, dass dem nicht so sein wird: weder was den Gewinn selbst, noch was die Sinnerfüllung des Lebens angelangt. Denn ein objektives Kriterium fehlt; bleibt nur der individuelle Beweggrund, glücklicher zu werden. Die Ambivalenz der Gefühle bringt es mit sich, dass alles auf seine Beglükkungsqualität hin überprüft werden muss. Daher setzt in der Modeme ein hastendes, immer hektischeres Suchen nach Vergnügungen und Befriedigungen ein, die zwar nicht das Glück selbst, aber doch eines seiner Elemente sind. Das Unglückliche dabei ist nur, dass Wiederholungen nicht zur Zielerreichung führen. "In dem Maß, wie wir uns an ein bestimmtes Glück gewöhnen, flieht es uns, und wir müssen aufs neue versuchen, es wieder zu finden. Wir müssen das Vergnügen, das verlöscht, mit Hilfe stärkerer Reize aufs neue entfachen, d.h. die Reize, über die wir verfügen, vervielfältigen und sie intensivieren" (Durkheim 1977: 292). So jagen sich Trends, Moden, Gelegenheiten, Stile und Selbstdarstellungen, die für das modeme Leben typisch sind. Denn es muss sich, seiner inneren Konstitution nach, ständig nach Neuem sehnen. Diese Hektik bringt neue Arbeit, Hektik, Stress, Erschöpfung und Unlust hervor, die wiederum bekämpft werden müssen, um endlich zum ,,reinen" Glück zu führen. Ist dieser soziale Motor einmal angesprungen, so kann er nur schwer gestoppt werden. Denn nichts, was in "diesem" Leben existiert, befriedigt auf Dauer. Das Glücksbedürfnis ist dafür zu diffus. "Es schließt uns an nichts Präzisem an, da es ein Bedürfnis nach etwas ist, das nicht ist. Es ist also nur zur Hälfte konstituiert, denn ein vollständiges Bedürfnis fordert zweierlei:
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eine Willensanstrengung und ein bestimmtes Objekt. Da das Objekt nicht von außen kommt, kann es keine andere Wirklichkeit haben als die Wirklichkeit, die wir ihm geben. Dieser Prozess ... führt uns nicht aus uns hinaus. Es ist nur eine innere Bewegung, die einen Weg nach außen sucht, ihn aber noch nicht gefunden hat" (Durkheim 1977: 295). Das Leben ist immer zu kurz, so dass wir den Drang haben, möglichst alles in diese kurze Spanne hineinpressen zu müssen. Wer weiß, wie lange wir noch Sport treiben, leckere Dinge essen und interessante Reisen unternehmen können? Bevor das Leben vergeht, enden schon viele Möglichkeiten, sich zu vergnügen und "flow" zu erleben. Aber es ist immer noch unser Leben, das mit Anstand oder Grandezza gelebt sein will. Gibt es da kein Glück mehr? Das ,,kleine Glück kann jeder" (K.Tucholsky) - aber das große am Gesamterfolg gemessene Lebensglück? So bleibt doch die Frage bestehen, was das Glück sei, wenn man es auf ein ganzes Leben hin auslegt und man ihm wenigstens im Rückblick, eine weniger flatterhafte Note verleihen will.
2. Glück und Lebensführung Auf den ersten Blick erscheint es uns einleuchtend, dass "alle" Menschen irgendwie glücklich sein wollen und nach dem Glück suchen, auch wenn das nicht oder nicht dauerhaft gelingt. Die empirisch verfahrenden modemen Wissenschaften sind jedoch gegenüber sogenannten ,,Allaussagen" skeptisch eingestellt.
2.1 Anthropologische Konstanten? Das heutige Wissenschaftsverständnis ist anti-essentialistisch geprägt. Fragen nach dem Wesen der Dinge entfallen. Deswegen gehen sie auch gegenüber angeblichen "anthropologischen Konstanten" aufDistanz. Erkenntnistheoretisch und verfahrenstechnisch gesehen sind totale Induktionen zur Überprüfung von Allaussagen bzw. Totalerhebungen die ganze Menschheit betreffend gar nicht möglich (vgl. Popper 1969). Denn es kann immer eine Abweichung vom Trend vorkommen. Auf das Glücksthema bezogen besagt das, dass es vielleicht irgendwo auf der Welt Menschen gibt, die vom Glück nicht fasziniert sind, sondern vom Unglück. Theoretisch vorstellbar ist, dass einige Vertreter dieser Spezies in erster Linie nicht nur vom Unglück verfolgt sind, sondern dieses sogar suchen. Sie sind vom Selbst- und Fremdhass zerfressen. Sie frönen der Missgunst, der Melancholie und dem Missvergnügen an der Welt. Sie können sich weder an sich noch an anderen, weder an der Welt, wie sie ist, noch wie sie sein könnte, erfreuen. Von Natur aus sind sie
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skeptisch, depressiv, missmutig oder pessimistisch gestimmt. Dass Menschen sozial inkompetent, handlungsgestört und wenig glücksfähig sind, kommt wohl auch praktisch nicht allzu selten vor. Destruktive Tendenzen kann jeder an sich wahrnehmen. "Unglückliche" Verhaltenstypen sind seit Jahrhunderten in der Geistesund Kulturgeschichte bekannt. Dennoch ist "absoluter" Selbsthass nicht lebbar. Er muss in Selbstzerstörung enden. "Reiner" Pessimismus ist kein Programm, das sich leicht durchhalten lässt. Vielfach ist es wohl so, wie uns die Psychiatrie und Psychoanalyse lehren, dass auch in selbstzerstörerischen Handlungsweisen noch versteckte, verschüttete, möglicherweise vor-bewusste Glücks- und Zufriedenheitsbestrebungen zum Tragen kommen - und seien es solche, die darin bestehen, sich und anderen nach Möglichkeit ein Bein stellen zu wollen. Haben die Menschen damit Erfolg, sind sie für den Moment zufrieden. Ganz ohne Beglückung im Unglück kommen auch sie nicht aus. Je länger und tiefer sie sich analytisch auf sich selbst einlassen und sich ihrer selbst bewusst werden, desto weniger müssen sie ihren Selbstund Fremdschädigungszwängen gehorchen und können sich mit ihrem Bild und seinen Unzulänglichkeiten, Ängsten und Begrenzungen befreunden, also glücksfähiger werden. Wie überall ist es die Mischung verschiedener Elemente, die den Unterschied der jeweiligen Realitäten ausmacht und die im modemen Sinn wissenschaftlich "interessant" sind. Folglich macht es wenig Sinn, von einem seelischen und sozialen Tendenzmonismus auszugehen. Da ist die Maxime realitätsnäher, dass wir es im Allgemeinen mit Menschen zu tun haben, die in ihrem Leben auf irgendeine Weise ihr Glück suchen. Zumindest ist das eine höchst plausible und empirisch bestens belegte Hypothese, die sogar im Kulturvergleich Bestand hat. Die Glücksgüter mögen verschieden sein, die Glückssuche als soziale Tatsache nicht. Die Frage ist nur, ob man dabei ein zeitlich begrenztes Gut, eine daraufbezogene Zufriedenheit oder eine das ganze Leben übergreifende Perspektive im Auge hat. Max Weber hat die Prägekraft von (letzten) Überzeugungen für den Lebensentwurf einzelner oder vieler mit dem Terminus "Lebensführung" bezeichnet (1980:320 ff.; 1988,1: 2 ff.).
2.2 Lebensführung Nach Weber "führt" jemand sein praktisches Leben, wenn er es zielbewusst, systematisch planend nach einem einheitlichen Regelwerk gestaltet. Er stellt sein Leben unter ein Prinzip. Lebensführung meint darüber hinaus eine prinzipielle, meist gruppenspezifische Haltung, einen Habitus, der nicht nur das Denken und Handeln der betreffenden Gruppe beeinflusst, sondern oft auch zum Leitmotiv des Handeins anderer Nachahmer-Gruppen wird und somit eine ganze Gesellschaft prägt. Dabei
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wird im Rück- und Vorausblick - und unter den kritischen Augen der Vor-, Mitund Nachwelt - das ganze Leben der Akteure auf den Prüfstand einer gelungenen Sinnorientierung gestellt. Wer als Gruppenmitglied dem etablierten Muster nicht oder (als Aufsteiger) noch nicht entspricht, wird als nicht normal abqualifiziert. Er führt eine unglückliche Existenz, die zum Rückzug zwingt und /oder neue Energien freisetzt. Lebensführung ist oft von religiösem Vorwissen geprägt. Sie kann beispielsweise mehr weitabgewandt, asketisch und passiv, oder mehr weltzugewandt, hedonistisch und aktiv geformt sein. So folgt die feudale "Herren"-Existenz dem Prinzip der ritterlichen Standesehre, deren Normkomplex allzeit eingeübt und verteidigt werden muss. Als steuerndes Denk-, Gefühls- und Handlungsschema wird dies über die höfische Gesellschaft auch für das aufstrebende Bürgertum relevant. Die Lebensführung der mönchischen Gemeinschaft stand unter dem Prinzip der bis in den Stundentakt hinein geregelten, systematischen Vorbereitung aufdie von der Erlösungshoffnung getragene Gemeinschaft mit Gott. Die Distanz zur Welt nahm Vorbildcharakter an und hat das Gemeindeleben der "minderwertigen" Laien in vielfältiger Weise zur Nachahmung angeregt. Die Lebensführung des chinesischen Beamtenstaats basiert auf der Hochschätzung von Ausbildung und wissensbasiertem Einfluss. Dafür wurden lange, komplizierte Ausbildungs- und Auswahlverfahren in Kauf genommen, als deren Kompensation der hohe gesellschaftliche Status der literarisch geschulten, weltlich-rationalistischen Bildungsschicht galt. ,,Die religiöse ... Standesethik dieser Schicht hat die chinesische Lebensführung weit über jene selbst hinaus bestimmt." Denn andere Schichten strebten dem Bildungsideal nach und richteten das Leben ihrer Nachkommen darauf aus. Für das implizite Sinn- und Glücksversprechen waren die Eltern bereit, hohe Entbehrungen auf sich zu nehmen. Die modeme, methodisch-rationale Lebensführung des Kapitalismus setzt implizit auf das allgemeine ,,Priestertum der Gläubigen". Sie folgt damit in den Grundzügen dem "protestantischenArbeitsethos", wonach Arbeit, Beruf, Rechenhaftigkeit, Zeitkontrolle, Selbstdisziplin und Verlässlichkeit zum "Gottesdienst" werden. Wer "immer strebend sich bemüht" und sein Leben unter das Prinzip asketischer Selbstkontrolle stellt, verrät es nicht an niedere Leidenschaften und darf sich der Erlösung, also des rechten Wegs zur ewigen Glückseligkeit einigermaßen sicher sein. Zwar verblasst in der Hochblüte der Wirtschaftsentwicklung diese religiöse Komponente der Lebensplanung. Aber auch wenn der alte "Geist" aus dem Gehäuse des Lebens entwichen ist, bleibt die Form der Lebensführung bis heute nicht nur für die Gottsucher, sondern auch für die breiten Schichten selbst bis in manche Formen leistungsorientierter Freizeitbeschäftigung hineinbestimmend. Allerdings hat sich damit auch die Definition von Lebensführung
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und Lebensglück verschoben. Die Lebensplanung steht heute überwiegend auf zwei Säulen: Einerseits beruht sie auf einem harten Arbeitsregime, in dem Rechnen um des Rechnens willen, Gewinn als Selbstzweck gilt. Auf der anderen Seite bedarf es als Spannungsausgleich der punktuellen Glücksbeschaffung, die der diversifizierten, auf Entspannung, Enthemmung und Emotion getrimmten Freizeitkultur aufgebürdet wird.
2.3 Lebensführung und Lebensglück Die Lebensführung des bildungsbürgerlichen "Kulturmenschen" ist heute laut Weber eine gebrochene. Sicher schätzt er Bildung und Wissen hoch und verachtet alles Triviale und Kurzatmige, aber auch er kann dem dominanten Zeitgeist nicht entrinnen, dem die Tiefe der Weltdeutung oder gar der Kampf um den richtigen Begriff des Glücks abhanden gekommen ist. Als Kulturmensch darf er zwar nicht aufgeben, aber er :führt einen tragischen Abwehrkampf, den er vielleicht persönlich, aber nicht mehr für "die Welt" gewinnen kann. Ja, selbst persönlich kann er die alten Orientierungssicherheiten nicht mehr zurückholen. Im nachmetaphysischen Zeitalter bleibt er als Zweifler "unerlöst" und muss in einem heroischen "dennoch" den Sinnverlust aushalten. Einen Weg zurück gäbe es nur zu einem hohen Preis, nämlich zum "Opfer des Intellekts". "Bewusstlos" kann er nicht werden, orientierungslos muss er bleiben. Die Einheit von Lebensführung und Lebensglück ist unwiederbringlich zerbrochen. Seine Elemente gleichen einem Puzzle, das man nicht mehr zu einem Ganzen zusammensetzen kann. Überall herrscht die gleiche Unruhe bei der Glückssuche. Da ein verbindliches nachahmenswertes Muster der Lebenskunst nicht mehr aufzufinden ist, kommt es zu einer immer markanteren Aufsplitterung der Lebensstile in (bürgerliche) Hochkultur, Spannungs-, Trivial-, Milieu-, Themen-, Jugend- und Vergnügungskulturen (vgl. Sinus-Studie), die sich zwar nur auf Teilaspekte des Lebens konzentrieren, aber dafür doch eine Gesamtperspektive beanspruchen. Mehr kann man angesichts der Fragmentierung und De-Institutionalisierung des Lebens offenbar nicht wollen, auch wenn diffus im Bewusstsein zurückbleibt, dass das nicht die ganze Wahrheit über ein "gekonntes Leben" sein kann. Aber es gibt eben keine vertrauenswürdigen Institutionen mehr, die Führungsaufgaben bei der Lebensführung übernehmen könnten. Gäbe es sie - und manche beanspruchen sie noch- dann würden sie - als der modemen Leitidee der autonomen Lebensgestaltung widersprechend - rundweg abgelehnt werden. Privatheit gilt als Bedingung und Axiom der Modeme. Sie beinhaltet einen "Kampf gegen das Prinzipielle" (Fisch 1999). Jeder macht "sein eigenes Ding" und muss auch jenseits der religiösen Konnotation nach seiner F~on selig werden. Er muss seinen individuell passenden Weg
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finden. Das Handlungsprinzip der Selbststeuerung hat sich dabei der Orientierung an übergreifenden Wertprinzipien entledigt. Die ethische Innenleitung ist der sozialenAußenleitung gewichen (Riesman 1950). Das muss zur Krise der Philosophie des "großen" Glücks führen. Denn - wie Berger es für die religiöse Sinnsuche beschrieben hat- sieht man keine Notwendigkeit mehr, sich in den festen Rahmen einer Interpretationsgemeinschaft einzufügen. Diese Ligaturen sind nicht mehr plausibel. An eine umgreifende Lebensführung werden keine Ansprüche mehr gestellt. Man kann die tiefgründigen ("großen"), an die Seins-Vollkommenheit zielenden Fragen getrost offen lassen und sich statt dessen auf die ephemeren "events" und Moden konzentrieren. Auf dem Supermarkt der Ideen und Stile sucht man das, was momentan passt, was "fun" verspricht oder gerade jetzt "in" ist. Da bleibt nichts anderes als dort nach dem schnellen Glück zu haschen, wo es gerade aufzublitzen scheint. "Glück" ist schon das, was nicht gerade unglücklich macht und wenigstens momentane Zufriedenheit gewährt. Ob sich später Reue, Ekel, Langweile und Leere einstellen, wird wenig problematisiert. Man wird im Fall der Enttäuschung schon wieder etwas Neues ausprobieren. Denkerisch die Folgen für den Lebensentwurf an sich zu antizipieren, erscheint angesichts der kurzatmigen Bastelmentalität unangebracht zu sein. Wohl ist man in eine bestimmte Perspektive mit ihrer eigenen sozialen Schwerkraft hineingeboren, aber es ist ein glücklicher Umstand der Moderne, dass man sie wenigstens tentativ und punktuell verlassen kann. Eine geglückte Perspektive ist weniger inhaltlich als prozedural bestimmt. Denn es scheint doch ein Glück zu sein, dass man sich autonom fühlen darf und dass man sich für dieses oder jenes, vermeintliche oder reale Glücksgut entscheiden kann. Die neuen Belastungen, die die permanenten Entscheidungszwänge mit sich bringen (vgl. Gross 1994), werden vorerst heruntergespielt. Man fühlt sich zunächst als "Lebenskünstler" (Bauman 2010), der sein Leben selbst in die Hand nehmen kann. Diese Tatsache ist aber nur dann eine Gewähr von Glück, wenn dahinter auch wertvolle, sich selbst tragende Glücksguter in den Blick geraten. Andernfalls verblasst die Zufriedenheit zu "good vibrations", die durch immer neue Optionen und den dazu gehörigen Entscheidungsstress abgelöst werden. Auch daran mag man erkennen, dass der Blick auf die Lebensführung als Ganzes nicht ständig eingeklammert werden kann. Zufriedenheit, die nicht als Strohfeuer verpuffi, muss am dauerhaft "gekonnten" Leben Maß nehmen. Kenner- und Könnerschaft sind nicht nur verfahrensmäßig zu bestimmen. Sie bedürfen der tragenden Inhalte. Insofern knüpft die moderne Glücksthematik ungewollt doch wieder vorsichtig an die traditionelle Glücksphilosophie an, die von jenen Glücksgütern und Verhaltensweisen ausging, die "dem" Menschen an sich gut tun. Die moderne Glückssoziologie
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verfährt so nicht mehr. Jedoch sucht auch sie nach empirisch greifbaren Maßstäben für ein glückendes Leben. Andernfalls könnte sie lediglich registrieren, was Menschen zu verschieden Zeiten, an verschiedenen Orten, in verschiedenen Kulturen und unter verschiedenen sozialen Zwängen jeweils mit dem Begriff"Glück" bezeichnen. (In der Politikwissenschaft hat man dafür den Terminus "cash register theory" eingeführt). Mit dem Begriff der Lebensführung wagt sie aber mehr: nämlich eine den konkreten Umständen angepasste Maßeinheit aufzubauen, an der erkennbar wird, ob es sich um ein momentanes "kleines Glück" oder um stabile, "große", die Modekonjunkturen überdauernde, sogar ethisch gerechtfertigte Lebensentwürfe und Glücksstrategien handelt. Die hier versammelten Aufsätze sind mehrheitlich stark von dieser Perspektive getragen. Das machen die Zwischentitel schon deutlich. Die Autoren fragen nach den großen Traditionen und Kulturen, beschäftigen sich mit Verheißungen und Visionen, entwickeln Masstäbe und Haltungen und zielen auf die historischen und modemen Lebensgrundlagen, die unser Weltbild heute trotz aller hektischen Verdrängungsprozesse prägen oder prägen könnten. Selbst partielle Erlebnisse und "gute Gefühle" sind in ihren Restbeständen noch davon imprägniert. Einige der Aufsätze machen aber auch den Perspektivwechsel hin zur modemen Glücksforschung deutlich. Alle diese Studien setzen aber einen Kontrapunkt zur kurzatmigen Ratgeber- und Eventliteratur, für die sich die Glücksthematik in vordergründiger ,,happiness" und Zufriedenheit erschöpft. Die Problematik der eudaimonia ist aus dem modemen Diskurs weitgehend verschwunden. Luck, happiness, well being und Eudämonie besagen aber nicht dasselbe, auch wenn sie im Deutschen univok jeweils mit "Glück" bezeichnet werden. Das kommt in allen von uns ausgewählten Studien gut zum Ausdruck und rechtfertigt unsere Entscheidung, sie hier wieder abzudrucken. Gleichzeitig erlauben sie uns, verschiedene Richtungen aufdem Weg zu einer Bestimmung von Glück voneinander abzugrenzen. Angeregt von Alfred Schütz' (1971 :237 ft) Untersuchung zu den "mannigfaltigen Wirklichkeiten" könnte man von vier Sinnprovinzen der Glücksforschung sprechen, in denen jeweils eine eigene Wirklichkeitsakzentuierung zum Tragen kommt.
3. Sinnprovinzen der Glücksforschung Schütz nennt "finite provinces ofmeaning" jene Form der Wirklichkeitserfahrung, die von spezifischen Bewusstseinsspannungen geleitet sind, aus denen sich eigene ,,Aufmerksamkeiten auf das Leben", mit ihren jeweiligen thematischen Einklammerungen, ihren Selbsterfahrungen und Kommunikationsformen ableiten (ebd. S. 264 ff.). Er unterscheidet dabei den Alltag, von den Bereichen der Phantasie,
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des Traums und der Wissenschaft. Die Sinnprovinz des Alltags etwa ist ganz auf die Notwendigkeit des praktischen Handelns ausgerichtet, während Wissenschaft und Traum von Handlungen entlastet sind. Übertragen auf die Glücksforschung ergeben sich somit vier Modi der Aufmerksamkeit: Der erste Modus, repräsentiert durch die traditionelle Glücksphilosophie, ist essentiell ausgerichtet, während die drei anderen eher einem existentiellen, dem empirisch operierenden Wissenschaftsmodus (Geschichte, Soziologie, Psychologie etc.) entsprechenden Ansatz folgen. 1. Glücksphilosophie und Glückstheologie setzen - jenseits aller historisch-kulturell gegebenen Unterschiede in der jeweiligen Lebensweise von Menschen - bei einer philosophisch-, theologisch-anthropologischen Wesensbestimmung des Menschen an. Sie versuchen auf diese Weise diejenigen Güter (bona) zu bestimmen, die die höchste Glücksfülle gewährleisten. Diese Güter sind mit der Wesensbestimmung des Menschen gleichzusetzen. Daraus leitet sich ab, dass Menschen am besten danach trachten, diese Güter auch dauerhaft zu erwerben. Dieses Streben kommt nur zum Erfolg, wenn die Menschen einen festen Habitus erwerben, der den wechselnden Anforderungen und Herausforderungen der Zeitläufe die Stirn bieten kann. Diese stabile Charakterform (hexis) bezeichnen die antiken Philosophen mit Tugend (arete). Die damit umschriebene Haltung wird nur durch konstante Anstrengung, also Überwindung von Leidenschaften und Unlustgefühlen, erworben - woraus sich eine bedeutsame Spannung zwischen vordergründigem und hintergründigem Glück ergibt. Von dieser Überlegung ausgehend wurden in den späteren Jahrhunderten ausgefeilte Tugendkataloge (z.B. die sog. Kardinaltugenden) und Verfehlungsregister (Todsünden) entwickelt. Erstere sollen "den" Menschen vor dem Absturz in die Verfehlung seines Wesens und in die Beliebigkeit bewahren. Tatarkiewicz (1984) hat aber wohl recht, wenn er feststellt, dass dieser an sich empirische Ansatz bei den "Bedingungen der Möglichkeit" von Glück über einen Handlungsschematismus kaum hinauskommt. Denn die Aufmerksamkeit der Philosophen war eben ganz auf die Betrachtung der "Wesensguter" gerichtet, die das höchste Glück, die Seligkeit, garantieren sollen. Der Besitz der wertvollsten (geistigen und moralischen) Güter und die Zufriedenheit mit dem Leben fallen zusammen (beatitudo, eudaimonia). ,,Das griechische Denken über das Glück, das in seinen Anfängen einen religiösen Charakter hatte und sich auf das von den Göttern herab gesandte Wohlergehen konzentriert hatte, verwarf in seiner klassischen Periode diese transzendentalen Ideale, um freilich gegen Ende wiederum zu ihnen zurückzukehren" (ebd. 42).
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Ähnlich sieht das die Scholastische Philosophie (Kluxen 1978: 77 ff.). Sie folgt hier Plato, für den Glück eine Erscheinungsweise der Vollkommenheit ist. Deshalb entscheidet die Zufriedenheit gar nicht über das Glück. Sie ergibt sich vielmehr aus dem Glück, d.h. aus dem Besitz der wertvollsten Güter. Zufriedenheit ist nicht Inhalt, sondern Folge des Glücks oder besser: des geglückten Lebens. Man kann also ein gekonntes Leben führen, ohne immer gleich nach den guten Gefühlen schielen zu müssen. Vermutlich geht das aber nur, wenn man in einer philosophischen Tradition steht, die ,,zwei Etagen" des Lebens, eine diesseitige und eine jenseitige, anerkennt. Dann hat man den langen Atem, um im Diesseits auf manche emotionale Gratifikation verzichten zu können.
Abbildung: Sinnprovinzen der Glücksforschung Vormoderne
Moderne
Glücksphilosophie
Empirische Glücksforschung
Essenzielle Glücksebene
Existenzielle Glücksebenen
1. Betrachtung d. Glücksgüte
n. Alltagsglück
,eudaimonia"
..fortuna", ,,Juck" ~ ,,happiness", ..weil being"
Verheißungen, Visionen
Variabilität d. Glücksgüter: Gefühlsäquivalente
Haltungen, Maßstäbe
Erlebnisse, Spaß ~ emotiona1er Gewinn
Philosophische Anthropologie
t
Kumulation der Güter
I I I
L
:llI. Zufriedenheitsglück
~ Genuss, Lust, Freude
y
""-
/
IV. Lebensführungsglück Habitus, Verhaltensstile u1Uuvariationen,Tnulitionen Leb entwurf als Ganz t st"; Daue eflexivität "Lebens
-
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Modernisierungsbruch, Wechsel der Perspektive
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2. Dem ersten Anschein nach folgt die moderne, empirische Glücksforschung diesem philosophisch-theologischen Denkmodus nicht mehr. Sie wendet sich zunächst der Sinnprovinz des gelebten Alltags der unterschiedlichen Menschen und Gruppierungen zu. Das Erkenntnisinteresse richtet sich deswegen zunächst auf die konkret feststellbaren, höchst variablen, komplexen, sich zum Teil widersprechenden Bedürfnisse, Ziele, Wertvorstellungen und Handlungsweisen der Menschen in ihrer Lebenswelt. Ihr Zugriff zur Glücksthematik ist nicht mehr von der philosophischen Wesensbetrachtung her bestimmt, sondern von der Vielfalt der sozialen Tatsachen. Daher ist auch mit gegensätzlichen Glücksbestimmungen und -strategien der Menschen zu rechnen, wie uns viele Sprichwörter zu verstehen geben. "Glücklich ist, wer vergisst" ("bad memory and good health" in Hemingways Version), oder ist glücklich nur der Wissende? "Das Glück ist blind" (Cicero), oder ist jeder seines Glückes Schmied? "Den einen gibt, den anderen nimmt das Glück" (Menander), oder: "Glück hat auf die Dauer nur der Tüchtige" (Moltke). Oder ist es doch so, dass niemand vor seinem Tod glücklich zu preisen ist, wie Solon schon bemerkte. Die Liste sich widersprechender Glücksbestimmungen lässt sich leicht fortsetzen. Oft ist der Gegensatz jedoch nur ein scheinbarer, da einfach unterschiedliche soziale Lagen, Biographien, Situationen Generationen, Zeiten etc. angesprochen und ins Verhältnis gesetzt werden. Da kommen jeweils ganz bestimmte Glücksaspekte zum Tragen. Bedeutsam für diesen ersten Modus der Glücksbetrachtung ist: 1.
2.
3.
dass der Alltag der Menschen mit seinen Glücksvariationen und -kumulationen im Vordergrund steht. Diese sind nicht etwa unbedeutend, denn sie sind das, wovon Menschen in ihrem Leben überzeugt sind, es leisten, schaffen, gewinnen zu können. Sie ist das, was man realistischer Weise ,,haben" kann. Seins- und Vollkommenheitsfragen werden höchstens jenseits dieses Horizonts gestellt. dass die Menschen sich entweder als auf sich gestellte Glücksucher, als "Macher" (homo faber) ihres Glücks verstehen oder als solche, die dem Glück nur am Rande auf die Sprünge helfen können, weil es mehr mit fortuna (luck) zu tun hat; dass die Beziehung zwischen Glückssuche, Glücksgütern und Zufriedenheit ("well being") als sehr eng angesehen wird. Zufriedenheit und Glück bedingen sich. Dieser Zusammenhang ist aber nicht durchgängig, denn die Treffsicherheit bei der Suche nach Glücksgütern ist nicht sehr hoch, noch kann man verhindern, dass wiederholter Genuss seine Zufriedenheitsspannung verliert und schal wird ("fading").
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So steht auch der zweite Betrachtungsmodus, der die mit Glücksgütern einhergehenden seelischen Befindlichkeiten (,,zufriedenheitsglück") im Auge hat, unter dem Siegel der Variation ("happiness"). Zufriedenheiten sind nicht gegenüber allen Glücksgütern gleich intensiv. Auch kommen sie bezogen auf ein Gut im Plural vor, denn im Zeitablaufhaben sich meist die Situationen gewandelt. Glück ist eine mehrdimensionale Kategorie. Zufriedenheit ist also u.a. abhängig von der Dauer des Genusses, der Art der Menschen und ihrer Bedürfnisse, den sozialen Lagen, dem Lebensalter, der Kohorte, der Qualität der Güter usw. Diese Unterschiede müssen im Forschungsprozess differenziert erhoben werden. Dafür macht sich die (Sozial-)Psychologie stark. Der dritte moderne Betrachtungsmodus richtet sich auf die fundamentalen existentiellen Fragen der Lebensplanung. Verstärkt durch die Tatsache der hohen Kulturdiversität aller Glücksaspekte wird die alte Frage wieder virulent, ob Zufriedenheit eine notwendige und/oder eine hinreichende Bedingung für das dauerhafte "Lebensführungsglück" ist. Ersteres mag für eine kurzfristige Analyse gelten, denn erfahrungsgemäss peilen die meisten Menschen bei ihrer Lebensgestaltung ein zumindest akzeptables Zufriedenheitsniveau an. In der langfristigen Güterabwägung kann das vordergründige "happiness"- und "well being"-Motiv jedoch stark an Dringlichkeit verlieren. Selbst wenn es eine notwendige Bedingung für Glückserfahrung sein sollte, ist es wohl keine hinreichende. Bedingung. Gratifikationsaufschübe können ein Leben lang dauern, ohne dass die Glücksqualität des Lebens davon im Grundsatz beeinträchtigt würde. Dauerhafte und ephemere Glücksbestimmungen können jedenfalls in Widerspruch geraten. Insofern müssen Zufriedenheits- und Glückserwägungen empirisch auseinandergehalten werden. Dadurch wird es möglich, Zufriedenheiten zu skalieren und auf die zu erreichende "Lebensqualität" zu beziehen. Wer die Frage nach dem gekonnten Lebensstil aufwirft, fragt einerseits nach der gesellschaftlichenAusprägung eines Habitus bei den bestimmenden Statusgruppen, andererseits und in einer leicht veränderten Fokussierung auch nach dem ,,richtigen Lebensglück". Hier gilt Th.w. Adornos berühmte Formel, dass es kein richtiges Leben im falschen geben könne. Auf das Prinzip Glück bezogen lautet sie: "Es gibt kein richtiges Glück im falschen." Die traditionelle Glücksphilosophie könnte das unterschreiben. Dass sie die zur Bestimmung des "Richtigen" als notwendig erscheinenden Lebensziele und die entsprechende Lebenskunst nicht mehr mitliefern darf, ist unser heutiges Schicksal. Angesichts dieser Lage plädiert Höffe (2009:103) aber nicht etwa für eine Erwartungsreduktion, sondern für eine Doppelstrategie. "Die Zufriedenheit mit dem kleineren ... Glück behält sich für das größere Glück eine Erwartungsreser-
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ve zurück. Wer sich mit dem ,kleinsten Glück' der Üblichkeiten und der Routine zufriedengibt, entgeht (zwar) dem Risiko, das eigentlich Lohnenswerte vielleicht nie zu erreichen. Der Preis für seine,Versicherungsmentalität in der Lebensführung', der rigorose Verzicht auf eine Steigerung des Lebens, ist aber erstaunlich hoch. Denn die Routine hilft nur über Durststrecken der Glückssuche, löscht jedoch nicht den Durst. Man kann zwar den Durst verringern, aber der Durst der bleibt, will gelöscht werden, wozu die Routine - bestätigt die empirische Glücksforschung - außerstande ist."
Literatur: Bauman, Zygmunt (2010): Wir Lebenskünstler. FrankfurtJMain Bloch, Ernst (1973): Das Prinzip Hoffnung. 3 Bände, FrankfurtJMain Durkheim, Emile (1977): Über die Teilung der sozialen Arbeit. Frankfurt/Main Fisch, Stanley (1999): The Trouble with Principle. CambridgelMass. Gross, Peter (1994): Die Multioptionengesellschaft. Frankfurt/Main Habermas, Jürgen (1989): Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. Frankfurt/Main, 3. Auflage Höffe, Otfried (2009): Lebenskunst und Moral oder macht Tugend glücklich? München Jonas, Hans (1997): Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Frankfurt/Main Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik fiir die technologische Zivilisation. FrankfurtIMain Kluxen, Wolfgang (1978): Glück und Glücksteilhabe. Zur Rezeption der aristotelischen Glückslehre bei Thomas vonAquin. In: Bien, Günther (Hg.): Die Frage nach dem Glück. Stuttgart: 77-92 Messner, Johannes (1966): Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. Innsbruck,Wien,München, 5. Auflage Popper, Karl R.(1969): Logik der Forschung. Tübingen Riesman, David (1950): Die einsame Masse. Reinbek bei Hamburg Ros, Arno (1989): Begründung und Begriff. Wandlungen des Verständnisses begrifflicher Argumentationen. Band I: Antike, Spätantike und Mittelalter. Hamburg Schütz, Alfred (1971): Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze, Band 1. Den Haag: 237-298 Tatarkiewicz, Wladyslaw (1984): Über das Glück. Stuttgart, 3.Auflage Dtz, Arthur F. (1958): Sozialethik. 1. Teil: Die Prinzipien der Gesellschaftslehre. Heidelberg, Löwen Weber, Max «1920) 1988): Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Band I.Tübingen, 9. Auflage Weber, Max «1921) 1980): Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen 1980, 9.Auflage
Glücksforschung
Glück. Erscheinungsvielfalt und Bedeutungsreichtum Alfred Bellebaum
1. Zum Auftakt In manchen anspruchsvolleren Abhandlungen über Glück wird häufig Sigmund Freud zitiert, der in seinem Werk "Das Unbehagen in der Kultur" die (ganz ernst gemeinte?) Auffassung vertritt: "Die Absicht, dass der Mensch ,glücklich' sei, ist im Plan der ,Schöpfung' nicht enthalten." Wer den christlich begründeten Hinweis "Geheimnis des Glaubens" ernst nimmt und ein Geheimnis ein Geheimnis bleiben lässt, der wird in sanfter agnostischer Gesinnung über einen vorgeblichen Plan der Schöpfung nichts wissen. Es genügt ihm die hinlänglich bekannte Tatsache, dass die Menschen seit eh und je sich nach Glück gesehnt und Glück - ungeachtet unendlich vielen Unglücks und Leids in dieser Welt - auch erleben können und erlebt haben. Der prominenteste und immer wieder zitierte Zeuge ist Aristoteles: ,,Alle Menschen wollen glücklich sein. "1 Nietzsehe hat zwar bissig notiert: ,,Der Mensch strebt nicht nach Glück, nur der Engländer tut das. "2 Dieser Einwand bestreitet aber nicht ein menschliches Streben nach Glück schlechthin, sondern verurteilt nur das "Englische Glück mit Comfort und Fashion, Wohlbefinden" - was im übrigen zu manchen Missverständnissen des in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 behaupteten pursuit ofhappiness3 (=Streben nach Glück) als eines Menschenrechtes geführt hat. Von dieser Zwischenbemerkung abgesehen, bündelt
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Aristoteies, Nikomachische Ethik, I098a16, Darmstadt 1979. Vgl. auch: " ... Platon undAristoteles, Thomas v. Aquin und Kan!, Pascal und Rousseau, sie alle stimmen in diesem Punkt überein: ,alle wünschen sich ein glückliches Leben', ,omnes beatam vitam optent' (Seneca); ,das letzte Ziel des Menschen ist das Glück', ,ultimus finis hominum est beatitudo' (Thomas v.Aquin)", N. Hinske: Die Frage nach dem Glück als die Frage nach dem Menschen. Etwas von den fachspezifischen Aufgaben der Philosophie, in: Veritas filia temporis? ... Festschrift für Rainer Specht, hrsg. R W. Puster, Berlin/New York 1995: 85. Nietzsche, zit. G. Kamphausen: Recht auf Glück? Pragmatisches Glücksstreben und heroische Glücksverachtung, in: A. Bellebaum, Hrsg., Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen 1992: 98. Vgl. H. Mandt: Streben nach Glück - Menschenrecht und staatliche Garantie, in: A. Bellebaum/H. Braun/E. Groß, Hrsg., Staat und Glück. Politische Dimensionen der Wohlfahrt, Opladen/ Wiesbaden 1998: 69ff.
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Alfred Bellebaum
ein neuzeitlicher Philosoph die traditionsreiche Auffassung von einem natürlichen Glücksstreben des Menschen mit der These: "Die Vorstellung vom Glück ist unauthebbar mit der Existenz des Menschen verknüpft.'''' Von dem im allgemeinen positiv bewerteten Glück heißt es freilich andernorts, dass es sich um psychiatric disorder handle5; dass leidenschaftliche Liebe blind machen kann, ist verbÜTgt.6
2. Eine Forschungsinitiative - Erste Erfahrungen Angesichts der kaum noch übersehbar vielen Ansichten7 und Veröffentlichungen über Glück könnte man meinen, dass über Glück nicht weiter nachgedacht und geschrieben zu werden braucht. Und es mag schon gar nicht für erforderlich gehalten werden, ein "Institut für Glücksforschung" zu gründen (1990)8. Diese wissenschaftliche Einrichtung wurde allerdings in Teilen der Öffentlichkeit aufmerksam, ab und zu verwundert und manchmal mit Spott und Hohn registriert. Berichte im Rundfunk, Sendungen im Fernsehen, Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, wissenschaftliche Tagungen9 , Kurse in meditativer und ratgebender 4
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N. Hinske: Lebenserfahrung und Philosophie, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986: 31. Natürliches Glücksstreben, s. auch H. v. Stietencron: "... so geht es vor allem um ,kulturspezifische Reaktionen des denkenden Geistes auf das natürliche Glücksstreben des Menschen. Er kann es fördern oder zu unterdrücken versuchen ...", in: Das Glück und die Schatten der Vergänglichkeit. ReligiösPhilosophische K.onzeptualisierungen von Glück im alten Indien, in: A. Bellebaum, Hrsg., Vom guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen, Berlin 1994: 154. In: H. P. Bentall: A proposal to classify happiness as psychiatrie disorder,in: Journal of medical ethics, I 8/1 992:94ft: Auch sonst wird Glück nicht allemal uneingeschränkt akzeptiert. Vgl. beispielsweise K. S. Rehberg: Die Angst vor dem Glück. Anthropologische Motive, in: A. BellebaumIK. Barheier, Hrsg., Glücksvorstellungen. Ein Rückgriffin die Geschichte der Soziologie, Opladen 1997: 153ff. (Betrifft: M. Scheler, H. Plessner, A. GeWen.) - Zur Begriffsgeschichte siehe: W. Sanders: Glück: Zur Herkunft und Bedeutungsentwicklung eines mittelalterlichen Schicksalsbegriff, Köln/Graz 1965. - M. Pelz: Am Beispiel Glück, in: Österreichische Zeitschrift für Soziologie, 2-3/ 1980: 81ft: - M. Pelz: Die Entstehung des neuzeitlichen Glücksbegriffs im 16. und 17. Jahrhundert, Diss. Wien 1984. - I. M. Greverus: Das wandelbare Glück in der westlichen Welt, in: Dies., Die anderen und ich. Vom Sich-Erkennen, Erkannt- und Anerkanntwerden. Kulturanthropologische Texte, Darmstadt 2. Aufl. 1995: 1455. - E. Pankoke: Modernität des Glücks zwischen Spätaufklärung und Frühsozialismus, A. Bellebaurn/Barheier, Hrsg., Glücksvorstellungen: 75ff. Z.B. O. Höffe: Glück/Glückseligkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, BaselStuttgart 1974: Sp. 679ft: Anders orientiert ist: "Kofuko-no-Kagaku. The Institute for Research ofHuman Happiness". Es handelt sich um eine der Neuen Religionen in Japan und Kofukono-Kagaku ist "Wissenschaft vom Glück". (Vgl. dazu K. Antoni: Fuku und sachi - die religiöse Konzeption des Glücks in der japanischen Kultur, in: A. Bellebaum, Hrsg.,Vom guten Leben ... (Anm. I): 223 ff.) Beispielsweise: Das Glück ist ein neuer Gedanke in Europa, ScWoss RaabslTaya, 1994. - Don't worry, be happy, Bensberg 1995. - Glück - gelungenes Leben, Meißen 1995. - Was ist Glück? Leben im Spannungsfeld von Leben und Scheitern, München 1996. - Ist Glück lernbar oder
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Absicht mit und ohne Dalai Lama, wissenschaftliche Abhandlungen etc. - dies alles hat seit Beginn der 90er Jahre Hochkonjunktur und ist zugleich ein lohnendes Forschungsobjekt. Nach der erwähnten Gründung gab es erheiternde und aufschlussreiche Erlebnisse. Ein Bettler tippte wegen des Türschildes auf Eheanbahnung. In einer weit verbreiteten Funkzeitung wurden ungefährliche Mittel zur Erlangung von Glück genannt, nämlich: Jogging, Kneippbäder und Seminare des Instituts für Glücksforschung. - Als Folge dieses Artikels tuschelte man in der Nachbarschaft über Rotlicht-Milieu. - Eine Sprechstundenhilfe erkundigte sich, mit was für Patienten wir es zu tun hätten. - Ein Handwerker fragte, ob es im Institut auch einen Automaten mit Präservativen gebe ... Wem beim Wort "Glück" sonst nichts einfällt, der kann natürlich mit der Intention wissenschaftlicher Glücksforschung lO nichts anfangen. Es ist freilich nicht zwingend erforderlich, für die alltägliche Lebensführung und für die oft als "kleines Glück" diffamierten Emotionen über wissenschaftliches Wissen zu verfügen und sich daran zu orientieren. "Glück" muss nicht reflektiert werden, um es erleben zu können. In zahlreichen Interviews für Funk und Pressemedien wurden in den vergangenen Jahren vor allem drei Fragen gestellt: Warnm ist das Institut gegründet worden? Was versteht man unter Glück? Sind Sie glücklich? - möglichst knappe Antworten in maximal drei Minuten. Sämtliche Bemühungen, differenziert zu antworten, blieben unverstanden. Sie widersprechen dem Gebot einer in vielen Medien gepflegten kurzweiligen Unterhaltung. Die Maxime lautet: Man darf Hörer/ Leser nicht strapazieren. In anspruchsvolleren Medien ll wurde natürlich mehr erwartet und nach wissenschaftlich belegbaren Erkenntnissen gefragt. Und doch hatte man es mit aller-
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Wieviel Philosophie braucht das Glück?, 1996. - Glück. Ein Symposion, Köln 1996. - Die Frage nach dem Glück. Philosophie und christlicher Glaube, Nümberg 1996. - Von Gott, dem Menschen und seinem Glück. Die Aktualität von Spinozas Ethik, Loccum 1996. - Einstein-Forum: Zum Glück, Potsdam 2001. - Inselglück. Der Traum vom glücklichen Leben, Badenweiler 2002. Erwähnenswert sind natürlich auch die vielen einschlägigen Tagungsbände. Zur Wortprägung "Glücksforschung" siehe u.a. bei H. Weinrich: Welcher Hans in welchem Glück? Plädoyer fiir die Glücksforschung, in: Süddeutsche Zeitung 4.1.1987. - W. Gehmacher: Glücksforschung - ein Plädoyer, in: Sozialwissenschaftliehe Rundschau 2/1987. - J. Thiele: Plädoyer fiir die Glücksforschung, in: Ders.: Glück. Das Buch der schönen Augenblicke, Stuttgart 1987. - E. Noelle-Neumann: Stationen der Glücksforschung. Ein autobiographischer Beitrag, in: A. Bellebaum/L. Muth, Hrsg., Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, Opladen 1996: 15 ff. - H. Braun: Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen (in diesem Band). Beteiligt an Beiträgen/lnterviews/Berichten u.a.: Der Mensch ist ein glücksuchendes Wesen, Zeit Magazin 11/1993. - Vlelfältiges Glück, Universitas 6/1995. - Wer weiß was über Glück?, fit for fun 1/1997. - Vlelfliltiges Glück, in: Architekt. Zeitschrift des Bundes deutscher Architekten BDA 8/1997: 471 fI. - 288 Ansichten über Glück, in: taz 8/l997.-Erkläre mir einer das Glück, Die Bunte 12/1998. - Glück verbraucht sich, bild der wissenschaft 3/1999. - Was man besitzt,
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lei Problemen zu tun. Ein Punkt betraf die zahlreichen, in weiten Teilen der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit unbekannten Aspekte von Glück: etwa Ökonomie, Staatsrecht, EthiklMoral, ArbeitlFreizeit, Jenseitsvorstellungen, innerweltlich orientierte politische Bewegungen ... - Überdies gibt es eine verbreitete Auffassung, dass es sich bei "Glück" um eine vorwiegend subjektiv-private Angelegenheit handle. Hinweise auf kollektive, also von mehreren Menschen geteilte, sowie geschichtlich und kulturell verschiedene Glücksvorstellungen blieben meistens unverstanden. Es gelang selten, deutlich zu machen, was Soziologen meinen, wenn sie von "gesellschaftlich bedingt" sprechen. 12
3. Wiederentdeckung des Glücks Wissenschaftsintem gab es - von einigen älteren Publikationen abgesehen 13 - ab Ende der 80er Jahre eine auffällige Aufbruchsstimmung, und die Zahl der Veröffentlichungen nimmt nach wie vor zu. Man kann sagen: ,,Der Glücksdiskurs zieht unsere Sozialwelt in ihren Bann wie ein Gottesdienst."14
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verliert den Reiz, Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt 1/1999. - Auf der Suche nach dem Glück, Muth 7/1999. - Stachelbeeren, Mozart und andere Glücksf"alle, weil fit/Freundin 1/2000. - Nur im Deutschen hat das Wort Glück zwei Bedeutungen, in: P. M. Perspektiven, 2000. - Wunschlos glücklich, Cosmopolitan 10/2000. - Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir, Credit Suisse Bulletin 1/2000: 7 ff. - 33 Wege zum Glück, Hörzu 7/2001-Blitzwege zumLebensglück. Einfach glücklich, Für Sie, 8, 11/200I. - Einfach glücklich. Ohne Stress zum schönsten Gefiihl der Welt, Focus 3/2002. - Tagung Fachverband Glücksspielsucht/Herford am 22.123. 11.2002 in Stuttgart. Fr. Fürstenberg: "Glück ist also offensichtlich doch keine ganz persönliche Angelegenheit des einzelnen Menschen, sondern auf vielfältige Weise sozial vermittelt", in: Soziale Muster der Realisierung von Glückserwartungen, in: H. Kundler, Hrsg., Anatomie des Glücks, Köln 1971: 58. Z. B.: H. Kundler, Hrsg.: Anatomie des Glücks, Köln 1971. - U. Hommes, Hrsg.: Was ist Glück? Ein Symposion, München 1976. - G. Bien, Hrsg., Die Frage nach dem Glück, Stuttgart/BadCannstatt 1978. - E. Martens, Hrsg.: Was heißt Glück? - K. Meyer-Abich/D. Birnbacher, Hrsg. Was braucht der Mensch um glücklich zu sein? Bedürfnisforschung und Konsurnk:ritik, München 1979. - G. Höhler: Das Glück, DüsseldorflWien 1981. - Recht auf Glück? Träume, Anspruche, Erfahrungen heute, Freiburg 1984. - Schon 1983 kann man lesen: "Eine Durchsicht aktueller Zeitschriftenliteratur, der Feuilletons überregionaler Zeitungen und der Verlagskataloge in der Bundesrepublik zeigt, dass das Thema ,Glück' in den letzten Jahren gar zu einem Modethema avanciert ist ... " (R. M. Bäumer/G. Helmes: Tendenzen der gegenwärtigen Glücksdiskussion. Ein Literaturbericht in zwei Teilen, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, 50/1983: 61 G. Schulze: Kulissen des Glücks. Streifzüge durch die Eventku1tur, Frankfurt/New York 1999: 9.
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a) Philosophie Das trifft beispielsweise für die Philosophie zu. In einem 1967 erschienenen Buch ,,Die Antworten der Philosophie heute" ist auf 444 Seiten von Glück und Enttäuschung keine Rede. Das ist eigentlich erstaunlich, denn Thema der antiken Philosophie war schließlich "Eudaimonia, das Gelingen des eigenen Lebens, das jeder will, und von dem doch den meisten nicht klar ist, worin es besteht". Cicero meinte sogar: "Die Untersuchung des glücklichen Lebens ist der einzige Gegenstand, den sich die Philosophie zum Zweck und Ziel setzen muss." Dies wurde mindestens seit Kant'S, der "Glück" als einen unbestimmten Begriff ansah, nicht mehr so gesehen. Neuerdings sind die antiken Lehrmeister des Glücks geradezu wieder entdeckt und unter anderem auf ihre aktuelle Bedeutung hin untersucht worden 16 • Letzteres geschieht in besonderer Weise für den pädagogisch-schulischen Bereich 17 sowie in philosophischen Praxen.
b) Empirische Glücksforschung Erwähnenswert ist sodann die inzwischen aufbreiter Front betriebene Empirische Glücksforschung vor allem psychologischer und sozialwissenschaftlicher Art. Es interessieren dabei verständlicherweise weniger die altehrwürdigen moralphiloso15
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Bei einem mit der Geschichte der Philosophie Vertrauten heißt es: Seit Kant "ist das Glück aus der großen Philosophie in der Tat so gut wie ganz verschwunden. Seitdem ist das Wort ,Eudämonismus' zu einem besseren Schimpf- und Hohnwort geworden, wenn auch Kant selber es durchaus noch mit Ernst und Hochachtung gebraucht hat." (D. Sternberger: Das Menschenrecht, nach Glück zu streben, in: Ders., Ich wünschte ein Bürger zu sein, Frankfurt 1967: 134). - Zu den Antworten, die Philosophie heute gibt, vgl. N. Hinske: Glück und Enttäuschung, in: H. Kundler, Hrsg. (Anmerkung 2): 217. - Eudaimonia = Einen guten Dämon haben = Glück, R. Spaemann: Glück und Wohlbefinden. Versuch über Ethik, Stuttgart 1989: 9. Zur antiken Philosophie vgl. u.a. M Hossenfe1der: Epikur, München 1991. - M. Hossenfe1der: Antike Glückslehren. Quellen in deutscher übersetzung, Stuttgart 1996. - H. Schöndorf: Was ist ein glückliches Leben. Vergangene und heutige Antwortversuche, in: Herder-Korrespondenz, 4/ 1996: 198ff. - F. Laupies: L~on philosophique sur le bonheur, Paris 1997. - D. Bourdin/G. Guislain/P. Jacopin: Le Bonheur, Rosny 1997. - P. Simmarano/E. Vergnou: Le bonheur. Premil:res reflexion sur le bonheur, Paris 1997. - Chr. Horn: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern, München 1998. - U. Wolf: Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, Reinbek 1999. - Plutarch: Die Kunst zu leben, Frankfurt/Leipzig 2000. - W. Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung, 7. Aufi. Frankfurt 2000. - F. 1. Wetz: Glück, Stuttgart 2002. - E. Hufnagel: Philosophie des guten Lebens. Antike Lehnneister des Glücks (in diesem Band). Zur Pädagogik vgl. u.a. 1. Riemen: Die Suche nach dem Glück als Bildungsaufgabe. Zur Rehabilitierung einer verschwundenen pädagogischen Kategorie. Mit einer Auswahlbibliographie ,Glück', ,Glückseligkeit', Essen 1991. -Arbeitsgruppe Ethik, Hrsg., Glück, Donauwörth 1986. - L. HorsterlN. Thelen: Glück und Utopie, Frankfurt 1988. - V. Steenblock: Klassische Glücklehren aktualisiert. Ein Unterrichtsbeispiel, in: Philosophie heute, 10/1997: 66ff. - Glücklich leben, in: N. Martens, Hrsg.: Gut leben. Fragen zur Ethik, München 2001. - Glück und Sinn, in: H. Nink, Hrsg.: Standpunkte der Ethik. Oberstufe, Paderborn 2001.
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phischen und theologischen Theorien als vielmehr - ein durchaus problemträchtiger Terminus - die "empirisch" erfassbaren Voraussetzungen, Bedingungen, Ausdrucksweisen und Folgen von Glück. Für manche Forschung können Erkenntnisse antiker Philosophie aber durchaus befruchtend sein. Es heißt: "Denn über das Glück (und Unglück) haben schon so viele Generationen nachgedacht, dass wir durchaus mit einigen Hoffnungen bei vielen alten Lehrmeistern des Glücks in die Schule gehen können. Mit ihrer Hilfe sollten wir Glücksforschung betreiben."18 Es gibt in der Tat bemerkenswerte Parallelenl9 zwischen glücksorientierten Überlegungen in der antiken und in der modemen Welt. Der Ausdruck Empirische GlücksforschungW bezeichnet keinen einheitlichen Forschungsgegenstand. Das zeigt schon ein breites Wortumfe1d von Glück. Angrenzende Tennini sind insbesondere: Lebensqualität, Wohlbefinden, Positiverfahrungen, Zufriedenheit. In manchen glücksbezogenen Studien kommt das Wort "Glück" gar nicht vor, in manchen Untersuchungen, etwa über - dies ein breites Forschungsfeld - Lebensqualität, geht es auch um Glück, in noch anderen Arbeiten werden einschlägige Bezeichnungen synonym behandelt. Es gibt zwar Versuche, die vielfältigen Bezeichnungen bedeutungsmäßig zu ordnen, wissenschaftsintem sind jedoch allseits anerkannte und zugleich einsehbare Abgrenzungen nicht vorhanden. Am besten geht man pragmatisch vor, so wie das beispielsweise in dem Titel der kürzlich erstmals erschienenen international orientierten Zeitschrift "Journal ofHappiness Studies. An Interdisciplinary Forum ofSubjective Well-Being"21 zum Ausdruck kommt. Forschungs- und Publikationsaufwand sind beeindruckend. 22 18 19
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H. Weinrich: Welcher Hans in welchem Glück? ... (Anm. 2). Ders., in: H. Gnüg, Hrsg., Literarische Utopie-Entwürfe, Frankfurt 1982: 39ff. U.a.: "... dass nach dem Untergang der griechischen Stadtstaaten in der antiken Welt die Staatsgebilde unübersichtlich geworden waren. Entsprechend unanschaulich war das öffentliche Wohl und Wehe, sofern es sich nicht auf das Glück oder Unglück des Individuums unmittelbar auswirkte. Unter diesen politischen Bedingungen. die denen der Gegenwart nicht ganz unähnlich sind, entwickelten sich die Glückslehren der Epikureer und der Stoiker, jener Philosophenschulen also, die das Glück zu ihrem Hauptgegenstand gemacht haben." Z.B. Ph. Mayring: Die Erfassung subjektiven Wohlbefindens, in: A. Abele/P. Becker, Hrsg., Wohlbefinden. Theorie - Empirie - Diagnostik, Weinheim/Miinchen 1991: 97ff. Das Journal o[Happiness 8tudies - Teil von Kluwer Publications in Social Indicators and Quality ofLife Research, Dordrecht 1999ff., Chief-Editor R. Veenhoven, Editor E. Diener und A. Michalos - ist vorwiegend empirisch orientiert. Die Tradition wird freilich nicht vergessen, vgL Journal ofHappiness Studies.... Guest Editors, K. Barheier/A. Bellebaum: Views on Happiness in Classic Sociology, Volume 1,4/2000. (Bezug: A. Comte/E. Durkheim/G. Simmel/M. Scheler, H. Plessner, A. Gehlen). VgL u.a. W. GlatzerlW. Zapf: Lebensqualität in der Bundesrepublik Deutschland. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankfurt 1984. Zahlreiche weitere Abhandlungen mit oder ohne Bezug zur Forschung über Sozialindikatoren. - B. Grom: Positiverfahrungen - Ein Forschungsgegenstand der Sozial-und Persönlichkeitspsychologie, in: Ders.,
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4. Anthropologie des Glücks Wenn tatsächlich alle Menschen glücklich sein wollen, es ein natürliches Streben nach Glück gibt und die Vorstellung vom Glück unaufhebbar mit der Existenz des Menschen verknüpft ist - gelegentlich hat man vom Menschen als einem "glücksuchenden Tier"23 gesprochen -, dann hätte man es mit einem zeitlosen menschlichen Bedürfnis zu tun.
a) Theorie der Unruhe Zur Erklärung der erwähnten Ansicht kann - sicherlich nicht die ganze Wahrheitauf die begrenzte Macht körperlicher Instinkteffriebe24 hingewiesen werden, womit ja ein erheblicher Freiheitsspielraum25 einhergeht, den es zu nutzen gilt. Kurz und präzise vermerkt Spaemann: ,,Menschen ,führen' ihr Leben, und sie müssen
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N. Brieskom/G. Haeffner: Glück. Auf der Suche nach dem ,guten Leben', Frankfurt 1987. - R Schwarz u.a.: Lebensqualität in der Onkologie, München 1991. - A. Abe1eIP. Becker, Hrsg., Wohlbefinden. Theorie - Empirie - Diagnostik, Weinheiml München 1991. - F. StrackIM. Argy1e/N. Schwarz, Eds.: Subjective we11being. An interdisciplinary approach, Oxford 1991. G. Seifert, Hrsg.: Lebensqualität in unserer Zeit, Modebegriff oder neues Denken?, Göttingen 1992. - A. BellebaumIK. Barheier, Hrsg.: Lebensqualität. Ein Konzept fiir Praxis und Forschung, Opladen 1994. - Veenhoven, R: World Database ofHappiness: Happiness in Nations. Subjective appreciation oflife in 56 nations 1946-1992, Rotterdam 1993. - R Veenhoven: World Database ofHappiness. Bibliography ofHappiness. 2472 contemporary studies in 69 nations 1911-1994, Rotterdam 1993. - M. Nussbaum/A. Sen, Eds.: The Quality oflife, Oxford 1995. M. und S. Greiffenhagen: Glück. Realitäten eines Traums, München 1988: 39. - Im Zusammenhang mit seiner These, dass alle Menschen nach Glück streben, heißt es bei Aristote1es: ,,Mit Recht werden wir weder ein Rind noch ein anderes Tier glücklich nennen" (worüber sich allerdings schon wegen der Milch von den glücklichen Kühen streiten lässt). Ohne hier einen allgemein verbindlichen Glücksbegriff versuchen zu wollen, sei nur angemerkt, dass inzwischen so genannten ,,nicht humanen Hominiden" - Schimpansen, Gorillas und Drang Utans - mehr Ähnlichkeiten mit Menschen zuerkannt werden, als Aristote1es (Nikomachische Ethik, 1098a16) wissen konnte. Im Zusammenhang mit Tier-Mensch-Verg1eichen unter hirnphysiologischen Aspekten vgl. M. Koch: "Glücksempfindungen. Ergebnisse der Gehirnforschung". Vgl. dazu das seit langem breitdiskutierte Thema der begrenzten Instinktausstattung des Menschen mit erläuternden Begriffen wie Instinktreduktion, Plastizität der Instinkte, Mängelwesen. In neuerer Zeit P. L. Bergerffh. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1969; u.ä. Bezug u.a. A. Gehlen: Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt, Ber1in 1940. Neu herausgegeben K. S. Rehberg, Frankfurt 1993. Die hier gemeinte Freiheit ist selbstverständlich nicht grenzenlos, denn menschliches Leben und Zusammenleben sind ohne soziale Regelung verschiedenster Art unmöglich. Was an instinktgebundener Sicherheit fehlt, wird - wenn man es so ausdrücken darf - durch normgeleitetes Handeln kompensiert. Soziale Normen sind natiirlich keine Instinkte, sondern nur so etwas wie Instinktersatz. Siehe A. Bellebaum: Soziale Norm, in: Ders., Soziologische Grundbegriffe, 13. Auflage Stuttgart 2001: 36ff.
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auch das noch lernen."26 Anders: Wir Menschen sind gezwungen, unser Leben zu gestalten und fortwährend tätig zu sein. Berühmt und häufig zitiert heißt es bei Pascal: "Wenn ich mir mitunter vornahm, die vielfältigen Aufregungen der Menschen zu betrachten, die Gefahren und Mühsale, denen sie sich bei Hofe und im Kriege aussetzen, woraus so vielerlei Streit, Leidenschaften, kühne und oft böse Handlungen usw. entspringen, so fand ich, dass alles Unglück der Menschen einem entspringt, nämlich, dass sie unfähig sind, in Ruhe in ihrem Zimmer zu bleiben."27 Von daher gesehen kann man den Menschen als ein unruhiges Lebewesen begreifen. Es gibt viele Beiträge zu einer Anthropologie der Unruhe. Kant schreibt: "Im Leben (absolut) zufrieden zu sein, wäre tatlose Ruhe und Stillstand der Triebfedern."28 Ficino erklärt kurz und bündig: "Wir alle sind wie Tantalus."29 Kohelet stellt resigniert fest: "Ich dachte mir: Auf, versuch es mit der Freude, genieß das Glück: Das Ergebnis: Auch das ist Windhauch." Aristophanes leidet unter der Erfahrung: ,,An allem bekommt man schließlich Überdruss ..."30 Und der Heilige Augustinus seufzt erwartungsvoll: "Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in Dir."3l In diesem Zusammenhang stellt sich unvermeidbar die menschenbewegende Frage nach dem Sinn32 dessen, was wir tun. Sehr wahrscheinlich kann allein nur der Mensch sich selbst zum Objekt der eigenen Nachdenklichkeit werden und beispielsweise fragen: Weshalb? Wieso? Zu welchem Zweck? Mit welchen Folgen? Wozu bin ich aufErden? Was macht das Leben lebenswert? Wie kann mein Leben gelingen und also glücken? Was zeichnet gelingendes = glückliches Leben aus? Auf solche Fragen gab und gibt es keine zeitlos gültigen und allgemein anerkanntenAntworten. Wer eher einer pessimistischen Anthropologie anhängt33, wird sich 26 27 28 29
Spaemann, (Anm. 3): 9. B. Pascal: über die Religion und einige andere Gegenstände (pensees), Tübingen 1948: 139. Kant: Von der langen Weile und der Kurzweil, in: Kant: Werke VII, Berlin 1968: 235. Ficino: De vita libri tres ... in: Ders.: Opera Omnia, Vol. I, Toms I, Turin 1959: 524ff. Kohelet:
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Aristophanes, Pluto: " ... überdruss: Liebe, Semmel, Musenkunst, Zuckerwerk, Ehre, Kuchen, Tapferkeit, Feigenschnitt, Ruhm, Rührei, Kommando und Gemüse." Augustinus: Confessiones, 1. Buch, 1. Kapitel. Zu diesem unerschöpflichen Thema vgl. H. Flam: Soziologie der Emotionen, Konstanz 2002 B. Kanitscheider: Auf der Suche nach dem Sinn, Frankfurt 1995. - P. L. BergerfTh. Luckmann, a.a.O. - Glücken, Begriff bei W. Korff: Wie kann der Mensch glücken, Perspektiven der Ethik, München 1985. Zu einer negativen Anthropologie erfährt man viele interessante Details in der europäischen Denktradition hinsichtlich "Missvergnügen", eine nicht gerade glücksnahe Lebenseinstellung. Am Beginn steht Timon, der Misanthrop. Vgl. W. Binder: über Timen, den Misanthropen, Ulm. 1896. - F. Bertram: Die Timonlegende - eine Entwicklungsgeschichte des Misanthropentypus in der antiken Literatur, Diss. Frankfurt 1906. In der weiteren Entwicklung spielen dann Befindlichkeiten eine Rolle, die Acedia/Melancholie/Ennui/ Spleen! Hypochondrie, Blasiertheit!
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bei dem Vorsokratiker Menander gut aufgehoben fühlen: "Der Mensch an sich ist schon ein hinreichender Grund für Traurigkeit." Ähnlich sah es ein über dreißig Jahre in der Psychiatrie einsitzender und schriftstellerisch begabter Mensch: "Alles ist viel zu sehr umsonst."
b) Vergänglichkeit und Überdruss Teils mit und teils ohne Bezug zu den obigen Ausführungen wird seit eh und je auf die im allgemeinen als negativ empfundene Tatsache hingewiesen, dass es in der Regel keine unbegrenzten Glückserlebnisse gibt. Eine grundsätzliche These: "Es gibt keine dauerhaften Empfindungen. Empfindungen sind keine Zustände: Sie kommen und gehen. Das Glück hat, wenn man es denn als Zustand verstehen will, den Charakter eines Ausnahmezustandes ... Man kann ebenso wenig in einem unaufhörlichen Fest leben wie in einem dauernden Glück. Weder Glück noch Fest sind dem Menschen als Dauerzustand erlebbar"34 - was den Göttern vorbehalten bleibt. Über die Dauer von Glückserlebnissen lässt sich nichts Allgemeines sagen. Von vielen Menschen erlebt ist der ggf. lebenslang die Erinnerung beschäftigende "Glückliche Augenblick".35 Die begrenzte Dauer von Empfindungen und also auch von Glückserlebnissen lässt sich aus einer bestimmten anthropologischen Sicht wie folgt erklären. Was Menschen erreichen und was sie beglückt, kann allemal mit der Zeit in den Hintergrund der Aufmerksamkeit treten und damit an Reiz verlieren. 36 Dadurch werden neue Energien frei und neue Aktivitäten in Gang gesetzt. Der Philosoph Schopenhauer weiß dies auf seine Weise: "Zwischen Willen und Erreichen fließt nun durchaus jedes Menschenleben fort. Der Mensch ist seiner Natur nach Schmerz: die Erreichung (von etwas) gebiert schnell Sättigung: das Ziel war nur scheinbar: der Besitz nimmt den Reiz weg: unter einer neuen Gestalt stellt sich der Wunsch, das Bedürfniß wieder ein. Wo nicht, so folgt Öde, Leere, Langeweile, gegen welche der Kampf ebenso quälend ist, wie gegen die Noth."37 Wer wollte das bestreiten?
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Weltschmerz/Oblomowsche Kranheit/Depression genannt werden. Zusammenfassend A. Bellebaum: Langeweile, a.a.O. J. Assmann: Glück und Weisheit im alten Ägypten, in: A. Bellebaum, Hrsg., Vom guten Leben ..., (Anm. 1): 17f. D. Blothner: Der glückliche Augenblick. Eine tiefenpsychologische Erkundung, Bonn 1993. Siehe u.a.: F. R Tenbruck: Hintergrunderfiillung und Gratifikationsverfall, in: Ders.: Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg 1972: 88ft: Bezug vor allem zu A. Gehlen, (Anm. 5). A. Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zweiter Teilband, Zürich 1877: 392. - Zu Langeweile siehe ausführlicher A. Bellebaum: ... (Anm. 5).
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c) Physisch-psychische Aspekte Glückserlebnisse sind eine der vielen Ausdrucksfonnen von Emotionen - wie beispielsweise Lachen, Weinen, Angst, Zorn usw. Emotionen sind integraler Bestandteil der menschlichen Natur und für manche Psychologen verstehbar als Reaktionen auf äußere und innere Reize. Was sich im Einzelnen abspielt, wenn Reize wirksam werden, fällt in den weiten Forschungsbereich der Emotionspsychologie, die sich mit subjektiven Gefühslagen und Ausdrucksweisen von Emotionen befasst. In den umfangreichen Forschungsbereich lassen sich auch Psychologie/n des Glücks einordnen. 38 Von den vielen Teilaspekten des komplexen Themas sei hier nur die Psychologie des Flow-Erlebnisses erwähnt. 39 In nahezu aller Munde sind die Studien über Flow bzw. Flow-Erlebnisse. Der Ausdruck Flow zielt auf optimales Erleben bzw. außergewöhnliche Erfahrungen. Zusammenfassend40 ist von einem höchst erwünschten Zustand die Rede, in welchem der Mensch seine Einbindung in Zwecke und Ziele hinter sich lasse und in ein befreiendes Stromerlebnis eintauche. Zu den verschiedenen Aspekten des Flow-Erlebnisses rechnet die autotelische Erfahrung: " ... eine sich selbst genügende Aktivität, eine, die man ohne Erwartung künftiger Vorteile ausübt, einfach, weil sie in sich lohnend ist." Gemeint sind allemal anstrengende Tätigkeiten wie beispielsweise die von Kletterern und nicht zuletzt die von Chirurgen, (die sich in ihren Bastelstuben als Herrgottsschnitzer lustvoll betätigen). Die Frage nach Flow-Erlebnissen ist später auf einen breiten Personenkreis angewendet worden, wie das etwa in der Frage zum Ausdruck kommt: "Kennen Sie das, wenn Sie in eine Tätigkeit so vertieft sind, dass alles andere bedeutungslos wird und Sie die Zeit völlig vergessen?''41 Viele Menschen haben solche Erlebnisse. 38
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Siehe u.a. das schon ältere umfangreiche Werk von C. Izard: Die Emotionen des Menschen, Weinheim/Basel1981 sowie Ph. Mayring: Psychologie des Glücks, Stuttgart 1991. - Emotionen sind freilich auch für die Soziologie interessant, denn die Ausdrucksformen sind in vielfacher Hinsicht sozial geregelt. Man lacht nicht in ungeziemender Weise - und man zeigt in bestimmten Situationen nicht, dass man glücklich ist. VgL 1. Gerhards: Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik und Perspektiven, Weinheim/ München 1988. M. Csikszentmihalyi: Flow. Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart 1992. Ders.: Das Flow-Erlebnis, 7. Aufl. Stuttgart 1999. Ders., Kreativität, 5. Aufl. Stuttgart 2001. Ders.: Dem Sinn des Lebens eine Zukunft geben. Psychologie für das 3. Jahrtausend, Stuttgart 2000. L. Muth: Leseglück als Flow-Erlebnis. Ein Deutungsversuch, in: A. Bellebaum/L. Muth, Hrsg., Leseglück (a.a.O.): 159. E. Noelle-Neumann: Stationen der Glücksforschung. Ein autobiographischer Beitrag, in: A. Bellebaurn/L. Muth, Hrsg., Leseglück a.a.O: 28. Weitere demoskopische Details in: E. NoelleNeumann/Ih. Petersen: Alle, nicht jeder. Eine Einführung in die Methoden der Demoskopie, München 1996, speziell 186ff. VgL auch H. Braun: Empirische Glücksforschung. Ein schwieriges Unterfangen (in diesem Band).
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Die traditionsreichen Auseinandersetzungen über AnlagelUmwelt sind keineswegs beendet, wenngleich nicht mehr mit der üblichen Verbissenheit gestritten wird. Für das Thema Glück besteht kein Anlass, sich weiterhin der Alternativ-Attrappe AnlagelUmwelt zu bedienen. Im Gehirn ist jener Bereich lokalisiert, der für Emotionen "zuständig" ist. Glücksempfindungen sind freilich nur eine Glückszie1e/Glücksvorstellungen eine andere Sache, nämlich zeit-und kulturbedingte Sachverhalte. Obwohl Glücksziele nicht biologisch erklärbar sind, ist die Bedeutung der physischen Natur dennoch evident. Aus der Gehirnforschung weiß man gut Bescheid über den für Glück wichtigen lirnbischen Teil des Gehirns. Hier gibt es besonders viele Rezeptoren, also Empfänger, an die Endorphine andocken - körpereigene Stoffe mit opiatartiger Wirkung. Von den zahlreichen Gehirnbotenstoffen sind Serotonin, Dopamin und Noradrenalin auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Die Werbung weiß: "Iß Dich glücklich!" - und zwar mit Aminosäuren, aus denen unsere Nervenzellen das "Glückshormon" Noradrenalin bilden. Die Beeinflussung von Serotonin und anderen Neurotransmittern, die an den Nervenenden freigesetzten Übertragungsstoffe, durch Psychopharmaka liegt nahe. Besonders erfolgreich ist nach wie vor das als "Glückspille" bezeichnete Medikament ProzaclFluctin. Der Missbrauch stimmungsauthellender Drogen - wie MorphinelBarbiturate/AlkohollKokain/Cannabis/AmphetaminelKhatlHalluzinogene sowie der neuartigen Designer-Drogen - ist nach Ansicht von Fachleuten weit verbreitet, und das Ausmaß an körperlichen/seelischen/sozialen Folgen ist kaum abschätzbar. Es geht in sehr vielen Fällen eigentlich weniger um die Erlangung von Glück, als vielmehr um Folgen wie UnglücklLeidlVerzweiflung. Der Ausdruck ,,Künstliche Paradiese" trifft sehr genau. 42
5. Glücksvorstellungen Über den engen Zusammenhang zwischen Glücksgefühlen und molekularen Vorgängen im Gehirn braucht man nicht zu erschrecken. Es gibt zwar die invarianten, d.h. den Menschen als Menschen eigenen Prozesse im Gehirn, damit ist aber das Thema Glück nicht schon erledigt. Bedeutsam sind nämlich erhebliche zeit-/ kultur-/schicht- und herkunftsbedingte Unterschiede bei Anlässen für Glücksempfindungen, bei den geltenden Glückszielen sowie bei den genutzten Mitteln ihrer Verwirklichung. 42
Zur Gehirnforschung siehe ausführlich: M. Koch: Glücksempfindungen. Ergebnisse der Gehirnforschung.
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Wir wissen schon, dass die Vorstellung vom Glück unauthebbar mit der Existenz des Menschen verknüpft ist. 43 Es gilt aber auch, dass die Glücksvorstellungen "aufs engste mit dem Zeitgeist verwoben und vom ihm beeinflusst sind". In einer kulturvergleichenden Studie ist die Rede von - wie früher schon einmal erwähnt ,,kulturspezifischen Reaktionen des denkenden Geistes auf das natürliche Glücksstreben des Menschen. Er kann es fördern oder zu unterdrücken versuchen; er kann es in bestimmte Richtungen lenken; er wird auch abzuwägen haben, wie sich individuelles und kollektives Glück zueinander verhalten und wann das Glücksstreben des Einzelnen hinter dem Wohl der Gemeinschaft zurücktreten muss.''44 Ein anderer Kenner führt aus: "Jede Zeit hat ihre Glücksvorstellungen. Kulturen sind nichts anderes als Entwürfe von Glückseligkeit; Religionen sind Erinnerungszeichen dafür, dass keine Glücksvorstellung, die der Mensch selbst entwerfen kann, genügt. Die Biographie des Einzelnen wird zur Einheit durch seine Interpretation des Glücks, die Einheit einer Epoche lässt sich ausmachen an der Übereinstimmung ihrer GlÜckssuche.''45 Dazu einige Belege.
a) Objektivierung und Subjektivierung Für Aristoteies ist eudaimonia das höchste Gut, wonach es sich zu streben lohnt. Einer der (vielen) Interpreten: "Eudairnon ist der Mensch dann, wenn er seine Vernunft zur Vollkommenheit gebracht hat.''46 Wie aber kann der Mensch vernunftgemäß leben? Dazu heißt es: Für Aristoteles sei die Welt ein sinnvoll geordneter Kosmos, in demjedem Ding und jedem Wesen sein bestimmter Platz zugewiesen werde. Daher habe auch jedes Wesen eine bestimmte für es wesenhafte Tätigkeit. Eudaimon/glücklich sei der Mensch dann, wenn er das tue, was ihm zu tun zukomme. Dieses Glückskonzept kommt nicht von ungefähr. Mit Blick auf AristoteIes hat ein Philosoph auf die wichtige Tatsache hingewiesen: "Das Gelingen des Lebens hängt darüber hinaus ab von bestimmten Strukturen des gemeinschaftlichen Lebens, von einer bestimmten Verfasstheit der öffentlichen Institutionen, die das Gehäuse menschlicher Handlungsmöglic1hkeiten und Handlungsorientierung darstellen.''47 Bezug ist die griechische polis, um die es damals nicht mehr zum Besten bestellt war. Etwas zynisch-bissig ist angemerkt worden: "Aristoteies' höchstes moralisches Gut war die Moral des athenischen Bürgers: der für unglei43 44 45 46 47
N. Hinske: Lebenserfahrung ..., (Anm. 1): 31,49. F. v. Stietencron: Das Glück und die Schatten ... (Anm. 1): 154. - Vgl. auch den Beitrag von Tb. Bargatzky in diesem Band. G. Honnefelder, Hrsg.: Vom Glück. Erkundigungen, Frankfurt 1968: 365. M. Hossenfelder: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glücksbegriff, in: A. Bellebaum, Hrsg., Glück und Zufriedenheit ... (Anm. 1): 16. R. Spaemann: Glück und Wohlbefinden ... , (Anm. 2): 24.
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chen Besitz war und für gleiche politische Rechte - der Vollbürger; und welcher Tiere, Sklaven und Weiber für Dinge hielt. Wer in Harmonie mit dieser Ordnung lebte, war glücklich. ''48 Das ist sicherlich nicht die ganze und vermutlich von vielen Philosophen nicht ernst genommene Wahrheit der aristotelischen eudaimonia. Nur als kleiner Exkurs sei angemerkt, dass auch im Alten Ägypten das Glück im engen Zusammenhang mit der Ordnung des Zusammenlebens gesehen wurde. Einprägsam formuliert: Glück sei für den Ägypter eine Sache gelungener Beziehungen, also eine Frage der Sozialisation. "Glück ... besteht darin, sich möglichst eng in die Ordnung des Zusammenlebens ... zu integrieren, und zwar dadurch, dass man den anderen das Zusammenleben, mit sich selbst ermöglicht und ihren Beifall findet .. .'<49 Zusammenfassend: Es gibt kein Glück ohne den anderen, es gibt kein Glück ohne den König, es gibt kein Glück ohne Gott. Die Fans z.B. von Schalke 04 haben andere Sorgen. Die Verknüpfung des Glücksbegriffs mit einer überindividuellen Ordnung ist schon nicht mehr - so ist jedenfalls behauptet worden - anerkannte Auffassung in der hellenistischen Philosophie: Das betrifft Stoa, pyrrhonischen Skeptizismus und Epikur. In diesen philosophischen Richtungen werde eine Denkweise gepflegt, die das Individuum mit seinen Wünschen und Bedürfnissen betone. "Die Eudaimonia wird damit zu einer strikt privaten Angelegenheit ... Insofern ist der im Abendland dann vorherrschende Begriff der Glückseligkeit als einer privaten Sache, einer subjektiven Befindlichkeit durch den Hellenismus geprägt worden."50 Im Zusammenhang mit der Deutung des im Abendland angeblich vorherrschenden Begriffs der Glückseligkeit als einer privaten Sache51 ist es nur konsequent, von Psychologisierung, Subjektivierung und Privatisierung des Glücks zu sprechen. Infolgedessen lasse sich über Glück inhaltlich nichts Verbindliches mehr ausmachen, der Begriffsei sinnentleert - ein, wie schon Kant vermerkt habe, "unbestimmter Begriff'52. Darüber lässt sich vermutlich sinnvoll streiten.
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L. Marcuse. Philosophie des Glücks. Von Hiob bis Freud, Zürich 1972: 288. J. Assmann: Glück und Weisheit im Alten Ägypten, in: A. Bellebaum, Hrsg., Vom guten Leben ... (Anm. 1): 32, 36. M. Hossenfelder: Die Philosophie der Antike 3: Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985: 36. M. Hossenfelder: Philosophie als Lehre ..., in: A. Bellebaum, Hrsg. Glück und Zufriedenheit ... (Anm. 1). Vgl. dazu auch: "Nichts wäre dem ägyptischen Denken wohl so abwegig erschienen wie der stoische und epikureische Gedanke, dass wahres Glück gerade in der Autarkie, der Unabhängigkeit von anderen ... bestehen könnte. In der ägyptischen Welt gilt Autarkie als Inbegriff des Bösen", in: J. Assmann: a.a.O., Anm. 1: 34f. Kant, s. schonAnm. 3.
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b) Glücksmodelle Die Fülle zeit- und kulturspezifischer, nicht im Bereich privat-subjektiver Gefühle angesiedelter, also gesellschaftlich vennittelter Glücksvorstellungen zu systematisieren ist neuerdings im Kontext des viel erörterten Konzepts von der "Erlebnisgesellschaft" versucht worden. Einleitend heißt es in der Studie, die anhaltend beachtet und diskutiert wird: "Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Fonn der Suche nach Glück."53 Das sei nicht immer schon so gewesen, wie die Lebensentwürfe/Sinndeutungen: Leben als Überleben, Leben als DienenlPflichtiSelbstaufopferung oder Leben als Existenz mit metaphysischem Bezug belegten. "Erlebnisorientierung" sei aber typisch für den Menschen der modemen Welt, sie beinhalte einen bestimmten Selbstbezug des Menschen und sie lasse sich als "Projekt des schönen Lebens" bezeichnen. Eine grundlegende These lautet: "Ganze Gesellschaften sind von der Art und Weise geprägt, wie sich die Menschen das Glück vorstellen."54 Als Beleg dient hier die (verkürzt wiedergegebene) Aufteilung55: • •
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Theozentrische Glücksmodelle: Orientierung am Jenseits - eine unendliche Geschichte Soziozentrische Glücksmodelle: Orientierung am Diesseits bei Vorherrschaft eines Kollektivs, etwa nach Art sozialistisch-kommunistischer Auffassungen Egoistische Glücksmodelle: subjektorientierte Glücksvorstellungen unter besonderer Berücksichtigung schöner Erlebnisse
Unstrittig ist heutzutage vielen Menschen daran gelegen - warum auch nicht? -, sich zu erfreuen, Spaß zu haben, positiv gestimmt zu sein, kurzum: etwas zu erleben, was einem gut tut. Eine entsprechende Lebensführung garantiert freilich kein anhaltendes Glück. Der Fachmann: "Allzu glücklich scheinen die Menschen in der Erlebnisgesellschaft nicht zu sein. "56 Diesen Zustand kannten allerdings schon sehr viel früher jene Menschen, die als adlige Nichtstuer darum bemühten waren, ihr Leben erlebnismäßig zu gestalten und also Zeit totzuschlagen. So etwas gibt es heutzutage unter anderem in Marbella, wo prominente, alternde Mitglieder des internationalen Jetset sich strikt an das 11. Gebot halten: "Du sollst Dich nicht lang53 54 55 56
G. Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Eine Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt 1992: 35. Vgl. auch Th. Müller-Schneider: Die Erlebnisgesellschaft - der kollektive Weg ins Glück? , in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Das Parlament, B 12/2000, 17.3.2000: 24ff. G. Schulze: Das Projekt des schönen Lebens. Zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft, in: A. BellebaumIK. Barheier, Hrsg., Lebensqualität ... (Anm. 4): 14. A.a.O.: 15ff. A.a.O.: 36.
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weilen!" Das gilt allerdings auch für weite Teile der Bevölkerung, denn mit der Demokratisierung der Freizeit ist eine Demokratisierung der Übersättigung und Langeweile einhergegangen.57
6. Glücksangebote Seit jeher haben sich viele Menschen als Glücksanbieter versucht - mit unterschiedlichen Mitteln und unterschiedlichem Erfolg.
a) Himmlisches und irdisches Jerusalem Wer die Heilige Schrift der Christen noch kennt, der weiß: "Mein Reich ist nicht von dieser Welt." Demnach erfüllt sich das Leben nicht schon im Diesseits, sondern erst im Jenseits. Es ist in diesem Zusammenhang eine interessante Frage, wie sich die Menschen den himmlischen Zustand, das paradiesische Glück, vorstellen. Keineswegs einheitlich. Das "kulturelle Klima einer bestimmten Epoche beeinflusst [nämlich] die Auffassung von Ewigkeit und diese Auffassung selbst [prägt] den Zeitgeist und das Lebensgefühl".58 Es gibt die Vorstellung von einem theozentrischen Himmel als dem Gegensatz zum irdischen Leben - und es gibt die Vorstellung von einem anthropozentrischen Himmel als der Verlängerung des irdischen Lebens. Und gemäß einer neuzeitlichen Vorstellung wird das himmlische Glück gar nicht in einem Jenseits erlebt, sondern ist der "Himmel ein Abbild dessen, was aus der Welt gemacht werden kann". 59 Damit wäre man mit den Glückserwartungen wieder auf das Diesseits verwiesen. Den Himmel auf die Erde holen - dies hat man sich seit jeher vorgestellt und zu verwirklichen versucht. Das hier wichtige Stichwort heißt utopisches GlÜck. 60 57 58 59
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A. Bellebaum: Langeweile ... (Anm. 5). Siebe auch: Summerskill: Young, free, single and totally fed up. Study show two out ofthe three unhappy despite record wealth, in: Observer, 19.5.02; R. Revers: Life's good. Why do we fell bad, in: a.a.O. B. Lang/C. McDannell: Der Himmel. Eine Kulturgeschichte des ewigen Lebens, Frankfurt 1988: 11. A.a.O.: 446. - Zum komplexen Thema vgl. auch B. Lang: Die christliche Verheißung: Ewige Glückseligkeit nach dem Tod, in: A. Bellebaum, Hrsg., Glück und Zufriedenheit... (Anm. 1): l2lff.; A. Halm: Unrecht im Diesseits - Unglück im Jenseits, a.a.O.: 141 ff.; Ders.: Paradiesisches Glück - Thematisierung von glücksbezogenen religiösen Auffassungen: Altes Ägypten, Altes Indien, Altes Testament, Altes China, Antikes Judentum, Altes Japan, in: A. Bellebaum, Hrsg.: Vom Guten Leben ... (Anm. 1). N. Cohn: Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den modemen totalitären Bewegungen, Bem/München 1961. Relevant in diesem Zusammenhang sind auch die vielen Publikationen über Endzeitvorstellungen/-erwartungen.
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Entsprechende Zukunftsvisionen haben im Abendland eine lange und aufregende und nicht selten schreckliche Geschichte. b) Verratenes Glück Im Zusammenhang mit Paradiesvorstellungen ist der Hinweis beachtenswert: "Wenn man vom Verlangen, Erheischen, Erhaschen des Glücks redet, so schwingt dabei meist die ontologische Vorstellung mit, Glück sei etwas Gegebenes, dessen ,Wesen' sich unserem Einfluss entziehe."61 Als Gegenposition komme in Frage: ,,Finden kann man sein Glück nur, wenn man es zuvor erfindet." In Konsequenz dieser, dem Sozialkonstruktivismus verhafteten Auffassung gilt: ,,Damit erscheint der Satz ,Jeder ist seines Glückes Schmied' in einem anderen Licht: Unsere Verantwortung erstreckt sich bis in den Begriff des Glücks selbst."62 Wie könnte man denn verantwortungslos mit dem Wort Glück umgehen? Im Nationalsozialismus war vom glückverheißenden Tausendjährigen Reich die Rede. Stalin verhieß paradiesische Zustände in einer klassenlosen Gesellschaft. Mao Tse Tung ließ in seiner Kulturrevolution vieles zerstören, um den Boden für etwas völlig Neues zu bestellen. Pol Pot erstrebte auf seine Weise den Neuen Menschen, indem er ca. zwei Millionen seiner Landesleute massakrieren ließ. Viele so genannte Intellektuelle haben sich von solchen zwielichtigen Figuren und deren Vorstellungswelten beeinflussen lassen. Die Welt sei - gnostische Vorstellungen sind hier nachhaltig wirksam - durch und durch verderbt und sie müsse radikal verändert werden. Der Neue Mensch63 - eine Zielvorstellung mit beachtlicher revolutionärer Schubkraft. Abermillionen haben der betreffenden Verheißungen wegen - oft nach scheußlichen Folterungen - ihr Leben lassen müssen. Es gibt tatsächlich "Barbarische GlÜcksverheißungen".64 Ein exkommunistischer Dramatiker wörtlich: "Es sind die kommunistischen Ideale selbst, egal wie miserabel sie verwirklicht werden, die mir als ein mörderischer Irrtum erscheinen. Die Verheißung der globalen
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G. Schulze: Das Projekt des schönen Leibens. Zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft, in: A. BeliebaurnIK. Barheier, Hrsg.: Lebensqualität (Anm. 4): 13. P. L. BergerfTh. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion (Anm. 5). Man kann sinnvollerweise auch von der sozialen Konstruktion des Glücks sprechen. G. Kuenzlen: ,Der neue Mensch'. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Modeme, München 1993. - Gnosis, allgemein: "Gnosis", in: Reallexikon für Antike und Christentum, Bd. 11, Stuttgart 1981: 446ff. Hinsichtlich säkularer Heilserwartungen vgl. E. Voegelin: Die Politischen Religionen, Wien 1938, sowie Ders.: Wissenschaft, Politik und Gnosis, München 1989. H. Jenkis: Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft, Berlin 1992.
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Idylle ist schon das Verbrechen."65 Sind absolute Ideale vielleicht allesamt potentiell mörderisch? - ein schrecklicher Gedanke.
c) Sozialpolitik Bei uns wird nicht ernsthaft bestritten, dass der Staat66 auch die Aufgabe hat, den Menschen günstige Voraussetzungen für ein möglichst gelingendes Leben zu schaffen - beispielsweise (freilich ein Wunschtraum) durch die Steuergesetzgebung. Der Staat kann allerdings nicht sämtliche Wünsche aller Bürger befriedigen. Es gibt zudem schicksalhafte Ereignisse, die sich staatlicher Vor-und Nachsorge entziehen. Die Diskussion über Staatsziele ist alt, verzweigt und kontrovers. Prominent und konkurrenzlos ist die - stark beeinflusst unter anderem von den englischen Moralphilosophen des 18. Jahrhunderts (Ferguson, Hume, Hutcheson und Adam Smith)67 - amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776, worin es heißt: "Wir halten die folgenden Wahrheiten für unmittelbar einleuchtend: dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, und hierzu gehören: Das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück." Es ist, wohlgemerkt, vom Streben nach Glück (= Pursuit ofHappiness)68 die Rede, und nicht davon, dass der Staat, verpflichtet wäre, Glück zu garantieren. Die Eigenverantwortung wird in den USA dennja auch groß geschrieben - und nicht wenige Menschen bleiben auf der Strecke. 69 Eine Bestimmung wie Pursuit of Happiness kennt unser Grundgesetz nicht, wenngleich unter dem Stichwort Sozialstaat glücksnahe Vorstellungen durchschimmern. Ob der Wohlfahrtsstaat glücklich macht, ist kontrovers. 70 Die Glücks- und 65 66
67 68 69 70
Heiner Müller, zit. in P. Gauweiler: Die deutsche Rebellenjugend. Ein Generationsvergleich, in: FAZ 3.1.1997: 5. H. Mandt: "Glück ist eine traditionsreiche Leitidee von Politik. und Ethik in Europa", in: Streben nach Glück - Menschenrecht und staatliche Garantie, in: A. Bellebaurn/H. BraunlE. Groß, Hrsg.: Staat und Glück. .. (Anm.: I): 53. - überblick M. Prisching: Glücksverpflichtungen des Staates, in: a.a.O.: 16ff. G. Büschges: Selbstliebe, Glück und Solidarität. The Pursuit ofHappiness bei den schottischen Moralphilosophen, in: A. BellebaumIK. Barheier, Hrsg., Glücksvorstellungen.... (Anm. I): 19ff. H.Mandt: Streben nach Glück - Menschenrecht und staatliche Garantie, sowie: Menschenrecht auf Glück? Eine Analyse kontinentaleuropäischer Staatsauffassungen, in: A. BellebaumlH. BraunlE. Groß, Hrsg., Staat und Glück ... (Anm. I): 53ft, 69ff. Siehe u.a. G. Kamphausen: Recht auf Glück? Pragmatisches Glücksstreben und heroische Glücksverachtung, in: A. Bellebaum, Hrsg., Glück und Zufriedenheit ...(Anm.: I): 86ff. Diverse Beiträge auch in: A. BellebaumlH. Schaaff/K. G. Zinn, Hrsg.: Ökonomie und Glück. Beiträge zu einer Wirtschaftslehre des guten Lebens, Opladen 1999. - H. Braun: Der Sozialstaat. Ausmaß und Probleme, in: A. Bellebaum/A. BraunlE. Groß, Hrsg.: Staat und Glück ... (Anm. I): l09ff. Ders., über das Schicksal des Solidaritätsgedankens im WoWfahrtsstaat, in: A. BellebaumlH. Niederschlag, Hrsg.: ,Was Du nicht willst, dass man Dir tu' ... Die Goldene Regel- Ein Weg zum Glück?, Konstanz 1999: 179ff.
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Zufriedenheitsraten sind bei uns jedenfalls trotz allgemein gestiegenen Wohlstands heute nicht höher als vor 40 Jahren. Über ihn ist kritisch-bissig vermerkt worden: ,,Das wohlfahrtsstaatliehe Bewusstsein ist also ein zufriedenes Bewusstsein, und doch ist es voll von Ressentiments und Verdrossenheit."7l Dies komme nicht von ungefähr, denn recht besehen gelte: ..Wohlfahrt ist wohl eine abgemagerte Version von Glück." - Wohlfahrt ist freilich trotzdem begrüßenswert.
d) Glücksindustrie Allerlei verspricht die Glücksindustrie. Es gibt Glückspiele, Glücksspiralen, Glückskugeln, Glückszahlen, Glückspillen, Glücksfeen, Glückssträhnen, Glückssymbole, Glückskuriere, Glücksorte. Die Nachfrage ist groß, und die Renditen der Anbieter sind beträchtlich. Viele Konsumenten wissen allerdings, dass sie nur im ..Warenhaus für kleines Glück" (Morgenstern) einkaufen - wenngleich es nicht wenige Menschen geben dürfte, die weiterreichende Erwartungen hegen. Wie dem auch sein mag, die Werbung lockt: ..Glück ist käuflich"; ..Mehr glückliche Tage durch Zellaforte plus"; ..Wer's wagt, dem winkt das Lottoglück"; ..Automatisch ins Paradies" mit Renault Clio; ..Glückliche Jahre durch K.H.3. Das Regenerationspräparat von Schwarzkopf'. Sinnerfüllung aufLanzarote mit: I Ging Beratung, Reisen in innere Räume, Energieaustausch durch Polarity Massage, Reiki-Behandlung, Fußreflexzonen-Massage, Heilen mit Kristallkugeln, Traumdeutung, NLP, Rebirthing; ..Erfolg und Glück" durch das Hirt-Institut in Winterthur. In einem kleinen Exkurs verdient auf die Astrologie hingewiesen zu werden. Man weiß nicht, wie viele Menschen mit welcher Einstellung und mit welchen Folgen die in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften abgedruckten Horoskope lesen. Von Horoskopen als billiger Massenware sind die persönlich zugeschnittenen und manchmal aufwendigen Zukunftsdeutungen menschlich kenntnisreicher Astrologen zu unterscheiden. Ein Kenner der Materie behauptet, dass gerade die abendländische Zukunftsdeutung stets einem fadenscheinigen Begriffvon ..Glück" gehorcht habe, wohingegen die chinesische Zukunftsdeutung hier viel vager und orakelhafter bleibe und hier durchaus die Möglichkeit erkannt werde, dass es im Leben sowohl das Glück im Unglück als auch das Unglück im Glück gebe...Wie das Abendland keine Kunst der Liebe hervorbrachte, so auch keine Kunst des Glücks, und erst recht keine Wissenschaft vom Glück. Hier sind Wohlstand und Reichtum an die Stelle des Glücks getreten. So verheißen die Horoskope gerne das Glück in der Liebe oder das Glück in der Arbeit, doch es wird übersehen, dass uns eine Grundvor71
M. Prisching: Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild, in: A. BellebaumIK. Barheier, Hrsg.: Lebensqualität ... (Anm.: 4): 70,72. Vgl. auch H. Fisch: Glück. Politische und Ökonomische Einflüsse.
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aussetzung für jegliches Glück abhanden gekommen ist: die Zeit. Wir haben keine Zeit, und wer keine Zeit hat, kann schwerlich Glück haben. "72 Solche Ansichten bleiben sicherlich nicht unbestritten. Wenn man die vielen werblich vermittelten Glücksangebote bedenkt, könnte man meinen, dass für sämtliche Güter und Dienstleistungen mit dem Hinweis auf das "positiv besetzte Reizwort" Glück geworben werden könnte.?3 Dies scheint nicht der Fall zu sein, denn die "Bewusstseinsindustrie (täte gut daran), ihren ,Kreditspielraum' für Glückserwartungen nicht zu überziehen".74 Wenn nämlich Glück für sämtliche Produkte und Dienstleistungen versprochen würde, dann wäre dieses Werbemittel sinnlos. Es ist von der "Marktgängigkeit eines Glücksgutes" gesprochen worden, die zusammen gesehen werden müsste mit "gesellschaftlich vermittelten Glückserwartungen". Erwähnt werden u.a. Jugendlichkeit, Schönheit, Gesundheit, Wohlstand, persönliche Beziehungen - insgesamt eine "breite Palette verschiedenster Formen des Lebensgenusses".75
e) Glücksspiele
Eines der vielen Glücksangebote sind GlÜcksspiele. 76 Das ist ein weites Feld mit beachtlichen Traditionen und mit vielen bis auf den heutigen Tag kontrovers erörterten Themen. Es gibt keinen verbindlichen Begriffvon Glücksspielen. Der Dissens betrifft schon das Verhältnis von Zufall und Geschicklichkeit. Man liest: Beim Lotto dominiere der Zufall, beim Hütchenspiel die Geschicklichkeit. Viele sprechen nur dann von Glücksspielen, wenn es um Geld geht und Gewinn und Verlust hauptsächlich oder vorwiegend vom Zufall abhängig sind. Glücksspiele sind uralt. 77 Auf Golgatha warfen die Soldaten das Los für das Gewand des Gekreuzigten. Augus72 73 74 75 76
77
M. Staguhn: Die Sprache des Schicksals, in: FAZ-Magazin, 14.3.1992. E. Wlodarek-Küppers: Glücklichsein. Eine empirische Studie auf der Basis von persönlichen Gesprächen, Diss. Hamburg 1987. Fr. Fürstenberg: Soziale Muster ... (Anm.: 2). N. Wolf: Der Mythos Schönheit, Reinbek 1991. - F. 1. Wetz: Körperkult, Gesundheitswahn und Abenteuersucht, in: mut. Forum fiir Kultur, Politik und Geschichte, 3/2001: 48fI. Bei einer systematischen Untersuchung von Glücksspielen sind viele Aspekte zu beachten, beispielsweise Aufwand: in Deutschland schätzungsweise 50 Mrd.; Arten: Lotterien/einarmige Banditen/Würfelspiele; Orte: Casinos/Straßen/Automatenhallen; Recht: gesetzlich erlaubt/unerlaubt. Das und vieles andere mehr bleibt hier außer Betracht. Literatur: N. Albers: Ökonomie des Glücksspielmarktes in Deutschland, Berlin 1993. - H. Nutt: Chance. Erkundigungen zum Glücksspiel in Deutschland, Frankfurt 1994. - C. Schmid: Glücksspiele in Deutschland. Über Vergnügen und Sucht von Spielern, Opladen 1994. - K. Bosch: Glücksspiele. Chancen und Risiken, München 2000. M. Zollinger: Geschichte des Glücksspiels. Vom 17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, Wien 1997. Zahlreiche weitere Abhandlungen "Institut fiir Spielforschung und Spielpädagogik", Universität Mozarteum Salzburg.
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tinus plädierte bei Entscheidungen durch Los, falls eine Übereinstimmung sonst nicht zu erzielen sei. In den USA wurden Lotterien schon 1712 eingeführt. Glücksspiele waren an vielen Höfen im 16. und 17. Jahrhundert üblich und klar geregelt. Glücksspiele galten früher nicht als gleichwertig und waren nicht allen Menschen zugänglich. Über loterie generale de France hieß es 1776: "Dieses Spiel ist gleichwohl das verführerischste und gefährlichste von allen bekannten Hazardspielen; denn Pharao u.dgl.m. spielten nur reiche Leute, oder die doch Barschaft in der Tasche hatten, aber mit dem Lotto kann sich auch der gemeinste Mann einlassen." Dazu passt der Titel einer Studie über Lottospiel: "Opium der Armen".78 Heutzutage gibt es keinen typischen Lottospieler mehr, denn dieses Glücksspiel ist voll demokratisiert. Der Hinweis auf "Opium" der Armen lässt an Glücksspielsucht denken, eine "Sucht ohne Droge". 79 Unstrittig können manche Menschen glücksspielsüchtig und damit psychotherapeutischer Behandlung bedürftig werden. Grundsätzlich ist jedes Glücksspiel potentiell suchtgefährdend, was auch für glücksspielunabhängige Verhaltensweisen wie Workaholic und exzessives Joggen zutrifft. Das deutsche Wort Glück im Sinne eines guten Geschicks hat zwei Bedeutungen: glücklich sein (= eudaimonia/beatitudo/bonheurlhappiness) - und Glück haben (= eutychia/fortuna/fortune). Fortuna, gr. tyche, ist die erstgeborene Tochter des Jupiter und altehrwürdige launische Göttin des Glücks, die in der Kunst mit verbundenen Augen dargestellt worden ist und ihre Gaben blind, unkontrolliert und unvorhersehbar verteilt. Wer wollte das angesichts der eklatanten Ungerechtigkeiten beim Ausgang mancher Lottospiele leugnen? In vielen Abhandlungen wird der Zufall als ein wesentliches Element zahlreicher Glücksspiele bemüht. Während bei uns vermutlich die meisten Menschen davon überzeugt sind, dass es Zufälle gibt, wird das in manchen anderen Kulturen nicht so gesehen. Man erfährt: "Glück im Sinne eines blinden Zufalls, der Glück verteilt, gibt es weder in China noch in Japan. Gemäß der buddhistischen Lehre 78
79
M. Hönisch: Opium der Armen. Lottospiel und Volksmagie im frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie aus Württemberg, Tübingen/Stuttgart 1994. - Casinos Austria, Hrsg.: Das Glück mit dem Glück. Casinos Austria. Ein Portrait, Wien-Klostemeuburg 1995. - Sport-Toto/Staatliches Zahlenlotto Rheinland-Pfalz, Hrsg.: Das Glück hat Geburtstag. Geschichte und Geschichten zu einem wichtigen Unternehmen, Koblenz 1998. W. Grass: Sucht ohne Drogen. Arbeiten, Spielen, Essen, Lieben ... , Frankfurt 1996. - J. Petry: Psychotherapie der Glücksspielsucht, Weinheim 1996. - G. AlbertilB. Kellermann, Hrsg., Psychosoziale Aspekte der Glücksspielsucht, Geesthacht 1999. - I. Füchtenschnieder/J. Petry, Hrsg., Glücksspielsucht: Gesellschaftliche und therapeutische Aspekte, München! Wien 1998. - J. FüchtenschniederlK. Hurrelmann, Hrsg., Glücksspiel in Europa. Vom Nutzen und Schaden des Glücksspiels im europäischen Vergleich, Geesthacht 2001. - "Fachverband Glücksspielsucht" Innere Mission, Herford.
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geschieht nichts ohne Grund, nichts ohne Ursache, und sei es durch Götter und Buddhas herbeigeführt." Ein besonders schwieriges Thema sind Philosophie und Mathematik des Zufallskalküls, heutzutage als Wahrscheinlichkeitstheorie bezeichnet. Kurz und bündig heißt es: "Das Glück kennt kein Gesetz außer den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit."80
7. Glückserlebnisse Ausgangspunkt für die weiteren Überlegungen ist der schon zitierte Hinweis eines Philosophen, den Glücksbegriff nicht allzu hoch anzusetzen. Auf den lichten Höhen eines weit entfernt vom Alltagsleben angesiedelten Nachdenkens über Glück mit oder ohne normative Zumutungen sind beispielsweise angesiedelt: Glück ist das Erlöschen aller Empfindungen im Nirvana (Buddha); Wahres Glück ist nur bei Gott zu finden (Greshake); Glück ist die volle und dauerhafte Zufriedenheit mit der Ganzheit des Lebens (Tatarkiewicz)81. Demgegenüber verdient die Bemerkung beachtet zu werden: "Eine Bestandsaufnahme dessen, was alles den Menschen Wohlgefallen und Spaß bereitet, sie erfreut oder erhebt, kann sich ... also abseits aller Begriffsquälerei auf ein Quantum leidlich gesicherter Lebenserfahrung stützen. Bekanntlich sieht man erstaunlich viel, wenn man sich eine Weile umschaut, ehe man seine Urteile fällt; nur ist dieses Verhalten unter Philosophen leider selten und unter Ideologen verpönt."82 Und was ist zu sehen, wenn man unvoreingenommen hinschaut?
a) Berichte aus dem alltäglichen Leben - Zwei Beispiele müssen genügen Die taz hat von Anfang Juni bis Ende August 1997 täglich auf dem Alexanderund Wittenbergplatz in Berlin wahllos Passanten gefragt: Sind Sie glücklich? Ein Kommentator bemerkt zu den wahrlich faszinierenden Berichten: Die Befragten " ... leben in Verhältnissen, deren Tristesse jedem kosmopolitischen Connaisseur das Herz stocken ließe, und doch haben sie eine verhaltene, unspektakuläre Fähigkeit zur Freude in sich".83 Als durchweg beeindruckende Glücksvorstellungen werden genannt: Eine wegen Himtraumas lange Zeit bettlägerige Frau: Nach 80
81 82 83
K..1. Antoni: Fuku und sachi - die religiöse Konzeption des Glücks in der japanischen Kultur, in: A. Bellebaum, Hrsg.: Vom guten Leben ...(Anm. 7): 267., N. Rescher: Glück. Die Chancen des Zufalls, Berlin 1996: 121. Vgl. auch J. Ekeland: Zufall, Glück und Chaos. Mathematische Expeditionen, München/Wien 1992. W. Tartak:iewicz: Über das Glück, Stuttgart 1984: 21. W. Schneider: Glück - was ist das? Versuch, etwas zu beschreiben, was jeder haben will, Reinbek 1978: 5lf. Kommentator "Si": Und doch welches Glück, in: FAZ 26.7.1997.
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starken Schmerzen weiß man, was Glück ist.lEin Rentner: Glücklich macht, dass ich es einigermaßen geschafft habe im Leben.lEine schwer gehbehinderte Frau ist froh, dass sie ihre drei Kinder nach einer Psychose wieder regelmäßig besuchen kann./Glück zu haben ist, Kinder zu haben, und einen Partner, der ehrlich und treu ist.INoch glücklicher wäre ich mit Kind.lMusik macht glücklich.lBei der Armee war's 'ne schöne Zeit.lGlÜck ist, richtig laufen zu können.lDie Toilettenfrau: Schön wird mein Leben durch die Partnerschaft und die Arbeit.lAuf Reisen lebe ich so richtig auf ... In einer schon vor längerer Zeit erschienenen Publikation84 wird noch einiges andere aufgezählt, das in den Blick kommt, wenn man sich unvoreingenommen umschaut: Ein Bett, in das man sinken kann.lDie selbst geernteten sauren Stachelbeeren.lDie Heimfahrt im Auto nach des Tages Mühen.lDas wieder gefundene alte Buch.lDer wieder zurückgekommene Hund. Sicherlich, dass ist in der Regel "bloßes Minutenglück", und der Autor spricht selbst vom ,,kleinen Glück" - aber das ist halt jenes Glück, welches "wir haben können". Die Stoßrichtung dieser Aussage ist klar: es handelt sich um eine Kritik an den "wütenden Propheten des Jammertals und den grämlichen Greisen der Unglücksphilosophie". In einer neueren Untersuchung 85 ist gefragt worden: Sind Sie glücklich? Die Ergebnisse: sehr glücklich: 30,2%; eher glücklich: 51,1% ; weder glücklich noch unglücklich: 15,7%. - Die Frage: Wie erreicht man Glück? ergab: Man muss es sich erarbeiten: 80,2%; es fällt einem zu: 6,7%; beides: 12,2%. Erwähnenswert ist sodann die Frage: Was macht glücklich? Die Antworten: Freundschaft: 95,5%; Familie: 93,6%; Liebe: 93,5%; Freizeit: 91,2%; Urlaub: 83,0%; ... Glaube: 48,6%. Alles in allem handelt es sich um verhältnismäßig undramatische Vorstellungen. In welchem Ausmaß die Befragten das auch selbst erleben, was sie sich wünschen, ist eine andere Frage. Gegen den vergleichsweise hohen Stellenwert von "Liebe"86 spricht übrigens nicht die hohe Scheidungshäufigkeit. Denn wer den ungeliebten Partner endlich los ist, atmet tief durch und versucht ein neues Glück. Der Rest ist Schweigen.
b) Erkenntniswert Wenn man allen normativ geprägten Glücksbegriffen entsagt und nicht der Chimäre einer kultur- und zeitunabhängigen Definition von Glück nachjagt, dann bietet
84 85 86
W. Schneider: a.a.O.: 56. EMNID, i. A. Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt: "Wo finden Sie denn Thr Glück", 19.6.1998. G. Burkart: Glück der Liebe. Eine unendliche Geschichte, in: A. BellebaurnlA. MeisIK. Barheier, Hrsg.: Glücksforschung. Analyse und Forschung, Konstanz 2002.
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es sich an zu sagen: Glück ist das, was sich Menschen!GesellschaftenlKulturenl Schichten! ... unter Glück vorstellen. Diese Auffassung von Glück entspricht zwar nicht den strengen Regeln wissenschaftlich fundierter Begriffsdefinitionen, sie ist aber dennoch ergiebig. In einer (nicht mehr erscheinenden) Wochenzeitung87 gab es eine ständige Rubrik, in einer Ausgabe eröffnet mit der These von vorhin - und dann belegt mit zwei völlig konträren Glücksvorstellungen. Andemorts 88 heißt es zu der erwähnten Perspektive: ,,Klingt gar zu einfach? Die Himforscher, üblicherweise streng sachlich denkende Menschen, kommen zu ganz ähnlichen Ergebnissen. Glück ist das, was glücklich macht ..." Es liegt natürlich nahe, zu fragen: Ja, was denn sonst? Manche Kritiker der modemen Welt sprechen gerne von Vermarktung des Glücks, um anzuzeigen, dass etwas kommerzialisiert werde, was dies nicht verdiene. Die Bezeichnung triviales Glück meint platt, abgedroschen, seicht. Der Hinweis aufMachbarkeit des Glücks signalisiert die Ablehnung einschlägiger menschlicher Bemühungen. Selbst die gebräuchliche Rede vom kleinen Glück verrät Distanz und Abwertung. Es verwundert deshalb auch nicht, wenn viele Diagnostiker der modemen Welt angewidert von Glückssurrogaten sprechen. Ein wirklichkeitsnaher Philosoph hat kritisch gefragt, ob es denn angebracht sei, die "Glücksvorstellungen mit Ansprüchen zu belasten, die nicht weniger meinen als das Heil des Menschen, die totale Versöhnung, den ewigen Frieden? Darf von Glück nur geredet werden, wo alles menschliche Verlangen endgültig gestillt ist und keine Unzulänglichkeit mehr besteht?"89 Er plädiert dafür, den Glücksbegriff aus allzu hoher Höhe herunter zu holen, d.h. Glück etwas tiefer anzusetzen.
8. Wege zum Glück Angesichts des die Menschen seit jeher bewegenden Strebens nach Glück sind die zahlreichen - für Ethik, Moral und Pädagogik bedeutsamen - Antworten auf die immer wieder gestellte Frage, wie man glücklich werden kann, nicht verwunderlich. Das Bedürfnis nach Glücksberatung mit oder ohne Dalai Lama ist, wie es scheint, gerade heutzutage weit verbreitet. 87 88
89
Die Woche, 5.2.1999. HÖRZU Report über Glück, 13.7.2001. Das Zitatende: ,.... ,Mein Gehirn stößt bestimmte Stoffe aus', erläutert etwa der Bremer Hirnforscher und Verhaltensphysiologe Gerhard Roth, ;die an Nervenzellen andocken. über einen ganz langen Weg wird mir das bewusst. Dann fühle ich mich glücklich.'" U. Hommes: Nachwort, in: Ders., Hrsg.: Was ist Glück? in Symposion, München 1976: 234.
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Wer versuchte, einen systematisch orientierten Beitrag zu liefern, der käme wegen der Fülle (im Übrigen in vielfacher Hinsicht heterogener) einschlägiger Beiträge alsbald in Bedrängnis. Deshalb nur drei Hinweise.
a) Träumerei In der Philosophie der Stoa istA-Pathie (= Leidenschaftslosigkeit) ein erstrebenswertes Ziel. Wer die Hauptaffekte Schmerz, Begierde, Furcht und Lust erfolgreich bekämpft, der kann in stoischer Ruhe und Gelassenheit natur- und vernunftgemäß leben. Stoisch geprägt schreibt Seneca: "Glücklich ist also ein Leben in Übereinstimmung mit der eigenen Natur, das nur gelingen kann, wenn die Seele erstens gesund ist, und zwar in dauerndem Besitz ihrer Gesundheit, sodann tapfer und leidenschaftlich' ferner auf schöne Weise leidensfähig, den Zeitumständen gewachsen, um den ihr zugehörigen Körper, und was mit ihm zusammenhängt, besorgt, aber ohne Ängstlichkeit, ferner in Bezug auf die anderen Dinge, die zur Lebensgestaltung dienen, aber ohne übertriebenes Interesse für irgendetwas, willens, die Geschenke des Glücks zu nutzen, ohne ihnen zu dienen."9o Dieses Glück ist etwas anderes als jenes Glück, welches wir haben können, beispielsweise selbst geerntete Stachelbeeren.
b) Genügsamkeit Eine der vielen Antworten auf die Frage, wie man glücklich werden könnte, lautet in einer Interpretation hellenistischer Philosophie: "Wenn wir dadurch glücklich werden, dass wir das, was wir erreichen wollen, auch tatsächlich erreichen, dann ist der kürzeste und sicherste Weg zum Glück, sich möglichst wenig Ziele zu setzen."91 Der Volksmund weiß das auf seine Weise: Nimm' Dir nichts vor, dann geht Dir nichts schief. Hans im Glück kommt einem in den Sinn. Michael Hampe dichtet: "Der Hans hat's Gold/gar nicht gewollt/er nimmt das Pferd/ist auch verkehrt/die Kuh kommt dann/die nimmt er an/dann kommt das Schwein/Hans sagt nicht nein/auch nicht die Gans, da freut sich Hans/Gans gegen Stein/getauscht recht fein/der Stein macht Plumps/na so was dumms/denn zu Haus liegt die Mutter/ohne Butter ohne Futter/ ganz krank im Bett/das ist nicht nett/und was wird nun/der Hans wohl tun?"92 Im 90 91 92
Seneca,De vita beata/Vom glücklichen Leben, Stuttgart 1990: 3(3). M. Hossenfelder: Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben. Antiker und neuzeitlicher Glücksbegriff, in: A. Bellebaum, Hrsg., Glück und Zufriedenheit ... (Anm. 1): 30. Zit. D. Hierdeis: ,Hans im Glück', in: Neue Sammlung. Zeitschrift fiir Erziehung und Gesellschaft, 3/1982: 234.
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Märchen heißt es: ,,,So glücklich wie ich', rief er aus, ,gibt es keinen Menschen unter der Sonne'. Mit leichtem Herzen und frei von der Last, sprang er nun fort, bis er daheim war bei seiner Mutter." Diese Einstellung und eine ihr gemäße Lebensführung sind wohl nur etwas für Menschen, die Askese virtuos beherrschen. Diogenes begnügte sich mit der Tonne und bat Alexander den Großen nur um eines: ,Geh mir aus der Sonne!' c) Aktionismus Seit einigen Jahren gibt es auffällig viele Beiträge über Glück in Zeitschriften wie: Brigitte, Das Goldene Blatt, freundin, fit for firn, Petra, Cosmopolitan, Bild der Frau, Claro, lea, tina, bella, lisa, Maxi93 • ,. Die Hefte sind durchweg gut gemacht, in vielen Fällen sind die glücksbezogenenAusführungen seriös und oft gelingt die Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für das jeweils angesprochene Publikum erstaunlich gut. Es gibt freilich bemerkenswerte Unterschiede etwa zwischen ,,Psychologie heute" und "bella". In den meisten Abhandlungen wird klipp und klar behauptet, dass es sich beim Glück nicht um eine Glückssache handelt. Man kann Glück nämlich lernen. Glück ist Lebenskunst, die man sich aneignen kann. Wer's selbst nicht weiß, wie man glücklich wird, kann dies von den Alten lernen. Glück ist ein wählbares Gut. Eine Fachzeitschrift liefert Anleitungen zum Glücklichsein - beispielsweise werden sechs, sieben, 12 oder 33 Wege bzw. Tipps angeboten und mehr oder weniger ausführlich erläutert. In Beachtung dieser Vorschläge kann eigentlich nichts schief gehen, wenn da nicht die Gefahr bestünde, hinsichtlich Glückserlebnissen benachteiligt zu sein. Es werden jedenfalls Tests unter Überschriften angeboten wie: "Haben Sie Talent zum Glücklichsein?" oder "Sind Sie Lebenskünstler?" Die angebotenen Wege zum Glücklichsein decken ein weites Feld von Lebenseinstellungen und Verhaltensweisen ab. Angesprochen werden u.a.: Lachen, Musik hören, Akupunktur, Psychotherapie, Heirat, Ayurveda, Freundschaft, Familie, Sex, Schmusen, Askese usw. usf. "Capital. Das Wirtschaftsmagazin" ist ebenfalls beteiligt. Es titelte: "So machen Sie Ihr Glück. 12 Schritte zur finanziellen Freiheit plus Computer-Test: Ihr Glücksprofil". Wer weiß, Börsenglück ist nicht unmöglich.
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Psychologie heute 3/97, 2/99, 11/2000,5/2001 - Weltbild 10/2000 - bella 3/2001 - Der Stern 1/98- Maxi 6/2002 - Gesundheit. Das Magazin aus Ihrer Apotheke 8/2001 - Großer HÖRZUReport 7/2001 - FAM = Frauen-Apotheker-Magazin 6/1999 - Capital. Das Wirtschaftsmagazin 7/1999 - Für Sie 18/19.
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d) Stetigkeit Eine beeindruckende Glücksphilosophie stammt von Selma dem SchaF. "Als ich (= ein Hund) mit der Frage,Was ist Glück?' nicht mehr weiter kam, suchte ich den großen Widder auf ... ,Was ist Glück?' Der Widder: ,Dazu erzähle ich Dir die Geschichte von Selma dem Schaf: Es war einmal ein Schaf das fraß jeden Morgen etwas Gras Lehrte bis Mittags die Kinder sprechen Mäh Machte nachmittags etwas Sport Fraß dann wieder Gras Plauderte abends etwas mit Frau Meier (= eine Eule) Schlief nachts tiefund fest Gefragt, was es denn tun würde, wenn es mehr Zeit hätte, sagte es: Ich würde bei Sonnenaufgang etwas Gras fressen Ich würde mit den Kindern reden Mäh Mäh Dann etwas Sport machen Fressen Abends würde ich gerne mit Frau Meier plaudern Nicht zu vergessen: ein guter fester Schlaf Und wenn Sie im Lotto gewinnen würden? Also, ich würde viel Gras fressen ... am liebsten bei Sonnenaufgang Und viel mit den Kindern sprechen Mäh Mäh Mäh Dann etwas Sport machen Am Nachmittag Gras fressen Abends würde ich gerne mit Frau Meier plaudern Dann würde ich in einen tiefen festen Schlaf fallen. "
Quelle: A. Bellebaum Hrsg. (unter Mitwirkung von K. Barheier und A. Meins), GlÜckforschung. Eine Bestandsaufnahme. Universitätsverlag Konstanz: Konstanz 2002. - Für eine sorgfältige Durchsicht danke ich Frau Dr. Karin GundellGöttingen.
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Lappan 8/2001.
Die Glücksforschung kommt voran l Alfred Bellebaum
Um die lahrtausendwende herum und danach sind viele Bücher erschienen, die in den ab 1992 bis 2007 publizierten 13 Bänden über Glück und Glücksforschung, aus denen die wiederabgedrucktenAbhandlungenja entnommen und als Quellen erwähnt sind, meistens nicht berücksichtigt wurden bzw. werden konnten. Das kann hier schon aus Raumgründen nicht nachgeholt werden. Es geht nur darum, einige ausgewählte Abhandlungen über nach wie vor aktuelle Themen wie beispielsweise Philosophie, Religion oder Psychologie zu berücksichtigen, gewisse Verschiebungen der wissenschaftlichen Interessen etwa hinsichtlich Ökonomie und Glück zu dokumentieren sowie auf eher neue Themen wie u.a. Glück als Gegenstand der Gehirnforschung aufmerksam zu machen. Eine zufriedenstellende Systematik ist ebenso wenig beabsichtigt wie eine vollständige Erfassung der vielen Themengebiete und ihrer zahlreichen Differenzierungen.
a) Philosophie-EthiklMoral-Erziehung Die schweizer Philosophin Fenner behauptet eine bedauernswerte "Frontstellung" der philosophischen Glücksforschung "gegenüber den empirisch orientierten Einzelwissenschaften der Psychologie und Soziologie". Man wird, so ihre These, der Komplexität des Phänomens Glück nicht gerecht, wenn es bei einzelwissenschaftlichen Fragestellungen bleibe. Erforderlich sei eine systematische Integration glücksrelevanter Forschungsergebnisse aus Philosophie, Anthropologie, Psychologie und Soziologie. Auf 646 Seiten erarbeitet Fenner mit profundem Wissen aus mehreren glücksrelevanten Disziplinen den Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft. Hauptziel ist ein transaktionales Glücksmodell. Es geht dabei um die - ja auch andernorts schon diskutierte - Frage, ob Glück eine "rein subjektive oder objektive Angelegenheit darstellt". Beide Positionen können sich folgenreich auf die "glückskonstitutive Beurteilung unseres ,guten Lebens' auswirken". 2 Mit solchen 1 2
P. Bemau: Glück allein macht auch nicht glücklich, in: FAZ, 14.3.2010: 38. Fenner 2003: 274. Vgl. auch den Hinweis: "Vie1e gegenwärtige philosophische Glückstheorien büßen zweifellos genau dadurch an überzeugungskraft ein, dass sie eine emotionspsychologische
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weitgreifenden und fundierten wissenschaftlichen Überlegungen ist die gängige Glücksforschung verständlicherweise nicht befasst. Das trifft auch für die kürzlich erschienene und sofort in vielen Medien besprochene Studie "Das vollkommene Leben. 4 Variationen über das Glück" des Philosophen Hampe zu. Es handelt sich nach eigenen Worten des Autors um eine erzählende Philosophie. Vier fiktive Persönlichkeiten vertretenjeweils vier mögliche Wege zum Glück; Wissenschaft/Technik, Spirituelle Sichtweise, skeptische Distanz zur Welt und harmonisches Verhältnis zwischen Mensch und Dingen. Diese Verschiedenheiten gilt es zu erkennen und ernst zu nehmen. Eine "vereindeutigende Philosophie" erscheint suspekt. In diesem Zusammenhang ist der Hinweis beachtenswert, dass es keinen Sinn habe, einen Begriff von Glück zu bilden, der etwas bezeichnet, was Menschen nicht verwirklichen können. 3 Von solchen explizit philosophischen Studien sind Arbeiten nach Art philosophischer Streifzüge zu unterscheiden, in denen bedeutende Denker aus der Geschichte der Philosophie zu Wort kommen, die sich mit "Glück" befasst haben. Das erkenntnisleitende Interesse kann über die einfache Darstellung hinausgehen. Das geschieht schon vor Jahren in einer beachtenswerten Arbeit über "Das Glück der Sterblichen". Es werden wichtige Repräsentanten philosophischer Glückstheorien unter besonderer Berücksichtigung von Eudämonia ausführlich vorgestellt und auf ihre Relevanz für die "Frage nach Sinn, Endzweck und Glückserfiillung unseres sterblichen Daseins" behandelt. Die Grundfrage lautet: Gibt es bei allen geschichtlichen Unterschieden "für uns ein erfülltes Glück, da wir sterblich und von Todesangst umgetrieben sind?" Die Antworten sind zwiespältig. 4 Erwähnenswert ist sodann das Buch von Heller, wo so es im Epilog heißt: "Glücks-Philosophen haben Glück gehabt. Sie sitzen bereits im Geborgenen, sind Professoren oder sonst wie gut situiert. Sie haben - wie weiland Epikur - ihr Gärtchen bestellt und können sich die Muße des Nachdenkens gönnen. Die Glücksphilosophie lebt in einem Naturschutzpark. Draußen stehen die anderen und schauen sehnsuchtsvoll über den Gartenzaun."5 Eine amüsante Bemerkung, die den Intentionen der beiden vorhin erwähnten philosophischen Abhandlungen nicht gerecht wird. Und viele Glücksforscher stehen nicht sehnsuchtsvoll am Gartenzaun. Sie haben andere Sorgen, etwa bei der Begründung einer Wirtschaftslehre vom GutenLeben.
3 4 5
Verankerung vermissen lassen ..." (599). Rampe 2009: 203. Janke 2002: 212. Heller 2004: 183.
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Manche philosophischen Einsichten können dabei hilfreich sein. So ist in der Geschichte der Philosophie bis heute der Utilitarismus6 sehr einflussreich gewesen und aus einer utilitaristischen Ethik lassen sich sehr wohl Anweisungen für wirtschaftliches Handeln ableiten - ob einem diese passen oder nicht. In den erwähnten und sehr vielen neuen Abhandlungen spielen natürlich Ethik! Moral/Erziehung eine Rolle. Es ist gelegentlich treffend von den Alten Lehrmeistern des Glücks (Weinrich) in den antiken Philosophien gesprochen worden, was nur Sinn macht, wenn Glück für lehrbar gehalten wird. Kann man aber Menschen das Glück lehren und den Menschen (die guten Willens sind) vermitteln, was Glück ist und was getan werden muss, um glücklich zu werden? Thema der Antike ist jedenfalls "eudiaimonia, das Gelingen des eigenen Lebens, das jeder will und von dem doch nicht klar ist, worin es besteht"? Das ist ein weites Feld, und erhebliche Begrenzungen der Themen sind hier unvermeidar. 8 Der Philosoph Höffe hat erst kürzlich eine umfangreiche Studie unter der Titel "Lebenskunst und Moral. Macht Tugend glücklich?" vorgelegt.9 Die gelehrsame Arbeit beschränkt sich auf philosophische Ethik. Vorab in den Wortes des Autors: Es gehe in dem Buch nicht um Glück als rein subjektives Wohlbefinden, sondern um Glück als Qualität eines gelungenen Lebens, dass nämlich das eigene Dasein glücke. Das gehe nur vermittels bestimmter "Haltungen", die zweifellos einen moralischen Charakter hätten und Tugenden hießen. Macht nun Moralität glücklich? Reflexionen über 350 Seiten verdichten sich abschließend in dem Satz: "Auch wenn die moralische Vernunft ohne Einstimmung des Schicksals kein gelungen-erfülltes Leben, kein rundes Glück, beschert, setzt sie dies Glück nicht aufs Spiel. Ohne die moralische Vernunft ist dieses Glück auch nicht zu erwarten. Unabhängig von dieser Sachlage schuldet der Mensch die Aufgabe, wahrhaft moralisch zu sein, nichts und niemandem als sich selbst." Die traditionsreiche These der Lehrbarkeit von EthikIMoral und Glück wird neuerdings im schulischen Unterricht interessant. 10 Vor einiger Zeit meldeten viele Medien überrascht und aufgeregt, dass der Leiter einer Schule nach längeren Vorbereitungen und mit Billigung der Behörden "Glück" als Unterrichtsfach eingeführt habe. Der Titel des weitverbreiteten Buches lautet "Schulfach Glück. Wie ein neues Fach die Schule verändert". Wir erfahren unter anderem., dass es Vorläufer in England gegeben hat mit den Bezeichnungen der Fächer "Well-Being" und 6 7 8 9 10
VgL Nasher 2009. Nasher ist Schüler Poppers, Untemehmensberaterund Wirtschaftspsychologe. Spaernann 1989. VgL Kick (Hrsg.) 2008. Es handelt sich um einen Sammelband mit Beiträgen über ethische Perspektiven und Glückskonzepte. Höffe 2009. Schubert 3. Aufi. 2009.
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"Learning from Wundernd Lifes". In dem Unterrichtsfach "Glück" geht es vor allem um die Vermittlung von Freude am Leben, Freude an der Leistung, Freude an der Bewegung, Körper als Ausdrucksmittel sowie Ernährung und körperliches Wohlbefinden. Es gibt anspruchsvolle Themenbereiche wie Religion, Biologie, Ethik und Sport. Teilweise anders gelagert sind die inzwischen schon zahlreichen Unterrichtsmaterialen zum Thema "Glück". Die Titel einiger neuerer Materialien lauten: Glück und christliches Leben, Nachdenken über das Glücklichsein, Glück als Ziel des Lebens, Glück und Sinnerfüllung, Was erwarte ich von einem glücklichen Leben?
b)TheologielRengion Teils mit und teils ohne direkten Bezug zur Philosophie gibt es im christlich geprägten religiösen Bereich insofern eine Besonderheit, als zusammen mit den jenseitsorientierten Einstellungen von Leben/Sinn/Gnade/Erlösung/Heil unvermeidbar Bewertungen von Glückserlebnissen einhergehen. Denn schließlich erscheint das diesseitige Leben und was in ihm geschieht tendenziell fragwürdig. Bei allen unterschiedlichen Auffassungen "im Detail" hat es Paul Gerhard eindrucksvoll auf den Punkt gebracht: "Wir sind nur Gast aufErden/und wandern ohne Ruh'/mit mancherlei Beschwerden/der ewigen Heimat zu." Kein Wunder, dass theologieintern dem Glück lange Zeit eine begrenzte Bedeutung zugemessen wurde. Das hat sich geändert. In der vor wenigen Jahren veröffentlichten Studie des evangelischen Theologen Clausen über "Glück und Gegenglück" ist der Autor in seinen theologischen Variationen über einen alltäglichen Begriff sehr darnm bemüht, diese aufzuwerten. Kurz und bündig: "Darum sollte Glück auch ein theologischer Begriff sein." Daher wäre es angebracht, dem ,,Allerweltswort Glück nachdenkend einen theologischen Sinn abzugewinnen"l1 - was hier inhaltlich näher zu bestimmen, den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde. Um ähnliche Fragen geht es in der erst kürzlich erschienenen Arbeit von Schlögl-Flier ,,Das Glück - Literarische Sensorien und theologisch-ethische Reaktionen. Eine historisch-systematische Annäherung an das Thema Glück"- sowohl bezüglich evangelischer als auch katholischer Vorstellungen. Nach Ansicht von Fachleuten gibt es offensichtlich ein "zeitgenössisches theologisches Glücksverständnis" .12 Dieses wiederum ist seinerseits Gegenstand kritischer Überlegungen. Im Hinblick auf neuere theologische Auffassungen wird davor gewarnt, sich auf "innerweltliche Glücksverheißungen" zu beschränken. Denn: kurz und bündig und klar und deutlich ausgedrückt gelte, dass "wir eben noch, nicht in einer erlösten und rest11 12
Clausen 2005: 5, 7. Schlögl-Flier2007: 20.
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los geglückten Schöpfung leben. Es geht darum, das Wissen darüber wachzuhalten, dass wir noch des Heils bedürftig sind, dass wir also nicht nur Glück haben, sondern wirklich Gottes Gnade erleben".13 Dem werden gläubige Menschen, die es trotz Säkularisierung in großer Zahl gibt, nicht widersprechen. Die Freude am Genuss glücklich machenden Verhaltens ist ihnen ja nicht rundum verwehrt. Das kann vieles sein: Überwindung einer schweren Krankheit, Erlebnis einer Reise an den Tegernsee, tiefe Befriedigung über eine problemlose Scheidung ... Das ist das Glück, welches wir haben können. c) Empirische Glücksforschung: drei Anwendungsbereiche Philosophische und theologische Überlegungen zum Thema Glück spielen in der Glücksforschung weithin kaum eine Rolle. "Mittlerweile ist, Glück' es wert, wissenschaftlich untersucht zu werden", - so heißt es in einem amerikanischen Aufsatz. 14 Und das meint eben nicht Philosophie und Theologie. Hier brauchen jetzt keine unterschiedlichen Wissenschaftsbegriffe erörtert zu werden, und es bringt auch wenig ein, das Wort ,Wissenschaft' für alles Nachdenken zu reservieren, welches nichts mit Philosophie und Theologie zu tun hat. Es ist dennoch sinnvoll, jene Disziplinen "gesondert" zu behandeln, die mit einem weit verbreiteten Kürzel "Empirische Wissenschaften" heißen. Psychologie ist in der Diskussion über Glück sehr bedeutsam. Die amerikanischen Forscher Czikszentmihalyi, M. Seligmann und E. Diener beispielsweise sind überall bekannt. Letzterer gilt als ein bedeutender Repräsentant der Positiven Psychologie, die darum bemüht ist, die guten Seiten des Menschen verstärkend zu beeinflussen. Demgemäß versteht es sich von selbst, dass Glück lernbar ist. Glückspsychologie ist weltweit attraktiv und hat viele Anhänger unter forschenden und praktizierenden Psychologen. Schon allein deswegen ist die Literatur für einen einzelnen Menschen unübersehbar. Glücklicherweise gibt es seit vorigem Jahr ein Buch von Bucher - Praktischer Theologe und Religionspädagoge an der Universität Salzburg - verfasstes umfangreiches "Handbuch des Glücks" mit geradezu erschreckend vielen Literaturangaben. Die wichtigsten vier Fragen der Glückspsychologie sind: Was ist Glück? Was macht Menschen glücklich? Wie wirkt sich Glück auf uns Menschen aus? Kann Glück erhöht werden? Wenn ja, wie wodurch und wie nachhaltig?15 13 14 15
Meurer 2010: 18. Zititert nach: Bucher 2009: XIII. A.a.O. XVI. - Philosophie kann durchaus hypothesenwürdige Aussagen treffen. VgI. dazu den Hinweis: ,,Aristoteles zufolge erfordert Glück hinreiche Bildung. Anders hingegen Schopenhauer: ,Qui auget scientiam, auget dolor'. Je gebildeter der Mensch, desto mehr (seelisch-geistigen) Schmerz erleidet er. Kann die empirische Glücksforschung diese philosophische Querele klären?
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Wirtschaftswissenschaft-Ökonomie. Wer sich irgendwann mit Wirtschaft beschäftigt hat, kennt die Denkfigur des Homo Oeconomicus, eines "Menschen", der sich uneingeschränkt rational=vernünftig verhält. Unangesehen der vielfältigen begrifflichen Verwendungen des Wortes rational/vernünftig war und ist dieses Konzept kritisierbar. Es kommt eben häufig vor, dass spontan etwas gekauft wird, das sich später bei dem Käufer nach nüchterner Abwägung des Kaufes als rein gefühlsmäßige Entscheidung erweist und ggf. bedauert wird. Psychologische Erklärungen tragen zum Verständnis solcher "Irrationalitäten" bei, (wobei hier so verstandene "Irrationalität" für die betroffenen Menschen zunächst durchaus "vernünftig" sein mag). Ökonomie und Glück - das ist ein facettenreiches Thema. Ein interessante, u.a. schon seit langem vom Allensbacher Institut für Demoskopie regelmäßige untersuchter Umstand ist die Tatsache, dass steigender materieller Wohlstand nicht automatisch glücklicher macht - was übrigens der uralten Volksweisheit entspricht: Geld macht nicht glücklich. (Stimmig wäre: Geld allein macht nicht glücklich.) Es gilt dann auch, dass Armut nicht unbedingt unglücklich macht. In - nicht unproblematischen - Ländervergleichen können Länder mit niedrigem Bruttosozialprodukt durchaus gut abschneiden. Bei hohen Vermögen sind dauerhafteis Zufriedenheit/Glück keineswegs garantiert. Und die Freude über einen hohen Lottogewinn legt sich mit der Zeit als Folge von Gewöhnung. Ökonomische Glücksforschung ist zurzeit in vielen Ländern Gang und Gäbe. Bei uns ist insbesondere der schweizer Wirtschaftswissenschaftler Frey 16 sehr bekannt und einflussreich. Er bewegt sich in vielen Untersuchungen sozusagen zwischen Ökonomie und Psychologie, und er begreift richtigerweise, wenngleich nicht unwidersprochen, "Ökonomie als Sozialwissenschaft". Als erfolgreicher Forscher ist er ein gefragter Ratgeber nicht zuletzt für Politik. Von den vielen wissenschaftlichen Einsichten abgesehen steht für Frey fest: Glück ist messbar. Politische Wissenschaft - Politik. Es gilt bei uns als selbstverständlich, dass der Staat sich um das Wohl seiner Bürger kümmern soll, ohne deswegen totalitäre Ansprüche geltend zu machen. Jede seriöse Politik, die sich dieser staatlichen Aufgabe stellt, kommt heutzutage angesichts der äußerst kompliziert gewordenen Lebensumstände nicht daran vorbei, einschlägige wissenschaftliche Erkenntnisse für politische Entscheidungen zu berücksichtigen. Unzählige staatliche und nichtstaatliche Forschungsgruppen sind zeit- und geldaufwendig ununterbrochen damit
16
Nur zwn Teil! Die Effekte von Bildung auf Glück wurden unterschiedlich bestimmt - und sind schwach sowie mit anderen Variablen konfundiert, speziell Einkommen, Berufund Gesundheit (Argyle.2001,I46f.)." Bruno S. Frey hat die Leitung des Instituts für Empirische Wirtshaftsforschung inne. - Zum Thema Ökonomie vgl. auch in diesem Band die Beiträge von Schaafund Binswanger.
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beschäftigt, politische Entscheidungen vermittels wissenschaftlicher Einsichten vorzubereiten. Es werden zahllose Berichte erstellt, in Festakten den Ministerien übergeben - und verschwinden dann in der Versenkung. Manches wird öffentlich und in den Medien eifrig diskutiert, etwa Bundesarmutsbericht, Bundesfamilienbericht, Bundesjugendbericht ... Einen Bundes-Glücksbericht gibt es bislang nicht. Das wäre auch weder sinnvoll noch machbar. Viele Menschen möchten gerne weniger Steuern zahlen als sie es tun müssen. An der Steuergesetzgebung hängt aber soviel dran, dass jedes Drehen an einer Schraube komplexe Auswirkungen hat, die ihrerseits im steuerlichen Bereich nicht folgenlos bleiben und unter Umständen noch weitere Probleme zur Folge haben. "Glück", das wissen wir, ist ein komplexes und kompliziertes Thema, und dazu gehört auch, dass wir heutzutage keinen allgemeinverbindlichen Glücksbegriff mehr haben. Was soll Politik für wen, mit welcher Begründung und Inkaufnahme welcher Ungerechtigkeiten beschließen? Und trotzdem gibt es ernst zunehmende und seriöse Politikberatung hinsichtlich Glück. Schon früher hat Noelle-Neumann von Institut für Demoskopie auf die Bedeutung von GleichheitlUngleichheit aufmerksam gemacht. Kürzlich ist die datenreiche Arbeit von WilkinsonlPickert "Gerechtigkeit und Glück. Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind" erschienen. Es liegt nahe, die Lebensumstände zu ändern, die Ungleichheit bedingen. Das ist leichter gesagt als getan - wenngleich in dem Buch zahlreiche konkrete Vorschläge diskutiert werden. Die Autoren bedienen sich mehrerer Kategorien wie beispielsweise geringere Lebenserwartung, Fettleibigkeit, Süchte. Hilfreiche politische Entscheidungen sind vorstellbar, aber nur schwer realisierbar. Die Verfasser haben aber einen gewissen Optimismus. Den hat auch der Autor des bekannten Buches "Die glückliche Gesellschaft. Kurswechel für Politik und Wirtschaft". Der Ökonom Layard war 1997 bis 2001 für die britische Regierung unter Toni Blair als Glücksberater tätig. Ihn bewegt u.a. die schon seit langem bekannte und empirisch belegte Tatsache, dass Gesellschaften mit steigenden Wohlstand nicht glücklicher werden. Empfohlen wird u.a. ein größerer staatlicher Einfluss durch eine stärkere Steuerprogression und weniger Arbeit aus gesundheitlichen Gründen. Es gab viel Kritik. c) Empirische Glücksforschung: Initiativen und Einrichtungen Die folgenden Hinweise betreffen nur einen kleinen Teil dessen, was in den betroffenen Wissenschaften zum komplexen Thema Glück und angrenzender Begriffe dargestellt wird. Aber auch diese wenigen Ausführungen belegen die These: Das Glück hat viele Gesichter.
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Eine der zahlreichen Leibniz-Institute ist GESIS - Gesellschaft für Infonnationssysteme, die sozialwissenschaftliche Forschung unterstützt. Darunter fällt auch das Zentrum für Sozialindikatorenforschung (ZSi). Verallgemeinernd kann man sagen, dass vermittels Sozialindikatoren17 (= Messinstrumenten der Sozialwissenschaften) die objektiven Lebensbedingungen und subjektive Zufriedenheit untersucht werden. Eine Arbeitsgruppe befasste sich mit der "Aufrechterhaltung individueller und gesellschaftlicher Zufriedenheit unter Bedingungen stagnierender bzw. sinkenden Wohlstands". Die Ernst Freiberger-Stiftung war von diesem Thema besonders tangiert. Die Ernst Freiberger-Stiftung ist eine Einrichtung des Unternehmers Freiberger. Der Vorstand ist hochrangig besetzt, z.zt. mit Miegel, Binswanger, Meulemann u.a. Bei den regelmäßigen Veranstaltungen "Ameranger Disput" im bayerischen Amerang geht es um Themen wie Arbeitslosigkeit, Religion und Familie. Zuletzt 2009 befasste man sich mit der Frage: "Wie viel materiellen Wohlstand braucht der Mensch zu seinem Glück?" Miegel trug erste Ergebnisse einer vom Institut für Demoskopie/Allensbach durchgeführten Umfrage für die Stiftung vor. Details hier außer Acht lassend heißt es abschließend in dem Bericht: "Letzten Endes geht es um einen grundlegenden neuen Lebensstil, der das in den Mittelpunkt stellt, was die Menschen wirklich glücklich und zufrieden macht." Das Institutfür Demoskopie hat sich seit vielen Jahren und früh mit "Glück" befasst. Elisabeth Noelle-Neumann gilt zu recht als eine kenntnisreiche Glücksforscherin. In einer Untersuchung aus neuerer Zeit "Glücksdefinitionen und -erfahrungen der Bevölkerung" geht es zentral um eine Analyse der Ursachen und Anlässen von Glückserlebnissen, die Bedeutung von Selbstbestimmung, und die Bedeutung des sozialen Umfeldes für individuelle GlÜckserfahrungen. 18 Die Studie wurde erstellt im Auftrag der Identity-Foundation, einer Stiftung der Public Relation Agentur Kothes in Köln. Sie sieht ihre Aufgabe in der Förderung von Forschungen zum Selbstverständnis von Personen, Gruppen und Institutionen. Der Meister Eckhart Preis wurde bislang verliehen an Etzioni, UviStrauss, Tugendhat und Amartya Sen. An der englischsprachigen Jacobs University Bremen leitet die Soziologin Hilke Brockmann die Happiness Research Group in der School ofHumanities and 17
18
Erwähnenswert ist auch die Sektion "Sozialindikatoren" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Schon vor Jahrzehnten wurden auf einer der Sektionstagungen Glück und Zufriedenheit thematisiert. Wichtige Arbeiten dazu u.a. W. Glatzer und W. Zapf(Hrsg.): Objektive Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden, Frankurt 1983. - Weltweit unzählige Studien; vgl. International Society for Qua1ity ofLife (ISQOLS). E. Noelle-Neumann: Stationen der Glücksforschung. Ein autobiographischer Beitrag, in: A. Bellebaum/L. Muth (Hrsg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, Opladen 1996: 15.ft:
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Social Sciences innerhalb der Fakultät für Geistes-und Sozialwissenschaften. Es geht nach eigener Beschreibung um interdisziplinär ausgerichtete empirische Forschung der Ursachen, Wirkungen und Folgen von subjektivem Wohlbefinden. Dabei interessieren insbesondere die kausalen Zusammenhänge von objektiven Lebensumständen, subjektivem Glück und sozialen Handlungsfolgen. Von den zahlreichen Veröffentlichungen seien hier nur erwähnt die Herausgabe eines Sonderbandes von Social Indicator Research (20 I 0) mit einer Einleitung von BrockmannlDelhey: "The Dynamics ofHappiness and the Dynamic ofHappiness Research". Im dem schon vor vielen Jahren von dem holländischen Glücksforscher Veenhoven l9 gegründeten und geleiteten Journal ofHappiness Studiesin engster Verflechtung mit der weltweit bekannten World Database ofHappiness - gibt es von Brockmann einen umfangreichen Beitrag "Why are Middle-Aged People so depressed? Evidence from West-Germany". Ein besonderes Interesse gilt China. Dazu gehört die Veröffentlichung "The China Puzzle: Falling Happiness in a Rising Economy". Forschungsaufwand, empirische Daten und Präsentation sind beachtlich. 20 Vergleichsweise neu ist das Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt e. V in FrankfurtJM. - eine Art "Denkfabrik" mit besonderem Interesse an den tatsächlichen und verbesserungsbedürftigen Zusammenhängen zwischen Gesellschaft! WirtschaftlPolitik. Schwerpunkt ist auf dem Hintergrund von Zukunftsforschung die Frage nach einem wünschenswerten sozialen Fortschritt - unter Berücksichtigung von Variablen wie beispielsweise BildunglEinkommen /Beschäftigung! Effektivität des Staates - und nicht zuletzt Zufriedenheit/Glück. Es gibt Beiträge unter den Titeln wie ,,zukunftsforschung für Staaten", "Die breite Basis des gesellschaftlichen Fortschritts" und "Die glückliche Variante des Kapitalismus". Dieser zeichnet sich u.a. aus durch: niedrige Arbeitslosigkeit und Korruption, hohes Bildungsniveau und Einkommen. Begünstigte Ländern sind u.a. Kanada, die USA, Schweden und Niederlande. Zu der weniger glücklichen Variante werden aufgeführt: Deutschland, Spanien, Frankreich, Belgien und Österreich. Zusätzliche Hinweise gibt es zur unglücklichen Variante des Kapitalismus und die ostasiatische Variante. In Wien gibt es ein Institut für europäische Glücksforschung (IFEG) - angeblich als Ausgangspunkt einer geplanten Privatuniversität für Glücksforschung und Lebenskunsf 1• Es ist - so die Selbstdarstellung - ein unabhängiges akade19 20 21
Die von Rut Veenhoven und seinen Mitarbeitern aufgebaute World Database ofHappiness ist eine Fundgruppe stark empirisch verwurzelter, forschungsbedeutsamer Untersuchungen und Beiträge. Schriften zugänglich über Deutsche Bank Research. Siehe unter: http://www.optimalcha11enge.com/neu/07.htm. Zugriff 10.06.2010.
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misches Forschungsinstitut, das experimentell und meta-experimentell nach Ursachen von Glückserlebnissen sucht. Als Infonnationsdienst gibt es den "Happiness Oberserver". Eine experimentelle Glücksforschung wird mit dem Hinweis gefordert, dass nur durch Experimente Ursache-Wirkungs-Verhältnisse eindeutig geklärt werden könnten. Durch Umfragen erhellte Korrelationen reichten für seriöse Theorien nicht aus. Als Grundbegriffe für die Forschung dienen Gemütszustand, Wunsch, Fortdauer und Wiederkehr - was schlussendlich zu einer Theorie der optimalen Beanspruchung (Laszlo) führen soll.
d) Glücksberatung als Lebensberatung Bei uns sind sehr viele Menschen auf der Suche nach Glück. Kein Wunder, dass auf dem Markt der Sinngebungen viel los ist, worüber es eine Unmenge von Literatur gibt. ,,Ratgeberliteratur" ist der gängige Begriff, die Nachfrage ist enorm, die auf diesem Markt tätigen Verlage verdienen prächtig und die professionellen Berater etwa als Psychologen, Philosophen, Geistliche u.v.a.m. sind gut beschäftigt. In einer wissenschaftlichen Abhandlung über "Sein Glück machen" wird einleitend der Philosoph Thomä mit dem wichtigen Hinweis in dessen Arbeit "Vom Glück in der Modeme" zitiert, wonach Glück das geheime Zentrum der Moderne seF2. In diesem Zusammenhang erscheint es einsichtig, wenn der Autor ausführt: "Lebenshilferatgeber sind zu kaum hintergehbaren Anleitungen der Selbstführung geworden." In der vorhin erwähnten Studie "Sein Glück machen ... "hat der Autor, Duttweiler, ein eigenes "Verzeichnis der verwendeten Ratgeber" mit ca. 65 Titeln erstellt. Einige Bücher haben Titel wie: "Vampire. So werden Sie mit den Menschen fertig, die Ihnen den letzten Nerv rauben"; ,,Die Fortuna-Formel. Wie Sie die Voraussetzungen für Ihr Glück schaffen"; "Das Glück des inneren Lächelns. Geheimnisse, die jeder kennen sollte"; "Glück ist machbar. Die Kunst des positiven Denkens, jeder Tag ein Weg zum Glück" usw. usf. Kürzlich erschien die t.Tbersetztung eines amerikanischen Bestsellers "Glücklich ohne Grund. In 7 Schritten des Glück entdecken, das längst in Ihnen streckt" (Schimkofl). Da kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Inwieweit in den vielen Einrichtungen zur Lebens-/ Ehe-/Familien-/Elternberatung und dergleichen mehr "Glück" thematisiert wird, wäre einer inhaltsanalytischen Untersuchung wert. Hier sollen nur wenige ausgewählte Einrichtungen/Personen/Bewegungen erwähnt werden, denen es vordringlich bzw. auch ausdrücklich um "Glück" geht. Philosophische Praxen. Wer den Ausdruck schon einmal gehört, aber sich nicht weiter damit befasst hat, der könnte meinen, dass es sich um eher beiläufige 22
Thomä 2003: 16.
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Einrichtungen handle. Das ist nicht der Fall. Seit den 1980er Jahren sind zahlreiche Praxen entstanden, gibt es inzwischen eine Gesellschaft für Philosophische Praxis, einen Berufsverband für Philosphische Praxis und ein International Journal ofPhilosophical Practice. Es gibt inzwischen zahlreiche Einrichtungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Organisationsformen sowie viele nachfragende Personen und Institutionen. Sogenannte Coachs gehören zum Geschäft. Zu den vielen Persönlichkeiten, die sich dieser Art praktischer Ethik verpflichtet führen, gehört bei uns der Philosoph Wilhelm Schmid, der seine Lebensphilosophie in zahlreichen Veröffentlichungen, Vorträgen und Seminaren vermittelt. Bekannte Bücher von Schmid heißen ,'philosophie der Lebenskunst"; "Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst"; "Mit sich selbst befreundet sein" sowie mit vielen Auflagen "Glück. Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das Wichtigste im Leben ist". Interessante Differenzierungen betreffen das Zufallsglück, das Wohlfühlglück, das Glück der Fülle und das Glück des Unglücklichseins. Und warum Glück nicht das Wichtigste im Leben ist? Weil es bei den vielen Nöten und Ängsten und Besorgnissen sehr vieler Menschen recht besehen um "Sinn" geht und Glück ein Ersatzbegrifffür Sinn ist. 23 Spiritualität. Die spirituelle Sichtweise wurde in Hampes Buch als einer der möglichen Glückswege erwähnt. Der Terminus Spiritualität ist mehrdeutig und wird heutzutage inflationär gebraucht. Eine der vielen Umschreibungen verweist auf immaterielle, mit den üblichen Sinnen nicht fassbare Wirklichkeit und durch sie ermöglichte Lebensgestaltung. Die Nähe zu Begriffen wie Religion, Glaube, Transzendez u.ä.m. ist offenkundig. Mit ein wenig Hintergrundwissen weiß man, was gemeint ist, wenn es in einem Buch über "Glück. Ein spiritueller Streifzug" Kapitelüberschriften vor allem östlicher Autoren gibt wie: "Kennzeichen der Weisheit und des Glücks"; ,,An Uschas, die Morgenröte, die uns alle Herrlichkeiten des Tages erschließt"; "Buddha lächelt"; "Glücklich zu sein und leiden". Auch bei uns ist spirituelles Gedankengut weit verbreitet. Der sehr bekannte und wirkmächtige Benediktiner Anselm Grün hat viele auflagenstarke spirituelle Bücher geschrieben, spricht zu spirituellen Themen, versteht sich als geistiger Berater vermittels Meditation und Kontemplation u.a.m. In seinen zahlreichen Veröffentlichungen spielt Glück eine große Rolle. Erwähnt sei hier nur "Das große Buch vom wahren Glück". Die Leser sind massenhaft beeindruckt. Gaia- Weg. In der griechischen Mythologie ist Gaia die personifizierte Mutter der Erde. Die zahlreichen sich selbst als spirituell geprägt verstehenden Gemeinschaften und Kommunen - ein soziales Netzwerk besonderer Art - betrachten die 23
Schmid 2007: 45.
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Erde und ihre Biosphäre als ein Lebewesen. Es bedarf eines rücksichts- und verständnisvollen Umgangs mit der Erde, um den Verlust der menschlichen Kräfte Einhalt zu gebieten. Erwähnenswert sind das Gaia-Lebensdorfund viele entsprechend hergerichtete Stätten der Begegnung. Schwitzhütten, Trancetänze und Heilkreise gehören zum Zeremoniell der Bewegung. Das Lebensziel ist hoch gesteckt, nämlich auf den sieben Wegen zum Glück zu gelangen.
e) Glück: Pro und Contra Die vielen Bücher, Zeitschriften, Vorträge, Seminare, Talkrunden und Glückshelfer24 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass es nicht nur massenmedial unterstütztes Glücksverlangen und Glücksbestrebungen, sondern auch manche - unterschiedlich begründete - Kritik gibt. Und die Kritiker sind keineswegs "geborene" missmutige, beispielsweise schopenhauerisch geprägte Menschen. Von Hirschhausens Buch "Glück kommt selten allein" ist ein Bestseller. Im Grunde handelt es sich um einen Glücksratgeber - freilich von besonderer Art. Der Autor ist Neurologe und Psychiater und verfügt über viel Witz und Humor, etwa im heilenden Umgang mit Kindern im Krankenhaus. Seine millionenfach verkauften Bücher stapeln sich in den Buchhandlungen und seine Vorträge finden enormes Interesse bei einem dankbaren Publikum. Von Hirschhausen kritisiert die vielen Glücksgurus, Philosophen und Ratschlagausteiler, weil sie Glück auf eine Formel zu bringen versuchten. Seine Selbsteinschätzung lautet: "Es gibt viel zu lachen. Über unsere Macken, unsere Suche nach dem Glück an den falschen Orten und über mich", noch kürzer: "Humor ist die wirksamste Art, das Herz der Menschen zu bewegen .... "25 Das Publikum versteht offensichtlich diese Botschaft, denn die Witze und Kalauer kommen sehr gut an. Man muss zugeben, dass der erfolgreiche Comedian über ein wissenschaftlich geprägtes Hintergrundwissen verfügt, das sozusagen in seine Pointen eingeht. Wenn es da nur nicht die abweisende Haltung gegenüber den Glücksphilosophen gäbe. Kritik provoziert Gegenkritik - aber sinnvollerweise nicht in übervollen Vortragssälen. Zu der weiter oben erwähnten positiven Psychologie ist ironisch-kritisch vermerkt worden, dass der gut gemeinte Vorschlag, positiv zu denken, unter Umständen problematisch wäre. Wer sich in dieser Hinsicht zwinge, anders als positiv zu denken, könnte ergebnisloser Verdrängung erliegen. Deshalb der gut gemeinte Rat: "Ärgern ist gesund. Immer nur positiv denken macht krank."26 Kurzum: Zwanghaftes positives Denken sei eine unwirksame und schädliche Selbsthilfemethode. Ähnlich verhält es sich mit dem 24 25 26
Vgl. dazu Schreiber 3. Auf!. 2007, Kapitel Ratgeberglück. Zitate aus Amazon-Interview. Vgl. Scheich 2002.
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Streben nach Glück. Wer stetig geradezu zwanghaft darum bemüht ist, unbedingt glücklich sein zu wollen, scheitert frustriert. Unterstützung findet diese Haltung in zahlreichen anderen Studien. Moderate "Suche nach Glück! - Aber jage ihm nach?" In dem so betitelten aufschlussreichen Band sind philosophische und theologische Spuren eines "grundlegenden Handlungsmotivs" versammelt. Im Zusammenhang mit der Vorstellung eines irdischen Paradieses "beginnen die Fragen, die Verstörungen und Ratlosigkeiten angesichts des Glücks". 27 Darüber wird in der abendländischen Geistesgeschichte sei jeher nachgedacht. Als eine zentrale Figur taucht Aristoteies immer wieder auf. Den vielen am Zeitgeschehen interessierten Menschen begegnet Pascal Bruckner immer wieder. "Verdammt zum Glück. Der Fluch der Modeme", so lautet der plakative Titel eines umfangreichen Essays. Schon das Wort Glück ist ihm in gewisser Weise unsympathisch. "Es gibt nichts Vageres als die Vorstellung, diesem alten, prostituierten, missbrauchten Wort, das so vergiftet ist, dass man es aus der Sprache verdammen möchte."28 Das ist natürlich nicht ganz ernst gemeint, denn in dem gedankenreichen Buch ist viel von Glück die Rede - nur mit mit manchen erwägenswerten Vorhalten. "Seid glücklich!" - das ist ihm keine verallgemeinerbare Lebensmaxime.
Literatur (Auswahl 2000-2010) A. Alkofer, Hrsg., Suche Glück! - Aber jage ihm nach? Philosophische und theologische Spuren eines grundlegenden Handlungsmotivs, Fribourg 2003 Bauman, Z.: Wir Lebenskünstler, Frankfurt/M. 2010 Binswanger, B.: Die Tretmühlen des Glücks. Wir haben inuner mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun?, Freiburg 2006 Bok, D.: The Politics ofHappiness, 2010 Botton, v. A.: Glück und Architektur, Frankfurt/M. 2008 27 28
AIkofer 2003. Darin wichtig: A. Pieper: Das Glück der Philosophen: 15fI. P. Bruckner: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Berlin 2001, S. 11. - Vgl. auch Bauman 2010, v.a.. 41ff. (,,Die Mühen des Glücklichseins"). - Wichtig natürlich die vielen Skrupel im Zusammeng mit Glück, wie sie in der jüngeren Geistesgeschichte Deutschlands geäußert worden sind. Vgl. dazu in diesem Band den Beitrag von Rehberg und früher noch andere Texte in: A. Bellebaum/K. Barheier (Hrsg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie, Opladen 1997. - Vgl. zu alledem die einschlägigen Ausführungen in Thomä, z.B. 131ff.: Selbstbestimmung, Selbsterhalt und Glück.
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Alfred Bellebaum
Bucher, A. A.: Psychologie des Glücks. Handbuch, Weinheim/Basel 2009 Brokmann, H.lJ. Delby: Introduction: Tbe Dynamic ofHappiness and the Dynamics ofHappiness Research, in: Brucker, P.: Verdammt zum Glück. Der Fluch der Moderne. Ein Essay, Berlin 2002 Clausen, J. H.: Glück und Gegenglück. Philosophische und theologische Variationen über einen alltäglichen Begriff, Tübingen 2005 Christakis, A. C.lJ. H.Fowler: Connected. Die Macht sozialer Netzwerke und warum Glück ansteckendi~,dt.Fr~.2010
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Die Glücksforschung kommt voran
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Kulturen und Traditionen
Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben Antiker und neuzeitlicher Glücksbegriff Malte Hossenfelder
Immanuel Kant schreibt in seiner Grundlegung zur Metaphysik der Sitten: "Es ist ein Unglück, daß der Begriff der Glückseligkeit ein so unbestimmter Begriff ist, daß, obgleich jeder Mensch zu dieser zu gelangen wünscht, er doch niemals bestimmt und mit sich selbst einstimmig sagen kann, was er eigentlich wünsche und wolle. "1 Kant folgert daraus, daß sich keine bestimmten Prinzipien angeben ließen, wie die Glückseligkeit zu erlangen sei, sondern daß man allenfalls vage Ratschläge erteilen könne. Die Philosophen der Antike waren hierin gänzlich anderer Ansicht. Sie waren der Überzeugung, daß es gerade die eigentliche Aufgabe der Philosophie sei, einen verbindlichen Weg zur Glückseligkeit zu weisen, so daß es jedermann möglich sei, in vollkommenem Glück zu leben. So definiert Epikur die Philosophie geradezu als "eine Tätigkeit, die durch Argumentation und Diskussion das glückselige Leben verschafft'',2 Wie kommt es, daß sich diese Überzeugung in der Neuzeit verloren hat? Ich meine nämlich, daß Kants Auffassung repräsentativ für das gesamte neuzeitliche Denken bis in unsere Tage ist. Es wird wohl kaumjemand von uns wagen, mit absoluter Sicherheit vorherzusagen, in welcher konkreten Situation er vollkommen glücklich sein werde, geschweige denn, daß er sich dies für andere vorauszusagen getraute. Kant erläutert diese Unsicherheit mit einer Reihe von Beispielen. Er schreibt: "Will jemand Reichtum, wieviel Sorge, Neid und Nachstellung könnte er sich dadurch nicht auf den Hals ziehen. Will er viel Erkenntnis und Einsicht, vielleicht könnte das ein nur um desto schärferes Auge werden, um die Übel, die sich für ihn jetzt noch verbergen und doch nicht vermieden werden können, ihm nur um desto schrecklicher zu zeigen, oder seinen Begierden, die ihm schon genug zu schaffen machen, noch mehr Bedürfnisse aufzubürden. Will er ein langes Leben, wer steht ihm dafür, daß es nicht ein langes Elend sein würde? Will er wenigstens
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L Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, S. 418 Epicurea, ed. H. Usener, Leipzig 1887 (ed. ster. Stuttgart 1966), Fragment 219
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Gesundheit, wie oft hat noch Ungemächlichkeit des Körpers von Ausschweifung abgehalten, darein unbeschränkte Gesundheit würde haben fallen lassen USW."3 Der Grund dafür, daß unser Begriffder Glückseligkeit so unbestimmt ist, liegt darin, daß wir das Glück so radikal verinnerlicht haben, daß es zu einer reinen Privatsache geworden ist. Ob und wann ich glücklich bin, kann ich letztlich nur selbst für mich allein entscheiden. Der Gedanke, daß ich mich über mein Glücksbefinden irren und jemand anders besser darüber Bescheid wissen könnte, scheint uns absurd. Denn Glück wird als ein subjektiver, innerer Zustand gesehen, zu dem nur der Betreffende selbst unmittelbaren Zugang hat und über den er daher nur allein richtig urteilen kann. Dieser Zustand wird meist in Verbindung mit dem der Zufriedenheit gebracht - wie es ja auch im Thema dieser Tagung "Glück und Zufriedenheit" zumAusdruck kommt -, und Zufriedenheit ist dabei das Gefühl, das sich einstellt, wenn alle Neigungen befriedigt sind (wie Kant sich ausdrücken würde), wenn alle Bedürfnisse erfüllt sind und kein wesentlicher Wunsch mehr offen ist. Welche Neigungen, Bedürfnisse oder Wünsche aber jemand hat, läßt sich nicht apriori feststellen; man kann es nicht einmal für sich selbst mit Sicherheit vorhersehen. Gewiß ist es unzweifelhaft, daß unsere Bedürfnisse nicht aus dem Nichts entstehen, daß nicht jeder für sich allein in völliger Unabhängigkeit seine eigenen Neigungen entwickelt. Die meisten Bedürfnisse der meisten Menschen dürften durch die Gesellschaft, in der sie leben, vorgeprägt sein. Wir übernehmen aus unserem sozialen Umfeld ganze Bedürfnisstrukturen, nach denen sich dann auch unsere mögliche Zufriedenheit richtet. Aber das ist eine empirisch-psychologische These, die nichts wirklich Zwingendes an sich hat. Es hat immer Außenseiter gegeben, die von den gängigen Wertvorstellungen abwichen und sich eigene Werte setzten. Nehmen Sie sich einen Menschen, der gesund und wohlhabend ist, im Beruferfolgreich, mit einem zuverlässigen Partner in Liebe verbunden, woraus ein strebsamer Sohn und eine schöne Tochter entsprungen sind, und lassen Sie ihm auch sonst zuteil werden, was immer Sie für positiv halten. Wenn Sie ihm nun neidvoll vorschwärmen, wie glücklich er doch sei, und er Sie traurig anblickt und entgegnet: "Das ist es offenbar nicht. Ich bin todunglücklich", so können Sie gegen ihn nicht argumentieren. Sie können ihm immer wieder alle seine Vorteile herzählen - wenn er dabei bleibt, er sei unglücklich, sind Sie mit ihrem Latein am Ende. Das gleiche gilt für die entgegengesetzte Situation. Wenn einer krank, bettelarm, erfolglos, vom Partner verlassen usw. ist und dennoch behauptet, er sei rundum glücklich, so wird man ihn nicht bekehren und in diesem Fall es natürlich auch nicht wollen. Man kann der Sache auch nicht die heute so beliebte sprachanalytische Wendung geben, indem 3
I. Kant, a.a.O.
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man dem Betreffenden die Sprachkompetenz abspricht und annimmt, er wisse eben nicht, was der Ausdruck "Glück" bedeute. Er weiß es sehr wohl, denn dieser Ausdruck wird eben gerade so gebraucht, daß er einen Zustand bezeichnet, über den nur der einzelne selbst Richter sein kann. Die Folge ist, daß der Begriffdes Glücks ziemlich nutzlos geworden ist. Denn ein Begriff der so inhaltsarm ist, daß er nichts mehr verbindlich auszeichnet, daß man willkürlich alles Beliebige unter ihn subsumieren kann, ist ein Werkzeug ohne Wert, eine bloße Attrappe. Da er nichts Objektivierbares mehr bezeichnet, ist er weder von theoretischem noch von praktischem Gebrauch. Nun wäre es allerdings fatal, wenn ein neugegründetes Institut für Glücksforschung einer bloßen Schimäre nachjagte. Daher müßte es eine seiner vordringlichsten Aufgaben sein, zunächst den Begriffdes Glücks konkreter zu fassen, um angeben zu können, was denn der Gegenstand der Forschung des genaueren sei. Hierzu möchte ich in meinem heutigen Vortrag einen kleinen Beitrag leisten, indem ich aufzuzeigen versuche, wie es zu der Sinnentleerung des Glücksbegriffs gekommen ist. Denn der Nachweis, wie gewisse, uns vertraute Vorstellungen aus einer bestimmten, historisch bedingten Problemsituation entstanden sind, ist häufig hilfreich, um eine kritische Reflexion in Gang zu setzen, an deren Ende manchmal klarere und besser verwendbare Begriffe stehen. Meine These ist, daß der leere Glücksbegriff ein Erbe des individualistischen Hellenismus ist. Zu ihrer Begründung möchte ich zunächst am Beispiel des Aristoteles und des Aristipp von Kyrene zeigen, daß die griechische Klassik einen durchaus bestimmten, objektiven Glücksbegriffbesaß (I). Sodann möchte ich den Ursachen nachgehen, die im Hellenismus, also derjenigen Epoche der antiken Geistesgeschichte, die auf die Klassik folgt und, grob gesprochen, die letzten drei vorchristlichen Jahrhunderte umspannt - die also in dieser Zeit zur Subjektivierung und radikalen Privatisierung des Glücksbegriffs geführt haben (11). Schließlich möchte ich versuchen, die Bedingungen herauszustellen, an die ein objektiver und wissenschaftlich verwertbarer Glücksbegriffs geknüpft zu sein scheint (III). Der griechische Ausdruck für Glück ist eudaimonia, der, wenn man ihn wörtlich nimmt, soviel bedeutet wie "einen guten Dämon haben", "unter einem guten Stern stehen", also einfach, daß es einem wohl ergeht, wobei ursprünglich in erster Linie an das äußere Wohlergehen wie Schönheit, Reichtum, Macht und dergleichen gedacht ist. Das gilt ebensowohl noch für die griechische Klassik, wenngleich in einem weiteren Sinn. Aristoteies definiert die Eudämonie in seiner Nikomachischen Ethik als "Tätigsein der Seele im Sinne der ihr wesenhaften Tüchtigkeit".4 Damit ist folgendes gemeint: Für Aristoteies bildet die Welt einen sinnvoll geordneten 4
Aristoteies, Nikomachische Ethik, 1098a16 (übers. v. F. Dirlmeier, Dannstadt 1979)
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Kosmos, in demjedem Ding und jedem Wesen sein bestimmter Platz und seine bestimmte Rolle zugewiesen sind. Daher hat auch jedes Wesen eine bestimmte für es wesenhafte Tätigkeit. Für den Schuster ist es das Schuhemachen, für den Zitherspieler das Zitherspielen, für das Pferd der schnelle Lauf, und so muß es auch für den Menschen als solchen eine spezifische Tätigkeit geben. In der Körperlichkeit nun kann sie nicht liegen, denn diese haben wir mit allen, selbst mit den anorganischen Dingen gemein. In der Lebendigkeit kann sie ebenfalls nicht liegen, denn diese besitzen auch schon die Pflanzen. Im Beseeltsein kann sie wiederum nicht liegen, weil wir es mit den Tieren teilen. Also kann sie nur in einem bestimmten Teil der Seele liegen, nämlich in der Vernunft, denn diese ist es, die uns vor allen anderen vergänglichen Wesen auszeichnet. Vernünftiges Denken ist also die wesenhafte Rolle des Menschen, sein eigentlicher Zweck in der Welt. Dies ist das Gut, nach dem er streben soll, und wenn er es in vollkommener Weise erreicht, verwirklicht er damit sein höchstes Gut. Die Verwirklichung des höchsten Gutes ist aber zugleich die Eudämonie. Eudaimon ist der Mensch daher dann, wenn er seine Vernunft zur Vollkommenheit gebracht hat. Man sieht leicht, daß dieser - hier nur grob skizzierte - Aristotelische Glücksbegriff sich wesentlich vom Kantischen unterscheidet. Von völliger Unbestimmtheit kann keine Rede sein. Vielmehr gestattet Aristoteles' Begriff die Ableitung allgemeingültiger Verhaltensregeln zur Erlangung des Glücks, wie man sie sich konkreter nicht wünschen kann: Wer glücklich werden will, muß seine Vernunft zur größten Vollkommenheit bilden; dies ist für jedermann der einzige und sichere Weg, und wie er genau zu beschreiten sei, das ist bei Aristoteles im Detail nachzulesen. Der Grund dieser Bestimmtheit ist, daß bei Aristoteles das Glück nicht in der Erfüllung der persönlichen Neigungen und Wünsche des einzelnen, die bei jedem anders geartet sein können, besteht, sondern in der Erfüllung einer kosmischen Ordnung, die für alle dieselbe ist. Glück ist infolgedessen auch kein innerer Zustand, der nur für das Subjekt selbst unmittelbar zugänglich wäre, sondern ein äußeres, objektives Verhältnis, das für jedermann einsehbar ist. Gewiß wurden die Klassiker, allen voran Platon, nicht müde zu betonen, daß es nicht so sehr aufdie äußeren als vielmehr auf die inneren Werte ankomme; nicht die Schönheit des Körpers, sondern die der Seele sei das Wesentliche. Aber diese Verinnerlichung ist gleichsam "zufällig", weil die Seele eben ein inneres Organ ist. Sie wird jedoch als Teil des Gesamtkosmos gesehen, und wann sie in der rechten Verfassung und der Mensch glückselig ist, wird bestimmt durch die äußere Welt. Sie ist dann in der rechten Verfassung, wenn ihr herrschender rationaler Teil in vollkommenem Zustand ist und der Mensch somit die ihm zugedachte Rolle in vollendeter Weise erfüllt. Das persönliche Empfinden hat dabei keinerlei
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Bedeutung. Vielmehr impliziert die klassische Auffassung, daß jemand glücklich sein kann, ohne es selbst zu merken, und daß ein anderer besser über mein Glück Bescheid wissen kann als ich selbst, weil darüber das objektive Verhältnis meiner Seelenverfassung zum kosmischen Sinngefüge entscheidet. Dieses objektive Verhältnis aber ist jedermann zugänglich, und es ist durchaus denkbar, daß ein anderer hierüber bessere Erkenntnis hat als man selbst. Zwar kann sich auch Aristoteles nicht vorstellen, daß die Eudämonie nicht von einem angenehmen, lustvollen Gefühl begleitet sei. Aber diese Lust ist nicht dasjenige, was den Wert der Eudämonie bestimmt. Im Gegenteil bemißt sich der Wert der Lust an dem der Eudämonie. Für Aristoteles ist nämlich die Lust kein Selbstwert, sondern er konzipiert eine Rangordnung der Lüste nach Maßgabe der Rangordnung der Tätigkeiten, an die sie geknüpft sind. So ist für ihn die Lust am reinen Denken die höchste, weil das Denken die eigentliche Bestimmung des Menschen und daher seine wertvollste Tätigkeit ist. Wie sehr der objektive Glücksbegriff die Klassik beherrscht, läßt sich besonders gut am Beispiel Aristipps verdeutlichen. Aristipp ist zwar gut eine Generation älter als Aristoteies, aber er ist der Fortschrittlichere der beiden, da er als ein Vorläufer des nachfolgenden Hellenismus angesehen werden muß. Trotzdem hält auch er am objektiven Glücksbegriff fest. Aristipp von Kyrene ist vielleicht weniger populär als Aristoteies. Er war ein Schüler des Sokrates und lebte ca. 435-360 v. ehr. Das über ihn persönlich Überlieferte erschöpft sich im wesentlichen in Anekdoten, die seine sinnenfrohe, weltläufige und anpassungsfähige Lebensart dokumentieren. Was wir über die Lehre wissen, tritt meist unter dem Namen seiner Schule, der Kyrenaiker, auf, so daß es schwerfällt herauszufinden, welche Lehrinhalte auf ihn selbst zurückgehen und wieviel von seinen Schülern stammt, von denen seinem gleichnamigen Enkel, Aristipp dem Jüngeren, zuweilen eine besondere Bedeutung zuerkannt wird. Erst für die spätere Zeit, die uns hier nicht näher interessiert, lassen sich bestimmte Zuschreibungen vornehmen, nämlich an Theodoros, Hegesias und Annikeris. Wenn ich daher im folgenden der Kürze halber von Aristipp spreche, so bitte ich darunter den älteren Kyrenaismus als ganzen zu verstehen. Nimmt man, was überliefert ist, zusammen, so läßt sichAristipps Lehre nach meinem Dafürhalten am besten so deuten, daß sie eine mögliche Konsequenz des aufkommenden Individualismus ist, der den Menschen als Individuum in den Mittelpunkt des Interesses rückt und der dann im Hellenismus zur vollen Entfaltung gelangt. Aristipp stellt die Grundfrage, was dem Menschen eigentlich ursprünglich gegeben sei, und er kommt zu dem Schluß, daß dies allein seine eigenen, persönlichen Empfindungen (patM) seien. Nur sie seien wirklich faßbar; ob ihnen
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aber ein äußerer Gegenstand zugrunde liege, der sie hervorrufe und ihnen entspreche, darüber sei keine Sicherheit erreichbar. So wüßten wir zwar unwiderleglich, daß wir jetzt eine Weißempfindung oder eine Süßempfindung hätten, jedoch bleibe ungewiß, ob sie von einem weißen oder süßen Gegenstand herrührten, der außerhalb ihrer existierte. 5 Aristipp sieht also den Menschen als einzelnes Individuum, das ganz in den Bereich seiner Empfindungen eingeschlossen ist, über den es nicht hinausgelangen kann. Es weiß folglich nicht einmal, ob es außer ihm überhaupt etwas gibt, geschweige denn, daß es sein Dasein so auffassen könnte, als sei es in eine übergreifende kosmische Ordnung eingebettet, die jedem seinen ihm bestimmten Platz anwiese, so wie wir es bei Aristoteies gesehen haben und wie es in gleicher Weise für die übrigen Klassiker gilt. Aus der menschlichen Situation, wie sie sich ihm darstellt, zieht Aristipp dann die ethischen Konsequenzen. Da das einzige, was dem Menschen zuverlässig erfaßbar ist, seine eigenen, privaten Empfindungen sind, so muß er auch sein Handeln nach diesen Empfindungen richten. Nun sind diejenigen Empfindungen, die eine ursprüngliche Wertung enthalten und somit Handlungsentscheidungen ermöglichen, Lust und Unlust. Also sind diese das höchste Gut und Übel. Der antike Doxograph Diogenes Laertius, unsere Hauptquelle für die kyrenaische Ethik, referiert: ,,Beweis aber dafür, daß die Lust das höchste Gut darstelle, sei die Tatsache, daß wir uns von Kindheit an unwillkürlich zu ihr hingezogen fühlten und, wenn wir sie erlangten, wir nichts weiter begehrten und daß wir nichts so sehr flöhen, wie die ihr entgegengesetzte Unlust". 6 An diesem Text ist in unserem Zusammenhang zweierlei bemerkenswert. Zum einen wird das höchste Gut nicht metaphysisch apriori deduziert, indem es aus einer angenommenen Weltordnung abgeleitet würde, sondern es wird empirisch gewonnen aufgrund der Erfahrung, die jeder mit sich selbst macht, so daß das einzelne Individuum die letzte Entscheidung über Gut und Übel hat. Zum anderen fällt auf, daß nicht die Eudämonie als höchstes Gut auftritt, sondern die Lust. Dabei handelt es sich nicht um eine sprachliche Ungenauigkeit, sondern Aristipp bestreitet ausdrücklich, daß die Eudämonie das höchste Gut sei. Es heißt dazu bei Diogenes Laertius: "Die Kyrenaiker lehren auch, daß das höchste Gut vom Glück verschieden sei. Denn das höchste Gut sei die einzelne Lust, das Glück dagegen die Zusammenstellung (systema) aus den einzelnen Lüsten, denen sowohl die vergangenen als auch die zukünftigen zugezählt würden. Und die einzelne Lust sei um ihrer selbst willen wählenswert, das Glück nicht um seiner selbst willen, son-
5 6
Aristippi et Cyrenaicorum fragmenta, ed. E. Mannebach, LeidenlKö1n 1961, Fragment 217 Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, 11 88
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dem um der einzelnen Lüste willen. "7 Die Quelle ist nicht sehr ausführlich, aber dahinter dürfte der folgende Gedanke stehen: Der Begriff der Eudämonie umfaßt das gesamte Leben eines Menschen von der Geburt bis zum Tode. Jemand ist erst dann glücklich zu nennen, wenn man seinen ganzen Lebenslauf überblickt und feststellt, daß er mit guten Dingen, für Aristipp also mit Lust, angefüllt war. Dann aber kann die Eudämonie nicht das höchste Gut sein; sie ist ja nichts anderes, als die ,,zusammenstellung aus den einzelnen Lüsten" und infolgedessen in ihrem Wert von diesen abhängig; denn wenn die einzelnen Lüste keinen Wert besäßen, wäre auch ihre Zusammenfassung wertlos. Das höchste Gut ist somit die einzelne gegenwärtige Lustempfindung. Sie allein ist um ihrer selbst willen wählenswert, und an sie müssen wir uns daher halten. Es hat weder Sinn, "für das Vergangene nachzusorgen, noch für das Kommende vorzusorgen", vielmehr ist geboten, "das Augenmerk auf dem gegenwärtigen Tag zu halten und wiederum auf dem Teil des Tages, an dem jeder gerade etwas tut oder bedenkt". Denn "es genügt, wenn man jede [Lust] einzeln, wie sie sich bietet, genießt". 8 - Das ist übrigens auch der einzige Weg, die Lust zu beherrschen und nicht durch sorgende Abhängigkeit sich Unlust zu bereiten. Das am häufigsten zitierte Bonmot Aristipps ist die Kennzeichnung seiner Beziehung zur Hetäre Lais: "Ich besitze, werde aber nicht besessen. Denn die Lüste beherrschen und ihnen nicht erliegen ist das Beste, nicht enthaltsam sein. "9 Die Eudämonie ist also für Aristipp nicht das höchste Gut, ja sie ist nicht einmal ein Selbstwert, sondern ein abgeleiteter Wert. Sie wird nicht um ihrer selbst willen erstrebt, sondern um der einzelnen Lust willen. Da diese das höchste Gut ist, suchen wir in jedem Augenblick unseres Lebens das Lustvollste, und wenn wir stets vom Erfolg begleitet werden, bewirken wir damit zugleich die Eudämonie. D.h. weil wir die einzelne Lust als das höchste Gut immer wollen, deshalb wollen wir auch die Eudämonie - wiewohl ein vollkommenes Glück kaum erreichbar ist, denn "die Anhäufung der Lüste, die die Eudämonie ausmacht, ist äußerst schwierig", weil "die Ursachen einiger Lüste oft unlustvoll entgegenstehen", womit gemeint ist, daß der Lusterwerb häufig mit Unlust verbunden ist, 10 Das ist eine ungewöhnliche Haltung. Zwar wird in der Geschichte der Philosophie das Glück keineswegs immer als höchstes Gut angesehen, aber daß es ausdrücklich als abgeleiteter Wert bezeichnet wird, ist seltsam. Denn das würde bedeuten, daß die Frage, warum einer glücklich sein will, eine sinnvolle Frage wäre, und gerade das wird immer bestritten. 7 8 9 10
Diogenes Laertius, a.a.O., II 87 f. Diogenes Laertius, a.a.O., 11 89-91; Aristippi et Cyrenaicorum fragmenta, aaO, Fragment 207 f. Diogenes Laertius, a.a.O., II 75 Diogenes Laertius, a.a.0., 11 90
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Was hat Aristipp zu seiner ungewöhnlichen Auffassung gebracht? Warum beschreitet er nicht den an sich naheliegenden Weg Epikurs, der Glück und Lust identifiziert und damit den Eudämonismus aufrechterhält? Ich meine, daß Aristipp dem klassischen Denken noch zu verhaftet war, um einen solchen Schritt zu vollziehen. Die Eudämonie ist auch für ihn ein objektiver Zustand, der nicht allein vom bloßen subjektiven, persönlichen Bewußtsein abhängt. Der Begriff ist noch nicht so radikal verinnerlicht, wie es dann im Hellenismus geschieht. Zwar beruht die Eudämonie letztlich auf den subjektiven Lustempfindungen, aber eben nicht auf den unmittelbar empfundenen, die nur dem Subjekt selbst direkt zugänglich sind, sondern sie übergreift den gegenwärtigen Empfindungszustand. Um sie jemandem zusprechen zu können, muß man - eine Forderung, die etwa auch Aristoteles hervorhebt ll - auf das gesamte Leben blicken und die einzelnen Empfindungszustände des ganzen Lebens addieren, um dann zu beurteilen, ob sich im ganzen mehr Lust oder Unlust ergibt. Das aber ist eine schlichte Rechenaufgabe, die jedermann nachvollziehbar und objektivierbar ist und von der wiedemm gilt, daß jemand anders sie richtiger lösen könnte als man selbst.
11 Im Hellenismus begegnet uns eine vollkommen veränderte Auffassung. Als die wesentlichen Richtungen der hellenistischen Philosophie nehme ich die Stoa, den Epikureismus und die pyrrhonische Skepsis. Bei Epikur nun lesen wir zum Beispiel den zentralen Satz: ,,Alles Gut und Übel ist in der Empfindung."l2 Der hier mit "Empfindung" wiedergegebene Ausdruck lautet im Griechischen aisthesis, und was gemeint ist, zeigt der Zusammenhang, in dem der Satz steht. Er dient zur Begründung, daß der Tod kein Übel sei. Epikur argumentiert: Der Tod besteht in der Auflösung der Seele. Folglich endet mit ihm all unser Empfinden, unser Bewußtsein. Gut und Übel aber sind reine Bewußtseinsgegebenheiten. Also kann der Tod weder gut noch übel sein, er betriffi: uns überhaupt nicht. Diese Argumentation zeigt deutlich die veränderte Grundauffassung Epikurs gegenüber der Klassik. Werte sind keine objektiven Gegebenheiten mehr, die in der Weltordnung verankert wären und unabhängig davon, ob sie jemand wahrnimmt oder nicht, bestünden. Vielmehr sind sie an das subjektive Empfinden gebunden, und zwar des jeweiligen Individuums. Denn der Tod ist eine individuelle Angelegenheit, er triffi: den einzelnen, und wenn er dadurch, daß er das Bewußtsein eines einzelnen aus11
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Aristoteies, a.a.O., 1098a18
Epikur, Brief an Menoikeus, 124
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löscht, sämtliche Werte, die für den Betroffenen gelten, aufhebt, so beweist das, daß für Epikur der einzelne sich alle seine Werte selbst setzt, daß er allein darüber entscheidet, was für ihn gut oder übel ist und niemand anders dies apriori aus der Weltordnung ablesen kann. Wie kommt es zu dieser radikalen Subjektivierung und Privatisierung aller Werte? Um diese Frage zu beantworten muß man den geistesgeschichtlichen Zusammenhang der Zeit berücksichtigen. Der Gang der Entwicklung läßt sich grob so skizzieren: Am Beginn des griechischen Philosophierens steht die Natur im Mittelpunkt des Interesses; das zentrale Anliegen, das die Denker von Thales bis Demokrit motiviert, ist, die Grundprinzipien des Naturgeschehens zu formulieren. Mit der Sophistik dann wird der Mensch zum Hauptgegenstand des Nachdenkens; aber er wird zunächst als gesellschaftliches Wesen gefaßt, das Bemühen ist auf das menschliche Gemeinwesen, die Polis, gerichtet. Das gilt ebenso für die Klassik des Platon und Aristoteles. Erst im Hellenismus wird der Mensch zum Individuum, geht es um das Heil des einzelnen. Man darf diese Interessenverschiebung vielleicht so deuten, daß das Denken vom Bedingten zur Bedingung fortschreitet, indem etwa die Sophisten erkannten, daß alle Naturwissenschaft durch den Menschen und seine Erkenntisvoraussetzungen bedingt ist, wobei sie aber den Menschen nicht als Individuum meinten, auch nicht als Gattung, sondern die Gemeinschaft der Menschen. Die Hellenisten entdecken dann das Individuum als das gegenüber der Gemeinschaft Fundamentalere und sie Bedingende, da man sich zwar wohl Individuen ohne Gemeinschaft, aber keine Gemeinschaft ohne Individuen denken kann. Der Individualismus nun führt zur Privatisierung aller Werte, wie wir sie bei Epikur angetroffen haben. Die Gedanken mögen etwa diesen Weg genommen haben: Höchstes Gut ist das Heil des individuellen Menschen. Der Begriffdes höchsten Gutes heißt im Griechischen telos im prägnanten Sinne von "absoluter Endzweck"; telos wird definiert als dasjenige, um dessentwillen alle übrigen Dinge da sind, während es selbst um keines anderen willen da ist. 13 Wenn nun der einzelne Mensch dieser Endzweck sein soll, dann muß jeder einzelne alle seine Zwecke schlechthin, einschließlich seiner selbst als Endzwecks, sich selbst gesetzt haben. Denn angenommen, alle Zwecke seien zwar um des einzelnen willen, aber nicht von ihm selbst gesetzt, dann ließe sich dies nur so denken, daß eine übergreifende Ordnung existierte, durch die eine Wert- und Zweckhierarchie festgelegt wäre, durch die also bestimmt würde, daß das Individuum Zweck alles übrigen sei. Aber in diesem Fall wäre eben diese Ordnung der höchste Zweck; denn wenn gefragt würde, warum alle Dinge um des einzelnen willen zu geschehen hätten, so wäre 13
Vgl. z. B. Stoicorum veterum fragmenta, co11. I. ab Arnim, 4 Bde., Leipzig 1903 fI. (00. ster. Stuttgart 1964), Bd. 3, Fragment 2
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zu antworten: "Damit die vorgegebene Ordnung erfüllt werde", und erst die Frage nach dem Sinn dieser Ordnung wäre nicht mehr beantwortbar. Wenn der einzelne dagegen alle seine Zwecke selbst setzt, dann allein ist er der absolute Endzweck; denn auf die Frage, warum gerade diese und nicht andere Zwecke für ihn gölten, gibt es nur die Antwort: "Weil er selbst es so will." Die Privatisierung aller Werte und Zwecke ist somit eine Konsequenz des hellenistischen Individualismus. Damit wird auch die Eudämonie in der Weise subjektiviert und verinnerlicht, wie es für das gesamte spätere Abendland bestimmend geworden ist. Wir haben am Beispiel des Aristoteies gesehen, daß für die griechische Klassik die Eudämonie ein objektiver Zustand ist, über dessen Vorliegen nicht das Befinden des Betroffenen, sondern die metaphysische Weltordnung entscheidet: Wir sind dann glücklich, wenn wir die Rolle, die uns von der kosmischen Ordnung angewiesen ist, in vollkommener Weise erfüllen. Das läßt sich auch so ausdrücken: Eudämonie ist die Verwirklichung aller vorgesetzten Zwecke. Damit hat man zugleich eine Formel, die, wie ich glaube, den Gebrauch des Glücksbegriffs über weite Strecken der Geistesgeschichte abdeckt. Zumindest läßt sie sich auch auf den Hellenismus anwenden, nur mit dem entscheidenden Unterschied zur Klassik, daß die Zwecke nicht von einer metaphysischen Ordnung vorgegeben sind, sondern der einzelne sie sich selbst setzt. Eudämonie besteht demnach in der Erreichung aller Zwecke, die man sich selbst gesetzt hat. Man ist glücklich, wenn man alles erlangt, was man möchte, wenn alle eigenen Wünsche in Erfüllung gehen. Folglich kann nur jeder einzelne für sich selbst entscheiden, wann er glücklich ist und wann nicht; denn da es von ihm allein abhängt, welche Wünsche und Zwecke für ihn gelten, so kann niemand anders als er selbst wissen, ob die Situation, in der er sich befindet, seinen Zwecken entspricht, so daß das Glück zu einer reinen Privatsache wird. Dadurch wird es zugleich zu einem rein psychologischen Phänomen, das seinen Wert nicht mehr aus der Übereinstimmung mit der Weltordnung, sondern ganz aus sich selbst schöpfen muß. Pyrrhon und Epikur umschreiben den Zustand der Glückseligkeit mit "Ataraxie", was wir gemeinhin mit "Seelenruhe" übersetzen. Die Stoiker gebrauchen den Ausdruck "Apathie", der "Affektfreiheit" bedeutet. Gemeint istjedesmal dasselbe, nämlich das Freisein von jeglicher Erregung, die Ruhe und Ausgeglichenheit des Gemüts, der vollkommene innere Friede, vergleichbar der "Meeresstille"14. Die radikale Subjektivierung und Privatisierung des Glücks hat im weiteren Verlauf der Geschichte zu der eingangs erwähnten Sinnentleerung des Begriffs geführt, die bewirkt hat, daß er alles beliebige deckt und sich keine allgemeingelten14
Vg!. z. B. Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis, Ein!. u. Übers. v. M. Hossenfelder, Frankfurt/M. 2. Aufl. 1985, S. 95
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den Glücksregeln mehr begründen lassen. Jeder darf und muß "nach seiner Fayon selig werden". Im Hellenismus dagegen, wird diese Konsequenz nicht gezogen. Ich hatte bereits hervorgehoben, daß es in der Antike gerade als die eigentliche Aufgabe der Philosophie angesehen wurde, ein allgemeines Glücksrezept zu finden. Daß dies im Hellenismus noch für möglich gehalten wurde, liegt daran, daß die hellenistischen Philosophen den alternativen Weg zu dem der Neuzeit beschritten. Wenn das Glück in der Befriedigung aller eigenen Bedürfnisse besteht, dann kann man es auf zweierlei Weise sichern. Entweder man versucht, möglichst viel Befriedigung, oder man versucht, möglichst wenig Bedürfnisse zu haben. Die Neuzeit wählte den ersteren Weg, mit den bekannten Konsequenzen, indem sie durch technische Beherrschung der Natur die immer neuen, pluralistischen Bedürfnisse zu stillen strebte. Die Hellenisten dagegen gingen den zweiten Weg, nicht die Natur den eigenen Bedürfnissen, sondern diese jener anzupassen, d.h. sich nur solche Bedürfnisse zu gestatten, von denen sicher ist, daß sie sich jederzeit befriedigen lassen. Damit wir können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können. Das hellenistische Glücksrezept besteht demnach darin, nur das zu erstreben, worüber man jederzeit wirklich verfügt, alles Unverfügbare aber zu entwerten, d.h. als glücksirrelevant und indifferent zu betrachten. Das ist das gemeinsame Konzept aller hellenistischen Schulen. Daß sie dennoch so verschiedene Gestalten annahmen und sich heftig befehdeten, lag an der Art, wie sie das Konzept umzusetzen trachteten. Am konsequentesten und radikalsten gingen die Stoiker vor. Da dem Menschen letztlich alles unverfügbar ist außer seiner inneren Einstellung zu den Dingen, forderten sie, daß man schlechthin alle Dinge für indifferent halten müsse außer dieser Einsicht selbst in die Indifferenz der Dinge. Und diese Einsicht ist das, was für die Stoiker die Tugend ausmacht. Epikur verhielt sich bedenklicher. Er glaubte nicht, daß man sämtliche Werte durch vernünftige Überlegung beseitigen könne, sondern daß unsere Gefühle der Lust und Unlust Wertungen enthielten, die uns gegeben seien und die sich nicht hinwegdiskutieren ließen. Er versuchte deswegen, das hellenistische Konzept dadurch zu verwirklichen, daß er mit Hilfe eines restriktiven Lustbegriffs Lust und Unlust als jederzeit verfügbar erwies. Auf diese Weise gelangte er zum Hedonismus. Die Pyrrhoneer schließlich waren noch vorsichtiger. Sie glaubten, daß auch das Glück letztlich nicht verfügbar sei. Da es sich aber als höchstes Gut nicht als indifferent betrachten ließ, versuchten sie darzulegen, daß schlechthin unerkennbar sei, worin es bestehe. Zu diesem Zwecke entwickelten sie den Skeptizismus. 15 So verkünden die hellenistischen Schulen zwar unterschiedliche Glücksregeln, aber der 15
Vgl. das Nähere zu den drei Schulen in M. Hossenfelder, Stoa, Epikureismus und Skepsis, München 1985 (Geschichte der Philosophie, hg. v. W. Röd, Bd. ill: Die Philosophie der Antike 3)
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Grundgedanke ist allen gemeinsam. Und sie stimmen darin überein, daß es überhaupt möglich sei, ein allgemeingültiges Glücksrezept zu formulieren. Zwar waren sie es, die den Gedanken, daß das Glück in der Erfüllung aller selbstgesetzten Zwecke bestehe, in die Welt setzten und die damit den Glücksbegriff subjektivierten, aber sie zogen daraus nicht die Konsequenz einer pluralistischen Zweckvielfalt, sondern forderten eine Reduktion der Zwecke, die gegen Null tendierte und deswegen verallgemeinerbar war.
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Wenn die bisherigen Überlegungen zutreffen, dann ist die Privatisierung des Glücksbegriffs eine logische Folge des Individualismus. Dabei darfman allerdings "Individualismus" nicht so verstehen, daß er in Gegensatz zum Sozialismus tritt. Individualismus ist hier nicht gleich Egoismus, nach dem jeder nur den eigenen Interessen Rechnung trägt. Der Begriff bezeichnet nur die metaphysische Position, daß der einzelne Sinn und Zweck des Ganzen ist, daß sein Heil der höchste Wert ist. Daraus folgt offenbar, daß dann alle Zwecke von ihm selbst gesetzt sind, und wenn das Glück in der Verwirklichung aller Zwecke besteht, dann ist nur der einzelne über sein Glück urteilsfähig. Die hellenistischen Ethiken zeigen nun aber, daß daraus noch nicht mit Notwendigkeit die völlige Sinnentleerung des Glücksbegriffs folgt, die wir heute antreffen und die keinerlei allgemeingültige Glücksregeln mehr gestattet. Voraussetzung zur Vermeidung dieser Konsequenz ist allerdings, daß in der Zweckautonomie des Individuums nicht vor allem die Chance des Machtzuwachses und der Steigerung des Selbstwertgefühls gesehen wird, da der einzelne nicht mehr an einen übergeordneten Kosmos gebunden ist, sondern jeder sich seine Zwecke nach Belieben wählen kann - eine Chance die auch dem Hellenismus durchaus schon präsent war und vornehmlich in der Kunst zum Ausdruck kam in gewissen megalomanen Zügen, wie sie sich in überdimensionalen Bauten und einer Überhöhung heldenhafter Gestalten wie Alexanders des Großen äußerten. Vielmehr muß man die alternative Chance der Autonomie ergreifen, wie es die Philosophen taten, nämlich die Zwecke zu reduzieren, um so das Glück zu sichern. Freilich Reduktion schlechthin reicht noch nicht aus, weil auch darin noch zuviel Subjektivität und Beliebigkeit steckt. Denn man kann argumentieren, daß jeder seine Zwecke nur bis zu einern gewissen Grade reduzieren könne, bis auf bestimmte Grundbedürfnisse, die ihm unverzichtbar seien, und welche das seien, darüber müsse jeder für sich selbst befinden. Daher darf man nicht außer acht lassen, daß im Hel-
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lenismus ein für alle identischer Grenzwert gefordert wird. Bei den Stoikern und Pyrrhoneern ist das die Reduktion auf Null, und Epikur versucht, durch seinen restriktiven Lustbegriff einen solchen Grenzwert zu gewährleisten. Daher sein negativer Hedonismus, der Lust nicht positiv, sondern negativ definiert als Freiheit von Unlust: Höchste Lust ist vollständige Freiheit von Unlust, und da freier als frei von etwas niemand sein kann, scheint auch hier eine absolute Grenze möglich. Der hellenistische Ansatz ist offenbar der einzige Weg, auf dem Grunde des Individualismus einen bestimmten, objektiven Glücksbegriff zu wahren. Alle anderen Wege führen in die Unbestimmtheit und Subjektivität. Ein unbestimmter, leerer Glücksbegriff aber ist unnütz. Daß der Begriff häufig nicht als so leer empfunden wird, liegt daran, daß man meint, ein allgemeingültiges Glücksrezept lasse sich zwar nicht angeben, hier müsse jeder selbst sehen, womit er glücklich werde, aber das betreffe gar nicht das Glück selbst, sondern lediglich die Mittel zu seiner Erreichung. Der Begriff der Glückseligkeit selbst dagegen habe durchaus einen bestimmten, allgemeingültigen Inhalt. Er bezeichne nämlich einen bestimmten inneren Zustand, eine Art Hochgefühl, das uns gelegentlich erfülle. Glück wird also gesehen als ein spezifisches psychologisches Phänomen, ein Gefühl eben, das bei variablen Ursachen - an sich selbst doch bei allen identisch sei. Ich habe mit dieser "gefühlvollen" Auffassung meine Schwierigkeiten. Glück wäre demnach, als Gefühl, eine sinnliche Gegebenheit, die, wie andere Gefühle, zuweilen in uns auftritt, zuweilen nicht und die in höchstem Grade positiv besetzt ist. Ich frage mich: Worin unterscheidet sich das Glück dann noch von der Lust? Beide Begriffe sind im Laufe der Geschichte auch häufig identifiziert worden, so daß im angelsächsischen Sprachraum Eudämonismus und Hedonismus nahezu synonym gebraucht werden. Wie der Ausdruck "Lust" bezeichnet der Ausdruck "Glück" dann eine empirische Gegebenheit, ein Gefühl, von dem sich als einziges Spezifikum nur angeben läßt, daß es positiv besetzt sei. Eine nähere Beschreibung, worin denn das Gefühl darüber hinaus im einzelnen bestehe und wie es sich gegebenenfalls von der Lust unterscheide, wird nicht versucht und läßt sich vermutlich auch nicht geben. Das gleiche gilt umgekehrt von der Lust, so daß beide Ausdrücke dieselbe Definition haben und somit zu Synonymen werden. Man kann auch nicht sagen, daß "Glück" eine prägnantere Bedeutung habe, weil es, anders als "Lust", immer nur den höchsten Grad des Wohlgefühls bezeichne. Damit verkennte man, daß auch der Glücksbegriff durchaus so gebraucht wird, daß er verschiedene Grade zuläßt. Aber die Synonymität mit der Lust ist nur das eine Problem, das sich einstellt, wenn man Glück als Gefühl betrachtet. Zum anderen hat man an Bestimmtheit nicht das geringste gewonnen, so daß man auf diese Weise tatsächlich einer Schi-
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märe nachjagt. Denn unter einen Begriff, der nicht mehr enthält als "positives Gefühl", läßt sich wiederum alles Beliebige subsumieren, alles, was irgend jemand als angenehm empfindet. 1. C. B. Gosling hat diese Unbestimmtheit und Leere am Beispiel der Lust mit sprachanalytischen Mitteln gezeigt. 16 Wenn jemand mit Lust eine Mozart-Syrnphonie hört und ein andermal mit Lust ein Häuflein Kaviar genießt, kann man dann sagen, daß er beidemal ein bestimmtes identisches Gefühl empfinde? Ist nicht vielmehr das einzig Identische, das hier mit dem Begriff Lust bezeichnet wird, daß er beide Tätigkeiten positiv bewertet? Um einen eigenständigen und bestimmteren Glücksbegriffzu gewährleisten, plädiere ich deswegen dafür, ihn aus der Nähe des Lustbegriffs zu rücken und sich an seinen Gebrauch in der Antike zu erinnern. Dort bezeichnet er kein sinnliches Gefühl, sondern ist ein Vernunftbegriff. Ich hatte vorgeschlagen, Glück zu definieren als die Verwirklichung aller vorgesetzten Zwecke, und schon diese Definition besteht aus lauter Vernunftbegriffen. Denn die Sinnlichkeit ist auf das unmittelbar gegenwärtig Gegebene eingeschränkt, eine Zwecksetzung aber verlangt den Blick in die Zukunft und das Formulieren von Imperativen, und die Feststellung der Verwirklichung muß Gewolltes und Gegebenes vergleichen, alles Leistungen, zu denen ebenso wie zur Verwendung des Allquantors nur die Vernunft fähig ist. Ganz unzweifelhaft ist der Vernunftursprung für den Eudämoniebegriff der Griechischen Klassik; denn hier sind die Zwecke ja durch die kosmische Ordnung vorgegeben, und das Erfassen einer solchen Ordnung und das Einordnen des eigenen Handelns in sie wird niemand einem sinnlichen Gefühl zumuten wollen. Aber auch der hellenistische Glücksbegriffhat eine vernunftgewirkte metaphysische Basis in seinem Individualismus, der ja ebenfalls eine Weltdeutung darstellt. Und ich glaube, daß der Gebrauch des Begriffes "Glück" bis heute ihn als einen Vernunftbegriff ausweist. Gefühle, mögen sie noch so positiv besetzt sein, werden niemanden bewegen, sich glücklich zu nennen, wenn er sie nicht gleichzeitig gutheißt. Der Priester, der mit seiner Haushälterin schläft, wird sicher dabei Lust empfinden, weil er es sonst vermutlich nicht täte. Aber sein Verhalten wird ihn gewiß nicht glücklich machen, da es gegen das Gebot des Zölibats und somit gegen die göttliche Ordnung, an die er glaubt, verstößt. Ganz anders dagegen der Utilitarist vom Schlage lohn Stuart Mills. Für ihn trägt sexuelle Lust ganz ohne Zweifel zur Glückseligkeit bei, weil für ihn der Sinn des Ganzen im größten Glück der größten Zahl liegt und Glück für ihn aus Lust besteht. Es scheint also, daß der Gebrauch des Glücksbegriffs eine Weltdeutung impliziert. Ich kann nur in einem Zustand von Glück reden, der von mir nicht nur positiv empfunden wird, sondern sich mir zugleich als gewollt darstellt, sei es von mir selbst, sei es von einer über16
J. C. B. Gosling, Pleasure and desire. The case for hedonism reviewed, Oxford 1969
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greifenden Ordnung. Glück setzt Sinngebung voraus. In einer Situation, mit der er nichts anzufangen weiß, die er nicht deuten und einordnen kann, wird niemand selig. Das gilt selbst für den Sisyphus bei Camus, von dem es ja heißt, daß wir ihn uns als einen glücklichen Menschen zu denken hätten; er macht eben die Absurdität zum Weltprinzip. Wenn man die Summe aus dem Gesagten zieht und dabei alle Zwischenlösungen und Mischformen beiseite läßt, dann ergeben sich folgende Möglichkeiten für einen sinnvollen Glücksbegriff: Da Glück Weltdeutung voraussetzt, verfährt man entweder wie die griechische Klassik und nimmt eine überindividuelle Ordnung an. Dann hat man im Prinzip keine Schwierigkeiten mit dem Glücksbegriff; man kann einen inhaltlich bestimmten Begriffangeben und daraus konkrete allgemeingültige Glücksregeln ableiten. Die Probleme treten auf, wenn man eine individualistische Auffassung bevorzugt, wie sie seit dem Hellenismus das Abendland weithin beherrscht. Denn hier besteht die Gefahr, daß der Begriff des Glücks sich immer weiter verflüchtigt und schließlich mit dem der Lust zusammenfällt. Die Gefahr scheint sich nur bannen zu lassen, wenn man den hellenistischen Philosophen folgt und nicht BedÜTfniserweckung, sondern Bedürfnisbeschränkung auf seine Falmen schreibt; auch dann läßt sich dem Begriff Glück ein konkreter Inhalt geben und ein allgemeines Glücksrezept entwickeln. Diesem hellenistischen Konzept scheint gerade heute eine besondere Aktualität zuzuwachsen. Seit man die Nachteile und Gefahren der neuzeitlichen Einstellung mit ihrer sorglosen Ausbeutung der Natur erkannt hat, sinnt man bei uns bekanntlich auf Abhilfe. Aber die Wege, die man einschlägt, stellen keine echte Abkehr dar. Es geht weiterhin darum, die Natur "in den Griff' zu bekommen, nur so, daß die bislang mißachteten Gefahren vermieden werden. Der Herrschaftswille ist ungebrochen, die Natur ist der Besitz des Menschen, aber man hat erkannt, daß man ihn pfleglicher behandeln muß, um das Haus auch fürder angenehm bewohnbar zu erhalten. Diese Einstellung ist überall vorherrschend, selbst wenn es um den Artenschutz geht. Der Brachvogel, der so schön flötet, wird geschützt, damit die Natur für unser Ergötzen nicht ärmer wird, aber es ist meines Wissens bisher niemand auf den Gedanken gekommen, den Pockenerreger unter Naturschutz zu stellen. Allein es steht zu befürchten, daß der Mensch mit der vollkommenen Naturbeherrschung überfordert ist, daß die Mittel, mit denen er die Schäden am einen Ort zu kitten sucht, am anderen Ort neue Schäden hervorrufen, wie wenn jemand einen brechenden Deich mit Material zu stopfen versucht, das er ihm an anderer Stelle entnimmt, bis schließlich das ganze Bauwerk zusammenstürzt. Um das zu verhüten, könnte es ratsam sein, daß wir unsere Grundeinstellung überprüfen, wobei die hellenistischen Denker vielleicht behilflich sein könnten,
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weil sie nicht nur eine scheinbare, sondern eine echte alternative Einstellung anbieten, die die Sorgen, die uns heute bedrücken, nicht aufkommen lassen kann. Sie besteht darin, daß wir nicht die Natur unseren Bedürfnissen, sondern diese jener anmessen, in der Erkenntnis, daß, wenn es das Idealziel ist, daß keine Bedürfnisse offen bleiben, dies der kürzeste und sicherste Weg ist. Und nicht nur das. Es ist, wie die Entwicklung zeigt, offenbar auch der einzig mögliche Weg. Denn auch der neuzeitliche Gang über die Naturbeherrschung führt uns jetzt zu einer deutlichen Bedürfnisökonomie, und zwar nicht nur wegen der ökologischen Verhältnisse, sondern ebenso, weil die Machbarkeit der Dinge oft mit einem Wertverlust erkauft werden muß. Es hat zwar heute in Westeuropa ,jeder sein Huhn im Topf', aber dieses Huhn schmeckt nicht mehr, so daß wir also unsere Qualitätsansprüche reduzieren müssen. Auch aus einem anderen Grund erscheint unser heutiges Vorgehen als ein Holzweg, nämlich weil das Vermögen, mehr Bedürfnisse zu befriedigen, offensichtlich nicht zu größerem Glück führt. Wenn das Sprichwort behauptet, daß Macht und Reichtum nicht glücklich machen, so ist das sicher nicht aus der Luft gegriffen. Die Erfahrung lehrt, daß steigender Wohlstand und steigende Zivilisation die unbefriedigten Bedürfnisse nicht vermindern, sondern nur verändern. Der Reiche hat zwar keinen Hunger, aber dafür Angst um sein Geld. Es ist zu vermuten, daß die Glücksbedrohung auf jeder Entwicklungsstufe gleich ist, weil jede neue Bedürfnisse schafft. Ob sich der Jäger und Sammler aufregt, weil das mühsam erklommene Bienennest keinen Honig enthielt, oder der modeme Neureiche, weil Ferrari so lange Lieferfristen hat, macht für das Seelenheil keinen Unterschied; dieses hängt davon ab, wie sehr sich der jeweilige ärgert. Der einzige Weg, das Glück zu erhöhen, scheint also eine geeignete Bedürfnisökonomie. Das hätte auch einen wesentlich ökonomischeren Umgang mit der Wissenschaft zur Folge. Hier kann man besonders von Epikur lernen. Er ist genauso vernunftgläubig wie unsere Zeit, aber er macht einen ganz anderen, direkten Gebrauch von der Wissenschaft. Uns dient die Wissenschaft nur mittelbar zum Glück, indem sie uns zur Naturbeherrschung befähigt, die wiederum unsere Bedürfnisbefriedigung sichert. Epikur vermeidet diesen Umweg. Er nimmt die Wissenschaft als unmittelbares Werkzeug zur Glückseligkeit: Sie soll zum einen den richtigen Weg zum Glück lehren und zum anderen den Menschen von seinen Ängsten befreien, d.h. insbesondere von der Angst vor dem Tode und vor übernatürlichen Mächten. Alles, was darüber hinausliegt, ist sinnlos, so alle Detailforschung, sofern sie nicht ihre unmittelbare Glücksrelevanz nachweisen kann. Man braucht die Naturgesetzmäßigkeit nicht im einzelnen zu durchschauen, weil man ja nicht in die Natur eingreifen will. Es geht auch nicht so sehr um Wahrheitserkenntnis in
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dem Sinne, daß die Theorien unbedingt mit den Tatsachen übereinstimmen müssen. Hauptziel ist es, einen Glauben zu erzeugen, nämlich das Vertrauen in eine stabile, nach strengen Eigengesetzen verlaufende Natur, um die man sich nicht weiter zu kümmern braucht. Epikur entwickelt zu diesem Zweck das methodische Konzept der Altemativerklärungen. 17 Um den Menschen die Angst vor Phänomenen wie Gewittern, Finsternissen, Mondphasen usw. zu nehmen, genügt es nachzuweisen, daß es genügend natürliche Erklärungen gibt, die ohne Rückgriff auf übernatürliche Mächte auskommen. Epikur zählt daher in der Regel alle bekannten Erklärungen (unter denen sich häufig auch die heute gültige findet) auf und läßt sie gleichberechtigt nebeneinander stehen, ohne einen Wahrheitsentscheid zu versuchen, weil es ihm daraufnicht mehr ankommt; jeder kann sich die ihm wahrscheinlichste Erklärung auswählen. Selbst wenn etwas schiefgeht, weil man einer falschen Theorie gefolgt ist, so schadet es nicht viel; denn wie soll ein Mißerfolg einen Menschen, der frei von Ehrgeiz ist und weder Schmerz noch Tod fürchtet, erschüttern? Diese Leistung kann die Wissenschaft mit geringstem Aufwand erbringen; den größten Teil bilden apriorische Überlegungen, während die empirische Basis relativ klein gehalten werden kann, so daß der ganze gewaltige und teure Experimentierapparat entfällt. Darüber hinaus wenden sich die Hellenisten an den einzelnen. Sie beschwören nicht die Solidargemeinschaft der Menschen und rufen nicht zu großen Gemeinschaftsleistungen, zur Anstrengung aller für das gemeinsame Wohl auf, sondern zeigen, wie der Einzelne ganz für sich allein, ohne dazu die Hilfe irgendeines anderen zu bedürfen, sein Glück machen kann. Ein solcher Glaube an die eigene ,,Autarkie" könnte in einer Zeit, die die Abwertung der Staatsgrenzen und das Zusammenwachsen der Völker erstrebt, sehr hilfreich sein. Denn er erzeugt ein Gefühl der Unabhängigkeit und Selbstsicherheit, das das Bedürfnis nach Identifikation mit einer Gruppe oder Nation herabsetzt. Die Frage nach den äußeren Lebensumständen wird zur Nebensache, die frei von Emotionen allein nach Maßgabe der Vernunft gelöst werden kann. Und schließlich versprechen die Hellenisten das Glück hier und jetzt. Sie entwerfen keine Utopien, und sie vertrösten uns nicht auf ein Leben im Jenseits, sondern sie lehren, uns auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren und nicht das Haus für künftige Generationen zu errichten, von denen doch niemand weiß, ob sie darin wohnen wollen. Die Glückseligkeit ist für jedermann jederzeit unter allen Gegebenheiten realisierbar, weil es nicht mehr bedarf als der richtigen inneren Einstellung durch vernünftige Einsicht. Diese Lehre ist eine sichere Waf17
Vgl. M. Hossenfelder, Epikur, München 1991, S. 121 f.; 138
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fe gegen alle utopischen Visionen, vor allem natürlich für diejenigen, die noch in utopiegeschädigten Gesellschaftssystemen leben. Nun, ich will hier nicht versuchen, Sie zu stoischen oder epikureischen oder pyrrhonischen Weisen zu machen. Aber der Grundgedanke dieser Schulen bleibt bedenkenswert. Wenn wir dadurch glücklich werden, daß wir das, was wir erreichen wollen, auch tatsächlich erreichen, dann ist der kürzeste und sicherste Weg zum Glück, sich möglichst wenig Ziele zu stecken. In meiner holsteinischen Heimat pflegt man zu raten: "Nemm di nix vör, dann geit di nix dör" (Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl). Auf unsere heutigen Verhältnisse angewendet, würde das natürlich nicht besagen, daß wir in die Höhlen zurückkehren sollen. Ein Leben in der Tonne würde keiner von uns längere Zeit überdauern. Aber die hellenistischen Denker könnten uns z.B. daran erinnern, daß es keinerlei Opfer oder Entsagung bedeutete, wenn wir in Zukunft wenigstens davon absähen, immer neue Bedürfnismöglichkeiten zu entwickeln. Daß solche Bedarfserweckung eher das Unglück als das Glück vermehrt, läßt sich leicht am Beispiel der Dritten Welt ersehen, deren Völker, wenn man den Berichten glauben darf, ein relativ problemloses Dasein genossen, ehe sie unser Bedarfsleben kennenlemten. Das bestätigt die hellenistische Auffassung, daß es töricht ist, Bedürfnisse zu erzeugen, die man nicht hat. Da das Glück in der Zufriedenheit, also im Fehlen von Bedürfnissen liegt, kann die Bedarfserregung nur Unglück bringen, während andererseits der Verzicht aufneue Bedürfnisse keinerlei Entbehrung mit sich bringt; denn Wünsche, die wir noch gar nicht kennen, weil wir sie nicht erst erschaffen, bereiten uns keinen Kummer. Der Neandertaler wird schwerlich je den winterlichen Urlaubsflug auf die Malediven vermißt haben. Quelle: Alfred Bellebaum (Hg.), Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion, Opladen: Westdeutscher Verlag 1992, S. 13-31.
Die Angst vor dem Glück Anthropologische Motive" Karl-Siegbert Rehberg "Der Mensch strebt nicht nach Glück; nur der Engländer tut das " Friedrich Nietzsche'
1. Der Mensch - kein Glückswesen: Die Philosophische Anthropologie Wie immer der Mensch bestimmt wurde - als intellektuelles Wesen, als sterbliches animal rationale (das sich seinen Leviathan, diesen sterblichen Gott, schaffen muss), als Sprach-, als Spiel- oder Handlungswesen, als "Neinsagenkönner"2, "Gottsucher" oder als toolmaking anima?, als Arbeitswesen und homo creator-
"
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Der hier in leicht veränderter Form vorliegende Beitrag erschien zuerst in: Alfred Bellebaum / Karl Barheier (Hg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997, S. 153-173 [Diskussion S. 174ff.]; die englische Übersetzung: The Fear of Happiness. Anthropological motives. In: Journal of Happiness Studies. Special Issue: Views of Happiness in Classical Sociology. Ed. by Ruut Veenhoven [Rotterdam] I (2000), S. 479-500. Dank sage ich - bei einer Erörterung des Glücks mehr noch denn je - Rose-Marie Schulz-Rehberg fiir Unterstützung beim Schreiben. Häufig gebrauchte Abkürzungen: GA = Amold-Gehlen-Gesamtausgabe. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg. 10 Bde [bisher erschienen Bde. 1,2,3,4,6 und 7]. Frankfurt a.M.: Klostermann GS = Helmuth Plessner, Gesammelte Schriften. 10 Bde. Hrsg. v. Günter Dux, Odo Marquardt und Elisabeth Ströker. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980-1985 GW = Max Scheler, Gesammelte Werke [bisher erschienen Bde. 1-15 - Einzelbandherausgeber Maria Scheler und/oder Manfred S. Frings]. BernlMünchen: Francke (Bd. 12: Bonn: Bouvier) 1971-1997 Nietzsche, Werke I-rn = Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden. Hrsg. v. Karl Schlechta. 7. Aufl. München: Hauser 1973 MEGA = Karl Marx und Friedrich Engels, Gesamtausgabe. Hrsg. v. Institut fiir MarxismusLeninismus beim ZK der KPdSU und v. Institut fiir Marxismus-Leninismus der SED. Berlin [DDR]: Dietz 1987 [seit 1990 unter der Herausgeberschaft der Internationalen Marx-EngelsStiftung (Amsterdam) im Berliner Akademie Verlag fortgesetzt] ZA = Arthur Scbopenhauer, Zürcher Ausgabe: Werke in zehn Bänden Der Text folgt der historischkritischen Ausgabe v. Arthur Hübscher. Zürich: Diogenes 1977. Friedrich Nietzsche, Götzen-Dämmerung. In: Werke 11, S. 939-1032, hier: 944 (12). Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos [zuerst 1927/1928]. In: ders., GW IX: Späte Schriften. hrsg. v. Manfred S. Frings. 1976, S. 7-71. Karl Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [zuerst 1872]. In: MEGA 11.6. Red. GÜllter Heyden, Georgi Smirnow u.a. 1987, S. 194; Marx entlehnte die Formulierung
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als Glückswesen wurde er selten definiert, wenngleich durchgängig wenigstens angenommen wird, dass er des Glückes fähig sei. Glück und Unglück wären so-
gar Besonderheiten des Menschen wie Lachen und Weinen. 4 Zwar rückten die Autklärungsphilosophen - und zwar keineswegs nur in England (wie Nietzsche nicht ohne Ressentiment spottete) - das Glück des Menschen in den Mittelpunkt, ließen es zum Synonym werden für seine Selbstbestimmung (mit aller daraus folgenden Riskiertheit, so dass etwa Glücksfähigkeit und das Recht auf Selbsttötung logisch zusammengehören könnenS). Jedoch mussten sie damit auch das Problem der Verbindung von Kausalität und Normativität lösen (wie besonders Panajotis Kondylis gut herausgearbeitet hat6). Auch entstanden Fragen nach der Rechtfertigbarkeit des Glückes, z.B. wie es mit der Triebnatur des Menschen zu verbinden sei, wie mit der sozialen Ungleichheit oder wie es nihilistischen und selbstzerstörerischen Konsequenzen entgehen könne - die man gerne dem Epikuräertum zuschrieb. Wie konnte also Natur (vor allem der Trieb zur Selbsterhaltung und -optimierung) überwunden werden durch kulturelle Leistungen, und zugleich doch Maßstab und Richtschnur sein für die Zivilisierung, welche in der "Natur" (des Menschen) ihr Fundament finden sollte (nicht nur bei Rousseau, auch bei La Mettrie, Helvetius, d'Holbach u.a.)? Die Frage der Normenstabilisierung blieb also ein Unterthema der viel beschworenen Glücksemphase des 18. Jahrhunderts. Meine These ist, dass sich schon damals Aporien andeuteten, die im 20. Jahrhundert durch die Spannung zwischen Massengesellschaftlichkeit und persönlicher Erfüllungschance zu einer Skepsis dem Glück gegenüber geführt haben. Es mag dies ein Grund dafür sein, dass die modeme Philosophischen Anthropologie das Glück des Menschen weitgehend ausgeblendet hat, obgleich es auf dieses doch ankommen könnte. Der Grund liegt im Konflikt von Glück und Ordnung, eben in einer spezifischen Angst vor dem Glück.
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den "letters on the uti1ity and po1icy of emp10ying machines to shorten 1abour [... l" von Thomas Bentley (1780) und verweist auch auf Benjamin Franklin, der vom Menschen als "engineer" sprach oder vom "Instrumentenmacher" (MEGA 11.6, S. 324). Vgl. Helmuth P1essner, Lachen und Weinen (zuerst 1941). In: GS VII: Ausdruck und menschliche Natur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, S. 201-387. Das ergibt sich aus Max Sche1ers Geist-Definition; Glücksfähigkeit und die radikalste Form des "Neinsagenkönnens" sind für ihn spezifisch menschlich, vgl. Scheler, Stellung (Anm. 2), S. 44f. und Arthur Schopenhauer, Ober den Selbstmord. In: ZA IX, S. 332-338. Panajotis Kondy1is, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart: C1ett-Cotta 1981.
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2. Max Scheler: Glück als Seinshöhe Sehen wir also, ob diese Behauptung haltbar ist. Das Werk Max Schelers, der als Begründer der "Philosophischen Anthropologie" in diesem Jahrhundert gelten kann, scheint dem zu widersprechen, denn mit seinen Untersuchungen der Moralen und der geistgegründeten Selbstgegebenheit des Menschen hat er das Problem des Glücks eingehend behandelt, beispielsweise in seiner Schrift zum Formalismus in der Ethik und der materialen Wertethik. Darin analysierte Scheler auch das Wesen von Glück und Unglück, reflektierte über den Wechsel von Freuden und Leiden. Möglichkeiten des Glücks und der damit verbundenen Qualität der Gefühlserlebnisse bedürfen für ihn der "Dauerhaftigkeit". Im Rahmen seiner hierarchisierenden Ontologie unterschied er - wie später Gehlen in seiner Habilitationsschrift Kriterien der "Höhe" einzelner Werte und menschlicher Akte, wobei Flüchtigkeit oder Dauer zu einem Unterscheidungskriterium wurden. So kann das Angenehme einer Sinnesreizung mit dem Glück zusammenhängen, liegt aber auf einer elementaren Ebene, ist flüchtige Voraussetzung, vielleicht Auslöser für ein Glücksgefühl, aber selbst noch nicht "Glück". 7 Die dem Glück oder dem Unglück korrespondierenden Gefühle wie "Seligkeit" oder "Verzweiflung" haben Anzeichencharakter, aber "Glück" oder Leiden selbst brauchen eine andere Dimension, sind an das gebunden, was Scheler "Akt" nennt, also an eine grundlegende - die Person und ihren Selbstwert bestimmende - Weise der Wertrichtung, z.B. in Liebe oder Hass. 8 Scheler wehrt sich gegen allen Eudaimonismus, also alle Naturlehren von der Lustgewinnung als Basis des menschlichen Glücks. Zwar mögen antike Autoren und modeme Aufklärungsphilosophen Sublimierung und Verfeinerung mitgedacht haben, wenn sie von der Lust sprachen, die schließlich auch einem "geistiges Glück" entspringen konnte oder gar der Freude an der Sittlichkeit. Glück war eben jenes erhebende Gefühl einer zustimmungsfähigen Selbstgegebenheit, ganz so wie Hegel es definiert hat: "Glücklich ist deIjenige, welcher [...] in seinem Dasein sich selbst genießt".9 Aber auch bei solcher Verfeinerung blieb "die Natur" Kausalgrund und Maßstab, war der Mensch eben doch eudaimonistisch bestimmt, nämlich durch einen natürlichen Glückstrieb. Dann ist er auch ohne "Selbstliebe" nicht zu denken. Und wenn man ihn zugleich als edel und mitleidig, essentiell gut
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Max Scheler, Der Fonnalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. In: GW 11. Hrsg. v. Maria Scheler. 1966, hier: S. no. Vgl. Scheler, Liebe und Haß [zuerst 1913]. In: GW VII: Wesen und Formen der Sympathie. Hrsg. v. Manfred S. Frings. 1973, S. 150-208. Georg Willielm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [zuerst 1837]. In: Jubiläumsausgabe in 20 Bdn. Hrsg. v. H=ann GlockDer. Bd. 11. Stuttgart: Frommann 1928, S. 56 (Einleitung).
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und "poliziert"l0 ansehen wollte, so musste man diese gefährliche Selbstverstärkungsenergie wiederum aufteilen in eine legitimierbare und eine "schädliche", in eine sozialverträgliche und eine egoistisch-asoziale Selbstbezogenheit. Nur dann konnte man gegen die Theologie polemisch eine Begründung von Moral und Gesellschaft durch "die Natur" setzen. Es ist dies schon ein sehr vermittelter Eudaimonismus, aber auch gegen diesen noch stellt Scheler sich mit Entschiedenheit.!l Er findet ihn sogar bei Kant, der die "moralischen Egoisten" doch bekämpfte wie kaum einer und dessen Abwertung des "Eudaimonismus" von Fichte, Hegel und Schleiermacher übernommen wurde. Kant habe letztlich selbst eudaimonistisch argumentiert, nämlich - sozusagen in Angstbindung an die Triebhaftigkeit - vorausgesetzt, dass "die Lust als höchster Wert''12 der Menschen gedacht werden müsse, dass die Tiefenstruktur der Psyche auf sinnliche Lust und Unlust fixiert bleibe (was ja nicht so weit entfernt wäre von der Libido-Theorie Freuds). Daraufbauen bei ihm - ganz wie bei d'Holbach, Helvetius oder Rousseau - auch die ethisch wichtigen Gefühle auf, zu denen Kant auch Liebe und Hass rechnete. Setzt man das nun in Beziehung zur Bedeutung der Vernunft und des formalen Sittengesetzes, zur Forderung nach Selbstzucht und Selbstdisziplin in Kants Philosophie, so bedeutet das, dass der Mensch für ihn, sofern er nicht durch diese Mittel der Zivilisierung gebändigt wird, "ein absoluter Egoist und ein absoluter Hedonist der sinnlichen Lust" bleibe. Amold Gehlen, (NS-protegierter) Kant-Nachfolger auf dem Königsberger Lehrstuhl, hat in einem hohen Lied auf die Selbstzwänge des preußischen Pflichtethos den Untergrund dieser dualen Denkfigur zwischen unveränderbarer Naturanlage und der Selbstüberwindung durch Vernunft in der biographischen Selbstformung Kants gesucht. Dieser habe für sein Werk gelebt, sich "mit äußerster Selbstzucht geopfert und umgeschaffen", gegen seine Körperkonstitution in "unausgesetzter Wachsamkeit, bei stets sorgfältiger Diät" sein Leben planend und "seiner Physis die genaueste Aufmerksamkeit" schenkend, während er doch als junger Mann "phantasievoll und künstlerisch empfänglich war, mit Anlagen zum Leichtsinn. Als Student verdiente er Geld mit Billard- und L'hombrespiel".13 10 11 12 13
Vgl. Johann Gottfried Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte der Menschheit [zuerst 1774]. In: 1. G. v. Herder's Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan u.a. 33 Bde. Berlin: Weidmann 1877-1913. Bd. 5.1891, S. 475-593, hier: 547. Scheler, Fonnalismus (Anm. 7), S. 246ff. Scheler wirft Kant vor, dass er diese Grundbegriffe selbst gar nicht untersucht habe - Scheler, Fonnalismus (Anm. 7), S. 246. Vgl. Amold Gehlen, Über Kants Persönlichkeit [zuerst 1938]. In: GA2. Hrsg. v. Lothar Samson. 1980, S. 397-406.Arsenij Gulyga (Immanuel Kant. Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 23f.) berichtet in seiner etwas dürren Verknüpfung von Biographie und Werk lediglich von "der Not des Studiosus Kant". Da auch der Vater ,,nur mühsam mit seinem Gelde auskam", habe Kant sich mit Privatstunden durchgeschlagen; es "unterstützten ihn auch wohlhabende Schulkameraden, bei ihnen mußte er zur Not Kleidung und Schuhwerk ausleihen [...] Hin und wieder half ihm Pastor
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Scheler kritisiert alle Varianten eines eudaimonistischen Glücksnaturalismus, aber er war kein Verächter des Glückes, für das er gegen das preußisch-deutsche Philosophieren Kants, Fichtes oder Hegels sogar einwendete, diese hätten übersehen, "dass der Mensch auf Glück überhaupt so wenig verzichten kann, wie auf das Sein selbst"14. Es dürfte deutlich geworden sein, dass Scheler das Glück von der Dauer und Geltungshöhe her gedacht hat, aber zugleich weiß man, dass es dauerhaft gerade nicht ist, dass es mehr Sehnsucht nach dem Glück gibt, als diesen beruhigten Zustand selbst. Die allgegenwärtigen Strebungen nun, die Hoffnung auf seine Dauer machten das Glück auch von dieser Seite her problematisch, denn es ist weder festzuhalten noch zu erzeugen; vielmehr flieht es "vor seinem Jäger in immer weitere Fernen, das Leid nähert sich dem Flüchtling, je schneller er flieht". 15 Man hat den Eindruck, dass das Glück sich der Existenz ebenso entziehe wie der Erkenntnis. Glücksgefühle oder deren Gegenteil- Verzweiflung, Elend, Trauer, Leid etc. - sind physiologisch bedingt und zugleich kulturell geformt. Als menschliche Ausdrucksweisen eröffnen sie zwar einen Zugang zur Systematisierung der objektiven Wertpositionen des Glücks und des Leidens. Nicht aber sind sie für die Wertqualität des Erlebten hinreichend bestimmend. Aber auch Glücksgüter ermöglichen für sich genommen keine "Wesensbestimmung" des Glücks, so auch nicht der Besitz, welcher im englischen Utilitarismus, vor allem bei Jeremy Bentham, zur wesentlichen Basis aller Lustquellen wurde; ebenso ungenügend ist das bloße Erreichenwollen eines Zieles. Demgegenüber bezieht Scheler sowohl das Leiden als auch das Glück auf die Tiefenschicht der Person. Auch hier hilft ihm eine physiologisch-psychische-geistige Aufschichtungstheorie - wie später in seinem anthropologischen Grundbuch, Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928)16 - weiter, indem er schon Stufen des Fühlens unterscheidet, nämlich 1. sinnliche Gefühle, 2. Leib- und Lebensgefühle, 3. rein seelische Gefühle (Ich-Gefühle) sowie 4. geistige Gefühle (persönlichkeitsgefühle).17 "Glück" ist nun insbesondere ein Tatbestand der höchste Stufe dieser Hierarchie der Emotionen, wenngleich Gefühlsausdrücke durchaus reaktiv sein können, d.h. durch Personen, Gegenstände oder Situationen ausgelöst, und obwohl emotionale Regungen zum Leistungsautbau aller höheren Lebewesen zu zählen sind,
14 15 16 17
Schultz, des öfteren ein Verwandter mütterlicherseits, ein prosperierender Schuhmachermeister" und sein Großvater Richter, der den Druck seiner Erstlingsschrift finanzierte. Max Sche1er, Vom Sinn des Leides [zuerst 1916] In: GW VI. Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. Hrsg. v. Maria Scheler. 1963, S. S. 36-72, hier: 50f. Ebd., S. 64. Vgl. Sche1er, Stellung (Anm. 2). Sche1er, Fonnalismus (Anm. 7), S. 334.
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also tierisches wie menschliches Leben - wenn auch mit graduellen Differenzen - bestimmen. Entsprechend seinem anthropologischen Modell l8 sind die "geistigen" Gefühle allein dem Menschen eigen, nicht Produkt der Evolutionsreihe, sondern hinzutretendes ("göttlich" gegebenes) Sondermerkmal. Das ist das Medium der Stellungnahme zu sich selbst und dem eigenen Schicksal, also der ontologische "Ort" auch des Glücks. Aus dieser Theorie der Intensivierung (nicht notwendig der erlebnishaften, sondern der geistigen durch "Ideation") wird verstehbar, dass Glück und Leid aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig steigern können, dass es auch Vermischungen und Umkehrungen gibt, wie die, dass selbst ein Erleiden von Glückszuständen durchzogen sein kann. Man denke an mystisch-asketische Hingabe, an Märtyrerqualen, die Reinigung durch Selbstbestrafung oder an die profanen Riten der Sado-Maso-Szene. Übrigens ist es kein Wunder, dass die christliche Ethik der Leidensnachfolge im 18. Jahrhundert sogar theologisch kritisiert werden konnte: Matthew Tindal warf den christlichen Märtyrern vor, "sie hätten ihr schweres Opfer gegen den Willen Gottes auf sich genommen"19 - die Sünde läge dann im Glück am Leiden. Wenn Glück und die Geistigkeit des Menschen zusammenhängen und wenn positive Werte eine ,,Art der Lust auslösen", die Eigenqualität erhäleo oder in Schelers Terminologie gesagt: wenn jede Zunahme der "Werthöhe" von einer "Luststeigerung der zugehörigen Tiefenschicht des Gefühls" begleitet wird, dann ist man beim Thema des Zusammenhanges von Glück und Sittlichkeit - auch dies eine Problemkonstellation schon der Antike, später der an sie anknüpfenden Renaissance-Autoren, der Aufklärungs-Philosophen und aller Theodizee-Thematisierungen. Die eine Lösungsrichtung wäre die, dass die guten Menschen notwendig glücklich würden - was gegen die allgemeine Erfahrung spricht. Aber vielleicht gilt wenigstens, dass nur glückliche Menschen wirklich gut sein können - das wenigstens legte Scheler nahe, indem er Marie von Ebner-Eschenbach zitierte und entsprechende Sentenzen Luthers. 21 Wird der Zusammenhang des Guten und der Glückseligkeit erörtert, dann kann das unter dem Gesichtspunkt des Fatums, der Vorbestimmtheit oder auch der protestantischen Variante einer Prädestination ge18 19 20 21
Vgl. Scheler, Stellung (Anm. 2). Kondylis, Aufklärung (Anm. 6), S. 374, zit. Matthew Tindal, Christianity as old as the Creation: or, the Gospel, a Republication ofthe Religion ofNature. London 1730 (VIII, S. 89). Scheler, Formalismus (Anm. 7), S. 355. Max Scheler, Vom Verrat der Freude. In: GW VI, S. 73-77, hier: 76. - Im Rahmen seiner überlegungen zur "Schichtung des emotionalen Lebens" geht Sche1er (Forma1ismus, Anm. 7, S. 332ff.) auf den - von Kant und den Stoikern unterstellten - Zusammenhang des Guten und des Glücks ein (damit ist ein Zusammenhang angesprochen, der in der Renaissance, etwa bei Machiavelli, als Verhältnis von fortuna und virtiJ behandelt wird).
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schehen. Aber für Schelers Akttheorie sind derlei zum Passivismus verführen könnende Begründungen nicht überzeugend. Es gehört also auch ein Eingreifen, eine aktive Stellungnahme, eine Form des Selbstentwurfs zum Glück, vielleicht einfach schon - wie Machiavelli meinte -, dass man es ergreift. Die "qualita dei tempi" zu erkennen, den richtigen Zeitpunkt nicht zu verpassen, die richtige Intuition zu haben: das wäre mehr als fortuna, nämlich virtU. 22 Es kann dann die aktive Anverwandlung glücklicher Umstände nicht nur eine Bedingung des Glücks sein, sondern zur sittlichen Norm werden und das Verfehlen des Glücks ein Makel, tiefer sitzend als jede Leistungsschwäche - in diesem Sinne sprach Friedrich 11. von Preußen vernichtend über Menschen "sans fortune". Scheler vertrat einen ähnlichen Standpunkt, aber ohne das Hasard-Spiel mit den antiken Mächten, die noch für Machiavelli und den Autor des "Anti-Machiavell" leitend waren. Bei Scheler sind es Einstellungs- und Handlungsentwürfe des Menschen, durch die er sich zu den Wertordnungen in eine adäquate Beziehung setzt, zu objektiven Welten, die er nicht allein geschaffen hat, die aber der Realisierung durch ihn bedürfen: In hoher Lage (vom Wertungsstandpunkt, also nicht nur in einer beherrschenden) eröffnet sich hier eine Möglichkeit des Glücks (auch dies ein Nietzsche-Anklang). Aber auch bei Scheler schon finden wir den Umschwung in der Glückstheorie, also dessen Privatisierung und das damit verbundene Illegitim-Werden unter den Bedingungen der Massengesellschaft. Das Jahr 1914 markierte für ihn einen Absturz der Kultur, wie andere das beim Zusammenbruch des Ancien regime empfunden hatten. Nun war auch in Deutschland (am nachhaltigsten durch den wesentlich von der Reichsregierung entfesselten Krieg) das technische Weltzeitalter angebrochen. Die eingeschränkten Glücksmöglichkeiten der Modeme finden viele Zeugen bis hin zu Tolstoi, Baudelaire, Balzac, Dostojewskij und Strindberg. Bei Scheler als auch politisch denkendem Autor findet sich bereits jener Widerspruch zwischen einer Zurückweisung der Massenkultur, einem Erschrecken über die Anspruchsdynamik der ,,Allzuvielen" (Nietzsche). Wertrelativismus und die zunehmende Unbestimmtheit ontologischer Relationen, eben jenes Phänomen, das Max Weber (mit einem Wort Jean Stuart Mills) als "Polytheismus der Werte" bezeichnet hatte, bilden dafür den Hintergrund. In Schelers Studie Liebe und Haß findet sich kein Wort vom Glück - vielleicht eine Hochleistung sublimierender Verdrängung.
22
Vgl. auch Kar1-Siegbert Rehberg, Der Staat als ,,Kunstwerk" oder das Böse der Politik? Nicco1o Machiavelli. In: ders. und Frank-Rutger Hausmann (Hrsg.), Klassiker der Wissenschaften. Aachen: Augustinus 1996, S. 121-143.
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3. Helmuth Plessner: Distanz als Glückschance Die entscheidenden Kategorien der Schelerschen Anthropologie: "Weltoffenheit", "Antriebsüberschuss", die geistig fundierte Möglichkeit der Verneinung der Lebensantriebe - also Askese -, ja sogar die Grenzmöglichkeit einer absoluten Verneinung des Lebens verweisen alle nicht auf "Glück". Auch in der Anthropologie Helmuth Plessners ist dies weder ein zentraler Begriff noch ein leitender Gesichtspunkt der Analyse. Aber während Scheler die Gefühls- und Seinsschichten, die mit dem Glücksproblem zusammenhängen, von verschiedenen Seiten her durchgearbeitet hatte, spielt bei Plessner "Glück" auch als Thema kaum eine Rolle, erst recht nicht auf kategorialer Ebene. Die Grundprobleme, welche die Anthropologen diesem Begriff gegenüber so skeptisch machen, liegen auch für Plessner in der Natur des Menschen, in dessen Tendenz zur Ungleichgewichtigkeit, zu einem Außer-Sieh-Sein, eben gerade auch in der "Exzentrizität", die allerdings auch die Grundlage des menschlichen Geistes und seiner "Intersubjektivität" ist. Plessner stellte weder in seiner Grenzen der Gemeinschaft (1924) noch in Macht und menschliche Natur (1931) das Glück in die Mitte. In diesen Arbeiten geht es vielmehr um Bedingungen der Selbstdurchsetzung und des Schutzes vor den Anderen. Aber in den Sicherheitsräumen einer machtgestützten Distanz wie auch im Raum der Intimität können doch auch Formen eines Selbstbezuges mitgedacht sein, der Glück einschließt. Auf Spuren einer Glücksthematik bei Plessner befragt, verwies Joachim Fischer mich vor allem auf dessen Aufsatz Über das Lächeln, den jener auf einen kritischen Einwand von Hans Kunz hin 1950 seinem Buch über Lachen und Weinen (1941) nachgeschoben hatte. 23 Plessner hatte in diesem berühmten Werk das Lachenja ganz ausdrücklich nicht als einen Ausdruck des Glückes aufgefasst, sondern die Extremreaktionen des Lachens und des Weinens - sozusagen mit dem ethologisch geschulten Blick - auf die Überwältigtheit eines Menschen, auf das Nichtkontrollierenkönnen seiner Reaktion bezogen. Diese Expressionen sind ,Explosionen', eben fundamentale Formen des Ausdruckszwanges extremen Gegebenheiten gegenüber. Hingegen findet sich im Lächeln eine beherrschte Mitte - womöglich also ein Zustand stillen Glücks. Allerdings sagt Plessner das nicht ausdrücklich, sondern behandelt Ambivalenzen und Möglichkeiten des In-der-Schwebe-Haltens (wie GeWen sie unter dem Stichwort "stabilisierte Spannung" erörtert hat24 ). Wenn 23 24
Vgl. Plessner, Lachen (Anm. 4), bes. sein Vorwort zu diesem Buch in: GS VII, S. 206f. sowie Hans Kunz' Rezension von Plessners "Lachen und Weinen" in: Basler Nachrichten v. 28.12.1941. Vgl. Gehlen, Unnensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [zuerst 195615. Aufl. Wiesbaden: Aula, Kap. 18 (S. 78-84).
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man bei Plessner irgendwo eine anthropologische Dimension des Glücks vermuten kann, so immer in Balanceverhältnissen, in kontrollierten, aber nicht zwanghaften Gleichgewichten, auch im Erkennen und Philosophieren, in der Vermittlung von Nähe und Distanz. Das ist - wenn auch nicht explizit - eine sozusagen humanistische Konzeption des Glücks. Aber das liefert bei Plessner sozusagen nur den Stimmungshintergrund einer auf Eigenständigkeit bestehenden Existenzform, die sich nicht vereinnahmen lassen will, weder von den Verführungen der großen Macht noch von denen der entgrenzenden Gemeinschaft. Dazu passt nun das Lächeln in seiner Vieldeutigkeit; denn die "Klugheit lächelt und die Dummheit, der Stolz und die Bescheidenheit, die Überlegenheit und die Verlegenheit. Wir kennen das freundliche, das abweisende und das zurückhaltende, das spottende und das mitleidige, das verzeihende und das verachtende Lächeln." Und so ist auch die Kulturbedeutung ambivalent: "Das umeinander Wissen der Auguren und die verhaltene Tiefe des Buddha, die stereotype Maske archaischer Figuren, die Rätselhaftigkeit der Gioconda, die süße Erlöstheit der Inconnue de la Seine, die Skepsis des alten Voltaire und der Weltblick des alten Rernbrandt haben aus diesem seltsamen Lichte ihr unverwechselbares Leuchten."25 Physiologisch und verhaltenstheoretisch ist das Lächeln beherrschter als das Lachen und in verschiedene Richtungen - wie man heute zu sagen pflegt - "anschlussfähig". In solchen Beschreibungen, die der menschlichen Ausdrucksambivalenz gewidmet sind, kommen hintergründige Bilder des Glücks zum Ausdruck, merkwürdig emphatische Beschreibungen einer Haltung, der Plessner Sympathie entgegenbringt, weil sie Distanz schafft (auch noch sich selbst gegenüber). Er steht darin übrigens Gehlen näher als Scheler - die politischen Differenzen ändern daran wenig. 26 Der Verzicht auf eine ausdrückliche Behandlung des Glücksproblerns spiegelt die Abwehr gegen direkte Zumutungen der Affektivität wider, wie sie in hochbÜTgerlicher Lage antrainiert und zuweilen stilsicher ausgebaut wurden.
4. Arnold Gehlen: Riskiertes Glück und der Masseneudaimonismus Durchlaufend gibt es ein im Werke Gehlens verleugnetes, wirklich ,existentielles' Lebensthema, nämlich das Problem der Selbstfindung und Selbststabilisierung des Menschen gegen Triebüberschuss und Triebverhangenheit gleicherma-
25 26
Helmuth Plessner, Das Lächeln [zuerst 1950]. In: GS vrr, S. 419-434, hier: 421. Vgl. dazu Karl-Siegbert Rehberg, Das Werk Helrnuth Plessners. Zum Erscheinen der Edition seiner "Gesammelten Schriften". In: Kälner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984), S. 799-811.
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ßen. 27 Dann stellt sich die Frage des Glücks und seiner Erreichbarkeit, aber auch, was es einem vorspielen mag, also das Illusionäre des Glücks. Der junge Gehlen hatte vor allem in seiner existential-phänomenologischen Habilitationsschrift Wirklicher und unwirklicher Geist (1931) mit genialischem Gestus über die Mög1ichkeiten eines Zusammenfallens von "Seinsfülle, Vollkommenheit und Glück" nachgedacht, denn die "Grade des Seins und die Grade des Glücks zu sein fallen zusammen". So gäbe es nur ein Glück, das der "unbedingten Existenz" und der Teilhabe am Absoluten. 28 Beglückend erschien dem sich selbst Suchenden und den sich seiner Existenz vergewissernden Autor die Überschreitung des eigenen Ichs durch die Entdeckung der Welt und der Anderen. So wurden Bildungseriebnisse zu Glückschancen, die Möglichkeit eröffnend "die belebende Einwirkung der anderen Welt zu erfahren, erwachend im Teilnehmen am geistigen Leben des auserwählten Anderen"29 - ganz ähnlich hatte einst Nietzsche über sein Schopenhauer-Erlebnis geschrieben. 30 Die Arbeit an sich selbst, die produktive Selbstentfaltung, schließlich die Selbstzügelung können auch Glück bereiten. Nach Gehlens Zuwendung zur anthropologischen Methodik (ab 1936) werden Glückszustände der Bewegungserfahrung eingehend geschildert, die Möglichkeit einer Deckungsgleichheit von Wollen, Rhythmus und Gelingen, die Erfahrungsanreicherung durch das In-sichHineinnehmen des Ertasteten und Gesehenen. 31 Gehlens Glücksvorstellung blieb aufgewisse Weise ,autopoietisch'. Das lässt an die "Selbsttätigkeit" bei Rousseau und Herder denken32, aber in merkwürdiger Umkehrung auch an Niklas Luhmann. Aber in Gehlens frühe existential-philosophische Hochstimmung mischten sich auch schon Brüche ein, Unwahrscheinlichkeiten der Erfiillungschance von zwei Seiten her: Zum einen muss das Glück, das man sich nicht willentlich er27
28 29 30 31
32
Karl-Siegbert Rehberg, Existentielle Motive im Werk Arnold Gehlens. ,,Persönlichkeit" als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie. In: Helmut Klages und Helmut Quaritsch (Hrsg.), Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Arnold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Berlin: Duncker & Humblot 1994, S. 491-530 [Aussprache: S. 531-542]. Arnold Gehlen, Wirklicher und unwirklicher Geist [zuerst 1931]. In: GA!. Hrsg. v. Lothar Samson. 1978, S. 113-381, hier: 142f. und 154. Gehlen, Geist (Anm. 28), S.176. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Schopenhauer als Erzieher [zuerst 1874]. In: Werke I, S. 287-365. Vgl. dazu z.B. Amold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt [zuerst 1940] in: GAJ. Hrsg. von Karl-Siegbert Rehberg. 1993, S.l64 undArnold Gehlen, Ober instinktives Ansprechen auf Wahrnehmungen [zuerst 1961]. In: GA4: Philosophische Anthropologie und Handlunglehre. Hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg. 1983, S.200f. Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Natur und Sachhingabe. Jean-Jacques Rousseau, die Anthropologie und "das Politische" im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Herbert Jaumann (Hrsg.), Jean-Jacques Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption. Berlin: de Gruyter 1995, S. 221-265.
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schaffen kann, doch durch Handeln erobert werden, denn es liegt nicht in der passiven Erwartung, sondern "im aktiven Einsatz des Willens"33, auch in der Durcharbeitung der eigenen Schwäche, der Bürden und des Unglücks. Die Phantasie ist zwar ein Mittel unserer Selbst- und Welterschaffung, aber auch eine Verführung, weil sie ihr eigenes Glück kennt. Sie ist - wie K.ant sagte - die Reaktion eines "pathologischen Glückstriebs auf eine Welt, die nicht gewillt ist, diesem Triebe entgegenzukommen".34 Zum anderen gibt es eine Gefährdung des Glücks, die nicht in der Unbalanciertheit der menschlichen Antriebe und im Verfehlen der aktiven Erfüllung liegt, sondern - wie das auch Max Scheler beschrieben hatte - in einer Verschiebung der gesellschaftlichen und historischen Lage: Gehlen sieht in seiner Jugendschrift noch die Möglichkeit einer ganz offen und neu vor uns liegenden Welt und, "dass das Glück eines eigentlichen Zustandes in jedem Moment auf uns wartet".35 Das sei jedoch durch die Dominanz der Gegenwärtigkeit, insbesondere aber durch "Uniformierung und Nivellierung aller Daseinskraft" in der Modeme zerbrochen worden. Diese wird durch eine "undiskutierte Leistungs- und Erfolgsbegierde" bestimmt36 , wodurch die Glücksmöglichkeiten "eines absoluten Gegenstandes", wie sie im 18. Jahrhundert noch denkbar gewesen seien, verspielt wurden. Es seien dies Einengungen der Lebensmöglichkeiten durch den angelsächsischen Protestantismus gewesen. Das entspricht der Wahrnehmung einer epochalen Schwelle in dem Satz, der Talleyrand zugesprochen wird, wonach diejenigen, die nach 1789 gelebt hätten, die Freuden des Lebens nicht mehr gekannt hätten. Daraus folgt dann Gehlens schroffe Ablehnung des bloß "empirischen Lebens" in der Modeme: ,,Aus diesem Verlust jeder Fähigkeit zur reinen Gegenwart [...] erklärt sich die Unmenschlichkeit, ja Bestialität ihrer [von Gehlen vor allem den Engländern und Amerikanern angelasteten] Konsequenzen: Technik, Kapitalismus, Weltkrieg [...] Die Genesis dieses verhaßten Ethos erscheint sehr klar bei Benjamin Franklin. [...] Der Pragmatismus hat in der Philosophie z.B. auch aufNietzsche und Bergson verheerend gewirkt."J7
In dieser Linie der Annahme einer historischen Verminderung der Glückschancen denkt Gehlen weiter - allerdings wird sie radikalisiert. Ging es zuerst noch um die Möglichkeit eines durch die befreiende Kraft der Handlung gebildeten Cha33 34 35 36 37
Gehlen, Geist (Anrn. 28), S. 364. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (Akad.Ausg. Bd. 5, S. 85), zit. in: Gehlen, Geist (Anm. 28), S. 359. Ebd., S. 180f. Man merkt den Abstand zu seinen Frühschriften, wenn man Gehlens Abscheu in den 68er Jahren über Herbert Marcuses Formel von der "großen Verweigerung" oder über Jürgen Habermas' Kritik am Leistungsprinzip in Betracht zieht. Gehlen, Geist (Anrn. 28), S. 180f.
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rakters zu Ruhe und Selbstsicherheit zu kommen, welche "die Voraussetzung jeder Größe erst ist"38, so wurde das Glück schon in der Theorie der Willensfreiheit (1933) auf die Seite des Triebhanges und der privaten Selbstbezogenheit geschoben, so dass es mit der "höchsten Stufe der gelebten Moralität nicht mehr verbindbar ist".39 "Erfiillungsglück" wird dann zur Projektion der Wunschphantasien oder einer Erkenntnis, die ihr Glück aus sich selbst zieht, wie Gehlen das über Hegel sagte. Aber die Freiheit spaltet sich davon ab. Denn wenn auch die meisten Menschen glauben, sie bestehe in der "Unabhängigkeit von der Notwendigkeit des Laufes der Welt" und eröffne erst die Erreichbarkeit eines privaten Glücks, setzt Gehlen (mit Hege!) die Gegenposition: "Die echte Freiheit aber ist die freiwillige Unfreiheit, die die Selbstsucht von sich abgestoßen hat und nun im freien Bejahen und Wiederholen des Notwendigen lebt".4Q Es mag biographische Gründe geben, später dem Glück zu misstrauen, aber auch sozusagen physiologische: bei Gehlen jedenfalls folgt der Liebesmetaphorik des Verhältnisses zum "Du", der Anerkennung der Transzendierbarkeit des Ich durch Interaktion und Gemeinschaft schon 1936 in dem Aufsatz Vom Wesen der Erfahrung die Überlegung, dass im Leben eine "Richtung zur Verhärtung" liege, einer Verfestigung auch "sich bestätigender Vorurteile": ,,Damit gibt es endlich kein Glück mehr, denn Glück ist eine die Grenzen unserer bewährten Erwartungen sprengende Erfüllung, und man sammelt im Laufe des Lebens einen recht vielseitigen Vorrat von Erfuhrungen darüber, was das Leben zu bieten vermag.'''!l
Die entschiedenste Abwehr des Glücks entwickelte Gehlen jedoch aus soziologischer Perspektive, d.h. mit direktem Bezug auf die Massengesellschaft, die Massendemokratie, den Wohlfahrtsstaat. Davon handelt sein letztes Buch Moral und Hypermoral, sein unbalanciertestes, das 1969 erscheinend, auf dem Höhepunkt der Studentenrevolte geschrieben worden ist. 42 Das Buch sollte anthropologisch sein, nämlich die unterschiedlichen Quellen ethisch begründbarer "Sozialregulationen" aufzeigen. Zum andem war es als kritische Polemik entworfen, indem Gehlen gegen den (zumindest inner-universitären) ,,zeitgeist" für eine der möglichen Ethos-Formen eintreten wollte, nämlich für das Ethos der Institutionen, besonders des Staates. 38 39 40 41 42
Ebd., S. 364. Amold Gehlen, Theorie der Willensfreiheit [zuerst 1933]. In: GA2, S. 1-179, hier: 167. Ebd., S. 176. Amold Gehlen, Vom Wesen der Erfahrung [zuerst 1936]. In: GA4., S. 3-24, hier: 8. Amold GeWen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik [zuerst 1969]. 5. Aufl. Wiesbaden: Aula 1986; vgl. auch die kritische Rezension: Jfugen Habermas, Nachgeahmte Substantialität. In: Merkur 264,24 (1970), S. 313-327
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Es gäbe also eine Pluralität ethischer Verpflichtungen - das Glück behandelt Gehlen indem er von "physiologischen Tugenden" ausgeht (darauf, dass dies ein Begriff Nietzsches war, hatte Helmut Schelsky ihn in einem kritischen-ablehnenden Brief über das Buch im Juni 1970 hingewiesen). Weitere Quellen der Verpflichtung sind für Gehlen das Familien- und Sippenethos, das sich zu einem universalen Humanitarismus erweitern lasse, und die ethische Appellfunktion der "Gegenseitigkeit".43 Die mit ihr verbundenen Regeln und Erwartungen waren für ihn jedoch nicht notwendig glücksbezogen, wie er von Kontakten, die Reziprozität einklagen wollten, zu berichten wusste: ein bissehen ging es ihm wie dem Sinologen Dr. Kien in Elias Canettis Blendung, der ,,zuhörend" das stoische Ethos eines Nichtantwortetenden bewunderte, bis er bemerkte, dass er selbst derjenige war, der sich jeder Kommunikationszumutung derart "charaktervoll" entzog. 44 Für Gehlen wir der Eudaimonismus wird in einer Zeit, in der alle Glückserwartungen auf den Staat projiziert würden, zu einer privaten, Ich-bezogenen "Technik der Leidensvermeidung und Überlistung der Unlust".45 Dann würden wir in einem Jahrhundert leben, in welchem der von Werner Sombart sogenannte "Massenlebenswert" regiert, d.h. die "Überallesbewertung der Tatsache, dass es allen Menschen wohlergehe und sie lange leben auf Erden".46 Einst waren dies bürgerliche Ideale, nämlich die Verbindung von Wohlleben und einer friedlichen Behaglichkeit, aber - wie Götz Briefs meinte - sie hätten sich verwandelt, indem sie in die "Lebenssphäre des untemperierten Proletariats" eindrangen und dadurch die bürgerlichen Orientierungskombinationen aufgehoben wurden. Gehlen führt das so fort: ,,Als jene eudaimonistisch-naturalistische Einstellung zur Zeit der Aufklärung im Interesse des Bürgertums entworfen wurde, hatte diese Klasse in weitem Umfang noch Zuflüsse aus ganz anderen Quellen aufgenommen, z.B. Haltungen und Normen des damals politisch noch maßgebenden Adels. Ideale wie Ehre, Großmut und Tapferkeit sind kriegerischer Herkunft [...], und die Bourgeoisie hatte sie adoptiert. Auch hatte das Christentum den Idealen der Entsagung und Askese noch nicht in der Tendenz, die Sozialdemokratie zu überbieten, den Rücken gekehrt. ''47
Die modemen Industriegesellschaften mit ihrem Konsumismus und der ,,Ethisierung des Glückskonzepts" (Götz Briefs) führen nach Gehlens Ansicht zu einer "öffentlichkeitsfähigen Disqualifizierung derjenigen Mächte, die einer [00'] Glücksmaximierung im Wege stehenkönnten".48 Schon die Glückspropheten des 18. Jahrhun43 44 45 46 47 48
Vgl. zu den Ethosformen: ebd., S. 47. Elias Canetti, Die Blendung. Roman [zuerst 1936]. Frankfurt a.M.: Fischer 1965, S.14ff. Gehlen, Moral (Anm. 42), S. 62. Ebd., S. 65; vgl. Werner Sombart, Der proletarische Sozialismus (,,Marxismus"). Erster Band: Die Lehre. Jena: Fischer 1924, S.87ff. Gehlen, Moral (Anm. 42), S. 68. Ebd., S. 65.
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derts hätten - wie Morelly im Code de la nature (1755) - die "Allmacht des Staates" gefordert als einer Maschine, die Güter produziert, und zwar in "Verlängerung der schon zu seiner Zeit vorhandenen Einstellung der Bevölkerung, von der Tocqueville berichtet, sie wende sich bei jeder Gelegenheit an die Regierung". Dadurch entstehe ein "Sozialdruck": der Staat solle "möglichst viel leisten, um den Wohlstand Aller zu garantieren, und zugleich möglichst verschwinden, um die Freien mit Pflichten zu verschonen; so wird er immer allgegenwärtiger und zaghafter".49 Bekanntlich sah Gehlen die Anspruchshaltungen der Bürger, die sich in Versorgungsberechtigte verwandelt haben, begleitet von der Rhetorik der (Links-)Intellektuellen und ihrer Glücksversprechungen. Das hatte es auch schon einmal gegeben, nämlich im vierten vorchristlichen Jahrhundert. Schon Georges Sorel fand heraus, dass die Grundideen der modemen Moralisten aus der griechischen Verfallszeit stammten und nun als "Konsumentenmoral" weiterentwickelt würden. 50 Gehlen versteht das Aufkommen des Humanitarismus als Friedenssehnsucht jener Epoche, als Reaktion auf die Aufstiege und NiederbTÜche der Großreiche - das Alexanderreich und später das Römische Imperium erschienen demgegenüber als Stillstellung des Dauerkampfes, allerdings um den Preis der Einpassung und Unterwerfung. Bekannt, dass solche Gedanken für Gehlens konservative Verachtung der Bundesrepublik als eines Staates nicht nur am "Ende der Geschichte" sondern als unwesentliche Restgröße nach jeder Geschichte von höchster Aktualität waren; der Niedergang Griechenlands wurde ihm nach 1945 zur Metapher des deutschen Zusammenbruchs (dessen Gründe er allerdings,vornehm' verschwieg). Schon im klassischen Griechenland ergaben sich dann mitleidsethische Motive, verknüpft mit wachsendem Reichtum und kultureller Blüte, auch stieg - was Gehlen selbstverständlich skeptisch machte - "der Einfluß der Frauen". 51 Das humanitäre Ethos und die - könnte man sagen - Demokratisierung des Glücks, werden von Gehlen (wie von Nietzsche und Sorel) als "Dekadenz"Phänomen gedeutet, wofür auch Vilfredo Pareto als Zeuge anzurufen ist.52 Auch das basiert aufNietzsche: "Die decadence verrät sich in dieser Präokkupation des ,Glücks' (d.h. des ,Heils der Seele'. [...] Das zeigt die Pathologie des Untergrundes: es war ein Lebensinteresse". Auch darin findet sich ein Bezug auf die griechischen Philosophen, z.B. auf Sokrates; all das "fünf Schritt weit vom Exzeß, von der Anarchie, von der Ausschweifung".53
49 50 51 52 53
Ebd., S. 67f. Vgl. Georges Sore1, Über die Gewalt [frz. zuerst 1908]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969, S. 287. Vgl. Gehlen, Moral (Anm. 42), S. 80t: Vgl. ebd., S. 82f. Friedrich Nietzsche, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. In: Werke 1lI, S. 415-925, hier: 772.
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Im Hinblick auf die Möglichkeiten des Glücks sind die verächtlichen Urteile dieser Autoren vor allem damit verbunden, dass "Erweiterung" als Überdehnung und Entdifferenzierung des Sippenethos im Unbestimmten münden müsse und dadurch jede wirkliche Steigerungsfähigkeit des Menschen verspielt werde. Man komme allerdings zum stationären Zustand einer "vergnüglichen Enthaltsamkeit", also durch Massen- und "Herden"-Glück gerade nicht zum "Glück". Eine solche Kultur der kollektiven Absättigung :führe aber noch nicht einmal zum Glück für alle, sondern zu Abspannung und Langeweile. Unter der "Pax atomica" und mit dem ,,Bau immer neuer Anspruchspyramiden" komme es beispielsweise dazu, dass der Psychologe Peter R. Hofstätter "unter männlichen Studenten 25 Prozent arbeitsscheuer und berufsabgeneigter Figuren [fand], die dem Gedanken des Berufs Haß und Abscheu entgegenbrachten", und ihn mit Begriffen wie "Geiz, Sklaverei, Ekel, Elend" verbanden54 • Das war übrigens durchaus auch schon ein Problem für die Gründer der preußischen Universität. Man kann die Disziplinierungen des "Berufs" eben vom idealistischen Schwunge her (gegen das Los des ,,Brotgelehrten", wie Schiller das nannte5 5) oder aus demotivierender Unlust, sozusagen von unten, verfehlen. 56 Das Glück erweist sich nur noch als "Opium fürs Volk". Refugien für die Wissenden mag es dann kaum mehr geben. Theodor W. Adomo suchte sie in der esoterischen Konstruktivität der Neuen Musik, Gehlen schwebten andere Unwahrscheinlichkeiten vor, etwa die Bildintelligenz der Konstruktivisten seit dem Kubismus, d.h. die traditionelle Sehweisen zersetzende avantgardistische Modeme. Allenfalls Rückzüge in eine betrachtende "antike Heiterkeit" ließen sich dann noch denken, wie Gehlen sie sich zuweilen vornahm; aber auch die waren von einem ressentimental aufgenommenen Gang der (politischen) Dinge so vergiftet wie für Adomo die ästhetischen Refugien durch's "Tauschprinzip".
5. Schopenhauer und Nietzsehe als Vorläufer Das alles hatte Vorläufer, als wichtigsten und bissigsten den von Nietzsche, Max Horkheimer, auch von Gehlen hoch geschätzten Arthur Schopenhauer, der in sei54 55
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Arnold Gehlen, Das entflohene Glück. Eine Deutung der Nostalgie. In: Was ist Glück? Ein Symposion. München: Fischer 1976, S. 26-38, hier: 27. Vgl. Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? [zuerst 1789]; dagegen z.B. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums. 3. Vorl. In: Die Idee der deutschen Universität. Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1956, S. 123, hier: 27. Vgl. dazu Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universität und ihrer Reformen. Hamburg: Rowohlt 1963, bes. S. 48ff.
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ner Lehre von der "Nichtigkeit des Daseyns" radikal postulierte, dass in einer Welt, "wo keine Stabilität irgend einer Art, kein dauernder Zustand möglich, sondern Alles in rastlosem Wirbel und Wechsel begriffen ist" sich "Glücksäligkeit" nicht einmal denken lasse. 57 So ist das Leben entweder nur Selbsterhalt und rastloser Kampf oder "Langeweile". Glück ist allenfalls negativ, als schmerzloser Zustand bestimmbar. Aber wann gibt es den schon, da wir doch "die Gesundheit unsers ganzen Leibes nicht fühlen, sondern nur die kleine Stelle, wo uns der Schuh drückt"?58 Das Leben erlaubt also kein Glück. Aber weil dem Menschen eine Sehnsucht zum Glück doch nicht auszutreiben ist, besteht es notwendig aus Enttäuschung. Und sogar "der Sinnengenuß selbst besteht in einem fortwährenden Streben und hört auf, sobald sein Ziel erreicht ist". Die Nichtigkeit also des Daseins, "das uns inwohnende und unvertretbare, begierige Haschen nach dem Wunderbaren" beruht darauf, dass der Mensch nicht zufriedengestellt werden kann, und könnte er es, herrschte die Langeweile, der auch die "Pracht und Herrlichkeit der Großen, in ihrem Prunk und ihren Festen" nicht entgehen kann: ,,Denn was sind, beim Lichte betrachtet Edelsteine, Perlen, Federn, rother Sammet bei vielen Kerzen, Tänzer und Springer, Masken-An- und Aufzüge, u.dgLu.m.? - ganz glücklich in der Gegenwart, hat sich noch kein Mensch gefühlt; er wäre denn betrunken [?] gewesen. "'9
In einer solchen Welt ist Leiden das einzig "Positive", nämlich Gegebene, Glück hingegen lediglich ,,Abwesenheit von Leiden", worauf Fritz Mauthner erwiderte: "Mit gleicher Logik hätte er schließen können: es gibt keinen Rausch, weil aufden Rausch der Kater folgt. "60 Schopenhauer glaubte sein superlativ-pessimistisches Urteil hingegen auf eine Klarsichtigkeit zu gründen, welche der Preis der Reflexion sei, also einer Aufhebung der "beneidenswerthen Sorglosigkeit und Gemüthsruhe", in der die Tiere leben können. Der Mensch ist deshalb ein Wesen der vergeblichen Kompensation, denn um seinem Unglücke zu entgehen, sucht er "Luxus, Leckerbissen, Tabak, Opium, geistige Getränke, Pracht und alles, was dahin gehört". 61 Für Schopenhauer ist übrigens - unwillkürlich könnte man an Jean-Paul Sartres These, "Die Hölle, das sind die anderen" denken - die Welt eine Hölle, genauer: "die Menschen sind einerseits die gequälten Seelen und andererseits die Teu57 58 59 60 61
Arthur Schopenhauer, Nachträge zur Lehre von der Nichtigkeit des Daseyns. In: ZA IX: Parerga und Paralipomena 11. Erster Teilband, S. 307-315. hier: 308. Arthur Schopenhauer, Nachträge zur Lehre vom Leiden der Welt. In: ZAIX, S. 316-331, hier: 316. Schopenhauer, Nichtigkeit (Anm. 57), S. 312. Fritz Mauthner,Art. Glück. In: ders., Wörterbuch der Philosophie [zuerst 1910/11]. Bd. I. 1980, S. 438-442, hier: 439f. VgL Schopenhauer, Leiden (Anm. 58), S. 319f.
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fel darin".62 Die Apotheose einer solchen Anthropologie und Seinslehre ist, dass es viel besser wäre, wenn "auf der Erde so wenig, wie auf dem Monde, [...] das Phänomen des Lebens" hervorgerufen worden wäre, wenn sich auf der Welt alles nur im ,,krystallinischen Zustande befände". Diesen hätten wir aber nun auch schon erreicht, wenn wir an Gehlens Prognose einer ,,kulturellen Kristallisation" denken oder an Nietzsches "Letzten Menschen". Die Bebilderung solcher Vorund Endzeiten findet sich in manchem der "präkambrischen" Bilder Max Ernsts, deren Wucht Gehlen deshalb als "durchdringende Stille des Finalen" empfand. 63 Auswege kann Schopenhauers Radikalität nicht in der "Gesellschaft", gar deren Verbesserung, suchen, nicht einmal außerhalb ihrer oder in christlicher Erlösungshoffnung (wenngleich deren Verherrlichung des Leidens und der gekreuzigte Gott ihn doch hätten imponieren sollen). Schopenhauers Pessimismus führt konsequent zur Sehnsucht nach dem Nirwana, zur Auflösung des Lebens und der Welt und überhaupt des Seienden. 64 Dann aber versinken alle Fragen nach Glück und Unglück ebenfalls im Nichts. Demgegenüber leugnete Friedrich Nietzsche - so scheint es - die Möglichkeiten des Glückes nicht, konnte in seinen frühen Schriften etwa sagen, man flinde "viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen".65 Aber bestimmend wird dann doch die Verachtung des Glücks oder - damit identisch - des Neuentwurfes eines ,,höheren". Schopenhauer, sein wahrer Lehrer (den Nietzsche eine Zeit lang Wagner und dem älteren Griechentum gleichstellte), vermittelte dem Jüngeren eine ,,herrliche Kultur [...] ohne die garstige Prätension auf Glück".66 Glück ist also auch für Nietzsche kein Telos, weder der Entwicklung des Lebens ("Entwicklung will nicht Glück, sondern Entwicklung und weiter nichts"67) noch ontogenetisch. Daraus folgt für den Wissenden, den Illusionslosen, der sich in Einklang mit den großen Dingen setzen will, nur ein Lebensmotto: "Was liegt 62 63 64 65
66
67
Ebd., S. 326ft:; vgl. auch Jean-Paul Sartre, Geschlossene Gesellschaft [frz. zuerst 19471- In: ders., Gesammelte Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Traugott König. Reinbek 1986, S. 7-76, hier: S. 59; Gehlen schrieb übrigens einen Essay "über ,Huis C10s"'. In: Wiener Literarisches Echo 1 (1948), S. 4-7. Vgl. Amo1d Gehlen, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modemen Malerei. 3., erw. Aufl. Hrsg. v. K.ar1-Siegbert Rehberg. Frankfurt a.M.: Klostennann 1986, S. 155. Schopenbauer, Leiden (Anm. 58), S. 326. Friedrich Nietzsche, Menschliches, A1lzumenschliches [zuerst 1878]. In: Werke I, S. 435-1008, hier: 485 (Aph. 49); oder: "Dem Individuum, sofern es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben: denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, jedermann unbekannten Gesetzen!" Ebd., S. 1080 (108). Friedrich Nietzsche, Wissenschaft und Weisheit im Kampfe. In: Werke III, S. 333-348, hier: 336; allerdings versteht er den Lebensvemeiner Schopenbauer gerade als Lebensbejaher, dem ein Denken zu verdanken sei, das ,,nicht als Negation des Lebens auftritt", vor allem aber "nicht so individuell-eudämono10gisch" sei. FriedrichNietzsche, Morgenröte [zuerst 1881]. In: Werke I, S. 1010-1279, hier: 1080 (Aph. 108).
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am Glücke! [...] ich trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke".68 Nietzsche vollzieht allerdings die Rückwendung seines Gedankens aufdie Gesellschaft, indem er sich von ihr abhebt. In der Absetzung von den Sklaventieren, also in jener "Kaste der Gesellschaft", welche die "Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten" zusammenschließt, geht es nicht um den "Gesichtspunkt der Verteilung des Glücks", sondern um die "Erzeugung einer höheren Kultur''69 - vielleicht liegt darin dann doch ein (einsamstes) "Glück". Jedenfalls wird ein Differenz-Zustand erstrebt, vergleichbar jenen, die "oft auf [...] vulkanische[m] Boden" kleine "Gärten des Glücks" anlegen, wobei das Glück mit dem Leiden steige, ohne es rechtfertigen zu können. 7o Aber in der Welt ist das Glück nicht zu erreichen. Schon meinte Nietzsche die letzte, endgültige Herrschaft einer Fratze des Glückes zu sehen, das Zeitalter nach allen Zeitaltern. In ,,zarathustras Vorrede" hatte er vom "Verächtlichsten" gesprochen, von den "letzten Menschen", die sagen: "Wir haben das Glück erfunden". Später sollte Alexandre Kojeve das von Hegel bereits gesehene "Ende der Geschichte" dadurch großsprecherisch ausmalen: dass es - jenseits von geschichtlichen Kämpfen und säkularen Entscheidungen - nur noch Kunst, Liebe und Spiel geben werde, kurz all das, "was den Menschen glücklich macht".71 Mahn ahnt schon, dass das als düstere Vision gemeint ist. Zurück zu Nietzsche: Sie brauchen Wärme und Nähe, ,,Krankwerden und Mißtrauen-haben gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Tor, der noch über Steine oder Menschen sto1pert!"72
Das kündigt ebenfalls Ewigkeiten der bewegt-unbeweglichen Langeweile an, die auch Nietzsche als notwendige Folge der Erfüllungsillusionen der ,,Allzuvielen" ansieht. Dagegen zu werfen wären: Arbeit oder das Spiel; aber es gäbe einen darüber hinaus gehenden "dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen - nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem GlÜck".?3 Darin zeigt 68 69 70 71
72 73
Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra [zuerst 1883ff./1886]. In: Werke 11, S. 275-561, hier: 477. Nietzsche, Menschliches (Anm. 65), S. 666 (439). Ebd., S. 710 (591). Vgl. Alexandre Kojeve, Introduction a1a 1ecture de Hege1 [zuerst 1947]. Paris: Gal1imard; vgl. dazu Kar1-Siegbert Rehberg, Ein postmodernes Ende der Geschichte? Anmerkungen zum Verhältnis zweier Diskurse. In: Michael Th. Greven, Peter Kühler und Manfred Schmitz (Hrsg.), Po1itikwissenschaft als Kritische Theorie. Festschrift für Kurt Lenk. Wiesbaden: Nomos 1994, S. 257-285, hier: 270f. Nietzsche, Zarathustra (Anm. 68) [Vorrede], S. 283fI. Nietzsche, Menschliches (Anm. 65), S. 716 (611).
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sich - verdreht - doch noch ein Glücksverlangen des verletzbareren Schopenhauer-Jüngers, der nicht so trocken, so bieder-extremistisch war wie jener. Ein Differenz-Glück (ohne Glückseligkeit) wird geträumt, auf das selbst nicht der "Übermensch" verzichten will Selbstverständlich eines, "das bisher der Mensch noch nicht kannte", das alle Erfahrungen in sich aufgenommen hat, einen "Horizont von Jahrtausenden vor sich und hinter sich"J4 Nietzsche kommt hier (nicht frei von Kitsch) ins Schwärmen für den ,,Adeligsten aller alten Edlen und zugleich [für den] Erstling eines neuen Adels". Die Phantasmen einer durch die SS zu schaffenden "neuen Aristokratie" des Nationalsozialismus sollten hinreichen, dies nicht für eine Glücksverheißung zu halten. Für Nietzsche aber entwickelte sich in der elitären Selbststeigerung gerade der Vollsinn des Glücks, "eines Gottes Glück, voller Macht und Liebe, voller Tränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne arnAbend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichtume wegschenkt und ins Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann arn reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert".7S
Der Übermensch, die höheren Menschen sollten überwinden "die kleinen Tugenden, die kleinen Klugheiten, die Sandkorn-Rücksichten, den Ameisen-Kribbelkram, das erbärmliche Behagen, das ,Glück der meisten' _F6
*** Eine Überhöhung des Glückes (welche das je erreichbare diskreditiert), die Behauptung seiner Unmöglichkeit (in dieser Welt), die Sorge um die Folgen (also die magische Angst vor dem Neid der Götter, vor der Auflösung und Verkehrung des Glückes, wenn es explizit hervortritt), gerade darum aber das tiefsitzende Gefühl der Unlegitimierbarkeit eines glücklichen Zustandes, also das Problem der Theodizee des Glückes und des Unglücks 77 - all das verweist auf unergründliche Spannungsbeziehungen zwischen der menschlichen Fragilität und dem Glück, zwischen Sehnsüchten und Erfüllungschancen. All das erzeugt (zumindest in der Reflexion) eine Angst vor dem Glück. 74 75 76 77
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft [zuerst 1882]. In: Werke 11, S. 7-274, hier: 197f. (337). Ebd., S. 198 (337). Nietzsche, Zarathustra (Anm. 68), S. 523 (3). Vgl. Max Weber, Einleitung in Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen [zuerst 1916]. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd. 1. 5., photomech. gedr. Aufl. Tübungen: Mohr 1963, S. 237-275, hier: 242: "Das Glück will ,legitim' sein"; vgl. zur (rationalen) Rechtfertigung des Leidens: ders., Zwischenbetachtung. In: ebd., S. 536-573, hier: 549, 567 und 57lff.
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Sieht man genauer hin, verweisen die existentiellen, die anthropologischen, die theologischen oder psychologischen Motive zumeist aufgesellschaftliche, geschichtliche und politische Dimensionen. "Glück" ist eben auch eine soziale Kategorie, etwa mit dem Pathos einer Auszeichnung "der Besten" verbunden. Daraus wird verstehbar, dass jedenfalls - in Umkehrung aufklärerischer Sozialutopien und stolzer bürgerlicher Selbstgewissheit - für die hier behandelten ,anthropologischen' Autoren die Angst vor dem Glück bestimmend war. Deshalb auch fürchteten sie die massengesellscha:ftliche Nivellierung. Es ist dies die moderne Variante der alten Paradoxie, dass Glück durch seine Erfüllung zerstört werde. Gerade so kann es aber erneut exklusiv gemacht werden, vorbehalten nun nicht mehr den oberen Seinslagen in einer vom Adel dominierten Ständegesellschaft, sondern den Träumenden, den Projektemachem, den Wissenden und (kritisch) Warnenden überantwortet - ein Privileg, das durch Bestreitung stabilisiert wird. Dann aber verliert der Begriff des Glückes - wie der Aristotelische eines "guten Lebens" - seine Maßstäblichkeit, durch welche erst eine Beschreibung und Bestreitung (!) des Unglückes möglich würde. Ein Satz wie der Hegels (welcher übrigens, anders als sein Interpret Kojeve78, kein zynisches Verhältnis zum Glück hatte), nach welchem der Zweck des Staates "das Glück seiner Bürger" seF9, würde dann sinnlos. Deshalb ist es weder naiv noch "unkritisch", auch auf die Evidenz der Möglichkeiten des Glückes zu setzen, denn mit Pascal zu sprechen: "Dass die Lust gut ist und das Leiden schlecht, dazu bedarfman keines Beweises. Das Herz fühlt es."80
Quelle: A. BeilebaumlK. Barheier (Hrsg.): Glücksvorstellungen. Ein Rückgriff in die Geschichte der Soziologie. Westdeutscher Verlag: Opladen 1997
78 79 80
Vgl. Anm. 71. Vgl. Georg Wilhehn Friedrich Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse [zuerst 1821]. in: ders., Werke. Bd. 7. Red. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, § 265, Zusatz (S. 412). Blaise Pascal, ,,Abhandlung über die Leidenschaften der Liebe", zit in: Scheler, Sinn (Anm. 14), S.50t:
Contemplativus in actione Glücksvorstellungen im Kulturvergleich 1 Thomas Bargatzky
In der mythischen Weltentstehungslehre der Navajo wird die heutige Welt als die fünfte beschrieben. Die Vorfahren der Navajo lebten nacheinander in den vier darunter liegenden Welten, bis sie schließlich durch ein Schilfrohr in die gegenwärtige Welt gelangten. Sie bot den Menschen seinerzeit aber noch keine Lebensmöglichkeiten, daher begannen Erster Mann und Erste Frau damit, sie für die Menschen einzurichten und bewohnbar zu machen. Diese göttlichen Wesen legten auch die Grenzen des Navajolandes durch die vier heiligen Berge fest: Im Norden, in Colorado, steht Mt. Hesperus; ihm ist die Farbe schwarz und der schwarze Bernstein (jet) zugeordnet. Im Osten, in New Mexico, markiert Blanca Peak die Grenze; seine Zeichen sind die Farbe weiß und die weiße Muschel. Die südliche Grenze des Navajolandes zeigt Mt. Taylor an, auch er ist liegt in New Mexico, die blaue Farbe und der Türkis sind seine Symbole. Der ,Grenzstein' im Westen wird durch die St. Francisco-Berge bei Flagstaffin Arizona markiert; die Farbe gelb und die Meerschnecke (abalone) sind ihnen zugewiesen. So besitzt das Universum eine Form; in seinem Idealzustand befinden sich all seine Teile und Wirkkräfte im Gleichgewicht, auch die einander entgegengerichteten. Die Navajo halten dafür das Wort hozho bereit. Hozho kann nur unzureichend mit einzelnen Begriffen aus europäischen Sprachen übersetzt werden, da es für eine komplexe Weltanschauung steht. Begriffe wie Ordnung, Harmonie, Schönheit, Gesundheit bieten sich näherungsweise an - aber auch: Glück! Hozho steht auch für den Wunsch aller Navajo, ein Der fiir Glücksempfindungen zuständige Teil des menschlichen Gehirns ist nicht verantwortlich fiir die zeit- und kulturspezifische Variabilität von: Glückszielen und Glücksmitteln. illustrative Beiträge in Alfred Bellebaum (Hg.) 1994 Vom Guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen. Viel Aufrnerksamkeit im Rahmen glücksorientierter Kulturvergleiche erregen Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern hinsichtlich der Frage, welche Völker glücklicher sind als andere. Vgl. u.a. Robert Inglebart: Kultureller Umbruch. Wertwandel in der westlichen Welt, Frankfurt 1989. Rout Veenhoven: Quality-of-life in Individualistic Societ. A comparison of 43 nations in the early 1990's, in Jong, Mart'-Jan dei Zijderveld Anton (ed): The Gift of Society, Nijkerk 1997 "Die Weltrangliste der sehr Glücklichen", in: Focus 9/1999. ,,Arm und glücklich", in: Fit for Fun, 1/1997: 161, sowie: Bild der Wissenschaft. 3/1999: 62.
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langes, erfülltes Leben zu verbringen und schließlich, wenn die Zeit gekommen ist, an Altersschwäche zu sterben. So zu leben heißt auch: ,In Schönheit wandeln'2. 1. Glück als transkulturelle Universalie Was Glück sei, ist seit eh und je und auch innerhalb der sich mit dem komplexen Thema Glück beschäftigenden Disziplinen kontrovers. Daher ist es angemessen, die kulturvergleichende Betrachtung nicht mit einer Begriffsbestimmung oder Definition zu eröffnen, sondern mit einer mythischen Erzählung, die uns zeigt, wie eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Glücks beschaffen sein sollte, denn der Mythos zeigt "den Zusammenhang der Dinge, indem er eine Geschichte erzählt"3. Wenn es auch keinen verbindlichen Glücksbegriff gibt, auf den sich die Wissenschaften einigen könnten, so haben wir doch alle eine Vorstellung davon, was es heißt, glücklich zu sein. Wir dürfen Glück als eine transkulturelle anthropologische Universalie voraussetzen, als Ausdruck der biotischen und psychischen Einheit der Menschen. Ähnlich verhält es sich mit der Musik: Musik ist ein Begriff, der sich kaum auf zufriedenstellende Weise definieren lässt. Sie ist nicht in der Partitur, wie Sergiu Celibidache zu sagen pflegte, sie ist auch nicht mit den Schallwellen identisch, ohne welche Klänge nicht Wirklichkeit werden können. Ohne Partitur, Instrumente, schwingende Luftsäulen aber keine Symphonie. Notentexte, Geigen, musizierende Menschen, Schallwellen usw. sind jedoch Bedingungen des musikalischen Sichereignens und diese Bedingungen sind der wissenschaftlichen Beschreibung sehr wohl zugänglich. Das Bedingende ist nicht das Bedingte - dieser Grundsatz gilt auch für das Reden und Schreiben über Glück. In diesem Sinne sollen daher im vorliegenden Kapitel, kulturvergleichend, Sachen und Begebenheiten genannt werden, die Glücklichsein möglich machen, an denen sich Glück zeigt, in denen es erfahren wird, ohne dass damit auch nur näherungsweise der Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden soll. Bei jedweder kulturvergleichenden Untersuchung besteht die Gefahr, dass wir Fremdes mit Eigenem verwechseln und aufgrund oberflächlicher Analogien das Fremde nach dem Vorbild eigener Grundschauungen und -begriffe missverstehen oder, in der Art einer ,imaginären Ethnographie', als Verkehrung der eigenen 2 3
Zur Kosmogonie der Navajo, siehe Gary Witherspoon: Language and Reality in Navajo World View. In: Alfonso Ortiz (Hg.), Handbook of North American Indians. Vol. 10: Southwest. Washington D.C.: Smithsonian Institution, 1983, S. 570-578. Carl. Friedrich .v .Weizsäcker: Kunst - Mythos - Wissenschaft. In: Dieter Borchmeyer (Hg.), Wege des Mythos in der Moderne. Richard Wagner ,Der Ring des Nibelungen'. - München: dtv, 1987, S. 231t:
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ebenso vertrauten wie entfremdeten - bürgerlichen Welt abbilden4 . Die These von der totalen Identität des Eigenen und Fremden führt zur Zerstörung des Fremden in seiner Eigenart; die Behauptung ihrer totalen Differenz dagegen zu einem extremen Relativismus. Wären die Denkmuster in unterschiedlichen Kulturen aber tatsächlich ganz und gar verschieden voneinander "so wäre nicht nur keine Übersetzung möglich, sondern selbst eine Artikulation dieser Differenz gäbe es nicht"5. Für den Kulturvergleich benötigen wir daher eine interkulturell orientierte hermeneutische Philosophie, die das Fremde als etwas Selbständiges in seiner Eigenart zu Worte kommen lässt, ohne sich gleichsam im Netz radikalrelativistischer Denkgebote und -verbote zu verfangen. Das Werk der Philosophen Georg Picht und Kurt Hübner darf unter diesem Aspekt als massstabsetzend für die Erschliessung des Kulturfrernden bezeichnet werden, denn beiden geht es um die Rehabilitierung des mythischen Denkens als rationalem, freilich nicht-cartesianischen Welterklärungs- und Sinnstiftungssystem6 • Insbesondere Hübners Darstellung von mythischem und wissenschaftlichem Denken als einander gleichwertige, aber inkommensurable Denkformen darf für sich beanspruchen, den Fremdheitswissenschaften, insbesondere der Ethnologie, das axiomatische Fundament jener Theorie der kulturellen Fremde gegeben zu haben, die sie bis dato mehr oder weniger implizit anwandte. Auf dem Werk Pichts und Hübners baut die Theorie der Urproduktiven Gesellschaft auf; mit ihrer Hilfe soll versucht werden, den gemeinsamen Kern der Glücksvorstellungen in unterschiedlichen Kulturen freizulegen.
2. Glücksvorstellungen: Eine Auswahl Glücksvorstellungen hängen immer mit den je kulturspezifischen Ansichten über ein gutes Leben zusammen, wobei bestimmte Themen stets wiederkehren. So zählen Gesundheit, viele Kinder und eine harmonische Ehe, in der sich die Partner nach dem Muster ihrer jeweiligen Rollen der Erziehung ihrer Kinder widmen, nicht nur für die Fischergesellschafft der Iatmul in Papua Neuguinea zu dem, was ein gutes und daher glückliches Leben ausmacht, und auch in tagelangen Festen für
4 5 6 7
Vgl. Fritz Kramer: Verkehrte Welten. Zur imaginären Ethnographie des 19, Jahrhunderts. Frankfurt am Main: Syndikat, 1977. RamAdhar Mall: Philosophie im Vergleich der Kulturen. Interkulturelle Philosophie - eine neue Orientierung. - Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995, S. 79. Vgl. Georg Picht 1986; 1989; Kurt Hübner 1985. Vgl. Thomas Bargatzky 1997; 2007.
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das gesamte Dorf erfahren nicht nur die Iatmul Glück8 • In allen Gesellschaften, in denen nicht das Individuum, sondern das Gemeinwesen im Mittelpunkt steht, ist die kollektive Feier ein Erfahrungsraum für das Glückserleben. So sehen es auch die Sinai-Beduinen; Bei ihnen wird das Wortfarah (Freude) auch zur Bezeichnung des etwa zehn Tage dauernden Festes aus Anlass einer Hochzeit oder Knabenbeschneidung verwendet9 • Das Wort für das gesellige Beisammensein in Samoa - fiafia - bedeutet auch: geniessen, mögen, fröhlich sein, glücklich sein. Die gläubigen Juden verstehen unter mizwah (eigentlich: Gebot) die Vereinigung und gegenseitige Durchdringung von geistiger und materieller Sphäre, die besonders in der Art und Weise zutage tritt, in der im Judentum Feste gefeiert werden. ,,Am wöchentlichen Schabbat, an den Feiertagen sowie an Familienfesten wird Essen zu einem wirklichen Gottesdienst. Die Festmahlzeit findet in einer Atmosphäre der ruhigen Freude statt. Im Lob und Dank für die göttliche Gnade ist man Gott näher gekommen und hat einen Moment des Glücks gefunden"lo. Glück hat durchaus auch eine materielle Seite. Nach den Auffassungen der Kasena im Süden von Burkina Faso kann ein Mann zufrieden sein, wenn er viele Söhne hat und entsprechend grosse Felder besitzt, auf denen sie für ihn arbeiten. Die Güte und der Umfang der Ernte und die verfügbaren Arbeitskräfte sind Randbedingungen der Glückserfahrung und sichtbare Gradmesser des Wohlstands eines Mannes sind die grossen Lehmspeicher in der Mitte des Gehöfts. Die Verbindung von Feldbau und Glücklichsein ist daher auch sprichwörtlich: ,Man liebt dieses Jahr wegen der kommenden Hirse-Aussaat', sagen die Kasena 11 • Was für ein Pflanzervolk wie die Kasena die Hirse, sind für das Beduinenvolk der Tuareg die Nutztiere. Wenn nach Dürrejahren endlich wieder Regen fällt, die Weiden grünen, die Ziegen wieder Milch geben und sich selber Wasser und Futter suchen, so dass die Hirtin unter einem Baum im Schatten liegen und Lederhalsbänder herstellen kann - das ist Glück. Die Polarität zwischen Mangel und Fülle, Entbehrung und Genuss, Ruhe und Anstrengung, Regen und Dürre durchzieht alle Lebensbereiche der Tuareg; in diesem Spannungsverhältnis gewinnen ihre Glücksvorstellungen Gestalt12 • Ähnlich sehen es die !Kung-Buschleute, ein Jägervolk in der Kalahari-Wüste von Botswana: Wenn nach langer Jagd ein fettes Tier erlegt wird, dann freut man sich auf eine gute Mahlzeit: "Wir lieben Fleisch. Und mehr 8
9 10 11 12
Vgl. Florence Weiss: Momente des Glücks bei den Iatmul in Papua Neuguinea. In: Frank Beat Keller 1987, S. 51. Vgl. Viktor Kocher: Sozial strukturierte Glücksmomente bei den Sinai-Beduinen. In: Keller 1987, S. 45. Michael Bollag: Momente des Glücks fiir den gläubigen Juden. In: Keller 1987, S. 56. Hans Peter Hahn, Brief vom 11. 2. 2002. Vgl. Gerd Spittler: Momente des Glücks bei den Tuareg: Der erste Regen. In: Keller 1987, S. 38f.
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noch, wir mögen das Fett. Wenn wir jagen, dann suchen wir immer nach den fetten Tieren, bei denen die weissen Fettschichten herunterhängen - Fett, das im Kochtopfzu klarem, dickflüssigem Öl wird, das die Kehle hinunterläuft, deinen Magen füllt, so daß du einen dröhnenden Durchfall bekommst"13. Dem PBanzervolk der Hopi im semiariden Norden Arizonas dürften die Glücksvorstellungen der Kasena oder der Tuareg ohne weiteres einleuchten, denn für sie ist das Leben gut und schön - auch für die Hopi sind das Gute und das Schöne kaum voneinander zu trennen - wenn der Regen zur richtigen Zeit und in den richtigen Mengen fällt, wenn es reichlich Mais gibt, wenn die Produkte der Handwerker beiderlei Geschlechts gelingen und ihre Schaffenskraft nicht nachlässt, wenn Tänze und Zeremonien durchgeführt werden!4. In seinem Buch ,Hopi Ethics' zitiert Richard Brandt die Aussage eines männlichen Informanten, die das Wesen der Glücksvorstellungen der Hopi genau auf den Punkt bringt: ,,Ein gutes Leben, Regen, in der Fülle leben, ohne Krankheit, lange leben bis man ohne Schmerzen fiir den Schlafbereit ist, mehr Vieh besitzen, sich mit seiner Frau vertragen, Geld zur Verfügung haben, im Winter Heizmaterial haben; Tänze geben, damit wir uns freuen können, ein guter Weber sein und Decken und Kleider machen können, ein schönes Maisfeld haben oder eine Bohnenpflanzung, tanzen, in Frieden leben"!'.
Sorgenfrei zu sein ist auch nach der Meinung der Hopi eine Voraussetzung für das Glück. Sorgen machen krank, ohne Glück kann der Mensch nicht gesund sein. Aus diesem Grunde gehört es auch zum Bestreben der rituellen Clowns - wichtigen Amtsträgem des Hopi-Kultus - die Leute bei den sogenannten Katsina-Maskentänzen zum Lachen zu bringen, damit sie ihre Sorgen vergessen. "Das Gelächter der versammelten Gemeinde ist also auch ein Beitrag zur allgemeinen Harmonie, die wiederum Voraussetzung für den Erfolg der Zeremonie ist: Regen und Wachstum"!6. Gesundheit, Harmonie, Wachstum - diese Worte sind wie Wegweiser zu einem tieferen Verständnis von Glück als einer Befindlichkeit, die mehr ist als das momentane Entzücken, das flüchtige, angenehme Gefühl; mehr als das Simple, Vergängliche, Wegschwimmende, für das im Sanskrit das Wort sukha steht!? Mit aller gebotenen Vorsicht können wir behaupten, dass auch die Glücksvorstellungen 13 14 15 16 17
Richard B. Lee: Eating Christmas in the Kalahari. In: Elvio Angeloni (Hg.), Anthropology 82/ 83 (Annual Editions). - Guilford, Ct.: The Dushkin Publishing Group, 1982, S. 13. (Erstmals in Natural History, December 1969. - übersetzung von mir, T.B.). Hans-Ulrich Sanner, Briefvom 18. 2. 2002 Richard B. Brandt: Hopi Ethics. A Theoretical Analysis. Chicago: Univ. of Chicago Press 1954, S. 39f. (Meine übers., T.B.). H.-U. Sanner, wieAnm. 13. Vgl. B. N. Goswamy: Sukha und Ananda - Einige Gedanken zum Glück in Indien. In: Keller 1987, S. 59f.
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der Hopi sich eher auf etwas ausrichten, das wichtiger und dauerhafter und daher, in einem tieferen Sinne, auch viel wirklicher ist - kurz, aufjenes ,Entzücken höherer Art', für das im Sanskrit das Wort ananda steht. Glück ist in fundamentalem Sinne mit der Vorstellung von Kultur verbunden und kulturelles Handeln ist stets sinnvolles, aufDauer gerichtetes Handeln18 . Das lateinische Wort cultura verweist ja auf das erhaltende Tätigsein, das sich nicht nur im Ackerbau entfaltet, sondern auch in enger Beziehung zum Kultus als Garant für die Beständigkeit der letztlich durch göttliche Ursprungshandlungen, archai, gestifteten Weltordnung steht. Solch einen Begriff von Glück umschreibt mit schönen Worten auch Ron LaFrance, ein Mohawk-Indianer und seinerzeit u.a. auch Leiter der Akwesasne Freedom School und Mitglied des Rates der ,Sechs Nationen' - so die formelle Bezeichnung der Irokesen als politisches Gemeinwesen. Die Akwesasne Freedom School war gegründet worden, um die Mohawk-Kultur und die kulturellen Verhaltensweisen der Mohawk zu fördern und damit Mohawk-Bürger hervorzubringen, die intellektuell mit der westlichen Welt in den Wettbewerb treten können. LaFrance beschreibt sein Glücksgefühl angesichts eines erfolgreichen Schuljahres und einer geglückten Abschlusszeremonie, die ihm die Gewissheit gaben, dass Sprache und Kultur der Mohawk weiterleben würden, als ,,Beispiele eines glücklichen Gefühls nicht nur für den Augenblick, sondern ein Zustand tiefer geistiger Zufriedenheit inmitten einer kulturellen Perspektive, mit psychologischem und sprachlichem AnteiL Ich wusste: Die Sprache wird weiterleben, die Dankbarkeit und die Richtlinien, die der Schöpfer uns gegeben hatte, werden weitergegeben werden, alle unsere Bekannten würden von dem hören, was wir erreicht hatten und froh darüber sein"19. Diese Überhöhung der eigenen Persönlichkeit durch die Kontinuität der Kultur ist ein Modus der Verschmelzung des eigenen Selbst mit dem ,Anderen', die das spirituelle Denken Indiens als Zustand des höchsten Glücks beim Einswerden mit dem höchsten Geist als dem Urgrund aller Dinge versteht2°. Die hier aufgeführten Beispiele für Glückserfahrungen aus Kulturen verschiedener Zeiten und Länder verweisen gleichwohl auf ein gemeinsames Fundament. Es gibt etwas, das allen Vorstellungen dieser Art gemeinsam ist und mit Hilfe der Theorie der Urproduktiven Gesellschaft soll es nun freigelegt werden. Ein Vergleich dieser Art kann nur deduktiv durchgeführt werden, soll die Untersuchung nicht nur aus einer ermüdenden Aneinanderreihung von Beispielen bestehen. Die 18 19 20
Vgl. Richard Meister: Geistige Objektivierung und Resubjektivierung. Wiener Zeitschrift für Philosophie, Psychologie und Pädagogik: 1 (1947), S. 61, 63. Ron LaFrance: Glücksmomente im indianischen Leben: Die Schöpfung wird verehrt. In: Keller 1987, S. 55. Vgl. Goswamy S. 59 (wieAnm. 16).
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folgenden Überlegungen sind also notwendig, sie sind kein Selbstzweck, sie sollen vielmehr dazu dienen, plausibel zu machen, warum die Glücksvorstellungen in unterschiedlichsten Kulturen einander oft so ähnlich sind.
3. ,In Schönheit wandeln': Glück durch Mitarbeit am ,Welthaus' Religion, Kultus, Ethik und Magie und Alltag sind in vormodemen Gesellschaften auf eine Art und Weise miteinander verwoben, in der das Besondere einer menschlichen Symbioseform zutage tritt, für deren angemessene Beschreibung die vergleichenden Fremdkulturwissenschaften bis heute nach geeigneten Begriffen suchen. Um diesem Handlungs- und Überzeugungskomplex einen Namen zu geben, soll fortan von der Urproduktiven Gesellschaft die Rede sein. Der Begriff Urproduktive Gesellschaft ist ein Strukturbegriff, der die allgemeinen Grundlagenjener menschlichen Symbioseformen darstellen soll, in denen sich Weltanschauungen herausbildeten und noch immer herausbilden, die man nach ihrer ideativen Seite hin als mythisch bezeichnen kann21 • Die Grundlagen der Urproduktiven Gesellschaft haben sich, menschheitsgeschichtlich gesehen, vor der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft und ausserhalb des Nexus der Geldwirtschaft entwickelt. Die Frage, in welche zeitlichen Tiefen die Urproduktive Gesellschaft hinab reicht, kann wegen der abgerissenen Verbindung zu den prähistorischen Kulturen nur spekulativ beantwortet werden. Aufgrund gewisser Parallelen des ethnographischen Befundes mit den Ergebnissen der prähistorischen Forschung möchte ich aber die These wagen, dass die Urproduktive Gesellschaft dem biotisch modemen Menschen seit dem Beginn des Jungpaläolithikums vor ca. 40.000 Jahren mit Bestimmtheit und dem Neanderthaler zumindest mit Einschränkungen zugeordnet werden kann. Der in der Urproduktiven Gesellschaft erworbene kulturelle Habitus ist ein flexibles, anpassungsfähiges und schöpferisches ,Instrument' menschlicher Einhausung in natürliche und historische Umwelten unterschiedlichster Ausgestaltung, daher ist er nicht alleine auf die rezenten sogenannten ,Naturvölker' oder die prähistorischen Kulturen beschränkt. Er blieb auch ausserhalb dieses Ursprungs- und Entfaltungsfeldes bis in die antiken ,Hochkulturen' hinein erhalten; er lebt im sakramentalen Denken der grossen Weltreligionen fort und bestimmt bis heute auch die Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit. Aufder anderen Seite finden wir seinen Niederschlag auch in jener abendländischen geistesgeschichtlichen Tradition, für die Denker wie Goethe, Schelling, Walter Friedrich 000 und Georg Picht ste21
Vgl. Bargatzky 1997; 2007.
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hen, die menschliches Tun und Denken weniger als Reflexion über und Handeln gegenüber der Natur verstehen, sondern eher als Schaffen in der Natur. - Ein kurzer Abriss der Grundlagen des wissenschaftlichen Weltbildes der Modeme soll nun entwickelt werden und fortan als Kontrastfolie dienen, gegen die sich die Umrisse mythischer Weltauffassung umso deutlicher abheben können. Zu den Pfeilern, auf denen das Gebäude des modemen Denkens ruht - insbesondere in seiner durch die Naturwissenschaften beeinflussten Fonn - zählt die Idee der absoluten erkenntnistheoretischen Vorrangstellung des Subjekts. In Rene Descartes' Lehre von der Materie als ausgedehntem Sein (res extensa) und dem ausdehnungslosen Bewusstsein (res cogitans) erhält diese Idee ihren philosophischen Begründungsrahmen. Hier begegnen wir einerseits einer entgeisteten materiellen Natur, die nur noch quantitativ, als Ausgedehntes, charakterisiert wird und aus sich selbst heraus keine Rechte, keine Bedeutung besitzt. Andererseits tritt uns hier das denkende und erkennende Subjekt gegenüber, das menschliche Bewusstsein als Träger all jener geistigen Qualitäten, die einstmals im Rahmen griechischer physis-Vorstellungen auch der Welt jenseits der Grenzen des Subjekts zugesprochen wurden. Die ,Pfeiler' des modemen, wissenschaftlich geprägten Weltbildes - Descartes' Dualismus, Pannenides' Idee des Seins als unbewegte, zeitlose Identität und Aristoteies' Lehre von der Notwendigkeit der Logik - für Kant sind es absolute und zeitlose Prinzipien; Picht versteht sie aber vor allem als Resultat der besonderen Entwicklung der abendländischen Gesellschaft und Kultur22 • Sind aber diese drei grundlegenden Ideen kontingent, wie Picht glaubt nachweisen zu können, dann liegt auch der letztlich axiomatische Charakter der Naturwissenschaften offen. Daher, so folgert Picht, könne die Naturwissenschaft nicht mehr das Primat der rationalen Weltdeutung vor anderen Deutungsweisen für sich beanspruchen. Vor dem Hintergrund dieser Revision des wissenschaftlichen Weltbildes muss auch das mythische Denken, als ideative Grundlage der Urproduktiven Gesellschaft und zugleich als Grundlage der transkulturellen Universalität von Glücksvorstellungen, neu gesehen und bewertet werden. Die Gegenüberstellung von ,rationaler' Naturwissenschaft und ,irrationalem' Mythos besitzt beinahe den Status einer Glaubenswahrheit in der nachaufklänmgszeitlichen Moderne. Es ist ein grosses Verdienst des Philosophen Kurt Hübner, dieses Vorurteil mit den denkerischen Mitteln der Wissenschaftstheorie gründlich widerlegt zu haben. Hübner hat für den Mythos an sich Grundlegendes herausgearbeitet, daher ist seine am griechischen Mythos exemplifizierte Mythos-
22
Zu einem ähnlichen Befund, von anderen (marxistischen) Voraussetzungen ausgehend, gelangt auch Alfred Sohn-Rethel: Das Geld, die bare Münze des Apriori. Berlin: Wagenbach.
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theorie auch für das Verstehen frernder Kulturen ausserhalb des abendländischen Kulturraumes bahnbrechend. Der Mythos legt die Welt zwar auf eine Weise aus, die sich völlig von einer wissenschaftlichen Erklärung unterscheidet, er ist deswegen jedoch keineswegs irrational. Rationalität ist ja ein formales Kriterium; es bezieht sich auf die Folgerichtigkeit einer Begründung und sofern er die Wirklichkeit intersubjektiv zufriedenstellend erklären kann, ist auch der Mythos rational. In dieser Hinsicht ist der Mythos also ein der Wissenschaft gleichwertiges Deutungssystem. Die Ontologie des Mythos beruht aber auf Prämissen, die sich inhaltlich von jenen der cartesianischen Ontologie in jeder Hinsicht unterscheiden. So trennt der Mythos beispielsweise nicht Subjekt und Objekt, Geist und Materie, Teil und Ganzes, innen und aussen voneinander, wie es im wissenschaftlich geprägten Weltbild der Moderne der Fall ist; einem Weltbild, dessen axiomatische Grundlage ja auch durch die cartesianische Unterscheidung von res cogitans und res extensa geschaffen wird. Der Mythos handelt von der fortdauernden Wirksamkeit der Archäi, der göttlichen Ursprungstaten in Natur und Menschenwelt. Er kennt daher keine Natur im modemen Sinne als ein aus dem Verhaltens- und Sinnzusammenhang des Lebensvollzugs im Gemeinwesen als Spiegel makrokosmischer ,Baugesetze' herauslösbares, separates Seiendes. Jeder ,Gegenstand' ist folglich, mythisch gesehen, potentiell auch etwas Beseeltes und darüber hinaus der sichtbare Teil der Sphären numinoser Wesen, die auch den menschlichen Lebensbereich umfassen. Die für den Menschen relevante Umwelt hat also personale Qualität. Mit Personen muss man aber kommunizieren, man muss sich mit ihnen handelnd ins Benehmen setzen. Im Umgang mit derlei übermenschlich-übermächtigen Personen ist aber stets Vorsicht geboten - pfleglich sorgsames Handeln hat hier zu walten, Opfer müssen vollzogen, Feste müssen ausgerichtet, Tänze und Schauspiele gegeben werden mit anderen Worten; Arbeit muss verrichtet werden, insbesondere kultische Arbeit! Was nämlich in den Kategorien der Volkswirtschaftslehre als ,materieller Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur' erscheint, hat ja vor dem Hintergrund der mythischen Ontologie interpersonalen Charakter, denn der ,Stoffwechselprozess' bezieht sich ja auf ein Beziehungsgeflecht zwischen Menschen und übermenschlichen Mächten gemäss der do-ut-des-Regel: Indem der Mensch wirkt, schafft er Raum-Zeit-Stellen für das weltemeuernde Handeln der Gottheiten, holt er deren Archäi gleichsam in die Gegenwart herein. Dadurch reproduziert sich das Gemeinwesen stets wieder von neuem als mit sich identische Einheit. Diese Art der Produktion sei Urproduktion genannt: die gesellschaftskonstituierende Vergegenwärtigung des Ursprungs als mythisch begründete ,Verfassung' und realpräsentische Wirklichkeit des Gemeinwesens.
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Die der Urproduktiven Gesellschaft zugeordnete religiöse Verhaltenskultur ist die weltimmanente Erfahrungs- und Observanzreligion. Nicht auf den ,wahren Glauben' kommt es dabei an, sondern auf das richtige Handeln, besonders im kultischen Rahmen, aber auch im Alltag. Dass es übermenschliche Mächte gibt, ist selbstverständlich; ,Glaubenszweifel' entzünden sich nicht an der Frage der Existenz der Götter, sondern allenfalls an ihrer Macht und ihrem Vermögen, dem Menschen beizustehen. Thema dieser Art von Religion ist daher die sorgfältige Beachtung der überkommenen Regeln und Bräuche im Umgang mit den Gottheiten. Der Mensch ist der Mitarbeiter der Gottheiten am ,Welthaus'23, er ist dazu aufgerufen, durch sein Handeln die Weltordnung, der ja auch die Gottheiten selber unterworfen sind, daseinserneuemd und heilend in Gegenwart zu setzen. Dadurch trägt er seinen Teil zur Bewahrung der in den Archai gestifteten Harmonie des Kosmos bei. Gelingt ihm dies, darf er sich mit Recht glücklich nennen! Er ,wandelt in Schönheit', wie die Navajo sagen, hat Anteil an hozho. Glück entfaltet sich in der heilsfördernden Begegnung mit dem Numinosen, die es dem Menschen möglich macht, gemeinsam mit den Gottheiten auf Dauer zu stellen, was sein Leben lebenswert macht.
4. Gelungene Beziehungen Die Fruchtbarkeit von Pflanze, Tier und Mensch, die reiche Ernte, die gute Ehe, Kindersegen, das gelungene Handwerksprodukt, das Fest, von dem kein Gast hungrig fortgehen muss, ein langes Leben in Tätigkeit und bei guter Gesundheit verbracht - in all dem spiegelt sich der Zusammenhang der Dinge, wie er von den Gottheiten in ihren Ursprunstaten gestiftet und dem Menschen als Erbe und Auftrag übergeben wurde. Er ist der Grund jenes Glücks, das mehr ist als ein flüchtiges, angenehmes Gefühl, sondern eine Grundstimmung, die uns auch durch die Widrigkeiten des Alltags trägt. Tätig, auf die richtige Weise, am Bau des ,Welthauses' mitwirken und dadurch seiner selbst gewiss sein und auch des Grundes, der einen trägt - diese Erfahrung von Glück ist dem Hopi ebenso zugänglich wie dem Hindu oder dem Christen. So betont die ,Bhagavad Gita' den zentralen Wert der Taten, die Erfüllung der Bestimmung an jenem Platz, an den man gestellt ist - die Tat muss getan werden, dann ist man in Gott. Die Formel der Jesuiten dafür lautet: contemplativus in actione - "in der Arbeit die beglückende Verbundenheit
23
V gl. Werner Müller: Glauben und Denken der Sioux. Zur Gestalt archaischer Weltbilder. Berlin: Dietrich Reimer, 1970.
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mit Gott erfahren; aus dieser Verbundenheit heraus sich in der Welt engagieren"24. Glück in diesem Sinne ist ein anderes Wort für inter-esse, wörtlich ,dabei sein', sich einmischen. "Glück verpflichtet"25. So sahen es auch die Ägypter: Glück - ein Wort, für das übrigens ein ägyptisches Lexem fehlt - gibt es nicht in der Einsamkeit, es wird jedoch in den gelungenen Beziehungen erfahrbar, im Angenommensein durch andere, durch den König, durch Gott. Aus dieser Verbindung von Sinn und Zusammenhang folgt für das ägyptische Denken immer auch die Vorstellung der Zuständigkeit und Verantwortung für das Ganze26 • Solches Glück ist wohl nur auf der Grundlage einer mythischen Weltsicht erfahrbar, die auch in der Modeme noch wirksam ist, so dass man sagen kann: Wenn wir glücklich sind, sind wir mythisch. Göttliches; Natürliches und Menschliches besitzenja, von der Warte des Mythos aus gesehen, ein gemeinsames Substrat, das Numinose ist daher der Welt immanent. Makrokosmos, gesellschaftlich-kultureller Mesokosmos und der Mikrokosmos des Individuums sind abbildlich aufeinander bezogen; die Grenze zwischen gesellschaftlicher und übergesellschaftlicher Ebene kann daher nicht scharf gezogen werden, folglich sind gesellschaftlicher und übergesellschaftlicher Sinnbedarfnicht voneinander zu trennen27 . Glückliches Leben, als tätiges Leben, ist sinnerfülltes Leben aus jener Fülle heraus, die viele Namen hat, auch den Namen Gottes. Gott mag mas al/a sein - wörtlich: ,weiter weg', ,jenseits' - und durch ,Blumen und Gesang' (flor y canto, bzw. aztekisch in xochitl in cuicatf) zu den Menschen sprechen - für die Azteken des frühen 16. Jahrhunderts, die ihre überlieferten religiösen Vorstellungen mit dem spanischen Katholizismus in Übereinstimmung zu bringen trachteten, war dies die Metapher für die ,Poesie, die aus dem Himmel kommt', die Offenbarung Gottes in der Schönheit der Natur. Glück erfährt, wer den göttlichen ,Vrhauch' verspürt, der über die Menschen ,Blumen und Gesang' niederkommen lässt28 . Gott kann aber auch mitten unter uns sein: Wenn Er dabei ist, kann das Fest gelingen und Wasser wird zu Wein. Vielleicht können wir nicht mehr richtig feiern, weil wir Ihn ausgeladen haben? Wenn aber die Fülle an Seiendem, etwa an Konsumdingen, völlig in der Leere des Seins hängt, wie Reinhart Maurer im Anschluss an Heidegger an ande24 25 26 27 28
Niklaus Brantschen SJ: Glück, wie ich es erfahre. (Momente des Glücks im Leben eines Jesuiten). In: Keller 1987, S. 58. Ebd. Vgl. JanAssmann: Glück und Weisheit im Alten Ägypten. In: Alfred Bellebaum (Hg.), 1994, S. 17-54. Vgl. Thomas Bargatzky: Menschliche Natur und Kulturkritik. Anmerkungen zur Universalität der Religion. Universitas 55 (März 2000), S. 266-274. Richard Nebel, Brief vom 15. 3. 2002. Vgl. Ders.: Altmexikanische Religion und christliche Heilsbotschaft. Mexiko zwischen Quetzalc6atl und Christus. Immensee: Neue Zeitschrift für Missionswissenschaft, 1983, S. 91-107.
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rer Stelle in seiner Zustandsbeschreibung der Gegenwart so treffend gesagt hat29 , dann misslingt das Fest, man geht auch mit vollem Bauch ungesättigt nach Hause und ist auf unbestimmte Weise unglücklich.
Literatur Bargatzky, Thomas. 1997. Ethnologie. Eine Einfiihrung in die Wissenschaft von den urproduktiven Gesellschaften. Hamburg: Helmut Buske. Bargatzky, Thomas. 2007. Mythos, Weg und Welthaus. Erfahrungsreligion als Kultus und Alltag. Münster: Lit. BelJebaum, Alfred (Hg,) 1994. Vom guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen. Berlin: Akademie Verlag. Hübner, Kurt 1985. Die Wahrheit des Mythos. München: C.H. Beck. Keller, Frank Beat (Hg.) 1987. Momente des Glücks. (Katalog zur Sonderausstellung des Museums Rietberg). Zürich: Museum Rietberg. Picht, Georg. 1986. Kunst und Mythos. Stuttgart: Klett-Cotta. Picht, Georg. 1989. Der Begriff der Natur und seine Geschichte. Stuttgart: Klett-Cotta.
Mein Dank gilt den Kollegen Prof. Dr. Hans Peter Hahn (Frankfurt am Main), Dr. Hans UIrich Sanner (Berlin) und Prof. Dr. Richard Nebel (Würzburg/Bayreuth), die mir freundlicherweise in Briefform ihre Kenntnisse von den Glücksvorstellungen in den von ihnen erforschten Gesellschaften mitteilten.
Quelle: A. Barheier (Hrsg.): Glücksvorstellungen. Eine Bestandsaufnahme. Universitätsverlag: Konstanz 2002
29
Vgl. Reinhart Maurer: Wie wirklich ist die ökologische Krise? In: Armin Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu. Anmerkungen zur Lage. München 1986: R. 0ldenbourg, 1986, S. 127.
Haltungen und Maßstäbe
Der ideale Körperl Gesundheit, Jugendlichkeit, Schlankheit und kulturelle Werte Alfred Bellebaum
Introitus Aus der antiken Mythologie erfährt man: "Die Kugel ist der gleichförmigste aller festen Körper, denn alle Punkte ihrer Oberfläche sind gleich weit von ihrer Mitte entfernt. Deshalb, und wegen der Fähigkeit, sich um die eigene Achse zu drehen, und ohne sich von der Stelle zu bewegen und ohne ihre Grenzen zu überschreiten, billigte Platon (in: Symposion/Gastmahl und Nomoi/Gesetze) den Entschluß des Demiurgen (= Welterschaffer), der der Welt die Kugelform gab. Er glaubte, die Welt sei ein lebendiges Wesen, und auch die Planeten und Sterne seien lebendige Wesen .... Mehr als fünfhundert Jaltre später lehrte Origines (ein bedeutender lateinischer Kirchvater in Alexandria), daß die Seligen als Kugeln auferstehen und rollend in die Ewigkeit eingehen würden". Im Internet findet man unter dem Stichwort ,,Kugel" den Hinweis: "Am Tage des Jüngsten Gerichtes werden sich die Tore des Himmels für die Seligen öffnen. Diese werden hineinrollen, da sie in der vollkommensten aller Formen auferstanden sein werden: der Kugelform. So hat es Origines offenbart." Auf die Frage an einen Bekannten, wie es denn um Kollegen X bestellt sei, bekam er zur Antwort, daß dieser sich umfangmäßig der antiken Vorstellung von der idealen Form nähere - nämlich der Kugel. Dies war natürlich eine Anspielung auf dick, vornehmer ausgedrückt: barock. Vorsorglich sei angemerkt, daß sich nicht alle Menschen selbst unter den Zwang setzen, gertenschlank zu sein; dazu paßt der Titel eines Buches: ,,Diätlos glücklich". Überdies können sehr viele Menschen genetisch bedingt gar nicht superschlank sein. Trotzdem sind Schlankheit und Üppigkeit vor allem in der westlichen Welt zu lebenswichtigen Themen geworden.
Viele Anregungen und kritische Hinweise von den Herren Oberstudienrat Guide Kohlbecherl Neuwied sowie Studienrat Klaus BarheiertTraben-Trarbach und Universität Koblenz.
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A
1. Gesundheit als gesellschaftlicher Hyperkonsens Ansichten über Körperurnfang und Körpergewicht haben viel mit dem Thema Gesundheit zu tun. Gesundheit istfür die allermeisten Menschen das Wichtigste im Leben. Ein Produzent von Rote-Beete-Saft hat früher einmal geworben: "Gesundheit ist das höchste Gut des Menschen". Kein Wunder, daß sich im Umkreis des Themas Gesundheit vieles tut: Gesundheitsliteratur, Gesundheitsberatung, Gesundheitsrörderung, Gesundheitsberufe, Gesundheitsbehörden, Gesundheitszentren, Gesundheitserziehung, Gesundheitswissenschaften, Gesundheitsministerien, Gesundheitskassen, Gesundheitsberichte, Weltgesundheitstage ... Auf der Angebotsseite tummeln sich neben approbierten Ärzten allerlei Gutmenschen, wie beispielsweise Lebensberater, Pharmazeuten, Homöopathen, Physiotherapeuten, Psychotherapeuten, Optifast-Spezialisten, Emährungsberater ...Bei den angeblich ca. 30.000 Krankheitsbildern wird es nicht bleiben, und die weitere technische Entwicklung eröffnet noch zahlreiche diagnostische und therapeutische Möglichkeiten. Das vom Weltgesundheitstag 1981 propagierte Ziel "Gesundheit :für alle bis zum Jahre 2000" bleibt illusorisch. Aufder Nachfrageseite gibt es u.a. Diätkuren, vegetarische Exzesse, Teilnahme an Ernährungskursen, Trimm-Dich, Schwimmen, Wandern, Joggen, Krafttraining, Quälerei auf Heimtrainern, Behandlungen mit KristallkugelnlEdelsteinen/ Beeinflussung der Aura, Autogenes Training, buddhistische Lektionen in WanneEickel, Verzehr von Kürbiskernen, Gespräche über Blutwerte, Ayurveda, Yoga, Thai-Chi, Aikido .... Die normativen Vorgaben - auch Medizin ist ja eine eminent wichtige Kontrollinstanz und ein Herrschaftsinstrument - sind eindeutig: selbstverantwortliche Lebensweise, auf Schlankheit achten, dem Lebensstil fast verhungerter Models nacheifern, Körperpflege, gut riechen, ausreichend bewegen ... Wer nicht mithalten will oder kann, der muß mit Beschimpfungen rechnen: adipös, dick, verfressen, versoffen, disziplinlos, Genußmensch, Egoist, Diätsünder, Belastung der Solidargemeinschaft ... Wer heutzutage noch raucht, ist psychiatrieverdächtig. Es gilt allenthalben der Zwang, "gut drauf' zu sein. Trotzdem vermehren sich die wahrlich dicken Menschen in besorgniserregender Weise gerade unter Kindern und Jugendlichen. Inzwischen gibt es schon spezielle Organisationen wie: "Europäisches Aktionsbündnis gegen Fettleibigkeit", "Internationale Taskforce gegen Adipositas" sowie "Verein gegen das Übergewicht", genauer: "Plattform Ernährung und
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Bewegung" - initiiert vom Verbraucherschutzministerium. Der Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen Dicksein und Armut verdient, ebenso ernst genommen zu werden wie die Bedeutung von Bildung für das Emährungsverhalten. Nebenbei: In der uralten Sieben-Lasterlehre: Zorn, Hochmut, Geiz, sexuelle Zügellosigkeit, Trägheit, Neid kommt auch luxuria vor: Unmäßigkeit beim Essen und Trinken, oft Völlerei genannt. Die traditionsreichen moraltheologischen Verurteilungen dieser Formen des Fehlverhaltens als Todsünden verraten viel Menschenkenntnis und medizinisches Wissen (was übrigens für die Moraltheologie früherer Jahrhunderte generell zutriffi). Luxuria bleibt nämlich meistens nicht folgenlos. In diesem Zusammenhang von Sünde zu sprechen gilt bislang noch nicht als Sünde. 2
2. Exkurs: Rückgriffe in die Geschichte Hochschätzung von Gesundheit - die unterschiedlichen Gesundheitsbegriffe in den Gesundheitswissenschaften können hier außer Acht bleiben - ist natürlich keine neuartige Erscheinung. Zwei Beispiele:
a) Stoische Gelassenheit In der antiken Philosophie der Stoa galt Apatheia (Leidenschaftslosigkeit) - nicht zu verwechseln mit der Apathie von Schülern - als ein zentraler und viel Lebens2
Hyperkonsens, vgl. Robertz-Grossman, Bezug A. Gehlens Institutionentheorie. Zentral ist das Anliegen, den weitverbreiteten Gesundheitsdiskurs "von außen zu betrachten und selbst
zum Gegenstand soziologischer Erkenntnis zu machen" (Prospekt). Höchstes Gut, Geue:5. Kontrollinstanz, Lenzen:24ff. - Dicke Menschen, Thimm, Meier-Gräve. Fortlaufend Berichte einschließlich Fernsehen, z.B. "Was uns auf den Nägeln brennt - der tödliche Zucker" und: ,,Die Wohlstands-Epidemie. Auf der Suche nach den Ursachen der Zuckerkrankheit" (Arte 15.3.2005). Organisationen, Müller-Jung. - In diesem Forschungsbericht auch beachtenswerte Ausführungen über die schon absehbaren Folgen der zunehmenden Fettleibigkeit in Form kostenaufwendiger und lebensverkürzender Erkrankungen. "Tatsächlich ist der demographische Effekt der Fettleibigkeit damit schon heute größer als der sämtlicher Unfalltoter, Suicide und Morde zusammen". Bildung, Meier-Gräve. Vgl. auch den Hinweis: ,,Die unteren Schichten in den USA essen in der Regel Fast Food und haben eine andere Lebenshaltung als die oberen Schichten, die sich gesund ernähren und makrobiotisch essen. Für sie hat das nicht nur etwas mit der Gesunderhaltung des Körpers zu tun, sondern auch mit der Inszenierung ihres sozialen Habitus über ihren Körper. Jemand, der dick ist, gilt in unserer Gesellschaft nicht als besonders leistungsfiihig und durchsetzungskräftig. Die Inszenierung des Körpers ist auch immer eine Inszenierung von sozialer Abgrenzung. Sie verspricht Nähe zu der eigenen sozialen Klasse und verspricht Abgrenzung von Menschen, von denen man sich unterscheiden möchte. Bei dem Körper verschmilzt das in dem Bild des anderen. Der andere sieht die soziale Positionierung." (G. Klein: 6f.) In ähnliche Richtung zielt der Beitrag von Wieland: "Je wohlhabender und gebildeter, so der Befund, desto schlanker." Todsünden, Bellebaum: Langeweile. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Gefahren der Völlerei erörtert Stadler. Dollase erwähnt einen christlichen Theologen, der den "Genuß um des Genusses willen" verwirft.
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qualität ermöglichender Wert. Wer den Kampf gegen die Hauptaffekte Schmerz, Furcht, Begierde und Lust besteht, der kann in stoischer Ruhe und Gelassenheit vernunft- und naturgemäß und also gesund leben. In seiner bedeutenden Schrift ,,oe tranquillitate animi" ("Über die Ausgeglichenheit der Seele") führt der stoisch geprägte Seneca unter anderem aus: "Dies verrät einen kranken Menschen: keinen Zustand lange ertragen zu können, sondern Änderungen wie Heilmittel anzuwenden. Infolgedessen unternimmt man Reisen ohne Ziel, eilt unstet von Küste zu Küste, und eine immer mit der Gegenwart unzufriedene Leichtfertigkeit versucht sich bald auf dem Meer, bald auf dem Land." Es handelt sich nicht um eine organische Krankheit, es ist vielmehr ein mißlicher Zustand der Seele, gelegentlich Taedium Vitae (Überdruß des Herzens) genannt. Heutzutage verwenden wir das inflationär gebrauchte Wort Depression und fühlen uns u.a. an das 11. Gebot in Marbella erinnert: Du sollst Dich nicht langweilen!
b) Diätetik Erwähnenswert ist ebenfalls die jahrhundertelange Beschäftigung mit Melancholie - als schwarze Galle nach Ansicht antiker Mediziner einer der vier Körpersäfte und den ihnen entsprechenden Temperamenten. Melancholie wurde nicht nur diagnostiziert, sondern versuchsweise auch therapiert. Von dem bedeutenden und einflußreichen Florentiner Humanisten Marcilio Ficino (15. Jahrhundert) gibt es ausführliche Erörterungen über eine - schon in der antiken Medizin entwickelte - Diätetik (= Lehre von der vernunftgemäßen Lebensweise) des Leibes und der Seele. Es werden empfohlen: Vermeidung von Unmäßigkeit, vernunftgemäße Tageseinteilung, geeignete Wohnung, gute Speisen, Spazierengehen, geregelte Verdauung, Massagen, Musik ... Damit ist das breite Volk freilich nicht angesprochen. Melancholie tritt später unter anderen Bezeichnungen auf, u.a. als Hypochondrie (gr. die Gegend unter dem Rippenbogen), der Magen- und Darmbereich als Ort von Mißempfindungen. Viele, die darunter leiden, haben fortwährend einen "latent besorgten Gesichtsausdruck". Interessant sind die diagnostischen Ausführungen eines französischen Arztes aus dem 18. Jahrhundert, der u.a. die folgenden Ursachen benennt: Pracht, Schwelgerei, Müßiggang, vieles Sitzen, presshaft gezwungene Stellung des Leibes, frühzeitiges Heiraten, unglückliche Ehe, Ehelosigkeit oder Cölibat über das 30. Lebensjahr hinaus, Mißbrauch von Zucker/Backwerk/Tee/Kaffee/Schokolade/Branntwein/Rauchtabak, Übertriebene Einnahme von Arzeneien. Der ärztliche Stand verdient also Hochachtung bis weit in die Vergangenheit hinein. 3 3
Diätetik, Stoa, Melancholie etc., kurzer Überblick in Bellebaum: Langeweile. Grundlage der antiken Diätetik sind die sechs sogenannten nichtnatürlichen Dinge: Licht und Luft, Speisen und
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3. Umfelder von Gesundheit Die früheren Empfehlungen zur Vermeidung von Krankheiten und zur Sicherung von Gesundheit bleiben qualitativ und quantitativ weit hinter dem zurück, was wie einleitend angedeutet - heutzutage um "Gesundheit" herum geschieht.
a) Essen und Trinken Viele Nahrungs- und Genußmittel sind für viele Menschen so reichlich vorhanden, daß Schlaraffia - dieses positiv bewertete Wunschland der Überfülle -längst Wirklichkeit geworden ist. Hinzu kommt eine zu fettreiche Ernährung mit den ernährungsbedingten Krankheiten Diabetes, Gicht, Hypertonie, Nierenleiden, Blutfettwechselstörungen, Arteriosklerose ... . Ein barocker, oftmals euphemistisch "vollschlank" genannter Körper gilt potentiell als lebensgefährlich. Embonpoint (frz., in gutem Zustand, Leibesfülle) und Spitzkühler sind weithin vergessene und früher - weil Symbole des guten Lebens - keineswegs verpönte Zustände des Leibes. In einer schon mehrere Jahre zurückliegenden ,,Aktion Ortskrankenkassen" hieß es: "Nur Elephanten können wiegen, was sie wollen. Ich nicht. Darum lebe ich vernünftig." Hunderttausende kämpfen inzwischen gegen ihre Pfunde an; sie terrorisieren ihre Körper und Seelen; sie geraten in Panik bei Triglyzeride 250; sie begeben sich in teure Sanatorien, wo man - das ist nun wirklich nicht mehr steigerbar - für viel Geld nichts zu essen bekommt. Kurzum, "Ein umgekehrtes Schlaraffenland: nicht mehr die gebratene Taube, sondern pillen- und pulverförmige Elixiere, die einem das Abneh-
Getränke, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Fülle und Entleerung, Gemütsbewegungen. Hinweis in Jütte, Bezug: Schäfer. Interessant auch Kirchner, wo es lapidar heißt: "Gesundheit des Leibes ist des Lebens Grundstein"(82) - Kranke Menschen, Seneca: (2,11 f.) Schwarze Galle, Im Corpus Hypocraticum heißt es über eine Patientin: "Die Erscheinung im Urin durchweg schwarz, dünn, wäßrig. Benommenheit begleitet sie fortwährend: Appetitlosigkeit, Depression, Schlaflosigkeit, Anfälle von Zorn, Unbehagen, Äußerungen am Gemüt, melancholisch". Im medizinischen Vokabular gibt es das Stichwort "Schwarzwasserfieber": ein bei Malaria tropica auftretendes Fieber mit massiver Hämolyse und dunkelbraunem Harn. Französischer Arzt, zit. W. Busse: Der Hypochondrist in der französischen Literatur der Aufldärung, Diss. Mainz 1952. Ärztlicher Stand, verständliche Probleme mit den sog. E-Patienten, die sich per Internet gut informieren, von denen viele zur Hypochondrie neigen. Nicht alle Ärzte sind erfreut, wenn solche Menschen in ihre Praxen kommen. "In der Praxis sind die informierten Patienten häufig ein ungeliebter Störfaktor. Zeitaufwendig, renitent, besserwisserisch und nicht gewillt, sich widerspruchslos irgendetwas raten oder gar vorschreiben zu lassen" (Kupczik). Speziell beachtenswert sind die worried weil, die besorgten Gesunden. Die Problematik hat auch mit den unterschiedlichen Beipackzetteln zu tuo. Der Schriftsteller P. Härtling hat einmal notiert: "Mit Leidenschaft studiere ich Beipackzettel. Sie bedrohen mich und richten mich zugleich auf." (Meine Pillen und ich, in: FAZ, 30.10.01). Ansonsten gilt das gelegentlich schreckliche Murphysche Gesetz: ,,Alles, was schief gehen kann, geht irgendwann auch einmal schief."
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men erlauben, fliegen einem zu." Viele Verlage machen mit einschlägiger Ratgeberliteratur glänzende Geschäfte. 4 b) Medizinische Möglichkeiten
Die Hochschätzung von Gesundheit hat mit den atemberaubend anmutenden diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten unter besonderer Beachtung geeigneter Medizintechnik zu tun. Was möglich ist, drängt bekanntlich seit jeher auf Anwendung - und diesbezüglich haben ethisch-moralische Einwände letztendlich noch nie etwas aufhalten können. Wegen seiner begrenzten Instinktausstattung ist der Mensch in seinem Denken und Handeln nämlich prinzipiell frei - zu seinem und seiner Mitmenschen Vorteil und Nachteil. Das ist der Preis, den die Gattung Mensch für den evolutionsbedingt erheblich geschmälerten Machtbereich der Instinkte zu zahlen hat. Auch in medizinisch-ärztlicher Hinsicht ist die Zukunft offen. 5
c) Schönes Leben Erwähnenswert sind sodann die erheblich veränderten Sinndeutungen des Lebens. Ein wissenschaftlicher Bestseller trägt den Titel "Die Erlebnisgesellschaft", worin es einleitend heißt: "Erlebnisorientierung ist die unmittelbarste Form der Suche nach Glück" und schöne Erlebnisse sind das "zentrale Lebensziel" in der modemen Gesellschaft. Mit schönen Erlebnissen assoziieren wir durchweg nicht Krankheit, Schmerz, Leid, Kummer, Verzweiflung, Sterben, Tod ... Es geht eher um venari, lavare, ludere, ridere/Jagen, Baden, Spielen, Lachen - so lautet eine Inschrift im frühen Kar4
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Elephanten, Schlaraffenland, Rath: 309, 313. - Ratgeberliteratur, unübersehbar. Erwähnenswert u.a. "Stern Spezial. Gesund leben" und "Öko-Test". Gegen die manchmal wahnhaft anmutende Glorifizierung von Schlankheit regt sich schon seit längerem mancher Widerstand. Ein Autor plädiert fiir eine Entdämonisierung des Fetts, verweist aufdie jahrhundertealte Vorstellung einer Normalität und Attraktivität von Üppigkeit, prognostiziert das Ende der Bevorzugung anorektischen Aussehens und meint: ,,Aus fehlgeleiteten Motiven oder aus kommerziellen Interessen legen Ärzte und ErnährungswissenschaftIer oft die Ergebnisse ihrer Forschungen so aus, daß sie ihr eigenen Vorurteile oder Wünsche reflektieren ... daß die Gefahren fiir die meisten Menschen relativ gering sind - vor allem wenn man sie mit den Gefahren vergleicht, die Diäten mit sich bringen können ..." (Klein: 10). Bei den meisten/sehr vielen Empfehlungen steht der physiologische Aspekt im Vordergrund. Dies ist freilich nur die eine Seite der Medaille: "Nie erschöpfen sich Sinn und Zweck des Essens darin, kreatürlichen Hunger zu stillen oder die Nährwertzufuhr auf dem physiologischen Bedarfsniveau zu halten. Essen war immer auch eine besondere Lustund Leidquelle menschlicher Existenz, bedeutete Lust und erregte Ekel, fOrderte Gemeinschaft und Individuation, stiftete Krieg und Frieden, war Zeichen der Liebe und des Hasses, spiegelte Armut und materiellen Wohlstand, galt als Integral des Alltags und des Festtages, fungierte als Herrschaftsinstrurnent und Sozialisationsmittel, Medium und Experimentierfeld sinnlicher, sozialer oder ästhetischer Erfahrungen oder Sehnsüchte" (Wierlacher u.a.: 5). - Speziell über Gourmet und Glück vgl. Hahn, 2004: 163ff. Begrenzte Instinktaustattung und Folgen fiir menschliches Leben und Zusammenleben betrim ein weites Feld anthropologischer überlegungen. Grundlegend Berger/Luckrnann.
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thago. Gesundheit ist eine wichtige Erlebnisquelle für schönes Leben und in Bezug auf Glück wird in der Regel auch Gesundheit genannt. 6 d) Schmerz Mit dem Konzept "Schönes Leben" hängt eine durchweg negative Bewertung des Schmerzes eng zusammen. Es heißt bei einem Fachmann: "Die Kulturgeschichte und die Ethologie lehren, daß die Schmerzempfindlichkeit zu allen Zeiten unterschiedlich war". Heutzutage sind viele Menschen schmerzempfindlicher als früher, was die weitverbreitete negative Bewertung des Schmerzes leicht erklärt. Dem kommen die hochwirksamen Mittel der Schmerzbekämpfung entgegen. Was könnte Menschen veranlassen, Schmerz "ertragen zu sollen, wenn die Möglichkeit der Hilfe besteht?" Lange Zeit wurden bei uns Leid und Schmerz "religiös verklärt und in Verbindung mit einer entsprechenden Erlösungshoffnung zur Grundlage einer,Theodizee des Leidens'''. In früheren Gebeten, vor allem bei Andachten, wurden Schmerzen buchstäblich aufgeopfert - um des Seelenheiles willen. Dies gilt in besonderer Weise für den historisch-asketischen Kontext, wozu ausgeführt worden ist: "Wenn der Schmerz,je mehr er Schmerz ist, umso näher zu Gott bringt, dann verschmelzen objektives Glück und subjektive Pein". Die Zeiten haben sich gründlich verändert. "Entfällt dann auch noch die religiöse und ethische Sinndeutung, werden Schmerz und Leid leicht als ,sinnlosl erfahren". (In medizinischer Hinsicht betrifft die Funktionalität des Schmerzes ein anderes Thema.) Die in Deutsch-land nach wie vor zurückhaltende Verschreibung starker Schmerzmittel für Schmerzpatienten inbesondere im Finalstadium ihres Lebens ist ein eigenes, manchmal traurig stimmendes und als skandalös empfundenes Thema. Glücklicherweise gewinnt die Palliativmedizin an Bedeutung. 7
4. Sehnsucht nach Schlankheit Die Begriffe Gesundheit, Schlankheit, Jugendlichkeit und Schönheit hängen verständlicherweise - das ergaben schon die bisherigen Überlegungen - eng zusammen, weshalb saubere Trennungen zwischen den Ausdrücken nicht immer möglich sind. Die allenthalben propagierte gesunde Lebensweise hat viel mit der Hochschätzung von Schlankheit, Jugendlichkeit und Schönheit zu tun. Die Barmer Er6
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Erlebnisgesellschaft, Schulze. Erlebnisse und Glück, s. auch Ders., Kulissen des Glücks. Erhellend der Hinweis: ,,Der Glücksdiskurs zieht unsere Sozialwelt in Bann wie ein Gottesdienst" (9). Inschrift, Ders., 1994: 31. - Über Glück neuerdings u.a. Bellebaum, Hrsg.,: 2002, Bellebaurn/ Braun, Hrg., 2004, Bellebaum/Schallenberg, Hrg., 2005. Kulturgeschichte, Lüth: 121. - Ertragen zu sollen, religiös verklärt, entfällt, Büschges: 172. Wenn der Schmerz, Hahn, 1990: 135.
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satzkasse hat einmal verkündet: "Beweglich sein heißt jung sein; schlank sein ist schön." Dieses Zitat liegt den weiteren Ausführungen zugrunde - in der Reihenfolge der Stichworte: schlank, jung und schön. a) Definitionen Was aber ist "schlank"? Es gibt eine einflußreiche Betrachtungsweise, wonach in sehr vielen Fällen keineswegs gewiß ist, ob das, was wir als "Wirklichkeit" annehmen/behaupten, auch wirklich "wirklich" ist. Erinnert sei an die früheren leidenschaftlich gefiihrten Diskussionen über die Bestimmung des Todeszeitpunktes. Der Bundestag hat sich vor vielen Jahren für den Hirntod als Kriterium entschieden. Für Organtransplanteure ist der hirntote Mensch natürlich tot genug, er darf gar nicht "töter" sein, weil sonst keine verwertbaren Organe entnommen und verpflanzt werden können. Ist deshalb aber der Himtote "wirklich" tot? Es gibt andere Möglichkeiten, den Todeszeitpunkt zu definieren, etwa: Erlöschen sämtlicher körperinterner Vorgänge. Diese Betrachtungsweise - Definitionsansatz genannt -läßt sich auch für das anstehende Thema "Schlankheit" nutzen. Ab welchem Gewicht ist man "schlank"?, genauer: Ab welchem Gewicht gilt man als "schlank"? Sehr einflußreich ist zur Zeit der Body Mass Index: Quotient von Körpergewicht in kg. und dem Quadrat der Körpergröße in m. BMI ist keineswegs unstrittig, denn - hier nur dieser eine Hinweis - "Abnehmen ist nicht gleichbedeutend mit Verbesserung der Gesundheit" und Sport kein Garant für längeres Leben. 8
b) Schlank/dünn/dürr Ältere Menschen wissen, was in den KZ geschah, und sie haben nach dem Krieg aufBildern abgemagerte und fast verhungerte Menschen gesehen, die befreit werden konnten. Viele Jahre später verkündete Twiggy die frohe Botschaft von gewollter extremer Magerkeit als einer Augenweide. Wieder viele Jahre später begann man, neuartige Models auf dünn hin zu "züchten". Beispiele einer letztlich noch gezügelten, nicht in Bulimie übergegangenen Magerkeit - so etwa Claudia Schiffer und Naomi Campell- gibt es zuhauf. Gesundheit muß unter solcher Vergewaltigung des Körpers offensichtlich nicht nachhaltig geschädigt werden. In einer Rezension des Buches von Umberto Eco über Schönheit heißt es: " ...Sonst 8
Definitionsansatz, anders: Gesellschaftliche Konstruktionen, Sozialkonstruktivisffius, vgl.Berger/ Luckmann. Lexikalisch kurz und bündig: "Soziale Tatbestände (sind) nicht einfach gegeben, sondern sie sind erzeugt. Alles soziologisch Interessante gilt als von Menschen hervorgebracht und weiter gegeben ..." (Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl. 1994: 363). - Speziell fiir Gesundheit, GawatzlNoack. Reichhaltige Literatur in der Medizinsoziologie und den Gesundheitswissenschaften. - Cholesterin, Lenzen: 12lf. - Abnehmen und Sport, Albrecht.
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wäre man vielleicht schnell beim prallen Schönheitsideal der Südsee-Bewohner gelandet, die beim Anblick abgemagerter Topmodels nach der Ambulanz riefen." Im üblichen Alltag begegnen uns - ein in diesem Zusammenhang freilich nicht so recht passender Ausdruck - "zartgliedrige" Menschen, insbesondere unter Frauen, en masse. Selbst heranwachsende Mädchen sind schon infiziert. Das Leitbild von solcher Schlankheit wirkt sich also nachhaltig aus. Wer sich daran orientiert, der muß auf vieles verzichten und sich dauernd kasteien. Das "Statussymbol: dünn" in Verbindung mit ,,Diätenwahn" kostet seinen Preis. Und für Diätenjedweder Art gibt es einen gigantischen Markt. 9
5. Jugendkult und Alterssorgen Nochmals: "Beweglich sein heißt jung sein; schlank sein ist schön." Jeder weiß, daß er altersmäßig nicht jung bleiben kann. Man altert über die Jahre hinweg und wird alt. Es braucht nicht erörtert zu werden, inwiefern es unstrittig zu unterschiedlichen, mit vielen Klisches durchsetzten, Bewertungen der Altersstufen gekommen ist: eher Hochschätzung "der" Jugend - und eher Distanz zu "den" älteren Menschen. In der Arbeits- und Berufswelt haben jüngere Menschen zur Zeit noch bessere Chancen als ältere Menschen - wenngleich diese in ca. zehn bis 15 Jahren wieder mehr gefragt sein werden. Es gibt jetzt schon Indizien für einen rückläufigen "Jugendwahn". Die Orientierung älterer an altersmäßig jüngeren Menschen wirkt sich vielfältig aus. In einem Zeitungsbericht "Ey, Alter, mach hier nicht den Affen" wird ein voluminöses Buch: ",Ewige Jugend'. Konzepte der Verjüngung vom späten 19. Jahrhundert bis zum Dritten Reich" besprochen - wo es auch um Fragen der traditionsreichen Eugenik geht. Der Gedanke an Verjüngung ist freilich viel älter. Ein schönes Beispiel bietet das von Lucas Cranach d.Ä im Jahre 1546 erstelltes Gemälde: Der Jungbrunnen. Dieses Gemälde wird in manchen klassischen Schlaraffia-Vorstellungen bemüht: Alles ist im Überfluß da, alles ist vom Besten, alles ist für alle da, Privilegien sind abgeschafft, Arbeit ist erfreulicherweise ausgegangen, Geld gibt es genug und ist deswegen wertlos, sexuelle Freizügigkeit ist selbstverständlich - und im Jungbrunnen gibt es das Wasser des Lebens. Die Bandbreite menschlicher Bemühungen um den Erhalt von Jugendlichkeit, genauer: von tatsächlichem oder vermeintlichem jugendlichem Aussehen, ist beachtlich. Einige Stichworte: 9
Umberto Eco, SchÜIner. - Statussymbol, Herman. In Verbindung mit Gesundheitswahn, Lütz Gottes Wartezimmer, Hoppe.
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Wer jemals Dr. Strunk auf Bildern gesehen hat, der weiß, was einem blühen kann. Sonnenbanken sind sehr beliebt, denn Bräune gilt als Ausdruck aktiven Lebens. Jogging, Walking, Nordie Walking: bei sonntäglichen Wanderungen begegnen einem keuchende Mitbürger, und die Tiere des Waldes schauen kopfschüttelnd zu. Teure Brusthaar-Toupes verzieren die Hemdausschnitte bei vielen Männern. Chirurgen werden bemüht, beispielsweise Gesichtshäute zu liften, Nasen zu verkleinern, Bäuche zu strecken, Schenkel zu verschlanken. Erheiternder Bericht über einen Arzt im Rentnerparadies Palm Springs, Autor zweier Bücher ,,zurück in die Jugend" und "Der Jungbrunnen", Gründer und Leiter eines "Instituts für Lebensverlängerung". Er verabreicht Cocktails aus neun Hormonen zweimal täglich, zugeschnitten auf den Hormonpegel von 18-jährigen. Infolgedessen werde die Sexualität wieder erfolgreich als eine Urgewalt erlebt. Sinnige Überschrift eines Zeitungsberichts: ,,Aufstand in Gottes Wartezimmer".
Für die Wirtschaft und Werbung sind die Alten keineswegs uninteressant. Eine aufschlußreiche Kapitelüberschrift lautet: "Wenn die Alten jünger werden". Sie werden natürlich nicht jünger an Jahren, wohl aber in ihrem Aussehen und Verhalten. Es stimmt ja: "Während ältere Menschen lange Zeit entweder gar nicht oder hilfebedürftig und gebrechlich gezeigt wurden, werden sie jetzt als weißhaarige Dynamiker beim Segeln oder Reiten präsentiert ...". Das gilt auch für jene älteren Mitmenschen, die nahezu täglich abends in der Werbung als putzmuntere, rüstige und frohgemut einherschreitende Lebewesen vorgeführt werden: "Bleiben Sie gelenkig - Mit Optovit 500".10
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Rückläufiger Jugendwahn, Niejahr; kürzlich Talk/WDR: Die Alten kommen langsam, aber fair (20.4.05); andernorts wird jedoch einschränkungslos von einem "Kult der Jugendlichkeit" gesprochen, der "mehr sei als eine vorübergehende Erscheinung" (Hondrich). Ewige Jugend, Stoff. Das 500 Seiten umfassende Buch ist eine wahre Fundgrube für traditionsreiche einschlägige Vorstellungen. - Schlaraffia, s. Rath. - Rentnerparadies, Hoppe. - Indizien, Niejahr. Zahlreiche historische und gegenwartsbezogene Arbeiten über immer wieder unternommene Versuche, dem Altem und Alter vorzubeugen bzw. sie zu überlisten, beispielsweise: Schäfer, Stoff. - Wenn die Alten, Niejahr.
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6. Sehnsucht nach Schönheit Ein letztes Mal: "Beweglich sein heißt jung sein; schlank sein ist schön". Schönheit ist ein seit j eher faszinierendes, pathologisch häufig erörtertes und kontrovers diskutiertes Thema.
a) Schönheitsvorstellungen Wir wissen, "Schönheit ist relativ." Viele Studien belegen zahlreiche zeit- und kulturspezifische Vorstellungen über Mann und Frau. Erwähnenswert sind beispielsweise Figuren von Rubens, die Damen Josephine Baker und Marilyn Monroe, wahrhaftige Männer wie Johnny Weissmüller oder Brad Pitt. In einer Studie wird nach den schönsten Deutschen gefragt: 18% Heidi Klum, 10% Claudia Schiffer, 3% Verona Feldbusch, 2% Til Schweiger und nur 1% Iris Berben.
b) Wirtschaft Alles, was um "Schönheit" herum geschieht, ist ökonomisch bedeutsam. Das gilt u.a. für Fitnesstudios, Kosmetikartikel, Diätprogramme, spezielle Arzneien, gesunde Ernährung - denn: "Gesundheit kann man essen". Strunz faßt zusammen in einem Buch mit dem aufschlußreichen Titel: ,,Frohmedizin. Der aktive Weg zur Gesundheit". Das Wort Wellness bezeichnet sehr viele Nachfragen und Angebote. Allein für die USA schätzt man den Jahresumsatz der Beauty-Industrie auf ca. 10 Mrd. Dollar. c) Schönheitswettbewerbe Begutachtet werden regionale und nationale Schönheiten en bloc. Wer unvoreingenommen hinschaut, der kann den Eindruck gewinnen, daß die für Wettbewerbe ausgewählten Damen alle aus der gleichen Petrischale stammen. Aus einem etwas anderen Zusammenhang paßt hier der Hinweis: "Schön und starr: Schönheit ohne Individualität" - aufweisbar u.a. an "glatten, makellosen Gesichtern, kaum das eines aus dem Rahmen fiel ..." Bei genauerem Hinsehen würden einem, so behaupten Kenner, doch manche Unterschiede und angeblich aufregende Details bei den Models auffallen.
d)Mode Der Satz: "Kleider machen Leute" stimmt zwar nicht uneingeschränkt, weil es heutzutage oft auf das ankommt, was Kleider verhüllen und was öffentlich gezeigt wird. Mode ist aber nach wie vor ein wichtiger Indikator für Schönheitsvorstellungen. Dessous (frz. = darunter) beispielsweise gehören zu den modischen Accessoires, und sie können sogar zu Kultobjekten werden. Angeblich gilt: ,,Lu-
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xus auf unserer Haut. Dessous sind besser als Champagner und Schokolade. Man muß sie nur richtig nutzen."
e) Schönheitschirurgie Medien berichten regelmäßig und ausfiihrlieh über die medizinischen Künste des Liftens, Straffens, Schneidens, Absaugens, Massakern unter der Haut. Für 2004 schätzt man bei uns 700.000 plastische Operationen, 100.000 Fettabsaugungen, 20.000 Brustvergrößerungen mit Implantatgrößen von 200 bis 300 Gramm beidseitig (= Größe C). Umberto Eco meint: "Der Körper wird nicht mehr als Schicksal der Natur gesehen, er wird zur Knetmasse." Einige Ergebnisse der vielfältigen Eingriffe in den Körper kann man regelmäßig in der Boulevardpresse sehen. Viele Gesichter und Outfits zahlreicher Personen sind schon beeindruckend. Andersartig aussehende und auf dezente gutbürgerliche Attraktivität hin zurechtgemachte Menschen findet man eher in der ApothekenUmschau: "Freiöl- hält meine Haut glatt bis ins hohe Alter". 11
t) Religion Vieles um "Schönheit" herum hat eine ausgesprochene religiöse Note. Nun ist Religion ein schwer zu definierender Begriff. Wer das Wort aufüberlieferte Transzendenzreligionen begrenzt, der kann den facettenreichen Schönheitskult schlecht mit Religion in Verbindung bringen. Er wird aber vermutlich nichts dagegen einzuwenden haben, wenn es heißt, daß die "Rituale des Schönheitskults die herkömmliche Religion nicht nur imitieren, sondern funktional ersetzen".
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Relativ, vg!.auch: ",Schönheit' ist weder eine universelle noch ein unveränderliche Größe, auch wenn die westlichen Kulturen gerne so tun, als leiteten sich alle Ideale von weiblicher Schönheit von der einen platonischen Idealfrau her" (Wolf: 14). Viele Belege auch bei Umberto Eco und Gründle. Eine schöne Kapitelüberschrift: ,,Aphrodites Töchter" (Hersey 12ft). Schön und starr, Guggenberger: 198f. - Frohmedizin, das Wort Medizin bezeichnet unterschiedliche Arten und Perspektiven. Eine modernisierte Form ist die weitverbreitete Wellness-Bewegung, deren wirtschaftliche Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Sämtliche besseren Hotels verfügen inzwischen über ein reichhaltiges Angebot. In diesem Zusammenhang verdient ebenfalls eine eigene "Duftkultur" erwähnt zu werden (Schlaffer: 67ff.), wobei Parfüms jedweder Art eine große Rolle spielen. Schönheitswettbewerbe sind nicht aufFrauen begrenzt, obwohl sie durchweg im Vordergrund des allgemeinen Interesses stehen. über den Adonis-Komplex siehe Mangweth. Mode - ein pathologisch ergiebiges Thema. Königs Buchtitel läßt sich auch umkehren: Körper machen Menschen, denn die Auffassung ist weitverbreitet, daß der wie im einzelnen auch immer durch menschliche Eingriffe/Maßnahmen gestaltete Körper bestimmte Botschaften vermittelt. Schöne, schon auf's folgende Teilthema "Schönheit/Religion" verweisende, Essays in Sellmann. Schönheitschirurgie/-operation - bewegt viele Menschen in ablehnender oder zustimmender Weise. Aufschlußreiche Hinweise bei Degele "Ideologien des Schönheitshandelns" 17f. et.a!. Zahlreiche Berichte und Stellungnahmen in nahezu sämtlichen einschlägigen Büchern! ZeitschriftenlMassenmedien. - Knetmasse, Umberto Eco, Interview. - Weiteres in Kapitel 7ff.
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In den Religionswissenschaften ist die Ansicht weit verbreitet, daß es - ein kontrovers erörtertes Wort - "Ersatzreligionen" gibt, die manches von dem leisten, was überlieferte Religionen vermögen. In diesem Sinne geschieht beispielsweise im Vorfeld und während eines Fußballspiels etwa zwischen Schalke 04 und 1. FC Kaiserslautern manches, was wir auch aus dem religiös-kirchlichen Bereich kennen. Die Anfahrten zum Stadium gleichen Prozessionen. Die Vereinsfahnen symbolisieren das Zusammengehörigkeitsgefühl von Club und Clubfans. Der Einmarsch der Stars nebst Schiedsrichtern erinnert an Wallfahrten zum Allerheiligsten. Die Veranstaltungen selbst können einem als "säkulare Hochämter" vorkommen. Auch in dem hier erörterten Bereich gibt es funktionale Äquivalente. Die Sprache der Heiligen Schriften vergleichbaren Diätbücher ist mit Vokabeln wie Versuchung und Sünde durchsetzt. Schönheit, die Göttin der neuen Religion, hat unter anderem Schönheits-Chirurgen als Künstler- Priester. ErnährungswissenschaftIer, Diätassistenten und Diätköche tummeln sich auf den verschiedenen Hierarchiestufen der Kultdiener der neuen Göttin. Am kollektiven Kampf gegen die zu vielen Pfunde sowie den bedauerten Zustand der Fettgewebe beteiligen sich zahlreiche Medien nach Art missionarisch inszenierter Großveranstaltungen zwecks Mitgliederwerbung. Schuldgefühle erleben Diätsünder tatsächlich privat und öffentlich - etwa bei den Weight Watchers. Und wer unter öffentlicher Aufsicht stetig pro Monat 200 g abnimmt, der wird gelobt und und auf diese Weise von seiner Schuld freigesprochen. - (Nur am Rande, weil eigentlich schon ein anderes Thema: "Es scheint, daß sich das Wort sündigen hic et nunc einzig noch im Zusammenhang von Essen und Trinken erhalten hätte. Sündigen bedeutet nun etwa soviel wie: Ich habe zu viel Schokolade gegessen. Ich bin zu fett. Ich habe gegen das Kalorienverbot verstoßen.") In einem Buch ,,Der Mythos Schönheit" ist die Rede von Schlankheitshysterie und -manie, Fitnesspriesterinnen, Beichten in Diätgruppen, Meditationen mit einer Banane, Hautcremes als Salbungsölen, Make-up als religiöse Übung. Die Schlankheitsmanie wäre harmlos, wenn die Frauen - und nur um sie geht es in diesem Buch - sich dem Kult freiwillig anschlössen und sich jederzeit wieder von ihm abwenden könnten. Aber der Schlankheitskult sei deshalb so erschreckend, weil er mit Techniken operiere, die die Gläubigen hörig machten und ihre Realität wahrnehmung verzerrten. Frauen, die sich anfänglich freiwillig in die Kultleh-
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re initiieren ließen, könnten aus physiologischen und psychologischen Gründen bald nicht mehr zurück. Wir haben es tatsächlich mit Sucht zu tun. In die gleiche Richtung zielen Buchtitel wie "Schönheit als Soziale Macht" und "Vom Zwang schön zu sein",12
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Für KörperlKörperlichkeit interessieren sich zahlreiche Medien und viele anthropologische Disziplinen. Es gibt wohl keine Studie, in der die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven versuchsweise zusammenfassend vorgestellt und gewürdigt würden. Im wissenschaftlichen Bereich sind jedenfalls u.a. Medizin, Medizingeschichte, Moraltheologie, Psychologie ebenso angesprochen wie Soziologie, Ethnologie und Kulturanthropologie. Im Folgenden geht es vor allem um sozial-/ kulturwissenschaftliche Perspektiven. Und als zentrale, das komplexe Thema verdichtende - wenngleich es auch nicht erschöpfende - Stichworte können u.a. sein: • •
die "Leibliche Dimension sozialen Handeins" sowie der "in kulturgeformte soziale Bezüge" eingebundene Körper. Beides hat erhebliche Konsequenzen für die menschliche Lebensführung. 13
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Rituale des Schönheitsku11es, Wolf: 119. - Heilig gesprochene Schönheit, a.a.O: Religion, 116 fE - Schlankheitshysterie, a.a.O.: 171, 175, 142 et. al. Schlankeitskult, a.a.O.: 164. - Anregend Lütz: Auf der Suche nach dem Heil (15fE), Die Macht der neuen Weltreligion (26ff.). Ders., Gott ist tot ..., Gesundheit als Religion. Auch in vielen anderen einschlägigen Abhandlungen ein gängiges Thema. ErsatzreligioneniQuasireligiöse BewegungenlPriesterliche Leistungen der Medizin/Religiöse hnplikationen ärztlichen Handelns: "Tatsächlich stehen Ärzte in der Sterbehilfe jeweils an gravierenden Einschnitten des menschlichen Lebenslaufs. Daraus resultieren die religiösen hnplikationen ärztlichen Handelns. An den Schnittstellen des menschlichen Lebenslaufs, an denen in der traditionellen Gesellschaft ein Priester die Überführung von einer Lebensphase in die nächste vornahm, steht in der modernen Kultur in wachsendem Maße der Arzt. Er entscheidet über das Eintreten und dessen Gestaltung. Die Medizin dient insoweit der Wahrnehmung schamanistischer Aufgaben" (Lenzen: 188). Stichworte, Meuser: 20; Hahn/Meuser: 8 Menser. - Vgl. auch Gugutzer: "Die phänomenologische Konkretisierung der Begriffe Leib und Körper hat den Vorteil eine größere Bandbreite dessen in den Blick nehmen zu können, was in den Sozialwissenschaften üblicherweise Körper genannt ist. Ist in den Sozialwissenschaften nämlich vom Körper die Rede, dann wird damit in aller Regel der gegenständliche Körper bezeichnet, nicht aber das eigenleibliche Spüren" (15). Zahlreiche weitere Arbeiten u.a., Degele, Douglas.
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7. Aktualität des Körperthemas Der menschliche Körper wird nicht erst in modemen Kulturen aufinerksam betrachtet. Die Vorstellung vom Jungbrunnen reicht weit in die Geschichte zurück, Michelangelos David hat seinerseits antike Vorbilder, Adonis und Aphrodite gelten bis heute als attraktive Gestalten und Körperschmuck gibt es schon in vielen Einfachen Gesellschaften. Dennoch spielt die Körper-Thematik gegenwärtig eine besondere Rolle - besonders hinsichtlich Glück und Zufriedenheit. Warum?
a) Jugendlichkeit Zusammen mit dem oft beschworenen Jugendwahn wird neuerdings eine wachsende Bedeutung von Altem und Alter erörtert. Einem Diagnostiker der modernen Welt erscheint dagegen der ,,Kult der Jugendlichkeit" mehr als eine "Marotte des Zeitgeistes" zu sein. Erwähnt wird zunächst die verlängerte Lebenszeit, wodurch Altem und Alter sowie Sterben und Tod gedanklich in weite Feme rücken. Wichtiger erscheint dem Beobachter jedoch die ,,religiöse Sphäre des (Un)Glaubens" zu sein. In traditionsreichen Vorstellungen von einer jenseitigen Welt markiere für den Ungläubigen der Tod den Übergang ins Nichts. Diese Vorstellung wiederum gehe mit Angst einher, welche mit dem Habitus der Jugendlichkeit zu bannen versucht werde. So bekomme Jugendlichkeit in der "säkularen Gesellschaft eine magische, religiöse Funktion".
b)Anatomie Das große Interesse am Körper wird andernorts mit jener medizinischen Entwick1ung zusammen gesehen, wonach der Körper ein Apparat, eine Maschine, sei, die man bediene. Diese Sichtweise drücke sich in Begriffen wie Skelettapparatur oder Muskelapparatur aus. Der Körper erscheint als ein Ganzes mit verschiedenen Teilsystemen und darin sich wechselseitig bedingenden Prozessen. Für anatomische Einzelheiten interessiert man sich allerdings nicht erst in der Neuzeit, denn schon die antiken Ärzte kannten Zergliederungen des Körpers. Die wechselvolle Geschichte der Selektion von Toten ist ein Thema für sich. Dessen ungeachtet ist die erfolgreiche Ausstellung ,,Körperwelten" mit ihren plastinierten Leichen sehr aufscWußreich. Deren Bewertung ist strittig. Selbst wer nur von Event und Performance spricht, der kann dennoch das überaus große Interesse vieler Menschen am körperlichen Innenleben nicht leugnen.
c) Individualisierung Die Aktualität des Körperthemas hat sicherlich auch mit den unbestreitbaren und allenthalben diskutierten Tendenzen zur Individualisierung zu tun. Sicherlich, der modeme Mensch ist keineswegs frei von sozialkulturellen Einflüssen sowie
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konformen Ansichten und Verhaltensweisen. Er verfügt aber über einen in früheren Zeiten nicht gekannten Freiheitsspielraum, den er mehr oder weniger selbstbestimmt gestalten muß. Die damit zusammenhängende Selbstbezüglichkeit fördert auch das Interesse am eigenen Körper und den körperinternen Vorgängen. 14 8. Dimensionen des Körperthemas In der RadioAkadernie des Südwestfunks ist vor einiger das Thema Körper unter dem Titel "Leibhaftig. Der Körper und sein Geist" in 12 Folgen behandelt worden. Die Darstellungen richten sich in sprachlicher Präsentation und Verständlichkeit an ein breiteres Publikum. Die Vielfältigkeit und Komplexität des Körper-Themas belegen schon die zahlreichen Kapitelüberschriften, u.a. Körperrhythmen, Körperbilder, Körperhaltungen, Körpergrenzen, Körperdesign, Leben mit Fremdkörpern, Körperliche Gesundheit, Körper als Rohstoff, Körperlosigkeit. Einige stichwortartige Hinweise zu ausgewählten Teilthemen ohne systematische Ambitionen sollen genügen.
a) Körperdesign Die pure Leiblichkeit des Körpers ist weiter kein Problem - ungeachtet möglicher medizinischer Forschungslücken. Wichtiger sind vielmehr Arten und Weisen, wie Körperlichkeit unter dem Einfluß sozialkultureller Faktoren dargestellt, gesehen, bewertet wird. Worum geht es? Zunächst sei nochmals an den Hinweis auf den Körper als eine auch kulturell geprägte Erscheinung hingewiesen. Zwei Fachleute führen aus: Die Materialität des in soziale Bezüge eingebundenen Körpers "ist, obwohl nicht in sozialer Praxis aufgehend und somit ein Stück ,asozial', nicht unabhängig von seiner sozialen Repräsentation erfahrbar und erkennbar: als Geschlechtskörper, von den Lebensbedingungen gezeichneter Körper, als gestylter Körper usw. Indem wir am Körper die sozialen Bezüge, in denen er agiert und die er gleichsam ,verkörpert' , ablesen, dient er zugleich dazu, Soziales zu repräsentieren: als intentional gestalteter oder ,gestylter' wie als habituell geformter Körper." 14
Kult der Jugendlichkeit, Hondrich. - Apparatur, G. Klein. - Antike Ärzte, Eckart. Individualisierung, vgl. u.a. die Ausführungen über Individualisierung des Körpers (Hitzler:75ff.), wo u.a. auf den bewußteren und selbstbewußteren Umgang mit dem eigenen Körper hingewiesen wird (79). Das wirkt sich auch aufdie Arten und Weisen aus, wie man die "Verhübschung" (Prisching, 2005) des eigenen Körpers plant und bewerkstelligt. Dies wiederum geschieht in der Regel nicht völlig autonom, weshalb der Hinweis auf "Konforme Individualität" ( ...) zutrifft. Zur Aktualität des Themas ,,Individualisierung" vgl. auch Prisching, 2003, Junge, Keupp und Nol1mannlStrasser.
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Intentional gestalteter Körper - das verweist auf Eingriffe in den Körper etwa durch Schönheitsoperationen. Gestylter Körper - so etwas sieht man täglich im Werbefernsehen bei den "gesichtslosen" männlichen Models. Darüber hinaus kennen wir an uns selbst oder an Mitmenschen den in Joggingkleidung gehüllten Freizeitkörper; den altersstufenbedingten jugendlichen Körper; den, weswegen auch immer, so bezeichneten attraktiven Körper; den gesunden und kranken Körper, den gebrechlichenlverunstaltetenlbehinderten Körper ... Der Körper stellt etwas Bestimmtes dar, man kann auch sagen: der Körper ist "Lieferant von Botschaften": jung, sportlich, gesund, behindert, schön. Noch anders ausgedrückt: Es geht um "soziale Indienstnahmen" des Körpers. Nebenbei: der in diesem Zusammenhang häufig verwendete Ausdruck "Selbstinszenierung" kann mißverständlich sein. Im Hintergrund des öffentlich inszenierten Auftretens gibt es nämlich wirkrnäßige Fremdbestimmungen etwa durch Vorbilder, Werbung und Konsumangebote. Mit der Selbstbestimmung dürfte es bei "über Nacht" massenhaft wirksam gewordenen Leggings, Jeans, Fliegen und bauchnabelfreier Kleidung nicht weit her sein.
b) Körperarbeit Nach Ansicht eines Fachmanns sind die meisten Glücksvorstellungen offensichtlich doch keine ganz persönliche Angelegenheit des einzelnen Menschen, sondern sozialkulturell vermittelt. Das gilt ebenfalls für die meisten Körper-Entwürfe. Deren haltungs- und handlungsmäßige Verwirklichung erfordert viel außengesteuerte, anstrengende Körperarbeit. Man denke an: Schönheitsoperationen, Lippenbehandlungen, Piercing, Bräunen, Joggen, Schminken, Tätowieren, Wellness-Kuren, Besuch von Bodyfarmen, modische Kleidung ...
c) Körper: Äußeres und Inneres Abschließend verdient die Unterscheidung zwischen Arbeit an der Körperhülle und dem Körperinneren erwähnt zu werden. Das äußere Erscheinungsbild ist für viele Menschen etwa im Beruf sehr wichtig. Das wäre aber, so steht es in einer Studie, lediglich Arbeit an der Körperhülle. Im Zuge der Ausweitung von Fitnessanstalten gebe es nämlich zahlreiche Entspannungstechniken. Yoga, Tai-Chi und Aikido und ähnliche Bewegungstechniken seien heute längst nicht mehr nur subkulturelle oder nur von wenigen Menschen praktizierte Techniken, sondern sie seien wesentlicher Bestandteil großer Fitness-Studios. Körperarbeit sei "also auf der einen Seite immer Arbeit an der Hülle, aber auch die Reinigung des Inneren" .15 15
Materialität, Hahn/Meuser: 8. Vgl. dazu auch unter der überschrift ,,Inszenierung des Körpers" den Hinweis: "... der ](jjrper des Menschen mehr und mehr vom Schicksal zu Aufgabe bzw. von einem Gefäß der Gewohnheiten zu einem Gegenstand der Gestaltung: Das beginnt mit Program-
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9. KörperNormen - KörperFormen Gesund, jung, schlank: und schön - das sind die zentralen Stichworte. Schönheit/ Attraktivität/wohlgefälliges Aussehen sind nicht nur jugendspezifische Themen. Im Kontext des Tagungsthemas "Glücksangebote in der Alltagswelt" und des speziellen Themas "Der ideale Körper ..." liegt es also nahe, Schönheit nochmals gesondert hervorzuheben. Körperarbeit gibt es nämlich auch als Schönheitsarbeit. Der Titel einer einschlägigen Arbeit lautet: "Sich schön machen. Zur Soziologie von Geschlecht und Schönheitshandeln".
a) Sich schön machen Schönheitshandeln ist verständlicherweise nur dann angebracht, wenn "sich schön machen" für erstrebenswert gehalten wird - beispielsweise um sich wohl zu fühlen und Glück zu empfinden, anerkannt zu werden, sich selbst und Mitmenschen zu gefallen. Entsprechende Bemühungen setzen ihrerseits körperliche bzw. für körperlich gehaltene Defizite voraus.
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Sich schön machen - das betrifft die vielen Manipulationen an der Körperhülle. Es geht hier nicht um die Behandlung schwerer Unfallfolgen etwa durch Gesichtsoperationen und Hilfen von Visagisten. Erwähnenswert ist vielmehr alles, was in einer Zeitschrift unter dem Titel "Haare und andere Männer-Probleme" erörtert worden ist: Nase,Augenlider, Ohren, Kinn, Haare, Fett, Muskeln, Gewicht, Körpergröße. Einen Höhepunkt stellen zweifellos Unterspritzungen faltig gewordener Haut von Händen dar, um bei Begrüßungen mit der Hand das Gefühl jugendlicher Festigkeit zu vermitteln. Es gab schon früher - abgesehen etwa von oft magisch bedeutsamen Körperbemalungen in Einfachen Gesellschaften - viel körperbezogenen Mißmut und an ihm orientierte Korrekturen. Das gilt beispielsweise für Pudern, Perücken men zur hypertrophen Muskelbildung, das meint Aerobic und Tanzgymnastik, das reicht vom Yoga-Wochenende bis zum Tai-Chi-Kursus. Und das endet weder beim traditionellen Jogging noch bei der nächsten Urschreitherapie. In den Medien, in Shows, in Filmen, in der Werbung wird der schlanke, muskulöse bewegliche Körper als ästhetisch und erotisch nicht mehr nur inszeniert, sondem unter Einsatz und Verwendung avanciertester Techniken regelmäßig zelebriert ..." (Hitzler: 80). - Lieferant von Botschaften, Hahn: 1988: 669, Soziale Indienstnahme, Hahn, 1993: 201. Nebenbei, wichtig der Hinweis: "Man kultiviert die Einzigartigkeit, aber muß diese gleichzeitig sozialkompetent inszenieren, will man nicht zu einer Monade werden." (Prisching, 2005) VgL dazu schon die Hinweise inAnm. 14. Glücksvorstellungen, Fürstenberg: 58. Körperarbeit. Viele Körperarbeit bleibt zwar trotz wiederholter Versuche ergebnislos, aber es gibt vielfältige soziale Absicherungen im Umgang mit Enttäuschungen. Sicherlich, "Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag" (Goffinan). Und wir wissen oft auch, daß wir beispielsweise durch Lügen nur Theater spielen. Es kommt trotzdem häufig vor, daß man tatsächlich meint, erfolgreich am eigenen Körper gearbeitet zu haben. So glaubt jemand, jugendlich auszusehen, obwohl Ansätze von Greisenhaftigkeit unübersehbar sind. Körperhülle, Körperinneres, G. Klein: 4.
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und Korsagen - meistens auf höhere Schichten beschränkt. Heute sind die möglichen Körper-Korrekturen nahezu unbegrenzt und sie wirken sich individuell und gesellschaftlich weiter und tiefer aus als früher.
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Sich schön machen - das betriffi: sodann die Arten und Weisen, den Körper zu verhüllen. Mode spielt seit jeher eine große Rolle. Moden können zeit-, kultur-, gruppen-, schichtgebunden sein. Was für attraktiv gehalten wird, ist in aller Regel nicht verallgemeinerbar. Moden gelten mal längere mal kürzere Zeit. Manchmal dienen Moden dazu, körperliche Mängel zu kaschieren. Verhüllungen durch Mode betreffen nicht nur verhüllungsbedürftige Körper. Nicht selten dient Mode gar nicht zur Verhüllung, sondern zur begrenzten Enthüllung. Ein inhaltsreicher Bildband heißt: "Mode - Die Verzauberung des Körpers". Das gibt es, wenngleich es nicht die Regel sein dürfte. Im übrigen wird meistens nicht der Körper verzaubert, sondern die Umhüllungen verhüllungsbedürftiger Körper wirken zauberhaft. Sich schön machen - das betriffi: schließlich noch die Enthüllungen des Körpers durch textilarme Kleidung, vornehmlich bei Frauen. Erstens: Man sagt oft, daß Mode heutzutage die Körper kaum noch verhülle. Das triffi: für die meisten Moden nicht zu. Mit gutem Grund angesichts altersbedingter Grenzen, die freilich von vielen Menschen souverän mißachtet werden. Davon abgesehen ist textilarme Mode sehr beliebt und fällt kaum noch auf. Zweitens: Vollständige Nacktheit in der Öffentlichkeit ist bei uns bislang nicht üblich. Nacktheit war beispielsweise in der Nacktkulturbewegung als Rebellion gegen überlieferte und mit allerlei Schamgefühlen behaftete Prüderie anders begründet: der menschliche Körper sei an sich schön, er müsse nicht eigens verhüllt und durch Bekleidung "schön gemacht" werden. Das wird heutzutage weithin anders gesehen. Abschließend ein kleiner Exkurs: Wer religionswissenschaftlich interessiert ist, der kann nur staunen, was das menschlichen Gehirn sich alles auszudenken fähig ist. Es gibt sogar eine Theologie der Nacktheit. Adam und Eva seien vor dem Sündenfall zwar ohne menschliche Bekleidung, aber trotzdem nicht nackt gewesen; denn sie hätten ein "Kleid der Gnade" getragen. Durch den Sündenfall hätten sie das "Glorienkleid" verloren und seien auf Feigenblätter und Tierfelle angewiesen gewesen. Derartige Kleidung sei keine der Gnade, sondern der Sünde. Im zukünftigen Paradies würden die Seligen ein neues Glorienkleid erhalten.
Die nachparadiesische Kleidung als eine Sünde - was für eine Phantasie! Die durch freizügige Kleidung kaum verhüllte Nacktheit verweist jedenfalls nicht auf paradiesische Gnadenkleidung.
Alfred Bellebaum
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b) Aufwand und Ertrag Interessant wäre eine Studie, in der über die Einschätzungen und Bewertungen von Körperarbeit durch Betroffene berichtet würde. In vielen Medien wird das Thema in eher zeitkritischer Manier behandelt. Um Näheres zu erfahren, müßten die unterschiedlichen Arten und Weisen der Körperarbeit bedacht werden. Überzeugte Jogger sind zweifellos hochbefriedigt. Wellness-Kuren erfreuen sich großer Beliebtheit. Krafttraining ist bei vielen Menschen heiß begehrt. Liften der Augenlider befriedigt Leib und Seele. Gewichtsabnahme läßt den schlank gewordenen Menschen jubilieren usw. usf. Was also wäre gegen solche Körperarbeit einzuwenden? Anteilnehmende Kritik ist bei Übertreibungen angebracht. Das betrifft die in operativer Hinsicht wahnhafte Schönheitssucht. Häufige Operationen schon bei jüngeren Mädchen erlauben besorgte Reaktionen. Überzogene Schlankheitsvorstellungen verursachen körperlich-seelische Schäden wie Anorexie oder Bulimie. Muskelaufbau mit Anabolika bleibt gesundheitlich schädlich. Fettabsaugungen haben schon viel Unheil mit sich gebracht. Trotz einer im Ganzen komplexen Situation sind einige verallgemeinernde Thesen beachtenswert. In einer seriösen, inhaltsreichen und abwägenden Studie "Das Versprechen der Schönheit" wird von einem unrealistischen Körperideal, einer wachsenden Zahl von ,,Märtyrern des neuen Kultes" gesprochen, von immer mehr belastenden Frustrationen ... Zugespitzt: "Das unglückliche Bewußtsein, nicht so auszusehen, wie es herrschende Körperideale wollen, scheint unter heutigen Bedingungen neue Leidensqualitäten von geradezu metaphysischer Dimension angenommen zu haben." Das müßte wohl genauer untersucht werden. 16
10. Ästhetik ,,Das Glück der ästhetischen Erfahrung" - dies gilt auch für KörperlKörperlichkeit in bestimmten Ausprägungen. Ästhetik (gr. aisthesis = Empfindung) hat es mit Geschmacksurteilen und deren Begründungen zu tun. Dazu haben bis auf den heutigen Tag zahlreiche Denker viele kontroverse Gedanken zu Papier gebracht. "Schönheit" ist eines der vielen ästhetisch bedeutsamen Themen, wozu auch der menschliche Körper gehört. Deshalb ist der Hinweis auf "ideale oder ästhetische Körperbilder" verständlich, obwohl ästhetische Empfindungen nicht nur mit Idealen/Idealem zu tun haben. Dessen ungeachtet verwundert es nicht, daß eine 16
KörperNormen-KörperFormen, Hofstadler/Buchinger. - Schönheitshandeln, Degele. - Zeitschrift, Focus. Nacktheit, Theologie der Nacktheit, Agamben. - Mode, SelIgmann. - Seriöse Studie, Menninghaus: 274,275, 276.
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wichtige Studie ein längeres Kapitel über Schönheitsarbeit und ästhetische Selbstbegründung enthält. Die in diesem Teil des Buches erzählte Geschichte reicht weit zurück: "Extreme Verehrung physischer Schönheit hat bereits die vermeintliche Leitkultur des westlichen Abendlandes, das antike Griechenland, geprägt." Um was es bei Schönheitsarbeit geht, ist oben dargestellt worden. Im Rahmen medizinischer Körpereingriffe sind Ausdrücke wie "ästhetische Medizin" und "ästhetische Chirurgie" gebräuchlich und erwähnenswert. Hinsichtlich vieler Erwartungen in der modernen Gesellschaft und ihnen gemäßen Verschönerungstechniken ist der Hinweis auf einen "Trend der neuen globalen Normästhetik" sicherlich richtig. Wohlgemerkt ein Trend - denn die Bemühungen der allermeisten Menschen, schön zu sein, haben mit dem gängigen Schönheitsklischee nichts zu tun. 17 Quelle: Bellebaum, A./Herbers, D., Hrsg., Glücksangebote in der Alltagswelt, Aschendorf: Münster 2006
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17
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Alfred Bellebaum
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Alfred Bellebaum
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Der ideale Körper
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Generalisierter oder konkreter Anderer? Gertrud Nunner- Winkler
1. Die Goldene Regel- Grundprinzip einer Minimalmoral Die Goldene Regel ist ein uraltes, in den verschiedensten Kulturen verbreitetes, quasi überall gleichermaßen ,entdecktes' Moralprinzip. In Deutschland ist die auf das Alte Testament zurückgehende Formel gebräuchlich: ,Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andem zu.' Mehrere Momente an dieser Formulierung sind - auch für ein modemes Moralverständnis - bedeutsam: •
Es handelt sich um eine Negativ/ormel: ,Was du nicht willst, ... das tu auch nicht. ' Es gibt auch positive Varianten der Goldenen Regel. So etwa heißt es im Neuen Testament: ,,Alles was ihr wollt, daß euch die Menschen tun, das tut auch ihr ihnen ebenso" (Mt 7,12; ähnlich Lk 6,31). Roche (1998) meint, sich auf Singer (1967) berufend, es gäbe weder logisch noch moralisch relevante Differenzen zwischen diesen beiden Formulierungen, sofern jede Handlung positiv und negativ beschreibbar sei; so etwa sei die Regel ,Du sollst nicht lügen!' gleichbedeutend mit dem Satz ,Du sollst (schweigen oder) die Wahrheit sagen!'. Dies werde ich im Folgenden bestreiten.
•
Es handelt sich - in Kants Terminologie - um eine Rechtsnorm, nicht um eine Tugendpflicht: ... ,daß man dir tu, dasfiig ... keinem zu.' Bezug ist allein das äußere Tun; von Motiven ist keine Rede. Gedankenzensur ist nicht intendiert.
•
Kriterium ist das Wollen des Adressaten: ,Was du nicht willst, ... '. Ursprüngliche Vergeltungsnormen, z.B. ,wie du mir, so ich dir' oder ,Aug' um Auge, Zahn um Zahn', koppeln die eigene Reaktion unmittelbar an des anderen Tat. Die Goldene Regel hingegen unterstellt ein selbstbestimmtes Menschenbild. Weder ruft die Handlung des anderen reflexhaft eine spiegelbildlich identische Antwort hervor, noch ist das eigene Tun ein unwillkürlich spontanes Ausagieren aggressiver Rachegelüste. Vielmehr unterstellt der Imperativ der Goldenen Regel die Fähigkeit zu kognitiver Reflexion und willentlicher Impulskontrolle.
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Gertrud Nunner-Winkler
•
Der Letztbezug auf das Wollen des Adressaten statt auf Gottes Gebot oder prophetische Offenbarungen (, ...Ich aber sage Euch') erweist die Goldene Regel als radikal innerweltliches Moralprinzip.
•
Der Imperativ beansprucht universelle Gültigkeit. Sein Anwendungsbereich ist durch keinerlei konkrete Kontextbedingungen eingegrenzt: Weder Ortsund Zeitangaben, noch Hinweise aufbestimmte Persönlichkeitsmerkmale der Handelnden oder besondere Umstände tauchen auf. So etwa heißt es nicht, ,Juden sollen den Sabbat heiligen' oder ,Katholiken sollen freitags kein Fleich essen'. Vielmehr adressiert das Prinzip mit der direkten Anrede ,du' jedermann und normiert sein Verhalten gegenüber allen. Der Imperativ unterstellt Gleichheit unter den Menschen. Die allgemein gültige Formel sinnt jedem einzelnen an, aus den eigenen Aversionen auf die aller anderen zu schließen. Dies ist nur sinnvoll, wenn angenommen werden kann, daß es einen universell geteilten Konsens darüber gibt, was von Übel ist (was alle rationalen Menschen - prima facie - zu vermeiden wünschen, cf. Gert, 1988). Ein solcher Konsens wiederum kann nur in Merkmalen fundieren, die allen Menschen - unabhängig von kultur- oder epochenspezifischen Unterschieden in Lebensformen oder Deutungsmustern - gleichermaßen zukommen. Sofern es - wie gezeigt werden soll - solche Merkmale tatsächlich gibt, ist der Goldenen Regel Egozentrik nicht anzulasten, wie dies etwa Habermas (1991) - Kant folgend - tut: Habermas sieht diese Egozentrik erst durch den kategorischen Imperativ gebrochen, demzufolge "eine Maxime nur gerecht ist, wenn alle wollen, daß sie in vergleichbaren Situationen von jedermann befolgt wird. Jeder muß wollen können, daß die Maxime unserer Handlungen ein allgemeines Gesetz werde" (Haberrnas, 1991, S. 108).
•
Die Goldene Regel also gebietet universell, Handlungen zu unterlassen, die niemand erleiden wollen würde. Andere hypothetische Moralbegründungsverfahren teilen zugrundeliegende Intuitionen, buchstabieren sie aber expliziter aus. Der kategorische Imperativ etwa stimmt in entscheidenden Bestimmungsmerkmalen mit der Goldenen Regel überein: Die Normen fundieren weder (wie in traditionalen Gesellschaften) in Gottes Willen ("Ich bin der Herr, dein Gott...") noch (wie etwa bei Schopenhauer, 1840/1968) in spontanen Gefühlsreaktionen (Mitleid als Identifikation mit dem Wohl und Wehe des anderen), sondern im menschlichen Wollen. Dieses Wollen wird durch die Reflexion einer einzelnen Person geklärt, die aber stellvertretend für alle Menschen steht. Sie kann dafür stehen, weil und insoweit es aufgrund basaler Gemeinsamkeiten universell geteilte Interessenlagen gibt. Der kategorische Imperativ arbeitet dies deutlicher heraus. Die Formel,Was du nicht willst ... ' nämlich könnte mißdeutet werden, so als sei gemeint, es kön-
Generalisierter oder konkreter Anderer?
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ne einer das eigene faktische - auch das bloß idiosynkratische oder irrationale Wollen zum allgemein geteilten Maßstab machen (etwa als könne der Masochist die Lust am Erleiden von Schmerzen zum Grund dafür nehmen, anderen Schmerzen zuzufügen). Allerdings ist eine solche Lesart ohnedies wenig plausibel. Wie in ethnomethodologischen Untersuchungen überzeugend dokumentiert wird, unterstellen Menschen in ihrer Alltagspraxis eine geteilte Rationalität. Deren Grundprinzip ist die ,Norm der Wechselseitigkeit': Die Mitglieder nehmen wechselseitig voneinander an, daß der andere die Situation in gleicher Weise wahrnehmen würde, wäre er an der eigenen Stelle. Weitere Regeln lauten: ,Objekte sind, was sie scheinen'; ,Kontextwissen ist geteilt'; ,Auf die Klärung zunächst noch vager Äußerungen im Verlaufe der weiteren Gesprächsführung kann vertraut werden'. Diese Basisregeln tragen einen normativen Charakter: Sie werden als verbindlich angesehen und Abweichungen werden unmittelbar mit heftigen Sanktionen geahndet. Zugleich sind sie tief verankert, praktisch unhintergehbar. Sie konstituieren ,Normalität' (vgl. Garfinkel, 1967). Und wie die Attributionsforschung zeigt, wird eine solche Normalität auch von jedem Aktor für die eigene Person ganz selbstverständlich in Anspruch genommen. Gleichwohl hat Kants Formel,Was du nicht als allgemeines Gesetz wollen kannst ... ' den Vorzug, daß sie diese Art von Fehldeutungen explizit ausschließt. Die Vernünftigkeit und Verallgemeinerbarkeit der Willensbildung, die in der Goldenen Regel nur implizit gefordert sind, werden explizit herausgearbeitet. Rawls' (1972) vertragstheoretische Rekonstruktion treibt die Klärung der unterstellten Intuitionen noch einen Schritt weiter. Daß mit dem ,du' in der Goldenen Regel und dem kategorischen Imperativ alle Menschen als gleich angesprochen sind, und daß es universell geteilte Interesse gibt, die die von allen wünschbaren Regelungen fundieren, wird im Verfahren der Konsensbildung unter dem Schleier der Unwissenheit sinnfällig operationalisiert. Normative Gleichheit - nämlich ein gleiches Recht aller, gesetzgebend an der Normfestlegung mitzuwirken - ist im Verfahren selbst enthalten, sofern die Konsensforderung jedem ein Vetorecht einräumt (cf. Dworkin, 1984, S. 288ff.). Empirische Gleichheit, die in geteilten Interessenlagen fundiert, ist in der Erwartung enthalten, Konsens sei erzielbar. Daß die Beteiligten in der Tat über universell gültige ,natural duties' und die aus konkreten Kooperationsbeziehungen erwachsenden spezifischen Pflichten inhaltlich Übereinstimmung erzielen können, wird in Gerts (1988) Ableitung moralischer Regeln aus universellen Fakten und einer geteilten Rationalität noch deutlicher: Anders als Engel sind Menschen verletzlich und von sozialer Kooperation abhängig; anders als Heilige sind sie fähig, aus Eigennutz Mitmenschen zu schädigen. Als rationale Wesen sind sie im Normalfall daran interessiert, daß sie selbst
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Gertrud Nunner-Winkler
und ihnen Nahestehende nicht geschädigt werden. Menschen also sind moralbedürftig. Anders als Roboter oder instinktdeterminierte Tiere können sie die Schädigung anderer aufgrund moralischer Erwägungen unterlassen. Menschen also sind moralfähig. Aus diesen Minimalbestimmungen der condition humaine lassen sich Regeln ableiten, deren allgemeine Befolgung jeder wollen kann. Dies sind zum einen die negativen Pflichten, die andere nicht direkt zu schädigen gebieten (z.B. ,Du sollst andere nicht töten, belügen, der Freiheit berauben ...'). Als bloße Unterlassungen können diese allzeit und allerorten gegenüber jedermann eingehalten werden. Da sie - unabhängig von konkreten Beziehungen allen Menschen allein als Gattungswesen geschuldet sind, bezeichnet Rawls sie als ,natural duties'. Zum anderen sind dies die positiven Pflichten, die gebieten, übernommene Aufgaben getreulich zu erfüllen, d.h. die indirekte Schädigung zu vermeiden, die einer erfährt, wenn seine aus Kooperationsbeziehungen erwachsenden legitimen Erwartungen enttäuscht werden. Die Metanorm lautet: ,Do your duty'. Deren logische Struktur entspricht dem Gebot, gegebene Versprechen zu halten: Als formale Norm ist sie universell; ihre Inhalte hingegen sind (kultur-, epochen-, rollenspezifisch) variabel. Diese positiven Pflichten gelten nur gegenüber Personen, mit denen man in sozialen Beziehungen steht (bzw: denen man - im Fall akuter Nothilfe - der ,Nächste' ist). Negative wie positive Pflichten erachten wir als nur prima facie gültig. Wenn - unparteilich beurteilt - aus der Befolgung einer Regel größerer Schaden erwächst als aus ihrer Übertretung, können Ausnahmen als zulässig gelten. Denn nicht strikter Regelgehorsam per se (wie er etwa einem allmächtigen Gott noch geschuldet war) ist das geteilte rationale Interesse, sondern die Vermeidung von Schädigung. Allerdings besteht Konsens nur darüber, unter welchen Bedingungen Ausnahmen ,öffentlich rechtfertigbar' sein können, nicht aber, ob sie in einer konkreten Situation tatsächlich wünschbar sind. Empirische Prognosen über Folgen und Nebenfolgen nämlich sind strittig und Individuen differieren - zumal in pluralistischen Gesellschaften -legitimerweise in der Bewertung unterschiedlicher Arten von Folgen.
2. Der konkrete Andere - Grundprinzip einer umfassenden Moralkonzeption S. Benhabib (1987) kritisiert - hierin zunächst Habermas folgend - die geschilderten Modi der Normbegründung, sofern sie ausschließlich hypothetisch und (letztlich auch Rawls) monologisch verfahren. Das einzelne Individuum oder aber völlig identische Vertragspartner prüfen die Verallgemeinerbarkeit von Normen, und zwar in hypothetischer Reflexion, stellvertretend für alle als gleich unterstellte
Generalisierter oder konkreter Anderer?
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Gattungsmitglieder, kontextfrei und unter Verzicht aufjedwede individuierenden Informationen. Notwendigfür Moral aber sei - zumindest als Ergänzung, als Erweiterung, als kritisches Korrektiv - der reale Diskurs. Dabei nutzen die Beteiligten alles verfügbare Wissen über den soziohistorischen Entwicklungsstand der Kultur und alle äußeren Situationsbedingungen, über das Alter und Geschlecht, die persönlichen Neigungen und Präferenzen, über die je individuellen Lebensgeschichten aller Beteiligten. Hypothetischer und realer Diskurs modellieren unterschiedliche Perspektiven - die Perspektive des generalisierten bzw. des konkreten Anderen - und begründen einje unterschiedliches Moralverständnis. Unterschiede zeigen sich in der Konzeptualisierung des Subjekts, in den Norminhalten, in den moralischen Grundbegriffen und den moralischen Gefühlen. In der folgenden Tabelle sind die Differenzen zusammengestellt:
Perspektive
Subjektkonzept
Normen
moral. Kategorien
moral. Gefiihle
generalisierter Anderer
vernunftbegabtes Wesen mit al1gemeiner Menschenwürde (definitional identity)
fonnale Gleichheit Rechte, Pflichten, und Reziprozität, Ansprüche öffentliche und institutionel1e Nonnen
Achtung, Verpflichtung
konkreter Anderer
Personen mit biographisch aufgeschichteten Erfahrungen, spezifischen Bedürfnissen, Wiinschen und Motiven (individuated identity)
Bedürfnisgerechtigkeit und komplementäre Reziprozität, private Normen der Freundschaft, Liebe, Fürsorge
Liebe, Fürsorge, Sympathie, Solidarität
Verantwortlichkeit, Bindung, Teilen
Im Modell des generalisierten Anderen hat jeder das Recht, von allen anderen genau das Verhalten zu erwarten, das er selbst ihnen schuldet. Im Modell des konkreten Anderen hat jeder das Recht, solches Verhalten zu erwarten, das ihn in seiner Individualität anerkennt. Die beiden Standpunkte lassen sich tradierten Unterscheidungen zuordnen: Autonomie vs. Fürsorge; Unabhängigkeit vs. Bindung; öffentlicher vs. privater Bereich; Gerechtigkeit vs. gutes Leben; männliche Hegemonie vs. weibliche Erfahrungsaufschichtungen (Benhabib, 1987, S. 86). Die kommunikative Ethik der Bedürfnisinterpretation erlaubt, diese Dichotomien zu überwinden. In ihr wird das Unparteilichkeitsgebot nicht durch das Verfahren der monologisch-
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hypothetischen Rollenübernahme operationalisiert, sondern durch den realen Dialog, in dem die moralischen Akteure sich miteinander verständigen. Ihr Wissen unterliegt dabei keinerlei Beschränkungen (wie sie etwa für die Ursprungssituation gefordert sind). Das Ergebnis der wechselseitigen Abstimmung nämlich - so die Grundannahme - wird umso rationaler sein, je mehr die Beteiligten um ihre konkreten Lebensgeschichten wissen undje eher sie bereit sind, auch ihre spontanen Bedürfnisse - ihre innere Natur - zum Gegenstand gemeinsamer moralischer Reflexion zu machen, statt sie als unveränderlich vorgegebene Bestandteile einer nicht weiter thematisierungsfähigen privaten Konzeption des guten Lebens auszuklammern. Der Vorschlag Benhabibs also läuft darauf hinaus, die (von Männem konzipierte) Gerechtigkeitsmoral des öffentlichen Bereichs zumindest zu ergänzen um die (von Frauen getragene) persönliche Moral der Beziehungen. Er läuft auf eine positive und kontextsensitive Reformulierung der Goldenen Regel hinaus: Nicht länger gilt allein,Was du nicht willst ..., das tu auch allen andern nicht', vielmehr gilt darüber hinaus: , Tu jedem das, was dieser nach der diskursiven Klärung seiner ,wahren' Bedürfnisse angetan haben will. ' Ich möchte im Folgenden behaupten, daß der Standpunkt des konkreten Anderen zwar für soziale Kompetenz und das Gelingen von Interaktionsbeziehungen - nicht aber für Moral- konstitutiv ist. Ich halte damit auch an der Unterscheidung von Moral als Inbegriff allgemein verbindlicher Regeln und Prinzipien und dem guten Leben als Gegenstand der persönlichen Entscheidungsfreiheit fest. Zur Begründung meiner Position werde ich moralphilosophische Argumente wie auch empirische Forschungsergebnisse über alltagsweltlich geteilte Moralvorstellungen heranziehen. Ich will die Debatte auf drei strittige Punkte fokussieren: auf die Frage nach dem Kontextbezug und den Wissensvoraussetzungen moralischer Entscheidungen, aufdie moralische Bedeutung von Fürsorge und Liebe und schließlich auf das Verhältnis von positiven Pflichten und persönlichem Entscheidungsspielraum.
3. Kritik an der Moral des konkreten Anderen
3.1 Kontextbezug Kontextwissen hat unterschiedliche Funktionen für Moral. Im einfachsten Falle geht es um das unerläßliche Minimalwissen über konkrete Situationsbedingungen, das die Anwendbarkeit einer vorweg klar definierten und konsentierten moralischen Kategorisierung auf den konkreten Einzelfall zu klären erlaubt. An einem Beispiel sei dies illustriert. In abstracto gilt: ,Lügen ist falsch. ' Die Geltung dieser Norm ist unter Rekurs auf den generalisierten Anderen begründet. Niemand kann
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wollen, daß jedennannjederzeit, wenn es ihm nur nützlich dünkt, die Unwahrheit sage, denn er trüge so dazu bei, daß Aussagen überhaupt keinen Glauben mehr finden (vgL Kant, 1785/1979, S. 638). In concreto mag sichjedoch die Frage erheben: Ist der Satz, den ich hier und jetzt dir gegenüber äußere, eine Lüge, ein Täuschungsversuch, ein Irrtum, eine scherzhafte Übertreibung? Diese Frage kann nur in Kenntnis des objektiven Sachverhalts (ist der Satz wahr oder unwahr?), meines Wissensstands (weiß ich, daß der Satz unwahr ist?), meiner Absicht (will ich dich täuschen?), deines Wissensstandes (hast du Kenntnis über den Sachverhalt?) und deiner Haltung mir gegenüber (hältst du mich für glaubwürdig?) entschieden werden. Nur um diese triviale Nutzung von Kontextwissen geht es, wenn Benhabib in ihrem Plädoyer für den Standpunkt des konkreten Anderen argumentiert: "Wie soll ich denn zwischen einem Vertrauensbruch und einem harmlosen Versprecher unterscheiden, ohne deine Geschichte und deinen Charakter zu kennen." (1987, S. 90) "Trivial" ist diese Nutzung von Kontextwissen, sofern es hier nicht um ein moralspezifisches Problem geht. Auch bei naturwissenschaftlichen Kategorien mag die Anwendbarkeit auf konkrete Exemplare strittig sein. So etwa gibt es mehrere jeweils eindeutige Kriterien zur Definition der Kategorie männlich/weiblich (z.B. eine bestimmte Genkombination, bestimmte Hormone, primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale); gleichwohl mag im Einzelfall (etwa bei einem Zwitter) eine eindeutige Zuordnung Schwierigkeiten bereiten. Eine solche konkrete Unentscheidbarkeit im Einzelfall aber begründet so wenig eine Revision des Kriterienkatalogs oder Zweifel am Nutzen der Kategorienbildung wie die Dämmerung die Unterscheidung von Tag und Nacht problematisiert. Auch relativieren solche Probleme Moral nicht. Die primäre Funktion von Moral ist die Vorgabe verbindlicher Regeln oder Maximen. Aus der Innenperspektive des Handelnden bereitet die Einhaltung etwa der negativen Pflicht ,du sollst nicht lügen' keine weiteren Schwierigkeiten. Der Wille, andere nicht täuschen zu wollen, ist vorrangig und zumeist hinreichend. Die Diagnose der moralischen Verläßlichkeit des konkreten Anderen ist eine nur abgeleitete Funktion von Moral. Auch hier jedoch erwächst aus empirisch mehrdeutigen Fällen kein wirklich gravierendes Problem; schließlich sind in realen Beziehungen die Indikatoren für moralische Verläßlichkeit hoch redundant. Die Notwendigkeit der Einführung einer eigenständigen Moral des konkreten Anderen also ergibt sich aus diesem Kontextbezug nicht. Eine ganz andere und bedeutsamere Funktion gewinnt Kontextwissen bei der Frage, ob in einem gegebenen Dilemma eine gültige Norm übertreten werden dürfe, um größeren Schaden zu vermeiden. Dies setzt natürlich voraus, daß überhaupt Ausnahmen als rechtfertigbar gelten. Kant hat das für negative Pflichten bestritten. Die Frage, ob man einen Mörder belügen dürfe, um den eigenen Freund zu
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retten, verneint er klar: "Wahrhaftigkeit ist eine Pflicht, ... die ihrem Wesen nach keiner Ausnahme fähig ist, weil sie sich in dieser geradezu widerspricht" (Kant, 1785/1979, S. 642); "es ist ... ein heiliges, unbedingt gebietendes, durch keine Konvenienzen einzuschränkendes Vernunftgebot: in allen Erklärungen wahrhaft (ehrlich) zu sein" (ebda, S. 639). Nun muß man Kants Rigorismus keineswegs - wie dies Böhme und Böhme (1992) tun - als Produkt eines Abwehrvorganges bloß kausal erklären. Sehr wohl läßt sich Kants Intention auch verstehen. Um dies an einem von Gert (1988) diskutierten Beispiel zu illustrieren: Ist kein absoluter Verlaß darauf, daß der Arzt auf ernsthaftes Befragen selbst dem todkranken Patienten die Wahrheit sagt, so vermöchten auch positive Versicherungen keine Beruhigung mehr zu stiften und quälende Zweifel sind prinzipiell nicht zu zerstreuen. Gleichwohl aber verstehen wir heute dieses Beispiel nur als Sonderfall. Im allgemeinen gehen wir davon aus, daß die Übertretung auch negativer Pflichten nicht nur zulässig sein kann, sondern zuweilen gar geboten ist. Ich will diese Behauptung zunächst durch zwei empirische Forschungsergebnisse belegen. Das erste entstammt einer längsschnittlichen Analyse der Entwicklung des Moralverständnisses von Kindern (vgl. dazu ausführlicher NunnerWinkler, 1996; 1998). Kinder nämlich - da sie ihr moralisches Wissen an den in ihrer Lebenswelt geübten sozialen Praktiken ablesen - können als zuverlässige Infonnanten über unsere tatsächlich gelebten Überzeugungen gelten. Im Alter von 10-11 Jahren wurden die Kinder um die moralische Bewertung des Bruchs eines Versprechens gebeten (am Tag nach dem Fest gemeinsam mit den anderen Klassenkameraden aufzuräumen), der einmal erfolgte, um ein hedonistisches Bedürfnis zu befriedigen (z.B. mit Freunden schwimmen zu gehen); ein anderes Mal, um eine kollidierende moralische Nonn zu erfüllen (ein kleines Kind, das sich verirrt hatte, nach Hause zu bringen). Wie sich zeigte, halten weit über 90% der Kinder es für falsch, das Versprechen um hedonistischer Bedürfnisse willen zu brechen, hingegen für geboten, wenn es gilt, das Kind nach Hause zu bringen ("es ist schlimmer, wenn das Kind und seine Eltern sich ängstigen, als wenn die anderen ein wenig mehr arbeiten müssen. Die anderen werden das verstehen - an meiner Stelle würden sie genau so handeln"). Der zweite Beleg ist meinem Forschungsprojekt "Moralvorstellungen im Wandel" entnommen, bei dem moralisches Urteilen und Modi moralischer Motivation im Generationenvergleich an 300 65-75jährigen und 40-50jährigen und 20-30jährigen repräsentativ ausgewähten Probanden untersucht wurden. Einleitend wurde das Moralverständnis offen exploriert ("Was verstehen Sie unter Moral?, Können Sie mir ein Beispiel für unmoralisches Verhalten nennen?"). Eine Analyse der angeführten Beispiele zeigt, daß die älteren Befragten überwiegend (fast 2/3 im Ver-
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gleich zu nur 1/3 der jüngeren) abstrakt Regelübertretungen benennen (z.B. stehlen, lügen, ehebrechen, nackt auf der Straße rumlaufen, auf der Straße krakeelen), während die jüngeren Befragten die Übertretung mehrheitlich in einen konkreten Kontext einbetten (z.B. jemandem etwas wegnehmen, der selbst nichts hat; den besten Freund belügen; seine Frau betrügen und ihr ewige Liebe schwören) (vgl. ausführlicher Nunner-Winkler, 2000; Nunner-WinklerlNikele, 2001). Die Kontextuierung der Beispiele indiziert - so meine ich -, daß die jüngeren Befragten eine Übertretung nicht mehr per se zwingend als verwerflich ansehen - sie denken die Möglichkeit von Ausnahmesituationen quasi immer mit (es könnte sichja um Mundraub, eine Notlüge oder aber um ein beidseitig akzeptiertes eheliches Arrangement handeln). Die Eindeutigkeit der Verwerflichkeit also ist nur durch die Angabe verschärfender Bedingungen zu sichern (dem Ärmsten zu nehmen ist immer falsch; dem besten Freund ist absolute Wahrhaftigkeit geschuldet; eine explizite Täuschung ist immer verwerflich). Die Daten zeigen, daß zumal die nachwachsenden Generationen Ausnahmen von moralischen Regeln unter bestimmten Bedingungen für zulässig, ja gar geboten erachten. Es hat sich also seit Kant - dem die älteren Befragten noch näherstehen - ein Wandel von der traditionalen Gesinnungsethik zu einer modemen Verantwortungsethik (Weber, 1956) vollzogen. Der Grund dürfte ein tiefgehender Säkularisierungsprozeß sein, in dessen Verlauf das Schicksal "depotenziert" wurde (Marquard, 1981). Kant etwa erläutert, daß der Handelnde die "strengste Pflicht zur Wahrhaftigkeit (habe) ... mag (sie) nun ihm selbst oder anderen schaden" (1785/1979, S. 641) durch den Hinweis: "Er selbst tut ... hiermit dem, der dadurch leidet, eigentlich nicht Schaden, sondern diesen verursacht der Zufall" (ebda). Hinter dieser Formulierung steht wohl das Vertrauen in Gott, der die Welt weise und gütig so eingerichtet hat, daß den Seinen letztendlich (und sei es im Himmel) alles zum Besten gerate. Dieses Vertrauen ist zwischenzeitlich weitgehend erodiert. Und sofern Moral nicht länger in Gottes Wort, sondern in universell geteilten wohlverstandenen Interessen fundiert, gewinnt (innerweltliche) Schadensminimierung Vorrang vor getreulichem Regelgehorsam. Mit der Durchsetzung einer verantwortungsethischen Orientierung also sind Ausnahmen - im Prinzip - zulässig. In jedem einzelnen Dilemma aber ist konkret zu entscheiden, ob unter den gegebenen Bedingungen die Befolgung oder Übertretung der involvierten Norm ,besser' ist. Dies erfordert Prognosen über Folgen und Nebenfolgen und deren Bewertung. Hier ist der Ort für den realen Diskurs. Empirische Erwartungen können einer intersubjektiven Validierung unterzogen, differierende spontane Bewertungen können ausgetauscht und im Lichte besserer Argumente verändert werden. Dies erhöht die Chance, daß bestmögliche Kompromisse ausgehandelt werden.
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Für solche Debatten ist natürlich die von Benhabib geforderte Nutzung aller verfügbaren Infonnationen essentiell. Kontextwissen hat in den beiden diskutierten Fällen eine unterschiedliche Funktion. Im ersten Fall geht es um die Frage, ob ein gegebener Sachverhalt unter eine moralisch eindeutig definierte Kategorie zu subsumieren ist oder nicht (wußte X, daß seine Behauptung falsch war, und hat er also gelogen oder wußte er es nicht und hat sich einfach geirrt?). Kontextwissen hat hier eine rein deskriptiv-diagnostische und keine moralspezifische Bedeutung. Dies ist anders im zweiten Fall. Hier geht es darum, ob ein in abstracto eindeutig als Unrecht zu qualifizierendes Verhalten in concreto aufgrund bestimmter Randbedingungen dennoch vertretbar ist. Bei dieser Fragestellung hat Kontextwissen eine unmittelbar moralisch relevante handlungsleitende Funktion. Gleichwohl folgt aber auch aus diesem Fall keine eigene Moral des konkreten Anderen. Für beide bislang diskutierten Nutzungsarten von Kontextwissen nämlich ist Benhabibs Zuordnung von Kontextbezug zum persönlichen bzw. Kontextfreiheit zum öffentlichen Bereich unhaltbar. Nicht nur im Rahmen der ,interaktiven' Moral, auch im öffentlichen Leben wird sich sowohl die Frage stellen, ob eine Handlung unter ein bestimmtes moralisches Verdikt fällt (z.B. hat Politiker X gelogen, als er Z behauptete?) bzw. ob in einer gegebenen Situation eine Ausnahme von einer unstrittigen Nonn rechtfertigbar ist (z.B. ist unter den gegebenen Bedingungen der Tyrannenmord legitimierbar?). Der folgende dritte Fall einer Nutzung von Kontextwissen ist in der Tat spezifisch für den privaten Bereich. Es geht um das Problem, den aus der moralischen Perspektive des konkreten Anderen abgeleiteten ,Nonnen der Freundschaft, Liebe und Fürsorge' gerecht zu werden. Diese fordern, den anderen nicht nur in seiner allgemeinen Menschenwürde zu achten, sondern auch als individuierte Persönlichkeit mit ganz spezifischen Bedürfnissen, Begabungen und Fähigkeiten anzuerkennen. Gefragt also ist nicht nur die Erfüllung universeller oder rollenspezifischer Pflichten, sondern auch die Bereitschaft, hochindividuierte Bedürfnisse anderer wahrzunehmen, Verantwortlichkeiten zu übernehmen, sich an andere zu binden, mit ihnen zu teilen; gefordert sind nicht nur Achtung und Pflichtgefühl, sondern auch Liebe und Anteilnahme, Sympathie und Solidarität. Natürlich kann den konkreten Anderen in seiner Einzigartigkeit nur würdigen, anerkennen und lieben, wer ihn kennt und weiß, was ihm persönlich wichtig ist, wie er denkt und fühlt und wie dies aus seiner Lebensgeschichte heraus verstehbar oder erklärbar ist. An diesem Punkt stellt sich allerdings die Frage nach der moralischen Relevanz solch individuierten Kontextwissens. Benhabib selbst argumentiert widersprüchlich. Zunächst führt sie den Standpunkt des konkreten Anderen als ,mora-
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lische Perspektive' ein und leitet daraus moralische Normen ab (Benhabib, 1987, S. 86). Sie relativiert diese Position, wenn sie ihm dann eine nur kritische, nicht aber präskriptive Funktion zuschreibt (S. 92), um schließlich doch seine Integration in den moralischen Diskurs anzumahnen (nur auf diese Weise nämlich - so ihre weitere Argumentation - sei die Unterdrückung der Frau aufzuheben). Diese These einer durch die Perspektive des konkreten Anderen konstituierten Moral für den privaten Bereich will ich im folgenden bestreiten. Zunächst will ich zu zeigen versuchen, warum Fürsorge und Sympathie keine eigene Moral stiften. Sodann möchte ich begründen, inwiefern Freundschaft nicht angemessen als moralisch normierte Institution zu verstehen ist.
3.2 Fürsorge vs. Pflicht Der Perspektive des generalisierten Anderen sind Pflicht und Achtung, der Perspektive des konkreten Anderen Liebe, Fürsorge und Sympathie zugeordnet. Diese Dichotomisienmg von Pflicht versus Fürsorge als zentrale Momente einer öffentlichen bzw. privaten Moral basiert auf der Konfundienmg des Inhalts einer Norm mit ihrer Begründung. Ich will die These der Unabhängigkeit von Inhalt und Begründung einer Norm anhand von Ergebnissen aus dem Generationenvergleich erläutern. Den Befragten wurden potentiell moralisch relevante Konfliktsituationen vorgelegt, zu denen sie wertend Stellung nehmen sollten, u.a. folgende: Berufstätige Mutter: ,Eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern möchte ganztags arbeiten. Ihr Mann verdient so viel, daß die Familie davon gut leben kann.' Scheidung: ,Das Ehepaar Z ist seit vielen Jahren verheiratet; sie überlegen, sich scheiden zu lassen'. Ehebruch: ,Herr XlFrau X ist seit mehreren Jahren verheiratet. Vor kurzem hat er/sie eine sexuelle Beziehung mit einer Arbeitskollegin/einem Arbeitskollegen aufgenommen' . Alle Situationen entstammen dem häuslich-privaten Bereich. In allen Konflikten geht es um Beziehungen zwischen konkreten Anderen, die wechselseitig um ihre Lebensgeschichten und spezifischen Verletzlichkeiten, um ihre individuellen Bedürfnisse und Wünsche wissen. Wie beurteilen die Befragten die vorgelegten Handlungsweisen? Insbesondere bei den beiden ersten Vorgaben zeigt sich ein Liberalisienmgsschub über die Kohorten hinweg: Die älteren Befragten, vor allem die Frauen, verurteilen das fragliche Verhalten stärker. Der Ehebruch hingegen wird auch von vielen der jüngsten Befragten noch scharf verurteilt - es sei denn, es handle sich um ein offenes, von beiden Partnern akzeptiertes Arrangement. Bevor dieser inhaltliche Einstellungswandel diskutiert wird, seien zunächst die Begründungen für die Verurteilungen dargestellt.
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Diese lassen sich fast vollständig zwei Hauptkategorien zuordnen: deontologischen bzw. fürsorglichen Argumenten, z.B. Orientierung an den Pflichten der Handelnden bzw. an den Konsequenzen, die den anderen Beteiligten aus diesen Handlungen erwachsen. Einige Beispiele mögen diese Unterscheidung illustrieren. Bei der mütterlichen Berufstätigkeit wurden Antworten wie: ,Sie vernachlässigt ihre Pflichten; versäumt ihre Aufgaben; sie soll sich um die Kinder kümmern' als ,deontologisch', Antworten wie: ,Die Kinder leiden; brauchen die Mutter; brauchen Sicherheit; ihre Schulsituation verschlechtert sich; sie werden Trinker oder Kriminelle' als ,fürsorglich' eingestuft. Im Falle der Scheidung geht es um Begründungen wie: ,Man hat sich Treue geschworen; die haben sich ihr Wort gegeben; das Eheversprechen muß man halten' im Vergleich zu: ,Lang ist man gut genug, dann wird man plötzlich abgeschoben; das geht nicht - den anderen einfach sitzenzulassen' . Beim Ehebruch lauten die kontrastierenden Antworten: ,Ehe fordert Treue; das ist ein Vertrauensbruch; der hintergeht den anderen' versus: ,Das tut dem anderen weh; das verletzt den anderen; das zerstört die Familie'. Interessant nun ist die Verteilung der Antworten auf diese beiden Kategorien. Über die Generationen hinweg zeigt sich, daß die überragende Mehrheit derer, die die betreffende Handlungsweise verurteilen, dies mit deontologischen und nicht mit fürsorglichen Erwägungen begründen. Daß es falsch ist, als Mutter mit kleinen Kindern einem Berufnachzugehen, sich scheiden zu lassen oder Ehebruch zu begehen, wird nicht primär aus den Folgen für andere, sondern aus den Pflichten des Handelnden abgeleitet. Auch der private Bereich - die Frage der K.inderversorgung und der Gestaltung der ehelichen Beziehung - ist also nicht durch personbezogene Gefühle, sondern durch intersubjektiv verbindliche Normen geregelt: Mütter haben die Pflicht, die ihnen zugeschriebenen Erziehungsaufgaben getreulich zu erfüllen; Ehepartner haben die Pflicht, das einmal gegebene Eheversprechen zu halten und den anderen nicht heimlich zu hintergehen. Der inhaltliche Einstellungswandel, der sich über die Generationen hinweg zeigt, ist Korrelat nicht eines Wandels in der Normbegründung, sondern eines Wandels in den sozialen Institutionen. Auch die jüngeren Befragten gehen davon aus, daß es eine Pflicht gibt, Kinder zu versorgen - sie brechen nur die askriptive Zurechnung dieser Pflicht an die Mutter auf und lassen funktionale Äquivalente der Aufgabenerfüllung zu (z.B. auch der Ehemann, die Großeltern, die Tagesmutter, die Kinderkrippe können einspringen). Die höhere Akzeptanz von Scheidung bei den Jüngeren spiegelt einen Wandel in der sozialen Funktion von Ehe wider. Sie ist nicht länger primär eine ökonomische Institution (vgl. Rosenbaum, 1982), sondern dient als ,sozioemotionale Reparaturwerkstatt', in der die Person, die sich im öffentlichen Leben als in vielfältige Rollen aufgesplittert erfährt, als Ganzes aner-
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kannt zu werden hofft. Kann eine Beziehung diese Funktion wechselseitiger emotionaler Stabilisierung nicht mehr erfüllen, dann hat sie sich quasi selbst aufgelöst. Keineswegs aber bedeutet dies eine Entmoralisierung persönlicher Beziehungen. Im Gegenteil: War früher die Ehe als soziale Institution zusätzlich auf rechtliche und konventionelle Normierungen abgestützt (und die Lebbarkeit durch eine weitgehende, stillschweigende Akzeptanz der - wenigstens von den Männern beanspruchten - Doppelmoral erhöht), so wird heute, da die Ehe nur durch das Gelingen der Beziehung selbst konstituiert wird, das wechselseitige Vertrauensverhältnis, und das heißt die universelle Norm der Wahrhaftigkeit zur notwendigen Voraussetzung für die längerfristige Stabilisierung. Auch im privaten Bereich also gelten universelle Normen - die Pflicht, Kinder zu versorgen, Versprechen zu halten bzw. wahrhaftig zu sein. Dieser im alltagsweltlichen Moralverständnis verankerte Vorrang einer deontologischen (d.h. aus der Perspektive des generalisierten Anderen abgeleiteten) vor einer konsequenzenorientierten (d.h. aus der Perspektive des konkreten Anderen abgeleiteten) Begründung auch der persönliche Beziehungen regulierenden Normen hat im übrigen moralphilosophische Vorzüge. Er erlaubt zum einen, den Normen eine - empirische Kontingenzen transzendierende - allgemeine Verbindlichkeit zuzuschreiben. Zählten allein die Folgen, so könnten unentdeckte Vergehen nicht mehr als Unrecht gelten (das heimliche Hintergehen des Partners etwa wäre völlig in Ordnung - als Unwissender litte dieser ja nicht). Zum anderen ermöglicht er, legitime von illegitimen Schmerzzufügungen zu unterscheiden (das Leiden der Mutter unter Verlustängsten etwa sollte den Sohn von der geplanten Eheschließung nicht abhalten). Unstrittig ist, daß einige Normen im privaten Bereich Fürsorglichkeit gebieten. Unterschiede in den Norminhalten aber konstituieren keine je spezifischen Sondermoralen. So erwarten wir zwar vom BfÜckenbauer besondere Sorgfalt und vom Steuerbeamten absolute Unbestechlichkeit, aber eine eigene Sorgfaltsmoral für BfÜckenbauer oder Unbestechlichkeitsmoral für Steuerbeamten leiten wir daraus nicht ab. In gleicher Weise erwarten wir zwar eine besondere Fürsorglichkeit von Eltern für ihre Kinder oder von Partnern füreinander - eine eigenständige Fürsorglichkeitsmoral im privaten Bereich folgt daraus jedoch keineswegs.
3.3 Freundschaft - eine Institution des moralischen oder des persönlichen Bereichs? Bislang wurde zweierlei gezeigt. Zum einen, daß auch im privaten Bereich die universellen Normen der Pflichterfüllung und Wahrhaftigkeit Gültigkeit haben, zum anderen, daß dort die formale Metanorm der Pflichterfüllung inhaltlich Fürsorglichkeit erfordern kann. Ein zentraler Punkt der Benhabib'schen Moralkonzepti-
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on ist allerdings noch nicht behandelt: Die These, es gäbe moralische Normen der Freundschaft und der Liebe, die gebieten, den anderen nicht allein als Gattungswesen in seiner allgemeinen Menschenwürde zu achten, sondern als einzigartige Person in seiner individuierten Besonderheit anzuerkennen. Die Frage lautet: Ist die liebende Anteilnahme an den je spezifischen Bedürfnissen und Wünschen des konkreten Anderen, ist das Verständnis für deren Verwurzelung in frühkindlichen Erfahrungen und Phantasien, ist deren diskursive Bearbeitung wirklich - wie Benhabib (1987, S. 94) behauptet - Teil von Moral? Ich möchte diese Frage verneinen. Zwar dürfte unstrittig sein, daß Beziehungen in dem Maße gelingen, in dem die Beteiligten wechselseitig um ihre je individuellen Sehnsüchte, Ängste und Schwächen wissen und sich empathisch ineinander einzufühlen vermögen; auch scheint unstrittig, daß der Wunsch, als je einzigartige Person anerkannt, geschätzt, geliebt zu werden, ein universeller Wunsch ist. Gleichwohl läßt sich füglich bezweifeln, daß es moralisch geboten sei, Empathie mit dem konkreten Anderen zu empfinden und ihn liebend anzuerkennen. Freundschaftsbeziehungen werden freiwillig eingegangen, um ganz verschiedenartige persönliche Wünsche zu erfüllen (z.B. gemeinsame Unternehmungen, Verfolgen geteilter Interessen, Austausch über persönliche Probleme, vgl. Krappmann, 1993). Sie sind durch einen einmaligen ,Vertrag' (z.B. Blutsbrüderschaft) nicht auf Dauer zu stellen. In dem Maße, in dem Interessen sich verschieben, Personen sich auseinanderentwickeln, Verständigung nicht mehr gelingt, lösen sich diese Beziehungen auf. Freundschaften bestehen, solange und insoweit die Beteiligten fähig und willens sind, die Bedürfnisse und Perspektiven des anderen wahrzunehmen und sich dafür zu interessieren. Sie enden, wenn dies nicht länger mehr gelingt oder erstrebt wird. Wir rechnen die Wahl von Freunden und die konkrete Ausgestaltung von Freundschaft - und zwar schon bei Kindern (11) - dem persönlichen Bereich zu (vgl. Nucci, 2000). Im persönlichen Bereich genießt das Individuum Entscheidungsfreiheit, die allein durch universelle Normen begrenzt ist. Im Fall von Freundschaftsbeziehungen sind dies etwa Achtung vor der Person, die den anderen nicht allein als Mittel zu nutzen gebietet, Wahrhaftigkeit, Dankbarkeit. Gibt es gleichwohl jenseits der persönlichen Wahl- und Gestaltungsfreiheit konkreter Freundschaftsbeziehungen eine allgemeine Norm, daß Freundschaft überhaupt zu pflegen sei? Kant bejaht diese Frage. Freundschaft ist eine ,ehrenvolle Pflicht'. Der Mensch nämlich ist "ein für die Gesellschaft bestimmtes (obgleich zwar doch auch ungeselliges) Wesen und ... fühlt mächtig das Bedürfnis, sich anderen zu eröffnen" (Kant, 1785/1979, S. 611), und kann er sich jemandem anvertrauen, so ist er "mit seinen
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Gedanken nicht völlig allein wie im Gefängnis und genießt eine Freiheit, die er in dem großen Haufen entbehrt, wo er sich selbst verschließen muß" (ebda, S. 612). Allerdings zählt bei Kant die Pflicht zur Freundschaft zu den,weiten Pflichten', :für deren Erfüllung es "unmöglich (ist), bestimmte Grenzen anzugeben: Wie weit das gehen könne, muß jeder selbst bestimmen" (ebda, S. 524). Dies gilt insbesondere im Falle einer Kollision mit weiten Pflichten gegen sich selbst, z.B. der Pflicht zur Vervollkommnung der eigenen Geistes-, Seelen- und Leibeskräfte: "In welchen Proportionen sich die (unterschiedenen weiten Pflichten) zu eigen zu machen Pflicht ist, bleibt der vernünftigen Überlegung überlassen - in Ansehung der Lust zu einer Lebensart und Schätzung der eigenen Kräfte" (ebda, S. 581). Bei K.ant also bleibt es dem Urteilsvermögen des einzelnen überlassen, wie er die (angesichts begrenzter Zeit-, Kraft- undAufmerksamkeitsressourcen) einander widerstreitenden weiten Pflichten, die er sowohl anderen wie auch sich selbst schuldet, miteinander ausbalanciert, in welcher Weise er beiden Geboten Rechnung zu tragen sucht: der allgemeinen Liebespflicht, die die teilnehmende Empfindung "an dem Zustande des Vergnügens sowohl als Schmerzens anderer" (S. 513) gebietet, und der "Pflicht, der Welt ein nützliches Glied zu sein" (ebda, S. 581), die die eigene Selbstvervollkommnung gebietet. Nun ist in der Modeme das Konzept der Pflichten gegen sich selbst weitgehend erodiert. Die von Kant darunter subsumierten Fragen werden zunehmend nicht mehr allgemein verbindlich geregelt, sondern als Fragen des guten Lebens dem persönlichen Bereich zugerechnet. Das giltfür die negativen wie die positiven Pflichten gegen sich selbst. ,Selbstschändung' etwa, die Kant als Übertretung einer strikten Pflicht gegen sich selbst ansah, sofem "der Mensch seine Persönlichkeit dadurch (wegwerfend) aufgibt, indem er sich bloß zum Mittel der Befriedigung tierischer Triebe braucht" (ebda, S. 558), ist heute schon als Begriff- und zwar ersatzlos - aus unserem Sprachgebrauch entschwunden. Auch Selbstmord vordem ein Vergehen, das strafwürdig war, wenn der Versuch scheiterte und die Verweigerung einer kirchlichen Bestattung nach sich zog, wenn er gelang - wird nicht mehr als per se verwerflich angesehen. Unter bestimmten Ausnahmebedingungen (etwa bei unheilbarer Krankheit) gilt er vielen als rechtfertigbar; einige beanspruchen gar ein ,Recht auf Freitod'. Auch Selbstvervollkommnung gilt zunehmend weniger als moralische Pflicht denn als Klugheitsgebot. Anhand eines Ergebnisses aus dem Generationenvergleich sei dies belegt. Den Befragten wurde folgendes ltem vorgelegt: ,Der Schüler K. ist hochbegabt, aber er tut einfach nichts'. Zwar mißbilligten sehr viele (66% der jüngsten, 79% der ältesten Befragten) K's Verhalten; eine kategorische moralische Verurteilung ist dies aber zumeist nicht. Nur bei 9,4% der Jüngsten bzw. 13% der Ältesten klingt die Vorstellung ei-
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ner Pflicht gegen sich selbst an (z.B. ,jeder hat die Pflicht aus seiner Begabung etwas zu machen') und nur 3,6% bzw. 7% begreifen Talententfaltung als Pflicht gegen andere (z.B. ,es geht nicht, auf Kosten anderer zu leben; mit seiner Leistungsfähigkeit könnte er auch was für die Gesellschaft tun'). Die meisten begründen ihre Verurteilung mit pragmatischen Erwägungen (31 % bzw. 38% - z.B. ,er versaut sich seine ganze Zukunft; das ist nicht gut für seinen späteren Lebenslauf). Die restlichen Befragten (28% bzw. 20%) geben Erklärungen ab oder führen Entschuldigungen an (z.B. ,er ist unterfordert; steht unter zu großem Druck; hat persönliche Probleme'). Es ist naheliegend, diesen Wandel als Korrelat von Säkularisierung und Industrialisierung zu sehen: Im Konzept der Pflichten gegen sich selbst schwingt noch die Vorstellung mit, die eigenen Fähigkeiten seien ein Geschenk Gottes, dem gegenüber man für deren optimale Nutzung verantwortlich ist. Hingegen wird mit dem Abbau ständischer Strukturen die Entfaltung eigener Talente direkt an die eigenen Interessen gekoppelt: In einer offenen Gesellschaft wird - wenigstens idealiter - jeder nach Maßgabe seines Einsatzes entlohnt. Das Streben nach Einkommenserhöhung und Statusgewinn, nach sozialer Anerkennung oder der Chance, sich aktiv an der Gestaltung des sozialen Lebens zu beteiligen, gilt als hinreichend, um Anstrengungsbereitschaft zu stiften - einer zusätzlichen Moralisierung bedarf es nicht mehr. In dem Maße nun, in dem die Pflichten gegen sich selbst aus dem Katalog moralisch verbindlicher Pflichten herausfallen - also nicht mehr als legitimes Gegengewicht gegen eine potentielle Überforderung durch die weiten positiven Pflichten gegen andere fungieren können - verschieben sich auch letztere aus dem Bereich der Moral in den Bereich der persönlichen Entscheidungsfreiheit. Die dahinter stehenden moralischen Intuitionen sind - was ihren Inhalt anlangt - so weit von denen Kants gar nicht entfernt: Bei Kant, wie im modemen Alltagsverständnis, ist dem Individuum selbst - seinem Urteilsvermögen bzw. seiner Entscheidungsfreiheit - anvertraut, wie es die positiven Pflichten ausbalanciert, also in welchem Umfang es sein Leben etwa der tätigen Anteilnahme am Wohl und Wehe konkreter Anderer oder der Vervollkommnung eigener Talente bzw. der Verfolgung gesellschaftlich nützlicher (wissenschaftlicher, künstlerischer etc.) Projekte widmen will. Geändert hat sich allerdings die unterstellte Motivation: nicht Pflichterfüllung, sondern der Wunsch nach Authentzität und Spontaneität bzw. eigene Wertbindungen oder Nutzenkalküle motivieren die Pflege sozialer Beziehungen bzw. die eigene Talententfaltung und Projektwahl.
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4. Plädoyer für eine Minimalmoral Die von Kant unter dem Konzept der weiten Pflichten gegen sich selbst behandelten Fragen werden also in der Modeme dem persönlichen Entscheidungsspielraum zugerechnet. Damit werden auch die weiten Pflichten gegen andere- nun, da die Möglichkeit ihrer legitimen Eingrenzung unter Rekurs auf die Pflichten gegen sich selbst entfallt - entmoralisiert. Freundschaft überhaupt zu pflegen gilt nicht länger als moralisches Gebot. Und jede konkrete Beziehung will der Einzelne als spontan und freiwillig eingegangen und aufrechterhalten verstehen. Sofern diese Überlegungen triftig sind, gibt es also über die universellen Gebote der Achtung, Wahrhaftigkeit und Dankbarkeit hinaus keine zusätzlichen Freundschaftspflichten, etwa individuierteAnerkennungs- und Verstehenspflichten. Freundschaft konstituiert sich durch gelingende Verständigung, wechselseitige Wertschätzung und Bedürfnisbefriedigung. Sind diese nicht gewährleistet, besteht die Beziehung nicht. Sind sie jedoch erfüllt, so ist damit die Moralität der Beziehung keineswegs verbürgt - auch einseitige Ausbeutungs- und Unterwerfungsverhältnisse können von den Beteiligten als wünschbar erfahren werden. Einerseits also ist eine Beziehung nur aus der Perspektive des generalisierten Anderen moralisch zu beurteilen; andererseits implizieren die individuierten Erwartungen konkreter Anderer keine moralischen Verpflichtungen. Die Rede einer eigenständigen Moral des konkreten Anderen ist also verfehlt. Darüber hinaus - so die im Folgenden zu begründende These - ist sie auch schädlich. Die Ausweitung von Moral auch auf Entscheidungen und Verhaltensweisen, die wir im Alltagsleben dem persönlichen Bereich (oder - soweit es um die Forderung einer verallgemeinerten Menschenliebe geht - einem heiligrnäßigen Leben) zurechnen, befördert den Relativismusverdacht und die Distanzierung von Moral und untergräbt damit die Verbindlichkeit von Moral überhaupt. Ohnedies nehmen in der Modeme moralischer Skeptizismus (also die These, Moral sei bloßer,Überbau', ,Opium fürs Volk'; allein ,Moral der Herrschenden') und moralischer Relativismus zu (also die Annahme, es gäbe keine allgemein verbindlichen Normen). Dies zeigt sich auch an einem Ergebnis aus dem Generationenvergleich: der Prozentsatz von Befragten, die spontan bei der offenen Exploration ihres Moralverständnisses auf die Kultur- und Erziehungsabhängigkeit von Moral oder auf eine inhaltsentleerte individuelle Gewissensfreiheit verweisen, hat sich von der ältesten zur jüngsten Befragtengruppe mehr als verdoppelt von (20,2% auf 43,7%). Dies hängt mit der Umstellung von dem religiösen aufinnerweltliche Begründungsverfahren zusammen, die - wie oben gezeigt - eine Grauzone legitimen Dissenses eröffnet (die dann kurzschlüssig als Ausdruck der Relativität von Moral mißdeutet wird). Es hängt auch mit dem - durch Kulturkontakt - erworbenen Wissen um die
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Vielfalt kulturspezifischer Normierungen und der Erfahrung des Wandels sozialer Institutionen zusammen (deren Eindrücklichkeit die Universalität sowohl der Metanorm der Pflichterfüllung wie auch der negativen Pflichten leicht übersehen läßt). Darüber hinaus aber erhöht die Subsumtion von Fragen des guten Lebens, die wir der persönlichen Entscheidungsfreiheit des Individuums anheim stellen, unter den Bereich von Moral, den Eindruck moralischer Beliebigkeit. Auch mag die Zumutung nomativer Regulierungen im persönlichen Bereich zu einer generalisierten Zurückweisung von Moral führen. Relativismus und die Zurückweisung von Moral sind gefährlich. Die Gefährdung betrifft nicht den privaten Bereich. In engen sozialen Beziehungen gibt es Selbstregulierungsmechanismen. Es gibt soziale Kontrollen und wirksame Sanktionierungsrnöglichkeiten: Wer die Freundschafts,pflichten' von Anteilnahme und Zuwendung nicht erfüllt, riskiert das Ende der Beziehung. Die Gefährdung betrifft vielmehr den eigentlichen Kernbereich von Moral: die Regelung des Umgangs mit Fremden. Gerade Kontexte, in denen eine spontane Identifizierung mit dem Wohl und Wehe des konkreten Anderen nicht (wie bei Freundschaften) vorausgesetzt werden kann, bedürfen der moralischen Normierung. Und einer solchen - aus der Perspektive des generalisierten Anderen abgeleiteten - Moral bedarf es gerade auch als Korrektiv gegen die Perspektive des konkreten Anderen. Nur allzu leicht nämlich sind Menschen bereit, aus Fürsorgefür und Solidarität mit denen, die ihnen nahe stehen, jene zu schädigen, die ihnen persönlich nicht wichtig sind (vgl. Tajfel, 1970, 1981). Um ein besonders drastisches Beispiel zu gehen: Nicht aus Mordlust und Sadismus etwa fanden sich die meisten der ,ganz normalen Männer' des Polizeibataillons 101 bereit, an der Ermordung der Juden mitzuwirken; viele machten aus ,Solidarität' mit ihren Kameraden mit, denen sie die Ausführung der zunächst von fast allen als unerträglich empfundenen ,Arbeit' nicht allein zumuten wollten (Browning, 1993). Die Moral des generalisierten Anderen begründet klare, kategorische Verbindlichkeit beanspruchende moralische Regeln: Es gilt, andere nicht direkt (durch Übergriffe) oder indirekt (durch die Vernachlässigung übernommener Pflichten) zu schädigen. Diese Regeln haben universelle Gültigkeit: Keine soziale Gruppe wäre überlebensfähig, die duldete, daß einer andere aus Eigennutz beraubte, belöge oder tötete oder aber (explizite oder implizite) Versprechen nicht hielte. Diese Regeln sind einhaltbar: Gegenüber gruppenexternen Personen fordern sie nur Unterlassungen, gegenüber den Kooperationspartnern fordern sie nur zusätzlich die Erfüllung konkreter Reziprozitätsnormen. Die Goldene Regel- wenn sie recht verstanden wird - formuliert die Maxime einer solchen Minimalmoral. Würde sie allgemein befolgt, wäre die Welt ein besserer Ort.
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Quelle: A. BellebaurnlL. Miuth (Hrsg), Leseglück. Eine vergessene Erfahrung?, UVK Universitätsverlag Konstanz 1999.
Selbstdisziplin: Begründungen, Normen und Praktiken asketischer Lebensweisen Robert Hettlage
Sag es niemand, nur dem Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet, Das Lebendige will ich preisen, das nach Flammentod sich sehnet ... Und solang du dies nicht hast, dieses Stirb und Werde, Bist du nur ein trüber Gast aufder dunkeln Erde
I.W. Goethe: Westöstlicher Diwan
Wer in der heutigen Gesellschaft Askese fordert, scheint aufdem Holzweg zu sein, denn allem Anschein nach kann man Unzeitgemäßeres kaum in den Mund nehmen. Das modeme Leben - mit all seinen Zeitsignaturen einer Wohlfahrts-, Konsum-, Options- und Mediengesellschaft - deutet auf einen Lebensstil, einen Denk- und Gefühlshabitus und eine gesellschaftliche Verfassung hin, die Glück geradezu in einer "nicht-asketischen" Daseinsdeutung verortet. Als Bestätigung genügt es, die überbordende Ratgeberliteratur zu konsultieren, die unisono davon spricht, jeder möge seine Triebe, Neigungen und Gefühle nur tunlichst "ausleben", umja nicht in eine energiehemmende Kreativitätsfalle zu tappen. Auch die mediale Bilderwelt mit ihrer globalen Anziehungskraft verspricht nicht nur Information, Beratung und Erholung in Fülle, sondern ist auch Unterpfand für Dauerunterhaltung, Spaß und Vergnügen "auf Knopfdruck". Dadurch mutieren die Vielseher, wie Bruckner es brillant formuliert hat, zu "Telephagen" oder "couch-potatoes" (wie die Amerikaner sagen, die es wissen müssen). Sie sind "dicken, übersättigten Säuglingen" gleich, die sich trotzdem immer wieder "genüsslich die Flasche geben" lassen (Bruckner 1997: 75). Dauerkonsum erstreckt sich aber nicht allein auf die Augen, sondern auch auf den "Mund". Der Medienüberkonsum ist nur das Äquivalent zur Kaufwelle und Fress- und Sauforgien, die unsere Wohlstandsgesellschaften von Zeit zu Zeit - und systematisch stimuliert - überfallen. Auf der anderen Seite beseitigt die schiere Fülle der Trieberfüllungsmöglichkeiten keineswegs das Gefühl der Knappheit. Im Gegenteil: Sie schafft eigene Verknappungen - an Ruhe, an Zeit, an Kontakt, an Engagement und an Ressourcen. Noch keine Gesellschaft hat so viel über "Stress" geklagt wie diese! Immer "schneller, höher und weiter". Die Devise des Spitzensports ist nicht nur ein anstrengendes Programm, sie kann für die Produktions- und Konsumwelt dauerhaft und im globalen Maßstab nicht funktionieren. Der orgiastische Lebensstil hat sei-
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ne ressourcentechnischen und moralischen Begrenzungen. Zwei Milliarden Chinesen und Inder, die so leben wollten (und wollen!!) wie im Westen, würden das Raumschiff Erde in der übernächsten Generation spätestens zur Implosion und außer Kurs bringen. Wir wissen alle, dass wir "so" nicht überleben können. Aber "wie" es weitergehen soll, wissen wir nicht. Zu süß sind die unmittelbaren Glücksversprechungen einer Gesellschaft wie der deutschen, die doch nach dem Zweiten Weltkrieg "Wohlstand für alle" auf ihre Fahnen geschrieben und einen erheblichen Teil ihrer ansonsten beschädigten Identität aus diesem Slogan gezogen hatte. Die Verbindung von Glück und Askese ist also eine mehrfach unglückliche: •
Die endlich erreichte Aussicht auf Fülle stemmt sich gegen die Zumutung, sich sogleich wieder einengen zu lassen.
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Jeder Disziplinierung ist die Enttäuschung und Trauer inhärent, dass die dauerhafte Entgrenzung der conditio humana "nicht von dieser Welt" ist.
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Trotzdem muss der Traum weitergeträumt werden. Zu viele gesellschaftliche Interessen und Triebkräfte sind daran gekoppelt, den Zusammenhang von Fülle und Glück immer wieder zu behaupten.
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Dieser Zusammenhang ist schon deshalb ein falscher Traum, weil man das dauerhafte Glück mit Hilfe einer materiellen Güterfiille schon gar nicht erzwingen kann. Wir wissen es alle und wollen dem Weisheitsschatz der Menschheit doch nicht glauben. Denn es spricht auch einiges für den Volksglauben, dass Reichtum zwar kein Glück bringt, sich das menschliche Unglück so aber besser ertragen lässt.
1. Die individuelle Disziplinierung als Einübung der Weisheit Dass wir das Glück in diesem Leben nicht unmittelbar und dauerhaft erlangen, ist eine Menschheitserfahrung. Als um das Jahr 800 vor Chr. die altägyptische Seelenwanderungslehre nach Nordindien gelangte, bildete sich eine Schicht von Gotteskundigen (Brahmanen) aus, die den Besitz höchster Weisheit in der Lebens- und Staatsführung für sich beanspruchten und überwachten. Die Lehre war dem Gedächtnis der Eingeweihten anvertraut (pali-Kanon). Sie forderten dazu auf, mit Hilfe von Askese und Ekstase Macht über das vergängliche Leben zu gewinnen.
1.1 Die östliche Lehre von der Seelenruhe als Ende des Leidens Schon in der Frühzeit der Veden und im frühen Brahmanismus wird davon ausgegangen, dass die ewige Seeligkeit von den guten Werken abhängt, die jeder Mensch
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in seinem Leben getan hat. Sie bestehen aber nicht nur aus einem kontrollierten Lebenswandel des Einzelnen, sondern auch aus Kult- und Opferhandlungen. Den "vertraulichen Belehrungen" (Upanishaden) zufolge erwartet den Menschen, d.h. seine unsterbliche Seele, im Jenseits eine lange Wanderschaft. Sie muss sich auf dem Weg über z.T. qualvolle Verwandlungen (Wiedergeburten) allmählich läutern, damit sie im besten Fall freudvolleren Zustandsformen zustreben kann. Der Lohn besteht in einer Rangerhöhung, die Strafe in einer Rangerniedrigung der Seele. Dabei können diesseitige und jenseitige Existenzweisen durcheinander laufen. Darin ist die Ehrfurcht vor dem Leben insgesamt begründet. Denn man weiß nie, ob es sich wirklich um einen Regenwurm handelt oder um einen Menschen, der wie ein Regenwurm leben muss. Ruhe erlangt der Mensch dadurch, dass er seine ganze Aufmerksamkeit auf Atman - den Urgrund aller Seelen und allen Lebens, das Ur-Selbst, die Weltseele - ausrichtet. Der Inbegriff des Lebens besteht also darin, dass ich mich selbst aus dem Bewusstsein verliere. Wenn mein Widerstand ganz erloschen ist, bleibt nur noch die reine Lebenskraft übrig. Das private Ich ist vernichtet und in einem "Über-Ich" aufgegangen. Diese "Ruhe in Gott" (vgl. Augustinus' "Bekenntnisse") heißt Nirwana. Mit dem Auftreten Buddhas (geb. 560 vor ehr.) wird diese Erkenntnislehre in Bezug auf das Diesseits noch gesteigert. Seiner Lehre gemäß soll man sich, ob es nun ein Jenseits gibt oder nicht, frei von Schuld halten und versuchen, glücklich zu werden. Das aber ist eine schwere Aufgabe, denn alles Leben ist mit Unerfreulichem verbunden: "Geburt, Alter, Krankheit, Tod sind leidvoll. Kummer, Jammer, Schmerz, Gram, Verzweiflung sind leidvoll ... Vom Erfreulichen getrennt zu sein, das ist Leiden. Nicht erlangen, was man wünscht, ist Leiden." Das Positive, das wir anstreben, ist das Glück. Unser Leben ist aber vergänglich. Es mag viele glückliche Stunden kennen, aber es findet empirisch unabweisbar sein Ende. Und darunter leiden wir. Das Leben aufs Ganze gesehen ist Leiden. Deshalb schlägt Buddha - der Erleuchtete - vor, dem gramvollen Leben mit einer Reihe von Exerzitien ruhig gegenüberzutreten. Dazu muss man zunächst lernen, den (materiellen) Körper in all seinen Zuständen genau zu betrachten. So drängt sich die Frage auf, ob ich wirklich das bin, was an mir so veränderlich ist. Die Antwort wird negativ sein. Ähnliches gilt für den Geist, das Denken oder das Bewusstsein. Auch ist es nicht das Ich, denn es ist einmal so und einmal anders, einmal leeres Geschwätz, ein anderes Mal unerfreuliche Gemütsregung und Machtpolitik. Den Kampf gegen diese und andere Leiden kann man dadurch gewinnen, wenn man imstande ist, den körperlichen und geistigen Drang des Lebens in völliger Wahrhaftigkeit abzulegen. Wir besiegen das Leiden dadurch, dass wir uns selbst, unser unruhiges Streben, unseren Durchsetzungswillen, unser nutzloses Grübeln bezwingen. Sie-
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gen ist Nicht-Kämpfen. "Bezwinge den Zorn durch Nicht-Zürnen, vergelte Böses mit Gutem. Den Lügner überwinde durch Wahrheit" (vgl. Orthband 0.1.: 74 ff.). Zur Verinnerlichung dieser Lebensführung muss - wenigstens der Intellektuelle - einen vierfachen Kampf führen: •
die Exerzitien der Vermeidung: von Begierde, Übelwollen, Grausamkeit;
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den Kampf der Überwindung: von schlechten Gedanken;
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den Kampfder Erweckung: von günstigen Gemütszuständen wie Besonnenheit, Ruhe, Konzentration, Gleichmut und
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den Kampf zur Erhaltung der inneren Harmonie.
Nach Buddhas Tod musste seine Anhängerschaft organisiert werden. Hier spielte das Mönchstum mit seiner strengen Ordensdisziplin (Eigentumsverzicht, Zölibat) erstmals eine große Rolle. Die Debatten über den richtigen Weg spalteten die Bewegung in zwei Hauptströmungen: das "große Fahrzeug" (Mahayana) in Tibet, Nepal und China, das den Erwerb der Erleuchtung (Buddha) volksreligiös (und nicht immer nur asketisch) deutete, und das ,,kleine Fahrzeug" (Hinayana) in Sri Lanka, das nur den einen Buddha kennt. Auch der Hinduismus (etwa seit 400 vor Chr.) kennt eine vielgliedrige Aufstiegsbewegung vom Welthunger ("Weltessen") über die Konzentration aller Kräfte und Willensregungen (Zucht, Selbstzucht, Reinigung, Waschungen) zur Vorbereitung der inneren Sammlung (Atemregelung, Sitzhaltung) bis hin zur meditativen Versenkung, Schau und Verzückung. Dieser Prozess der Einübung in das Loslassen trägt uns in das Reich der Auslöschung oder des Glücks. Denn so lehrte schon Buddha: "Wer an etwas hängt, hat Unruhe, wer an nichts hängt, hat keine Unruhe; wo keine Unruhe ist, da ist Ruhe; wo Ruhe ist, da ist keine sinnliche Lust; wo keine sinnliche Lust ist, da gibt es kein Werden und Vergehen; wo es kein Werden und Vergehen gibt, da ist weder diese noch jene Welt noch irgendeine Zwischenwelt. Das ist das Ende des Leidens" .... "Gäbe es kein Nicht-Geschaffenes, NichtAufgebautes, gäbe es keinen Ausweg aus dem Geborenen, Gewordenen, Geschaffenen. Deswegen ist das Reich der Erlösung weder diese noch eine andere Welt, weder Sonne noch Mond, weder Kommen noch Gehen noch Bleiben. Es ist ohne Stütze, ohne Entwicklung, ohne Sinnesobjekte. Dies ist das Ende des Leidens."
1.2 Die antike Lebenskunst und das glückliche Leben Die griechische, für Europa entscheidend gewordene Philosophie blieb vom Orient und seiner Seelenwanderungslehre nicht unbeeinflusst. Platons Auffassung von der Weltseele etwa geht offensichtlich aufdiese Wurzeln zurück. Der gemeinsame Wissenshintergrund in Ost und Welt lässt sich auf 6 Gesichtspunkte reduzieren:
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Die Seelen waren ursprünglich im Götterhimmel daheim, wurden aber aufgrund einer "Urschuld" ins irdische Dasein verbannt.
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Die Seele ist "irgendwie" noch im Götterhimmel verankert, so dass das irdische Dasein sich in Körper und Geist aufspaltet (Wiedererinnerung).
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Nach dem Tod kommt die Seele vor Gericht und wird so lange auf "Fahrt" geschickt (z.B. Wiedergeburten), bis sie das Kleid des Fleisches abgelegt und unsterblich in das frühere Gottesdasein zurückkehren darf.
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Das Diesseits ist ein JammertaL Ein wahres Leben gibt es nur im himmlischen Jenseits.
• •
Der Pfad des Heils erfolgt nach einem Weltgesetz, dem göttlichen Nomos. Es gibt drei Wege der Erlösung: die punktuelle, rauschhafte, orgiastische Vereinigung mit dem Schöpfergott (Dionysos), den dauerhaften Umweg über Askese und Seelenwanderung und die Zahlenmystik, denn die Geometrie zieht die Seele zur Wahrheit empor.
Es macht die Besonderheit der griechischen Geisteswelt aus, dass sie die mythischen Elemente langsam und immer stärker werdend mit logisch-philosophischen Argumenten durchzieht. Trotzdem ist P. Hadot (1995) der Auffassung, dass die ganze griechische WeItsicht im Wesentlichen auf der Idee der Seelenleitung und Selbstsorge beruht. Philosophie als ars bene vivendi ist Lebensform, Lebenstechnik und Lebenskunst in einem. Sie dient der rationalen Korrektur verfehlter Lebenshaltungen der Menschen. Durch die Umwendung der früheren Naturphilosophie in eine Moralphilosophie fallen - spätestens bei Sokrates - Prinzipienwissenschaft, Orientierungswissen und Weisheitssuche zusammen. a) Das sokratische Orientierungswissen und der Aufstieg der Seele zu Gott Platon greift diesen Ansatz unter dem Gesichtspunkt der rationalen Prüfung der eigenen und fremden Lebensführung auf. Deswegen ist sein "Sokrates" nicht nur durch sein "Erkenne Dich selbst" beschrieben, sondern auch dadurch, dass der Philosoph als Modellfigur des gelungenen Lebens immer unterwegs zur Weisheit ist. Dabei geht es ihm, im Gegensatz zu Solon und den frühen Gesetzgebern, nicht mehr nur um eine Adelsethik, sondern um eine Orientierung für "die Vielen". An Sokrates kann man sich halten, um zu erfahren, was es bedeutet, sich mit allen Konsequenzen auf den mühevollen (Wieder-)Aufstieg der Seele zur Erkenntnis des ewig Seienden zu begeben. Denn Wissen ist Wiedererinnerung. Man kann nur lernen, was man schon "irgendwie" weiß (platon: Politeia 518d). Wer leer ist, kann das entscheidende Erkennen auch nicht "gebären". Ob es hingegen zur "Geburt" kommt, hängt vom Eintrainieren in die richtige Haltung des Erkennens (theoria)
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und Machens (praxis) ab. Nur eine solche persönlichkeitsverändemde Haltung verschafft wahres Wissen im Unterschied zu bloßer Meinung (doxa). 1.
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Von daher ist es zwingend, sein Streben nicht auf das Diesseits auszurichten, sondern auf das bestmögliche Leben nach dem Tod. Jeder, der Philosoph vor allem, muss sich - so paradox es klingen mag - ins Sterben einüben, um bestmöglich zu leben. (Die Parallelen zu Buddha sind hier mit der Hand zu greifen.) Es ist sogar unsinnig, sich mit anderem zu beschäftigen, solange man nicht weiß, ob man ein wildes Tier oder ein edles, göttliches Lebewesen ist. Um das zu erfahren und um das wahre Glück zu erlangen, muss man mit seinem Leben höchst besonnen umgehen (platon: Charmenides 164 d, 165 d, 166 e ff.), das wilde Pferdegespann der Seelenkräfte auf der richtigen Bahn halten (Phaidros) und so die Kräfte für das Erkennen und Handeln freihalten. Erfassen kann man den göttlichen Grund des Menschen nur durch Beherrschung (vgl. Schefold 1967: 92 ff.). Dieser Pfad ist die Angleichung an das Ewige, d.h. an Gott. Sie geschieht im Diesseits über den gezielten Erwerb der vier wichtigen Tugenden: der Klugheit (Besonnenheit), Tapferkeit, der Gerechtigkeit und des Maßes. Sie sind nicht nur Wissen, sondern bilden zusammen die Drehtüre zum Glück. Dabei kann man sich von den anderen nicht isolieren. Tugenden erwirbt man im Umgang nicht nur mit sich, sondern auch mit den anderen. Tapferkeit und Gerechtigkeit z.B. sind gesellschaftlich gerichtet. Hier ist der Übergang von der individuellen zur gesellschaftlichen Seite der menschlichen Einübung in die "richtige Ordnung" angedeutet. Zwar hält auch der alte Platon daran fest, dass nur tugendhaftes, diszipliniertes Leben zum Glück führen kann, aber es kommt ihm nun weniger auf das Wissen um die Natur des Guten an, als auf die Beseitigung der individuellen und sozialen Widerstände, die sich der Realisierung der Tugenden entgegenstellen. Die Entgleisungsmöglichkeiten sind beträchtlich (Platon: Nomoi V. 131 c). Sie liegen z.T. in der Begabung der Menschen, das zu erkennen, was allen in der Polis nützt, z. T. in der Willenskraft, jenes Beste zu verwirklichen (Nomoi XL 875 a) sowie schließlich in der Organisation des Staatswesens selbst (Politikos 273 b-d). Solange der "gute Steuermann", d.h. der Philosophenkönig bzw. der Demiurg, selbst das Ruder nicht wieder fest in die Hand genommen hat, muss man sich eben mit einer zweitbesten Lösung, der staatlichen Gesetzesherrschaft, abfinden. Im Christentum wird genau dies zum Argument für die Erlösungsbedürftigkeit der Welt.
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b) Tüchtigkeit, Besonnenheit und inneres Gleichgewicht Aristoteles führt diesen Tugendrealismus weiter fort, indem er zwischen Verstandes- und Charaktertugenden unterscheidet. Man kann im Gebrauch des Verstandes "tüchtig" werden, indem man sich die Denkgesetze (Logik) aneignet. Einen tüchtigen Charakter bekommt man aber nur, wenn man die türangelartigen (kardinalen), also klugen, gerechten, tapferen und maßvollen Handlungen auch tatsächlich ausübt und trainiert. Die Übung ist von entscheidender Bedeutung. So erwirbt man sich nämlich eine feste Grundhaltung, einen Habitus, der den Wert eines Menschen ausmacht. Das reine "Wissen" um Gerechtigkeit etwa bedeutet hier wenig. Tugend ist also eine durch Handeln fest gewordene Haltung (Hexis), die sich der Übertreibungen nach der einen oder anderen Seite enthält. Sie sucht, wie der Sportler, das Gleichgewicht zwischen zu wenig und zu viel (Aristoteies: Nikomachische Ethik 11, 1104 a, 12 ff.). Das muss im Einzelfall ausprobiert und geübt werden. Tapfer ist nur, wer die Mitte zwischen Verwegenheit und Feigheit, besonnen nur, wer die Balance zwischen Zügellosigkeit und Empfindungslosigkeit, finden kann. Aristoteles hält sich dabei - soziologisch bedeutsam - ganz an das, was üblicherweise in der jeweiligen Gesellschaft anerkannt wird. Hier wird der Weg zur Massenethik offensichtlich. "Die aristotelischen Tugenden verlangen niemandem übermenschliche Anstrengungen ab. Stattdessen bezieht die Beschreibung der Tugenden als ein Mittleres zwischen Extremen schon von vorneherein die Unhintergehbarkeit psychologischer und allgemein anthropologischer Tatsachen mit ein" (Hauskeller 1997: 99). Es liefe vielmehr der menschlichen Natur entgegen, dieAffekte ganz ausschalten zu wollen. Selbst wenn man es könnte, wäre es - im Gegensatz zur buddhistischen Lehre - gar nicht wünschenswert. Es kommt nur darauf an, die Strebungen und Gefühle so einzusetzen, dass sie der Erreichung eines sittlich Guten dienen. Das zeigt sich vor allem an der Tugend der Besonnenheit, die zwischen angemessener und unangemessener Lust differenziert. Sie wehrt sich gegen die Zügellosigkeit, die überhaupt keiner Versuchung zur Lust (des Essens, Trinkens, der Sexualität) widerstehen kann. Sie ist aber auch keinesfalls empfindungslos, so dass sie sich an gar keiner Tätigkeit erfreuen könnte. Der Zügellose verfehlt sein Menschsein, denn er ähnelt eher dem Tier; der Empfindungslose aber auch, denn er gleicht eher einem Stein. Der Mensch ist nur Mensch im vollen Sinn, wenn er den "Bestzustand" seiner Seele dauerhaft im Auge hat. Die feste Einübung in die richtige Haltung bewirkt, dass er sich gar nicht mehr zum "Richtigen" zwingen muss, sondern dass er das, was er in dieser eintrainierten Weise tut, sogar gerne verrichtet. Das ist höchste Klugheit. Sie kann nur auf der Sprossenleiter der Selbstdisziplinierung gewonnen werden.
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Auch die spätantiken Philosophenschulen der Epikuräer, der Stoa und des Neuplatonismus (Plotin) folgten dem klassischen Lebenskunstmodell, das einen engen Zusammenhang zwischen angemessener, besonnener Lebensführung und Glück postulierte. Dabei fällt auf, dass häufig auch mit Lebensgemeinschaften zwischen Meister und Schülern experimentiert wurde, in der erlösungsträchtige Affekttherapien gemeinsam in Angriff genommen wurden. Seit den Sophisten lag die Idee nicht fern, man könne sich aufrationaler Grundlage und mit praktischen Übungen einer ethisch wertvollen Lebensweise annähern. In dieser Überzeugung stimmten die skeptischen, optimistischen und hedonistischen Lehrmeinungen überein. Das richtige, "gute" Leben ist - wie bei einem Athleten - systematisch in Trainingseinheiten gegliedert, die von einem erfahrenen "Coach" überwacht werden. Deshalb erlangte das Konzept der "askesis" in der hellenistischen Philosophie eine zentrale Bedeutung. Er wurde im Lateinischen mit "exercitatio" oder sogar ,,meditatio" übersetzt, was zunächst wenig mit Verzicht und Niederkämpfung der Triebe zu tun hatte. Gemeint waren vielmehr jene Übungen, durch die die Kraft zum sittlichen Handeln, einem inneren Automatismus folgend, eine gewisse Leichtigkeit erlangen sollte. Abhärtungen etwa erlauben nicht nur einen einfachen, unabhängigen Lebensstil, sondern auch eine innere Distanz und Freiheit gegenüber den eigenen Begierden, den Meinungen anderer und den Zumutungen dieser Welt. Dadurch wird man aus der Hörigkeit befreit und selbst zum Taktgeber seines Lebens. Diogenes in der Tonne ist dafür das bis heute bekannte Extrembeispiel geblieben. Er konnte schließlich sogar vom Mächtigen der Mächtigen, Alexander dem Großen, verlangen, ihm aus der Sonne zu gehen!
1.3 Die" hedonistische" Therapie der Lebensangst Entgegen der landläufigen Auffassung neigen dieser "meditatio" auch die spätantiken "Hedonisten" (Aristipp, Epikur) zu. Für Epikur und seine Schule ist Lust zwar das einzig erstrebenswerte Gut im Leben, an dem sich alles andere messen lassen muss, sein Hedonismus ist aber raffiniert und der anspruchsvollen sokratischen Tugendlehre nicht unähnlich. Ebenso gut hätte er - wie Buddha - die Freiheit vom Leiden zum höchsten Prinzip erklären können. Nur hat die Orientierung an der Lust für ihn den Vorteil, den Menschen das jeweils Wichtige und Notwendige, Unlust hingegen das jeweils Abträgliche, verlässlich anzuzeigen. Die Kategorie der Lust sensibilisiert somit für die Grundbedingungen des richtigen Lebens. Epikur unterscheidet notwendige von nicht notwendigen Begierden. Vieles, was Menschen begehren, brauchen sie nicht wirklich. Je mehr sie sich darauf einlassen, desto abhängiger werden sie davon, desto mehr Quellen möglichen Leidens schaffen sie sich auch. Glück hängt von der Erkenntnis dessen ab, wessen
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man "wirklich" bedarf. Von dieser meditatio her, können alle unnötigen Begierden ausgeschaltet werden. Denn sie sind eigentlich Ursachen des Unglücks. Auf "falsche" Lust kann man ohne Schaden verzichten. Notwendige Begierden sind hingegen solche, die für das Leben unverzichtbar sind. Nicht zu hungern, zu dürsten oder zu frieren sind des Fleisches mahnende Stimme. Essen heißt nicht prassen. Der Zwang, sich kleiden zu müssen, hat nichts mit Modeabhängigkeit zu tun. Wer seine notwendigen Triebregungen stillen kann, hat alles, was zur höchsten Lust notwendig ist. Sie befähigen zur Gesundheit, befreien von sozialer Abhängigkeit, stärken die Widerstandskraft und machen angstfrei gegenüber Zufall und Tod (Diogenes Laertius X.130 ff.). Wer mehr will, schafft der Seele nur ungute Aufregung. Denn so wird sie in permanenter Furcht und Unruhe gehalten, sich möglicherweise nicht das Gewünschte erfüllen zu können. Das sind die vier Hauptquellen all unseren Unglücks: • •
die Unruhe gegenüber einer unerkennbaren Zukunft, die Angst vor unserem sicheren Tod,
• •
die Ungewissheit gegenüber dem sich ständig drehenden Rad der "fortuna", die Sorge, unser eigenes Ungenügen verbergen zu wollen.
Also kommt es vornehmlich darauf an, sich VOn den (falschen) Begierden unabhängig zu halten. Die Lust wird desto größer sein, je kleiner diese Begierden sind. Die völlige Beseitigung aller Schmerzen und Unruhen kommt der höchstmöglichen Ungestörtheit und Lust (ataraxia) gleich. Wahrer Genuss ist ,,reflektierter Genuss" (Pieper 2003: 58). Je mehr der Verstand sich VOn seinen Ängsten befreit, desto mehr kann er sich für neue, dauerhafte Freuden einsetzen - für die Lust am Leben, für die ästhetischen Qualitäten und für das Selbstbewusstsein. Deshalb muss man sich so erziehen, dass man nur noch nach dem Notwendigen und leicht Verfügbaren verlangt. In der Sorge um unsere Begrenztheit und Endlichkeit fließen alle unsere falschen Lebensentwfufe und Charakterhaltungen, also die Untugenden, zusammen (Statuspolitik, finanzielle Absicherung, Erwerbstrieb, Machthunger, Sexualgier, Angebertum, Eitelkeit, Neid, Rechthaberei etc). Gegen sie kann man sich nur dadurch schützen, dass man die Welt möglichst rational durchforstet und -laut Epikur - jede Idee des Weiterlebens, des Schattendaseins nach dem Tod, des Strafgerichts, ja sogar des Nichts, zur Chimäre erklärt.
1.4 Die "stoische" Unangreifbarkeit als "gutes" Leben In einer Zeit, in der die Grenzen enger gesellschaftlicher Gefüge (polis) VOn außen aufgesprengt wurden (Diadochenkämpfe, Römisches Imperium) und fremde Einflüsse kosmopolitische Öffnungen erzwangen, musste sich auch die Vorstel-
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lung vom guten Leben in einer größer gewordenen Welt verändern. Für die Stoiker war deshalb Epikurs Weg nicht mehr gangbar, die Einzelnen auf die Sicherung ihres privaten Glücks zu verweisen und sich so vor der feindlichen Welt zu schützen. Auch schien ihnen dessen Vorstellung zweifelhaft geworden, das einzige, wirkliche Gut des Menschen sei seine Lust. Wie sollte sich dadurch die Sonderstellung des Menschen in der Welt plausibel machen lassen? Ist der Mensch nichts anderes als ein komplexeres Tier? Zenon und seine Nachfolger (Kleanthes, Chrysippos, Poseidonios) und später die "Römer" Epiktet, Seneca und Marc Aurel stemmten sich gegen die Gefahr eines amoralischen Individualismus, indem sie - in Auseinandersetzung mit Epikur - noch einmal neu zu bestimmen versuchten, was dem Menschen "von Natur aus" am nächsten sei, wozu er eine natürliche Zuneigung entwickle und was ihm deshalb Wertungen über das Zuträgliche und Abträgliche, das Gemäße und Nicht-Gemäße abnötige. Sie waren - wie Epikur - der Auffassung, dass der erste Trieb der Lebewesen die Selbsterhaltung sei und sich von daher bestimmen lasse, was ihm wesenhaft zukomme. Zweifellos gehören dazu die Erhaltung des Körpers und der Art sowie die Gemeinschaftspflege, bis hin zur Erhaltung des Menschengeschlechts. Menschen haben - über ihr animalisches Streben hinaus - eine "zweite Natur", die sich als vernünftige zur eigentlichen Natur transformiert und so den Menschen über das Tier hinaushebt. Die Vernunft wird zur Bildnerin des Triebes, indem sie auch diesen vernünftig macht, so dass er nicht widernatürlich handeln kann. Denn vernünftig gemachte Triebe sind nichts anderes als die Vernunft selbst, die zum Handeln antreibt. Eine solche Vernunft stellt sich nicht automatisch ein, sondern ist sittliche Aufgabe. Anders gesagt: Menschen sind zwar auf diese Struktur hin angelegt, in der empirischen Realität verfehlen aber die meisten Menschen dieses Ziel oder bleiben auf einem suboptimalen Niveau hängen. Vernunft ist nur Endziel. Sie ist die Gabe einer größeren, kosmischen Natur, der gegenüber wir eine Sorgfaltspflicht besitzen. Sie ist Teil einer kosmischen Vernunft (des göttlichen Willens), dem man sich fügen muss. Wer sich diesem Plan (nomos) widersetzt, stellt sich gegen die eigene Vernunftnatur. Die universale Natur setzt die Norm. "Nomosfähig" zu sein bedeutet, sich im Einklang mit der Natur zu befinden und "alles" willkommen zu heißen, denn es trägt zur Wohlfahrt des Ganzen bei, auch wenn wir es noch nicht verstanden haben und im Unklaren darüber sind, wie wir an diesen verborgenen Zwecken teilhaben. Wir wissen nur, dass das, was ist, gut ist. Alles ist Teil einer universalen Vernunft, deren Führungsanspruch wir uns (als Teil) überantworten. Deswegen müssen wir uns vertrauensvoll auf den Einklang mit dem Kosmos einstellen und nicht der epikuräischen Entwertung der äu-
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ßeren Güter das Wort reden. Vernünftige Wesen kommen also nicht umhin, sich selbst und ihre Aufgabe innerhalb des Kosmos genauer zu verstehen. Das ist jedoch nicht als Aufruf zur Passivität zu verstehen. Denn um vernünftig zu werden, müssen wir unseren Willen, unsere Triebe und Affekte kontrollieren lernen, um diesen nicht jeweils einen ungebührlichen Platz einräumen zu müssen. Die Vernunft muss Kontrollrnacht über unser Leben erlangen, indem sie die Triebe bändigt, formt und sogar in Zustimmung verwandelt (Epiktet: Encheiridion 5). Damit werden wir frei und die Dinge, die Meinungen und die Urteile über uns, über die Gesellschaft und die Welt insgesamt beunruhigen uns nicht mehr. Wenn also die Triebe "hemmungslos" ihre eigenen Wege gehen, dann liegt das daran, dass die Vernunft in ihrer Steuerungsleistung versagt hat. Umgekehrt besteht die Chance, dass man wenigstens das verfolgt, was sich ziemt. Das kann man auch von der Masse erwarten. Wahre Tugend aber ist mehr und gelingt nur wenigen. Denn vollendete Pflichterfüllung ist das Handeln in vollständiger Einheit mit der kosmischen Vernunft. Solche Spitzenkönner kümmern sich nur um das, was sie unter ihre eigene Kontrolle bringen können. Hier kann man wahre Tugend beweisen, nicht aber in dem, was sich - wie Besitz, Macht, Ansehen - unserem eigenen Einfluss entzieht. Von diesen äußeren, unverfügbaren Umständen und den damit verbundenen, falschen Erregungen und unvernünftigen Bewegungen der Seele (pathos) halten sich die Weisen frei. Das erlaubt ihnen die Einübung in die ,,A-patheia", d.h. die Zähmung der Leidenschaften. Dazu zählen die Disziplinierung des Empfindens von: •
Schmerz (mit seinen Unterarten der Missgunst, der Eifersucht und des Verzagens),
•
Furcht (vor der Erwartung eines Übels),
• •
Begierden (Zorn, Hass, Rache) und Lust als unvernünftiges Frohgefühl über eine scheinbar erstrebenswerte Sache.
Affekte und Libido sind in der antiken Tradition generell ein Anlass zur Sorge. Denn sie stehen für mögliche Abwege vom Pfad der Vernunft und der Seelenruhe. Sie müssen nicht nur unter Kontrolle gehalten (platon) oder wenigstens richtig eingesetzt (Aristoteies), sondern vollständig abgetötet werden (Stoa). Sie führen nämlich dem souveränen Menschen keine echten Güter (bona), sondern "mala" zu. Deswegen streben die Stoiker nach Gleichmut und heiterer Gemütsruhe. So können sich die Weisen selbst keinen Schaden zufügen. Sie haben nichts zu fürchten, lassen sich nicht beeindrucken und werden innerlich unabhängig. Falsche Ängste und Hoffnungen können sie nicht terrorisieren. Der Quietismus ist die wahre Lebenskunst. Wieder berühren sich östliche und westliche Lebenskunst und Weltan-
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schauung in erstaunlicher Weise. A-patheia muss durch Übung zu einer dauerhaften Seelenverfassung herangebildet werden. Zwei Arten lassen sich in der Tradition unterscheiden - die Übungen zur Selbstbeherrschung und die Übungen zur Selbstentfaltung. 1.
Selbstbeherrschung: Sie dient der Heilung der Seele von unvernünftigen Irritationen und zur Erlangung eines zugleich wachen und gleichgültigen Geisteszustandes. Die Leidenschaften sind wie Krankheiten, die durch den Logos, d.h. durch argumentative Berichtigung der bisherigen Wertungen, therapiert werden müssen. Dazu gehört üblicherweise auch die Einübung in die Wertschätzung einfacher Güter, sich belastenden Erinnerungen nicht hinzugeben, sich ehrgeizigen Plänen nicht zu verschreiben und sich nicht falsche Zukunftssorgen zu machen. So würden die Energien nur falsch gebündelt werden. Das gegenwärtige Leben ginge dahin, ohne dass :für die immer knappe Restspanne noch Zeit übrig bliebe. Epiktet schlägt ein Verfahren der Selbstprüfung vor, indem man sich ständig - als Ankläger, Verteidiger und Richter zugleich - fragt, ob man aufjedes künftige Ereignis angemessen vorbereitet sei (Diatriben 11, 21, 8 ff.). Marc Aurel vertritt die Maxime, immer so leben, als sei dieser Tag der letzte Tag (Marc Aurel: Selbstbetrachtungen VII, 69). ("Die Vögel des Himmels säen nicht ...", wird es in der christlichen Tradition heißen.) Die Vorstellung, dass der Meister (in christlicher Version: Gott) einen jederzeit sehen könne, soll zur Tugend antreiben. Gewissenserforschungen, Selbstermahnungen, kollegiale Korrekturen ("correctio fraterna") und Selbsteingeständnisse waren feste Institutionen und sogar den Epikuräern nicht fremd. Sie wurden als Maßnahmen der Aufrichtung Vorläufer der christlichen Beichte, nur dass sie nicht mit Sündenvergebung verbunden waren. Über die moralischen Übungen hinaus, waren auch die intellektuellen Exerzitien von Bedeutung. Denn man ging davon aus, dass man - ganz im sokratischen Sinn - die elementaren Tugenden, die politischen und theoretischen eingeschlossen, durch vernünftige Begriffsanalyse, durch didaktische Texte, durch Lese- und Schreibübungen, Trostschriften, Lehrdialoge und Soliloquien lernen könne.
2.
Selbstentfaltung: Alles zielt auf die spirituelle Transformation der Gesamtpersönlichkeit im Sinne einer Angleichung an den Kosmos oder an das göttliche Gesetz. Die menschliche Seele muss, wie Plotin es ausdrückte, durch die Erlangung von Tugenden "von Lehm und Schmutz" befreit werden. Reinigung in Verbindung mit religiösen Mysterien fordert den Aufstieg zum ersten, absoluten Prinzip. Das gelingt, indem man alles Fremde, Unnötige weglässt und dadurch einheitlich oder "einfach" wird. Hier versagt die sprachliche Vermittlungsmöglichkeit, denn vom ersten Prinzip, dem Einen, kann man weder
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reden noch schreiben. Man kann es nur meditierend" schauen" (Enneade VI, 9). Auch das kommt als "visio beatifica" der christlichen Tradition wieder. Selbstbeherrschung und Selbstentfaltung stehen also in einem engen Zusammenhang. Nur mit einer vernünftigen Selbststeuerung kann man Seelengröße (magnanimitas) erlangen und ein höheres Seinsniveau anzie1en. Hierin war sich die ganze antike Philosophie einig. Sie hat für die weitere europäische Geschichte kulturprägende Wegmarken gesetzt (vgl Horn 1998: 34 ff.). Denn es waren die sich langsam durchsetzenden christlichen Institutionen, die das sokratische, aristotelische und vor allem das stoische Erbe integrierten. Ihr Herrschaftsanspruch und massiver Erziehungswille machten es möglich, im Verlaufvon Jahrhunderten diese Tradition sogar in einen Denk- und Gefühlshabitus breiter Bevölkerungskreise umzuformen. Alle Kirchenväter der patristischen Zeit, allen voran aber Aurelius Augustinus, waren der alten Glücksphilosophie und der platonisch-plotinischen Zielsetzung, zu Gott zurückzukehren, fest verhaftet. So verwundert es auch nicht, dass sie die asketische Disziplinierungspraxis mit übernahmen und verchristlichten. Bis ins Hochmittelalter war Augustinus die kirchliche Lehrautorität schlechthin. Sein bestimmender Einfluss reicht aber bis weit in die Renaissance (N. Cusanus' "docta ignorantia") und die Reformation hinein. Der ehemalige Augustinermönch Martin Luther glaubte sich - auch nach dem Bruch mit Rom - noch lange Zeit in völliger Übereinstimmung mit Augustinus, und Jean Calvin äußerte, seine Lehre lasse sich vollständig in Sätzen des Augustinus (den er über 4 000 mal zitiert!) darstellen. 2. Das Christentum und der mühselige Aufstieg des Menschen zu Gott
2.1 Augustinus und der Gegensatz von weltlichen und außerweltlichen Gütern Dem Pessimismus der Spätantike verhaftet, konnte sich der ,,römische Rhetor" und spätere BischofAugustinus nicht vorstellen, dass man in diesem kummervollen und ständigen Versuchungen ausgesetzten, irdischen Leben überhaupt Glück (oder Seligkeit) erlangen könne. Über die erstrebte Seelenruhe der Stoiker konnte er sich deshalb nur mokieren. Seelenfrieden und Glückseligkeit gibt es nur jenseits unserer menschlichen Daseinsweise. Denn Voraussetzung dafür ist, dass der Besitz eines "Gutes" nicht vorübergehend, sondern dauerhaft ist. Besitz und Reichtum etwa sind zeitlich unbeständig. Glücksrelevant ist nur ein Gut, das alles Handeln und Begehren zum Stillstand bringt. Dafür muss es invariant, unerschöpflich, unwandelbar und unverlierbar im Besitz des Strebenden sein können. Für ein solches Gut kommt allein Gott in Frage, dessen Schau oder Genuss ("fruendum") das gesuchte Glück darstellt.
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Dieses neuplatonische Motiv des Gott-Habens wird der Mittelpunkt für die spätere christlich-metaphysische Tradition. Danach geht nicht nur alles aus dem Urgrund hervor, sondern kehrt auch dorthin wieder zurück (was in der hegelianischen Geschichtsphilosophie erneut zur Hochblüte gelangt). Der Jenseits,,Magnetismus" der "ersten Welt" führt den Menschen zur tiefen Freude ("delectatio"), die zugleich Prüfkriterium sämtlicher irdischer Güter wird. Gott hat den Menschen und die "zweite" Welt auf sich hin geschaffen, so dass alles wesentlich auf ihn zustrebt. Die Liebe zu Gott ist das "Gewicht der Seele". Ruhe findet unser Herz erst in Gott selbst (Confessiones I, 1). Damit wird das antike Strebensmodell seinen konstruktiven Merkmalen nach beibehalten, aber christlich umformuliert. Für den Pilger zur ewigen Heimat ("status viatoris") sind die Güter dieser Welt nur als Mittel zum Zweck zu gebrauchen ("utendum"). Weil Gott aber nicht mit der platonischen Idee des Guten identisch ist, sondern ein persönliches Gegenüber ist ("Vater"), kann die Erfüllung unseres Strebens erst im Jenseits erwartet werden. Im Diesseits bleibt nur ein Vorgeschmack, nämlich die Erkenntnis des Ewigen und die Gewissheit, "gut" zu leben, wenn wir Gott folgen. Erst die Gemeinschaft mit ihm macht wirkliche Seligkeit aus. Während wir Gott allein um seiner selbst lieben, kann alles andere - der Körper, seine Triebregungen, das eigene Selbst, die Nächsten und Fernsten - nur im Hinblick auf ihn Gewicht haben und geliebt werden. Um diese abgeleiteten Güter nicht im Übermaß zu lieben, bedarf es der göttlichen Gebote, die als ewige Gesetze alle zeitlichen Gesetze prägen. Gleichzeitig müssen sich die Menschen eine Disposition ihres Strebens nach dem Guten zulegen. Auf diese Weise verbindet später Thomas von Aquin den aristotelischen Tugendbegriff mit der Ausrichtung des Willens auf Gott. Er führt die antike Lehre von den vier Kardinaltugenden weiter und ergänzt sie durch die drei theologischen Tugenden (Glaube, Hoffnung, Liebe). In ihrer Gesamtheit sind sie die Vervollkommnung der Triebkräfte der Seele, die Disziplinierung des Denkens (Weisheit), des Ungestüms (Mut) und der Begierden (Mäßigung). Für die Ausrichtung des Menschen auf das Allerhöchste bedarf es zusätzlich aber übernatürlicher Handlungsreglementierungen, die durch Gottes Gnade (gratia) verliehen werden. Als höchste Anweisungen sind sie zugleich Menschenpflichten, gemäß der göttlichen Naturordnung zu leben - sei es was die Gottesliebe, die Ehrfurcht und Demut oder was die Selbsterhaltung und das richtige Verhalten in der Gemeinschaft, die Nächstenliebe (caritas), die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, aber auch die Sittsamkeit anbelangt (Pannenberg 2003: 50). Wer sich daran nicht hält, gerät in zerstörerische Unordnung, d.h. Sünde. (Die Diskussion darüber, was"Heilsgewissheit" vermittelt, allein die Gnade oder auch die guten Werke, wird in der Reformation zur christlichen Spaltung Europas führen.) Nicht alles ist der freien Entfaltung
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würdig. Deshalb gilt es als Aufgabe christlicher Lebensführung, das ,,neue Leben" (den homo novus) schon jetzt einzuüben und die Begierden, die selbstsüchtigen Regungen, das "Fleisch", durch Selbstbeherrschung zu zähmen. Im Unterschied zur Stoa sollen die Triebe aber nicht ausgelöscht, sondern nur aus der Perversion ihrer weltimmanenten Ich-Befangenheit befreit werden. Die Hoffnung aufAuferstehung und Leben im Reich Gottes ennöglicht es, die diesseitige Lebensführung über ihre Disziplinierung ganz eng an die Perspektive eines neuen Lebens anzuschließen und den Triebaufschub (verbunden mit einer kurzen Lebenserwartung) lebbar zu halten. Dabei soll die Selbstkontrolle nicht mit Bitterkeit und bis zur Selbstaufgabe ausgeübt werden, sondern mit einer Heiterkeit, die die Erlösungshoffnung nicht vergisst. Anderes wäre sündhaft. Die Konzentration des Lebensstils auf den Zustand der Pilgerschaft, hin zum alles beherrschenden Ziel der versprochenen Erlösung von der irdischen Daseinsfonn ("Seelenheil"), ist der Sinn der christlichen Askese. Sie ist nicht Selbstzweck, sondern untersteht einem höheren, transzendentalen Daseinszweck, nämlich das "Reich Gottes" zu erlangen (Pannenberg 2003: 122). In dieser Konsequenz ist sie zugleich Dienst an Gott, an den Menschen und an sich selbst. Während allerdings in der antiken Tugendlehre die Weisheit den Gipfel bildete, ist es in der christlichen Version der 7fache Tugendpfad zu Gott, auf dem die Menschen an den möglichen Verirrungen und Verfehlungen vorbeigeführt werden. Die Einhaltung dieser Regeln hat nicht nur Bedeutung für die individuelle Lebensplanung, sondern auch für die Ausgestaltung und die Grundfonnen des gesellschaftlichen Lebens, sei es für Ehe und Familie, Kirche, die politische Öffentlichkeit, sei es für die Rechtsordnung und die internationale Staatenwelt. Sie gelten "an sich" also für die Welt insgesamt. Dieser Universalitätsanspruch ebnet die traditionale, dualistische Spaltung in Binnen- und Außenmoral ein. Es gelten im Umgang mit Glaubensbrüdern (etwa das Liebesgebot) keine Verhaltensregeln, die gegenüber Fremden nicht auch eingehalten werden müssten. Idealerweise darf eben keiner übervorteilt werden.
2.2 Das christliche Mönchs/eben Historisch gesehen, spielte dabei die Aufteilung in eine Virtuosen- und eine Massenethik eine große Rolle. Denn insbesondere die christlichen Mönchsgemeinschaften sollten modellhaft das konzentrierte Zusammenleben der Menschen im Hinblick auf das jenseitige Heil überzeugend vorleben und symbolisieren. Seit Anbeginn an verstand sich das Mönchstum als christlicher Mikrokosmos, in dem unter Heranziehung der vorchristlichen Askese-Traditionen der Übergang von der "civitas terrena" zur "civitas Dei" eingeübt wurde. Dabei wurde über die drei Wege kon-
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trollierter Lebensführung, der via purgatoria (Reinigung), via illuminativa (Erleuchtung), via unitiva (Einswerdung), also dem Abscheiden vom diesseitigen Leben, der Befreiung vom Uneigentlichen und dem Wachstum des eigentlichen Lebens, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Diese Lebensweise gehört zum religiösen Enthusiasmus der meisten Religionen. Schon der Buddhismus organisiert seine "heiligen Extremisten", die Eremiten, in geschlossenen Klostergemeinschaften und bildete eine bis heute weltweit wirksame Konzentrations- und Askesetradition (z.B. den Zen-Buddhismus) aus. Ähnliches findet etwa ein Jahrtausend später im Westen unter dem Siegel der "Nachfolge Christi" statt. Diese Tradition asketischer, weltentsagenden Bruderschaften wird auch im Islam (ab 770) aufgegriffen. Die christlichen Mönchsgemeinschaften gehen auf das 4. Jahrhundert in Oberägypten zurück, bekommen ihre dynamische, kulturtragende Kraft für das Abendland aber erst im 6. Jahrhundert durch die Gründung des Benediktinerordens (durch Benedikt von Nursia 592) und seine vielen Verzweigungen. Später kommen die Klöster der Cluniazenser (ab 909), der Zisterzienser (ab 1098), der Prämonstratenser (ab 1121), der Franziskaner, Dominikaner und Augustiner im 13. Jahrhundert und der Jesuiten im 16. Jahrhundert hinzu. Auch wenn die verschiedenen Orden und die vielen Kongregationen unterschiedliches Gewicht auf einzelne Verhaltensweisen legten, blieben doch alle im Großen und Ganzen den Regeln des Benedikt verhaftet. Bei ihrem Eintritt verpflichteten sich die Mönche, fünf Idealen der Selbstzucht auf dem Weg zum Heil nachleben zu wollen: • • • • •
dem Gehorsam gegenüber dem Prior, Abt oder den kirchlichen Oberen überhaupt, dem Keuschheitsideal (Zölibat), dem Ideal der freiwilligen, religiös motivierten Armut (Franz von Assisi: "nullum possidentes, omnia habentes"), dem Gebets- und Arbeitsideal (benediktinische Regel: "ora et labora") und dem Ideal der urchristlichen Produktions-, Güter- und Konsumgemeinschaft (statt "mein" gilt "unser").
Die individuelle Armut der Mitglieder machte die Gemeinschaft selbst oft reich. Die Mönche wussten sehr wohl, dass ihr extremer Lebensstil von den außerhalb der Klostermauem Lebenden nicht abverlangt werden konnte. Auch genügten sie den Regeln selbst oft nur von ungefähr, so dass auch innerhalb der Klostermauem sich eine Differenzierung der "heilsökonomischen Leistungsfähigkeit" einstellte. Trotzdem hatte die Mönchsgemeinschaft als Institution eine hohe Außenwirkung. Diese lag weniger in der gesellschaftlichen Verallgemeinerung einer im Prinzip
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tatsächlich von allen gelebten Disziplinierungspraxis selbst als im enthusiastischen ,,zeugnischarakter", also in der kulturellen Symbolisierung des - eschatologischrational gesehen - ..an sich" richtigen Lebens. Das Charisma des Mönchslebens hatte denn auch direkt und indirekt eine erhebliche ..binnenkolonisatorische" Kulturbedeutung in Europa und später weit darüber hinausgehend. Sie reicht von der produktiven Erschließung ganzer Landschaften, über die Urbanisierung, das Schulund Bildungswesen (Universitäten), bis hin zu den sozialpolitischen Schutz- und Sicherungsleistungen (Annenpflege, Krankenhäuser), alles gesellschaftliche Aufgaben, die erst viel später in die Kompetenz weltlicher Organe übergingen.
3. Von der Virtuosen- zur Massenethik 3.1 Die höfische Verhaltenssteuerung Keine Gesellschaft lässt das Verhalten ihrer Mitglieder unbeaufsichtigt, sondern versucht, es in eine bestimmte, allgemein verträgliche Richtung zu lenken. Insofern ist menschliches Handeln nicht isolierbar, sondern Ausschnitt einer gesellschaftlichen Struktur. In seinen Studien zum europäischen Zivilisationsprozess versucht N. Elias zu zeigen, dass dieser einem typischen, wenngleich von Rückschlägen nicht freien Wandlungsmuster unterliegt. Es ist nicht nur obenhin aufgesetzt, sondern reicht bis in die Tiefen der menschlichen Empfindung hinein und erfasst die Sprache, die Sitten, die Sexualität, die Hygiene und den ganzen affektiven Haushalt. Soziologischer Ausgangspunkt seiner Kulturtheorie sind die Länge der Interdependenzketten und die Dichte der Interaktionen. Im frühen Feudalsystem ist der Boden die hauptsächliche Quelle von Reichtum, Macht und Ansehen. Folglich konzentrierten sich die Herrschaftskämpfe auf die Aneignung von Boden oder um die Eroberung von Flächen. Der feudale Herrscher kann sich seines Einflusses über relativ große Gebiete dadurch sichern, dass er seine Vasallen mit Verfügungsrechten über bestimmte Bodeneinheiten (Gebiete) belohnte und dadurch deren Treue und Dienstbarkeit (Kriegsdienste, Ordnungsund Integrationsleistungen) verlangt. Mit der allmählichen Umstellung von der Natural- zur Geldwirtschaft verändert sich dieser Herrschaftsmechanismus. Denn nun wird es für den König wichtig, sich Geldeinnahmen (Steuern) zu sichern, die ihn handlungs- und durchsetzungsfähig halten. Er muss sich sogar das Steuermonopol sichern, denn damit kann er sich ein stehendes Heer finanzieren, das sich auf die Pazifizierung und Arrondierung der Herrschaftsgebiete spezialisiert. Dadurch kann sich der Herrscher aus der Abhängigkeit von den Vasallendiensten be-
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freien und das staatliche Gewaltmonopol beträchtlich verstärken. Gleichzeitig verändert sich die Gesellschaftsordnung dadurch, dass sich Herrschaft zentralisiert. All das schafft gänzlich andere Voraussetzungen für das Verhalten der Menschen, allen voran der adligen Oberschicht. Da der ehemalige Vasall mit seiner eigenen Kriegstechnik ausgedient hat, wird es nun für den Adel wichtig, sich eine einflussreiche Stellung im Machtzentrum selbst zu sichern. Er muss gute Beziehungen "zum Hof' herstellen, ja sogar versuchen, "bei Hofe" unterzukommen. Dort ist Waffengebrauch wenig gefragt. Viel bedeutsamer ist es jetzt, sich dem Lebensstil des Königs und seiner wichtigen Vertrauten anzupassen. Um sich der Gunst des "Granden" zu sichern, müssen die "Höflinge" nun genau beobachten, welches die relevanten Einflussnetzwerke sind, wie man sich in diese einbindet, welche Strategien dabei zu verfolgen sind, was Ansehen und Zugang verschafft und wie man Mitbewerber in den Schatten stellt. (Die hierarchischen Organisationskulturen moderner Betriebe unterscheiden sich darin nur wenig!) Gegenseitige Beobachtung der Konkurrenten wird zum zentralen Handwerkszeug für den Erfolg. Es ist die Geschicklichkeit des Herrschers, jeweils ein labiles Gleichgewicht der divergierenden Kräfte zu halten (Königsmechanismus). Die Abhängigkeiten werden nun langsam umgeformt zur reibungslosen Anpassung an die herrschenden Normen, was nur die Tatsache verdeckt, dass die soziale Kontrolle wesentlich intensiver geworden ist. Das Verhalten wird an die Situation "an-gemessen". Das hat Folgen für die ganze Gefühlswelt. Eruptive Ungezwungenheit (etwa bei den Tischsitten), emotionale Spontaneität und selbstbewusste Originalität müssen nun dauernd zurückgehalten, wenn nicht gar definitiv unterdrückt werden. Das kleidet Elias in die berühmte Formel, dass sich der ursprüngliche Fremdzwang unmerklich in einen subtilen Selbstzwang transformiert, der die Form eines inneren Automatismus annimmt (Blias 1978, 11: 312 ff.). Damit ist die allgemeine Richtung des Prozesses der (nicht positiv wertend gemeinten) ,,zivilisierung" vorgezeichnet. Was früher spontane Willensäußerung war, muss nun hinter die Kulissen verlegt werden. (Goffman 1985: 69 ff.) wird von Vorder- und Hinterbühnen (back regions) sprechen. Das besagt, dass äußere und vor allem innere Schwellen aufgebaut werden, die das "eigentliche Selbst" verdecken. Sie setzen rechtzeitige Kontrollmöglichkeiten, vor allemjedoch die Selbstdisziplinierung in Gang, bevor peinliche Entdeckungen, Kontrollen und Sanktionierungen von außen Platz greifen können. Auf diese Weise hebt sich die Schamschwelle in der Gesellschaft langsam an. Aber sie verbreitert sich auch, denn je reicher und mächtiger die Bürgerschicht wird und den Adel in seiner gesellschaftlichen Stellung bedrängt, desto eher werden die Bürger versuchen, sich den Verhaltensreglementierungen der Oberschicht anzupassen. In einer Gesellschaft, in der Geburtsvorränge immer weniger gelten
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und Mobilitätschancen erheblich ausgeweitet werden, führt dies dazu, dass auch die Mittel- und später die Unterschichten in diese Sozialisationsdynamik einbezogen werden. Die Instanzen der Massensozialisation sorgen dafür, dass "alle" in die bürgerlichen Tugenden von Pünktlichkeit, Benehmen, Fleiß, Sorgfalt und sozial verträglichem ,,Auftritt" eintrainiert werden. Auch die Massen müssen sich dem angleichen, was sich in der jeweiligen, hier der bürgerlichen, Gesellschaft ziemt. Das hat auf lange Sicht seine Auswirkungen auf die Kontrolle der Sprache, der Affekte und der Sitten auch dieser Schichten (,,Höflichkeit"). Interessanterweise bewegt sich die Emotionalisierung des Binnenraums der Familie im Biedermeier ("romantische Liebe") auch nicht eindeutig in Richtung auf eine höhere Spontaneität. Vielmehr ziehen die gestiegenen Ansprüche im emotionalen und sexuellen Bereich eine Verkomplizierung des Ehelebens nach sich. Die restriktiveren Bindungen des einzelnen erfordern eine höhere Triebmodellierung und eine neue Form der Selbstkontrolle (Vollbrecht 1983:38 ft). So bewegt sich das ganze gesellschaftliche Gefüge in Richtung erhöhter, unspontaner Eingefasstheit und selbstkontrollierter ,,Abgemessenheit". Aufdiese Weise verringern sich die gesellschaftlichen Kontraste zwischen den Schichten insgesamt, was nicht heißt, dass sich innerhalb dieses Rahmens die kleinen Varianten und Spielarten des Verhaltens nicht vergrößern könnten. Diese Prozesse der Verbürgerlichung mögen mit der Virtuosenethik des Weisen wenig zu tun haben. Sie bezeugen aber doch, dass eine erhebliche Rationalisierung des allgemeinen Verhaltens eingetreten ist. Die "höfische Rationalität" der "Kalkulation von Gewinn und Verlust von Prestige und Statuschancen" (Elias 1979: 141) wird in der longue dun~e zu einer Voraussetzung für die Entwicklung der "berufsbürgerlichen" Verhaltenssteuerung, bei der die Kalkulation von Gewinn und Verlust finanzieller Machtchancen eine primäre Rolle spielt. Auch die Rationalität der wirtschaftlichen Antriebskontrolle folgt aus dem Zwang der wirtschaftlichen Verflechtung bzw. der Berechenbarkeit des Einsatzes von Produktionsfaktoren.
3.2 Max Weber und die berufsbürgerlich-industrielle Verhaltenskontrolle In seinen Studien zur Religionssoziologie führt Weber den religiösen Strang der Selbststeuerung weiter und verknüpft ihn ebenfalls mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft. Sein Interesse gilt der "Schicksalsmacht" des modemen Kapitalismus und seinen Entstehungsgründen. Als Vorbedingungen gelten ihm - neben dem technischen und rechtlichen Wandel- die Rationalisierung von Betriebs- und Steuerungsverfahren (Buchführung, Dauerunternehmung). Aber er möchte analysieren, wie es zur Herausbildung der typischen Wirtschaftsgesinnung und der Rationalisierung der Lebensführung insgesamt gekommen ist. Hier genügt ihm der
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Hinweis auf den Erwerbstrieb als solchen nicht, denn diesen hat es auch in vorkapitalistischen Verbänden (Stamm, Sippe, Hausgemeinschaft) gegeben. Auch in sie war der Aspekt der Rechenhaftigkeit schon eingedrungen, ohne allerdings den Traditionalismus durchbrechen zu können. Denn der Spielraum für Erwerb war durch antikapitalistische Verhaltensmuster weitgehend eingegrenzt geblieben. Folglich stellt sich für Weber die Forschungsfrage, wie diese traditionalen Regeln durch den "kapitalistischen Geist" ausgehöhlt wurden. Dieser Durchbruch zur modernen Wirtschaftsweise fand für ihn in der Reformation mit ihrer Tendenz zur Subjektivierung des Glaubens statt. Die katholische Kirche stand dieser Entwicklung entgegen, denn in ihr lebten die virtuose, asketische Mönchsethik und die Massenethik getrennt nebeneinander. Die Mönche waren zwar die ersten "rational" lebenden Menschen des Christentums, da sie das jenseitige Heilsziel "methodisch und mit rationalen Mitteln" anstrebten (Weber 1975: 370), aber diese Lebensführung blieb auf enge (intellektuelle) Kreise beschränkt. Die Masse wurde davon nicht erfasst, sondern von der Strenge der asketischen Lebenshaltung eigentlich immer wieder entlastet. Die Beichte etwa konnte dazu beitragen, das Schuldgefiihl zu entspannen. a) Die langsame Verweltlichung des mönchischen Lebensideals Mit der Reformation ändert sich das grundlegend. Die Jenseitsorientierung hatte sich in der frühen Neuzeit noch erhalten. Jetzt aber löst das Christentum seinen alten Anspruch als ,,P1ebejerreligion" ein. Die Ansprüche an die Lebensgestaltung des Einzelnen werden verstärkt und die Se1bstdiszip1inierung verschärft. Denn nun werden die institutionellen Vermittlerinstanzen zwischen Dies- und Jenseits aufgehoben. Spezifische Gnadenstände (consilia evange1ica) werden zugunsten des "allgemeinen Priestertums der Gläubigen" abgeschaffl:. Im Ergebnis werden so die Virtuosen- und Massenethik zusammengeführt. Denn nun gilt die asketische Virtuosenethik tendenziell für alle. ,,Die straff religiösen Naturen, die bis dahin ins Kloster gegangen waren, mussten von jetzt an innerhalb der Welt das Gleiche leisten. Für diese innerwe1tliche Askese haben die asketischen Denominationen des Protestantismus die adäquate Ethik geschaffen ...: Es muss jetzt jeder sein Leben lang ein Mönch sein" (Weber 1975: 371). Diese Verschiebung der religiös motivierten Selbstkontrolle - von den wenigen auf viele und die Verlagerung dieser Bemühungen auf die ursprünglich "weltlichen" Tätigkeiten - ist für Weber die Durchbruchstelle des kapitalistischen Geistes. Dafür ist der Begriff ,,Beruf' zentral. Die Welt will weder geflohen noch genossen, sondern durch asketische Hingabe an den Berufbezwungen sein. Das gilt zunächst für den Unternehmer, der sich durch persönlich bescheidene Lebensführung die nötigen Investitionsmittel bzw.
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durch den wirtschaftlichen Erfolg "Heilsgewissheit" und dadurch ein gutes Gewissen verschafft. Danach wird dieses Verhalten zum Modell für die arbeitswillige Arbeiterschaft, deren "ethisch vollwertige", selbstgesteuerte Hingabe an ihren Beruf, an das Unternehmensziel und den Verwertungswillen der Unternehmer das kapitalistische System mit einer insgesamt bisher ungekannten Energie und Breitenwirkung ausstattete. "Eine derart machtvolle, unbewusst raffinierte Veranstaltung zur Züchtigung kapitalistischer Individuen hat es in keiner anderen Kirche oder Religion gegeben, und ihr gegenüber schrumpft alles zusammen, was auch die Renaissance für den Kapitalismus getan hat" (Weber 1975: 373). Die religiös motivierte Verbindung von Fremd- und Selbstzwang lässt sich gut an den kleinen puritanischen Lebensgemeinschaften verfolgen, die mit der englischen Staatskirche in Konflikt standen, in die amerikanischen Kolonien flohen, und für das politische, wirtschaftliche und religiöse Selbstverständnis der USA, "Gods first nation", bis heute zentral geblieben sind. Fernab von Europa konnten die "pilgrims" ihrem Lebensstil und ihren Überzeugungen ungestört nachgehen. Die innere Verfassung dieser Haus- und Siedlungsgemeinschaften war demgemäß streng vom Verbot des Privateigentums und der Kontrolle von Arbeit und Konsum dominiert. Jeder Einzelne musste lernen, aus freien Stücken zu wollen, was dem Überleben und dem Erfolg der Gemeinschaft diente. Die religiöse Ausrichtung des Siedlers, die dauernde gegenseitige Überwachung bei allen Lebensvollzügen und der "öffentliche Bekenntniszwang" waren der Rahmen dafür. Sie waren "Möchsgemeinschaften ohne Mönche", was sich manchmal bis in zölibatäre Regelungen, Männertonsur, harten Betten, groben Kleidern, vegetarischen Speisen, biblischen Namen, langen Mittemachtsgottesdiensten und den genau geplanten Tagesabläufen zurückverfolgen ließ. Eine der bekanntesten und dauerhaftesten Siedlungen auf religiöser Grundlage ist die Gemeinschaft "Ephrata" in Pennsylvania (17321905). Ähnliche Berühmtheit erlangten die Herrenhuter Kolonien in Bethlehem/ Pennsylvania (ab 1741), die Shaker-Siedlungen der Mother AnnLee (1774-1970), die Harmonisten-Gemeinden des Johannes Rapp bei Pittsburgh, die ähnlich wie die Perfektionisten von Oneida rund 100 Jahre in Funktion blieben. Auch die Inspirationisten in Iowa und die Separatisten in Ohio stellten bis ins Detail gehende Gebots- und Verbotskataloge auf. Andere experimentierten mit Polyandrie und Polygamie. Wieder andere - wie die Mennoniten (Old Order Amish) - setzten auf die bewusste Absonderung von ihrer Umwelt, auf dass die Mitglieder an der Erfüllung des "wichtigsten Gesetzes, der freiwilligen Armut", nicht irre würden. Mit dem Heraufziehen des Wirtschaftsliberalismus und seinen sozialen Härten (Pauperisierung, Entfremdung) entstanden auch antikapitalistische Gegenbewegungen, die unter dem Namen "utopischer Sozialismus" die Aufmerksamkeit
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auf sich zogen. Ihr Ziel war die Beseitigung sozialer Missstände durch eine rein innerweltlich motivierte, "kommunistische", häufig aber eher ,,kooperativistische" Reform der Lebens- und Arbeitsweise. Auch hier waren es die Siedlungsversuche mit Gütergemeinschaft, die z.T. in Europa, überwiegend aber in den USA, für Aufsehen sorgten. Denn diese Sozialreformer, allen voran Owen, Fourier und Cabet, nahmen sich vor, Keimzellen eines höheren Gemeinschaftslebens aufzubauen, um den um sich greifenden Individualismus und Utilitarismus zu disziplinieren. Durch gruppenbezogene Umsteuerung der egoistischen Impulse sollte ein neuer Menschentyp entstehen, von dem man sich im Laufe der Zeit die Befreiung der ganzen Gesellschaft von ihren falschen Konstruktionsmerkmalen erhoffte. R. Owen erwarb 1825 die Rappisten-Kolonie "New Harmony" in Indiana, um so "das Glück der Welt zu fördern". Er war sich klar, dass ein solcher Lebensstil weltlich-klösterliche Disziplin erforderte. Deswegen sah er bei der Auslese der Mitglieder auf Charakterfestigkeit, Mäßigung (Alkoholverbot), Fleiß Sorgfalt, Wissensdurst etc. Allerdings scheiterte dieser Versuch nach wenigen Jahren - gerade wegen des Disziplinmangels (Verschwendung, Alkoholprobleme, Arbeitsmoral) der Siedler. Fourier ging es mit seinen "Phalangen" ebenfalls um eine Neuordnung der Gesellschaft auf dem Weg über die Gütergemeinschaft. Allerdings war er so stark von der Modellwirkung seines Experiments überzeugt, dass er auf Verhaltensregeln, die die Freiheit weiter einschränken würden, glaubte verzichten zu können. Die nach 1848 in den USA gegründeten 41 Siedlungen (besonders bekannt dabei die "Brook Farm" in Massachusetts) scheiterten jedoch alle an Disziplinlosigkeit und hatten nur eine durchschnittliche Lebensdauer von rund 3 Jahren. E. Cabets "Ikarier", ebenfalls auf der Basis von Güter- und Versorgungsgemeinschaften, konnten sich etwas länger halten, gingen aber auch bald den Weg der Selbstauflösung. Offenbar waren die stärker religiös motivierten Gemeinschaften krisenstabiler, weil sie sich auf größere Gehorsamsbereitschaft verlassen konnten. Das zeigte sich u.a. an den Jesuiten-Reduktionen in Paraguay (17./18. Jahrhundert), den Mennoniten-Siedlungen in Südamerika, den russischen Kollektivsiedlungen (Zadruga), den Templer-Kolonien und der Kibbutz-Bewegung in Israel Für die moderne Welt wurden sie aber nicht stilbildend. b) Die Welt der Sachlichkeit und des Eigeninteresses Der Weg der europäisch-amerikanischen Modeme verlief anders, da sich das liberale System von Erwerbsfreiheit und Effizienzka1kül Schritt für Schritt eine zentrale, lebensbestimmende Stellung eroberte. Aber auch hier kann sich das Zusammenleben der Menschen nicht von asketischen Erwägungen freihalten. Denn die immer übergewichtiger werdenden Marktbeziehungen verlangen von allen ein hohes
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Maß an Sachlichkeit. Die Märkte setzen Menschen zwar von feudalen Begrenzungen frei, aber in der Tendenz müssen sie sich auch von persönlichen Rücksichten und Beziehungen "befreien". Emotionen, Zuneigung, persönliche Verpflichtungen müssen hintangestellt werden, wenn es um das Kalkül von Aufwand und Ertrag geht. Zukunft kann nur geplant und gewonnen werden, wenn in der Gegenwart alle Mittel und Energien rigoros auf einen künftigen Zweck hin gebündelt werden. Produktionsplanung war nur möglich, wenn man die gegenwärtige Befriedigung von Bedürfnissen zugunsten eines künftig hohen Ertrages beschränkte. Berufspflichten und Konsumaskese wurden abgeleistet, um Investitionsfonds für die Zukunft freizustellen - und auch, um nicht der Verweichlichung und Verflachung durch den Wohlstand anheim zu fallen. Mit dem Siegeszug dieses ursprünglich auf Wirtschaft, Geldgeschäfte, Arbeit und Beruf begrenzten "kalkulierenden" Denkens werden sukzessive alle Lebensbereiche durchzogen: Schule, Bildung, Kunst, Sport, Freizeit etc. "Rationale Lebensführung" ist systemisch geworden und macht den typisch modemen Habitus aus, der für das Funktionieren von Politik, Verwaltung, Wählerverhalten, Konsum und Interaktion ganz generell als adäquat und normal vorausgesetzt wird. Es ist dieser Vorgang der kulturellen "Kolonisierung der Lebenswelt" (Habermas), der M. Weber veranlasste, von der "Schicksalsmacht" des modemen, areligiös gewordenen Kapitalismus zu reden. Infolge des diesseitigen Berufserfolges, verbunden mit der allgemeinen Entzauberung der Welt durch die Säkularisierungsbewegung, wird der transzendentale Bezug der Menschen immer geringer, während die bislang mögliche und zwingende Distanznahme zur hiesigen Welt in sich zusammenfällt. Der modeme Mensch emanzipiert sich zunehmend von der Religion und deren jenseitigen Heilsprämien, die ihn auf den "inneren Erfolg des Handelns" festlegten. Er ist in diesem Sinne "wertungläubig" geworden (Weber 1964: 15 f.). Stattdessen konzentriert er sich nun ganz hart und nüchtern auf das Leben (oder Wohlleben) in dieser Welt. Weltbeherrschung heißt nun strikte Orientierung an der ,,nackten Interessenlage" (Weber 1964: 15 f., 23) und den Interessenkampfchancen. Eine andere, darüber hinausweisende Lebenskunst, aber auch jede behagliche Perspektive, hat sich für ihn j etzt erübrigt. Wer sich nicht darauf einlässt, wird an den Rand gedrängt. Wer nicht aufsteigt, steigt ab. Der Konkurrenzkampf nimmt zu und entzieht der karitativen Brüderlichkeitsethik - oder auch dem Traum von einer anderen, besseren Welt - den Boden. Der modeme Berufs-, Fach- und Genussmensch bedarf des alten Ethos nicht mehr. Er kann ihm auch nicht mehr gerecht werden. Denn Kampf, Ausschaltung, Auslese sind zu den zentralen Zug- und Schubkräften geworden. Die äußeren Güter dieser Welt gewinnen einen beinahe unentrinnbaren und noch nie gekannten
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Appellgehalt. Die wertrationale Ausdeutung von Kooperation wird der zweckrational-utilitaristischen geopfert. Der ursprünglich arn Heilsgewinn orientierte Berufsbegriffbleibt im Kern zwar erhalten, aber er transfonniert sich nun zur unablässigen und gänzlich innerweltlichen "Leistung". Im besten Fall verspricht die persönlich gefühlte und sozial bestätigte Performanz (achievement) eine immer nur vorläufige und stets gefährdete "Erfüllung". Sie ist, zusammen mit dem Versprechen des Geldeinkommens, des Vennögens, des Wohlstands, des Prestiges und der Macht, das letztlich nur noch "mögliche Heil", das als ständig vorwärtstreibende Kraft in die modeme Wirtschaftsgesinnung einfließt. In diesem Ethos gehen höchste Fremdkontrolle und Selbstzucht eine enge Verbindung ein. Die ewige (Glück-)Seligkeit kommt hingegen als Lohn der Askese nicht mehr in Betracht. Deshalb müssen auch, wie die bisherige Weiterentwicklung des Industriesystems zeigt, die Spannungen in der Welt zunehmen. c) Die Erfindung des Konsumenten In der Nachkriegszeit hat die Emanzipation der Lebensführung aus den traditionalen Grenzziehungen eine weitere, höchst ambivalente Wendung genommen. Westeuropa, die USA und Japan konnten nach 1955 ihren wirtschaftlichen Wohlstand in einem so hohen Ausmaß vergrößern und den Konsum "demokratisieren", dass immer breitere Schichten mit dem Lebensgefühl ausgestattet sind, dass sie nicht mehr "ganz unten" leben, im Sozialstaat auch nicht bodenlos tief fallen und der existentielle Ernstfall erst mit dem Tod droht, der durch steigende Lebenserwartung weit an den Rand des Lebens abgedrängt werden kann. Leben heißt nun, sich ein materielles Lebensniveau (Lebensmittel, dauerhafte Konsumgüter) finanzieren zu können und damit die Dispositionsspielräume (Auto, TV) zu erhöhen. Materielle Wohltaten und "angenehmes Leben" reiften sogar zur Legitimationsbasis für das politische Handeln fast aller Staaten. Sie machten den ,,Lebensstandard" zum "Gott dieses Zeitalters" und die Produktion zu ihrem Propheten (Freyer 1955: 73), ohne dass allerdings das Glücksgefühl entscheidend mitgewachsen wäre. Die Marktgesellschaft konnte sich ungebremst durchsetzen und dabei sogar eine erhebliche Distanznahme zum einstmals übergewichtigen Arbeitsethos mit bewerkstelligen. Berufund Freizeit beschreiben nun das "wahre Leben". Die eigene Identität definiert sich jedenfalls nicht mehr über die Arbeitswelt allein. Aber auch die "freie Zeit" ist so frei nicht geblieben, sondern gleichzeitig wieder von der allgemeinen Tendenz zur Vennarktlichung eingefangen worden. Eigene Freizeitmärkte haben einen Siegeszug sondergleichen angetreten, ja sind sogar zu den "Zukunftsindustrien" der postindustriellen Gesellschaft aufgerückt. Tourismus, Sport, "wellness", Hygiene, Gesundheit, Körperpflege, Gastronomie und
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der damit verbundene Dienstleistungsboom werden heute als kauforientierte Erlebniswelten organisiert, die den Menschen Marken- und Marktidentitäten gleich mitliefern. Mit anderen Worten; Menschen werden in ihren Lebensentwürfen und Aufmerksamkeiten an Waren gebunden, die Glücksversprechen beinhalten, ohne diese Versprechen wirklich einhalten zu wollen und zu können. Denn die Anbieter, die ihre hohen Investitionen durch eine vernünftige Gewinnaussicht absichern wollen, haben erkannt, dass sie die Konsumentensouveränität sachte, aber energisch an die Produktionsentscheidungen binden müssen. Mit Hilfe ausgefeilter, mediengerechter Marketing-Feldzüge buhlen die Produzenten um die Gunst ihrer "Wähler". In einem bisher ungeahnten Ausmaß sind die einstmals als "souverän" angesehenen Verbraucher heute zu Objekten der Marketingstrategen und ihrer Verführung zum Konsum mutiert. Waren ihre Entscheidungen früher in traditionalen Wertbindungen festgeschrieben, so sind sie heute von den Fesseln der Mäßigung, Bescheidenheit und Besonnenheit befreit. Massenkonsum und Teilhabe an der Konsumgesellschaft ist zum "selbstverständlichen Sozialanspruch aller" geworden (Schelsky 1965: 347 ft). Massenkonsum wird sogar zur "Pflicht", denn er hält die Wirtschaft am Laufen. Aber die Standardisierung der Güter schließt dauernde Distinktionsversuche ("Lebensstil") keineswegs aus, sondern entfesselt sie geradezu. Sie mögen nicht aus dem Allgemeinen herausfallen, aber können sich nicht der Notwendigkeit entziehen, sich in der Variation herauszuheben. Im Rahmen der Massengesellschaft beinhalten sie keine weniger harten Kämpfe. Sie sind nur subtiler, denn die Qualität der Güter, das Design, der Mut zum kontrollierten Stil- und Normbruch lassen Rückschlüsse auf Lebenslage und Status zu. All das wird in das strategisch geplante Verkaufs-"Event" schon verbrauchergerecht eingebaut. So trägt der moderne Verbund von Produktion und Verkauf zur gesellschaftlichen Differenzierung und Pluralisierung bei. Er "schafft" oder artikuliert Bedürfnisse, verändert Konsumgewohnheiten, stimuliert zur Selbstdarstellung, übernimmt die Produktion von Leitbildern und Traumwelten und besetzt das Bewusstsein. Er erzwingt die Hingabe an "die Welt" als neuen Wert. Und selbst der Widerstand ist schon einkalkuliert; er wird eben über den nächsten Modegag als extravagantes Variationsmerkmal vereinnahmt. d) Das Steigerungsspiel Gleichwohl ist darin eine Frustrationsspirale eingebaut, denn es ist das Gesetz des Marktes, "dass die Glücksverheißungen, die mit dem Kaufbestimmter Waren verbunden werden, immer wieder aufs Neue enttäuscht werden" (Haupt 1999: 318). Das muss so sein, weil die "Glücksgüter" keine dauerhafte Qualität versprechen
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können und schal werden. Außerdem erzwingt der Wettbewerb, dass Produktion und Konsum in dauernder Bewegung bleiben. Auf diese Weise werden Produktion und Konsum, ja Erleben, Denken und Handeln insgesamt, in ein gefräßiges, auch verwilderndes "Steigerungsspiel" (Schulze 2003: 81 ff.) hineingezwungen, das alle vernünftige Selbstkontrolle außer Kurs setzt. Diese systematisch organisierte Entgrenzung des Verhaltens führt der Reihe nach zu Modetaumel, Materialverschleiß, Landschaftszerstörung, Ressourcenerschöpfung, Sittenverbrauch, Identitäts-Patchwork und vorwärts drängender Unruhe. ,,Am Ende genügt es, wenn eine Dynamik der Erzeugung von Anlässen am Werk ist. Man wird mit Vorgaben versorgt, (die) immer öfter Organisierbarkeit über Brauchbarkeit stellen. Man steigert sich ins Unbrauchbare hinein, um sich weiterhin in der gewohnten Form sozial organisieren zu können und um überhaupt orientiert zu sein ... Eine stille Sinnverschiebung vollzieht sich. Organisierbarkeit wird zu einem Magnet für menschliche Energie" (Schulze 2003: 47). Im "Steigerungswissen" koppeln sich Denken, Fühlen, Erleben und Handeln von ihren möglichen Zielen ab. "Action", Spannung, Spaß und orgiastische Turbulenz suggerieren das Faszinosum der Selbstgenügsamkeit. Als Selbstläufer gewähren sie eine eigentümlich ekstatische Orientierungssicherheit, nämlich willig-unwillig und in Angstlust mitgerissen zu werden und sich nicht entziehen zu können. ,,Besinnungslos" unterwirft man sich in lustvoller Selbstüberrumpelung dem Imperativ der angeblichen Steigerung seiner Existenz, ohne weiter nach grundlegenderer Sinnerfüllung suchen zu müssen. Damit hat man nicht nur der harten Arbeitswelt ein Schnippchen geschlagen. Man hat sie vielmehr selbst unter den Lebensrhythmus des "rasenden Dionysos" gezwungen (Maffesoli 1988: 106 ff.).
3.3 Kulturelle Spannungen in der modernen Welt und ihre Folgen a) Das modeme, kulturelle "double bind" Doch der Schein trügt. Die Orgiastik ist als Alltag nicht institutionalisierbar und auf Dauer nicht lebensfähig. Sie ist definitionsgemäß eine Ausnahme. Oft hat sie nur Ventilfunktion. Die Härte der materiellen Existenz und des Berufslebens behalten ihre eigene Zwingkraft. Die modemen Wirtschaftssysteme, die Marktgesellschaft mit ihrer "Erwerbsvirtuosität" und auch die Staatswirtschaft mit ihrem Appell an die "altruistische Virtuosität", bedürfen eines nüchternen, arbeitsamen, "puritanischen" Charakters, der seine vielleicht maßlosen Begierden zu zügeln versteht, um seine Energien für Aufgaben außerhalb der Interessen des Selbst zu mobilisieren. Nur so kann er Ordnung in seine Lebensführung bringen und die Welt außerhalb seiner selbst beherrschen lernen, so gut es eben geht.
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Die Unternehmen und Verwaltungen sind weiterhin strenge Sozialisationsinstanzen, die dem asketischen Geist von Effizienz, Kostenkontrolle, rationaler Dauerorganisation, Leistungsoptimierung (und Gewinnmaximierung) verpflichtet sind. Damit wird offensichtlich, dass die moderne Welt in eine in ihr selbst angelegte Spannung hineingeraten ist: das Auseinanderdriften der Lebensbereiche und die Dissonanzen in der Charakterstruktur. Bell (1976: 49 ff.) spricht vom "kulturellen Widerspruch" in der "moralischen Stimmungslage" und in den Legitimationsmustern der Modeme. Er meint damit die Diskrepanz zwischen "protestantischer Hei1igsprechung der Arbeit" und dem diesen subversiv unterlaufenden Hedonismus des a-intellektuellen Selbst-Marketing. Selbstbindung und Selbstentgrenzung entstammen derselben Quelle, ziehen aber das platonische Pferdegespann der Seele in entgegengesetzte Richtung und bringen die modemen Gesellschaften in Konflikt mit sich selbst. "Die eine Strömung hebt auf funktionale Rationalität, technokratische Entscheidungsfindung und meritokratische Entlohnungen ab, die andere auf apokalyptische Stimmungen und anti-rationale Verhaltensweisen. Dieses Auseinanderfallen macht das Wesen der historisch bedeutsamen Kulturkrise aller westlich bürgerlichen Gesellschaften aus" (Bell 1976: 103). Welche der beiden ,'pferdegespanne" sich durchsetzt, ist offen, solange das Wohlstandsniveau hoch bleibt. Genau dieses kommt aber unter Druck, wenn die an Pflichtwerten orientierten Motivationen sich erschöpfen und keine umfassenden Gewissheiten mehr für den Alltag bereitstellen. b) Welche Chancen haben gesellschaftliche Suffizienzstrategien? Der Druck entsteht aber nicht nur aus der Gier nach maßloser Steigerung von "Selbstentfaltung", sondern auch aus der Verknappung der materiellen Ressourcen, die einen solchen Expansionsprozess zu immer weiterer Differenzierung der Lebensstile alimentieren. Ein weltweites "Steigerungsspiel" findet - und das ist heute schon absehbar - innerhalb von zwei bis drei Generationen sein natürliches Ende durch die Engpässe aus Energieerschöpfung, Umweltbelastung, Landverbrauch und Überbevölkerung (vgl. DobkowskilWallimann 1998: 12). Der andauernde Druck der Selbstentfaltungswerte endet spätestens dann in katastrophalen Verteilungskämpfen innerhalb und zwischen den Staaten. Deswegen sorgt man sich heute mit Recht um die ,,Nachhaltigkeit" der globalen Entwicklung. Dahinter verbirgt sich die alte, bange Frage, ob die Menschen rechtzeitig eine moralische Stimmungslage und ,,kulturelle Gesprächswelt" (Bell 1976: 109 ff.) entwickeln können, die den Ausschweifungstendenzen durch kluge Selbstbeschränkung die notwendigen Zügel anlegt (Schachtschneider 1999: 66). Die "additive" Suffizienzstrategie setzt aufeine Kultur der Mäßigung, die alle ökonomischen An-
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triebe durch ökologische Überlegungen der Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit ergänzt und begrenzt. Die "ganzheitliche" Suffizienz operiert mit einem qualitativen Wachstumsbegriff, "der die Regeln des menschlichen Verhaltens mit der Ordnung des Ganzen in Einklang" bringt (Meyer-Abich 1996: 13). Diese Strategie arbeitet mit kosmologischen Rahmenbedingungen ("Naturordnung"), innerhalb derer eine reflektierte und normativ gehaltvolle Lebensführung bzw. nicht akkumulationszentrierte Gesellschaftsformen ihren Sinn bekommen. Die "integrierte" Suffizienzstrategie schließlich versucht, beide Ansätze zu verbinden und hebt auf Mentalitätsveränderungen ab, die zu neuen technischen Entwicklungen unter Nachhaltigkeitsgesichtspunkten führen ("Wohlstand durch Vermeiden", "Rechtes Maß für Raum und Zeit", Warten, Eigenzeit, Geduld, "Gut leben statt viel haben", "Nach-Denklichkeit") (vgl. Heinte12002; Bittlingmayer 2000: 34 ff.). Dabei ist eine neuerliche Trennung in Virtuosen- und Massenethik zu erwarten. Während die Neigungen der Mittelschicht bis auf weiteres narzisstisch bleiben und die unteren Schichten zwar dem Notwendigkeitsgeschmack verpflichtet sind, aber das Niveau der Mittelschichten im Auge haben, kann sich ein Teil der oberen Mittelschicht und der herrschenden Elite einen "suffizienten" Lebensstil als Distinktionsgewinn leisten (Bittlingmayer 2000: 110 ff.). Ob das genügt, um die Menschheit von der ,,rechtzeitigen Vernunft" durch Selbstdisziplinierung der Menschen und der Gesellschaften zu überzeugen? Eine Soziologie der Knappheit (Balla 1978) hätte u.a. zu zeigen, ob und wie sich solche an Selbstkontrolle orientierten, kulturellen Gesprächswelten aufbauen. Ein Blick auf die Kulturgeschichte der Menschheit hat uns verdeutlicht, dass Selbstdisziplin sich u.a. von philosophischen Traditionen und religiösen Welterfahrungen herleitet, die den Kosmos und damit die Existenzweise des Menschen sakralisieren. Vermutlich können diese Bedingungen durch profane Sozialtechnik allein nicht wiederhergestellt werden. Können wir die Eigengesetzlichkeit der gesellschaftlichen Verflechtungserscheinungen abwarten, die langfristig und im globalen Maßstab schon die nötige Selbstzwang-Apparatur ausbilden wird? Bleibt uns noch genügend Zeit für Experimente? Quelle: A. BellebaumlH. Braun (Hrsg.): Quellen des Glücks - Glück als Lebenskunst. Ergon Verlag: Würzburg, 2004
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Maßhalten - Pädagogische Ansichten über eine traditionsreiche Thgend Erwin Hufnagel
1. Rückblick: Maßlosigkeit und Vermessenheit
In der dem Kritischen Rationalismus folgenden Erziehungswissenschaft werden seit der polemisch betriebenen Verabschiedung der philosophisch-kulturwissenschaftlichen Pädagogik in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ethische Reflexionen zugunsten analytisch-deskriptiver Verfahren weitgehend marginalisiert. l Alles Normative geriet unter Verdacht. Das Wissenschaftsverständnis von Max Weber und Karl Popper galt als verbindlich. 2 Moralische Entwicklungen wurden zunächst im Anschluss an Jean Piaget recht pauschal beschrieben und dann zu einer mit bedeutsamen Anschlussforschungen aufwartenden Theorie des moralischen Urteils durch Lawrence KohlbergJ differenziert. Jürgen Habermas und KarlOtto Apel versuchten durch eine universalistische Diskursethik resp. eine Peirce und Kant verbindende Transzendentalpragmatik eine Philosophie der Verständigung über Normen als Korrektiv zu begründen. Kants Philosophie der (praktischen) Vernunft diente dabei als Regulativ. In der Pädagogik wird dieser komplexe Versuch, Peirce, Kohlberg und Kant zu verbinden, bislang kaum wahrgenommen. Durch die Schrumpfung des historischen Bewusstseins schwindet deren normative Kultur. Egoistisch verengte Ideologien der Kritik und Mündigkeit kaschieren kaum diese fatale Destruktion geschichtlich mühsam errungener pädagogischer Komplexität. Eine pädagogische Ethik scheint unzeitgemäß und wird als weltanschaulich gebunden stigmatisiert.
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Ilse DahmerlWolfgang Klafki (Hg.), Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche - Erich Weniger, Berlin 1968. Vgl. Wolfgang Brezinka, Metatheorie der Erziehung. Eine Einfiihrung in die Grundlagen der Erziehungswissenschaft, der Philosophie der Erziehung und der Praktischen Pädagogik, 4., vollständig neu bearbeitete Aufi. des Buches "Von der Pädagogik zur Erziehungswissenschaft", Miinchen/BaselI978. Lawrence Kohlberg, Die Psychologie der Moralentwicklung, Frankfurt a.M. 1996. DetlefGarz, Kohlberg zur Einfiihrung, Harnburg 1996.
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Über Maß, Mäßigung, Übermaß, Vermessenheit (hybris), Maßlosigkeit (pleonexia), über Ermessen, über das Angemessene und Schickliche (decorum) weiß die Pädagogik nicht mehr nachzudenken. Längst ist der Rückgriff auf die antike Tugendethik, aufAristoteies vor allem, dem pädagogischen Bewusstsein entschwunden. Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, die ehades Sanders Pierce tief beeinflusste, enthält eine die Sphären des Privaten und Öffentlichen zusammenfügende Lehre vom höchsten moralisch-physischen Gut, die als Vorschlag zur Einübung in den Habitus des Maßhaltens und als moralische Propädeutik gelesen werden muss. 4 Die kommunikative Institution gemeinsamer Mahlzeiten, die in den Anstandsbüchem der Renaissance und in pädagogischen Schriften des Erasmus 5 beschrieben werden, deutet Kant, einige Purifikationen vornehmend, als Wohlleben und Tugend vereinende Humanität, in der ethische und ästhetische Momente, Vergnügen und Hinwendung zur Sittlichkeit nicht geschieden sind. Schleiermachers ein wenig später formuliertes Theorem des freien geselligen Verkehrs erweitert dieses sozial-moralische Modell zur monadisch-intermonadischen wahrhaftig-freundschaftlichen Inszenierung, zur eigentümlichen Selbstdarstellung und Selbstfindung. Weder Kant noch Schleiermacher isolieren den Menschen atomistisch zum (bürgerlichen) Subjekt. Nur in diversen Formen der Sozietät findet er das Maß seiner Menschlichkeit, die ab origine Mit-Menschlichkeit ist. Seit den Anfängen der anthropologischen Reflexion weiß der Mensch um die Gefährdung seiner selbst durch Maßlosigkeit und Vermessenheit. In jedem zivilisatorischen Progress, schon in der schlichtesten Verfeinerung der Bedürfnisse lauert der Verlust des Maßes. Die geschichtliche Selbsterzeugung des Menschen gelingt nur als Selbstüberschreitung, als Distanzierung von vorgegeben Maßen. Zivilisation ist im Kern maßlos, irritierte Suche und interimistische Setzung fragiler Mäßigungen. In jeder individuellen und kollektiv-epochalen Gestalt der Humanitas vibriert eine dunkle Geschichte der Maßlosigkeiten und eigentümlichen Mäßigungen. Die Geschichte, die der Mythos erzählte verhieß Mäßigung, Überwindung namenloser, maßloser Angst vor dem Übermächtigen. 6 Im protagoreischen Prometheus-Mythos interpretiert sich der Mensch als ein Wesen der KÜDStlichkeit, als Homo Faber und in die Freiheit und Risiken des Denkens gestelltes Wesen, dem eine einfach-konstante Natur versagt blieb. Auch die individuellen und sozialen Regulative muss er selbst erfinden und erproben. Partikulare Perspektiven muss er einnehmen und doch wieder überschreiten können. Er muss Weltsichtungen besonnen in einen umgreifenden Sinnzusammenhang stellen. Sophrosyne soll den 4 S 6
Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht; in: AA, VII, S. 277 ff. Vgl. Erasmus von Rotterdam, Ober die Umgangserziehung der Kinder; in: ders., Ausgewählte pädagogische Schriften, besorgt v. Anton 1. Gail, Paderbom 1963, S. 89-106. Vgl. Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 2006.
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Umgang des Menschen mit sich selbst, den anderen und der Natur leiten und die Menschlichkeit des entsicherten Menschen sichern. Eine Tüchtigkeit tritt an die Stelle der Natur, aus deren Zusammenhang der Mensch gefallen ist.
2. Antike: die Konstitution einer Ethik des Maßes Eudaimonia als Glück, als Erfüllung und Ziel eines ganzen Menschenlebens ist an sichtende und gewichtende, wählende und verschmähende Besonnenheit gebunden. Besonnenheit nimmt alles in den Blick des wertenden, Stellung nehmenden Menschen. In solcher Wertung besteht die Lebenskunst. Einfache Bindung an Regeln und schlichte Applikationen werden ihr nicht gerecht. Der Mensch muss seinem schön-guten, seinem eigentümlichen Dämon resp. Ingenium zu folgen lernen. Sophrosyne als fundamentale Tüchtigkeit muss ihn dabei leiten. Ohne sie verdorren alle anderen Tauglichkeiten und Tugenden. Besonnenheit trennt das Lebensglück der Eudaimonia von dem resignativen, weltflüchtigen Glück der Illusionen und Evasionen.
2.1 Platon: das chorische Maß Platon, für den politisches und ethisches Denken noch ungeschieden waren, bestimmt die Arete der Besonnenheit im Sinne des asketischen Ideals als Zügelung der Begierde, als gekonnten, beherrschten Umgang mit der eigenen Leiblichkeit und politisch als Wahrung der staatlichen Ordnung, die nicht durch ständische Begehrlichkeiten in Frage gestellt werden darf. Im einzelnen Menschen und im Staat soll Glück sichernde Ordnung herrschen. Das Motiv der Askese und der Ordo-Gedanke werden in der christlichen Pädagogik von zentraler Bedeutung werden. Die politisch deduzierte Dreiteilung der Seele? in Begierde, Affekte und Vernunft lässt die Dimension der Leiblichkeit als gefährdend und gefährlich, als vernunftfern und zu domestizieren erscheinen. In der platonischen Mäßigung des Menschen liegen triebfeindliche Tendenzen, die für das Schicksal der abendländischen Pädagogik höchst bedeutsam werden. Erst in der Renaissance-Pädagogik wird die Leiblichkeit des Menschen als beglückend erlebt und als zu kultivierendes, nicht einfach zu disziplinierendes Gut wiederentdeckt. Im 7. Buch der Politeia entwickelt Platon im Höhlengleichnis8 eine Philosophie der Verfallenheit des Menschen, die zur Grundannahme seiner Pädagogik 7 8
Platon, Der Staat (Politeia), übersetzung und hg. v. Karl Vretska, durchgesehene, verbesserte und bibliographisch ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1997, 4. Buch, S. 216 fI. Ebd., S. 327 ff.
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wird. Menschen beginnen mit der Unmenschlichkeit des falschen, des trügerischen, täuschenden Maßes, dessen sie sich in kollektivem Wahn vergewissern. Sie hausen sich in systematisch psychotisierender Kommunikation in Wahnwelten ein, deren Unwirklichkeitsgehalt sie genießen und als Wirklichkeit verteidigen. Die Pointe dieses Urgleichnisses der Pädagogik liegt darin, dass der gemeinschaftlich lebende Mensch Ordnungsstrukturen inkorporiert hat und durch wechselseitige Verstärkung reproduziert, also eine fundamentale Form von Vernünftigkeit praktiziert, die aufs Ganze gesehen unvernünftig ist. Damit kommt eine kaum zu überschätzende Problematik in die Pädagogik und Philosophie des Maßes. Es gibt offensichtlich konkurrierende Maßgeblichkeiten, von denen der Mensch in der Höhle zunächst nichts weiß. Traumwandlerisch geborgen bewegt er sich in den Selbstverständlichkeiten einer sozialen Welt, in der die Fiktionalität der Maßgeblichkeiten ausgeblendet bleibt. Normative Selbstverständlichkeiten zu distanzieren wird zur Kernaufgabe der Bildung. Sich primären, eingefleischten, permanent hinter dem Rücken der Akteure, die zu Voyeuren sich degradieren lassen, reproduzierten Maßgeblichkeiten zu entziehen wird zur Lebensaufgabe des Menschen. Mäßigung des Menschen wird an Kriterien, an Ideen, letztlich an die totalisierende Idee der Gerechtigkeit gebunden. Wer das überkommene, insinuierte Maß behält, vernichtet die tiefsten Glücksmöglichkeiten seines Lebens. Platon glaubt an normative Letztgültigkeiten. Nur durch eine die tradierten und reproduzierten Maßgeblichkeiten sprengende Umkehr des ganzen, des denkenden, fühlenden und wertenden Menschen vermag er sich ein im tiefsten Sinne vernünftiges Maß zu geben. Nicht der Chaot, sondern der Fiktionalist, der um seinen Wirklichkeitsverlust nicht weiß und sich in die zwanghafte Ritualisierung sozialer Überzeugungen einkuschelt, steht am Anfang der platonischen Politik und Pädagogik. Diese originäre Verfallenheit des Menschen ähnelt dem Begriff der Sünde, der in der christlichen Tradition für Theorie und Praxis so ungemein folgenreich wurde. Die Worte Verfallenheit, Entfremdung, Sünde leben von semantischen Gemeinsamkeiten, die meistens nicht beachtet werden. Platon schildert im pädagogischen Mythos vom Höhlenmenschen im Medium der Begriftlichkeiten übersteigenden Kunst den rituell gesicherten Menschen, dem die Künstlichkeit seiner sozialen und dinglichen Welt nicht einleuchtet, der an Wirklichkeiten glaubt, weil andere auch an sie glauben. Der Mensch muss leidvoll und im tiefsten Grunde einsam ermessen lernen. Den vielen muss dabei geholfen werden. Nur dem Genius gelingt der Aufstieg aus verzerrenden Maßgeblichkeiten aus eigener Kraft und ideenbestimmter Intuition. Im kritisch distanzierenden Umgang mit Ordnungssystemen erweist sich, wenn wir dem Höhlengleichnis folgen, Besonnenheit.
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Neben der begierdebezogenen und der fiktionalen resp. befreienden Variante des Besonnenheitsbegriffs stoßen wir in Platons letztem Werk, nämlich in den die europäische politische Philosophie bis ins 18. Jahrhundert (Rousseau) nachhaltig beeinflussenden Nomoi auf eine Pädagogik des Maßes, die in nach Lebensaltern gestuften chorischen Formen habitualisiert wird. Der Chor in der Tragödie erfüllt die Funktionen eines überindividuellen Logos; er ist eine zugleich musisch (literarisch und musikalisch), religiöse und pädagogische Institution. Mäßigung vollzieht sich in gemeinschaftlichen ästhetisch-spielerischen, zugleich ekstatischen und persönlichen Formen, denen jede Imperativität genommen scheint. Selbstgenuss und Entgrenzung, beherrschte Leiblichkeit ohne augenfälligen Zwangscharakter und Übergang in den winzigen ephemeren Menschen nicht beachtende universale Strukturen des Kosmos fügen sich zur Einheit. Mäßigung seiner selbst und Abschied vom Leben werden schön und selbsttätig, ohne Rausch und doch begeistert vollzogen. Maß und religio als letzte Vergewisserung durchdringen sich. Mäßigung in solcher chorischen Inszenierung bedeutet Sterben lernen in schönen das Leben unmerklich bändigenden, feiernden Formen. Erst in solcher religiösexistentiellen Öffnung verwirklicht sich Besonnenheit in ihrem tiefsten menschlichen, den Menschen überwindenden Sinn. Besonnenheit weitet sich zur kosmischen Würdigung seiner selbst. Nunmehr bedenkt Platon nicht einfach die situativ aufbrechende gefährdende Begierden des Menschen, sondern die Begehrlichkeit schlechthin, die Bindung an den Leib, an Zeit und Raum, an die kleine Geschichte des persönlichen Lebens, die im lebenslangen Einfügen in chorische Ordnungen zugleich gestaltet und überschritten wird. Im Chor umarmen sich Leben und Tod, Schönheit und Zeitlichkeit, vorre:flexives Denken und Einübung in den Abschied vom kurzen Traum des Lebens.
2.2 Aristoteles: Besonnenheit und Beherrschtheit als unterschiedliche Maße In der Philosophie des Aristoteles treten ethische, psychologische, anthropologische und politische Reflexionssysteme konstruktiv auseinander. Er entwirft eine eudämonistische Ethik im Kontext einer platonische spekulative Pauschalisierungen weit hinter sich lassenden psychologisch-phänomenalen Differenziertheit, die den Diskurs der abendländischen Ethik entscheidend bestimmen wird. 9 Seine platonische Schichtungsgedanken empirisch verfeinernde Typologie der Lebensfor-
9
Vgl. Wilhelm Flitner, Die Geschichte der abendländischen Lebensformen, GS, Bd. 7, hg. v. Karl Erlinghagen, Paderbom 1990. Diltheys typologische Grundlegung der Geisteswissenschaften wird durch Flitner bildungsgeschichtlich konkretisiert.
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men versucht ethische Komplexitäten, charakterologische Dispositionen und Formungen zu einem eigentümlichen Habitus überschaubar zu machen. Besonnenheit (sophrosyne) unterscheidet Aristoteles von Beherrschtheit (enkrateia ).10 Der Beherrschte erreicht nicht die humane Qualität, die dem besonnenen Menschen eigen ist. Beherrschtheit impliziert Zwangsmomente. Unvernünftige, den Gesamtsinn eines gelingenden Lebens aus den Augen verlierende hedonistische Regungen müssen bezwungen werden. Der beherrschte Mensch muss vor sich selbst auf der Hut sein. Er ist mit sich selbst uneins. Der Mäßige kennt keine der Vernunft eines gesamten gelingenden Lebens widerstreitenden Regungen. In innerem Einklang mit sich selbst gestaltet er sein Leben. Sein vernünftiger Habitus, in dem Charakter und Lebensgeschichte sich vereinen, fungiert als selbstverständliches Orientierungssystem. Einfach lernen lässt sich ein solch harmonischer Habitus nicht. Schon der erste Blick erkennt, dass Aristoteles die Figur der "schönen Seele" (Schiller, Goethe, Karrt) als Willentlichkeit überwindendes Versöhnungsideal von Vernunft und Leiblichkeit, als tiefste Form von Menschlichkeit anvisiert. Der Besonnene ist maßvoll, aber er bedarf nicht des ausdrücklichen Regulativs des Maßes. Dem unmäßigen (unbesonnenen) Mensch eignet dieselbe Geschlossenheit des Charakters und Habitus wie dem Besonnenen. An seinem Vorsatz wird er nicht irre; Bedauern kennt er nicht. Zerrissenheit ist ihm fremd. Dennoch ist er eine Fehlform von Menschlichkeit. Charakterliche Einheit begründet allein noch keine menschliche Qualität höheren Ranges. Mit-sich-eins-Sein bleibtfür Aristoteles ambivalent. Die Einheit des Unmäßigen sieht Aristoteles als Symptom einer unheilbaren Krankheit. Er lässt sich und seine Ziele nicht in Frage stellen. Im Unmäßigen sieht Aristoteles den autistischen Tyrannen, den mitleidlosen skrupellosen Verbrecher, der seine charakterliche Schlechtigkeit gekonnt im Handeln umsetzt. Unüberwindbare Grenzen der Erziehung werden markiert. Bildung resp. Menschlichkeit bedarf einer gemeinschaftlichen Maßgeblichkeit, bedarfder Besinnung auf die Wertigkeit von Lebenszielen und Weisen des Glücks. Unbesonnenheit ist das Fehlen solcher Perspektiven bei ungeschmälerter instrumenteller Potenz. 10
Vgl. Michel Foucault, Der Gebrauch der Lüste (Sexualität Wld Wahrheit, Bd. 2), übersetzt v. Ulrich RaulffWld Walter Seitter, Frankfurt a.M. 1989, S. 84-103. Foucault zeichnet die Semantik des enkrateia-Begriffs bei Platon, Aristoteles Wld Xenophon nach Wld deutet an, wie sich die Asketik aus den ursprünglichen pädagogisch-politisch-ethischen Zusammenhängen der Begierden-MäßigWIg zur Selbstkontrolle des Individuums, zur Kunst individualer SelbstgestaltWlg Wld SelbstbehauptWlg in der nachklassischen Zeit generalisiert. Die folgenreiche aristotelische UnterscheidWlg zwischen Sophrosyne Wld Enkrateia interpretiert Foucault als Sequenz: Beherrschtheit bereitet Besonnenheit vor. Aristoteies denkt jenen Unterschied nicht sequentiell, sondern habituell. Der Besonnene ist ein wesentlich anderer Mensch als der Beherrschte. Foucault Wlterschlägt die für Aristoteies wesentlichen ethischen Hierarchien zwischen Menschen.
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Falsch wäre es den Unmäßigen mit dem erratischen, unsicheren, voreiligen, aufbrausenden Menschen zu identifizieren. Letzteren nennt Aristoteles den Unbeherrschten. Unmissverständlich lässt Aristote1es in der Nikomachischen Ethik!l durchblicken, dass er Sympathien für diese labile, lemfähige, emotional ungefestigte, bisweilen reumütige zerrissene Gestalt des Menschlichen empfindet. Qualitative Differenzen im Sein unterscheiden den Unbeherrschten vom Unmäßigen. Das Handeln bleibt demgegenüber zweitrangig. Natürliche Schlechtigkeit kennzeichnet den Unmäßigen, während der Unbeherrschte zwar hin und wieder ungerechte Handlungen vollzieht, aber nicht von Natur aus ungerecht ist. Sein bedauernder Blick auf situative Entgleisungen bekundet diese natürliche Güte. Höchste Menschlichkeit konstituiert sich in der Besonnenheit. Beherrschtheit ist vielen zugänglich. Sie kann zumindest in elementaren Formen der Gewöhnung (askesis) eingeübt werden, ohne freilich die Physis zu verändern. Unbesonnenheit (Unmäßigkeit, akolasia) destruiert die Menschlichkeit in der unbeirrbaren Verfolgung willkürlich-selbstischer Ziele. Offensichtlich schätzt Aristoteies den beherrschten Mensch gering. Unaufhebbare Mängel der Natur bleiben in der Beherrschtheit virulent. Brutalität lauert im Grunde aller kulturell-pädagogischen Überformung. Natürliche Dispositionen vermag Gewöhnung (ethos) zwar zu gestalten, aber nicht zu tilgen. Wer bedächtig ringend Maß zu halten versucht, ringt ein Leben lang mit einer defizitären Natur. Wollen und imperativische Selbstgestaltung sind Indizien einer unvollendeten Menschlichkeit. Der konstruktivistische Ansatz der Modeme impliziert andere Wertungen, die aufs Ganze gesehen die Existenzform der Besonnenheit im emphatisch-aristotelischen Sinne in (ästhetisierte) Nischen abgedrängt werden. Die Modeme bricht mit antiken Wertungen, die der Natürlichkeit des Maßes bzw. die Selbstverständlichkeit der Besonnenheit an die Spitze menschlicher Erscheinungsformen stellten. Die modeme Selbstinterpretation rückt den Willen ins Zentrum, währen Aristote1es ihn an die Peripherie verwies und in ihm eine zum Teil missratene Natur witterte. Menschen sind nach platonisch-aristotelischer Überzeugung unter ethischem Gesichtspunkt nicht gleichwertig. Schicksalhaft bleiben sie an die Grenzen ihrer Natur gebunden. Die modeme Ideologie der Gleichheit hätten sie nicht verstanden. Sie stünde nicht im Einklang mit deren Erfahrungen und den Ressourcen der Tradition. Ihre Perspektiven sind Physis, Ethos und Logos. Von Natur aus Maß als Versöhnung von Natur und Vernunft zu haben (Besonnenheit) ist höherwertig als um Maß zu ringen (Beherrschtheit).Fixierung an bestimmte Regionen resp. Bedürfnisse der Leiblichkeit, allgemeiner gefasst: an partikulare, nicht totaliter erwoge11
Aristote1es, Nikomachische Ethik, übersetzt und hg. v. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2006.
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ne Perspektiven ist Unmäßigkeit. Aufgabe des Menschen ist es, die umfänglichste Perspektive einzunehmen. Aristoteies gibt ihr den Namen Eudaimonia. Partikulare Perspektivität kennzeichnet die Tiere. In anderer Sprache: Tiere haben eigenartige Umwelten. Der Unmäßige reduziert die dem Menschen prinzipiell mögliche Sichtung von Welt auf eine leib- resp. trieb- oder interessegebundene Umwelt. Der Unmäßige verliert die Welt. Triebmensch und Tyrann sind strukturell identisch. Sie kennen keine Welt. Sie bleiben in reduktionistische Horizonte gebannt. Eine eigentümliche Unmäßigkeit kennzeichnet auch Kinder. Unersättlich taumeln sie von Begierde zu Begierde (Lustprinzip). Das Kind bedarf der logosgeleiteten Führung durch den Erzieher. So lernt es perspektivische Entgrenzung und relativierende Wertung. Mit charakterlicher Schlechtigkeit hat diese kindliche Unmäßigkeit nichts zu tun. Die Unmäßigkeit als gewollte und letztlich zu verantwortende Reduktion des erwachsenen Menschen, der schon den Logos kennt, von Welt zur Partikularität, ist anders gefügt. Er weiß im Prinzip um das Angemessene (kalon), um die Versöhnungsgestalt von Begierde und Vernunft. Das unmäßige Kind kennt noch keine Werteordnungen, der unmäßige Erwachsene kennt sie und missachtet sie. Er folgt seiner privatistisch-partikularen Logik. Besonnenheit zu wahren, bedeutet demnach im weiteren Sinne, auf Distanz zu gehen zu partikularistischen Versuchungen, Begierden, Wünschen, Phantasmen, Deutungen der Welt und des Menschen. Die Tugend der Sophrosyne findet in der aristotelischen Ethik offensichtlich verschieden Auslegungen. Unzweideutig bleibt der semantische Kern des Maßhaltens, der höchstmögliche Logosweite an das kalon und die eudaimonia, an das Angemessene und das Glück des Lebens bindet, die es jeweils situativ zu ermessen gilt. Dieses komplexe Erfassen und Beurteilen des für ein gesamtes menschliches Leben jeweils Angemessenen ist Leistung der Phronesis. Sie ist die erwägende und entscheidende bzw. aufs Handeln (praxis) bezogene Tugend des Ermessens, die um die Vorläufigkeit ihres Befindens weiß. Sie konkretisiert besonnen (sophron) urteilend, alles Wesentliche erwägend die formalen Vorgaben des kalon und der eudaimonia. Zum Ermessen des kalon gehört, dass auch die Glücksmöglichkeiten des Augenblicks in der Perspektive des gesamten Lebensglücks nicht verraten werden. Sie fungiert als Zeiten und Ansprüche, Vernunft und Emotion verbindende Urteilskraft, die zum Habitus geworden ist und so die tiefste Vereinheitlichung des Menschen leitet. Phronesis ist die Fleisch gewordene Haltung der Mitte und sie ist die Aktivität des Vermittelns, Erwägens, Verwandelns und Zurückweisens. Sie fügt ethische und dianoetische Tugenden zusammen. Alles erhält in der Haltung und Aktivität der Phronesis sein Maß. Sie erkennt und bewahrt die Vernünftigkeit der Gefühle und verweigert Gefühlen des Hasses und des Neides Zugang
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zur Lebensgeschichte des Einzelnen. An die Stelle binärer Codierungen des Wahr und Falsch, des Vernünftigen und Begierdehaften, des Logos und des Gefühls tritt eine Philosophie der offenen, wechselhaften wandelbaren Mitte, die nicht einfach als quantifizierbares Mittleres gedeutet werden darf. Aristoteles hat diese Philosophie der Versöhnung von theoretischer und praktischer Vernunft, von Deliberation und Dezision, von Bedenken und Haltung (hexis), von Gefühl, Wahrnehmung und Willen als die systematisch tiefste Herausforderung für das abendländische Denken hinterlassen. Ihre pädagogische Bedeutsamkeit ist augenfällig. 12 Alle Gegebenheiten des leiblichen und vernünftigen Seins gilt es in wechselseitigem Bezug zu disziplinieren und kultivieren. Der Logos ist universal. Er soll alle Seinsformen des Menschen durchdringen. Die Kultur der Gefühle kann nur im Kontext einer Kultur des Denkens gelingen. Begriffliche Erkenntnis (episteme) und Intuition (nous),Affekt und Idee, Liebe zum Detail und Blick für das Wesentliche (sophia) sollen sich verschwistern. In solcher Vielbezüglichkeit sind jeweilige Maßgeblichkeiten zu bedenken. Dies zu ermöglichen ist das Telos des pädagogischen HandeIns, das dann glückt, wenn der heranwachsende Mensch ideenbezogen (ka/on, eudaimonia) ermessen gelernt hat. Die Ideenbezüge des Ermessens sind formal. Das Angemessene hat seine Tradition, seine Gegenwärtigkeit und seine Zukunft. Es ist keine ungeschichtliche Setzung, aber es fungiert als Geschichte ermöglichendes Apriori. Der Pädagoge im aristotelischen Sinne hilft beim Umgang mit diesem geschichtlichen Apriori, dass es nämlich als oberstes Regulativ in die jeweilige Geschichte konkretisierend-wählend hineingenommen werde. Aristotelische Ideen sind nichts Lebensjenseitiges, sondern Leben Ermöglichendes. Der Pädagoge hilft, Ideen in ihrer Spannung zum Leben zu ermessen. Er hilft bei der Ideenbestimmung des menschlichen Lebens, bei der erwägenden Verbindung von Eudaimonia als Absolutum und unbegreitbarer, nicht kalkulierbarer lebensgeschichtlicher Kontingenz. Zu den irritierenden Vorzügen der aristotelisch-eudämonistischen Ethik gehört, dass sie uns nicht mit Maßstäben, mit dogmatisch gesetzten inhaltlichen Zielen überschüttet. Offenheit wird gewahrt, indem Letztgültigkeiten formalisiert und in ihrer regulativen Funktionalität gewürdigt werden. Maße werden nicht von anderen, von Herrschenden oder weltanschaulichen Gruppen, für verbindlich erklärt. In der Entscheidung für Lebensformen (bioi), für Wissenschaft (theoria) oder Politik, soll sich der Gunge) Mensch sein Maß eines erfüllte Daseins geben. Lebensformen sind keine Bilder, sondern werthafte tradierte Präferenzstrukturen bzw. eigentümliche normativ-formale Horizonte, die Individualisierungen verlangen. 12
Vgl. Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Frankfurt a.M. 1970. Werner Jaeger, Aristoteles, Berlin 1923.
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Eine pragmatisch-wertende Autonomie gehört wesentlich zur eudämonistischen Ethik. Glück, Autonomie und Autarkie bilden in ihr einen untrennbaren Zusammenhang. Kants Kritik der eudämonistischen Ethik übersieht die rationalen und gesinnungshaften Momente der antiken Lebenskunst, die aus der Überzeugung lebt, dass es eigentümliche, werthaft abgestufte, für den Menschen in seiner geschichtlichen Selbsterzeugung wesentliche Formen des Logos als Horizonte des Maßes gibt, in denen ein spezifisches Glücksversprechen heimisch ist. Glück und rationale Generalisierung schließen sich für Aristoteles ebenso ein wie überkommene Maßgeblichkeiten und Entscheidung des Einzelnen. Aristoteles gibt dem Glück eine prinzipielle, eine rationale, Augenblick und Lebenszeit einbeziehende Struktur der Mäßigung. Logos konkretisiert sich in der aristotelischen Politik und Pädagogik zu Lebensformen. 13 Das Maß der Institutionen kommt hinzu. Mensch und Bürger, Privatheit und wohl ermessene Öffentlichkeit sind eine lebendige Einheit. Der Mensch bedarf kollektiver tradierter Maßgeblichkeiten, um seine Menschlichkeit zu verwirklichen. Institutionen sollen habitualisiert werden, ohne die Freiheit des Einzelnen zu zerstören. Blanker Individualismus bleibt normativ ausgeschlossen. In den Zeichen der Zeit schwillt er, wie Aristoteles befürchtet, verhängnisvoll für die Polis und den Menschen heran. Kollektive Erziehung soll den Ungeist bannen. Der Musik fällt dabei eine curriculare Schlüsselstellung zu. Sie ist die Welt des Maßes. Durch musikalische Initiation erschließen sich das Schöne und das Gute und findet der Einzelne das Glück der Entgrenzung und Gemeinschaft. Das KaIon in seiner schwebenden, versöhnenden Verbindlichkeit ist in der musikalischen Erziehung unausgesprochen gegenwärtig. Lustvoll wird Ordnung erzeugt und erlebt. Dem Leben wachsen Rhythmisierungen zu, in denen sich Logos und Physis lustvoll verbinden. Die einstige Geschwisterlichkeit des Menschen und Gymnastischen ist schon zerfallen. Professionalisierung der zum Sport degradierten Leibeskunst greift um sich. Die Sinn- und Maßlosigkeit isolierter sportlicher Leistung wird zu einem sozialen Fakt. Die musische Initiation separiert sich. Sie entscheidet über die Mäßigung des Menschen; sie avanciert bei Aristoteles zum Botschafter von Menschlichkeit. Professionalisierung wertet Aristoteles als Verfallserscheinung, als Maßlosigkeit. Er glaubt in einer Epoche des Übergangs zu leben, in der sich der Mensch leistungsorientiert vereinseitigt und letztlich seine Menschlichkeit verrät. Die Pädagogik wird zur Wahrerin bedrohter Menschlichkeit. Sie erhält (kultur)politische Dignität. Zur Konstituierung einer Gegenwelt wird sie verpflichtet. Der mußeorientiert in freundschaftlicher Gemeinschaft lebende Dilettant, der sein Maß 13
Aristoteies, Politik, übersetzt und hg. v. 010f Gigon, 6. Aufl., München 1986.
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in edlen, bedenkenswerten Objekten ergründet, bestimmt die pädagogische Welt, in der Kenntnis und Tüchtigkeiten sich nicht isolieren. Daran gemessen erscheint das Ideal des Gelehrten als maßlos. Verachtung triffi den Lohnarbeiter ebenso wie den Faulenzer, der sich um das Glück seines Lebens kümmert. Die aristotelische Pädagogik mag ein wenig hilflos anmuten angesichts der diagnostizierten epochalen Maßlosigkeiten. Aber den Glauben an eine sozial-kulturelle Erneuerung gibt Aristoteles nicht auf. Die Mäßigung des Einzelnen kann nur gemeinschaftlich, politisch und sozial in überschaubaren vielseitigen Nahsphären im Medium des vielbezüglichen musikalischen Maßes gelingen. Die von Kant und den Neuhumanisten propagierte allseitige Entfaltung der Anlagen 14 ist bei Aristoteies in der Mesotes-Lehre präformiert. Aber der entscheidende Unterschied besteht darin, dass Aristoteles auf Distanz zur Perfektionierung geht, an welche die Aufklärung unbeirrbar glaubt. Die Entwicklung der menschlichen Dispositionen muss für Aristoteles in wechselseitiger Mäßigung geschehen. Die arbeitsteilige Gesellschaft fordert die Perfektionierung einzelner Fähigkeiten. Die arbeitsteilige Gesellschaft ist maßlos und inhuman. Unter der Idee des Maßes gilt es auch, spezifische Verzichte zu üben. Kultur erscheint als Symploke von Entwicklung und Verzicht auf Möglichkeiten der Entfaltung. Antikes Denken wird in den Vereinseitigungen der Aufklärung verfälscht und verraten. Die aristotelische Philosophie und Bildungstheorie des Maßes ist uns als Kindem der Aufklärung trotz vertrauter Formeln fremd. Die geschichtliche Selbsterzeugung des Menschen darf sich nicht atout prix in der Perfektionierung von extrem spezialisierten Tüchtigkeiten vollziehen, denn dann würde sie zum Selbstverrat des Menschen, dessen einzigartiges Glück in der Fähigkeit zur (Selbst-)Balancierung, zum Frieden mit der Natur, mit den anderen und mit sich selbst besteht. Der politische Pazifismus des Aristoteies liegt in der Logik der Mesotes-Lehre, die nichts mit Äquidistanz, aber auch recht wenig mit näher oder ferner zu tun hat, sondern ein Ermessen vorsichtiges, vorläufiges, voraussehendes, intuierendes und analysierendes Ermessen im Blick hat. 1s Der Besonnene kämpft nicht mit sich selbst. Alle agonalen Strukturen und Selbstgefährdungen sind in diesem Idealbild getilgt. Platon hatte zu Beginn der Nomoi 16 ein neues, verinnerlichtes Verständnis von Tapferkeit intoniert, das den Feind als Teil des eigenen Selbst begreift. Tapferkeit wird zur Beherrschung seiner Affekte. Diese Beherrschung ermöglicht die Herrschaft in der häuslichen Gemeinschaft und in der Polis. Mäßigung der Begierden 14 15 16
Vgl. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784); in: AA, VII, S. 15-31. Ders., Pädagogik, in: AA, IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, S. 437-500. Vgl. Foucault, a.a.O., S. 86. Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. 7: Gesetze, hg. v. Otto Apelt, Hamburg 1988.
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und Zügelung der Affekte inkorporiert den Logos im Menschen, lässt ihn Fleisch werden. Aber Herrschaftsmomente bleiben gegenwärtig. I? Aristoteles scheint Sophrosyne kühner gedacht zu haben. Ein herrschaftsfreies Selbstverhältnis des Menschen und zu Menschen ist partiell möglich. Es gibt eine Ordnung, die nicht um sich weiß. Feiern sind seliges Leben in sich selbst. Sie avancieren zu einem pädagogisch-politischen Medium ersten Ranges. JedeAufführung einer Tragödie oder Komödie bedeutet eine solche den Menschen erhebende, läuternde, in die Polis und letztlich in die Menschheit integrierende, bezaubernde und abschreckende Erfahrung von Ordnung und zugemessenem Maß, von tragisch begrenztem Ermessen und vernichtender Vermessenheit. Die Tragödie als Ineins von Text und Musik, kollektiv-kultischer Inszenierung und ästhetisch gebundener Klärung des Lebenssinnes wird bei Aristoteles zum Paradigma des Feierns, der schönen, von Imperativen gänzlich gelösten Selbstvergewisserung des Lebens. Der Weg zur Mäßigung:führt über das Medium der Feier. Der Mensch muss feiern lernen. Diese Ästhetisierung der Besonnenheit beruft sich auf eine Gegenwelt des Spiels, dem es zutiefst ernst ist. Kinder müssen spielen lernen, um die Erfahrung des Maßes zu machen, ohne um Maßgeblichkeiten ausdrücklich zu wissen. Spiel und Maß denkt Aristoteles als pädagogisch-kulturelle Einheit. Nicht jedes Spiel :führt zur Mäßigung. 18 Das Spiel muss für Freigeborene schicklich sein; es muss wie die ästhetisch-religiösen Inszenierungen der Polis als große Feiern der Befreiung en miniature Freiheit in präsenten, aber nicht reflexiv durchschauten Ordnungswelten erfahrbar machen. Knabenaufseher treffen eine Auswahl von Erzählungen und Märchen, wie sie Platon in seiner Politeia als ästhetische Zensur in politischer Absicht allgemein gefordert hatte. Soziale und pädagogische Welt werden von Aristoteles getrennt und aufeinander bezogen. Kinder bedürfen einer eigenen ästhetisch bestimmten Welt, um Mäßigung und Beherrschtheit nach und nach zu verwirklichen. Die relationale Autonomie des pädagogischen Denkens beginnt mit Aristoteles. Durch Zensur soll alles Gemeine, seien es Reden, Menschen, Gemälde oder Theaterstücke ferngehalten werden. In der fiktional-initiativen Wirklichkeit der Pädagogischen Provinz soll alles Gemeine, alles Ungemäßigte verbannt sein. Die ersten Eindrücke und Weltbegegnungen werden bleiben. Das Schön-Gute soll zur leitenden Erfahrung des jungen Menschen werden. Soziale Mimesis vorbildlicher Menschen, die ihrem Maße treu geblieben sind, gibt eigenes Maß. Musik im engeren Sinne dient der Modulation des Gemütes. Gefühle werden wachgerufen und zugleich gebändigt. Das Zerfließen des Selbst in ekstatischen 17 18
Foucault folgt Platon. Vgl. Aristoteles, Politik, 8. Buch, S. 250 ff.
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Weichlichkeiten wird ebenso vermieden wie die emotionale Unaufgeschlossenheit. Grenzen der Kultivierung resp. Sensibilisierung gehören zur aristotelischen Pädagogik des Maßes. Es gilt den Logos des Gefühls zu verfeinern, dem Gefühl Maß und dem Denken Pathos zu verleihen. Erst dann hat die Menschlichkeit ihr Maß gefunden. Auch die Literatur entwickelt das sittliche Gefühl, das für Aristote1es zu dem bedeutsamsten Instrumentarium des Maßes wird. Im sittlichen Gefühl koinzidieren, ethische, logische und ästhetische Dimension. Es ist ein inhaltlich unbestimmtes Maß, obwohl es an Inhalten kultiviert wurde. Es fungiert als Selbstverständlichkeit. Sich selber zu bedenken ist dem sittlichen Gefühl aristotelischen Zuschnitts im Grunde fremd. Reflexion ist in diesen pädagogischen Kontexten kein letztgültiger Wert, sondern ein Symptom des Zerfalls. Als ethisch-ästhetisches Denken vollendet sich der Mensch. ledwede Utilität hat inferioren Rang. Anwendbare Künste und die Curricula der instrumentellen Vernunft sollen Einübungen in das Denken, in das Schauen und Genießen der Selbstzweckhaftigkeit sein. Das Maß des Menschen ist die Kunst als Totum aller Maße. In der Pädagogischen Provinz begegnet dem jungen Menschen die Selbstzweckhaftigkeit als schöne Gestalt, als Mensch, als Bild, als Text oder als Melodie. Im Lernen nützlicher, applikativer Gesetzmäßigkeiten (Grammatik, Geometrie) und Techniken (Gymnastik, Zeichnen) reift der Sinn für das aller Utilität selbstzweckhaft Überlegene. Ohne kognitive Erschließung spezifischer Maßwelten, kann sich das sittliche Gefühl als freudige Orientierung am Schönen und Guten nicht einstellen und festigen. Der Maßvolle freut sich an der Wirklichkeit der Vernunft und Natur versöhnenden schönen Gestalt. Für diese Freude bringt er Dispositionen mit, die ihm das Schicksal geschenkt hat. Der Sinn für das Schöne wird tradiert. In ihm leben die Erfahrungen der Vorfahren. Aristote1es glaubt, auch aus Gründen der Selbstrechtfertigung seines Standes resp. der Freien, an ein kulturelles Erbe. Der Beherrschte ist nicht in dieser Weise vom Schicksal begünstigt. Er denkt durchgängig mit agonalen Prinzipien und in Kategorien der Instrumentalität. Er ist ein gänzlich anderer Typus als der hochgesinnte Liebhaber der schönen Gestalt, der mit diesem Blick die Welt vergegenwärtigt und wertet. Zur Sophrosyne kann ebendeshalb niemand geführt und ermahnt werden. Das ästhetisierte Leben in der Pädagogischen Provinz erweckt und stabilisiert die Sehnsucht nach der sich selbst rechtfertigenden Gestalt. Den weniger dispositionell Begünstigten zeigt dieses gemeinschaftliche Leben, dass Herrschaft über sich selbst eine eigentümliche Freude impliziert, die es zu erstreben gilt. Ihre imperativische Bindung bezeugt unüberschreitbare Unfreiheit. Nur als Kunst ist das Dasein in höchstem Sinne gerechtfertigt. Sie ist wie der Maßvolle der Sinn der Geschichte.
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3. Übergang Mittelalter / Neuzeit: Konstruktivität und Fiktionalität des Maßes Imperativische Bindungen führen zur Asketik, deren pythagoreische Ausformungen Platon und Aristoteles nachweislich beeinflusst haben. Spätantike Amalgamierungen von griechischer Philosophie und Christentum favorisierten die Herrschaft über die Lüste und den Leib, der als teuflische Bedrohung empfunden wurde. Sünde wurde zum Gegenbegriff der Tugend. Aus der Lebensgeschichte wurde eine Heilsgeschichte mit ihren Hoffnungen, Verzweiflungen und Erwartungen, deren Erfüllung immer wieder hinausgeschoben werden musste. Die Perspektivität der Zeit wandelte sich. Im Kontext universaler teleologischer gläubig angenommener Prämissen erhielt die jeweilige Lebensgeschichte ihren einzigartigen Sinn. Die antike Begrenzung auf den absoluten Sinn der jeweiligen Lebensgeschichte schwand dahin. Das Maß der Transzendenz trat ins Bewusstsein. Kunst und Schönheit konnten das Dasein des Menschen nicht mehr rechtfertigen. Ein anderes Absolutum überschattete sie. Der persönliche trinitarische Gott beherrschte die Asketik der Selbstkontrolle und vertiefte die personale Erfahrung. Er war das Maß schlechthin. In der religiösen Unterweisung entfaltet sich diese das öffentliche und private Leben bestimmende Maßgeblichkeit. Irdische und himmlische Sphäre durchdrangen sich. Man erlebte sich als Glied in der Zeiten umgreifenden Gemeinschaft der Heiligen. Ein bloß persönliches Maß musste defizitär, als sündig-vermessen erscheinen. Die Entgrenzung der Maßgeblichkeiten gestaltete sich durch Ritualisierungen erträglich. Das Feme fand sich in der nächsten Gegenwart; das Höchste lebte im Unscheinbarsten. In ritualisierten Handlungen fand der Einzelne sein Maß. Im Gespräch mit seinem Gott suchte er Vergewisserung. Die religiöse Unterweisung diente dazu, mit Gott sprechen zu lernen.
4.
Castiglione: das Maß der liebenswürdigen Selbstinszenierung
Im trinitarischen Gottesverständnis spricht Gott mit sich selbst und mit dem Menschen. Trinität bedeutet Kommunikation, die auf den Menschen und die Geschichte verweist. 19 In der Renaissance tritt der Trinitätsgedanke in der höfischen Kultur des Maßes in den Hintergrund, während Comenius und Erasmus ihm für die Pädagogik eine zentrale Wertigkeit zuerkennen. Castigliones 1528 publiziertes Werk
19
Vgl. Jan Amos Comenius, Der Weg des LichtesNia lucis, eingeleitet, übersetzt, und mit Anmerkungen versehen v. Uwe Voigt, Hamburg 1997. Klaus SchaUer, Johann Amos Comenius. Ein pädagogisches Portrait, Weinheim/Basel/Berlin 2004.
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II Cortegiano20 einwickelt eine ständisch orientierte Pädagogik der Kommunikation primär als Selbstvergewisserung des sozial bedrohten höfischen Standes, der strenggenommen keiner Belehrung bedarf, sondern als kleine überschaubare Gemeinschaft vorzüglicher Menschen sich durch ritualisierte Inszenierungen feiert und erhält. Der pädagogische Gestus ist ein Spiel und eine Werbung für eine ins geschichtliche Abseits fallende höfische Kultur. Es klingt wie der aristotelische Sophrosyne-Gedanke: Man hat Maß, aber man bedarf nicht des Ringens um das Maß. Im Cortegiano stoßen wir auf keine Regeln oder Anweisungen. Prozeduren der Mäßigung zu benennen wäre unziemlich und bäurisch. Wer Ratschläge erteilt wirkt tölpelhaft und distanzlos-dreist. Ausdrückliche Forderungen verraten knechtischen Geist. Jedes Du sollst ist unfein und taktlos. Die aristotelische Würdigung der maßvollen und kunstvollen Existenz innerlich freier Geister formiert sich zur recht hermetischen Selbstinterpretation einer befeindeten, geschichtlich bedrohten höfischen Kultur, deren Brennpunkte Urbanität und Ritterlichkeit sind, die also selbst ein geschichtliches Zwischenstadium zwischen mittelalterlicher und neuzeitlicher Welt darstellt. Platons Dialoge und die Schriften von Lukian und Cicero sind im Cortegiano gegenwärtig. Nirgends wird auf sie dogmatisch oder polemisch verwiesen. Fixpunkt der Wahrheit und letztgültig verbindliche Maßgaben sind obsolet geworden. Es gibt nunmehr für den Menschen kein externes Maß der Einsicht und des Wollens. Mit der Fülle des Wissens geht man spielerisch um. Der Dialog hofft auf eine Offenheit, die er als Genre unter Beweis stellt. Die gesamte, spielerische, neckende, Rechthaberei ächtende, Konsens erheischende und Dissens in kaum markierbaren Grenzen zulassende Atmosphäre dient als Maß, in dem gegenwärtige Freude ebenso liegt wie ein Versprechen auf die Zukunft. Der vollendete Hofmann und die donna di palazzo fassen das geschlechtsspezifische Maß idealisch in sich. Gemeinsam ist beiden, dass sie mit ihren Gedanken und Überzeugungen im Gespräch zu spielen lernen. Selbstdistanzierung und wohltemperierte Expression von Gefühlen, die nie hinreißend-dionysisch oder bedrohlich- irritierend für den anderen werden, oszillieren in fragloser Harmonie, der man untergründig Vertrauen schenkt. Sie scheint verlässlich zu sein. Selbst die Wandlung des Kampf, Selbstbehauptung und Tod in sich fassenden Ritterideals zum eleganten Fechten-Können, in dem der Sieg spielerische, 20
Baldassare Castiglione, Der Hofmann. Lebensart in der Renaissance, aus dem Italienischen von Albert Wesselski, mit einem Vorwort von Andreas Beyer, 2. Aufi., Berlin 2004. Peter Burke, Die Geschicke des ,Hofmann'. Zur Wirkung eines Renaissance-Breviers über angemessenes Verhalten, aus dem Englischen von Ebba D. Drolshagen, Berlin 1996. Ders., Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, aus dem Englischen v. Reinhard Kaiser, Darmstadt 2000.
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nicht zerstörende Züge gewinnt und in dem Aggressivität in kunstvoller, gewandter Beherrschung des Leibes gebannt ist, scheint zu glücken. Grazie dominiert den Gebrauch der Waffe und der Feder und den Umgang der Geschlechter. Sie ist die Statthalterin des antiken Schönen und Guten, des Angemessenen, das sich vorrangig in dialogischer Kultur zeigt und heimlichen Einfluss auf die Erwartungen des Menschen gewinnt. Das Kalon wandelt sich zur Grazie der wechselseitigen Inszenierung. Bildungsprozesse laufen unausdrücklich über eine Kultur des Gesprächs, in dem es um Wesentliches unter dem Anschein des Belanglosen geht. Nirgendwo dürfen sich die Schwere des Denkens und die Betrübtheit der Seele niederlassen. Nach dem Sinn zu fragen wäre vermessen und würde den Schleier der Grazien zerreißen. In dieser höchst artifiziellen Welt der Selbstdarstellung und gemeinschaftlichen, freundschaftlichen Mäßigung zerstiebt die Radikalität des philosophischen Fragens, die Platon und Aristoteles in ihrer Ästhetik und Ethik des Maßes wachhielten. Eine kunstvolle Veräußerlichung setzt ein, die Verstellung nicht ausschließt, sondern als perfekte Selbstbeherrschung stilisiert. Grazia und Sprezzatura, deren ursprüngliche Bedeutung ist, dass man auf etwas keinen Wert legt, verschmelzen zu einem leitenden Ideal der Mäßigung, das Inszenierungen als Gestaltungen des Lebens und als Zeitvertreib mit geheimen Glücksversprechen fordert. Die Metaphorik des Theaters rückt in den Vordergrund der Selbstinterpretation und des Geschichtsverständnisses. Der Geist der Tragödie, aus dem die Alten philosophierten, ist entschwunden. Sprezzatura betritt als große Zauberin die Bühne. Sie ist die heimliche Herrscherin der höfischen Kultur, die geschichtlich sowohl von monarchischen wie von bürgerlichen Bewegungen bedrängt ist und die leitende Motive dem geschichtlich heraufkommenden selbstkontrollierten Bürger als Identifikationsmöglichkeiten anbieten wird. Man trägt vor den anderen und vor sich selbst eine Nachlässigkeit zur Schau, die das Kind penibler Sorgfalt ist. Aufgewandte Mühe darfnicht ruchbar werden. Arbeit schändet. Absichtlichkeit ist geschmacklos. Die geschichtliche Selbsterzeugung des Menschen verflimmert im Spiel. Alle Erdenschwere ist getilgt. Maskenhaftigkeit und ein vorgetäuschter Automatismus sind schon gegenwärtig und werden dennoch durch freundschaftlichen Geist gebannt. Man spricht und handelt wie von einem guten Dämon geleitet mit traumwandlerischer Sicherheit. Die Natur darf niemals ungeschminkt resp. ungemäßigt hervortreten. Aber ein Rest von Natur zittert in der scheinbaren Absichtslosigkeit und Leichtigkeit des Handeins durch. Die sich als Natur präsentierende Kunst wird zum höfischen Lebensideal. Selbst die Spontaneität ist gespielt. Unsichtbare Maße durchwirken sie. Man weiß, wie man sich als spontan in Szene setzt und Spontaneität reflexi-
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onslos-habituell zügelt. Solche Zügelung verheißt Genuss. Man verfügt in totaler Mäßigung über sich. Es gibt keine Grenze der Selbstbeherrschung. Für ein Erkenne dich selbst! besteht kein Platz. Das Leben als Spiel, das weder seicht noch tiefist. 21 Eine Rolle zu spielen, wird nicht als Entfremdung empfunden. Rollen zu wechseln, steigert das Selbstgefühl. Man genießt es, sich gleichsam einen anderen Menschen anzuziehen. Es gibt kein fixes natürliches Maß. Das secundum naturam, das Physis und kosmische Vernunft stoisch vereinte, wird in der egalitär orientierten Pädagogik bei Montaigne, bei Comenius und Rousseau sich als Leitidee durchhalten. Für die höfische Kultur der Selbstbespiegelung und Rollenfluktuation wird es funktionslos. Die künstliche Leichtigkeit, die in der Pluralität der Inszenierungen und im Wirbel der Maßgeblichkeiten in Erscheinung tritt, ist umfangen von einer Atmosphäre der wechselseitigen Akzeptanz und liebenswürdiger Offenheit für Unvorhersehbares, für Unterbrechungen und kleineren Evasionen. Man nimmt sich die Freiheit zu hänseln und ist selbstbewusst genug, um sich ein wenig lächerlich machen zu lassen. Typisierungen werden diskursiv gepflegt und sanft durchbrochen. So tritt die Unwahrheit der Typisierung ans Licht, auf die man dennoch nicht verzichten kann. Beweise von Schlagfertigkeit werden ästimiert. Maße erhalten situativen Zuschnitt. Die Welt als Ganzes scheint nicht kalkulierbar. Gekonnter Umgang mit Imponderabilien erfreut sich besonderer Hochschätzung. Solcher Umgang lässt sich kaum lernen, aber am Hof als Ort sozialer Mimesis vorbildlich erfahren. 22 Gemessene Würde (gravita), die alles Schwere verabscheut und doch die Leichtigkeit nicht übertreibt darf niemals verloren gehen. Gravitll dient als verinnerlichtes Maß der sozialen Inszenierung. Man spielt und will nichts verspielen. Wer prahlt oder Affektiertheit heuchelt, hat die filigranen Grenzen der gravita verletzt. Eine eigentümliche Rückbezüglichkeit charakterisiert alle Maßgeblichkeiten. Als Reflexion wäre sie missverstanden. Es geht vielmehr um ein Handeln, das sich in der sorgfältig-spontanen Darstellung zeigt und zurücknimmt, das sich in der Inszenierung bejaht und verneint, mithin dialektisch aufhebt. Als gemessene Würde wird Dignität in schöner Form leibhaftig und nimmt sich wie selbstverständlich reflexionslos zurück. Das Direkt-Indirekte wird zum wesentlichen Maß sozialer Wertung und Selbstdarstellung.
21 22
Vgl. Erving Goffinan, Wir alle spielen Theater, aus dem Englischen v. Peter Weber-Schäfer, 4. Aufl., München 2006. Das gesamte 2. Buch des Hofmann (Cortegiano) ist der höfischen Kommunikation gewidmet (S. 61 11). Im 1. Buch lässt Castiglione die neue höfische Innerlichkeit (adelige Herkunft, Bildung als formatio, gehobene, nicht-dialektale Sprache, Zeichnen- bzw. künstlerisch Produzieren-Können) Konturen gewinnen (S. 11 ff.).
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Die Spiegel-Existenz, in der das Licht nur als vielfältig gebrochen wahrnehmbar ist, avanciert zum Lebensideal. Als Spiegel-Existenz :fühlt sich der höfische Mensch castiglionischer Prägung autark. Keine Haltung, die nicht Gemessenheit resp. die Zurücknahme ihrer selbst ausstrahlt. Jede Bewegung gestaltet Räumlichkeit und nimmt sich in eins zurück. Selbstdarstellung wird zur Kaschierung seiner selbst. Selbst das Aussehen nimmt den Ausdruck des eigenen Selbst zurück. Es gerinnt zur Betrachtung seiner selbst, die in vermeintlicher Direktheit nicht zugestanden wird. Die expressive Täuschung kann nicht mehr durchschaut werden. Das Selbst und das Ensemble habitueller Strategien zurückgenommener Wahrhaftigkeit fallen zusammen. Inneres und Äußeres werden ununterscheidbar. Die aristotelische Metaphysik von Substanz und Akzidens, in die der Philosophie der Person Konturen gegeben wurden, schwindet unmerklich. Aussehen, Haltung und Bewegungen sind natürlich und künstlich zugleich. Die alles durchziehende Selbstbeobachtung darf von niemandem wahrgenommen werden. Würde sie ausdrücklich, wäre das Spiel aus. Selbst der Handelnde weiß nicht um seine Strategien der indirekten Direktheit. Hier stößt die subtilste Hermeneutik an ihre Grenze. Fundamentale Maßgeblichkeiten sinken in tiefste Tiefen herab, ohne dass sich der Mensch fragwürdig erscheint. Das Maß wird unsichtbar und dadurch umso mächtiger: Es konstituiert leibliche, motorische, kommunikative Wirklichkeit. Gehen, gestikulieren, sprechen und tanzen leben aus der Gegenwärtigkeit der anderen, denen man in der Signalisierung von Gleichgültigkeit gefallen möchte. Wahrnehmung und Selbstdarstellung verlaufen gestisch. Artig-ansprechend, gefällig (affabile), liebenswürdig (amabile) und angenehm (piacevole) sind Prägungen Castigliones, in denen der Habitus des sich und die anderen würdigenden Maßes sich nuanciert. Die Gewalt der Liebe mildert sich zum Pastell der Liebenswürdigkeit, das keinen eruptiven Schrecken kennt. Ansprechend soll die Kommunikation sein. Aber die Seele, die sprechen könnte, ist abhanden gekommen, ohne dass es aufgefallen wäre. Man hat Manieren und stiftet durch sie die Identität eines fürstlichen Zirkels. Europaweit werden sich höfische Welten beschreiben und gefeiert :fühlen. Der gentilhomme dient der noch orientierungslosen bürgerlichen Kultur als Leitbild. 23 Gentilezza, in der noch die ursprüngliche Beziehung auf Patrizierverbände, die sich durch Abstammung und Namen durch die Zeiten hindurch verbunden sind, hörbar ist, wird zur Huldigungsform vorzüglich von Frauen. Die von Demut befreite Ehrerweisung bekommt ihr gestisches Maß, das jeder fixbaren Regel spottet und ihrer nicht bedarf. Scham (vergogna), in der die allgegenwärtige Möglich23
Vgl. Moliere, Le Bourgeois Gentilhomme (1670), in dem auch der höfischen Kultur castiglionischen Zuschnittes Valet gesagt wird.
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keit der Schande mitgefühlt wird, entspricht ihr auf Seiten der Frauen. Gentilezza und vergogna bedingen sich. Alle Maßgeblichkeiten sind sozial konstituiert. Es gibt kein einsames Subjekt, das nur über die Vernunft mit den anderen kommuniziert. Ebenso wenig thronen abstrakte normative Vorgaben über dem Bewusstsein des Einzelnen. Maße haben die Anschaulichkeit von interaktiven, kleine Freiheiten zulassenden Gestalten. Man wirft, ohne es zu wissen, einen Blick auf sich, der zugleich der Blick der anderen ist, wie gelungen die szenische Gestaltung ist. Gentilezza genügt ethischen und ästhetische Kriterien, die nicht als solche bewusst sind, sondern wie selbstverständlich gestisch übersetzt werden. Auch die verbale Kommunikation hat gestischen Duktus. Szenen der Interaktion dynamisieren sich zu Gesamtkunstwerken, nach dessen Urheber niemand fragt. Man versteht sich, ohne liebenswürdige Distanz zu verlieren, und reproduziert soziale Exklusivität, die nicht in Worte gegossen werden muss. Bescheidenheit (modestia) gilt zwar als Tugend, aber sie ist bar jedes mönchischen Geistes. Assoziationen an die aristotelische Ethik des Mittleren tauchen zwar als Idee der mediocrita auf, dürfen indes nicht abstrakt missverstanden werden. Nicht der Einzelne ermisst durch Phronesis, wie demAufforderungsgehalt einer komplexen Situation denkend und handelnd entsprochen werden soll, sondern in einem szenischen Reservoir liegen elementare szenische Antworten, die man ernst nimmt, in Grenzen variiert und in denen man sich genussvoll kaschiert. Ein ständisches Apriori nimmt die Stelle der individuell-gemeinschaftlichen Vernunft ein, in dem alle Verbindlichkeiten längst entschieden sind. Maße werden unsichtbar, aber jede Grenzverletzung wird sofort offenkundig und gesellschaftlich geahndet. Freigebigkeit und Großmut, denen Aristoteles in der Nikomachischen Ethifil4 hochsinnig, die Traditionen der Nobilitätsethik aufnehmend, nachspürte, fügen sich dem Urbanitätsideal des höfischen Zirkels, das in die zeitgleich aufstrebende bürgerliche Kultur mit einigen Wandlungen hineinwirken wird. Ihr normativer Gehalt wandelt sich im gestisch-szenischen Kontext. Alle Maßgeblichkeiten schmiegen sich aneinander und beeinflussen ihre überkommene ethische Bestimmtheit. Sie stellen sich wechselseitig Bedingungen ihres In-Erscheinung-Tretens. Ständische Hermetik bleibt allgegenwärtig. Und selbst das äußere Erscheinungsbild, das so gar nicht in sokratisch-kynische Traditionen passt, die lässig komponierte Eleganz der Kleidung, die Kohäsionen aufrechterhält und das niedere bäurische Volk als Pöbel stigmatisiert, wird nie aus den Augen verloren. Grazia schreibt allen - formal genug, aber unumstößlich - vor, wie man sich den anderen und sich selbst allezeit präsentiert. Mit Dank hat sie nichts mehr zu tun, aber Undank duldet sie auch nicht. 24
Aristoteies, Nikomachische Ethik, S. 129 ff.
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Dass in dieser Welt der Gemessenheit, die sich fortwährend in ritualisierter Interaktion reproduziert, Grenzdiffusionen auftreten, ist nicht verwunderlich. Es gibt kein letztgültiges fundierendes und in der Vernunft begründetes Maß. Maßhalten wird gespielt - und in diesem Spiel prägt sich der Mensch. Spiele sind manchmal mit anderen Spielen verwandt. Castiglione sieht mit Schrecken, dass die vollkommene Hofdame, die er als Krone der Weiblichkeit feiert, etymologisch und in Entsprechung zum cortegiano als cortegiana bezeichnet werden müsste. Cortegiana bedeutet freilich Kurtisane, ein Wort, bei dem auch im Deutschen die höfische Provenienz noch mitklingt. Nur wenig überzeugend wirkt Castigliones Wahl der Bezeichnung donna di palazzo. Im 3. Buch des Cortegiano wird die Würde der Frau zum Inhalt des scherzhaft antagonistisch strukturierten Gesprächs. Mittelalterlicher Marienkult und Minnelieder haben das Ritterlichkeitsideal, das nunmehr eine höfische Verinnerlichung erfährt, den Wert der Frau integrieren lassen. Die höfische Kultur in Urbino, die Castiglione erlebt, bewunderte und über die Zeiten als selbstverständliche Kunst kommunikativer Selbstgestaltung retten möchte, nimmt auch die erotischen Sensibilisierungen eines Ovid in sich auf, von der Platon und Aristoteles nichts ahnten. Feminisierung waltet hintergründig in der Ästhetisierung des Ethos, die Castiglione mit Herzblut unter dem Anschein der Neutralität zu einem zarten Gemälde fügt. Aus der kaum fühlbaren Präsenz der Frauen erhält die höfische Kommunikation ihr nie verletztes Maß. Alle Maßgeblichkeiten erhalten einen weiblichen, einen zugleich schönen und unaufdringlich fordernden, in szenische Leiblichkeit übersetzten Ton. Das paradoxale ciceronische Maß der neglegentia diligens, in dem die Grundstruktur des höfischen Maßes liegt, soll sich anmutig, mithin ohne reflexiv gewordene Imperative, denen man Gehorsam schuldet, verwirklichen. AristoteIes hatte Reflexionslosigkeit der das Weibliche kennzeichnenden anima vegetativa abwertend zugewiesen. Fehlende ausdrückliche Imperativität kann, wie Castiglione demonstriert, zur höherwertigen Verwirklichung von sozialen und individualen Ansprüchen, die sich zu einem Ensemble verbinden, führen. Imperative, die nicht als solche bemerkt werden, Anmut und Charme, in denen sich eine bezaubernde Atmosphäre wechselseitiger Akzeptanz stiftet, konstituieren Weiblichkeit, die alle Bestimmtheit zwar nicht auflöst, aber sanfter in Erscheinung treten lässt. Castigliones höfische Welt ist in diesem Sinne weiblich geprägt. Feminisierung, Prä- bzw. Postreflexivität undAußenbestimmung der Tugend brechen mit den aristotelischen Vorgaben der Ethik. Die ganze höfische Sphäre selbstverständlicher Mäßigung verliert nie ihren ironischen Grundton. Darin bekundet sich der spielerische, ein wenig verzweifelte Versuch, in einer Epoche des sozial-normativen Wandels, in dem alle vermeintlichen Letztgültigkeiten dahin-
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schwinden, hermetisch-gemeinschaftlich neue Sicherheiten zu gewinnen. In dieser Unsicherheit liegt die Chance einer strukturellen Komplexion, dialektischen Vertiefung und normativen Monopolisierung des Ethos, die von Castiglione und seinen Standesgenossen bedroht und unverzagt ergriffen wird. Aus der reflexiven Ethik wird eine Pluralität von gelebten Ethosformen. Nationale und ständische Abgrenzungsbernühungen werden dabei bedeutsam. Castiglione zeichnet das italienische höfische Ethos, das dann in Europa - in Spanien, Deutschland, Frankreich, England und abgeschwächt in Polen - höfische Gruppierungen nachhaltig beeinflusste. Die Repräsentanten höfischer Kultur fühlten sich in Castigliones Bildungsbuch in ihren wesentlichen Intentionen verstanden. Dabei blieb die Willkürlichkeit des höfischen Ermessens ausgeblendet. Zirkuläre Selbstbestätigung trat an die Stelle vernünftiger Autonomie. Temperanzia deckt sich nicht mehr mit der aristotelischen Sophrosyne, deren Übersetzung sie ist. Gerechtigkeit gibt ihren universalistischen Charakter auf und wandelt sich zur maßvollen, die Chancen der Selbst-Darstellung bemessenden Kommunikation. Universal ist nur noch der schöne Schein, in dem sich keine letztheitlichen ethischen Verbindlichkeiten markieren lassen. Die Ästhetisierung des Ethos hat ihren Preis. Eine Position, von der aus sie legitimerweise kritisiert werden könnte, lässt sich nicht mehr ausmachen. Vernunft und Glaube werden gleicherweise hinfällig. Häufig spürt man, wie der Autor seinen Text in die Schwebe bringen möchte. Auch der Text glaubt nicht mehr an sich selbst und inszeniert seine Selbstauthebung, was freilich von den Lesern, die Bestätigung und Hoffnung suchten, nicht durchschaut wurde. Gott und Natur fließen ineinander. Das heißt aber, dass eine transzendente personale Instanz der Selbstvergewisserung und Vertiefung als letztgültiges Maß verloren geht, ohne dass dieser die Geschichte bestimmende Verlust bedacht wird. Die theologischen Tugenden (Hoffnung, Glaube, Liebe) sind in Castigliones Buch getilgt. Über Erbsünde und Gnade hören wir kein einziges Wort. Der sich selbst in ritualisierter Wechselseitigkeit erzeugende, konstruierende Mensch versucht sich in seiner kosmischen Verlassenheit zu behaupten. Fortuna als vernichtende oder erhebende Kontingenz kann in dieser konstruierten Welt nicht heimisch werden. Persönliche Sittlichkeit bricht sich in diesem artifiziellen normativ-gestischen Mikrokosmos nicht Bahn. Das Maß der (elitären) Sitte wird spielerisch inthronisiert. Sich auf natürliche Weise anmutig-lässig zu bewegen ist in die oszillierende Identität inkorporiert. Man weiß es, ohne es einigermaßen zutreffend beschreiben zu können. Erlernen lässt es sich im Grunde nicht. Das Maß wird anonym und ist dennoch omnipräsent. Wir sehen einen Automatismus, der nicht zur völligen Marionettenhaftigkeit gerät. Ein Schein von Freiheit bleibt als situative Ausgestaltungsmöglichkeit gewahrt. Den Akteuren genügt sie offenbar. Dichotomien verraten
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ihre Unwahrheit. Freiheit im szenischen Detail und selbstverständliche normative Regulation fügen sich ineinander. Das vorgegebene Maß fordert nicht und quält schon gar nicht. Es löst sich wie natürlich ein. Alle wissen insgeheim, dass sie ihr Selbst, das bei Licht besehen zum funktionalen Mechanismus schrumpfte, zum Kunstwerk stilisiert werden soll. Darin allein kann sich ihr Lebenssinn erfüllen. Minderung personaler Autonomie verbrämt sich als ästhetische Selbstformung. An der Auflösung starrer Maßgeblichkeiten ergötzt man sich gemeinschaftlich. Wichtiges wird beiläufig erwähnt, um nicht daraufverpflichtet werden zu können. Tanz und Dynamik dürfen nicht unterbrochen werden. Sie dienen als Surrogate der entschwundenen ethischen Maße. Der Humanismus in der Welt des Hofes geriert sich zweifellos spielerischer als sein nahezu zeitgleich inauguriertes bürgerliches Pendant, aber in der Grundstruktur sind sie beiden humanistischen Bewegungen verwandt. Der homo ludens gehört zu allen Formen des Renaissance-Humanismus. Er blühte als solche spielerische Selbstgestaltung im Medium der Humaniora wie alles Erlesene nur kurze Zeit und mutierte schon bald zur philologischen Pedanterie und Expertenkultur. Unter dem Einfluss des Neuplatonismus eines Marsilio Ficino gibt sich diese höfisch-humanistische Welt eine faszinierende Aura der Spiritualität, in die Liebe alle Erdenschwere und Naturbezüglichkeit tendenziell von sich abstreift. Im 4. Buch wird dieses Ideal der Sublimierung als Ersatzreligion etabliert. Zuvor erschien die höfische Welt des Maßes faktisch und sprachlich völlig paganisiert. Wer könnte übersehen, dass diese neuplatonische Entgrenzung der kleinen Lebenssphäre letztlich eher das Spiel in Bewegung halten soll, als eine philosophische Würdigung erstrebt. Der Gewalt des spielerischen Duktus entzieht sich nichts. Ein Sensorium für die selbstgenügsame, glücklich-einsame vita contemplativa gibt es nicht mehr. Die Metaphorik des Aufstiegs intoniert in quasi-religiösem Gewande die unstillbare Sehnsucht nach Dynamik, nach Wirbel und Wechsel, in denen Zeitlichkeit gebannt werden soll. Der Wechsel wird zum Maß. Was sich nicht ändert, erfährt Zurückweisung und Abwertung. Der Begriff der Tugend erhält eine neue Semantik, die formalisierte Rhythmik ins Zentrum rückt. So wird die bürgerliche Tugend der Flexibilität präformiert und die eigentümliche Zeitlichkeit der Moden in allen Lebensbereichen konfiguriert. Gewiss, der vollkommene Hofmann castiglionischer Zeichnung wird, alle identifikatorischen Egoismen geschichtlich überschreitend, zum gesitteten und gebildeten Menschen schlechthin, zum ständisch entgrenzten Lebensideal, zu dem jedoch wesentlich gehört, dass Wesentlichkeit in forcierte Zeitlichkeit, in Bewegung transformiert ist. Zu dieser Mentalität des Wandels gehört die Lässigkeit (disinvoltura), das Sich-vorgeblich-nicht-Einlassen, das in der neutralisierten Beziehung zu Menschen und Sa-
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chen endet, die wie Nichtigkeiten vorbeiwirbeln. Mit Gelassenheit, die Fortunas schicksalhafte Macht kennt und fürchtet und kosmischer Zeitlichkeit sich bescheiden-demütig und ohne die Bitterkeit des Ressentiments fügt, hat diese Lässigkeit nichts gemein, in der Zeit geformt, aber Zeitlichkeit nicht existentiell angenommen wird. Die ästhetische Inszenierung, in der die höfische Kultur wie in Urbino ihre idealische Mitte fand, ließ normative Gestalten intentionslos aus sich aufsteigen, die Vergleichgültigung in selbstbezüglichen Formalisierungen feierten und in denen gleichsam eine eigene autistische Zeitlichkeit als artifizielle Zeitlichkeit geschaffen wird, um der Zeit zu entrinnen.
5. Erasmus: die bürgerliche Mäßigung Castigliones Buch hat Erasmus sicher gelesen. Im Jahre 1530 publizierte er eine kleine pädagogische Schrift (De civilitate morum puerilium), die in den folgenden Jahrhunderten viele Auflagen erlebte - u.a. auch in deutscher, schwedischer, französischer und finnischer Sprache - und gerade wegen ihrer schlichten, auffallend unkünstlerischen Form tiefe Wirkungen erzielte. Erasmus liebte die Entgegensetzung. Machiavellis Principe stellte er 1517 seine Institutio principis christiani gegenüber. In seiner civilitas-Schrift wendet er sich gegen das elitäre Selbstverständnis der höfischen Welt, die nach seiner Überzeugung zu einer Karikatur der Humanitas verkommen ist. Für Erasmus wird der Begriff der civilitas - Vergerio und die lateinische, vor allem ciceronische Tradition aufnehmend - für die Kennzeichnung des universal verstandenen bürgerlichen Lebensideals leitend. Die Privatheit und Öffentlichkeit versöhnende ciceronische cultura animi vollzieht sich in der Internalisierung von Normen. Die Autonomie des bürgerlichen Subjekts erweist sich als Heteronomie. Das innere Maß des Menschen ist Sediment äußerer Maßgeblichkeiten. Dennoch hält Erasmus, wie die Kontroverse mit Martin Luther zeigt, an der Freiheit des Willens fest. 25 Aus dem klösterlichen Leben kannte Erasmus die humanisierende Wirkung von ritualisierten Übungen, die in der christlich-reformatorischen Bewegung der devotio moderna auf eine Vertiefung der Innerlichkeit abzielten. Seele und Leib werden als phänomenale Einheit verstanden. Gesinnungen und Haltungen finden ihren leiblichen Ausdruck. Aus der Beherrschung des Leibes wächst die Selbstmächtigkeit der Seele. Zurückhaltung, Beherrschtheit, dominierte Expressivität begründen Menschlichkeit. Höfische und christliche Traditionslinien fügt Erasmus zur Einheit habitualisierter Selbstkon25
Erasmus von Rotterdam, De libero arbitrio diatribe sive collatio/Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, in: ders., Ausgewählte Schriften, Bd. 4, hg. v. Wemer Welzig, übersetzt, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen v. Winfried Lesowsky, Darmstadt 1995, S. 1-195.
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trolle. Eine neue Nobilität entsteht. Je höher die Selbstbeherrschung, desto höher der menschliche Rang und die Legitimation zu politisch sozialer Führungsfunktion. Selbstbeherrschte Menschen reifen zu neuen Eliten. Handwerker, Bauern, Dienstboten und Kaufleute bleiben (zunächst) aus diesem elitären Kreis verbannt. Der erasmische Katechismus des bürgerlich-gebildeten Benehmens, der civilitas, führt zunächst in den Umgang mit der eigenen und die Deutung der fremden Leiblichkeit ein. Leiblichkeit wird fundamental. In allen Erziehungsdimensionen findet sie Berücksichtigung. Expression und Zurücknahme sollen zur maßvollen Haltung konkreszieren. Der Blick ist für Erasmus ein ausgezeichnetes Exemplum solcher Fügung.26 Er soll ausgeglichen, achtungsvoll und Identität bekundend gesammelt sein wie das Gemüt des Menschen. Der Blick soll Gelassenheit, aber nicht Lässigkeit ausdrücken. Jede Anmaßung oder Unterwürfigkeit soll vermieden werden. Im Blick zeigt sich, inwieweit Grenzen erkannt und beachtet werden. Blicke können verletzen, sich zu nahe an das andere und den Anderen herandrängen. In ihnen kann sich die Gier aufdie Welt ausdrücken, deren An-sich-Bestimmtheit und Distanz gebietende Schönheit interessengeleitet übersehen werden. Maßvoll und unaufdringlich soll die Begegnung mit der Welt und den Menschen sein. Weder radikale, ehrfurchtslose Objektivierung noch weltvergessene egozentrische Subjektivierung sind zulässig. Im cartesischen Rationalismus wird etwa einhundert Jahre später diese Grenze - schicksalhaft für die Menschheitskultur - quantifizierend überschritten. Die Welt wird zum Objekt, zur res extensa, die der Mensch als Herr und Meister zu bewältigen sucht. Der maßvolle Blick nimmt wahr. Er lässt sich auf das Filigran des anderen ein und bleibt doch in sich ruhend und schamvoll distanziert. Diese visuelle Dialektik ist nicht gespielt, sondern gründet in der Achtung vor dem anderen und vor sich selbst. Curiositas ist damit verglichen banausenhaft. Erasmus gibt Hinweise, wie dieser mittlere Weg der Welteröffnung beschritten werden kann. Davon wird noch die Rede sein. Einigkeit mit sich selbst darf niemals verraten werden. Aus ihr erwächst autarke Heiterkeit, von der bei Castiglione kaum gehandelt wurde. Stoische Vorgaben bleiben für Erasmus christlich kontextualisiert verbindlich. Beherrschte Haltung macht den Menschen bei aller Kontingenz unabhängig. Als Beherrschter gestaltet er sein Leben. Civilitas gibt ihm eine zweite Natur, in der angeborene Defizite ausgeglichen oder zumindest gelindert werden können. Civilitas meint die geschichtlich-kulturelle Selbsterzeugung des Menschen im Rahmen tradierter (antik-christlicher) sozial-normativer Vorgaben, die es zu einer Pädagogik des Maßes, der involvierten Distanz und personaler Zentrierung zu systematisieren gilt.
26
Erasmus von Rotterdam, Ober die Umgangserziehung der Kinder, S. 90.
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Direkter Kontakt zu sich selbst und dem anderen widerspricht dem idealischen Maß. Wer niest, soll sich aus Achtung vor den anderen höflich abwenden. 27 Niesen ist natürlich, aber es darf nicht als blanke, unstilisierte Natur sozial in Erscheinung treten. Unterdrückt werden soll es freilich auch nicht. Offenbar gibt es eine kulturelle Sphäre, in der die Unterdrückung des Natürlichen durch sich permanent selbst erzeugende Riten gegeben ist. Extreme Künstlichkeit ist der Tod der Natur, deren Ansprüchlichkeit Erasmus in der schlichten Form von Benimmregeln wahren möchte. Abgrenzungen zur höfischen Kultur werden sichtbar. Maskenhaftes Grinsen ist kein Lächeln. Lachen verrät Plattheit. Mimische Differenzierung ist gefragt. Sie schließt auch bei Erasmus eine nur langsam abzubauende soziale Hermetik ein. Wer lächeln kann, gehört zum neuen Adel der Gesittung. Das einfache Volk lacht und weint und ergötzt sich an groben Späßen. Ein habituelles Lächeln zeigt Nähe zu den Phänomenen in zur Selbstverständlichkeit gewordener Selbstkontrolle. Alles Ekstatische wird durch civilitas gebannt. Große Gefühle werden zum Wahnsinn degradiert. Als oberstes Regulativ dient die schöne, die ansehnliche Synthese von Natur und Vernunft, von der schon die Stoa träumte. Menschen ohne Vernunft lachen über Winzigkeiten oder Peinlichkeiten. Zur Kunst des Lächelns sind sie nicht fähig. Erasmus verbindet in seiner Phänomenologie des Lachens anthropologische und sozialtheoretische Perspektiven. Lachen kann Symptom autistischer Verweigerung oder sozialer Aggression werden. Über jemanden zu lachen ist für Erasmus Ausdruck von Unmenschlichkeit. Ein solches Lachen verletzt die Menschenwürde. Wird ein privates Lachen öffentlich, sollte man auf interpretative Verzierungen sinnen, die dem Lachen jedes Gift entziehen. Niemand soll durch Gelächter verletzt oder irritiert werden. Niemandem steht zu, sich durch Lachen über einen anderen Menschen zu erheben. Ein holdes Lächeln verletzt nicht; es signalisiert Achtung in einem diffus angedeuteten Versprechen, das sich zurücknehmen kann. Es stiftet einen zarten sozialen Kontext, der keine Verletzungen will. Menschenwürde kann man in kategorischen Imperativen formulieren oder einer mimischen Kultur des Lächelns überantworten, die aus dem Bewusstsein von der Würde und Verletzlichkeit des Menschen lebt. Horazische aurea mediocritas, in der das zu ermessende aristotelische Mittlere, das ein situativ-interimistisches Optimum bedeutet, den schönen Schein des Schicklichen erhält, dem sich auch Haltung und Bewegung zwanglos fügen müssen, grundiert die erasmische Pädagogik des Maßes, die freilich durch eine philosophisch-religiöse Einbettung ein perspektivisches Novum erhält. An seinen Ausführungen über das Verhalten in der Kirche lässt sich dies gut ablesen. 28 27 28
Ebd., S. 9l. Ebd., S. 96 t:
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Beim Betreten der Kirche soll der Hut vom Kopfe genommen werde. Die Kirche repräsentiert eine andere Welt, in die man sich demütig einordnet. Die Welt der alltäglichen Besorgungen, Freuden und Ängste wird rituell verlassen. Das alltägliche Maß verliert seine Gültigkeit. Man reiht sich ein in die Gemeinschaft der Heiligen. Zeit und Raum weiten sich. Diesseits und Jenseits treten auseinander. Die sonst so opake Wirklichkeit wird durchsichtig. Im Angesicht Christi und der als Heilsgemeinschaft gedachten Menschheit sollen wir nunmehr unser Leben und dessen Not ermessen. Wir sehen uns aus der großen, Zeiten und Menschen umgreifenden Perspektive in neuem., befreiendem Licht. Im Raum der Kirche wird alles Gegenwärtige in ungealmter Tiefe durchsichtig. Der Prediger wird zum Symbol einer anderen, unendlich schöneren Welt. Aus Dingen werden Symbole. Der Scheincharakter der sich absolut gebenden Realität wird fassbar. Im Niederknien mit leicht gebeugtem Oberkörper unterstellt man sich vorbehaltlos einer neuen Ordnung, ohne seine Identität und Selbstachtung preiszugeben. Der Ritus sichert und befreit. Er verbindet zwei Welten, ohne Entfremdung entstehen zu lassen. Die neue Weite des Denkens und Vorstellens ist dem Menschen nicht fremd. Der Ritus wahrt den Schein des Handelns; er entgrenzt, ohne gänzlich zu entmächtigen. Die gestisch gestaltete Zeitlichkeit verweist aufden Aktor. Die Befreiung zu unbekannten Welten des Denkens und der Imagination, die schwebende Bewegung im Als-ob kultiviert die mentalen Möglichkeiten des Menschen. Er starrt nicht mehr aufs Nächste. Fiktionale Horizonte werden entworfen. Man spielt mit den Gedanken und sieht das Nächste nun vom Fernsten. Man sieht sich mit den Augen der anderen. Daraus erwächst eine zum Habitus werdende Selbstkontrolle. Kirche wird zum Symbol gesellschaftlicher Existenz. Civilitas impliziert die anderen als allgegenwärtige Fiktion, in der sich Selbstverwirklichung gestaltet. Die gesellschaftliche Seinsweise ist eine Form des Glaubens. Zivilisierung und Religiosität bilden einen strukturellen Verweisungszusammenhang. Allgegenwärtige Rückbindungen gelten für beide Sphären. Ohne die mentale Kultur der christlichen Religion gäbe es kein selbstkontrolliertes bürgerliches Subjekt. Das bürgerliche Subjekt ist ein Abkömmling der christlichen Welt, der nach und nach seine Herkunft vergisst und sich autonom dünkt. Wirklichkeit mit Möglichkeiten zu relationieren lernt man nach Erasmus in der Kirche. Die Religion befreit das Denken; sie experimentiert, auch wenn sie noch keine wissenschaftliche Forschung treibt. Sie zerbricht die kleinen alltäglichen Maße und gibt die das Denken durchwirkende absolute Norm frei. Erasmus sieht in der Menschwerdung Christi eine Veränderung aller humanen Maße. Der Mensch wird in die göttliche Seinssphäre hineingenommen. Gott wird Mensch und Mensch wird Gott. Die Selbstbewertung ändert sich radikal. Für
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Läuterung und Besserung gibt es nun eine bislang nicht gekannte Maßgabe: imitatio Christi. Thomas von Kempen hatte in der Erneuerungsbewegung der devotio moderna diesen franziskanischen Weg gewiesen, aufdem Erasmus unbeirrt durch die Säkularisierungen seiner Zeit wandelt. Das wesentliche Maß ist das selbstlose christliche Ethos der Liebe. Um es wie selbstverständlich zu leben, bedarf es der unscheinbaren rituellen Einübung in Selbstdistanz. Die Institution des antiken Gastmahls - in Platons Symposion wird es unvergesslich vor Augen geführt - will Erasmus in die neue bürgerliche Welt überführen. Anders als in den Tischzuchten seiner Epoche, die geradezu en vogue waren und Stilisierungshilfen eines neuen Standes boten, hält Erasmus an der rituellen ethischen Formung des Menschen fest. 29 Es geht nicht einfach um Tischsitte, sondern um die Kunst, in der kleinen Tischgemeinschaft ein neuer Mensch zu werden. Das Gastmahl wird ethisiert. Höfisch-ästhetische Akzente entfallen weitgehend. Am Primat des Ethos wird nicht gerüttelt. Die Welt wird nüchterner. Es gilt, sich aufs gemeinsame Mahl durch äußere Hygiene, der eine innere Wandlung entsprechen soll, vorzubereiten. Heitere Gelassenheit soll man mitbringen. Von allem Widerwärtigen, von der Last des Alltags und allen Verstimmungen muss Abschied genommen werden. Das dürfen die anderen von mir ebenso erwarten wie ich von ihnen. Ein solcher Konsens bleibt unausdrücklich. Sozietät konstituiert sich in selbstverständlichen wechselseitigen Erwartungen. Die Erwartungen der anderen dienen als Maß. Man wird ein anderer. Zum selbstverständlichen Ethos gehört, den anderen nicht zu verstimmen und die Contenance zu wahren, die in Heiterkeit gründet. Über abwesende Menschen wird nicht geredet. Sitzordnungen spiegeln soziale Hierarchien. Sie werden streng eingehalten. Mobilität bleibt begrenzt. In der Kommunikation werden Grenzen gewahrt und humorvoll ein wenig überschritten. So bleiben sie erträglich. Es ist verpönt, sich in den Vordergrund zu schieben. Über die eigenen Leistungen redet man nicht; die der anderen unterwirft man keiner Kritik. Die Selbstrücknahme geht so weit, dass Kritik ausgeschlossen bleibt. Niemand ist so bedeutsam, dass es ihm gestattet werden könnte, die Leistungen anderer zu schmälern oder zu bewerten. Kritik ist anmaßend, eitel, lieblos und Symptom einer schwachen Identität. Kritik verrät Unsicherheit und Aggressivität. Auch die Intentionen der anderen bleiben tabu. Das Gastmahl konstituiert einen sozialen Raum, in dem das Selbst sich in der Kommunikation beschränkt, die eigene Lebensgeschichte, seine Stimmungslagen und Interessenstrukturen gleichsam suspendiert, um sich auf den anderen einzulassen und ihm zu dienen. Man späht nicht nach Schwächen und 29
Ebd., S. 97-103.
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Unvollkommenheiten. Man lebt eine Gemeinschaft des Wohlwollens und wechselseitigen Erbarmens. Man schont die Verletzlichkeit des Menschen und achtet in allen die Würde und das eigentümliche Wollen. Dieses Ethos des Maßes lebt aus der Einsicht von der Kontingenz des Lebens und Leibes. Grenzerfahrungen der Hinfälligkeit und des Todes durchströmen diese universale Zurückhaltung. Des Menschen Maß ist in aller geschöpflichen Größe endlich und zufällig. Seine irdische Zeit ist eng bemessen. In der Tugend des kritikfreien, soziale Ordnung und individuelle Eigentümlichkeit achtenden Umgangs wird solchem Grenzbewusstsein entsprochen. Man hält sich cum grano saUs an Regeln, in denen sich die bürgerliche Gesellschaft spiegelt, und weiß um die Fragilität und unvergleichliche Würde des Menschen, mit dem man redet und speist. Man lebt gesellschaftliches und gemeinschaftliches Maß.30
6. Rousseau: kosmisches und individuelles Maß Die erasmische Synthese von Individuum und Gemeinschaft zerbricht in Rousseaus pädagogischer und politischer Philosophie. Menschlichkeit und Bürgerlichkeit erscheinen über weite Strecken als unvereinbar. Der Bürger ist für Rousseau bis in die Empfindungen hinein ein denaturierter Mensch. 3l Gesellschaftliche Existenz (amour-propre) zerstört das ursprüngliche Maß (amour de soi).32 Als neues Maß des pädagogischen Denkens fungiert der (indianisch konzipierte) autarke, in seinen Bedürfnissen beschränkte homme naturel, der nicht einfach mit dem sprachund weitgehend gedankenlosen Urmenschen des 2. Discours gleichgesetzt werden darf. In wohlgeordneter Freiheit vollendet sich die Pädagogik des Maßes. 33
Aristotelisch zweideutig wird der Begriff der Natur zum letztheitlichen Maß. Naturzustand, natürliche Entwicklung, die innere Natur des Menschen: All dies sind normative Fiktionen. Selbstliebe (amour de soi) wird zum inneren Regulativ für eine nicht-entfremdete Existenz. Der Mensch soll lernen, sich selbst, seinem individuellen Gesetz, treu zu bleiben. Rousseau operiert mit der Fiktion eines autarken und autonomen Individuums. Die Gesetze der arbeitsteiligen Konkurrenzgesellschaft sollen von dem heranwachsenden Menschen strikt fern gehalten werden, um dessen innere 30 31 32 33
Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie. 3., unveränderte Aufi., Darmstadt 1991. Jean-Jacques Rousseau, Emile ou de l'education, (Euvres compleres, Bd. 4, hg. v. Bernard Gagnebin und Marce1 Raymond, Paris 1969. Im 4. Buch des Emile deutet Rousseau eine Verschränkung beider amour-Fonnen in Freundschaft und Liebe an. Vgl. Hartmut von Hentig, Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, München 2003.
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Entfaltungslogik nicht zu irritieren oder gar zu zerstören. Als negative Erziehung bezeichnet Rousseau dieses exklusive Programm. Durch die Internalisierung der gesellschaftlichen Moral würde das Individuum in seiner Maßgeblichkeit zerstört. Alle normativen Annäherungen an den Edukanden sind zu unterlassen. Im (insgeheim arrangierten) Umgang mit der äußeren Natur soll er seine innere Natur entdecken und an Gesetzlichkeiten glauben lernen (natürliche Religion). Naturgesetze treten an die Stelle sozialer Gesetze: Ihnen allein weiß sich Emile in seiner Lebens- und Lemgeschichte unterworfen. Das Maß wird kosmisch. In der Resignation, der keine Bitterkeit beigemischt ist, akzeptiert der Mensch die unverbrüchliche kosmische Ordnung, die nach Überzeugung Rousseaus nur einem Schöpfergott entspringen kann. 34 Da Gott und Natur in dieser Hinsicht koinzidieren, wird das natürliche Maß geheiligt. Das Leben und Wollen im Einklang mit den Gesetzen der Natur bedeutet Frömmigkeit. Daher muten Rousseaus Schriften so aufrüttelnd-pathetisch an. Das Pathos ist weder neurotisch noch hohl. In ihm wirkt die Freude, dass es ein letztverbindliches überindividuelles Maß zu entdecken gibt, dass nicht alles in der Willkürlichkeit normativer resp. ideologischer Setzungen verbleibt. Rousseaus Glaube an das letztgültige Maß wurde, wie die Reveries bezeugen, in Lebenskrisen erkämpft. So fand er zu sich selbst zurück. Kosmisches und individuelles Maß sind aufeinander bezogen. Autarkie, Autonomie und Authentizität werden von Rousseau nicht einfach subjektivistisch gedacht. Weil es eine letzte Ordnung seinshaft und normativ, als Natur und Gott resp. als Gerechtigkeit gibt, vertraut Rousseau auf die monadische Logik des jeweiligen Menschen. Seit Pythagoras entwickeln die Gläubigen die das Leben formenden Philosophien des Maßes. Eine extreme Spannung kennzeichnet Rousseaus Pädagogik des Maßes. Der junge Mensch muss zu sich finden, in dem er die faszinierende, geschenkte Ordnung der Dinge selbstlos vernimmt und sich so mit ihr einverstanden erklärt. Sich dieser universalen Ordnung zu fügen ist das Telos und das Glück des Menschenlebens. Die unendliche natürliche Ordnung dient als Fundament für ein teleologisches Denken, das beim späten Rousseau sogar heilsgeschichtliche Perspektiven integriert. Am teleologischen Denken hält Rousseau trotz schwerer Erschütterungen fest. Gerade die naturalistisch-sensualistische Perspektive der Vergegenständlichung von Weltdingen, die in der englischen und französischen Aufklärungsphilosophie theoretisch subtil verfochten wurde, irritierte ihn, wie seine Auseinandersetzung mit Helvetius zeigt, zutiefst. 35 Der naturalistische Partikularismus kennt kein Maß. 34 35
Vgl. 4. Buch des Emile und ders., Reveries du Promeneur solitaire, (Euvres compll:tes, Bd. I, hg. v. Bernard Gagnebin und Marcel Raymond, Paris 1959. Das 4. Buch des Emile enthält Rousseaus Antwort aufden von Helvetius kämpferisch vertretenen Sensualismus. Zunächst hatte Rousseau eine dezidiert der Auseinandersetzung mit Helvetius
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Naturwissenschaft ist maßlos. Rousseau ahnt die Gefahren, die aus dieser Maßlosigkeit geschichtlich hervorkriechen können. Deshalb und aus persönlichen Sicherungsmotiven entscheidet er sich für Geschichte im eigentlichen Sinne ermöglichende universale teleologische Sichtweisen. Die Geschichte der Menschheit und des Einzelnen hat einen Sinn. Es gibt ein kosmisch-göttliches Maß, dem der Mensch sich einfügen kann und soll. Die Idee Gottes und der Gerechtigkeit sind letztgültige Maßgeblichkeiten für die Gestaltung des menschlichen Lebens. Man könnte die den rousseauschen ethisch-religiösen Formalismus nennen. Der Mensch muss an letztgültige Maße glauben. Letztgültige Maße resp. Ideen lassen sich nicht beweisen. Es lässt sich indes zeigen, dass sie jedwede Sinngeschichte als Lebensgeschichte erst ermöglichen. Die Menschlichkeit des Menschen gründet in solchem Maß. Der von Rousseau in stoischer Tradition autark (amour de soi) konzipierte Mensch unterstellt sich der Idee eines nicht von ihm geschaffenen Maßes. Nur so kann er seine Autarkie verwirklichen. Die gläubige Entscheidung für eine Idee begrenzt die Reflexion. Reflexion scheint Rousseau maßlos. In der Reflexion findet der Mensch kein letztheitliches Maß. Wissenschaft und Reflexion sind für Rousseau kulturelle Phänomene der Maßlosigkeit. Eine immer reflexiver werdende Kultur verliert ihr Maß. Auch die Barbarei kann reflexiv sein. Reflexion muss gläubig überformt sein, sonst ist sie ein Symptom der Entartung. Reflexivität ist kein letzter Wert, kein Gütekriterium der menschlichen Kultur. Nicht reflexionslos, sondern letztgültig gebunden soll der Mensch sein. Reflexion, Intuition und teleologische Dezision verwirklichen Maß. Auch die Imagination kann zur Maßlosigkeit, zum Wirklichkeitsverlust und zum träumenden Verzicht auf die Gestaltung einer einzigartigen Lebensgeschichte verleiten. Die aufklärerische Destruktion der Metaphysik lässt Reflexion und Imagination korrektivlos umherschweifen. Rousseau will sie in letztgültige Ordnungsideen einbinden und dadurch Menschlichkeit konstituieren lassen. Die Imagination kann Menschlichkeit in solcher Kontextualisierung vertiefen. Jeder Entwurf von Zukunft verdankt sich der Imagination. Rousseau insistiert auf der ideenbestimmten Imagination. Er glaubt an eine zukünftige gerechte Welt und findet in diesem Glauben das Maß seines irdischen Lebens. Leiden und Verzweiflung werden in solch absolutem Rückbezug gebannt. Er kann heiter leben und im Glauben an die göttliche Gerechtigkeit sterben. 36
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gewidmetes Werk zu schreiben.
In den Reveries bezeugt Rousseau diesen Glauben in unvergesslicher Einfachheit und Ehrlichkeit.
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7. Herbart: ästhetisch-ethische Vernunft als Maß Kalkulierende instrumentelle Vernunft und ichbezogene Weltklugheit bestimmen für Herbart den Geist der Zeit. Die entfesselte Konkurrenzgesellschaft deformiert den Menschen. Er wirft ein eigentümliches Netz des Maßes über die Welt. Kausalanalytische wissenschaftliche Kultur wirft ihren Schatten auf den Menschen: Nützlichkeit avanciert zur Menschlichkeit erstickenden Ideologie. Die Aufklärung ist ein Vermächtnis und ein Verhängnis. Die Selbstinterpretation des Menschen restringiert sich auf Sichtweisen, die dem wissenschaftlichen Denken inhärent sind. Die Kriterien der Wissenschaft durchsetzen die alltägliche Welt. Überprüfbarkeit und Objektivität dominieren. Alles wird prinzipiell zu einem Gegenstand gemacht, den es zu erkennen und zu beherrschen gilt. Der andere und das andere erscheinen als zu berechnendes, zu nutzendes oder gar auszunutzendes Objekt. Nur das jeweilige Ich als selbstherrliches Subjekt bestimmt das, was als Maß für den Umgang mit dem anderen dient. Historisches Bewusstsein belehrt uns, dass diese Einstellung sich nicht verabsolutieren darf. Sie ist eine Möglichkeit, die Welt zu vergegenwärtigen. Es gibt andere Formen der Weltsichtung. Herbart weiß, dass es für den Menschen Welt nur in Form von interessefundierten Stellungnahmen geben kann. Welt bedeutet Positionalität. Herbart versucht, die fundamentalen Hinsichten der Weltdeutung in fünf praktischen Ideen konstruktiv zu erfassen. Für den Menschen gibt es Welt primär nur als Wertung. Die Formen der Wertung können wir der Geschichte entnehmen. Sie klärt uns über die Möglichkeiten des Menschen auf. Im Begriff der ethisch-ästhetischen Vernunft werden sie zusammengefasst. Primär wird demnach Welt nicht technisch-instrumentell, sondern unter der Perspektive des Guten und Schönen evident vergegenwärtigt. Die praktischen Ideen (innere Freiheit, Wohlwollen, Redlichkeit, Billigkeit, Vollkommenheit) als ermessende Stellungnahmen konstituieren die primäre alltägliche Welt. Eine rein theoretisch-technologische Welt ist Derivat. Der Mensch ermisst, bevor er Dinge resp. Sachverhalte vermisst. Herbart glaubt, dass die fünf praktischen Ideen als materiales Apriori dem menschlichen Denken als nicht aufeinander reduzierbare Grundwertungen zugehören. Epochen bilden eine Figuration dieser Ideen aus, gleichsam ein eigentümliches Ideenprofil. Das Gewissen ist Inbegriff dieser Ideen. Es konstituiert die soziale Welt und ist insofern ubiquitär. Das Gewissen des Menschen muss gebildet werden. Es gibt eine Kultur des Ermessens, die durch pädagogisches Handeln vorbereitet werden kann. Der junge Mensch soll sein Maß in der entgrenzenden schönen Erzählung, d.h. in der ästhetischen Darstellung der Welt und aller bedeutsamen Epochen finden. Ästhetisch soll er sich, die Anderen und die Dinge sehen lernen. Die Anlagen für solche Sichtung sind ihm ursprünglich gegeben. Durch begier-
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dehaftes instrumentelles Wollen oder triebhafte besinnungslose Willkür bleiben diese Anlagen unentfaltet. Ästhetische Vergegenwärtigung der Welt soll von den blind-rücksichtslosen Begehrlichkeiten und raffinierten Szenarios der Klugheit befreien helfen. Ästhetisches Vernehmen ist selbstlos und willenlos. Es lässt sich rückhaltlos auf die Eigenbestimmtheit des Anderen ein. Praktische Vernunft und ästhetische Urteilskraft werden eins. In konzentrierter, das eigensüchtige Wollen ausschließender Besonnenheit werden Eigenbestimmtheiten ästhetisch erfasst und sittlich nach der Maßgabe des Schicklichen gewürdigt. Die Menschheitsgeschichte wird poetisch konstruiert, sie wird im Sinne Friedrich Schlegels poetisiert, in schönen, würdigen Exempla vorgestellt, in denen der junge Mensch sein Maß finden kann. Eine direkte ethische Belehrung ist verpönt. Sie könnte die Freiheit des Edukanden gefährden. Herbart intendiert eine teils poetische, teils pragmatische Konstruktion der geschichtlich-kulturellen und letztlich auch der naturalen Welt. Pragmatisch nennt er dies Konstruktion, weil sie auf das mögliche Handeln des Edukanden hin konzipiert ist. Im Ermessen des Lächerlichen und Schicklichen, des Würdevollen und des Verrats seiner selbst oder der anderen eröffnen sich (nicht abstrakt deduzierbare) Handlungsspielräume. Der Mensch soll sich und seine Welt maßvoll gestalten. Das Telos der ästhetischen Würdigung bleibt das Handeln, in dem sich ein Leben formt und bewährt. Das Maß wird für Herbart die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte und die zu erforschende Ordnung der Natur. Kulturwissenschaften und Naturwissenschaften lösen den Menschen aus seiner egoistisch-egotistischen Befangenheit und lassen ihn bislang unbekannte Maße erfahren. Interessen der Erkenntnis sprengen die ichbefangenen Lust- und Verwertungsperspektiven. Aus der Umwelt wird die Welt. Der Mensch wird als ein Wesen der Interessen resp. der Motivation pragmatisch gesehen. Interessenwandellässt neue Maße entdecken. Die Interessen der Erkenntnis von Welt und Geschichte durchbrechen die Ichbefangenheit und sind insofern interesselos, aber sie bleiben eingesenkt in die Handlungsbzw. Gestaltungverfasstheit des Menschen. Die Interesselosigkeit des Ästhetischen wird nicht geschmälert, aber sie hat in der pragmatischen Bewältigung des Lebens ihren Sinn, der für den Edukanden zunächst abgeschattet ist. Die teils poetische, teils pragmatische Konstruktion der Welt, die dem Erzieher obliegt, wahrt Autonomie des Ästhetischen in der Relationalität zur Gestaltung des Ichs und der Welt. In der sozialen Welt gelten Gesetzlichkeiten wie in der Sphäre der Musik oder Mathematik. Die soziale Logik wird in den praktischen Ideen fundamental erfasst. Sie bestimmen als Maßgeblichkeiten das Sein der idealen Gesellschaft, die zugleich eine Gemeinschaft des Anstands und des Rechts ist. Im Bildungsgang wird das Bewusstsein von dieser idealen Sozietät sensibilisiert. Das Maß ist
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keine rein individuale Setzung. Es gibt in dieser Hinsicht kein individuelles Gesetz. 37 Auch kommt der faktischen Gesellschaft keine letztgültige Maßgeblichkeit zu. Ganz platonisch misst Herbart den wirklichen Staat an seinem idealen Urbild, das sich in den praktischen Ideen funktionalisiert. In der ,,zucht" als dem Umgang mit der Freiheit soll der Heranwachsende lernen, die Maßgeblichkeiten der idealen Sozietät zu erfassen und handelnd zu verwirklichen. Ideenbezogene interesselose Wahrnehmung der sozialen Welt soll er angstfrei-demütig lernen. Faktum und Idee soll er aufeinander beziehen. Die Gesellschaft, in die er eintritt, wird für ihn durchsichtig. Er verfällt nicht ihren Normen; er versucht nicht, sich festzulegen oder zu reüssieren. Er wahrt furchtlos Distanz und nimmt mit wachen Augen und empfindsamem Herzen wahr. Vorschnelles Urteilen versagt er sich. Vernehmen will er bis in zarteste Verästelungen hinein ohne irgendwelche persönlichen oder weltanschaulich-normative Einschränkungen. Die praktischen Ideen, die in diesem Vernehmen gegenwärtig sind, liegen jenseits der weltanschaulichen Dezisionen. Erst am Ende des Vernehmens darf, wie in der Rechtssphäre, das soziale Szenario beurteilt werden. Im Urteilen eröffnen sich Handlungsperspektiven. Vernehmen ist für Herbart intuitive komplexe Erkenntnis. Vernunft ist mehr als der regelgeleitete begriffsgebundene Verstand. Herbarts Hermeneutik des Vernehmens sozialer Wirklichkeiten verzichtet aufjeden Zwang. Im Vernehmen gibt sich der Jüngling selbst ein Maß. Im ideenbezogenen Schauen verändert sich die Persönlichkeit, ohne dass eine solche Veränderung vom Heranwachsenden intendiert ist. Es bedarfkeiner Imperative der Mäßigung und keines Zuchtmeisters. Die vernehmende Vernunft ist ab origine eine verwandelnde Vernunft. So vermählen sich ästhetische und ethische Perspektive. Kunst, Literatur und gesellschaftlicher Umgang verfeinern das Vernehmen und gestalten in filigranen Verbindungen den Charakter. Nur indirekt, über Umgang und Unterricht, darf der Pädagoge sich dem Charakter als Zentrum der Person zuwenden. Nur in solchen Medien lernt die Person sich entgrenzend zu mäßigen. Maßhalten verwirklicht sich für Herbart über ästhetische, Welt und Geschichte interesselos wahrnehmende Entgrenzung. Der Egozentrismus des Kindes kennt nur ein selbstisches Maß. In Interessen der Erkenntnis und der Teilnahme qua sympathetischer Bezogenheit wird jene Entgrenzung vollzogen. Erkenntnis und Teilnahme werden von Herbart konstruktiv geschieden; er weiß, dass sie sich in der Wirklichkeit des Denkens durchdringen. Distanzierung und Identifizierung erschließen zusammen Geschichte und soziale Welt. Die Hoffnungen und Leiden der anderen sollen dem jungen Menschen unterrichtlich vergegenwärtigt werden. Sie relativieren seinen Lebensentwurf und die Sorge um sich selbst. Er ist nicht allein auf der Welt. Es gibt die Gemeinsamkeit 37
Vgl. Georg Simmel, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt a.M. 1987.
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des Leidens, VerzweifeIns, Hoffens und Resignierens aller Menschen und aller Zeiten. Der Gedanke an die conditio humana lässt neue Maßgeblichkeiten aufscheinen. Alle Menschen sind in der Freude und im Verzagen miteinander verwandt. Der Blick auf sich selbst darf nur im Horizont der anderen gewagt werden. Die ist das humane Maß, das man in der Betrachtung der Geschichte gewinnt, ohne dass es ausdrücklich werden müsste. Geschichtslosigkeit ist inhumane Maßlosigkeit. Schrumpfung des geschichtlichen Bewusstseins verführt zu falschem Ermessen. Je weiter der geschichtliche Horizont, desto maßvoller, bescheidener, menschlicher können wir werden. Im Bezug auf Gott als das höchste Maß findet der Mensch in seine tiefste Menschlichkeit. Natur, Geschichte und Gott sind die Beziehungsdimensionen des Ermessens. Herbart verschränkt individuales, geschichtlich-soziales und ästhetischreligiöses Interesse. Ästhetisch bedeutet für ihn schön und göttlich-entgrenzt. Der Pädagoge hilft dem jungen Menschen sich zu entgrenzen. Er muss Gottes als des absoluten Maßes innewerden. Er muss im Gottesbezug die Winzigkeit des Menschen erfahren und bescheiden werden. Offenbar kritisiert Herbart mit seiner im mehrfachen Sinne ästhetischen Pädagogik der Entgrenzung die Individualitätsbesessenheit der Modeme, die alles am selbstischen Maße misst. Das aufklärerische Maß des Menschen begrenzt diesen hässlich-rücksichtslosen Individualismus, bleibt aber anthropozentrisch. Der Mensch wird zum Absolutum. Für Herbart ist der Anthropozentrismus eine kollektive Omnipotenzphantasie, die in den Abgrund führt. Ohne religio bleibt der Mensch maßlos. Das Ethos des Vernehmens, das in seiner Pädagogik vielfach bedacht wird, gründet im Vernehmen Gottes, in dem der Mensch in seine Freiheit gelangt.
8. Schiller: das Maß des Spiels als Heilung der Zerrissenheit Beeindruckt von Rousseaus Kulturkritik und sowohl fasziniert wie provoziert durch die kantsche Gesinnungsethik und deren Kategorischen Imperativ entwirft Schiller fast zeitgleich mit Herbart am Ende der Aufklärungsepoche eine Philosophie des homo ludens, die salvatorisch gemeint ist. Sensualität und Rationalität, Natur und Kultur treten im Zivilisationsprozess immer weiter auseinander. Die kulturelle Überformung des Menschen schwächt seine Vitalität. Der Mensch wird eindimensional. Kippungen in maßlose Sensualität sind eine bedrohliche geschichtliche Möglichkeit. Revolutionen erschüttern Europa, die es nicht nur politisch, sondern kulturphilosophisch zu begreifen gilt. In der hochgradig gesteigerten Komplexität der Lebensverhältnisse und des Umgangs des Menschen mit sich selbst lauem ungekannte Gefahren. Der Mensch droht in der Künstlichkeit seiner
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kulturell geschaffenen Welt zu ersticken. Weder das Konstrukt der Natur noch der Begriff der Kultur können als Maß dienen. Rousseaus normativer Naturalismus bleibt letztlich naiv. Und die Zivilisations- und Optimierungsgläubigkeit der Aufklärung bedenkt nicht, dass die unterworfene Natur sich in gewaltigen Eruptionen der kulturellen Dominierung widersetzen könnte. Leben und Erleben, Naivität und Reflexion, Extensität und Intensität, Steigerung und Erhaltung müssen sich wechselseitig als Prinzipien mäßigen. In der menschlichen und künstlerischen Gestalt finden sie ihre Versöhnung. Der Zwangscharakter der Gestalt läutert das Leben, ohne es zu vernichten. Lebendige Form fungiert als Maß. Sinnlichkeit muss in höchster Geistigkeit bewahrt werden. Die Wirklichkeit der Gestalt lächelt über alle Dichotornisierungen, welche die Sprache vorgibt. Nicht emanzipatorische Selbstverwirklichung, sondern Polaritäten einende Selbstgestaltung, mithin Bildung im emphatischen Sinne, ist das Ziel des Lebens. Bildung eignet der schönen Seele, in der Fühlen und Denken bruchlos zueinander finden. 38 Schiller träumt von der schönen Seele als Lebensideal. Sie ist die Wirklichkeit in Spiel verwandelnde und aufhebende Gestalt - selbstbezüglich und ekstatisch, sinnlich-natürlich und personalzentriert, imaginierend und bedenkend, selbstgewiss, ohne um diese Gewissheit zu wissen: ein Kunstwerk, das lebt, ein schöner Schein, in dem Wirklichkeit gestaltet, aber nicht inszeniert zu sich kommt. Kunst und Leben sind menschlich eins geworden. Das kunstvolle Maß des Menschen ist kein künstliches, willkürlich erfundenes, das einem Fremden übergestülpt wird. In der schönen Seele hat vielmehr die Natur ihr Maß gefunden. Sie erfüllt sich als menschliche Schönheit und der Mensch erfüllt sich in der Wahrung der Natur. Die schöne Seele ist der homo Zudens, der durch die gelebte Versöhnung von Natur und Kultur, von Determination und Autonomie in seine eigentümliche Freiheit gefunden hat. Die schöne Seele lebt als Freiheit in der Gebundenheit. Sie allein erreicht das dem Menschen mögliche Maß. Während Aristoteies den besonnenen Menschen als Günstling der Natur sozial exklusiv dachte, glaubt Schiller trotz mancher Vorbehalte an eine mögliche Ästhetisierung des Menschengeschlechts. Es gibt einen Weg zur Bestimmtheit der schönen Seele. Der sinnliche Mensch kann und soll ästhetisiert und dadurch für alle Modi der Vernünftigkeit vorbereitet werden. 39 Eine ästhetische Erziehung vermag dem Menschen ein vernünftiges Maß zu geben. Nur im Medium des Spiels eröffnet sich die Menschlichkeit des Menschen. Der modeme homo faber, der Experimentator und Konstrukteur, hat das Spielen verlernt. Ihn treibt die Not des Daseins. Er bleibt trotz allen rationalen Raffine38 39
Friedrich Schiller, über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, mit den Augustenburger Briefen hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, 13. Brief, S. 50 ff. Ebd., 23. Brief, S. 90 ff.
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ments Sklave seiner Bedürfnisse und arbeitender Handlanger der Natur. Die modeme Arbeits-, Herrschafts- und Leistungskultur kennt die Gnade des Spiels nicht mehr. Im Netz technischer Vernunft verödet die Seele. Höchste wissenschaftlichtechnische Rationalität geht mit psychisch-moralischer Barbarei Hand in Hand. Bedürfnisgebundene Vernünftigkeit verändert die Bedürfnisse nicht. Deren Kultivierung unterbleibt in herrscherlicher Außenperspektive. Die Selbstgestaltung des Menschen, der Wandel seines Wollens und die Differenzierung seines Fühlens und Sehnens, gerät aus dem Blick. In der Dominanz der wissenschaftlich-technischen Kultur liegt der Keim humaner Selbstvergessenheit und der Barbarei. Äußerliche emanzipatorische Befreiung durch technologische Nutzung der in ihrer Gesetzlichkeit durchschauten Natur paart sich mit innerer Unfreiheit. Hinter technologischer Kultur wird Barbarei unsichtbar. Schiller fühlt, dass der moderne Mensch aus dieser Inhumanität befreit werden muss. Ästhetische Erziehung soll den Menschen das in sich ruhende Maß des Schönen und Ganzen, des zur Gestalt Geformten erfahren lassen. Technologische Kultur und arbeitsteilige Gesellschaft fragmentarisieren den Menschen und treiben ihn not-gedrungen ins Endlose, das keine Erfüllung kennt. 4Q Im Spielen fallen Arbeit und Genuss zusammen, wirkt alles als Mittel und Zweck zugleich. Gestalt und Organismus sind strukturidentisch.41 Sie konstituieren eine eigentümliche Welt des Maßes. Sie symbolisieren die Idee der Ganzheit, die epochal durch die gesellschaftlich erzwungene Vereinseitigung des Menschen verloren gegangen ist. In der ästhetischen Erziehung begegnet der Mensch Gestalten, erlebt er Ganzheiten, die dem alltäglichen Leben fremd geworden sind, sieht er der Menschheit inhärenten (Selbst-)Gestaltungsmöglichkeiten, wird er an die mögliche Einheit seines Wesen in leichter Form erinnert. Die Kunst ist die Hüterin des menschlichen Maßes. Sie führt den Mensch zwanglos durch die Faszination des Spiels in eine andere Welt. Nur die Kunst, die dies vermag, ist wahrhaft groß und Erzieherin des Menschengeschlechts. Nicht jede Spielerei eröffnet Menschlichkeit. Der Spaß ist kein Spiel. Für das in der ästhetischen Erziehung zu entdeckende und zu genießende Spiel gelten die Kriterien der Originalität, d.h. der Gegenwelt1ichkeit und der gestaltlichen Vollendung, mithin der Schönheit. Der Mensch soll lernen, sich an neuen Maßen zu messen, sich neu zu sehen und neu zu entwerfen. Ästhetische Erziehung eröffnet neue Geschichten. Sie sensibilisiert für das Maß der schönen, selbstzweckhaften Bilder. Bilder können den Menschen knechten oder befreien. Bilder üben einen 40 41
Vgl. Friedrich Nietzsehe, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4, BerlinI NewYork 1980, S. 9-408. Vgl. Kant, Kritik der Urtheilskraft, AA, V, Ber1in 1968, S. 165-485.
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tiefen Einfluss auf den Menschen aus. Schöne Bilder mäßigen; sie schaffen Abstand zur drängenden Natur. Bilder geleiten den Menschen von der Triebhaftigkeit der Natur in die Heiterkeit, Gelassenheit und Besonnenheit einer kulturellen Existenz. Bilder können zur qualitativen Verwandlung führen. Das schöne Bild provoziert Humanität. Man weiß beim Anblick eines schönen Bildes, dass man sich ändern muss. 42 Durch Bilder befreite sich der Mensch von der reflexionslosen Umarmung der Natur und machte sie gegenständlich. Schiller appelliert an die befreiende Funktion des Bildes. Jedes Bild, jede Imagination bezeugt, dass Spielräume eröffnet und für eine bestimmte Zeit bewahrt wurden. Eine Kultur der Bilder ist dringend. Die primäre Stufe der Reflexion ist bildlich. Die Destruktion normativer eigentümlicher Bildlichkeit, die im begriftlich-wissenschaftlichen Geist der Moderne liegt, zerstört Möglichkeiten der imaginativen Reflexion und raubt dem Menschen das Maß seiner Menschlichkeit. Dies ist Schillers bewegender Gedanke, in dem Leiblichkeit, Bildlichkeit und Begriftlichkeit, Natur und Kultur sich zur Einheit fügen und die Menschheitsgeschichte über Jahrtausende hinweg miteinander im Gespräch bleibt.
9. Ausblick: das Maß des Entsagens Laster sind wie die Imagination ambivalent. Um ihren Wert zu bestimmen, müssen sie kontextualisiert werden. Mehr-können-Wollen (hybris) und Mehr-haben Wollen (pleonexia) gründen in der Selbstdeutung und im Selbstentwurfdes Menschen. Der Mensch überschreitet sich in jeder Selbstdeutung. Es macht sein Wesen aus, zu solcher Deutung gezwungen zu sein. 43 Was einst an der Schwelle zur Neuzeit als curiositas gebrandmarkt wurde, erfuhr nach und nach als Forschergeist, der den Gesetzen der Natur in emanzipatorischer Absicht nachspürt, gesellschaftlich hohe Wertung. Aus Neugierde wurde Exploration, aus Geiz sorgsamer, reflexiver institutionalisierter Umgang mit Ressourcen, an denen das Leben der Menschheit hängt. Es gibt übergeschichtliches (Schiller) und geschichtliches Maß. Sünden und Todsünden sind auch geschichtlich konnotiert. Übergeschichtlich ist der Verrat des Menschen an seinen eigenen humanen Möglichkeiten in Wort und Tat, ist die Verletzung der Pflichten gegen sich selbst und die anderen die Sünde schlechthin. Der Mensch muss sich ein Maß geben. Die Ideologie allseitiger Entfaltung technologischer Vernunft und der Selbstverwirklichung als Optimierung individueller Interessen des Habens und Wollens, Genießens und Geltens, in der sich 42 43
Vgl. Rousseau, Emile, 4. Buch, in dem die Sublimationsmacht des Bildes genutzt wird. Amold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 13. Aufl., Wiesbaden 1986.
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der Geist und die neuen Möglichkeiten der Modeme niederschlagen, muss in ihrer Maßlosigkeit durchschaut und als Regulativ verabschiedet werden. Es gibt eine Entwicklung nach innen und nach außen. Die Idee der Bildung fügt beide Entwicklungsdimensionen zusammen und erhofft wechselseitige Korrektur. Die Kultur der Innerlichkeit geht zurück; ihre Sprache wird schon nicht mehr verstanden. Der wissenschaftlichen WeItsicht ist diese cultura animi fremd. Im Alltag verkommt sie zur Phrase. Im kulturwissenschaftlichen Betrieb ist sie heimatlos. Die Wissenschaft kennt nur ihr selbstgewähltes Maß. In toto sind die Wissenschaften maßlos. Eine Wissenschaftsphilosophie und kritische Metaphysik könnte ihr im Gegensatz zur Wissenschaftstheorie qua Methodologie neue Maßgeblichkeiten geben. Der Mensch muss sich zurücknehmen. Da Recht und Wissenschaft universal sind und da unsere politischen Institutionen diese Universalität in sich hineinnehmen, erzeugt sich eine Mentalität universaler Einlösung der eingeräumten rechtlich-sozialen Möglichkeiten. Jeder darf im rechtlichen Rahmen alles äußem und kritisieren, verhunzen oder lächerlich machen. Jeder darf bis zur Lähmung des Rechtswesens seine zugesicherten Ansprüche durchsetzen. Dass damit auch Recht verletzt werden kann, wird nicht bedacht. Comenius44 und Erasmus45 haben zu Beginn der universalistisch strukturierten Modeme das Maß des Verzichts korrigierend ins Spiel gebracht. Man geht sorgsam mit der Äußerung der eigenen Meinung um; man verzichtet darauf, Rechtsansprüche einzuklagen, um das Rechtssystem zu entlasten und gerechter werden zu lassen. Der Mensch muss lernen, dass es eine Planerfüllung durch abwägende Beschränkung gibt. Herbarts Wendung von der Allseitigkeit der Interessen zum gleichschwebenden vielseitigen Interesse bezeugt das Ethos der Mäßigung, das geschichtlich notwendig geworden ist. 46 Lange schon wurde das Ethos der Reduktion und existentiellen Konzentration im Horizont reifer, komplexer, zerfallender Kulturen als humane Lösung gewählt. Sokrates und Rousseau, der ihm und Jesus Christus folgte, haben es bedacht und gelebt. Sie kannten die Weisheit des Entsagenkönnens47 , in der sich Geschichten vertiefend vollenden. Sünden irritieren und belas-
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Jan Amos KomenskY, Briefe an den Himmel; in: ders., Das Labyrinth der Welt und andere Schriften, 2., erweiterte und veränderte Aufl., Leipzig 1984, S. 28 ff. Erasmus, Über die Umgangserziehung der Kinder, S. 105. Johann Friedrich Herbart,Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet (1806); in: ders., Pädagogische Schriften. Bd. 2: Pädagogische Grundschriften, hg. v. Walter Asmus, 2., unveränderte Aufl., Stuttgart 1982, S. 9-255. Vgl. Josef Derbolav, Entwurf einer pädagogischen Verfassungsgeschichte des Individuums. Gedanken zur Weiterbildung meiner pädagogisch-anthropologischen Konzeption; in: ders., Systematische Perspektiven der Pädagogik, Heidelberg 1971, S. 51-65. Eckard König / Horst Ramsenthaler (Hg.), Diskussion Pädagogische Anthropologie, München 1980.
Maßha1ten - Pädagogische Ansichten über eine traditionsreiche Tugend
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ten Geschichten; Todsünden zerstören die Möglichkeiten von Geschichte, wenn nicht die Gnade eines Neuanfangs geschenkt wird. Quelle: A. BellebaumlH. Braun (Hrsg.): Die Sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modemen Gesellschaft. Verlag Aschendorff: Münster 2007
Lebensgrundlagen und Erwartungen
Historische Lehren rtir eine ökologische Glücksökonomie 1 Herbert Schaaff
Ausgangslage Nach der historisch betrachtet eher kurzen Phase des so genannten Wirtschaftswunders in der Zeit von 1950 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, die treffend als "kurzer Traum immerwährender Prosperität"2 bezeichnet worden ist, ist die Ökonomie in den Jahrzehnten danach wieder zu ihrem eher normalen zyklischen Verlaufsmuster mit signifikant niedrigeren Wachstumsraten zurückgekehrt. Diese zunächst sehr dynamische wirtschaftliche Entwicklung war allerdings keineswegs dem so oft propagierten Wunder zu verdanken, sondern basierte aufhistorisch ziemlich einmaligen und zeitlich befristet wirksamen Faktorenkonstellationen. Dazu zählten der latente Nachholbedarfbei Konsumenten und Investoren, verschiedene brachliegende technologische Innovationen, eine relativ gut erhaltene produktionsbezogene Infrastruktur, ein gut qualifiziertes Arbeitskräftepotenzial, günstige Welthandelsbedingungen und das wieder gewonnene Zukunftsvertrauen der Menschen. Die Wachstumsraten näheren sich seitdem wieder dem längerfristigen historischen Durchschnitt der letzten zweihundert Jahre. Dass sich die Wachstumsraten der 50er und 60er Jahre nicht perpetuieren ließen und auch künftig nicht mehr zu erwarten sind, dürfte unmittelbar einleuchten, bedenkt man, dass bei einem realenjährlichen Wirtschaftswachstum von z.B. 3 % innerhalb von gut 20 Jahren eine Verdoppelung des Sozialproduktes erreicht würde. Die signifikante Zunahme des materiellen Wohlstandes im Zuge bestimmter Konsumwellen in den hoch entwickelten Volkswirtschaften (Fress-, Einrichtungs-, Freizeit-, Reisewelle, etc.) ging zudem mit einer verstärkten ideologischen Funktion des Kon-
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Es handelt sich wn eine leicht aufgearbeitete und wn aktuelle Literaturhinweise ergänzte, gekürzte Fassung eines Beitrags, der 1999 erschienen ist in: Bellebaum, A, Schaaff, H, Zinn, K.G. (Hrsg.) (1999), Ökonomie und Glück: Beiträge zu einer Wirtschaftslehre des guten Lebens, Opladen, Wiesbaden, S.23-58. Zwn Begriff"ökologische Glücksökonomie": Schaaff, Herbert (1991), Kritik der eindimensionalen Wirtschaftstheorie: Zur Begründung einer ökologischen Glücksökonomie, Thun, Frankfurt/M. Für diesen Beitrag wurde nur leicht zugäng1iche Literatur berücksichtigt, auf eine weitergehende Rezeption von Fachzeitschriften wurde verzichtet. Vgl. Lutz, B. (1984), Der kurze Trawn immerwährender Prosperität: Eine Neuinterpretation der industrie-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/M., New York
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Herbert Schaaff
sums einher. Spätestens seit der 1972 veröffentlichten Studie zu den "Grenzen des Wachstums" wird diese Entwicklung überschattet von einer breiter geführten Diskussion über den tatsächlichen Sinn des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschaftens und dessen Zukunftsfähigkeit. Bereits 1973 brachte Herbert Grubl in Deutschland mit seinem Buch "Ein Planet wird geplündert" die mittel- bis langfristig zu erwartenden Ergebnisse einer ungebremsten Wachstumswirtschaft sehr deutlich auf den Punkt. 3 Bis zum endgültigen Zusammenbruch der Planwirtschaften in Osteuropa wurde die jeweilige ökonomische Entwicklung durch die Konkurrenz der Wirtschaftsund Gesellschaftssysteme geprägt. Wenn die kapitalistische Ökonomie im historischen Systemwettlauf auch einen scheinbar abschließenden Sieg errungen hat, offenbaren sich trotzdem neben der inzwischen unbestrittenen ökologisch bedingten Begrenzung der Ökonomie nunmehr wieder vermehrt Zweifel an der behaupteten unmittelbaren Wohlstandswirksamkeit modemen Wirtschaftens. Allerdings hat die inzwischen verbreitete Kenntnis über die Ineffizienzen der Marktwirtschaft und die offensichtlich mangelnde Zukunftsfähigkeit bis heute nicht zu einem entsprechenden Paradigmenwechsel in Ökonomie und Politik geführt. Dies gilt sogar noch nach der fundamentalen, weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009. Materieller Wohlstand ist jedenfalls, so lässt sich als These formulieren, in der bisherigen Form immer weniger reproduzierbar undfür ein gelingendes, gutes oder gar glückliches Leben scheinbar weit weniger bedeutsam als häufig suggeriert wird. Dies gilt insbesondere angesichts des in den Nachkriegsjahrzehnten erreichten, bis dahin völlig unbekannten materiellen Ausstattungsniveaus mit langlebigen Konsumgütern in allen Bevölkerungsschichten und der historisch betrachtet einmalig hohen, allerdings sehr ungleich verteilten Geldvermögen. Ist materieller Konsum aber tatsächlich weniger wichtig, so ergeben sich neuartige Perspektivenfür die Ökonomie, die einerseits ein grundsätzliches Umdenken erforderlich machen und die andererseits einen positiven Blick in die Zukunft ermöglichen. Diesem gedanklichen Ansatz wird im Folgenden nachgegangen. Durch einen interdisziplinären, historischen Zugang kann gezeigt werden, dass zwei schwerwiegende Problemkonstellationen in hoch entwickelten Volkswirtschaften - die mangelnde ökologische Zukunftsfähigkeit und das immer weniger eingelöste Wohlstands- und Glücksversprechen - gleichzeitig einer schrittweisen Lösung zugeführt werden können. Als positive These formuliert hieße dies: eine veränderte, nicht mehr ausschließlich wachstums- und konsumorientierte Ökono3
Vgl. Andersen, A. (1997), Der Traum vom guten Leben: Alltags- und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/M., New York; Meadows, D., U.B.. (1973), Die Grenzen des Wachstums, Reinbek bei Hamburg; Grubl, H. (1973), Ein Planet wird geplündert: Die Schreckensbilanz unserer Politik, Gütersloh
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mie kann nicht nur überlebensfähiger, sondern zudem auch wohlstands-, wohlbefindens- und glückssteigemd sein. Eine zweifellos verlockende Perspektive, über die es sich sicherlich nachzudenken lohnt. 4 Schon heute ist die Ökonomie bei allen unwiderlegbaren historischen Fortschritten mehr und mehr unwirtschaftlich geworden. Immer größer werdende Teile des Sozialproduktes sind nicht mehr wohlstandswirksam. Vielmehr beinhalten sie zunehmend Reparaturaufwendungen für die in der Vergangenheit produzierten Schäden. Der Anteil der defensiven Ausgaben (derjenigen Anteile des Sozialproduktes mit reinem Reparaturcharakter, die einen vormals bestehenden Zustand wiederherstellen, ohne zusätzlichen Wohlstand zu generieren) liegt mit steigender Tendenz inzwischen bei mehr als 10 %. Ein ursprünglicher Versorgungslevel mit materiellen Gütern und Dienstleistungen lässt sich nur noch mit einem immer größer werdenden Aufwand realisieren. Mit der Messziffer des Sozialproduktes werden einerseits Leistungen erfasst, die nicht wohlstandswirksam sind, andererseits werden konkret wohlstandsrelevante Aspekte des Wirtschaftens systematisch ausgeblendet (z.B. Haus- und Eigenarbeit). Und dennoch gelten bis heute die regelmäßig vermeldeten und öffentlich diskutierten Zuwachsraten des Sozialproduktes offensichtlich genauso immer noch als Erfolgsmaßstab für die jeweilige Wirtschaftspolitik eines Landes wie ,,negative Wachstumsraten" z.B. im Jahr 2009 als klarer Hinweis für die Tiefe und Dramatik der Krise interpretiert werden. 5 Die am Wachstum des Sozialproduktes ausgerichtete, die begrenzten Ressourcen und die natürliche Umwelt massiv verbrauchende Wirtschaftsweise ist aber zweifellos nicht endlos fortsetzbar, schon gar nicht, wenn sich die große Mehrheit der immer noch wachsenden Weltbevölkerung anschicken würde, ein dem westlichen ähnlichen Konsumniveau zu erreichen; und wer wollte und könnte das derzeit mit gutem Gewissen verhindern wollen. Überlagert wird diese Situation gegenwärtig von einer Verteilungskrise, deren unmittelbarer Ausdruck die Krise des Sozialstaates und die Verschiebung in den Verteilungsrelationen ist: Überfluss und Ar4
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Exemplarische Neuerscheinungen dazu: Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010), Glück: Die Sicht der Ökonomie, Zürich, Chur; Miegel, M. (2010), Exit: Wohlstand ohne Wachstum, Berlin; Opaschowski, H.W. (2009), Wohlstand neu denken: Wie die nächste Generation leben wird; Gütersioh; Weber, A. (2008), Biokapital: Die Versöhnung von Ökonomie, Natur und Menschlichkeit, Berlin; Binswanger, M. (2006), Die Tretmühlen des Glücks: Wir haben immer mehr und werden nicht glücklicher. Was können wir tun? 2. Aufl., Freiburg i.Br. Dazu auch heute immer noch einschlägig: Leipert, C. (1989), Die heimlichen Kosten des Fortschritts: Wie Umweltzerstörung das Wirtschaftswachstum fördert, FrankfurtJM. Alternative Messkonzepte (Sozialindikatoren) konnten sich in der Praxis nicht wirklich durchsetzen. Interessant ist das Modell des ,,Brutto-Sozialglücks" im Himalaya-Staat Bhutan; vgl. z.B. Weiner, E. (2008), Geografie des Glücks: Aufder Suche nach den zufriedensten Menschen der Welt, Berlin, S.76 ff.; Weber, A. (2008), S.107 f.; Bok, D. (2010), The politics ofhappiness: what government can leam from the new research on well-being, Princeton, Oxfoni, S.l fL
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Herbert Schaaff
mut, relative Sättigung auf der einen und unerfüllte Wünsche auf der anderen Seite stehen nebeneinander. Sie hängen aus einer nachfrageseitigen Perspektive sogar miteinander zusammen. Eine zukünftige Ökonomie müsste aufZielsetzungen basieren, die von einer zeitgemäßen gesamtgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vision geprägt sein müsste. Denn im Rahmen des bisherigen "immer-weiter-so" bleiben eigentlich nahe liegende Fragen nach den Zielsetzungen des Wirtschaftens jenseits untemehmerischer Gewinn- und individueller Nutzenmaximierung häufig unbeantwortet. Man kann in diesem Zusammenhang von einer gravierenden konzeptionellen Askese, einem Mangel an Orientierung im Sinn von Zielen sprechen. Modeme Volkswirtschaften sind also aktuell und in Zukunft nicht mehr wirklich von einem Produktionsproblem gekennzeichnet. Es fehlt damit nicht an Produktivität und Produktionsfähigkeit, denn wir haben " ... es geschafft, dass sich in den zurückliegenden hundert Jahren in einem Land wie Deutschland die pro Kopf erbrachte Arbeitsmenge ... halbiert und die Gütermenge reichlich verfünffacht hat."6 Es handelt sich vielmehr um eine materielle Verteilungskrise und eine moralische Orientierungskrise. Schon hier ist darauf hinzuweisen, dass die Verteilungsfrage nicht nur im Hinblick auf die Gerechtigkeitsdiskussion und die ökonomische Weiterentwicklung relevant ist, sondern auch bei der "Glücksfrage" von großer Bedeutung ist. Obwohl vielfach kritisiert, scheint sich die Aussage zu bestätigen, dass " ... bei einer Umverteilung von Einkommen von reich zu Arm der Arme mehr an Glück hinzugewinnt, als der Reiche verliert. So steigt das durchschnittliche Glücksempfinden. Je gleicher das Einkommen verteilt ist, desto glücklicher werden die Menschen eines Landes im Schnitt sein. "7 Die aktuellen Krisen haben also unterschiedliche Ursachen, die mit Blick auf die bisherige Menschheitsgeschichte eigentlich optimistisch stimmen sollten. Es handelt sich um eine Wohlstandskrise, dem zweifellos paradoxen Problem, dass eine Gesellschaft nicht in der Lage ist, mit dem erreichten Wohlstandsniveau positiv umzugehen bzw. selbiges langfristig abzusichern und so zu verteilen, dass allen Menschen ein gehobener Lebensstandard und damit die materielle Basis für ein auskömmliches und gutes Leben garantiert werden kann. Schon John Maynard Keynes (1883-1946) erwartete Probleme für den Zeitpunkt, in dem die Menschen zum ersten Mal vor die Frage gestellt werden, wie denn die neue gewonnene"... 6 7
Miegel, M. (2010), S.36 Layard, R. (2005), Die glückliche Gesellschaft: Kurswechsel für Politik: und Wirtschaft, Frankfurt/M., New York, S.65; vgl. Wilkinson, R./Pickett, K. (2009), Gleichheit ist Glück: Warum gerechtere Gesellschaften fiir alle besser sind, Berlin; Mann, S. (2009), Markt, Glück und Staat: Wie Wirtschaft und Politik: zu unserem Glück beitragen können, Moers, S.122. Dazu auch schon im Jahre 1824: Thompson, W. (1908), Untersuchung über die Grundsätze der fiir das menschliche Glück dienlichsten Verteilung des Reichtums, Berlin
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Freiheit von drückenden wirtschaftlichen Sorgen zu verwenden, wie seine Freizeit auszufüllen ist, die Wissenschaft und Zinseszins für ihn gewonnen haben, damit er weise, angenehm und gut leben kann ... Die natürliche Entwicklung sollte sich auf ein angemessenes Niveau des Konsums für jedermann zubewegen; und sobald dieses hoch genug ist, auf die Verwendung unserer Energie in nicht-ökonomischen Vorhaben unseres Lebens. Was mithin nottut ist ein allmählicher Umbau unserer Sozialordnung mit Blick auf dieses Ziel."8 Folgende Thesen lassen sich formulieren: Das derzeitige System versagt trotz vorhandener ökonomischer Möglichkeiten vor der elementaren sozio-ökonomischen Aufgabe der effizienten Versorgung aller Gesellschaftsmitglieder mit dem Lebensnotwendigen und der auch gesellschaftlichen Aufgabe, zumindest die Voraussetzungen für das menschliche Lebensglück zu schaffen. 9 Es gewährleistet keine adäquaten Mechanismen, die die historischen Zuwächse an materiellem Wohlstand in einen angepassten neuen Gesellschafts- und Handlungsrahmen transformieren. Im Gegenteil sind die intensiven untemehmerischen Bemühungen hinsichtlich mehr oder weniger sinnvoller Produktvariationen und -innovationen sowie die vielfältigen Aktivitäten der Werbewirtschaft klare Belege dafür, dass mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen eine möglicherweise eintretende Konsummüdigkeit angegangen wird, um am Ende das fragile System weiterhin funktionieren zu lassen. "Wäre die große Masse glücklich im Sinne einer echten Zufriedenheit, würde die Lokomotive des Konsumkapitalismus in voller Fahrt ihre Räder verlieren."10 Eine systematische Analyse zu den Funktionsbedingungen einer gar schrumpfenden Ökonomie liegt
8
9
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Keynes, J.M. (1988), Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder, in: Reuter, N., Wachstumseuphorie und Verteilungsrealität: wirtschaftspolitische Leitbilder zwischen Gestern und Morgen, Marburg, S.115 ff.; jetzt neu interpretiert bei: Skidelsky, R. (2010), Die Rückkehr des Meisters: Keynes für das 21. Jahrhundert, München, S.199 ff.; auch bei Hösle, V. (1997), Moral und Politik: Grundlagen einer Politischen Ethik für das 21. Jahrhundert, München, S.874: ,,Aber die Wachstumsraten können und sollen geringer werden, wenn die Bedürfnisse und die Bevölkerungszahlen nicht mehr wachsen; wird ein gewisser Sättigungsgrad erreicht, ist die Gesellschaft zu beneiden, nicht zu bedauern." Bargatzky, T. (2002), Comtemplativus in Actione. Glücksvorstellungen im Kulturvergleich, in: Bellebaum, A. (Hg.), Glückforschung: eine Bestandsaufnahme, Konstanz, S. 96: "Wenn es auch keinen verbindlichen Glücksbegriff gibt, auf den sich die Wissenschaften einigen könnte, so haben wir doch alle eine Vorstellung davon, was es heißt, glücklich zu sein. Wir dürfen Glück als transkulturelle anthropologische Universalie voraussetzen ..." So auch z.B. bei Hilty, C. (1901), Glück, Erster Teil, S.179 Schumaker, lF. (2009), Das manipulierte Glück: Von den trügerischen Verheißungen der Konsumwelt, Berlin, S.147; Eicke, U. (1991), Die Werbelawine: Angriff auf unser Bewusstsein, München; interessant ist auch das wissenschaftliche Umgehen mit dem Thema "Sättigung", dazu: Schaaff, H. (1990), Sättigung und Stagnation aus betriebs- und volkswirtschaftlicher Sicht, in: WiSt. Das Wirtschaftsstudium, 19.Jg., Heft 3, S.123-128
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bis heute nicht vor, schon das grundsätzliche Nachdenken über eine solche theoretische Entwicklungsrichtung ist ausgesprochen schwach ausgeprägt.ll
Chancen zum Umdenken und Umsteuern - Ansatzpunkte mr eine moderne Ökonomie Der Entwicklungsstand einer Ökonomie in der Nachknappheitsphase bietet sich also für ein Umdenken und Umsteuem an. Noch mehr: die gleichzeitige ökologische Überforderung aufgrund des hohen Verbrauchsniveaus erzwingt das Umsteuem geradezu. Ein Gedanke, wie er bei weiterdenkenden Ökonomen in der Vergangenheit durchaus immer präsent war, man denke nur an John Stuart Mill, Karl Marx, Max Weber, Wemer Sombart, Joseph Schumpeter, John Maynard Keynes und Ludwig Erhard. Denn dass sich Zielsetzungen und sich daraus ableitende wirtschafts- und gesellschaftspolitische Maßnahmen an den jeweiligen neuen Entwicklungsstand einer Volkswirtschaft anpassen sollten, dürfte sogar einem naiven Betrachter unmittelbar einleuchten. Gleichwohl wurde dies bisher keine gelebte Praxis. Es gibt keine prinzipiellen anthropologischen Schranken, die die Menschen daran hinderten, auch ohne fortgesetztes Einkommens- und Konsumwachstum ein glückliches Leben zu führen. Dringend notwendig ist deshalb ein Wechsel von der Lebensstandardfixierung zur Orientierung auf die Lebensqualität, vom Haben zum Sein, um einen bekannten Buchtitel in leicht abgewandelter Form zu bemühen. Interessant ist, dass die Diskussion zum Thema Lebensqualität bereits in den 70er Jahren einen ersten Höhepunkt erreichte; ein wirklicher gedanklicher Fortschritt ist seit diesen Tagen eigentlich nicht mehr zu erkennen. Selbst nach der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise in den Jahren 2008 und 2009 werden dem Primat der Ökonomie wieder zunehmend alle anderen denkbaren Maximen untergeordnet. "Die individuelle und mehr noch die kollektive Anspannung zur Steigerung der Produktion hat ... eine gesellschaftliche und keine anthropologische Ursache. "12 Angesichts der herrschenden ökonomischen Zwänge haben es - bei allen kritischen Grund11
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Vg1. z.B. Zinn, K.G. (2008), Die keynessche Alternative: Beiträge zur K.eynesschen Stagnationstheorie, zur Geschichtsvergessenheit der Ökonomik und zur Frage einer linken Wirtschaftsethik, Hamburg, S.47: ,,DerAbschied vom Wachstum fällt halt schwer, zumal noch längst nicht geklärt ist, wie es mit dem Kapitalismus ohne Wachstum weitergehen kann." Weber, A. (2008); Naish, J. (2008), Genug: Wie sie der Welt des Überflusses entkommen, Bergisch-G1adbach; Tutt, C. (2007), Das große Schrumpfen, Berlin. Goudzwaard, B., de Lange, H.M. (1990), Weder Armut noch Überfluß: Plädoyer fiir eine neue Ökonomie, München, S.96. Vg1. Fromm, E. (1979), Haben oder Sein: Die seelischen Grundlagen der Gesellschaft, München.; Swoboda, H (1974), Die Qualität des Lebens: Vom Wohlstand zum Wohlbefinden, Frankfurt/M.
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satzaussagen zum bestehenden System - davon abweichende existenzielle Vorstellungen schwer, praktisch wirklich relevant zu werden. Das gilt für eine stärkere Schonung der Umwelt, eine gerechtere Verteilung von Gütern und Lasten wie für die Interessen kommender Generationen. Hier liegt jedoch kein ökonomisch determinierter Selbstzweck zugrunde: vielmehr wird immer noch unterstellt, dass eine möglichst wachsende Wirtschaftsleistung Grundlage für eine weitere positive Entwicklung des materiellen Wohlstandes sei. Letzteres führe angeblich wiederum gleichsam automatisch auch zu einer größeren Zufriedenheit, ja sogar zu einem größeren Glück der Menschen. Das simple Identifizierungsdogma "mehr Konsum = mehr Glück" ist in dieser Eindimensionalität erwiesenermaßen falsch. Weder haben - wie inzwischen viele seriöse Studien zeigen - durch die historische Steigerung des materiellen Wohlstandes die Raten von Glück und Zufriedenheit in gleichem Maße zugenommen, noch sind die Menschen in wohlhabenden Ländern durchgängig glücklicher und zufriedener als in ärmeren Regionen. Ökonomisch formuliert lässt sich die Vermutung plausibel machen, dass die modemen Gesellschaften, vermittelt über die vorherrschende Ökonomisierung der gesamten Gesellschaft, nur über eine unbefriedigende Glückseffizienz verfügt. "Soll die Arbeit der Menschen und Maschinen Glück erzeugen, so ist unser Wirtschaftssystem mit seiner enormen Wertschöpfung auf geradezu groteske Weise ineffizient."13 Dies bedeutet, dass der ökonomische Aufwand (Arbeitszeit, Ressourceninput für die Produktion materieller Güter etc.) und der moralische Ertrag (größere Zufriedenheit, größeres Glück) in keinem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen. Vielmehr ist - getreu dem lange bekannten ökonomischen Gesetz vom abnehmenden Grenznutzen - ab einer gewissen Höhe des materiellen Wohlstandes keine Zunahme des individuellen Zufriedenheits- bzw. Glücksniveaus mehr feststellbar. Dieses Phänomen lässt sich sowohl in Längsschnittanalysen über viele Jahrzehnte als auch in länderübergreifenden Querschnittsanalysen zu einem bestimmten Zeitpunkt belegen. Was sind die zumeist genannten Gründe dafür? Zum einen handelt es sich einen gewissen Gewöhnungs- bzw. Entläuschungseffekt, man könnte im Zuge der zunehmenden Bedeutung des Konsums auch von einer nicht endenden wollenden Erwartungs-Erfüllungsspirale sprechen, zum anderen erschwert der stets virulente soziale Vergleich das dauerhafte Zufriedensein. Dies ließe sich treffend als "hedonistische Anpassung" bezeichnen. "Die beiden Hauptschuldigen sind die gestiegenen AnspTÜche ... und der gesellschaft13
Klein, S. (2002), Die Glücksformel ... oder Wie die guten Gefiihle entstehen, 4. Aufl., Reinbek bei Hamburg, S.260. Vgl. im überblick: Layard, R. (2005); sowie die soziologischenAusfiihrungen bei: Prisching, M. (2009), Die zweidimensionale Gesellschaft: Ein Essay zur neokonsumistischen Geisteshaltung, 2.Aufl., Wiesbaden.
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liche Vergleich.... Neid und Glück gehen nicht zusammen. Wer zu viel vergleicht, fühlt sich verwundbar, bedroht und unsicher."14 Die unmittelbare Gleichsetzung von materiellem Wohlstand, Konsum, Lebenssinn und Glück ist zwar auf der einen Seite immer umstritten gewesen (der Volksmund sagt zu Recht "Geld alleine macht nicht glücklich"), auf der anderen Seite dient sie gleichwohl als Rechtfertigung und Maßschnur für die gegenwärtige Form des Wirtschaftens. Dabei verdichten sich Vermutungen, dass kulturübergreifend nur von einer leicht positiven, in der langfristigen Tendenz eher negativen Korrelation zwischen einer aufwendigen Güterausstattung und dem Erleben von Erfüllung und Glück auszugehen ist. Die scheinbar ausbleibende Erfüllung des Glücksversprechens durch Konsumwachstum ist die Basis eines sich stets potenzierenden Steigerungsspiels. Fortschritte in der Ausstattung mit materiellen Gütern erzeugen im Vergleichen mit dem jeweils noch Besseren, Größeren und Schöneren Unzufriedenheit, weil mit dem steigenden Versorgungsniveau die Erwartungen an die Zukunft stärker ansteigen als die tatsächlichen Realisationsmöglichkeiten. 15 Durch die starke Güterfixierung geht im Zeitablaufsogar die elementare Fähigkeit verloren, sich für echte Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung einzusetzen mit der Folge, dass der Konsument am Ende überhaupt nicht mehr weiß, wie Glück unabhängig vom Konsum zu erreichen ist. Die unübersehbare Zahl individueller Glücksratgeber sowie die Fülle der diesbezüglichen Esoterikliteratur und vor allem deren Auflagenhöhe sprechen hier Bände. In Bezug auf den Konsum wäre weniger - um nochmals einen bekannten Buchtitel aufzugreifen - hier zweifellos mehr. 16 Heute wird zunehmend weniger evident, welche Werte für wen geschaffen werden sollen, d.h. Fragen nach der Zuträglichkeit des Wirtschaftens im Hinblick auf das gute Leben (Sinnfrage) und Fragen nach der Vertretbarkeit der Form des
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Lyubomirsky, S. (2008), Glücklich sein: Warum Sie es in der Hand haben, zufrieden zu leben, FrankfurtJM., New York, S.61 und 131; siehe auch Raub1 R. (2001), Neidisch sind immer nur die anderen. über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein, München; sowie als Grundlagenwerk: Veblen, T. (1981), Theorie der feinen Leute: Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen, München, z.B. S.39 und 73: "Immer besteht nämlich die Neigung, den augenblicklichen Stand nur als Ausgangspunkt für einen weiteren Zuwachs an Gütern zu betrachten. ... ergibt sich dann, daß die Mitglieder jeder Schicht die jeweilige Lebensweise der nächst höheren zu ihrem Schicksalsideal machen und ihre Energie darauf verwenden, diesem Ideal gemäß zu leben." Vgl. Schulze, G. (2003), Die beste aller Welten: Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert, München, Wien, S.81 ff.; Binswanger, M. (2006), 8.47 ff.; Csikszentmihalyi, M. (1992), Flow: Das Geheimnis des Glücks, Stuttgart, S.22 ff. Vgl. Schrnidbauer, W. (1992), Weniger ist manchmal mehr: Zur Psychologie des Konsumverzichts, Reinbek bei Hamburg. Erschwert wird diese Situation auch dadurch, dass in modernen Gesellschaften die Anzahl der Handlungsoptionen signifikant angestiegen ist, vgl. Gross, P. (1994), Die Multioptionsgesellschaft, FrankfurtJM.
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Wirtschaftens im Hinblick auf ein zukunftsfähiges Zusammenleben (Legitimationsfrage) bleiben oftmals verdrängt und damit unbeantwortet. Die Sinnfrage, d.h. eine öffentliche Debatte um die eine Gesellschaft bestimmenden Werte und Ziele ist wichtig, weil sie den dominierenden Zirkel der Ökonomie durchbricht, der darin zum Ausdruck kommt, den Zweck des Wirtschaftens in ausschließlich ökonomischen Kategorien wie "Gewinn", "Nutzenmaximierung" oder "Wettbewerbsvorteilen" zu sehen. Dem ist eine instrumentelle Sicht aus dem Blickwinkel der Lebenswelt gegenüber zu stellen. Danach darf das Wachstum der Wirtschaft kein Selbstzweck sein, sondern Wirtschaft ist stets nur Mittel im Dienste höherer, vitaler Zwecke. Es scheint so zu sein, dass " ... der reale ökonomische Fortschritt in den hoch entwickelten Volkswirtschaften seinen stufengerechten kulturellen Sinn mehr und mehr verfehlt. ... ist im Prinzip kaum zu bezweifeln, dass die enorme Produktivität ... es zulassen würde ... die Wirtschaft zur Nebensache zu machen und sie effizient für eine Ökonomie der Lebens:fiille einzurichten."17 Zwischen der ökonomischen Entwicklung und dem gesellschaftlichen Umgang mit dem erzielten Reichtum besteht eine beträchtliche Diskrepanz. " ... unser ökonomisches System gestattet uns tatsächlich nicht, den höchsten Stand ökonomischer Wohlfahrt zu erreichen, der durch den Fortschritt der Technik ermöglicht wird, sondern bleibt weit dahinter zurück und lässt in uns das Empfinden aufkommen, dass wir den Ertrag besser hätten verwenden können."18 Sucht man nach den Ursachen für diese dramatische Fehlentwicklung, so lassen folgende Faktoren zusammenfassend benennen: Das heutige individuelle und gesellschaftliche Glücksverständnis ist offensichtlich völlig fehlgeleitet. Es lässt sich kurz gefasst mit "mehr Konsum bedeutet mehr Glück" benennen (dies ist zweifellos im Kern im bestehenden Wirtschaftssystem bedingt). Damit wird das in der antiken und modemen Philosophie und Psychologie fundiert herausgearbeitete und im Alltag des modernen Menschen hinterlegte Verständnis von Glück und gutem Leben extrem verkürzt. Die Ökonomie dominiert die Gesellschaft und das Leben des Einzelnen und ist nicht mehr in die Gesellschaft eingebettet, eine noch sehr junge Entwicklung in der Menschheitsgeschichte, die noch keine 200 Jahre alt ist. Der Kapitalismus ist " ... eine ungewöhnlichere Gesellschaftsordnung ... als es uns erscheinen mag. . .. die kapitalistische Geschichte zeigt, dass die Wirtschaft die Politik in einem Maße dominiert, das in keinem vorangegangenen System denkbar gewesen wäre."19 17 18 19
Ulrich, P. (2008), Integrative Wirtschaftsethik: Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 4.Aufl., Bem, 8tuttgart, Wien, 8.239 Vgl. Keynes, I.M. (1998), 8.159 Heilbroner, R. (1994), Kapitalismus im 21. Jahrhundert, Miinchen, Wien, 8.37 und 8.75. Vgl. Polanyi, K. (1978), The Great Transformation: Politische und ökonomische Urspriinge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt/M.; Diamond, 1. (1998), Arm und Reich: Die
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Herbert Schaaff
Zudem handelt es sich um eine ökologisch unhaltbare Wirtschaftsweise, die sich mittel- bis langfristig nicht wird aufrechterhalten lassen, will man den drohenden Kollaps vermeiden. Eine Situation, die trotz mancher ökologischer Krisen in der bisherigen Menschheitsgeschichte in dieser Dimension einmalig zu sein scheint,20 "Wir erleben gegenwärtig, wie ... das uneingelöste Versprechen der industriellen Wachstumsgesellschaft, durch uneingeschränkte materielle Reichtumsproduktion Lebensglück zu erzeugen, Zweifel nährt an der wertmäßigen Absolutsetzung der Ökonomie. In Folge dieser Wertkrise ... wird mehr und mehr die Forderung erhoben, die Sphäre der Ökonomie metaökonomischen, d.h. ethischen Prinzipien zu unterwerfen. Der apokalyptischen Rechnungslegung über die humanen, ökologischen und ästhetischen Kosten der industriellen Wachstumsgesellschaft muß es in zunehmenden Maß angelegen sein lassen, die Rolle der Ökonomie für die menschliche Lebenswelt in grundsätzlicher Weise zu überdenken."21 Dies soll mit den folgenden Gedankengängen versucht werden. Das zeitweise durchaus erfolgreiche Wohlstands- und Glücksversprechen wird also immer weniger eingelöst, die existierende, vorgeblich hochproduktive Produktionsweise basiert auf einer extensiven Ausplünderung und Belastung der Natur und ist deshalb nicht dauerhaft fortsetzbar. Aufbeiden Seiten der Ökonomie, der Produktions- und Nachfrageseite wird eine zukunftsträchtige, veränderte Ökonomie ansetzen müssen. Im Mittelpunkt des ökonomischen Denkens steht nach wie vor der so genannte "homo oeconomicus", dem unterstellt wird, nach ständiger Nutzenmaximierung zu streben und unendliche Bedürfnisse möglichst maximal befriedigen zu wollen. Zur Befriedigung dieser Wünsche sind zudem offensichtlich stets materielle Güter oder käufliche Dienste erforderlich. Das zunächst als theoretisches Konstrukt gedachte Leitbild wurde in den beiden letzten Jahrhunderten immer mehr zum tatsächlich handlungsleitenden Leitbild. Eine Differenzierung zwischen verschiedenen Bedürfnisarten und deren unterschiedliche individuelle und vor allem gesellschaftliche Relevanz sind in diesem Modell nicht vorgesehen. Auch die praktische Ökonomie nimmt das menschliche Wohlbefinden, gar das menschliche Glück nur bedingt, d.h. über den Umweg der erwünschten Steigerung des materiellen Wohlstandsniveaus, in ihren Zielkatalog auf. Die tatsächlich relevante Frage nach dem guten Leben wird von der herrschenden
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Schicksale menschlicher Gesellschaften, FrankfurtIM.; Miegel, M. (2010), S.56: "Wachstum hat sich in gewisser Weise zur Religion unserer Zeit entwickelt und bedarf als solche keiner rationalen Begründung mehr. Wichtiger ist der Glaube.... Lebenssinn und Lebensglück: nichts entkommt der Dominanz des Wachstums ..." Vgl. Diamond, 1. (2005), Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt/M. Waibl, E. (1984), Ökonomie und Ethik: Die Kapitalismusdebatte in der Philosophie der Neuzeit, Stuttgart, Bad Cannstatt, S.16
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Ökonomie ebenso wenig gestellt wie die einfache und sich aufdrängende Frage, was der Mensch denn wirklich braucht. "Die Voraussetzungen unserer körperseelischen Gesundheit sind nicht besonders zahlreich, sie stehen für alle Menschen objektiv fest und sie sind begrenzt. Menschen werden nicht von unendlichen Begierden beherrscht. Das, was sie wirklich brauchen, ist übersichtlich, und nicht, wie Ökonomen glauben, unstillbar und grenzenlos veränderbar ... "22 Um dem hier verhandelten Thema wirklich annähernd gerecht werden zu können, müssen die vorhandenen Antworten aus der Wirtschaftsgeschichte, Anthropologie, Philosophie, Psychologie, Theologie und Soziologie mit einbezogen werden. 23 Damit könnte man sich wieder der umfassenderen Vorgehensweise auch der ökonomischen Wissenschaft annähern, die bereits bei der Entstehung dieser Wissenschaft vor über 200 Jahren grundlegend war und die im Laufe der arbeitsteiligen Spezialisierung leider verloren gegangen ist. Die im Folgenden vorgestellten sozusagen "historischen", weil in vielerlei Facetten bereits seit längerer Zeit vorliegenden Bausteine für eine ökologische Glücksökonomie geben Hinweise auf relevante Fragen und plausible Antworten zum Kontext von Wirtschaften, Wachstum, Wohlbefinden und Glück. Begriffsgeschichtlich kann nur kurz und exemplarisch erwähnt werden, dass der vergessene deutsche Nationalökonom Ludwig Lambert Gall (1791-1863) von der Notwendigkeit der Begründung einer "Volksbeglückungslehre" sprach, dass der Grenznutzentheoretiker Hermann Heinrich Gossen (1810-1858) die Nationalökonomie als "Genußlehre" verstanden wissen wollte und dass sich bei Sigmund Freud (1856-1939) der Begriff "Glücksökonome" findet. Der Soziologe Gerhard Schulze forderte jüngst ein "ökozentrisches Glücksmodell" ein, während Pierre Bourdieu eine "Ökonomie des Glücks" propagiert. 24 Der Begriff der "ökologischen Glücksökonomie" hat sich zweifellos bis heute nicht durchgesetzt, jedoch 22
23 24
Weber, A. (2008), S.139 und S.212 ff. (hier werden die zentralen menschlichen Bedürfnisse klassifiziert: Subsistenz, Schutz, Zuwendung, Verständnis, Partizipation, Muße, Kreativität, Identität, Freiheit); Rolle, R. (2005), Homo oeconomicus: Wlrtschaftsanthropologie in philosophischer Perspektive, Wfuzburg; Gronemeyer, M. (1988), Die Macht der Bedürfnisse: Reflexionen über ein Phantom, Reinbek bei Hamburg; Eppler, E. (2000), Was braucht der Mensch? Vision: Politik im Dienst der Grundbedürfnisse, Frankfurt/M., New York; Steffen, D. (Hg.) (1995), Welche Dinge braucht der Mensch? Hintergründe, Folgen und Perspektiven der heutigen Alltagskultur, Frankfurt/M. Vgl. Pieper, A. (2001), Glücksache: Die Kunst, gut zu leben, Hamburg, S.289 ff.; Fenner, D. (2003), Glück: Grundriss einer integrativen Lebenswissenschaft, Freiburg, München, S.46 ff.; Schumaker, lF. (2009), S.41 ff. Vgl.: Gall, L.L. (1828), Menschenfreundliche Blätter oder praktische Beiträge zur Volksbeglückungslehre, Trier, S.IX; Gossen, H.H. (1854), Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs, und der daraus fließenden Regeln fiir menschliches Handeln, Braunschweig, 8.34; Freud, S. (1986), Das Unbehagen in der Kultur, in: ders., Kulturtheoretische Schriften, FrankfurtlM., S.218 f.; Schulze, G. (1994), Das Projekt des schönen Lebens. Zur soziologischen Diagnose der modernen Gesellschaft, in: Bellebaum, A.IBarheier, K. (Hrsg.), Lebensqualität: Ein Konzept fiir
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wird das Thema "Glück" inzwischen von deutschsprachigen und internationalen Ökonomen zunehmend ernst genommen und intensiver behandelt. Eine Verknüpfung mit der virulenten Ökologiefrage geschieht eher selten; dass dies interessant und wichtig sein kann, soll mit diesem Beitrag belegt werden. 25
Historische Glücksbilanzen Historisch ansetzende Glücksbilanzen sind natürlich mir einer gewissen Vorsicht zu genießen, weil sie immer auf dem jeweils aktuellen Wertesystem basieren und kulturell sehr unterschiedliche Ausprägungen in der gesellschaftlichen und individuellen Glücksinterpretation gegebenenfalls vernachlässigen. Betrachtet man entsprechend vorsichtig die historische Entwicklung, " ... so lässt sich im Rückblick kaum die Behauptung wagen, das Glück auf Erden nehme zu; die Prognose muß sogar eher düster sein."26 Trotz steigenden Wohlstandes hat sich das Glücksniveau insgesamt nicht erhöht. Dies ist umso bemerkenswerter, weil "Glück ein menschenmöglicher und durch Menschen erzeugter Zustand (ist). Das er einstweilen so selten ist, zeigt nur, wie wenig der Mensch die eigentliche Aufgabe seines Menschseins bisher erfüllt hat. "27 Emile Durkheim (1858-1917) formulierte in diesem Zusammenhang: "Es gibt eine normale Intensität für alle unsere Bedürfnisse, für die intellektuellen und moralischen genauso wie für die physischen, die nicht überschritten werden darf. Zu jedem Zeitpunkt der Geschichte ist unser ... Verlangen (festgelegt) ... Das vergisst man nur zu sehr, wenn man das Glück unserer Väter mit dem unsrigen vergleicht. ... Wenn ... Bedürfnisse geweckt sind, können sie zweifellos nicht unbefriedigt bleiben, ohne daß sie schmerzen. Aber unser Glück ist deswegen nicht größer, weil sie hervorgerufen worden sind. Der Anhaltspunkt, nach dem wir die relative Intensität unserer Genüsse messen, hat sich verschoben.... Weil die Welt nicht mehr die gleiche ist, mußten wir uns verändern, diese Veränderungen waren der Anstoß für andere Veränderungen in un-
25
26 27
Forschung und Praxis, Opladen, S.36; Bourdieu, P. (1998), Ökonomie des Glücks: Zurück zu den Quellen der reflektierten Utopie, in: Evangelische Ko=entare, 2/1998, S.70-73 Vgl.: Leiber, T. (2006), Glück, Moml und Liebe: Perspektiven der Lebenskunst, Würzburg, 8.261 fI.; Graham, C. (2009), Happiness around the warld: the paradox ofhappy peasants and miserable millionaires, Oxford; Frey, B.S./Stutzer, A. (2008), Das Glück aus ökonomischer Sicht, in: Hentschel, B./Staupe, G. (Hg.), Glück - welches Glück? München, S.89 ff.; Weber, A. (2008); Frey, B.S. (2008), Happiness: A Revolution in Economics, Carnbridge, Landon; Anielski, M. (2007), The Econornics ofHappiness: Building genuine wealth, Gabriola Island Schneider, W. (1978), Glück - was ist das? München, S.306 Gasiet, S. (1981), Menschliche Bedürfnisse: Eine theoretische Synthese, Frankfurt/M., New York, S.305; Greiffenhagen, M.u.S. (1988), Glück: Realitäten eines Tmurns, München, 8.141
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serer Art, glücklich zu sein. Wer aber Veränderung sagt, sagt damit nicht notwendigerweise Fortschritt. "28 Im Leben eines Individuums gibt es recht selten eine stetigen, linearen Zuwachs an Glück, vielmehr zeichnet sich das Leben in aller Regel durch mehr oder weniger wellenartige Bewegungen zwischen Glück und Unglück aus, und im allgemeinen ist es gerade das Zwischenreich der Mischgefühle, welches die menschlichen Empfindungen ausmacht. Bei dem Versuch einer historischen Dimensionierung muss deshalb die gesellschaftliche Ebene betrachtet werden. In einer jeden Gesellschaft wird es glückliche und unglückliche Menschen geben. Interessant wird dies, wenn in einer Gesellschaft bzw. im Weltmaßstab die einen auf Kosten der anderen Wohlstand und Glück genießen, beispielsweise Männer auf Kosten von Frauen oder die heutigen Industrieländer auf Kosten der Dritten Welt. Offensichtlich stellen die reichen Industrieländem in der Menschheitsperspektive lediglich eine privilegierte Oberschicht dar. Notwendig ist deshalb eine differenzierende Analyse, in der zwischen sozial und ökologisch vorbildlichem, unbedenklichem, bedenklichen oder schädlichen Glück zu unterscheiden wäre. 29 Die Tatsache, dass niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte über so viele und so viele verschiedene Güter und Dienste verfügt werden konnte wie in den westlichen Industrieländem an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, lässt wichtige weitere Elemente unberücksichtigt, so die Frage nach der Produktionswiese und die Frage nach der Verteilung des Reichtums, sowie die Fragen nach der tatsächlichen Nützlichkeit der Gütervielfalt und die nach der Zeitverwendung der Menschen. Wohlstand und Glück sind durchaus eng miteinander verkoppelt, Wohlstand könnte man deshalb auch als die "materielle Seite des Glücks" bezeichnen. Ohne die Befriedigung der materiell-existenziellen GrundbedÜTfnisse wird wohl niemand wirklich glücklich sein können. Schon 1949 formulierte die Weltgesundheitsorganisation bei ihrer Definition des Gesundheitsbegriffes genau in diese Richtung. 30 Dass Wohlstandsvermehrung und Glücksempfinden nicht eine zwingend parallele Entwicklung aufweisen, hat unterschiedliche Ursachen. Zum einen ist es in der Konsumgesellschaft im Ergebnis relativ belanglos, ob der Mehrkonsum auch zu einem zunehmenden Glück führt, entscheidend ist aus Sicht des Systems, dass Kaufkraft vorhanden und auch umgesetzt wird. Zudem muss berücksichtigt werden, dass das Glücksverständnis 28 29
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Durkheim, E. (1988), Über soziale Arbeitsteilung: 8tudie über die Organisation höherer Gesellschaften, 2. Aufi., Frankfurt/M., 8.296 t: und 8.334 Hier setzen auch die vielfältigen Überlegungen zum Zusammenhang von Glück und Moral an; vgl. z.B. Höffe, O. (2007), Lebenskunst und Moral: oder macht Tugend glücklich? München; Schummer, J. (Hrsg.) (1998), Glück und Ethik, Würzburg; 8eel, M. (1995), 8.191 ff.; Fenner, D. (2003), 8.525 ff. Vgl. Reheis, F. (1996), Die Kreativität der Langsamkeit: Neuer Wohlstand durch Entschleunigung, Darmstadt, 8.145 ff.
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einem historischen Wandlungsprozess unterlegen ist. Die enorme Zunahme des individuellen Möglichkeitenraumes zieht offensichtlich zwangsläufig einen Verlust wesentlicher Qualitäten nach sich. Fortschritt kann Unzufriedenheit produzieren, weil mit steigendem Niveau die Erwartungen an die Zukunft stärker ansteigen als die entsprechenden Realisationsmöglichkeiten. "Die Erlebnisgesellschaft predigt Selbstentfaltung und meint Konsumgüter. Mit der Vervielfältigung der Möglichkeiten zum Glückserwerb ist eine Verwirrung in den Glücksideen eingetreten. Es gibt einen Überfluß an Glücksgütern, aber es fehlt eine Glückskonzeption. "31 Eine Vielzahl von Autoren hat auf diese Zusammenhänge einer ErwartungsErfüllungs-Spirale hingewiesen. Die sich ausweitenden Bedürfnisse bieten bei einer denkbaren Nicht-Befriedigung gleichsam auch mehr Möglichkeiten für Enttäuschung und Frustration. Die Veränderungen in den Lebensverhältnissen, in der Kultur und beim Bewusstsein beeinflussen auch die jeweils vorherrschenden Werte und Glücksvorstellungen. Traditionelle Glücksmöglichkeiten werden also immer wieder entwertet, ohne dass die neuen besser zu bedienen sind. Gustav Schmoller (1838-1917) schrieb dazu im Jahre 1900: "Wohlstand und Lebenshaltung ist allerwärts außerordentlich gestiegen, aber in den einzelnen Ländern nehmen daran die verschiedenen Klassen sehr unterschiedlich teil ... Das innere Glück ist weder bei den Reichen durch ihren maßlosen Genuß, noch bei dem Mittelstande und den Armen, die jenen ihren Luxus neiden, entsprechend gestiegen.... alles wahre menschliche Glück liegt in dem Gleichgewicht zwischen den Trieben und den Idealen, zwischen den Hoffnungen und der praktischen Möglichkeit der Befriedigung. Eine gärende Zeit materiellen Aufschwungs, gestiegenen Luxus', zunehmender Bedürfnisse, welche das Lebensideal bescheidener Genügsamkeit und innerlicher Durchbildung hinter das thatkräftiger Selbstbehauptung zurückgestellt hat, muß eine geringere Zahl glücklicher ... Menschen haben. Aber es ist nicht auszuschließen, daß eine künftige, beruhigtere Zeit auf Grund der technischen Fortschritts doch mehr subjektives Glücksgefühl erzeugen wird."32 Auch Walther Rathenau (1867-1922) beschreibt die Entwicklung ähnlich kritisch: "Die Welt sagt, sie weiß was sie will. Sie weiß es nicht, denn sie will Glück und sorgt sich um Materie. Sie fühlt, daß die Materie nicht beglückt, und sie ist verurteilt, sie immer von neuem zu begehren. Sie gleicht Midas, der im Goldstrom verschmachtet. ... Es bedarfzum Wohlbefinden und zum Glück nicht jener enormen Mengen an Waren, die heute in unseren Läden, in unseren Verkehrsmitteln, in unseren Lagern und 31 32
Prisching, M (1998), Glücksverpflichtungen des Staates, in. Bellebaum, A., u.a. (Hrsg.), Staat
und Glück: Politische Dimensionen der Wohlfahrt, Opladen, Wiesbaden, S.39; Bien, G. (1998),
Über das Glück, in: Schummer, J. (Hrsg.), (1998), S.37 fI.; Fenner, D. (2003), S.588 ff. Schmoller, G. (1900), Grundriß der Volkswirtschaftslehre, Erster, größerer Teil, Leipzig, S.225
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Fabriken kreisen, die vielfach hässlich, schädlich und töricht sind ..."33 1932 formulierte Alfred Böttcher: "Wer ehrlich ist, muß bekennen: Der Mensch wird zwar immer anspruchsvoller, aber keineswegs zufriedener und glücklicher ... Im Ganzen genommen, bedeutet deshalb ... die Zivilisation keinen eigentlichen Fortschritt, sondern nur Veränderung und Verschiebung. Arbeitsaufwand und Rohertrag sind erheblich gestiegen, doch der Reingewinn an Lebensgefühl und Daseinsfreude ist derselbe geblieben. Vielleicht ist er sogar gesunken ... (es) erscheint zumindest zweifelhaft, ob die menschlichen Bedürfnisse als Gesamtheit betrachtet heute besser befriedigt werden als früher."34 Basis seiner kritischen Überlegungen ist eine differenzierte Analyse der menschlichen Bedürfnisse, es gibt so etwas wie die " ... wirklich lebensnotwendigen und das Dasein bereichernden Bedürfnisse " und es kommt " .... nicht auf viel Geld und nicht aufviel Güterreichtum (an), sondern darauf, daß das Leben schöner, sicherer, lebenswerter, menschlicher wird.... Wer Sachgüterreichtum gleichsetzt mit Glückseligkeit, übersieht etwas sehr Wichtiges, auch der schönste sichtbare Arbeitserfolg läßt den Menschen aufDauer kalt, wenn er mit zu schweren Opfern erkauft werden muß ... Wer annimmt, mit dem Güterverbrauche wachse auch die Lebenslust, irrt sich gewaltig. Jedes natürliche Bedürfnis (Hunger, Durst etc.) braucht zur Sättigung nur eine begrenzte Menge Nahrung usw. Nur das, was zur Sättigung nötig ist, bereitet echten Genuß."35 Auch wenn man bei diesen Autoren berücksichtigen muß, dass sie in den ,,nervösen" und massiven Veränderungen unterliegenden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts lebten, so verstärken sie doch die hier herausgearbeitete These, dass es keinen historischen Trend hin zu einer glücklicheren Gesellschaft gibt. Vielmehr mag es glückliche und weniger glückliche Zeiten und Menschen gegeben haben, da in bestimmten Epochen günstige Voraussetzungen - d.h. positive Kombinationen von Technik, Naturnutzung und Wohlstand - bestanden haben. "Es scheint klar, daß sich Kulturen im Hinblick auf das Glückspotential, das sie ermöglichen, voneinander unterscheiden. In manchen Gesellschaften und bestimmten historischen Perioden ist die Lebensqualität besser als in anderen."36 Deutlich erkennbar ist jedenfalls, dass es eine Vielzahl verschiedener Wege zum Glück gibt; dies bedeutet aber, dass das in den letzten Jahrhunderten verwirklichte kapitalistische Glücksmodell keineswegs auf anthropologischen Konstanten beruht.37 Die das Glück tatsächlich determinierenden Faktoren müssen für künftige Problem33 34 35 36 37
Rathenau, W.(1918), Zur Kritik der Zeit, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd.l, Berlin, S.127 Böttcher, A. (1932), Das Scheinglück der Technik, Weimar, S.84 und S.94 f. Ebd., S.70 ff. (Anmerkung: Lebensdaten des Autors sind nicht einwandfrei ennittelbar) Csikszenttnihalyi, M. (1992), S.112; auch bei Schmidbauer, W. (1995), S.185 Vgl. Zinn, K.G. (1994), Die Wirtschaftskrise. Wachstum oder Stagnation: Zum ökonomischen Grundproblem reifer Volkswirtschaften, Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich, S.119
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lösungsstrategien herausgearbeitet werden. Der hier vertretene historische Skeptizismus und die im folgenden Abschnitt beschriebene positive Sicht auf paläolithische Gesellschaften sind natürlich kein Plädoyer für eine mehr oder weniger radikale Kehrtwende zurück zu alten Lebensweisen. Vielmehr geht es um eine Verknüpfung erhaltenswerter Elemente der Modeme mit neuen Ansätzen zur Bewältigung neuartiger Probleme einerseits und der Wiederentdeckung alter, heute noch relevanter (Er-)Kenntnisse andererseits. 38 Damit wird deutlich, dass anthropologisch durchaus verschiedene Lebensweisen und Wirtschaftsformen möglich sind, die gegebenenfalls gleiches Glück gewährleisten können. Wenn dem aber so ist, dann braucht die Menschheit nicht zu fürchten, dass mit einem eventuell oder gar zwangsläufig eintretenden Ende des Wachstums auch das Glück der Menschen vermindert würde. Vielleicht ist sogar das Gegenteil der Fall.
Wirtschaftsgeschichte und Anthropologie Ein kurzer Blick in die Wirtschaftsgeschichte kann ebenfalls hilfreich sein. Dabei geht es nicht darum, zu spekulieren, ob denn die vorzeitlichen oder mittelalterlichen Menschen glücklich oder gar glücklicher waren als wir, vielmehr geht es um einige möglicherweise beispielgebende strukturelle Zusammenhänge besonders langlebiger Lebensweisen der Menschen, die daraufhindeuten, dass zumindest eine gewisse und dauerhafte Zufriedenheit mit dem erreichten Lebensstandard vorausgesetzt werden kann (und keine systematischen Anstrengungen zur Verbesserung des Zustandes feststellbar waren). In traditionellen Gesellschaften (eigentlich bis zur Industriellen Revolution) war das wirtschaftliche Handeln in eine bewährte soziokulturelle Lebensordnung eingebettet. Ökonomische Motive und Interessen waren normativ gehemmt und lebensweltlichen Handlungsorientierungen des guten Lebens untergeordnet. Gleichsam von unmittelbar lebenspraktischen Zusammenhängen verselbstständigte kommerzielle Erwerbsmotive waren buchstäblich undenkbar. Die traditionelle Wirtschaft bleibt über Jahrtausende Subsistenzwirtschaft, also auf die Befriedigung der eng definierten Lebensbedürfnisse ausgerichtet. Deshalb spricht man im Gegensatz zur heutigen Bedarfserweckungswirtschaft auch von traditioneller Bedarfsdeckungswirtschaft. Mehr zu produzieren und zu arbeiten, als dafür notwendig war, wäre den Menschen damals sinnlos vorgekommen. Löst man die Grundstrukturen auf, so lassen sich Risikominimierung, Mußepräferenz und Unterproduktivität als zentrale Kategorien herausarbeiten. 39 38 39
Vgl. Swoboda, H. (1972), S.201 f.; Schmidbauer, W. (1995), S.60 ff. Vgl. Groh, D. (1992), Strategien, Zeit und Ressourcen. Risikominimierung, Unterproduktivität und Mußepräferenz - die zentralen Kategorien von Subsistenzwirtschaften, in: ders., Anthropo-
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Dabei steht der Aspekt der Risikominimierung (Verringerung der Gefahr der Überauslastung und Gewährleistung von Reservenfür den Notfall) im Mittelpunkt, während sich die weiteren Kategorien der Unterproduktivität (d.h. das bewusste Nichtausnützen vorhandener Produktionsmöglichkeiten) und der Mußepräferenz (d.h. der Vorzug bzw. der hohe Nutzen, den die Menschen der Nichtarbeit und damit der Freizeit, Ruhe und Muße zuweisen) aus dem Aspekt der Risikominimierung ableiten lassen. Dabei ist davon auszugehen, dass diese Strategie als Verhaltensweise keineswegs zufällig gewählt wurde, sondern als mehr oder weniger bewusstes, durch Erfahrung geleitetes positives Handeln ausgebildet worden ist. In den so genannten Primitiven Gesellschaften verbindet sich also ein komplexes, abgeschlossenes Weltbild mit einem nur geringfügig ausdifferenziertem Bedürfnisniveau und einer konstanten Wertestruktur. Egalitäre Geschlechterbeziehungen, eine demokratische Technik und eine gesicherte, gerechte Versorgung mit den lebensnotwendigen Dingen sind ebenso kennzeichnend wie die in das gesellschaftliche Leben eng eingebundenen wirtschaftlichen Aktivitäten, ein gewisser (umfassend definierter) Wohlstand und der nur geringe Grad der Belastung der natürlichen Umwelt. Damit ergibt sich insgesamt ein vergleichsweise positives Bild der Jäger- und Sammlergesellschaften, welches allerdings begrenzt wird durch einige evidente Tatsachen, wie eine konstant kleine Bevölkenmgszahl, eine im Vergleich zu heute geringeren Lebenserwartung und einem geringen Bedürfnisniveau. Auch die Glücksbilanz ist durchaus sehenswert - auch wenn es hier zweifellos auf die Vergleichmaßstäbe ankommt und man die kulturelle Prägung in der Glücksfrage hier einfach einmal unberücksichtigt lässt. " ... die Wünsche der Wildbeuter (sind) knapp und die Mittel daher reichlich. Da sie die Bedürfnisse der Natur anpassen, entgehen sie der Dauerunzufriedenheit und dem Leistungsdruck, die aus dem bestreben resultieren, die Natur den ständig vorauseilenden Wünschen anzupassen.''40 So ist es offensichtlich kaum zu weit hergeholt, den auf Sammeln und Jagen gegründeten Existenzmodus als eine der bisher erfolgreichsten und definitiv langle-
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logische Dimensionen der Geschichte, FrankfurtIM., S.54-113; dazu auch zwei interessante neue Veröffentlichungen, deren deutsche Titel allerdings recht reißerisch klingen: Gloy, K. (2010), Unter Kannibalen: Eine Philosophin im Urwald von Westpapua, Dannstadt; Everett, D. (2010), Das glücklichste Volk: Sieben Jahre bei den Piraha-Indianem am Amazonas, München Tiemann, G. (1991), Reziprozität und Redistribution: Der Mensch zwischen sozialer Bindung und individueller Entfaltung in nicht-industrialisierten Gesellschaften, in: Bievert, B./Held, M. (Hrsg.), Das Menschenbild der ökonomischen Theorie: Zur Natur des Menschen, FrankfurtIM., New York, S.175; Kohl, K.H. (2008), Der glückliche Wilde: Imagination oder Realität?, in: Meier, H., über das Glück: Ein Symposion, München, S.136 f.: "... ist der Schluß tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, daß die Gelegenheiten, Glücksgefiihle zu empfinden, in den unter Ausbeutung, sozialer Ungerechtigkeiten, politischer Unfreiheit und ständigen Kriegen leidenden europäischen Klassengesellschaften entschieden geringer waren als bei den Gesellschaften, die ihnen als Wilde oder Primitive galten." Diamond, 1. (1998), S.20 ff.
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bigste soziokulturelle Anpassungsleistungen des Menschen an die Ökologie des von ihr bewohnten Planeten zu betrachten, selbst wenn man nicht so weit gehen will, diese Gesellschaften als "ursprüngliche Überflussgesellschaften" zu bezeichnen. Die sich gleichsam aufdrängende Frage, warum denn eine solche erfolgreiche Lebensweise letztendlich weltweit aufgegeben wurde, ist ausgesprochen spannend und bis heute nicht abschließend beantwortet, zumal es fast so aussieht, " ... als hätte sich der Mensch beim Übergang vom Jäger- und Sammlerleben zum Ackerbau selbst des Paradieses verwiesen.''41 Historisch betrachtet ist offensichtlich kein linearer Trend hin zu einer glücklicheren Gesellschaft erkennbar, es gibt also viele verschiedene Wege zum Glück und der in den letzten zweihundert Jahren eingeschlagene Weg ist - nach unstreitigen Erfolgen - nunmehr an eine Grenze gelangt.
Philosophiegeschichte des Glücks An dieser Stelle kann selbstverständlich kein vollständiger Überblick über die vielfältigen Facetten der Philosophiegeschichte des Glücks gegeben werden. 42 Vielmehr soll exemplarisch gezeigt werden, wie intensiv über dieses Thema in den letzten Jahrtausenden nachgedacht worden ist und welche konkreten unabdingbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein gutes und glückliches Leben abzuleiten sind. Auf eine konkrete Definition des Glücks kann und muss allerdings angesichts der Vielzahl der bisherigen Versuche verzichtet werden,43 dies ist jedoch unschädlich, denn es kann gezeigt werden, dass es einer solchen Definition möglicherweise gar nicht bedarf, da die von den unterschiedlichen Autoren ausgemachten, das Glück determinierenden Faktoren vielfach große Überschneidungen aufweisen. Damit wird es vor allem möglich, häufig genannte, zu einfache Kausalitäten abzulehnen. Kein Denker, der sich intensiver mit dem Glück beschäftigt hat - dazu gehören die rein ökonomisch argumentierenden Apologeten des kapitalistischen Wirtschafts41
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Weber, A. (2008), S.121; vgl. Reichho1f, J.H. (2008), Warum die Menschen sesshaft wurden: Das große Rätsel unserer Geschichte, Frankfurt/M.; Festinger, L. (1985), Archäologie des Fortschritts, Frankfurt/M., New York, S.83 fI.; Diamond, J. (1998), S.91 ff.; Müller-Karpe, H. (1998), Grundzüge früher Menschheitsgeschichte, Bd.l: Von den Anfangen bis zum 3. Jahrtausend vor Chr., Stuttgart, S.70 f.; Sah1ins, M (1972), StoneAge Economics, London; Sieferle, B. (1997), Rückblick auf die Natur: Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München, S.50 f.; Schmidbauer, W. (1992), S.128 fI.; Csikszentmihalyi, M. (1992), S.299 Vgl. Tatarkiewicz, W. (1984), über das Glück, Stuttgart; Hossenfelder, M. (1992), Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: Bellebaum, A. (Hrsg.), Glück und Zufriedenheit: Ein Symposion, Opladen, S.13-31; Zirfas, 1. (1993), Präsenz und Ewigkeit: Eine Anthropologie des Glücks, Berlin; See}, M. (1995), Versuch über die Form des Glücks: Studien zur Ethik, FrankfurtlM.; McMahon, D.M. (2006), Happiness: AHistory, New York. Die Lieblingsdefinition des Verfassers stammt von Tatarkiewicz, W. (1984), S.21: "G1ück ist die volle und dauerhafte Zufriedenheit mit der Ganzheit des Lebens."
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systems zweifellos nicht - hat sich die Sache so einfach gemacht, zu behaupten, eine ausschließlich auf die Zunahme und Ausdifferenzierung der materiellen Güter und Dienste fixierte Ökonomie und Gesellschaft trage mittel- oder unmittelbar zu einer Verbesserung des Wohlbefindens oder gar des Glücks der Menschen bei. Dies sollte zumindest zu denken geben, unterstellt man einmal, dass das philosophische Denken in verschiedenen Kulturkreisen wohl nicht gänzlich am tatsächlichen Leben, Denken und Streben der Menschen vorbeigegangen sein dürfte. Insgesamt haben Philosophen, Staatsmänner, Ökonomen und andere Experten in vielerlei Zusammenhängen über das gute Leben und das Glück der Menschen nachgedacht. Einmal im Nachdenken über die das Handeln bestimmenden Werte und Ziele, ein anderes Mal in der Konstruktion eines idealen, vom aktuellen Stand abweichenden Staates und letztlich oftmals in der Projektion in ein gutes, nachhistorisches, sozusagen paradiesisches Zeitalter. 44 Epikur (341-270 v. ehr.) weist insbesondere auf eine kluge Beschränkung der differenziert zu betrachtenden Bedürfnisse hin: ,,Keine Schmerzen haben im körperlichen Bereich und im seelischen Bereich keine Unruhe verspüren ... Wem genug zu wenig ist, dem ist nichts genug. . .. Von den Begierden sind die einen naturbedingt und notwendig, andere naturbedingt und doch nicht notwendig und wieder andere sind weder naturbedingt noch notwendig, sondern vielfach leerem Wahn entsprungen.... Dem Menschen nutzt der naturwidrige Reichtum ebenso wenig wie das Nachfüllen von Wasser in ein schon gefülltes Gefäß. Denn offenbar fließt beides nach außen wieder ab ... so manche sterben, ohne sich im Leben jemals recht Zeit genommen zu haben.''''s Historisch betrachtet ist zweifellos von einer kulturellen Dehnbarkeit der notwendigen Bedürfnisse auszugehen. Gut zweitausend Jahre später fand der Ökonom Keynes zu einer ähnlichen Unterscheidung von Bedürfnissen: "Nun ist es wahr, daß die Bedürfnisse der Menschen unersättlich zu sein scheinen. Aber sie zerfallen in zwei Klassen - solche Bedürfnisse, die absolut sind in dem Sinne, daß wir sie fühlen, wie auch immer die Situation unserer Mitmenschen sein mag, und solche, die relativ sind in dem Sinne, daß wir sie nur fühlen, wenn ihre Befriedigung uns über unsere Mitmenschen erhebt, uns 44
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Hier sei beispielhaft zur Lektüre empfohlen: Benthien, C.lGerlof, M. (Hg.) (2010), Paradies: Topografien der Sehnsucht, Köln, Weimar, Wien; Schreiber, M. (2009), Das Gold in der Seele: Die Lehren vom Glück, München, S.68 ff.; Meck, S. (2003), Vom guten Leben: Eine Geschichte des Glücks, Darmstadt; Demandt, A. (2000), Der Idealstaat: Die politischen Theorien der Antike, 3. Aufi., Köln, Weimar, Wien; Pleij, H. (2000), Der Traum vom Schlaraffenland: Mittelalterliche Phantasien vom vollkommenen Leben, FrankfurtIM.; Jenkis, H. (1992), Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen: Zur Geistesgeschichte der Idee der vollkommenen Gesellschaft, Berlin; Saage, R. (1991), Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt; Richter, D. (1984), Schlaraffenland: Geschichte einer populären Phantasie, Köln Epilrur (1973), Eine Philosophie der Freude, Stuttgart, S.46, S.71 und S.59 f.
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ein Gefühl der Überlegenheit gibt. Bedürfnisse der zweiten Klasse ... mögen in der Tat unersättlich sein.... Aber dies gilt nicht in der gleichen Weisefür die absoluten Bedürfnisse. ''46 Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) setzt den zunehmenden materiellen Aufwand und den zurückbleibenden Ertrag ins Verhältnis: "Betrachtet man auf der einen Seite die unbeschreibliche Arbeit, die die Menschen gehabt haben, so viele Wissenschaften zu ergründen und so viele Künste zu ersinnen, und die Kräfte, die sich haben anwenden müssen, Gräben aufzufüllen, Berge niederzureißen, Steine zu brechen, Flüsse schiftbar zu machen, Land anzubauen, Teiche zu graben, Moraste auszutrocknen, ungeheure Gebäude auf dem trockenen Lande auszuführen und das Meer mit Schiffen und Bootsleuten zu bedecken, und erwägt man hingegen auf der anderen Seite mit einiger Überlegung, was :für wahren Nutzen alles dieses zu der menschlichen Glückseligkeit gehabt hat, so muß man über die gewaltige Ungleichheit des Verhältnisses zwischen beiden Dingen erstaunen."47 Auch der große Ökonom Adam Smith (1723-1790) - der sich selbst wohl eher als Moralphilosoph verstanden wissen wollte - beschäftigte sich mit dem Glück: "Was kann der Glückseligkeit eines Menschen noch hinzugefügt werden, der sich in vollem Besitz seiner Gesundheit befindet, ohne Schulden ist und ein reines Gewissen hat. ... Die Glückseligkeit besteht in der Ruhe und dem Genuß. Ohne Ruhe kann es keinen Genuß geben .... Die Glückseligkeit des Menschen ... scheint das ursprüngliche Ziel gewesen zu sein, das dem Schöpfer der Natur vorschwebte, als er diese Wesen ins Dasein rief.... Indem wir ... den Geboten unseres moralischen Vermögens gemäß handeln, gebrauchen wir gerade das wirksamste Mittel, um die Glückseligkeit der Menschen zu befördem.''48 SelbstArthur Schopenhauer (1788-1860), der in der Regel nicht als Glücksphilosoph verdächtigt wird, kommt zu beachtenswerten Aussagen, die das Glück vor allem in einer reichlichen individualität, sinnvoll begrenzten Bedürfnissen und der Gesundheit festmachen: " ... die höchsten, die mannigfaltigsten und die anhaltendsten Genüsse sind die geistigen ... Hieraus ist also klar, wie sehr unser Glück abhängt von dem, was wir sind, von unserer Individualität; ... was man ist (trägt) viel mehr zu unserem Glück ... (bei), als was man hat. Also was einer an sich selber hat ist zu seinem Lebensglücke das Wesentliche Überhaupt beruhen neun Zehntel unseres Glücks allein auf der Gesundheit. ... (es) wird zu unserem Glücke beitragen, wenn wir beizei46 47 48
K.eynes, J.M. (1998), S.120 Rousseau, J.J. (1981), Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, in: ders., Schriften, Bd.l, hg. V. H. Ritter, FrankfurtIM., Berlin, Wien, S.275; dazu auch: Zirfas, J. (1993), S.237 ff., Waibl, E. (1984), S.163 ff. Smith, A. (1978), Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg, S.63, S.222 und S.250 f: Auch das Phänomen der Erwartungs-Erfiillungsspirale findet sich bereits bei Srnith (ebd., S.310 ff.)
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ten die simple Einsicht erlangen, daß jeder zunächst und wirklich in seiner eigenen Haut lebt, nicht aber in der Meinung anderer; und daß demnach unser realer und persönlicher Zustand, wie er durch Gesundheit, Temperament, Fähigkeiten, Einkommen, Weib, Kind, Freunde, Wohnort usw. bestimmt wird, für unser Glück hundertmal wichtiger ist, als was es anderen beliebt aus uns zu machen.... was der Reichtum über die Befriedigung der wirklichen und natürlichen Bedürfnisse hinaus noch leisten kann, ist von geringem Einfluß auf unser eigentliches Wohlbehagen ... Denn die Zufriedenheit eines jeden beruht nicht auf einer absoluten, sondern auf einer bloß relativen Größe, nämlich auf dem Verhältnis zwischen seinen Ansprüchen und seinem Besitz. "49 Der moralische Sozialist William Morris (1834-1896) kommt zu folgendem Ergebnis: "Wenn ich mir überlege, was ich mir wünsche, finde ich, daß dafür keine andere Bezeichnung angemessener ist als das Wort Glück. ... (Dazu gehört) erstens ein gesunder Körper, zweitens ein aktiver Geist mit Interesse an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, drittens Beschäftigungen, die einem gesunden Körper angemessen sind und einem aktiven Geist entsprechen, und viertens eine schöne Welt, um darin zu leben."50 Festzuhalten bleibt in einer Art Querschnittsbetrachtung, dass die potenzielle Möglichkeit von Glück im diesseitigen Leben eng verbunden ist mit der Frage nach der Mach- und Planbarkeit des Glücks. Antike Philosophen dachten dabei mehr an persönliche Charakteristika von Individuen, vielfach erscheint das Glück auch als eine Sache des Geistes oder als Maximum an Freude und Vergnügen. Im Übergang zur Neuzeit treten immer mehr die ökonomischen, interpersonellen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in den Mittelpunkt. Glück erscheint dabei durch den Umbau der Gesellschaft "für alle" und ,jetzt" machbar. Oftmals werden auch Gerechtigkeit (vor allem im Sinne von gerecht verteilten Gütern) und der technische Fortschritt als notwendige wenn auch nicht hinreichende Voraussetzungen für das Glück angesehen. Erkannt wird zudem, dass zum Glück neben einer sinnerfüllten Arbeit die Muße, also ausreichend viel freie Zeit, gehört. Von einigen Autoren wird oftmals Bezug nehmend auf historische Lebensformen betont, dass ein naturgemäßes Leben - d.h. sich nichts mehr zu wünschen und somit in Freiheit, Unabhängigkeit und großer Verbundenheit zur Natur zu leben am ehesten zum Glück führt. "Wenn das Sprichwort behauptet, daß Macht und Reichtum nicht glücklich macht, so ist das sicher nicht aus der Luft gegriffen. Die Erfahrung lehrt, daß steigender Wohlstand und steigende Zivilisation die unbefriedigten Bedürfnisse nicht vermindern, sondern nur verändern.... Es ist zu vermuten, daß die Glücksbedrohung aufjeder Entwicklungsstufe gleich ist, weil jede 49 50
Schopenhauer, A. (1974), Aphorismen zur Lebensweisheit, Stuttgart, S.7, S.l1 f., 47 und 60 Morris, W. (1973), Wie wir leben und wie wir leben könnten, 4 Essays, Köln, S.157 und S.163
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neue Bedürfnisse schafft.... Der einzige Weg, das Glück zu erhöhen, scheint also eine geeignete Bedürfnisökonomie.... Da das Glück in der Zufriedenheit, also im Fehlen von Bedürfnissen liegt, kann die Bedarfserregung nur Unglück bringen, während andererseits der Verzicht auf neue Bedürfnisse keinerlei Entbehrungen mit sich bringt, denn Wünsche, die wir noch gar nicht kennen, weil wir sie nicht erst erschaffen, bereiten uns keinen Kummer. Der Neandertaler wird schwerlich je einen winterlichen Urlaubsflug auf die Malediven vermißt haben. "51 Im Ergebnis zeigen diese wenigen Schlaglichter ein sehr differenziertes Bild menschlichen Lebensglücks auf, welches doch recht scharf zur heute dominierenden eindimensional-ökonomischen Sichtweise auf Wohlstand und Lebensqualität kontrastiert. Eine entsprechende Berücksichtigung der offensichtlich glücksmehrenden Grundstrukturen älterer Lebensformen sollte deshalb ebenso in die Betrachtung einfließen wie die fruchtbaren Gedanken älterer und jüngerer Philosophen.
Empirische Glücksforschung - Psychologie des Glücks Die seit gut 30 Jahren zunehmend intensiver durchgeführte empirische Glücksforschung basiert im Grundsatz auf der Befragung einer statistisch signifikanten Zahl von Individuen zu bestimmten Zeitpunkten oder - was sicher aussagekräftiger ist - in langjährigen Befragungsreihen. Im Ganzen zeigen sich recht deutliche Überschneidungen zu aktuellen Forschungsergebnissen von Soziologen, Sozial- und Persönlichkeitspsychologen und auch Ökonomen, die in den letzten Jahrzehnten das Feld der Glücksforschung von den Philosophen mehr und mehr übernommen haben. 52 Grundlegende These ist dabei, dass das Glück in unterschiedlichen Ländern auf unterschiedliche Weise definiert, angestrebt und ausgedrückt wird, doch " ... ist die Sehnsucht nach einem erfüllten, glücklichen Leben genauso universell wie viele der Zutaten, die das Glück ermöglichen. "53 Darauf aufbauend ist es möglich, eine Theorie der entscheidenden Glücksfaktoren zu entwickeln. Dabei überrascht die theoretisch und empirisch hinterlegte These der so genannten positiven Psychologie, dass im Hinblick auf die Ursachen unseres Wohlbefindens ca. 50 % genetisch fixiert sind. Jeder Mensch wird demnach also mit einem bestimmten Glücksfixpunkt geboren wird, einemje charakteristischen Glückspotenzial, das uns über das ganze Leben erhalten bleibt. Nur 10 % hängen darüber hinaus von so 51 52 53
Hossenfe1der, M (1992), S.28 ff.; vgl. auch die empirischen Belege bei Everett, D. (2010), S.114 ff. und S.394 ff. Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010) Lyubomirsky, S. (2008), S.12; Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010), S.lO fI.
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genannten äußeren Umständen ab, " ... davon also, ob wir arm oder reich, gesund oder krank, hübsch oder hässlich, verheiratet oder geschieden oder was auch immer sind." Die verbleibenden 40 % geben den tatsächlichen Handlungsspielraum wieder, " ... um unser Glück durch alltägliche Handlungen und Gedanken zu vergrößern oder zu verkleinern."54 Deutlich wird also, dass die materiellen Grundlagen für das menschliche Wohlbefinden und Lebensglück im Zeitablaufkeineswegs die zentrale Bedeutung haben, die ihnen in einfacher Annäherung so häufig unterstellt werden. Vereinfacht gesagt liegt deshalb das " ... Geheimnis des Glücks in Ihrem Verhalten, Ihrem Denken und den Zielen, die Sie jeden Tag für sich formulieren. Es gibt kein Glück ohne Handlung." Wichtig ist demnach, eine jeweils passende Glücksstrategie zu finden, dabei ist allerdings zu beachten, dass es " ... keine magische Strategie (gibt), die jedem Menschen gleichermaßen zu einem glücklichen Leben verhilft. Jeder von uns hat ganz einmalige Bedürfnisse, Interessen, Werte, Fähigkeiten und Neigungen.... Deshalb ist es wichtig, die passende Strategie zu finden." Interessant ist auch die Aussage: "Einer der Hauptgründe, warum viele von uns auf dem Weg zu einem glücklicheren Leben scheitern, ist eine schlechte Wahl: Wir gehen entweder einen Weg, der direkt in die Sackgasse führt, wie das Streben nach Reichtum, Anerkennung oder Schönheit, oder wir wählen eine Strategie, die nicht zu uns passt."55 Schaut man zunächst einmal aufdie offensichtlich glücksbestimmenden Faktoren, so ist ersichtlich, dass eine befriedigende und angemessen herausfordernde Arbeit mit einer als gerecht empfundenen Vergütung von zentraler Bedeutung ist (im Gegensatz dazu sind Glückseinbußen bei Arbeitslosen eindeutig belegbar).56 Freie Zeit im Sinne von Zeitwohlstand und Muße für eine aktive Freizeitgestaltung und die inhaltliche Ausgestaltung von privaten und familiären Beziehungen sind ebenso bedeutend wie Begrenzung der Komplexität des eigenen Lebensumfeldes und die jeweils individuelle Ausprägung der materiellen Bedürfnisse. 57 Das injeweils unterschiedlichen Ausprägungen Themen wie Verteilungsgerechtigkeit, 54 55
56 57
Ebd., S.31 ff. Ebd., S.79 ff.; vgL auch: Mayring, P. (1991), Psychologie des Glücks, Stuttgart; Seligmann, M.E.P. (2003), Der Glücksfaktor: warum Optimisten länger leben, Bergisch-Gladbach; Bucher, A.A. (2009), Psychologie des Glücks: Handbuch, Basel, S.86 und S.158: " ...wie glücklich sich Menschen fiihlen, hängt zu 98 Prozent von anderen Faktoren als vom Geld ab..... Dem Glück abträglich ist, sich mit Menschen zu vergleichen, denen es besser geht, die mehr Geld haben, vieles besser können, erfolgreicher sind - dies verringert den Selbstwert, schürt Neid, stachelt Feindseligkeiten ... Glückliche sind vor solchen Vergleichen eher gefeit." VgL Csikszentirnihalyi, M. (1992), S.191 ff; Grom, B. (1987), Positiverfahrungen: Ein Forschungsgegenstand der Sozial- und Persönlichkeitspsychologie, in: ders., Brieskorn, N./Haeffner, G. (Hrsg.), Glück: Auf der Suche nach dem guten Leben, FrankfurtIM., S.96 ff. VgL Reheis, F. (1996), S.14O ff:, Csikszentirnihalyi, M. (1992), S.131 ff.; Grom, B. (1987), S.116
fE
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Demokratie, Freiheit, Erziehung, Bildung und Gesundheit eine elementare Rolle für das Glücksempfinden der Menschen spielen, dürfte offensichtlich sein, hierbei ist die individuell zweifellos unterschiedliche "Lebenszufriedenheitskompetenz" bzw. "Lebensführungskompetenz" bedeutsam. 58 Lyubomirsky unterscheidet zwölf verschiedene Glücksaktivitäten und formuliert fünf Schlüssel zu einem lebenslangen Glück, bei denen die tatsächliche Ferne zu materiellen Gütern und einem zunehmenden Güterwohlstand überdeutlich wird. Die entsprechenden Stichworte sind Dankbarkeit und positives Denken entwickeln, das Stärken der sozialen Beziehungen, das Bewältigen von Stress und Schwierigkeiten, das Leben im Hier und Jetzt genießen, das Verwirklichen von Lebensträumen sowie das Kümmern um Leib und Seele. 59 Die zentrale Aussage ist beachtenswert, dass nämlich die in der modemen Gesellschaft offensichtlich bevorzugte Glücksstrategie über mehr materiellen Wohlstand zu größerem Glück und höherer Zufriedenheit zu kommen, eine fatale Fehlentwicklung darstellt, die allerdings systemirnmanent angelegt und deshalb nicht ganz leicht zu korrigieren ist. "Für kurze Zeit glücklicher zu werden ist relativ einfach, genau wie für einen Tag mit dem Rauchen aufzuhören. Die große Herausforderung besteht darin, dieses neue Glück zu erhalten."6o Wohlbefinden lässt sich offensichtlich langfristig steigern, in dem man fünf Schlüssel zu dauerhaftem Glück entdeckt. An erster Stelle stehen hier gemäß dem Ansatz der positiven Psychologie positive Emotionen. "In der Tat sind häufige positive Emotionen wie Freude, Vergnügen, Zufriedenheit, Gelassenheit, Neugierde, Vitalität, Begeisterung, Kraft, Spannung und Stolz das Markenzeichen des Glücks ... Man könnte sagen, dass glückliche Emotionen uns zu glücklichen Menschen machen." Bei den glücksbringendenAktivitäten (hierbei spricht man an anderer Stelle häufig auch von Flow) ist zudem auf das optimale Timing und Abwechslung zu achten. Es ist daher unerlässlich, " ...sich über Dauer und Häufigkeit ihrer Aktivitäten Gedanken zu machen, um die größtmögliche Zufriedenheit, Gelassenheit und Freude zu erzielen und der Gewöhnung ein Schnäppchen zu schlagen."61 Darüber hinaus sind das soziale Netzwerk und Motivation, Einsatz und Engagement entscheidende Faktoren auf dem Weg zu einem glücklicheren Leben. Viele der genannten Punkte erscheinen aus üblicher Perspektive heraus eher banal, vor allem deshalb, weil man im normalen, vom homo58
59 60 61
Vgl. Sprenger, R. (1997), Die Entscheidung liegt bei Dir! Wege aus der alltäglichen Unzufriedenheit, FrankfurtJM., New York, S,13, S.153 f. und S.21O; Grom, B. (1987), S.130 fI.; Bien, G. (1998), S.27 ff.; See!, M. (1995), S.83 ff; Wi1kinson, R./Pickett, K. (2009); Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010) Lyubomirsky, S. (2008), S.93-267 Ebd., S.271 Ebd., S.272 und S.281; vgl. Fenner, D. (2003), S.371 ff.
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oeconomicus-Ansatz geprägten Denken massiv durch die standardmäßige Ableitung "mehr Geld - mehr Wohlstand - mehr Glück" gesteuert wird. Ein zentraler Ansatz der positiven Psychologie ist gerade, dass man das wirkliche Glück zweifellos viel eher in viel weniger von materiellen Dingen geprägten Sphären finden kann. Hier bedarf es dann allerdings - und dies ist dann in den ersten Schritten unmittelbar anstrengend - persönlichen Einsatzes und Engagements. Eine individuelle und auch die damit verbundene gesellschaftliche Fixierung auf die Steigerung des materiellen Wohlstandes bringt entgegen der ursprünglich intendierten Zielstellung, über diesen "Umweg" auch das persönliche Wohlbefinden oder gar Glück oder die gesellschaftliche Zufriedenheit zu maximieren, keinen wirklichen, diesbezüglich nachweisbaren Fortschritt, wenn denn eine - zweifellos nicht abschließend zu definierende und im Zeitablauf auch sicher bewegliche - Grenze überschritten wurde. Aus dieser ökonomischen Tretmühle gilt es auszusteigen.
Bausteine für eine ökologische Glücksökonomie - neue Wege zu neuen Zielen Bevor über mögliche konkrete Maßnahmen nachzudenken ist, müssen also neue Ziele für eine begrenzte Ökonomie formuliert werden, um zu einer nachvollziehbaren und demokratisch vermittelbaren Vision für die Gesellschaft zu kommen. Zu den Kerninhalten sollten gehören: Lebensdienlichkeit, Glück, menschliche Genügsamkeit, Mußepräferenz, Suffizienz (als nachfrageseitige Faktoren) und Ressourceneffizienz, Überlebensfähigkeit, Unterproduktivität (als angebotsseitige Faktoren). Glück ist keineswegs ausschließlich auf das Individuum bezogen, sondern " ... das persönliche Glück (ist) kaum ganz außerhalb der moralischen Gemeinschaft mit anderen Menschen zu finden und daher (ist) das gute Leben nicht einfach ablösbar von der Idee der moralisch guten Lebensführung ... Ideen des guten Lebens stellen also den motivbildenden Hintergrund moralischen Handelns dar, sind aber im Ganzen einer normativen Begründung weder zugänglich noch bedürftig, sondern müssen ... durch ihre Attraktivität für sich selber sprechen.''62 Der sich im Laufe der letzten Jahrhunderte herausgebildeten Tendenz hin zum Ökonomismus ist nur dann mit nachhaltigem Erfolg entgegenzuwirken, wenn die historische Bedingtheit und damit Überwindbarkeit dieses Denkens herausgearbeitet wird. Zu differenzieren wäre demnach zwischen einer "Ökonomie des Lebensnotwendigen" zur Sicherung der jeweils kulturell überformten universal-humanen Lebensgrundlagen und einer auf einer fortgeschrittenen Entwicklungsstufe 62
Uhich, P. (2008), 8.34 f.
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möglichen Erweiterung zu einer "Ökonomie der Lebensfülle". Letztere macht deshalb Sinn, weil sie nicht mehr das unreflektierte Steigern der Quantität der verfügbaren Güter, sondern die Emanzipation des Menschen aus diesen Notwendigkeiten der Existenzsicherung ermöglicht. Die Ökonomie der Lebensfülle macht die Menschen frei für die wirklich wesentlichen Dinge des Lebens. "Sie beruht auf der ganzheitlichen Lebenskunst des Genug-haben-Könnens. Die Kategorie ,genug' ist keine ökonomische, sondern eine kulturelle ... Je mehr wir an materiellen Gütern erwerben können, um so mehr kommt es auf unsere Fähigkeiten an zu wissen, was für unser gutes Leben genug ist - sonst ersetzen wir die alten Zwänge der Ökonomie des Lebensnotwendigen nur fortschreitend durch Denkzwänge des Noch-mehr-haben-Wollens.... Ein in diesem Sinne wählerisch kultivierter, massvoll begrenzter Konsum kann durchaus seinen Beitrag zum guten Leben leisten. "63 In diesem Zusammenhang ist es natürlich interessant, sich zu vergegenwärtigen, dass die Menschen nach Durchlauf einer dynamischen Entwicklung im Steigerungsspiel in gewisser Hinsicht wieder zum Ausgangspunkt vor ihren expansiven Aktivitäten zurückkehren würden. 64 Eine Ökonomie der Lebensfülle mit einer gleichsam dualen Lebensform, in der Arbeit und Muße einen möglichst gleichrangigen Stellenwert einnehmen, wäre die Antwort auf die mehr und mehr absurd erscheinenden Probleme reifer Volkswirtschaften, in denen das selbst geschaffene Produktionsproblem offensichtlich mehr und mehr gelöst wird, ohne dass für die damit einhergehenden ökologischen Fragestellungen und die sich teilweise zuspitzenden Verteilungsfragen Lösungen gefunden werden. Genauso wie in den hier diskutierten Themen von Glück und Wohlstand enorme quantitative und qualitative gedankliche Fortschritte erzielt wurden, wird unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit verstärkt über den Zusammenhang von Effizienz und Suffizienz gearbeitet. Technisch möglich wäre es schon heute, mit einer um den Faktor 4 bis 10 signifikant höheren Ressourcenproduktivität und einer niedrigeren Materialintensität zu produzieren und zu konsumieren. In Kombination mit einer offensichtlich sinnvollen moderaten Begrenzung des men63
64
Ebd., S.229 f. VgL Swoboda, H. (1972), S.192; Goudzward, B.lde Lange, H.M. (1990), S.94; Schmidbauer, W. (1995); Weber, A. (2008), S.150 ff. Erinnert sei an dieser Stelle ohne weiteren Beleg an die Marxsche Unterscheidung eines ,,Reiches der Notwendigeit" und eines "Reiches der Freiheit". Auch Keynes sah einen beträchtlichen Handlungsspielraurn: " ... unsere weiteren Kräfte nicht-wirtschaftlichen Zwecken zu widmen. . .. Der Gang der Dinge wird einfach der sein, daß es immer größere und größere Schichten und Gruppen von Menschen geben wird, für die sich Probleme wirtschaftlicher Notwendigkeit einfach nicht mehr stellen.... Vor allem lasst uns die Bedeutung der wirtschaftlichen Aufgabe nicht überbewerten oder ihren vermeintlichen Notwendigkeiten andere Dinge von größerer und beständigerer Bedeutung opfern." (Keynes, J.M. (1998), S.lO und S.l26) Eindrücklich und knapp beschrieben bei Böl!, H. (1989), Anekdote zur Senknng der Arbeitsmoral, in: Eltner, U. (Hg.), Hundert Jahre Glück: Geschichten der Weltliteratur, S.l46-148
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genmäßigen Konsums wäre es vorstellbar, eine ökologischere und wohlhabendere Ökonomie zu entwerfen, Ökoeffizienz und menschliche Genügsamkeit bzw. Verbrauchsuffizienz sind die beiden zentralen Bausteine der hier sogenannten "ökologischen Glücksökonomie". Selbst wenn man den bisherigen gedanklichen Schritten gefolgt ist, so stellt sich mit einem Blick auf die reale Welt65 zwangsläufig die Frage nach den konkreten Wegen, die künftig eingeschlagen werden müssten, um die zuvor entwickelten neuen Ziele mehr oder weniger zeitnah zu erreichen. Hier sind einerseits selbstverständlich keine einfachen Rezepte zu erwarten, andererseits kann recht plausibel aufverschiedene Handlungsebenen hingewiesen werden, auf denen angesetzt werden kann und muss. Mit einigen Hinweisen kann abschließend belegt werden, dass die hier vorgestellten Gedanken durchaus einen engen Bezug zur gesellschaftlichen, ökonomischen, ökologischen und individuellen Realität in hoch entwickelten Volkswirtschaften haben, als sie bestimmte Ansatzpunkte für das sozioökonomische und individuelle Handeln nahe legen und damit umgekehrt andere ablehnen lassen. Dem Staat, der Politik stellt sich zunächst die Aufgabe, eine Revitalisierung in dem hier vorgeschlagenen Sinne herbeizuführen. Aktuell bestehende Defizite bezüglich der Diskussion um zukunftsweisende und zukunftsfähige Ziele in Wirtschaft und Gesellschaft müssen beseitig werden. Hierzu bedarf es der Bündelung vorliegender alternativer Entwürfe und deren schrittweisen Umsetzung. Notwendig ist daher ein " ... Diskurs darüber, wie wir leben wollen, was wir für richtig und sinnvoll halten, was wir miteinander anpacken und erreichen wollen.... Politik nährt sich aus der Frage nach dem guten, menschenwürdigen Leben. Wo immer menschenwürdiges Leben zum Thema wird, ist Politik."66 Sogenannten Sinnmärkten (wie Bildung, Gesundheit, Soziales, Kultur und Natur) muss auch durch staatliche Rahmensetzung und diesbezügliche Investitionsprioritäten vermehrt Rechnung getragen werden. Für die Menschen in einer solchen Gesellschaft wäre dann mit "gut leben statt viel haben" eine neues Motto formuliert, welches final zweifellos das Glückjedes Einzelnen fördern könnte. 67 Beispielgebend könnten hier die im kleinen Land Bhutan gesetzten Ziele zur Erreichung eines "nationalen Glücks" sein: Gute Regierungsführung und Demokratisierung, stabile und gerechte sozioökonomische Entwicklung, Schutz und Erhalt von Umwelt und Natur sowie positive kulturelle Entwicklung. Aus der Viel65 66
67
Wie weit z.B. die heutige wirtschaftspolitische Praxis von den herausgearbeiteten Thesen entfernt ist, zeigt alleine der Name des im Jahr 2009 beschlossenen sogenannten "Wachstumsbeschleunigungsgesetzes". Eppler, E. (1998), Die Wiederkehr der Politik, Frankfurt/M. Leipzig, S.2l7 und S.289; Acquaviva, S. (1998), Das Glück: ein politisches Projekt, Bann; Bok, D. (2010); Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010), S.83 ff, die besonders auf die positiven Wirkungen einer intensiveren, direkten Demokratie hinweisen Vgl. Opaschwoski, H.W. (2009), S.26 ff.
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zahl der existierenden Tretmühlen des Unglücks gilt es zielgerichtet auszusteigen. 68 In der Wirtschaftspolitik gilt entsprechendes: das zumindest fonnal noch immer handlungsleitende Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahre 1967, in dem ein stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum zum Maßstab gemacht wird, dürfte nur mehr als Anachronismus gelten können. Auf der Basis neu formulierter Ziele des Staates und der Notwendigkeiten der Ökologisierung und der hier diskutierten Ansätze zur Remoralisierung der Wirtschaft bedarf es hier eines komplett neuartigen Zielkatalogs, im dem auch auf eine glücksfördernde Verteilungspolitik Bezug zu nehmen wäre. Auch in Unternehmen muss in Richtung einer zukunftsfähigen Entwicklung im Sinne einer umfassenden Effizienzrevolution umgesteuert werden. Dazu sind einerseits zweifellos regulierender Eingriffe des Staates notwendig, andererseits ist es zumindest denkbar, dass Unternehmen aus eigener Einsicht heraus den Kurswechsel forcieren und erkennen, dass sich die Märkte der Zukunft zwangsläufig ändern werden und ein frühzeitiges Reagieren darauf im eigenen Interesse ökonomisch sinnvoll sein kann. Zudem werden die verstärkt herausgearbeiteten Zusammenhänge von "Arbeit und Glück" auch zunehmend in der Praxis berücksichtigt. Mitarbeiter, die bezogen auf ihre Fähigkeiten und Kenntnisse angemessen herausfordernd eingesetzt und in einem adäquaten, d.h. gesundem und ethisch förderlichen Unternehmensumfeld arbeiten, sind erwiesenermaßen glücklicher und in aller Regel auch produktiver. 69 Letztlich wird auf der individuellen Ebene ein Wandel stattfinden müssen, denn zweifellos ist der Konsument in gewisser Hinsicht der Lenker der Wirtschaft, d.h. ein in größerer Mehrheit verändertes Konsumverhalten - welches mit einem veränderten Leben als Ganzes (und dann möglicherweise einer größeren Zufriedenheit, einem höheren Wohlbefinden oder gar Glück?) einhergehen würde - führt mehr oder weniger automatisch zu sehr bedeutsamen Veränderungen, die in Summe eine neue Ökonomie im hier beschriebenen Sinne mitbegründen könnten. Zu diskutieren wäre über gesetzliche Rahmenbedingungen, die dem unersättlichen Konsurnstreben Grenzen setzt, denn es ist fraglich, ob die auf der Produktionsseite einzufordernde Effizienzrevolution ohne direkte oder indirekte Einflussnahme von außen mit einem freiwillig veränderten und reduzierten Verbrauchsverhalten einhergehen wird. "Die Befriedigung materieller Bedürfnisse darf nicht die Schaffung neuer materieller Bedürfnisse zum Ziel haben, sondern die Befriedigung der obersten Bedürfnisse des Menschen: Glück, Wissen, die Fähigkeit, die Schönheit der Welt zu genießen, eine bessere Qualität 68 69
Vgl. Bok., D. (2010),8.1 ff.; Frey, B.8./Frey Marti, C. (2010), S.79 ff.; Ritkin, 1. (2010), Die emphatische Zivilisation: Wege zu einem globalen Bewusstsein, FrankfurtJM., New York, 8.363 fE; Schumaker, J.F. (2009), 8.274 ff.; Binswanger, M. (2006), 8.139 ff. Vgl. Frey, B.S./Frey Marti, C. (2010), S.95 ff.; Csikszentimihalyi, M. (2004), Flow im Beruf, 8tuttgart
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der zwischenmenschlichen Beziehungen. Gemessen am Besitz materieller Güter kann dies im Hinblick auf das Bruttosozialprodukt zwar ein Minus bedeuten ... , aber gemessen an der Lebensfreude wird es sicherlich ein Plus sein. ... In diesem Sinne kann man von einer neuen ... kontemplativen Ökonomie sprechen. "70 Es lässt sich heute mit guten Argumenten die These vertreten, dass gerade in den letzten zwanzig Jahren bedeutende Veränderungen bei den in der Gesellschaft verhandelten Themen festzustellen sind: Nicht nur die große Zahl der Veröffentlichungen zum Thema Glück sind hier ein starker empirischer Hinweis. Ebenso breit und umfassend wird etwa über den wirklichen Sinn des Lebens, die als sinnvoll erachtete Notwendigkeit der Entschleunigung und Vereinfachung des Lebens, über Grundeinkommen ohne Arbeit, über Anleitungen zum Müßiggang oder gar zur Faulheit und ähnlichen Themen diskutiert. 7l Diese noch eher abstrakten und in der Politik nicht wirklich angekommenen Diskurse machen Mut, denn Gesellschaft, Politik und Individuen müssen zunächst eine Debatte über das "wohin und "wofür" führen. Hektischer Aktionismus und Handeln aus der Tagesaktualität heraus gewährleistet noch keineswegs eine hinreichend genaue Zielerreichung, zumal dann nicht, wenn die wirklich relevanten Ziele nicht bekannt sind. Um dem menschlichen Lebensglück wieder seinen gebührenden Stellenwert zu geben, bieten sich eine Vielzahl von gedanklichen Ansätzen an. Es gibt offensichtlich doch " ...anthropologische Konstanten über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg, die es erlauben, so etwas wie einen Glückskanon zu umreißen. Freilich im Durchgang ... durch die bewunderswerte Vielfalt und Widersprüchlichkeit zahlreicher Glückstheorien und Glückserfahrungen."72 Diese Ansätze müssten verknüpft werden mit Überlegungen zum zielgerichteten, auch die ökologischen Anforderungen berücksichtigenden Umbau der Ökonomie. Eine solche Ökonomie würde nicht mehr das Wachstum der Wirtschaft und den materiellen Konsum, sondern die nachhaltige, ökologische Überlebensfähigkeit, einen demokratisch-kulturellen Wohlstand mit allerdings signifikant geringeren Verteilungsunterschieden als heute, eine umfas70
71
72
Bresso, M. (1992), Für einen anderen Fortschritt: Weniger kann mehr sein, in: Glauber, H., Pfriem, R (Hg.), Ökologisch wirtschaften: Erfahrungen, Strategien, Modelle, FrankfurtIM., S.21 f.; Schrnidbauer, W (1992); Swoboda, H. (1972), S.199; Schmidt-Bleek, F. (1998), Das MlPS-Konzept: weniger Naturverbrauch - mehr Lebensqualität, München; Goudzwaard, B., de Lange, H.M. (1990), S.121 f. Vgl. exemplarisch Eagleton, T. (2008), Der Sinn des Lebens, Berlin; Küstenmacher, W T. (2001), Simplify your Life: Einfacher und glücklicher leben, Frankfurt/M.; Parkins, W, Craig, G. (2008), Siow Living: Langsamkeit im globalen Alltag; Zürich; Klein, O.G. (2007), Zeit als Lebenskunst, Berlin; Vanderborght, Y., van Parijs, P. (2008), Ein Grundeinkommen für alle? Geschichte und Zukunft eines radikalen Vorschlags, FrankfurtlM., New York; Hodgkinson, T. (2004), Anleitung zum Müßiggang, Berlin; Schneider, W (2003), Die Enzyklopädie der Faulheit: Ein Anleitungsbuch, Frankfurt/M. Schreiber, M. (2009), S.239; Höffe, O. (2007), S.104 ff.
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send definierte Lebensqualität und die Zufriedenheit und das Glück der Menschen in den Mittelpunkt rücken.?3 Ein solches Zielmodell sollte mehrheitsfähig sein. Quelle: A. BellebaumlG. Zinn/H. Schaaf(Hrsg.): Ökonomie und Glück. Beitrag zu einer Wirtschaftslehre vom guten Leben. Westdeutscher Verlag: Opladen 1999
73
Vgl. Weber, A. (2008); Opaschowski, H.W. (2009); Miegel, M. (2010), S.242 und 246 f.: "... ist Wachstum nur dann wünschenswert und gut, wenn es ohne Beeinträchtigung von natürlichen Lebensgrundlagen sowie Mensch und Gesellschaft möglich ist. ... WoWstand und Wachstum sind keine siamesischen Zwillinge. Erst das Industriezeitalter hat sich dazu werden lassen. Menschen brauchen Wachstum, und sei es das Wachstum in der Natur, um ihre kreatürlichen Bedürfnisse befriedigen zu können. Das ist aber noch kein eigentlicher Wohlstand. Dieser beginnt erst da, wo das Wachstum endet. Eigentlich menschenspezifischer WoWstand - das ist bewusst zu leben, die Sinne zu nutzen, Zeit für sich und andere zu haben, für Kinder, Familienangehörige, Freunde. ... menschenspezifischer WoWstand - das ist Freude an der Natur, der Kunst, dem Schönen, dem Lernen; das sind menschengemäße Häuser und Städte mit Straßen und Plätzen, die die Bewohner gerne aufsuchen, das ist ein intelligentes Verkehrssystem, das ist gelegentliche Stille, das ist sinnfroher Genuss, das ist die Fähigkeit des Menschen, mit sich selbst etwas anfangen zu können. Eigentlicher, menschengemäßer WoWstand - das ist nicht zuletzt Revitalisierung der spirituell, kulturellen Dimension des Menschen, die durch das Streben nach immer größeren Gütermengen weithin verkümmert ist."
Ein glückliches Leben statt immer mehr materiellen Wohlstand Konsequenzen der Glücksforschung für die Ökonomie
Mathias Binswanger
1. Glück und ökonomischen Theorie Aus ökonomischer Sicht geht es bei der Suche nach der Verwirklichung eines glücklichen Lebens um einen zweistufigen Prozess. Erstens müssen wir ein Einkommen erzielen, damit wir uns die Dinge überhaupt leisten können, die wir für ein glückliches Leben brauchen. In dieser Hinsicht sind wir in den Industrieländern im Allgemeinen Profis. Von klein auf lernen wir die Fähigkeiten, die es braucht, um in der Arbeitswelt Karriere zu machen und viel Geld zu verdienen. Leider reicht das aber nicht aus, wie viele Menschen in ihrem späteren Leben schmerzlich erfahren müssen. Man muss auch in der Lage sein, das verdiente Einkommen so zu verwenden, dass es tatsächlich glücklich macht. Das ist die zweite und heue im Allgemeinen schwierigere Stufe bei der Verwirklichung eines glücklichen Lebens. So gut wir beim Geldverdienen sein mögen, so schlecht sind wir bei der Umsetzung des Einkommens in Glück oder Zufriedenheit. Die dafür erforderlichen Fähigkeiten, die sich mit dem französischen Begriff "Savoir-vivre" oder dem deutschen Wort "Lebenskunst" umschreiben lassen, werden uns nämlich nicht beigebracht. Ein Mensch, der nur ans Geldverdienen und Karrieremachen denkt, handelt in Wirklichkeit unökonomisch, weil er damit sein Glück nicht maximiert. Er verhält sich ineffizient und zwar in dem Sinn, dass er seine ihm zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht optimal nutzt. Die wesentlichen Ressourcen für den einzelnen Menschen sind Zeit und Geld. Das Ziel muss sein, den optimalen Mix von Zeit und Geld zu finden, der zu einem möglichst glücklichen Leben führt. Bei der Frage nach dem Glück des Einzelnen trifft sich somit die ökonomische Betrachtungsweise mit der Psychologie bzw. der Philosophie. Aus diesem Grund sollte es nicht weiter überraschen, dass Ökonomen, sich in neuster Zeit verstärkt mit dem Glücksthema beschäftigen. Es geht um eine Rückbesinnung des eigentlichen Zwecks des Wirtschaftens, der nicht in der Einkommensmaximierung, sondern in
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der Glücksmaximierung, bzw. wie es die Ökonomen ausdrücken, in der Nutzenmaximierung besteht. Die neue, auf der Glücksforschung aufbauende ökonomische Perspektive deckt sich wesentlich mit der Auffassung des Philosophen Jeremy Bentham (1789), der vor mehr als zweihundert Jahren in England lebte. Bentham ging davon aus, dass die Menschen nach einem glücklichen Leben streben und die beste Gesellschaft demzufolge diejenige ist, in der die Menschen insgesamt am glücklichsten sind. In der Folge erwies sich dieser zunächst einleuchtende Gedanke allerdings als problematisch. Wie sollte man feststellen, wie glücklich die Menschen insgesamt in einem Land sind? Und was heißt das überhaupt: "glücklich sein"? Diesen Fragen fühlten sich die Ökonomen bald nicht mehr gewachsen und so strichen sie den Begriff des Glücks aus ihrer Theorie und ersetzten ihn durch den harmloseren Begriff des Nutzens. Harmlos ist dieser Begriff insofern, als er vorsichtshalber so definiert wurde, dass er gar nicht messbar ist. Der Nutzen, so wie er heute in der ökonomischen Theorie verwendet wird, ist eine sogenannte ordinale Größe. Es lassen sich nur Aussagen darüber machen, ob der Nutzen eines Individuums durch bestimmte Handlungen zu- oder abnimmt, aber nicht, um wie viel er zu- oder abnimmt. Aus diesem Grund lässt sich der Nutzen verschiedener Güter nicht einfach addieren und auch der Nutzen verschiedener Menschen lässt sich nicht quantitativ vergleichen. Beobachten können wir gemäß der Annahmen der heutigen Standardökonomie nur die Folgen der Nutzenmaximierung der Individuen. Diese führt dazu, dass die Menschen, wenn sie rational handeln, das tun, was für sie am besten ist. Und tun sie das nicht, dann verhalten sie sich irrational, womit die meisten Ökonomen bis vor kurzem nichts anfangen kontnen. Erst in neuester Zeit erkennt auch die ökonomische Forschung, dass man das Verhalten der Menschen nur verstehen kann, wenn man ihnen eine gehörige Portion Irrationalität zugesteht. Die Erforschung des tatsächlichen, oftmals irrationalen Verhaltens der Menschen ist Gegenstand der sogenannten "Behavioral Economics", welche innerhalb der Volkswirtschaftslehre zunehmend an Bedeutung gewinnt. In der wirtschaftlichen und politischen Praxis konnte man mit dem nicht messbaren und blutleeren Nutzenbegriff der Ökonomie allerdings nie viel anfangen. Dort steht bis heute das Wachstum des Bruttoinlandproduktes im Mittelpunkt des Interesses und nicht, wie sich dies Bentham vorgestellt hatte, das Glück der Menschen. Doch wenn Wachstum nicht glücklicher macht, dann macht die einseitige Ausrichtung der wirtschaftlichen Tätigkeit am Wachstum auch keinen Sinn.] In der ökonomischen Theorie ist Wachstum ein Mittel und nicht ein Zweck. In der Realität ist dieses Mittel aber längst zum Zweck geworden, und kaum jemand spricht Siehe etwa Layard (2005).
Ein glückliches Leben statt immer mehr materiellen Wohlstand
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heute mehr von einem glücklichen Leben, wenn es um wirtschaftliche Fragestellungen geht. Doch so langsam dämmert es einigen Menschen, dass wir uns verrannt haben. Das erkennt man etwa daran, dass die permanente Steigerung von Effizienz, Produktivität, Innovationsfähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Rentabilität zu modemen Glaubensdogmen geworden sind. Für heutige Manager gibt es kein hehreres und schöneres Ziel als die Steigerung der eben genannten Größen. Man muss nicht mehr wissen, warum man die Effizienz oder Produktivität erhöht, denn eine solche Erhöhung ist an sich gut. Das ist aber ein Irrtum. Steigerungen von Effizienz oder Produktivität führen häufig zu einer Beschleunigung der in diesem Buch geschilderten Tretmühleneffekte und verhindern (damit) das Glück, statt es zu fördern. Ökonomie ist letztlich "die Kunst das beste aus unserem Leben zu machen", wie es George Bemhard Shaw treffend formuliert hat.
2. Was ist Glück und wie kann man es messen? Die modeme Psychologie hat das Glück mittlerweile in zwei Komponenten zerlegt. Da gibt es einerseits die langfristig angelegte allgemeine Zufriedenheit mit der eigenen Existenz (baseline happiness, life satisfaction), die mit der generellen Einschätzung des Lebens zusammenhängt. Und auf der anderen Seite gibt es das momentan empfundene Glück oder Unglück, welches von den gerade gegebenen Umständen abhängt (affective states, hedonic states).2 Bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen spielen letztlich beide dieser Glückskomponenten eine Rolle, auch wenn bei Surveys im allgemeinen nach der längerfristigen Lebenszufriedenheit gefragt wird. Mehr Einkommen sollte sowohl zu mehr Lebenszufriedenheit als auch zu vermehrten Glücksmomenten führen. Sprechen wir deshalb im folgenden von Glück, dann schließt dies immer beide Komponenten mit ein. Bleibt jedoch die Frage, wie denn das Glück überhaupt gemessen werden kann. Am einfachsten wäre das mit einem technischen Messgerät, welches den Glückszustand eines Menschen objektiv feststellt, so wie etwa ein Thermometer die Temperatur misst. Ein solches Messgerät würde dann zum Beispiel die elektrische Himaktivität, die Konzentration gewisser Substanzen im Gehirn, den Pulsschlag des Herzens und die Hautfeuchtigkeit messen und daraus mittels eines Computerprogramms einen objektiven Glückswert berechnen. Der Britische Ökonom Francis Ysidoro Edgeworth träumte bereits im Jahre 1881 von einem solchen Ge2
Siehe z.B. Oishi and Diener (2000). Kahneman and Ris (2005) machen noch eine andere Unterscheidung und zwar zwischen erlebtem Wohlbefinden (experienced well-being) und evaluiertem Wohlbefinden (evaluated well-being).
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Mathias Binswanger
rät und nannte es Hedonometer. Leider hat uns der technische Fortschritt in dieser Hinsicht im Stich gelassen - bis heute gibt es keine Hedonometer. Also bleibt den Glücksforschern nichts anderes übrig, als die Menschen nach ihrem jeweiligen Glückszustand zu befragen, wobei die Antwort dann zwangsläufig von der subjektiven Selbsteinschätzung der Befragten abhängt. Eine Einschätzung des eigenen Glückszustandes ist aber gar nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, Sie werden plötzlich von jemandem auf der Straße angesprochen, der Ihnen folgende Frage stellt: "Alles in allem, wie würden Sie Ihren Zustand in letzter Zeit beschreiben - Würden Sie sagen, dass Sie a) sehr glücklich, b) ziemlich glücklich, oder c) nicht so glücklich sind?" Diese Frage wird den Menschen im General Socia! Survey3 gestellt, welches das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in mehreren Ländern über die Jahre hinweg erfasst. Oder nehmen Sie an, Sie werden mit folgender Frage belästigt: "Wie zufrieden sind sie zur Zeit insgesamt mit ihrem Leben auf einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 10 (sehr zufrieden)?". Das ist die Frage, die im World Values Survey4 gestellt wird, welches das Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern vergleicht. Ehrlich gesagt, wenn man mich das fragen würde, wäre ich ziemlich überfordert. Häufig wissen wir selbst nicht, ob wir eigentlich glücklich sind oder nicht. Kommt jemand gerade vom Arzt und hat dieser festgestellt, dass sich der Verdacht auf Krebs nicht bestätigt hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass sich dieser Mensch glücklich fühlt. Ist das Resultat aber umgekehrt und wurde der Verdacht auf Krebs bestätigt, dann wird er seinen Zustand hingegen kaum als glücklich bezeichnen. Obwohl es sich um dieselbe Person handelt, wird ihre Antwort je nach Situation unterschiedlich ausfallen. Solche Antworten sind immer durch die gegenwärtigen Umstände bestimmt und deshalb durch diese geprägt (statistisch verzerrt). Es gibt keine Möglichkeit, den Glückszustand eines einzelnen Menschen mittels Befragung objektiv festzustellen. Allerdings ist die Unmöglichkeit, das Glück eines einzelnen Menschen objektiv festzustellen, für die Glücksforschung weniger schlimm, als man zunächst annehmen könnte. Zwar muss man die Antworten einzelner Menschen in Bezug auf ihren Glückszustand mit Vorsicht genießen. Befragt man aber eine ausreichend große Menge von Personen, dann erhält man trotzdem ein adäquates Bild ihres durchschnittlichen Glücksempfindens. 5 Der Grund liegt darin, dass die meisten "Fehler" bei der Angabe des eigenen Glückszustandes bei der Befragung einer genügend großen Menge von Menschen wieder aufgehoben werden. In Bezug auf 3 4 5
Davis et al. (2001). Inglehart (2000). Siehe Frey and Stutzer (2001); Easterlin (2001); Clark and Oswald (2002).
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unser Beispiel hieße dies, dass sich die Zahl derjenigen mit einem positiven Untersuchungsergebnis und derjenigen mit einem negativen Untersuchungsergebnis nach einem Arztbesuch in etwa die Waage halten. Und damit haben die Untersuchungsergebnisse auf das mittels Befragung ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden keinen Einfluss mehr. Wenn wir das Beispiel des manisch Depressiven nochmals aufgreifen wollen, hieße das: Bei der Befragung einer großen Menge von Menschen wird man etwa gleich viele manisch Depressive in einer manischen Phase wie in einer depressiven Phase antreffen, so dass sich auch diese Gefühlsschwankungen wieder ausgleichen. Etwas gilt es bei Glücksbefragungen allerdings zu beachten. Menschen neigen dazu, ihren Glückszustand höher anzugeben, als er tatsächlich ist. "People err on the bright side", wie es der Psychologe David Myers formulierte. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe verantwortlich. Erstens sagen Menschen, dass sie glücklich sind, weil man das von ihnen erwartet und weil sie es auch selbst von sich erwarten. Schließlich hat man ja häufig alles, was es zu einem glücklichen Leben braucht: einen guten Job, ein ansprechendes Einfamilienhaus oder eine Wohnung, ein Auto der oberen Mittelklasse, Kinder ohne Lemschwierigkeiten in der Schule und sogar die Ehe funktioniert einigermaßen. Da kann man doch nicht angeben, dass man nur mäßig oder gar nicht zufrieden ist. Schon gar nicht in einer Gesellschaft, die zunehmend nur noch aus erfolgreichen, souveränen, selbstbestimmten und demzufolge natürlich auch glücklichen Männem und Frauen zu bestehen scheint. Der zweite Grund für die Überschätzung liegt an der Art der Befragung selbst. Wenn man wählen kann, ob man "sehr glücklich", "ziemlich glücklich", oder "nicht so glücklich" ist, dann wählen die meisten den Zustand "ziemlich glücklich". Und kann man die Zufriedenheit in einer Skala von 1 (unzufrieden) bis 4 (sehr zufrieden) einordnen, dann wählen die meisten Menschen den Wert 3. Die Menschen besitzen die Tendenz, immer einen Wert etwas unterhalb des höchst möglichen Wertes anzugeben. Man möchte im positiven Bereich (glücklich, zufrieden) sein, aber dabei nicht übertreiben und gleich den höchsten Wert wählen. Diese Wahl treffen die Befragten oftmals ziemlich unabhängig von ihrem tatsächlichen Befinden, da sie den gewählten Wert als den richtigen Sollwert (und nicht Istwert) betrachten. 6 Allerdings stellt auch die generelle Überschätzung des eigenen Glückszustandes kein Problem dar, wenn wir durchschnittliche Glückswerte eines Landes in verschiedenen Jahren miteinander vergleichen. Solange nämlich die Menschen den Glückszustand immer gleichviel überschätzen, können wir trotzdem erkennen, ob die Menschen insgesamt glücklicher oder unglücklicher geworden sind. 6
Ausführlich beschreiben ist diese Tatsache in Blanchflower and Oswald (2003).
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Mathias Binswanger
Vorsicht ist aber geboten, wenn wir die Glückszustände der Bevölkerung zwischen verschiedenen Ländern vergleichen. 7 Folgendes lässt sich festhalten: In Bezug auf einen einzelnen Menschen sagen in Umfragen ermittelte Glückswerte nur wenig aus. Befragt man jedoch eine größere Menge an Personen, dann erhält man trotzdem ein einigermaßen adäquates Bild des Glücksempfindens der Bevölkerung, auch wenn dieses insgesamt nach oben verzerrt ist. Das ist allerdings nicht weiter tragisch, wenn wir an der Veränderung des Glücks im Zeitablauf interessiert sind. In diesem Fall geht es nicht um den absoluten Wert des Glückszustandes in einem bestimmten Jahr, sondern um dessen relative Veränderung über die Jahre hinweg. Dieses Buch stützt sich im Wesentlichen auf empirische Forschungen, die solche relativen Veränderungen des Glückszustandes untersuchen.
3. Glück und Einkommen: Ergebnisse empirischer Untersuchungen 3.1 Sind die Menschen in reichen Ländern glücklicher als in armen Ländern? Wie glücklich sind die Menschen in verschiedenen Ländern? Die am besten bekannten empirischen Untersuchungen zum Glück stammen von Befragungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in verschiedenen Ländern miteinander vergleichen. Eine führende Rolle spielt dabei der so genannte World Values Survey 8, der Daten zu mittlerweile 82 Ländern enthält. Abbildung 1 zeigt die Beziehung zwischen dem durchschnittlichen Jahreseinkommen pro Kopf in den einzelnen Ländern (unter Berücksichtigung der Kaufkraftparitäten) und dem Glücksempfinden der Menschen dieser Länder. Dieses ist hier gemessen als die Prozentzahl der Menschen, die mit ihren Leben glücklich oder zufrieden sind. Aufden ersten Blick spricht Abbildung 1 eine deutliche Sprache. Solange ein Land arm ist, steigt das durchschnittliche Glücksempfinden bei einer Erhöhung des Einkommens sehr schnell an. Ist aber einmal der Schwellenwert von etwa 15.000 Dollar pro Kopf erreicht, dann führt eine weitere Zunahme des Einkommens zu keinem weiteren Anstieg des Glücksempfindens mehr. So sind die Menschen in den USA mit einem durchschnittlichen Einkommen von 30 000 Dollar viel glücklicher als die Menschen in der Ukraine oder in Peru, wo das Durchschnittseinkommen unter 5000 Dollar liegt. Aber sie sind nicht glücklicher als die Menschen in Taiwan oder Südkorea, wo das Einkommen 15 000 Dollar beträgt.
7 8
Siehe dazu Diener et al. (2000). Im Internet zu finden unter www.worldvaluessurvey.com. Siehe dazu auch Griffith (2005)
Ein glückliches Leben statt immer mehr materiellen Wohlstand Abbildung 1:
281
Glück und Einkommen im Ländervergleich'
100 , . . - - - - - - - - - - - - - - - - - - ,
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Aus den Daten des World Values Survey können wir grob folgende Schlussfolge-
rung ziehen: Einkommen macht glücklich, solange die Menschen eines Landes ann
sind. Weun aber der Schwellenwert von 15 000 Dollar bis 20 000 Dollar Durchschnittseinkommen pro Kopf erreicht ist, gilt das nicbt mehr. Mehr Einkommen ttägt also nicht mehr zum durchschnittlichen Glücksempfinden bei. Der Soziologe Rona1d lnglehart, der den World Values Survey betreut, stützt diese Interpretation und liefert auch eine Erk1änmg. In armen Ländem geht es zunächst eimna1 um die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse. Solange man nicht genug zu essen hat und in einer armseligen Hütte dahinvegetiert, trägt mehr Einkommen entscheidend zum Lebensglück bei. Ist aber der Schwellenwert erreicht, bei dem die Gruodbe-
9
Quelle: Ing1.hart """ Klingemann (2000)
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dürfnisse gedeckt sind, dann geht es um andere Dinge, die Inglehart mit "Lifestyle Issues" umschreibt. Nicht "satt werden", ist jetzt gefragt, sondern Nouvelle Cuisine oder Reformkost. Und mit dem Erreichen des Schwellenwertes machen sich auch die Tretmühleneffekte bemerkbar, die hier weiter unten beschrieben sind. Allerdings gilt es weitere Aspekte zu beachten. Erstens lassen sich deutliche geographische Einflüsse feststellen. Die Menschen in lateinamerikanischen Ländern sind bei gleichem Einkommen viel glücklicher als Menschen in Ländern des ehemaligen Ostblocks. Es gibt also so etwas wie einen Latino-Glücksfaktor und einen Ostblock-Melancholiefaktor. Für die Menschen, die schon einmal in Lateinamerika oder in der Karibik waren, sind die relativ hohen Glückswerte in diesen Ländern kaum überraschend. So sind etwa Kolumbianer im Durchschnitt glücklicher als die Menschen in Deutschland oder Österreich, obwohl ihr durchschnittliches Einkommen viel geringer ist. Heißes Klima, Salsa, Samba und eine lockere Lebenseinstellung haben hier sicher einen positiven Einfluss. Und bei den besonders tiefen Werten der Länder des ehemaligen Ostblocks spielen wohl das kalte Klima, jahrzehntelange Frustration durch Kommunismus und vielleicht auch übermäßiger Wodkakonsum eine Rolle. Mit anderen Worten: Die Menschen in den ehemaligen Ostblockländern werden selbst bei stark steigendem Einkommen Mühe haben, sich so glücklich zu fühlen wie die Latinos. Einkommen erklärt nur einen Teil der Variation des Glücksempfindens zwischen verschiedenen Ländern. Zweitens ist Glück nicht zwingend gleich Glück in allen Ländern. Verschiedene Kulturen haben unterschiedliche Vorstellungen vom Glück entwickelt, und es ist nicht klar, ob Glück in Zimbabwe genau dasselbe bedeutet wie in den USA.lO
3.2 Sind die Menschen mit dem Wirtschaftswachstum glücklicher geworden? Neben Ländervergleichen gibt es eine ganze Reihe von Untersuchungen, die das durchschnittliche Glücksempfinden der Menschen in den einzelnen Ländern im Zeitablauf erfassen. 11 Die längsten Datenreihen liegen für die USA und Japan vor, wo Glücksbefragungen bereits seit dem 2. Weltkrieg durchgeführt wurden. Und das Ergebnis ist in beiden Ländern genau dasselbe: In den USA hat sich das reale Bruttoinlandprodukt pro Kopf seit dem 2. Weltkrieg mehr als verdreifacht, aber das Glücksempfinden der Bevölkerung der Menschen ist genau gleich geblieben. Seit 1946 bezeichnen sich 30 Prozent der amerikanischen Bevölkerung als sehr 10 11
Siehe Veenhoeven (2000, in Diener and Suh) zu diesem Thema. Der Autor kommt allerdings zum Schluss, dass das unterschiedliches Glücksverständnis zwischen den Kulturen keine große Rolle spielt. Beschrieben sind diese Ergebnisse in Blanchfiower and Oswald (2004); Diener and Suh (1997); Diener and Oishi (2000); Diener and Biswas-Diener (2002); Easterlin (1995, 2009); K.enny (1999).
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glücklich (siehe Abbildung 2) und in einer Zufriedenheitsskala von 1 bis 10 liegt der Wert konstant bei etwas über 7. 12 Glück. und Wohlstand in den USA13
Abbildung 2:
BIP PRO KOPF
% SEHR GLÜCKLICH
'00
. 90
BIP pro Kopf
40
lJI. Sehr glOCklich
20
o
'''6
1951
195' 1"1
19" 1911
197& 1981
1986
199'
1"'
Noch extremer ist der Fall in Japan, wo sich das Bruttoinlandprodukt seit dem 2. Weltkrieg sogar versecbsfacht, aber das Glücksempfinden ebenfalls konstant geblieben ist. Und in den Europäischen Ländern, wo man aufDaten seit Beginn der 70er Jahre zurückgreifen kann, zeigt sich dasselbe Bild: steigende durchschnittli-
che Einkommen, konstantes Glück. obwohl der materielle Wohlstand seit dem. 2. Weltkrieg enorm angestiegen ist. Der Britische Ökonom Richard East.erlin14, einer der Pioniere der ökonomischen Glücksforschung, kann sogar noch mehr zeigen. Seine Untcnuchungen zu den USA deuten an, dass nicht nur das durchschnittliche Glückscmpfinden, son12
13
14
Siehe Layard (2005).
~ Wortdel!l BIPpm ICopfwurdo fiirda8 Jahr 1946 gloich dom~
die sich als
"sehr glückIicli" bezeiclmen.
Bastcrlin(2001).
dor MCIII8d1on peeIzt,
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dem auch das Glücksempfinden der verschiedenen Generationen über ihren Lebenszyklus stagniert. Obwohl die Menschen insbesondere in den 50er und 60er Jahren viel reicher wurden, wurden die gleichen Menschen, die etwa zu Beginn der 50er Jahren noch arm waren, durch den erworbenen Reichtum in den 50er und 60er Jahren nicht glücklicher, sondern traten was ihr Glücksempfinden betrifft an Ort und Stelle. Die Stagnation des Glücksempfindens lässt sich auch bei sämtlichen Schichten der Gesellschaft beobachten. Die Daten zu den USA zeigen, dass es sowohl für Männer wie Frauen, Schwarze und Weiße und auch für hohe und tiefe Bildungsschichten gilt. 15 Das durchschnittliche Glücksempfinden lässt sich in Industrieländern durch Wirtschaftswachstum nicht erhöhen. Weder Auto noch Einfamilienhaus, weder Fernsehen noch Kühlschrank, weder Ferien in der Karibik noch Internet haben daran etwas geändert.
3.3 Sind reiche Menschen glücklicher als arme Menschen? Aufgrund dieser Resultate könnte man jetzt vorschnell die Schlussfolgerung ziehen, dass Geld tatsächlich nicht glücklich macht. Doch so allgemein kann man das nicht sagen. Es gibt nämlich empirische Forschungen, die nicht das durchschnittliche Glücksempfinden der Bevölkerung untersuchen, sondern der Frage nachgehen, ob den zu einem bestimmten Zeitpunkt die Reichen eines Landes glücklicher sind als die Armen. 16 Und, siehe da, sie sind es tatsächlich! Tabelle 1 zeigt die Situation in den USA im Jahre 1994. Um eine Aussage über den Zusammenhang zwischen Glück und Einkommen machen zu können, wurde die Bevölkerung in verschiedene Einkommensklassen unterteilt. Für jede dieser Einkommensklassen wurde dann wiederum das aufgrund von Umfragen ermittelte durchschnittliche Glücksempfinden aus dem General Social Survey ermittelt. Tabelle I zeigt die Resultate für die verschiedenen Einkommensklassen. Die in Tabelle 1 wiedergegebenen Werte zeigen deutlich, dass die Menschen aus reichen Haushalten in den USA glücklicher sind als die aus armen Haushalten. Der Prozentsatz der Menschen, die sich als "sehr glücklich" bezeichnen, steigt von Einkommensklasse zu Einkommensklasse kontinuierlich an und erhöht sich von 16 Prozent bei der tiefsten Einkommensklasse auf 44 Prozent in der höchsten Einkommensklasse. Umgekehrt sinkt der Prozentsatz der Menschen, die sich als ,,nicht so glücklich" bezeichnen, von 23 auf 6 Prozent. Und betrachtet man den in der Tabelle ebenfalls angegebenen numerischen Wert in der Kolonne Glücks15 16
Blacnhf10wer and Oswald (2004). Siehe etwa Ahuvia and Friedman (1998); Easterlin (1995, 2001); Diener and Biswas-Diener (2002); Frey and Stutzer (2002).
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rating, dann nimmt dessen Wert von der ärmsten bis zur reichsten Einkommensklasse deutlich zu. Allerdings sind die Unterschiede in den mittleren Einkommensklassen nicht gerade groß und Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 25000 Dollar sind etwa gleich glücklich wie Mitglieder von Haushalten mit einem Einkommen von 45000 Dollar. Tabelle 1: Glück und Einkommen bei verschiedenen Einkommensklassen in den USA im Jahre 1994 Gesamtes Haushaltseinkommen Durchschnitt für alle Einkommensklassen weniger als 10000
sehr glücklich (in Prozent)
ziemlich glücklich (in Prozent)
nicht so glücklich (in Prozent)
durchschnittl. Glücksrating
28
60
12
2.4
16
62
23
1.8
21
64
15
2.1
20000 bis 30000
27
61
12
2.3
30000 bis 40000
31
61
8
2.5
40000 bis 50000
31
59
10
2.4
50000 bis 75000
36 44
58 49
7 6
2.6 2.8
10000 bis 20000
über 75000
Das durchschnittliche Glücksempfinden wurde aufgrund einer willkürlich gewählten Skala berechnet, bei welcher "sehr glücklich" mit 4, ,,ziemlich glücklich" mit 2 und "nicht so glücklich" mit 0 bewertet wurde. 17
Die USA ist nun keineswegs ein Sonderfall. Zusammengefasste Daten aus den Eurobarometer Surveys, wo die Haushalte der EU-Länder in vier Einkommenskategorien unterteilt werden, zeigen, dass sich 88 Prozent der höchsten Einkommensklasse als "sehr zufrieden" oder "einigermaßen zufrieden" bezeichnen. In der untersten Einkommenskategorie liegt deren Anteil jedoch lediglich bei 66 Prozent. 18 Und selbst in der an sich schon reichen Schweiz nimmt die Prozentzahl deIjeni-
17
18
Diese Zuweisung von numerischen Werten zu den einzelnen Zuständen ist allerdings methodisch nicht ganz sauber, denn in Wirklichkeit wandelt man damit eine ordinale Größe (die verschiedenen Glücks-zustände) in eine kardinale Größe (die numerischen Werte) um. Man kann nicht sagen, dass jemand der sehr glücklich ist, genau doppelt so glücklich ist, wie jemand der einigermaßen glücklich ist, doch das wird mit den numerischen Werten suggeriert. Die Daten sind aus Easterlin (2001). Siehe Di Tella et al. (1999).
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gen, die mit dem Leben nicht zufrieden sind, mit der Höhe des Einkommens ab. 19 Macht Geld also doch glücklich? Vergleichen wir die verschiedenen Forschungsresultate, dann scheint hier zunächst ein Widerspruch vorzuliegen. Auf der einen Seite stagniert das durchschnittliche Glücksempfinden der gesamten Bevölkerung bei steigenden Einkommen. Doch auf der anderen Seite sind die Reichen glücklicher als die Armen: Dieser Widerspruch lässt sich aber auflösen, da es in Wirklichkeit um zwei unterschiedliche Sachverhalte geht. Was für den Einzelnen bzw. eine einzelne Einkommensgruppe gut ist, muss noch lange nicht gut für alle sein. Wenn der Einzelne mit steigendem Einkommen glücklicher wird, dann heißt dies nicht, dass die Gesamtheit der Bevölkerung bei steigendem Einkommen ebenfalls glücklicher wird. Das ist der Trugschluss der Verallgemeinerung, vor dem man sich auch in der Glücksforschung hüten muss. Ein einfaches Beispiel möge diesen Trugschluss illustrieren. Stellen Sie sich ein Fussballspiel vor, bei dem alle Zuschauer auf der Tribüne sitzen und aufmerksam das Spiel verfolgen. Nun spielt sich eine spannende Szene vor dem Tor einer Mannschaft ab, das jedoch etwas weiter von der Tribüne entfernt ist. Unter diesen Umständen kann es leicht geschehen, dass ein Einzelner sich erhebt, um das Geschehen besser verfolgen zu können, was ihm einen persönlichen Vorteil in Bezug auf seine Sicht verschafft:. Allerdings nicht für lange. Entweder wird er von den hinter ihm sitzenden Zuschauern lautstark daran erinnert, sich wieder hinzusetzen, oder diese stehen ebenfalls auf. Im zweiten Fall wird es nicht lange dauern, bis alle Zuschauer aufgestanden sind mit dem Resultat, dass niemand mehr einen Vorteil in dieser neuen Situation von stehenden Zuschauern hat. Alle sehen wieder genau gleich gut oder schlecht wie in sitzendem Zustand. Was für den Einzelnen, der zuerst aufgestanden ist, kurzfristig ein Vorteil war, bringt für die Gesamtheit der Zuschauer überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil: Stehen ist auf die Dauer unbequemer als sitzen und dieser Nachteil wird sich nach einiger Zeit in den Beinen bemerkbar machen. Ganz ähnlich wie beim Fußballspiel verhält es sich auch mit dem Zusammenhang zwischen Einkommen und Glück. Wenn ein Einzelner versucht, mehr Geld als die anderen zu verdienen, dann verbessert er damit seine Position in der Gesellschaft, da er andere mit seinem Einkommen übertrifft und im Vergleich zu diesen relativ reicher wird. Aber wie bei den Zuschauern beim Fußballspiel, verschlechtert dies die Situation der übrigen Mitglieder der Gesellschaft, da sie jetzt relativ ärmer geworden sind. Deshalb werden einige von ihnen zusätzliche Anstrengungen ergreifen, um ebenfalls mehr Geld zu verdienen. Doch leider können 19
Siehe Bundesamt für Statistik (2002).
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nicht alle reicher werden als alle andern. Das ist eine traurige Tatsache des Lebens. Selbst wenn das Einkommen absolut ansteigt, bleibt immer ein Prozentsatz der Bevölkerung relativ ann (unter dem Durchschnitt), so sehr sich dieser auch Mühe gibt und dafür abrackert, reicher zu werden. Wenn deshalb das Glück der Menschen entscheidend von ihrem relativen Einkommen im Vergleich zu andern abhängt, dann ergibt sich aus den unterschiedlichen empirischen Forschungsresultaten kein Widerspruch. Werden alle Bürger eines Landes reicher, dann bleibt trotzdem immer ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung relativ ann und damit unglücklich. Die gesamte Bevölkerung wird also nicht durch Geld glücklicher. Wird aber ein Einzelner reich, dann verbessert er damit seine relative Position in der Gesellschaft, was zu seinem persönlichen Glück beiträgt. Den Einzelnen kann Geld deshalb durchaus glücklich machen, solange die Anderen relativ ann bleiben. Dieses Thema wird uns in im nächsten Kapitel, wo es um die Tretmühlen geht, gleich nochmals beschäftigen.
4. Die Tretmühlen des Glücks20 Offenbar leben Menschen nicht so, wie es für sie selbst am besten wäre. Es ginge ihnen insgesamt besser, wenn sie mehr Zeit hätten und dafür auf zusätzliches Einkommen verzichten würden. So zeigt etwa eine Untersuchung, dass Menschen, die Überstunden machen und deshalb mehr verdienen, dadurch nicht glücklicher werden. Trotzdem machen aber viele Menschen freiwillig Überstunden und streben generell nach einem noch höheren Einkommen. Die Frage lautet deshalb: Wenn die Menschen ein anderes Verhalten glücklicher machen würde, warnm ändern sie es dann nicht? Der Grund liegt in den sogenannten Tretmühleneffekten. Aufeiner Tretmühle kann man immer schneller laufen und diese immer schneller bewegen, doch man bleibt stets am selben Ort. Genau gleich verhält es sich mit dem menschlichen Streben, durch mehr Einkommen glücklicher zu werden. Die Menschen werden dadurch zwar reicher, aber was ihr Glücksempfinden betrifft, treten sie aufder Stelle. Die Hoffnung aufmehr Glück wird ständig enttäuscht, dennoch wird an diesem irrationalen Glauben festgehalten. Was sind aber genau die Tretmühlen des Glücks? Im Wesentlichen lassen sich vier solcher Tretmühlen unterscheiden. Als Erstes haben wir die sogenannte Statustretmühle. Auf der ganzen Welt empfinden die Menschen tiefe Befriedigung darin, mehr zu verdienen oder zu besitzen als ihre Kollegen, Nachbarn oder Familienmitglieder, das bringt sozialen Status. Allerdings gibt es da folgendes Problem: Nicht alle können mehr als der Durchschnitt verdienen. Deshalb wird das Streben nach 20
Siehe dazu Binswanger (2006a, 200Gb), wo diese Tretmühlen ausführlich beschrieben sind.
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mehr Einkommen von allen für die Wirtschaft als Ganzes zu einem Nullsummenspiel. Auch wenn das allgemeine Einkommensniveau in einem Land absolut ständig ansteigt, bleibt doch eine Mehrheit der Bevölkerung unter dem Durchschnittseinkommen und blickt neidvoll auf die oberen Zehntausend. Die starke Bedeutung des relativen Einkommens für das Glück und die Zufriedenheit der Menschen ist somit eine erste Erklärung für die zu beobachtende Stagnation des subjektiven Wohlbefindens im Westen. Solange ein Land arm ist, zählen erst einmal die absoluten Bedürfnisse wie Essen und ein Dach über dem Kopf. Doch kaum sind die Gnmdbedürfnisse abgedeckt, gewinnen soziales Prestige und Status mehr an Bedeutung. Die Menschen fangen an, sich mit den übrigen Bürgerinnen und Bürgern ihres Landes zu vergleichen, und verhindern damit einen weiteren Anstieg ihres eigenen Glücksempfindens. Ein weiterer Tretmühleneffekt kommt dadurch zustande, dass die Menschen sich relativ rasch an ein höheres Einkommensniveau gewöhnen und dieses nach kurzer Zeit als selbstverständlich betrachten. Dies ist die sogenannte Anspruchstretrnühle (hedonic treadmill), ein aus der Psychologie importierter Begriff. So weiss man, dass ein Lottogewinn den Empfänger für kurze Zeit sehr glücklich macht, aber bald danach pendelt sich das Glücksempfinden wieder auf seinen Normalzustand ein, und der Lottogewinner ist so glücklich oder unglücklich wie vor dem Gewinn. Dieses Beispiel ist typisch für die Freude an materiellen Dingen, die meist nur von kurzer Dauer ist. Egal ob ein neues Auto oder ein neues Mobiltelefon. Die anfängliche Freude verpufft nach kurzer Dauer. Auch die Entwicklung zur Multioptionsgesellschaft führt zu einem Tretrnühleneffekt, der sich als Multioptionstretrnühle beschreiben lässt. Mit dem Wirtschaftswachstum ist eine immer grössere Vielfalt an Gütern und Dienstleistungen verbunden. Gleichzeitig sind religiöse Tabus weggefallen, welche dem menschlichen Handeln früher Grenzen setzten. Die Optionen für Arbeit, Freizeit und Konsum nehmen ständig zu, «anything goes». Aber der Entscheid für die richtige Option wird dadurch schwieriger, da die stets steigende Zahl an Optionen auf ein konstantes Zeitbudget trifft. Die Auswahl wird so von einem Dürfen zu einem Müssen und damit zu einer Tyrannei. Ein gutes Beispiel dafür ist die Entwicklung des Fernsehens. Zu Beginn der fünfziger Jahre, als der Fernseher die Wohnstuben eroberte, hatten die meisten Menschen in Europa noch keine Programmauswahl und mussten sich mit einem nationalen Programm begnügen. Was für eine Freude war es da, als endlich auch ausländische Sender empfangen werden konnten und zweite oder sogar dritte Programme entstanden. Die neue Auswahlmöglichkeit emanzipierte die Menschen von der Diktatur des nationalen Monopolprogramms. Bald wurde aus dem Segen ein Fluch. Mit der Entwicklung von Kabel- und Satellitenfernse-
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hen stieg die Zahl der empfangbaren Fernsehprogramme rasch auf über hundert, und heute kann man zwischen tausend Fernsehprogrammen wählen. Nur leider ist unter solchen Bedingungen eine vernünftige Auswahl nicht mehr möglich. Entweder man verbringt den Rest des Lebens damit, alle Fernsehprogramme zu studieren, oder man zappt sich wahllos durch das Angebot. Und häufig beschränken sich die Menschen einfach auf ein paar wenige Programme und ignorieren den Rest, womit sie de facto wieder auf der gleichen Stufe wie in den sechziger Jahren sind. Schliesslich gibt es eine Zeitspartretmühle, die uns ebenfalls zu schaffen macht. Technischer Fortschritt führt dazu, dass wir bestimmte Aktivitäten immer schneller und in kürzerer Zeit durchführen können. Trotzdem gelingt es uns im Allgemeinen nicht, Zeit zu sparen, denn es kommt zu einem sogenannten Rebound-Effekt. Je schneller eine Aktivität durchgeführt werden kann, umso mehr und umso häufiger wird sie durchgeführt. Das beste Beispiel dafür ist der Verkehr. Je schneller die Transportmittel werden, umso weiter und häufiger fahren wir. Die für Transport aufgewendete Zeit bleibt ungefähr konstant, ganz egal mit welchen Transportmitteln wir uns fortbewegen. Das ist die sogenannte Constant-Travel-Time-Hypothese, die praktisch weltweit Gültigkeit besitzt. Sowohl in Tansania als auch in den USA wenden die Menschen pro Tag etwa siebzig Minuten für Mobilität auf. Nur tun sie dies in Tansania zu Fuss, während die Fortbewegung in den USA fast nur mit dem Auto stattfindet. Mit anderen Worten: Wann immer wir das Strassennetz ausbauen, fangen die Menschen sofort an, grössere Distanzen zurückzulegen. Zeitsparen wird zur Illusion.
5. Ökonomische Schlussfolgerungen Die vier verschiedenen Tretmühlen erklären, weshalb mehr Einkommen die Menschen insgesamt nicht glücklicher macht, sobald einmal ein bestimmter Schwellenwert des durchschnittlichen Einkommens in einem Land erreicht ist. Doch es gibt auch einen positiven Zusammenhang zwischen den Tretmühlen und dem Wirtschaftswachstum, der das Entkommen aus den Tretmühlen wesentlich erschwert. Würden die Tretmühlen komplett verschwinden, gäbe es bald auch kein Wirtschaftswachstum mehr. Das ist das grundlegende Dilemma, welches heute für entwickelte Volkswirtschaften charakteristisch ist. Die Tretmühlen hindern uns daran, mit dem durch das Wirtschaftswachstum stets zunehmenden Wohlstand glücklicher zu werden. Aber sie sind gleichzeitig eine Voraussetzung für dieses Wachstum. Die Werbung und die Massenmedien ermuntern uns deshalb unaufhörlich, die Tretmühlen weiter laufen zu lassen, denn sonst wäre das Wirtschaftswachstum bedroht.
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Das eben beschriebene Dilemma führt dazu, dass es zwischen den beiden Zielen Glück und Wachstum keine Harmonie gibt. Gäbe es keine Statustretmühle, dann würden die Menschen viel weniger Geld für teure Statusgüter ausgeben. Gäbe es keine Anspruchstretmühle, dann würden die Menschen nicht ständig Geld für materielle Güter ausgeben, an denen sie nach kürzester Zeit die Freude verlieren. Gäbe es keine Multioptionstretmühle, dann würden die Menschen den Konsum auf ein paar wenige Produkte beschränken, deren Märkte meist längst gesättigt sind. Und gäbe es keine Zeitspartretmühle, dann würden die Menschen einfach damit anfangen, ihre Freizeit zu genießen statt immer wieder Geld für neue zeitsparende Lösungen auszugeben. Die Suche nach Status, die steigenden Ansprüche, die ständige Suche nach neuen und besseren Optionen und die stetigen Versuche, noch mehr Zeit zu sparen, bewirken ein ständiges Wirtschaftswachstum, da die Menschen sich stets eine noch bessere Welt in der Zukunft erhoffen. Das Wachstum hängt somit an den Tretmühlen genauso wie an der Tatsache, dass man sich ihrer im Alltag nicht bewusst ist: Die Hoffnung auf eine immer noch bessere Zukunft ist essentiell für das Wirtschaftswachstum, auch wenn diese Hoffnung ständig aufs Neue enttäuscht wird. Bereits der Vater der modernen Volkswirtschaftlehre, Adam Smith hat in seinem Buch "Theorie der ethischen Gefühle" das Heilsversprechen eines ewigen Wachstums als einen gewaltigen Täuschungsprozess beschrieben. Dort führt er aus, dass sich Menschen oft erst in hohem Alter oder bei Krankheit der Endlichkeit des Lebens bewusst werden. In solchen Momenten erkennen sie dann, wie sie ihr Leben mit ihrem ständigen Streben nach mehr materiellem Wohlstand vertan haben. Wörtlich schreibt Smith21 : ,,Reichtum und Macht erscheinen jedem, sobald er durch Verdrossenheit oder Krankheit dahin gebracht wurde, seine eigene Lage mit Aufinerksamkeit zu beobachten und zu überlegen was es ist, das ihm tatsächlich zur Glückseeligkeit fehlt, in einem erbärmlichen Licht. Macht und Reichtum erscheinen ihm dann als das, was sie wirklich sind, als ungeheure und mühsam konstruierte Maschinen, ersonnen, um ein paar wertlose Bequemlichkeiten für körperliches Wohlbefinden zustande zu bringen."
Doch Smith argumentiert weiter, dass letztlich unser ganzer Wohlstand nur dadurch zustande gekommen ist, dass sich die Menschen ständig durch die Versprechungen des Wachstums blenden lassen. Deshalb ist dieser Täuschungsprozess eine Notwendigkeit für einen andauernden Wachstumsprozess. Doch lassen wir den Meister wieder selbst sprechen:
21
Smith (1977, S. 314,315).
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,,Es ist gut, dass die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewertung erhält. Sie ist es, was sie zuerst antreibt, den Boden zu bearbeiten, Häuser zu bauen, Städte und staatliche Gemeinwesen zu gründen, alle die Wissenschaften und Künste auszubilden, ... die die rauen Urwälder in angenehme und fruchtbare Ebenen verwandelt und das pfadlose, öde Weltmeer zu einer neuen Quelle von Einkommen und zu der grossen Heerstrasse des Verkehrs gemacht haben ... Durch diese Mühen der Menschen ist die Erde gezwungen worden, ihre natürliche Fruchtbarkeit zu verdoppeln und eine größere Menge von Einwohnern zu erhalten."
Die Natur hat also mit ihrer Täuschung des Menschen dafür vorgesorgt, dass dieser sich stets fleißig bemüht, den allgemeinen Wohlstand zu erhöhen. Davon profitieren letztlich alle durch einen höheren Wohlstand, doch glücklicher werden sie dadurch nicht. Adam Smith hat die Ambivalenz des Wirtschaftswachstums schon damals erkannt, doch die dann folgende Industrialisierung und wirtschaftliche Entwicklung drängte diese Überlegungen in den Hintergrund. Heute jedoch sind wir wieder mit dieser Frage konfrontiert, und dies nicht zuletzt auch in Zusammenhang mit den jüngsten Finanzkrisen. Eine permanent hohe Wachstumsrate lässt sich nämlich auf die Dauer nur aufrecht erhalten, wenn man auch unvernünftige Risiken eingeht, für die man dann später die Quittung bezahlt. Die Menschen würden sich wahrscheinlich wohler fühlen in einer Wirtschaft, die etwas gemächlicher wächst, aber dafür mehr Stabilität und Sicherheit ermöglicht.
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Das wohlfahrtsstaatliehe Weltbild in der Postmoderne Manfred Prisching
Das System des Wohlfahrtsstaates - in seinen unterschiedlichen Ausformungen (Esping-Andersen 1990; Perrow 1984) - wird heute als historische Leistung gewürdigt, da es gesicherte Standards eines menschenwürdigen Lebens mit der Dynamik eines kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Systems zu vereinen vermochte. Dies ist in der Tat eine soziale Innovation, auf deren Wirkung für das "gemeine Wohl", ja das "Glück" der Individuen, die in diesen Wohlfahrtsstaaten leben, die nach Erfindungen strebende und doch auf Balancen bedachte europäische Gesellschaft stolz sein kann (Alber 2006). Aber die Geschichte bringt es nun einmal mit sich, dass man einerseits durch eine gewisse Pfadabhängigkeit gebunden ist (also keine beliebigen Steuerungsmanöver vornehmen kann) und sich andererseits auch auf Errungenschaften nicht ausruhen kann. Da zudem, wie dies gerade am Beispiel des Wohlfahrtsstaates offenkundig ist, die historische Ausgestaltung keineswegs einem systematischen oder theoretischen Konzept gefolgt ist, sondern eher als pragmatischer politischer Prozess im Sinne von Versuch und Irrtum zu sehen ist, ergibt sich ein Schlingerkurs institutioneller Gestaltung, bei dem man einmal auf der einen und dann auf der anderen Seite aus der Balm gerät. Schließlich geht es bei der Ausgestaltung der Institution nicht nur wirklichkeitsenthoben um Effizienz und Gerechtigkeit, sondern immer auch um Interessen, um Macht, um die Aneignung oder Verteilung von Ressourcen (Baier 1977). Da die besondere Relevanz dieser banalen Sachverhalte nicht allzu offenkundig werden darf, braucht es einen großen ideologischen, argumentativen, legitimatorischen, affirmierenden und kritisierenden Aufwand, der dazu dienen soll, eine solche Erfindung jeweils so auszugestalten, dass das politische und soziale Gezerre eher in die eigene Richtung führt. Der Aufbau und Ausbau des europäischen Sozialstaates (Ashford 1986; Flora et al. 1981) war deshalb begleitet von der Diskussion über ein Zuviel oder ein Zuwenig, über die richtigen und die falschen Ansatzpunkte, über schädliche oder segensreiche Programme. Jede dieser diskutierten Varianten wurde mit unterschiedlichen Krisenszenarien unterstützt (Flora 1986). Trotz der Erfolgsgeschichte haben sich in den letzten Jahrzehnten immer stärker jene Beschreibungen in den Vordergrund gespielt, denen zufolge der expansive,
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sich selbst überfordernde Wohlfahrtsstaat in systembedrohende Krisen zu geraten scheint (Freeman et al. 1997). Statistisch lässt sich die eigendynamisch-bedrohliche Expansion der Zahlungsströme aus öffentlichen Budgets, verschärft durch technische Errungenschaften und demographische Entwicklungen, gut belegen. Finanztheoretisch lässt sich über Produktivitätsdifferenzen, öffentliche Güter und Externalitäten als Ursachen immer weiterer Zahlungserfordemisse reden. Die Politische Ökonomie steuert die parteipolitischen Überbietungszwänge einer konkurrenzdemokratischen Ordnung bei. Und die mittlerweile etwas heruntergekommene marxistische Theorie punktet immerhin mit den legitimierungsbedürftigen "sozialen Kosten" des Industrialisierungsprozesses, die durch den Wohlfahrtsstaat abgefangen werden müssen. Für andere hingegen ist der Sozialstaat in seiner europäischen Ausprägung nach wie vor ein zukunftsfähiges Gebilde. Der Wohlfahrtsstaat hängt nicht nur am Tropfeiner Wirtschaft, welche die erforderlichen Ressourcen aufbringen muss und in diesem Prozess in ihrer Entfaltung behindert wird, die von ihm gewährleistete soziale Sicherheit trägt vielmehr zu Innovation und Dynamik des Systems bei. Die Gewährleistung existenzieller Minima schafft erst Bedingungen, unter denen der Wettbewerb sich entfalten kann; sie sichert die hohe Qualifikation der Arbeitskräfte, den guten Gesundheitszustand der Menschen, die Lebensqualität eines Landes, und sie schafft damit die Voraussetzungen, um wirtschaftliches Wachstum nachhaltig zu unterstützen und die Wettbewerbsfähigkeit Europas auf einem globalen Markt zu gewährleisten. Eine Abkehr von diesem Kurs ist schon deshalb weder wahrscheinlich noch empfehlenswert, weil dieses System sowohl bei den politischen und ökonomischen Eliten in Europa als auch bei den Bürgerinnen und Bürger l wohl verankert ist, in ihren Forderungen, Einstellungen und Erwartungen an die Leistungspflichten der sozialen Ordnungen, in denen sie leben. Deshalb ist trotz verstärkter Kritik in den europäischen Ländern auch in den letzten Jahrzehnten keine grundsätzliche Abkehr vom Wohlfahrtsstaat zu verzeichnen gewesen. Das deutet schon an, dass es unzulänglich ist, den Wohlfahrtsstaat nur als politisches und ökonomisches System zu beschreiben; es handelt sich letztlich auch um eine "wohlfahrtsstaatliche Kultur", die sich im letzten Jahrhundert (aufder Grundlage von Elementen der Jahrhunderte davor) entwickelt hat. Sie definiert nicht nur die Spielräume, die den Systemen Politik und Ökonomie eingeräumt werden, zu ihr gehören auch sozialstaatliche Praktiken, professionelle Standards, Legitimitätserwartungen, Angemessenheitsideen, Gerechtigkeitsvorstellungen, Standards der In manchen Fällen werden die Geschlechter getrennt angefiihrt, in manchen Fällen wird jedoch aus sprachästhetischen Gründen die konventionelle Variante bevorzugt. In diesen Fällen sind natürlich beide Geschlechter gemeint. Die vorliegende Arbeit ist drittmittelfrei und somit nur der Wissenschaft verpflichtet.
Das wohlfahrtsstaatliche Weltbild in der Postmoderne
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Selbstverständlichkeit. Deshalb sind die meisten Verhaltensmodelle, die in den Kontroversen um den Wohlfahrtsstaat benutzt werden, von unangemessener Grobschlächtigkeit. Wenn die Psyche der "Insassen" des Wohlfahrtsstaates beschrieben werden soll, beschränkt man sich meist auf einfache Reiz-Reaktions-Bilder oder schlichte Rationalverhaltensmodelle. Die üblichen Aussagen übersteigen nicht das Subtilitätsniveau von "Gesetzlichkeiten" wie etwa: Höhere Arbeitslosengelder schwächen die Leistungsbereitschaft. Steigende staatliche Familienleistungen erhöhen die Geburtenzahlen. Wenn man den ersten Krankenstandstag unbezahlt lässt, dann senkt dies den Missbrauch. Wenn die Reichen ausgiebiger besteuert werden, lassen sich alle sozialpolitischen Vorhaben finanzieren. Diese und andere oberflächliche Behauptungen plagen sich kaum damit, die komplizierte Psyche der Individuen, die mit ihrem Geschick in modernen Industriegesellschaften fertig zu werden trachten, auszuloten. Deshalb behandeln wir in der Folge Phänomene, die man als "wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein" oder "wohlfahrtsstaatliches Weltbild" bezeichnen könnte. Es ist die Frage nach der "Kulturbedeutung" des Wohlfahrtsstaates, in der sich die damit verbundenen Fragen2 zusammenfassen lassen. Unser Thema zielt nicht darauf, Zufriedenheitsbekundungen empirisch abzuhandeln: also Fragebogenergebnisse, die zu quantifizieren trachten, wie Menschen ihre Lebenssituation im Großen und Ganzen beurteilen, wie sie sozialpolitische Programme des Staates einschätzen, in welchen Positionen sie Kürzungen oder Erweiterungen vorschlagen, und dergleichen mehr. Das ist anerkannter Bestandteil nationaler und internationaler Surveys. Es sind eher kulturelle Sondierungen, um die es in der Folge geht, und sie lassen sich, in simplifizierender Kürze, in sechzehn Stichworte ordnen. Die ersten vier Stichworte zielen auf ,,klassische Kategorien" der Analyse des Modemisierungsprozesses: Es handelt sich um Rationalisierung, Säkularisierung, Fortschritt und Individualisierung. Weitere vier Stichworte beziehen sich 2
Wenn wir Mentalitäten, Wahrnehmungen und Verhal1ensdispositionen im Wohlfahrtsstaat zum Thema machen, wird offenkundig, dass zumindest drei Pakete von Fragen zu untersuchen sind. Das erste Fragenpaket bezieht sich aufWahrnehmungs- und Interpretationsprobleme: Wie wird der Wohlfahrtsstaat wahrgenommen? Welche Vorstellungen von ihm bestehen in seiner Klientel? Gibt es verschiedene Paradigmen des Sozialstaates, und lassen sie sich nach sozialen Kategorien differenzieren? Wie ändern Erfahrungen von Wirtschaftszyklen, politischen Programmen und intellektuellen Moden diese Paradigmen? Das zweite Fragenpaket bezieht sich auf die geistigen Einflüsse, die das Gesicht des Wohlfahrtsstaates prägen: Welche Vorstellungen über den Gang der Geschichte, die Machbarkeit der Politik und das Glück der Menschen haben den Sozialstaat und seine Institutionen geformt? Wie wirken die Schwankungen des Zeitgeistes auf seine Ausgestaltung? Und das dritte Fragenpaket zielt auf die umgekehrte Wirkungsrichtung: Wie prägt der Wohlfahrtsstaat langfristig die psychischen Dispositionen der "Wohlfahrtsbürger"? Inwieweit produziert er Zufriedenheit oder Glück, Abhängigkeits- oder Befreiungsgefiihle, Sicherheit oder Verunsicherung, Solidarität oder Egoismus?
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auf ,,modeme Kategorien" der Gesellschaftsanalyse, und sie lauten: Wohlstandsgesellschaft, technokratische Gesellschaft, hedonistische Gesellschaft und Globalisierung. Es schließen sich vier Stichworte an, die man als ..Krisenkategorien" des Wohlfahrtsstaates bezeichnen könnte: Paternalisierung, Dekommodifizierung, Rent-seeking und Bürokratisierung. In den abschließenden ..Kategorien der Lebensqualität" komme ich auf die Zufriedenheit im Wohlfahrtsstaat, aufLegitimität, auf die ..Gemütsruhe" und das Glück der Individuen zu sprechen.
1. Klassische Kategorien - auf dem Weg in die moderne Welt
1.1 Rationalisierung - kollektive Wohlfahrtsansprüche im eisernen Gehäuse einer unwirtlichen Moderne Der modeme Kapitalismus erwuchs, wie Werner Sombart formuliert, aus jenem Geist, ..der seit dem ausgehenden Mittelalter die Menschen aus den stillen, organischen gewachsenen Liebes- und Gemeinschaftsbeziehungen herausreißt und sie hinschleudert aufdie Bahn ruheloser Eigensucht und Selbstbestimmung" (Sombart 1991, I 327). Der Erwerbstrieb beschränkt sich nicht mehr auf den wirtschaftlichen Bereich, sondern greift über in alle Lebensbereiche, er entwickelt die Tendenz, ..über die gesamte Wertewelt den Primat der Geschäftsinteressen zu proklamieren" (Sombart 1959 (1931), 259). Kar1 Polanyi äußert sich ähnlich: Der moderne Kapitalismus sei eine Gesellschaft, in der das ökonomische System nicht mehr in das gesellschaftliche System eingebettet sei, sondern in der es eine vorrangige Stellung einnehme. Die Logik von Tauschprozessen bestimme immer größere Teile menschlicher Interaktionszusammenhänge (Polanyi 1979). Bei Max Weber finden wir eine noch dramatischere Perspektive: Er beschreibt einen Prozess, in dem sich das stahlharte Gehäuse allseitiger Rationalisierung aufbaut, durch die kalkulationsfördernde Dynamik des Kapitalismus gleichermaßen wie durch Versuche seiner administrativ-patrimonialen Domestizierung (Weber 1976). Dass die Modeme als geistiges und strukturelles Rationalisierungsgeschehen beschrieben werden muss, scheint auch vielen anderen Sozialwissenschaftlern ein überzeugender Vorschlag zu sein, von Norbert Elias bis Jürgen Habermas (Elias 1978179; Habermas 1988). Die modeme Welt sehen viele Sozialwissenschaftler als eine riesenhafte Apparatur, in der die Individuen zu Rädchen degradiert sind. In dieser rationalisierten Gesellschaft konstatieren wir drei Bewusstseinswirkungen. Zum ersten wird durch den Prozess der Rationalisierung (mit seinen Vermarktlichungstendenzen) eine Gesellschaft geprägt, in der sich Rechenhaftigkeit und Eigennutz als anerkannte Logiken des Handelns verbreiten. Gerade das
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macht sie natürlich auch dynamisch und innovativ. Aber die Individuen, die in dieser Gesellschaft leben, werden in ihren Dispositionen und in ihren Verhaltensweisen rechenhafter und eigennütziger. Sie lassen sich weniger von Traditionen, Sitten oder Moralen leiten, herkömmliche Verpflichtungen (etwa zur Hilfe im Verwandtschaftskreis) bröckeln, man beginnt, alle solchen Verpflichtungen zu hinterfragen. Die solidarischen Potentiale, die für das Zusammenleben in Kleingruppen unterstellt und oft in pittoresk-romantischen Bildern beschrieben werden (in Bildern, die manchmal auch die Härten des Zusammenlebens in einfachen Gesellschaften unterschätzen oder verschweigen), gehen verloren. Die Individuen werden individualisiert: Das ist ein Freiheitsgewinn, aber sie sind auch auf sich selbst zurückgeworfen. Sie können mit individuellen Tugenden, die sich im altruistischen Beitrag zur gemeinsamen Wohlfahrt wie in zwischenmenschlicher Hilfeleistung ausdrücken, nicht mehr viel anfangen. Man schaut stärker auf sich selbst. Man lernt, Verpflichtungen anderen gegenüber abzuwiegeln oder hinwegzuinterpretieren. Aber die Bedürfnislagen, die Hilfe erfordern, fallen deshalb nicht weg, und an dieser Stelle kommt der Wohlfahrtsstaat ins Spiel, der Schritt für Schritt ausgebaut wird: Gerade dem rationalen, kalkulierenden Bewusstsein gilt der Wohlfahrtsstaat in seinen Risikosicherungs- und Umverteilungsfunktionen als vorteilhaftes kollektives Arrangement, welches die Individuen entlastet. Man kann ihm die eigenen Verpflichtungen übertragen. Zweitens, wohlfahrtsstaatliche Gegenmaßnahmen umgreifen die Menschen in einer Zangenbewegung: Bürokratisierung von oben und Nivellierung von unten ergänzen einander (Baier 1989, 56). "Der Wohlfahrtsstaat ist die Legende des Patrimonialismus", sagt Weber (Weber 1976, 652). Die neuen Lebensrisiken des industriellen Kapitalismus werden kompensiert, mit den Mitteln der formalisiertbürokratischen Zweckanstalt, die der moderne Staat darstellt. Die aus ihren traditionellen Milieus freigesetzten Individuen, die soeben erst in ihre Selbständigkeit entlassenen Bürger werden von den Apparaturen der Herrschaft wieder eingeholt und heimgeholt. Der wohlfahrtsstaatlich legitimierte Arm rationalisierter Bürokratien erreicht sie auch im Elend. Das hat natürlich seine Vorzüge, denn erst die in die letzten Täler des Landes reichende Effizienz des politischen Rationalisierungsprozesses erfüllt die Versprechungen, die in den bürgerlichen Verfassungen verbal glanzvoll ausgeführt worden sind. Nun darfdie gewonnene politische Freiheit auch wirklich "gekostet" werden, weil einem der bittere Geschmack des Verelendungsrisikos nicht jede Freude daran vergällt. Sozialpolitik ist die materielle Unterfütterung von Demokratie und Liberalität. Man darf sich an einer Freiheit erfreuen, deren Risiken auf ein akzeptables Niveau beschränkt werden. Vorteile nach oben hin bleiben erreichbar, während Gefahren nach unten hin abgepolstert
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werden. Die sozialpolitisch angereicherte soziale Marktwirtschaft weist eine günstige Asymmetrie auf, und das macht ihre Attraktivität aus. Die beiden beschriebenen Entwicklungen ergänzen sich zu einer dritten Wirkung. Die Sozialapparaturen des überall präsenten Staates trachten danach, Rationalisierungsfolgen, die sich als potentiell destruktiv erweisen, in den Griff zu bekommen, und sie ermöglichen gerade dadurch das weitere Voranschreiten des Rationalisierungsprozesses. Sozialpolitik ist Modernisierungsinstrument. Sie ist nicht nur Innovationshemmnis, sondern auch Innovationsförderung. Der Rationalisierungsprozess der Moderne schafft in seiner Prämierung rational-kalkulatorischen Denkens, in seiner Forcierung kühler Zweckmäßigkeit, in seiner Legitimierung bürokratisch-technischer Verfügbarkeit die Grundlagefür ein umfassendes wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein, :für die Zuweisung der generellen Wohlfahrtsstiftungsfunktion an den modemen Leistungsstaat. Sozialpolitische Gestaltung ist in dieser Perspektive nicht nur modernisierte Caritas, sondern auch innovative Ressource. Sie gehört ganz einfach zum Design der modemen Gesellschaft. Die Durchsetzung dieses Bewusstseins sowie der davon getragenen Zweckapparaturen des modemen Sozialstaates macht den weiteren Rationalisierungsprozess, der ansonsten in Elend und Verweigerung scheitern müsste, möglich. Sozialpolitik repariert also nicht nur Konstruktionsschwächen in der modemen Maschinerie, sondern generiert ein grundlegend anderes Verständnis der Gesellschaft. Darin liegt freilich auch schon wieder jene ständige Ambivalenz in der Einstellung zum Wohlfahrtsstaat begründet, die seine ganze Geschichte begleitet hat.
1.2 Säkularisierung - die substitutive Funktion des Staates bei der Schaffung neuer Geborgenheit Die Entwicklung der modemen Industriegesellschaft geht einher mit dem Prozess der Säkularisierung. Dies hat - wie Gustav Schmoller vermerkt - einerseits zur F01ge, "dass der Glaube und die Hoffnung auf ein besseres, die irdischen Ungerechtigkeiten ausgleichendes Jenseits nicht mehr in dem Maße auf die große Menge in einer selbst mit Ungerechtigkeiten und Härten versöhnenden Weise zurückwirken kann wie früher" (Schmoller 1898, 156). Schmoller verweist also darauf, dass die Kompensationsfunktion der Religion - der Glaube als Opium des Volkes, das die Leiden und Unzulänglichkeiten dieser Welt vergessen macht oder ertragen lässt in der Modeme verloren geht; das ist zumindest in Europa :fI.ächendeckend der Fall, freilich viel weniger in anderen modemen Territorien der Welt. Mittlerweile ist von einer "postmodernen Religion" (Barz 1992a), von einer ,,Religion ohne Institution" (Barz 1992b), von einer "Sozialreligion" (Fürstenberg 1999), von einer "Diesseitsreligion" (Honer et al. 1999) die Rede. Jeder ist sich selbst sein Gott (Knoblauch
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2000). Wir befinden uns in einem Stadium ,jenseits der Erlösung" (Gross 2007). Es ist eine "unsichtbare Religion" (Luckmann 1991). Andererseits hat der Bedeutungsverlust der institutionalisierten Religion auch zur Folge, dass "der modeme Staat noch mehr als bisher einzelne Funktionen zu übernehmen (hat), die früher der lUrche anheimfielen" (Schmoller 1898, 157). Schließlich boten die durchsetzungskräftigen lUrchen Europas eine Parallelstruktur zur staatlichen Organisation, die sich vieler dringender Gesundheits-, Pflege- und Armutsprobleme, oft mit gutem Erfolg, angenommen hat. Wir haben es also mit einer subsidiären Übernahme von sozialen Sicherungsfunktionen durch den Staat zu tun. Der Wohlfahrtsstaat tritt somit das Erbe der Kirche in zweierlei Hinsicht an. Zum einen übernimmt er substituierende Funktionen für bedrohliche Lebenslagen, die in der traditionellen Gesellschaft von kirchlichen Institutionen erbracht wurden, soweit Familie, Nachbarschaft und Gemeinschaft nicht ausreichend waren; wenn die lUrchen bröckeln, braucht es mehr Staat. Zum anderen wird der Staat selbst zum Religionsersatz, indem er als handlungsrnächtige Instanz jene Sicherheit suggerieren muss, die früher (in umfassenderer Weise) die Geborgenheit in einer religiös gedeuteten Welt gewährleistet hat. Dem Staat bleibt, wie Ernst-Wolfgang Böckenförde gezeigt hat, schon in seinem eigenen Interesse nichts anderes übrig, als entsprechende Suggestionen aufzubauen; denn die Bindungs- und Rechtfertigungskraft der Religion hat seinerzeit in Europa für ihn sozial bindende und politisch legitimierende Wirkungen entfaltet, und mit dem Bedeutungsverlust der Religion und der Peripherisierung der religiösen Instanzen brechen Stützpfeiler der politischen Herrschaftsapparatur weg (Böckenförde 1991). Der Staat muss seine Tätigkeit anders rechtfertigen. Etwa durch Freiheit: Er könnte auf seine freiheitsverbürgenden Garantien setzen, seine Bürger also mit dem Verweis auf Menschen- und Bürgerrechte für sich zu gewinnen suchen; aber es ist zweifelhaft, ob allein aus dem Bewusstsein der gewonnenen Freiheit sich jene Ligaturen gewinnen lassen, die Legitimität sowie Kontinuität und Bestand des Staates sichern. Oder durch die Nation: Auch der zeitweilig einheitsstiftende Nationalismus ist - nach dem Dahinschwinden des 19. Jahrhunderts, das in dieser Einigungsvorstellung integrationsstiftende Ressourcen zu finden hoffte - geschwächt, durch Prozesse der Globalisierung, Europäisierung und Kosmopolitisierung. Zeitweilige Erscheinungen von Fremdenfeindlichkeit sind kein Indiz dafür, dass sich mit nationalistischen Mitteln ein "einig Volk" herstellen ließe. Also bleibt die Wohlfahrt: Der Staat macht sich über die in den Hintergrund tretenden klassischen Staatsfunktionen hinaus (Grimm 1996) zum Erfüllungsgaranten der eudämonistischen Lebenserwartungen seiner Bürger. Er verspricht Wohlstand, Obsorge, Sicherheit, Glück. Er verspricht das Heil in dieser statt in der anderen Welt.
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Er findet seinen Zweck immer mehr darin, vorsorgende, sozialgestaltende, eben wohlfahrtsstaatliche Politik zu treiben und als Gegenstück für diese Leistung Folgebereitschaft von seinen Bürgern (und Wählerstimmen) zu heischen. In trivialer Form: Legitimität gegen Geldgeschenke. Sozialstaatliche Verteilungspolitik beruht schließlich nicht aufweltfremden Idiosynkrasien verwirrter Politiker, sie ist solide verwurzelt in den Erwartungshaltungen der Bürgerinnen und Bürger.
1.3 Fortschritt - die Dynamisierung der Ansprüche in einer gestaltbaren Welt Indem die modeme Welt aus ihren traditionellen Bindungen heraustritt, wird sie zu einer dynamischen, wandelbaren Größe. Das Signum der Modeme ist die gerichtete Veränderung, ein optimistisch gedeuteter, "aufwärts" führender Wandel: ,,Fortschritt" (Aron 1970; Bury 1955; Gould 1999; Illich 1983). Dieser Prozess wird zunächst als "naturwüchsig" sich vollziehender gedeutet, als Prozess, der sich nichtbeabsichtigten Wirkungen verdankt und sich hinter dem Rücken der Menschen vollzieht. Sobald aber das eschatologische Erbe, das ihn zunächst getragen hat, einer weitergreifenden Säkularisierung zum Opfer fällt, wird der Mensch zum Meister dieses Fortschritts. Er wird zum Handelnden, zum Schaffenden, zum Gestaltenden, zum Organisierenden. Er wird zum Herr der Geschichte, zum Kreator einer neuen Welt, gar zum Schöpfer eines neuen Menschen (Martin 2005; Bruce 2002). Damit wird alles besser. Die Zeit wird reflexiv, die Zukunft eine irgendwann einmal erlebbare Gegenwart (Koselleck 1985). Man "erlebt" den Fortschritt durch den Fortschritt, im wörtlichen Sinn: Die Entwicklung der Medizin macht die jederzeit mögliche Gefährdung des Lebens zu einem eher abstrakten Risiko, jedenfalls zu einem Risiko, das nicht mehr von der alltäglichen Erfahrung (des jederzeit möglichen Todes) getragen wird, sondern das zu einer statistischen Größe verblasst. Aber durch die kalkulierbare Verlängerung des Lebens kann der Einzelne dieses Leben planen. Der Tod ist fern. Man muss nicht mit dem jederzeitig möglichen Ableben rechnen, sondern kann auf die hohe Wahrscheinlichkeit bauen, den biologisch-medizinisch möglichen Spielraum (bis rund um das achtzigste Lebensjahr) zu nutzen. Man kann beginnen, seine Familienbeziehungen auf längere Sicht zu gestalten, seine Gesundheit zu bewahren, in die Qualifizierung für seine Arbeit zu investieren. Man kann gleichsam die doppelte Fortschrittsspanne in der äußeren Welt überschauen: 80 statt 40 Jahre sind im Blickfeld, und in einer turbulenten Gesellschaft tut sich in diesen Jahrzehnten vieL Wenn die großen Risiken beseitigt sind, werden freilich die kleinen Risiken wichtiger. In den westlichen Luxusgesellschaften gibt es keine Hungersnöte mehr, aber Epidemien der Fettleibigkeit. Große Pestepidemien treten nicht mehr auf, aber Phänomene wie eine Vogelgrippe jagen Wellen der Panik durch die westli-
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chen Großstädte. Es ist der "Prinzessin aufder Erbse"-Effekt. Die kleinen Schönheitsfehler werden zum Horror. Die umfassende Risikobeseitigung lässt jene Risiken, die nun doch schicksalhaft auftauchen, als solche erst ins Bewusstsein treten (Luhmann 1981, 1991). Wenn die Katastrophen wie die Blitzschläge aus heiterem Himmel eintreffen, unvorhersehbar, unvermeidbar, tödlich, dann ist es müßig, sich damit zu beschäftigen. Not lehrt beten, aber sonst nicht viel. Doch die modeme Gesellschaft hält sich zugute, dass die Kausalketten im eigenen Zugriffsbereich liegen und prognostisch in die Zukunft verlängert werden können. Dann entsteht, manchmal vielleicht nur als Illusion, die Vorstellung von der Eingriffsfähigkeit, von der Machbarkeit, von der Vorhersehbarkeit, von der Abwendbarkeit. Wenn dies aber möglich ist, kann das Schutzverlangen mit Recht in den politischen Forderungskatalog aufgenommen werden. Die Proklamation vieler Fortschritte in allen Dimensionen lässt die Forderung nach den Schutz vor schicksalhaften Rückschlägen, letztlich auch nach der Beseitigung verbliebener Unbequemlichkeiten entstehen. Der sozialpolitische Gestaltungsanspruch baut sich auf. Es hat einen Sinn, vorzusorgen, und es ist möglich, vorzusorgen. Damit wächst der politische Anspruch auf kollektiv-planende Vorkehrungen gegen zukünftige Risiken. Man schreitet nicht mehr bewusstlos und schicksalsergeben in die Zukunft; man will die Zukunft in den Griffbekommen. Die Politik soll es tun. Der Wohlfahrtsstaat soll es tun. Es ist skandalös, wenn es nicht geschieht. Risiken sind keine Schicksalsschläge, denn Schicksalhaftigkeit wird als solche nicht akzeptiert; wahrgenommene Risiken sind Beweis des Politikversagens. Die dem Fortschritt verbundene Machbarkeitsidee, oft nachgerade übersteigert zu Heilserwartungen, die in eine empirische Welt projiziert werden, setzt Kräfte frei. Wenn der Gedanke des Schicksals keine Überzeugungskraft mehr besitzt, werden umfassende Ansprüche an den Wohlfahrtsstaat freigesetzt. Wenn der Mensch verantwortlich ist für die Zustände und Entwicklungen in dieser Welt, ist seine intellektuell-konstruktive Durchgriffskraft solange nicht zur vollen Entfaltung gelangt, als seine Lebensqualität Unvollkommenheiten aufweist. "Der Schluß liegt nahe, Zuständigkeit und Verantwortlichkeit zu konzentrieren, um den Fortschritt zu einem wirklich absichtsvollen und damit beherrschten Prozeß zu machen. Die einzige Instanz aber, die zur Übernahme dieser Aufgabe prädestiniert ist, ist der neuzeitliche Staat, der sich selbst mit seinem historischen Auftreten bereits als wirkungsmächtigster Gestalter der Geschichte empfohlen hatte" (Matz 1977, 93). Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist, insoweit und weil es auf den fortschrittssichemden Staat baut, ein progressistisch-konstruktivistisches Bewusstsein. Risiken sind deshalb so prekär, weil die Individuen in einer komplexen Gesellschaft vielfach über keine Einschätzungsmöglichkeiten für Ereignisse besit-
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zen. Natürlich mögen wir uns in eine Wissensgesellschaft hinein bewegen; aber über einen Großteil des Wissens, das erforderlich wäre, um vernünftige Entscheidungen im alltäglichen Leben zu fällen, verfügen wir nicht mehr. Der Unwissenheitsquotient steigt immer weiter. Die direkte Erfahrung mit einem steigenden Teil der umgebenden Lebensverhältnisse fällt aus; die Wirklichkeit wird nur noch aus zweiter Hand erfahren. Selbst das erwähnte Vertrauen in Wissenschaftler, Experten und Politiker sinkt (mit Recht) mit der steigenden Bildung. Kemtechniken, Informationstechniken und Gentechniken bergen unkalkulierbare Risiken (Beck 1986; Perrow 1987). Die Fülle der Informationen aus aller Welt verschärft die Unsicherheitsgefühle; nicht nur mit lebenspraktischen Unsicherheiten sind die Menschen der modemen Industriegesellschaft konfrontiert, sondern auch mit Katastrophen, Kriegen, Revolutionen und Hungersnöten in aller Welt (Douglas 1991, 233f.). Es gibt auch keinen Halt mehr in weltanschaulichen, utopischen Sicherheiten. "Der Horizont der Zukunft hat sich zusammengezogen und den Zeitgeist wie die Politik gründlich verändert. Die Zukunft ist negativ besetzt", stellt Jürgen Haberrnas fest (Habermas 1985, 143). Fortschrittsglaube und Misstrauen gehen Hand in Hand. Zwar wird in wiederholten Meldungen immer wieder einmal "der Krebs besiegt", aber noch häufiger warnen die Experten vor undurchschauten Wirkungen von Lebensmittelzusatzstoffen. Das unbegrenzte Vertrauen in modeme Forschungsergebnisse wird paradoxerweise begleitet von einem weitverbreiteten Vertrauen in die Existenz von Ufos. Unsicherheiten drängen zur Kompensation, zumindest zu einer partiellen Wiedergewinnung von Sicherheiten, und der Wohlfahrtsstaat bietet einen teilweisen Ersatz für geschwundene Stützen des Vertrauens und Selbstvertrauens. Die alte Politik war eine des Mangels, die modeme Politik ist eine der Ängstlichkeit. Wenn sich Ängste an beliebigen Phänomenen festmachen können, dann ist nichts so unwichtig, dass es nicht auch staatliche Aufmerksamkeit erregen und einen Regelungsbedarf auslösen könnte. Der Staat wird als zweckrationale Organisation für "komplexe, konfliktanfällige und erfolgsungewisse Aufgaben" (Eichenberger 1977, 105) gedeutet und eingesetzt. Das Individuum flüchtet in die breiten Arme des versprechungsfreudigen Staates, in die "Sicherheit". Sie wird ihm ständig angeboten, versprochen, als attraktiv hingestellt. Die modemen Medien verstärken jede Beschwerde, jedes Unbehagen, jeden Mangel; aber sie bieten auch die Plattform für jene politischen Versprechungen, ohne die kein politischer Wettbewerb bestritten werden kann. Dort scheint es Sicherheit zu geben, die staatlichen Institutionen übernehmen jene Sorge, die bei Verwandten und Nachbarn nicht mehr vorauszusetzen ist. Die sozialen Sicherheitssysteme gehören zu jenen Strukturen, die in einer diffus-gefährlichen Welt das Gefühl vermitteln, noch tragfähig zu sein. 4
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Das Bewusstsein der Modeme ist gerade deshalb, weil es derart verunsichert ist, ein wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein. Der Zusammenhang ist wechselseitig: Die Verunsicherung drängt zum Sozialstaat, und der Sozialstaat zeichnet das Bild einer unsicheren Welt, um seine eigenen sicherheitsverbürgenden Strukturen umso attraktiver erscheinen zu lassen.
1.4 Individualisierung - der Verlust traditioneller Bindungen und das Erfordernis neuer Wohlfahrtssysteme Die modeme Marktgesellschaft verallgemeinert die Konkurrenz und egalisiert die Individuen in ihren bürgerlichen Rechtsverhältnissen. Damit ist jeder auf sich gestellt, vereinzelt und vereinsamt. Zwar ist er durch die Marktverhältnisse in immer längeren Handlungsketten mit anderen verflochten, doch aus konkreten sozialen Einbettungen wird er herausgelöst. Der Individualisierungsprozess löst Bindungen auf: das "dichte" Zusammenleben der Dörfer und Regionen; die homogenen Milieus ländlicher, bürgerlicher oder proletarischer Art (Mooser 1983); selbst die Kemgruppe sozialen Lebens, die Familie. In ihrer Erosion erleben wir die Auflösung letzter Reste traditioneller sozialintegrativer Elemente. "In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Modeme wird die familien- und ehelose Gesellschaft unterstellt. Jeder muß selbständig, frei für die Erfordernisse des Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien,behinderte' Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft - es sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen, alleinerziehenden Vätern und Müttern auf' (Beck 1986,191). Die modeme Erwerbsgesellschaft schafft sich ein Menschenbild, welches, deskriptiv und normativ gedacht, den Bedingungen der Wirtschaftswelt angemessen ist. Die Grenzenlosigkeit des Erwerbs bedarf einer Rechtfertigung, da doch die alten Tugenden der Mäßigung, der Bescheidenheit und der Bedürfnislosigkeit der Logik der marktwirtschaftlichen Luxuswelt widersprechen. Der homo oeconomicus, der subtile Tüftler von Zwecken und Mitteln und Maximierer seines Nutzens, wird von der Sozialwissenschaft in langem Ringen nicht nur zum Prototyp des wirtschaftlich handelnden Menschen, er wird vielmehr zur Inkarnation des Rationalitätsprinzips der modemen Welt schlechthin. Die auf das Lob des Marktmechanismus geschrumpfte Wohlfahrtstheorie kann von einem Modell, das bloß bestimmte interaktive Mechanismen beschreibt, zu einem sozialethischen Modell gemacht werden: Auf seinen eigenen Vorteil zu achten, führt zur gesellschaftlichen Harmonie. Was bei Adam Smith eine plausible Paradoxie auf sozialphilosophischer Grundlage war, wird in der späten Modeme zu einem praktischen Karrie-
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reratschlag: Wir brauchen Menschen, die "hungrig" sind, die mehr, ja alles wollen, und das sofort. Die Wirtschaftswissenschaft verwandelt ihre Idealtypisierung in eine Idealisierung, und da das Business-Leben über eine wirksame Propagandamaschinerie verfügt, sickert ein wenig davon in das allgemeine Bewusstsein ein. 3 Lange Zeit ist der Erfolgstyp der Modeme noch einem Leistungsdenken verpflichtet, wie es einer meritokratischen Gesellschaft geziemt. Erst am Ende des 20. Jahrhunderts wird auch dieses abgebaut, zugunsten eines spielerischen Denkens, für welches die Börse oder das Spielcasino ein Modell abgeben. Die Spätmoderne wird zu einer Gambling-Society. Nun werden die ethischen Anforderungen minimiert; nun rechtfertigt der Erfolg sich selbst (prisching 2009, 125ff.). Impulse dafür hat nicht nur die jüngste Wirtschaftskrise gesetzt, schon in den letzten Jahrzehnten war die Botschaft, zumal an die Jugendlichen, deutlich: Mit harter Arbeit ist nicht mehr viel zu machen. Wer Erfolg hat, weil er zur richtigen Zeit die richtigen Tipps bekommen hat, Aktien zu kaufen; weil er als Jugendlicher eine Internetadresse erworben hat, die er wenige Jahre später um Millionen verkaufen kann; wer also einen solchen Erfolg hat, der bedarf keiner Rechtfertigung.4 Individualisierung bedeutet auch, nach der Beobachtung vieler Sozialwissenschaftler, eine Tendenz zum Nihilismus und Narzissmus (Lasch 1995a). Individualisten müssen eine einzigartige Identität entwickeln, und der Zwang, dies in einer geltungsfeindlichen Gesellschaft zustande zu bringen, überfordert sie. Es bleibt eher bei einer prekären Identitätsbastelei, einer Bastelexistenz (Ritz1er 2001; Prisching 2009). Doch die leitende Idee ist die, dass man bei der Ausformung dieser 3
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Die normative Funktion des Leitbildes, das durch das Modell der Nutzenmaximierung als "rationa1er" Handlungsmaxime geboten wird, wird unter der Hand in ein deskriptives Modell, eine empirische Hypothese über tatsäcWiches Handeln der Individuen, verwandelt. Das formallogische Prinzip des Rationalverhaltens wird zudem unter der Hand substantiell angereichert: Nicht mehr um inhaltlich unbestimmte Ziel-Mittel-Verhältnisse geht es, sondern um die Maximierung des Gewinns und die Verfiigung über Güter. Das Erwerbsprinzip wird in das Rationalitätsprinzip geschmuggelt. ScWießlich wird das metaphysische Modell eines vollkommenen Systems mit den Illusionen des traditionellen Utilitarismus angereichert: Dem individuell rationalen (bereits als egoistisch definierten) Handeln wird versichert, es trage zum allgemeinen Besten, zum GemeinwoW, zur Wohlfahrt und zur gesellschaftlichen Harmonie bei. Das verschafft ein gutes Gewissen. Das marktlogische Modell wird zur handfesten Legitimation nutzbar. Man muss dann subtile theoretische Konstruktionen vornehmen, um diesen Egozentriker mit kooperativen Verhaltensweisen vereinbar zu machen. Die Entgegensetzung dessen, der es geschaffi: hat, mit dem, der irgendwo an der Peripherie der Gesellschaft oder auch nur in der Normalität des Daseins verharrt, ist hinsichtlich der staatlichen Daseinsvorsorge auch die Entgegensetzung des Zahlers und des Nehmers. Der Erstere beschaffi: dem WoWfahrtsstaat die Ressourcen (obwoWer es bei Nutzung aller Steuervermeidungs-Qptionen nicht wirklich tut), der Letztere holt sich die Gelder ab, um seine Bedürftigkeit zu lindern (obwoW er möglicherweise nicht alle Anstrengungen unternimmt, zur Linderung aus eigener Kraft beizutragen). In solchen Formulierungen werden die latenten Konflikte, die letzten Endes mit jeder Umverteilung einhergehen, spürbar.
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Individualität auf sich selbst horchen muss: das Authentische aus sich herausholen, das wirkliche Ich finden, die tiefsten eigenen Gefühle als Grundlage nehmen. Zu diesem Zwecke muss man in sich gehen, permanent sich selbst beobachten, die eigenen Resonanzen wahrnehmen. Diese Aufgabe führt im Normalfall zu einer narzisstischen Disposition: Wer immerzu damit beschäftigt ist, auf sich selbst zu horchen, der horcht weniger auf die anderen. Er nimmt die anderen möglicherweise nur noch als Schattengestalten wahr, denn das Wichtige ist die eigene Person und das eigene Erleben. Eine solche Haltung muss nicht zu einem Monaden-Dasein geraten, aber eine gewisse Verlagerung der Aufmerksamkeit ist naheliegend. Extrem-Individualisten sind keine bösen Menschen, sie merken bloß nicht mehr so recht, was um sie hemm vorgeht, wie sich Interaktionspartner fühlen oder wer Hilfe bräuchte. Für eine altruistische oder solidarische Haltung ist die postmodernindividualistische Botschaft kein fruchtbarer Boden. Praktisch schlägt sich der theoretische Egozentrismus in der Auflösung von altruistisch-solidarischen und damit individualisierungshemmenden Kooperationsverhältnissen nieder. Eine Reihe sozialer Dienstleistungen kann aber nur in der Zusammenarbeit mehrerer Individuen und in effizienter Weise durch arbeitsteilige Betreuung erbracht werden. Insofern wäre es erstaunlich, wenn die Zurücknahme einer familiären Rollenverteilung (also die Reduktion von Arbeitsteilung und Spezialisierung) nicht einen effizienzsenkenden Effekt hätte. S Die Aufhebung der familiär-partnerschaftlichen Arbeitsteilung allerdings bringt Probleme mit sich, die wiederum zu zusätzlichen Leistungsanforderungen an den Wohlfahrtsstaat führen. Denn die ironischerweise unter dem Schlachtruf der Selbstverwirklichung vorangetriebene "Vermarktlichung", die Anpassung an die alles durchdringenden Marktverhältnisse im Zuge der Universalisierung fungibler Individuen in ihrer Rolle als Arbeitskraft, schaltet die Möglichkeit, viele der herkömmlichen (familiären und partnerschaftlichen) Leistungen (in Bezug aufErziehung, Pflege, Betreuung, Eigenproduktion) zu erbringen, weitgehend aus. Neue, kollektiv ausgestaltete Systeme müssen geschaffen werden, um die früher in kleinen sozialen Einheiten erbrachten Dienste durch (marktförrnig oder staatlich ausgestaltete) Kollektivins5
Das traditionelle Modell ist jenes der familiären Rollenverteilung, bei welcher der (männliche) Partner die Unterhaltsressourcen herbeischaffte, während sich die (weibliche) Partnerin diversen Pflege-, Erziehungs- und Haushaltstätigkeiten widmete und dem in das ,,Normalarbeitsverhältnis" eingespannten "Haushaltsvorstand" also alle "lebensweltlichen Erledigungen" abnahm. Natürlich ist es, von einigen Gegebenheiten abgesehen, keineswegs zwingend, dass diese Arbeitsteilung nach den bisherigen Geschlechterverhältnissen umgesetzt wird. Sie könnte unterschiedlich gestaltet werden, und in der jüngeren Generation gibt es deutliche Ansätze dazu. Hier geht es nur um die Zweifel, ob die Beseitigung dieser Arbeitsteilung (mit der konsequenten Auslagerung aller Betreuungs- und Eigenproduktionsleistungen aus dem Familienkontext) wohlstandssteigemde Effekte hat.
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titutionen zu ersetzen. Diese kollektiven Systeme können marktförmig oder wohlfahrtsstaatlich ausgestaltet sein, es kann sich also beispielsweise um ein privates oder ein staatliches Pflegeheimfür ältere Menschen handeln (und im Hinblick auf ein privates Pflegeheim ist immer noch offen, ob die Finanzierung aus privaten oder aus kollektiven Ressourcen erfolgt). Die vollständige Auslagerung aus dem familiären Kontext treibt das Sozialprodukt in die Höhe, noch mehr aber den Umfang der wohlfahrtsstaatlichen Kassen. Es könnte sich in Wahrheit um eine Organisationsform handeln, die sich eine reiche Gesellschaft leisten kann, obwohl es sich um eine ineffiziente Form der Leistungserbringung handelt. Die Erörterung solcher Fragen wird jedoch in einer Gesellschaft tabuisiert, deren Mitglieder sich entschlossen haben, sich in ihren individuellen Entscheidungen nach Tunlichkeit nicht von moralischen Verpflichtungen einengen zu lassen. Das postmoderne Bewusstsein ist ein individualistisches Bewusstsein, unfähig, die traditionellen sozialen Dienstleistungen zu tragen, und so ist es notwendigerweise auch ein wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein.
2. Moderne Kategorien - Rundblick in der Moderne 2.1 Die Wohlstandsgesellschaft - der Reichtum an Wohlfahrtsressourcen und der Verlust solidarischer Gefühle Der Wohlfahrtsstaat zielt aufdie Sicherung des "guten Lebens" (Harry 1990; Baldwin et al. 1990; Rassem 1972). Wird darunter in verschiedenen Kulturen auch Unterschiedliches verstanden, so gehört doch ohne Zweifel die Befreiung von Not und Elend dazu. Wohnung und Nahrung, ein behaglicher Wohlstand, eine gesicherte Lebensordnung - den Gesellschaftstheoretikern aller Zeiten war klar, dass sich erst auf der Grundlage eines einigermaßen gesicherten Lebens jene Tugenden entwickeln können, die höhere Sittlichkeit den befriedigenden materiellen Verhältnisse hinzufügen. Gesellschaften, die nahe ihrem Existenzminimum leben, haben kaum einen Überschuss, der sich umverteilen ließe. Sie sind relativ egalitär, weil oberhalb des Existenzminimums nicht allzu viel Spielraum ist (Kuznets 1979). Im Entwicklungsprozess kommt dann eine relativ ungleiche Verteilung zustande, weil sich einzelne Branchen, Gruppen und Landesteile schneller entwickeln als ein traditionell bleibendes "Hinterland"; und erst in den reichen Gesellschaften werden die Verhältnisse durch die Wirkungen einer demokratischen Ordnung und einer wohlfahrtsstaatlichen Politik wieder egalitärer. Steigender Wohlstand macht "Wohlfahrtspolitik" möglich, und der demokratische Prozess erzwingt Maßnahmen zugunsten der Bevölkerungsmehrheit. Reiche Gesellschaften steigern übli-
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cherweise aber auch ihre Sensibilität für wohlfahrtsstaatliche Belange. Die Freisetzung von unmittelbaren Überlebenszwängen erlaubt es, über mehr Ressourcen in altruistischem oder egalitärem Sinne zu disponieren (Münnich 1980). Auch AIvin Gouldner hofft: "Eine Welt des Überflusses und der verminderten Knappheit der Güter unterminiert die Reziprozitätsnorm und stärkt die Wohltätigkeitsnorm" (Gouldner 1984, 134). Empirische Belege zeigen in der Tat, dass eine gewisse Korrelation zwischen dem Pro-Kopf-Sozialprodukt und dem Niveau der Sozialausgaben besteht. Das Redistributionsvolumen in den Industriegesellschaften ist in absoluten und relativen Größen enorm angewachsen (Ashford 1986; Mommsen 1982; Flora et al. 1981). Modeme Gesellschaften gewähren Lebensqualität für alle, bei postmodernen Gesellschaften kann man sich über die weitere Entwicklung der Lebensqualitätsverhältnisse nicht mehr sicher sein. Denn es gibt mittlerweile gute empirische Indizien dafür, dass den drei genannten Perioden (von der Gleichheit über die Ungleichheit zur Gleichheit) eine vierte Periode folgen könnte, in der in den sehr reichen Ländern wiedernm starke Polarisierungsprozesse von Einkommen und Vermögen eintreten (Harrison, Bluestone 1988). Es gibt seit einigen Jahrzehnten empirische Anhaltspunkte für diese Entwicklung in den USA, und neuerdings tendieren auch die europäischen Verhältnisse in Richtung auf eine stärkere Polarisierung. Dies würde den Wohlfahrtsstaat stärker beanspruchen, einerseits deshalb, weil der Anteil der Bedürftigen wächst (die trotz Berufstätigkeit aus dem Armutsniveau nicht herauskommen oder die mangels Beschäftigungschancen in die Armut schlittern), andererseits deshalb, weil größere Umverteilungsnotwendigkeiten die oberen Einkommensklassen stärker strapazieren müssen. Dies gilt allerdings nur dann, wenn nicht eine Überzeugungsarbeit erfolgreich ist, aufgrund derer sich die Meinung verbreitet, dass der Sozialstaat ohnehin längst über alle Maßen beansprucht ist oder die unteren Klassen an ihrem Schicksal selbst schuld sind. Solche Anschuldigungen haben die Entwicklung sozialstaatlicher Programme immer begleitet, und im Aufschwung einer neoliberalen Epoche scheinen sie stärkere Resonanz zu gewinnen. Man kann sich also nicht darauf verlassen, dass der Reichtum in den postmodernen Gesellschaften grundsätzlich die Ausübung von Solidarität ermöglicht oder fördert (Prisching 1992, 1993). Viele Beobachtungen stützen den umgekehrten Zusammenhang, dass nämlich materieller Reichtum und ein gesellschaftlich fortgeschrittener Entwicklungsstand eher mit Entsolidarisierung zwischen den Individuen einhergehen. Wo äußerste Knappheit herrscht, ist unsolidarisches Handeln existenzbedrohend und das Risiko, im Bedarfsfall allein gelassen zu werden, ist hoch. Man braucht einander und muss sich aufeinander verlassen können. Un-
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solidarisches Verhalten berührt unmittelbar die Überlebenschancenjedes Einzelnen. In einer reichen Gesellschaft hingegen ist der Zusammenhalt zwischen den Individuen weniger notwendig, unsolidarisches Verhalten ist nicht mehr existenzbedrohend. Der Einzelne ist zwar aufgrund von Arbeitsteiligkeit und Differenzierung viel enger mit anderen verflochten (Durkheim 1992), aber er ist nicht auf einen bestimmten anderen angewiesen. Marktförmige Verhältnisse anonymisieren die Beziehungen, aber sie schaffen insofern Alternativen, als der andere, von dem jeder Einzelne abhängt, austauschbar ist. Solidarität kann durch Konkurrenz ersetzt werden. Aber nicht nur Lieferanten sind substituierbar; im Wohlfahrtsstaat gilt das auch für Helfer. Wahrgenommene Notlagen können immer auch von anderen betreut werden. Die Verlockung ist allgegenwärtig, vom Samariter zum Passanten zu werden, zumal die reiche Gesellschaft sich verpflichtet fühlt, bezahlte Samariter für alle Fälle bereitzuhalten. Der Verweis auf die zuständigen Ämter und Institutionen liegt also nahe. Bevor man zur eigenen Geldtasche greift, frägt man nach Anspruchsberechtigungen und sucht nach den einschlägigen Formularen. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist - trotz der empirisch nachweisbaren "Wohlfahrtsgeneigtheit" moderner Gesellschaften - nicht notwendig ein solidarisches Bewusstsein, und dies ist eine der interessanten Paradoxien im wohlfahrtsstaatlichen Weltbild. Man will die Wohlfahrt für alle, aber man will eine institutionelle Gestaltung, welche die eigene Belastung ausspart.
2.2 Die technokratische Gesellschaft - Wirklichkeitsferne. Erfahrungsverlust und Expertenherrschaft im Wohlfahrtsstaat Der Wohlfahrtsstaat ist der komplexeste Teil jener unübersichtlichen Milieus der modemen Welt, in denen sich die Individuen der Modeme verirren, und die wohlfahrtsstaatlichen Experten erhalten, wie die Technokraten der postindustriellen Gesellschaft generell, eine zentrale, autoritative Stellung. Wenn die Situation unübersichtlich und bedrohlich ist, ist es angenehm, sich auf"weise Menschen" verlassen zu können, die wissen, wo es langgeht. In der Dienstleistungsgesellschaft, der Konsumgesellschaft und der Bildungsgesellschaft hat man zwar Kenntnis vom "Ende der Ideologien" (Bell 1960)genommen, man hat aber im selben Moment die Experten ideologisiert. Experten sind die Verwalter der Lebensqualität. Da die von den jeweiligen Experten fabrizierte Welt, wo immer sie dem Menschen entgegentritt, eine "gemachte Welt" ist, erscheint sie in allen Belangen als machbar, und der individuelle Kompetenzverlust, der mit der Einordnung des Einzelnen in das komplexe Gefüge einhergeht, dringt gar nicht mehr ins Bewusstsein (Illich 1983). Es wird selbstverständlich, dass selbst lebensalitägliche Sachverhalte nicht mehr hinreichend verstehbar sind: Über Ratgeber-Bücher und
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Bildungshaus-Kurse hinaus tut sich ein unendliches Feld zur fürderhin möglichen Ausweitung der Betreuung des sozialpolitisch ungenügend versorgten Bürgers auf (Prisching 2006). Der Einzelne artikuliert seinen Bedarf an hilfsbereiten Experten; Ratschläge in Magazinen und Zeitungsbeilagen drängen zur immer weiteren Expertisierung des Lebens; und es wird immer uneinsichtiger, warum der Wohlfahrtsstaat nicht auch diesen und jenen Ansprüchen nachkommen soll. Um sich greifende Unübersichtlichkeit führt zur um sich greifenden Professionalisierung von Hilfeleistungen: Warum sollte der Wohlfahrtsstaat nicht auch Stillkurse für junge Mütter und Diätberatungen für Individuen in der midlife crisis finanzieren, lässt sich doch weder an der Nachfrage danach noch an Wichtigkeit des richtigen Stillens und korrekten Ernährens zweifeln. Aber wir stoßen wiederum auf einen Widerspruch. Die dauernde Erfahrung der eigenen Hilflosigkeit ruft subkutane Insuffizienzgefühle hervor, und die Erfahrung der Insuffizienz wird zur Normalität. (Berger et al. 1975) Man sucht den Rat der Experten und begegnet ihnen doch mit Misstrauen, weil in Anbetracht der Enteignung des eigenen Lebens ein gewisses Unbehagen wächst. Expertenturn bedeutet Fremdbestimmtheit; auch wenn die letzte Entscheidung beim Kunden bleiben mag, so empfiehlt es sich in der Praxis doch, den Expertenrat hinreichend zu gewichten, denn sonst müsste man die Experten ja gar nicht konsultieren. Mittlerweile hat man zudem auch in vielen Fällen mit den Gegen-Experten Bekanntschaft geschlossen, und das steigert wohl die Verunsicherung (Hitzier et al. 1994). Denn das Feld der Experten ist angesichts der Komplexität postmoderner Verhältnisse in den Auffassungen gespalten, und auch die schärfsten Kritiker bestimmter Gegenwartstendenzen (etwa im ökologischen Bereich) müssen sich auf Experten verlassen. Nur mit Experten kann man gegen Experten angehen. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist ein ohnmächtiges Bewusstsein, es verlässt sich auf die großen Apparate und die weisen Experten; und es leidet zur gleichen Zeit darunter, weil es aufderen Verlässlichkeit nicht vertrauen kann. Sicher ist nur, dass es in immer mehr Lebensbereichen ohne Experten keinesfalls funktionieren kann: von der eigenen Finanzverwaltung bis zur Kindererziehung, von der eigenen FitnessGestaltung bis zur Nahrungszubereitung. Denn auch die Experten sind nicht nur abgehobener Rationalität verpflichtet, sondern haben Interesse an der Ausweitung ihrer Dienstleistungsmärkte. In einer Therapiegesellschaft gibt es nichts und niemanden, der nicht beratungsbedürftig oder gar einer weitergehenden Behandlung zuzuführen wäre (Schelsky 1977). In einer Geschichte der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung darf deshalb dieses neue, mit dem Wohlfahrtsstaat eng verbundene ,,Milieu von Sozialarbeitern, Sozialmedizinern, Sozialversicherungsexperten, Sozialrechtlern, Sozialpolitikem, Angestellten der Sozialbürokratien, Sozialpsycho-
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logen und Therapeuten, die erst durch den Wohlfahrtsstaat Betätigungsfelder oder eine gemeinsame Aufgabe fanden, von ihm und für ihn lebten und sich auch als Advokaten der breiten, vom Wohlfahrtsstaat finanzierten Klientel alter, invalider, kranker, arbeitsloser Europäer verstanden", nicht vergessen werden (Blyth 2002, 35). Diese Experten sind naheliegenderweise Lobbyisten des Wohlfahrtsstaates, denn schließlich geht es um ihren eigenen Markt. Zuschüsse aus öffentlichen Kassen weiten die Nachfrage nach ihren Leistungen aus, und somit plädieren sie unter Berufung auf ihren Expertenstatus für die Notwendigkeit und Unersetzlichkeit ihrer Dienstleistungen.
2.3 Die hedonistische Gesellschaft - die Spielplätze der Wirtschaftsgesellschaft und der wohlfahrts/ordernde Egozentrismus Webers stahlhartes Gehäuse der Modeme bietet etliche Spielräume, was man am Beginn des Jahrhunderts noch nicht absehen konnte; aber schon Daniel Bell hat in den siebziger Jahren auf sie hingewiesen (Bell 1976). Am Ende des 20. Jahrhunderts haben sie sich ausgeweitet, und die offizielle Botschaft der Gesellschaft an die Jugendlichen lautet nicht mehr, sie mögen sich tunlichst rasch an die sozialen Vorschriften und Verhaltensweisen anpassen, sondern ganz im Gegenteil ihre Besonderheit und Authentizität entwickeln. In einer individualistischen Weltsicht können Glück und Zufriedenheit nur aus einer Befriedigung der eigenen Bedürfnisse resultieren. Man kann versuchen, möglichst viel Befriedigung zu erzielen oder möglichst wenig Bedürfnisse zu haben - der Hellenismus wählte den zweiten Weg, die Neuzeit den ersten (Hossenfelder 1992,23). Was ist das Kriterium eines "guten Lebens"? In der modemen Gesellschaft gibt es eine klare Antwort: Es geht darum, möglichst oft und lange einen Zustand psychischen Hochgefühls zu erzielen. In Anbetracht des Reichtums, der zur Verfügung steht, und in Anbetracht der immer steigenden Zahl von Optionen (Gross 1994) bieten sich hierzu viele Wege an, und angesichts der Abundanz ist es schwer, die richtigen Entscheidungen zu treffen, so dass dabei ein lohnendes, interessantes Leben herauskommen möge. Für die Manager der eigenen Subjektivität wird das Vergnügen in der "Erlebnisgesellschaft" zur harten Arbeit (Bell 1976; Schulze 1992,2004). Auf den Spielwiesen, die das dichter werdende, verflochtene, bürokratisch-rationale System offeriert, vergnügen sich hedonistische Individuen mit gespaltenem Selbst (Prisching 2009). Soweit die Systemzwänge reichen, haben sie sich angepasst; soweit Freiräume bestehen, zelebrieren sie Spontaneität. Die Vision der Rationalisierungstheoretiker über die große Maschine, in die alle eingepasst werden, ist deshalb keineswegs obsolet geworden; die Maschine wird nur durch ein dichtes Dekorum individualistischer Gebote behübscht. "Weit davon entfernt, über die von den Zi-
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vilisationstheoretikern unterstellte Souveränität zu verfügen, die es ihm erlaubte, rigide Kontrollen in bestimmten Bereichen zu lockern, scheint das Subjekt eher zum Zerfall zu tendieren: zur Spaltung in ein uneigentliches Selbst, das sich den externen Funktionsimperativen der organisierten Sozialsysteme anpaßt, und in ein eigentliches Selbst, das sich in den Intermundien dieser Systeme entfaltet und überall dort, wo es aufkeine Schranken mehr stößt, den Impulsen seiner jeweiligen emotionalen Befindlichkeit folgt" (Breuer 1993, 36). Hedonismus mag als Gegensatz zur Rationalität, Spontaneität als Gegensatz zum zivilisatorisch erzwungenen Triebaufschub angesehen werden - "Gemeinschaftlichkeit", die in der Lage wäre, in sozialer Bedrängnis hilfreich zu sein, wird jedoch durch die beiden gegensätzlichen Entwicklungen gleichermaßen aufgelöst: Einerseits entwickelt sich der rationale, aus den Imperativen der Systementwicklung gespeiste Egozentrismus, der, kühl rechnend, Wohlfahrtsverpflichtungen loszuwerden trachtet. Andererseits gedeiht - in den Nischen der rationalen Apparaturen - ein hedonistisch-spontaner Egozentrismus, der sich hemmenden Verpflichtungen verweigert. Die Reste dessen, was in der Ideengeschichte als Gemeinschaft bezeichnet worden ist, schwinden dahin, es bleiben temporäre Vergemeinschaftungen, die der jederzeitigen Entscheidung des Einzelnen anheim gestellt sind. Auch die Entscheidung zur Beendigung der Zugehörigkeit ist jederzeit möglich (Prisching 2008). Bei diesen Vergemeinschaftungen handelt es sich weitgehend um lustvolle Aktivitäten: das Pop-Konzert, den Papstbesuch und das Stadtfest. Es sind Anlässe, die sich von jenen Fällen, in denen ernsthaft Solidarität gefordert ist, unterscheiden. Denn die Letzteren sind im Normalfall nicht lustvoll, sondern belastend, und sie erfordern Opfer. Doch die postmoderne Gesellschaft hat ihre Opferbereitschaft nicht allzu intensiv entwickelt. Ihr Selbstverständnis ist anders: Opfer sind Verlierer. Opfer haben ein falsches Management.6 Wiederum kommt der Wohlfahrtsstaat ins Spiel. Denn die spontane Selbstentfaltung, die doch einer der höchsten Werte einer postmodernen Gesellschaft ist, kann innerhalb des selbstdisziplinierenden Gehäuses der Modeme nur ausgelebt werden, wenn kollektive Versorgungsmechanismen dem Einzelnen jene 6
Es gibt eine Ausnahme. Wenn man nicht zu den wirklichen Gewinnern einer spätmodernen Gesellschaft gehören kann, dann ist es die zweitbeste Möglichkeit, sich als Opfer darzustellen, um ein möglichst breites Spektrum von staatlichen Leistungen anzapfen zu können. Auch für die Opfer-Rolle stellt die spätmodeme Gesellschaft ein umfangreiches Argumentationsrepertoire zur Verfügung: Opfer sind Lehrer (bum-out) und Schüler (überfordert), Autofahrer (Melkkuh der Nation)und Radfahrer (von den Autofahrern gefährdet), Arme (weil sie arm sind) und Reiche (weil sie die Armen durchfuttern müssen), Nichtraucher (weil sie die Krebsbehandlung der Raucher finanzieren müssen) und Raucher (weil sie vor Gasthäusern und Büros in die Kälte hinausgetrieben werden), Frauen und Homosexuelle, ethnische Minderheiten und gefährdete Mehrheiten, und alle anderen auch.
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Verpflichtungen von den Schultern nehmen, die seinen Lebensverlauf und seinen Alltag sonst mit durchdringender Kraft prägen würden, und wenn sie von jenen Risiken befreien, die den leichtfüßigen Genuss des Lebens bedrohen. Man kann nicht spontan sein, wenn man sich den ganzen Tag um Kinder kümmern muss. Man kann seine Spontaneität nicht ausleben, wenn man pflegebedürftige Angehörige betreuen muss. Das hedonistische Bewusstsein muss darauf bauen, dass sich routinisierte Verpflichtungen abschieben lassen, und es ist deshalb auch ein wohlfahrtsstaatliches Bewusstsein.
2.4 Globalisierung- die Gefährdung des Wohlfahrtsstaates durch die Weltgesellschaft Trotz aller Einwände - die Globalisierung schreitet voran. Während die Ökonomen fast durchwegs versichern, dass ein globalisiertes Wirtschaftsleben für alle beteiligten Länder und Gruppen Vorteile bringt, sind sich Wählerinnen und Wähler in den entwickelten Ländern dessen nicht immer sicher. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist im Grunde ein nationalstaatliches Bewusstsein, in dem Sinne, dass die Sicherungssysteme von den Mitgliedern einer Gesellschaft (eines Volkes) bezahlt und umverteilt werden. Deshalb ist es naheliegend, dass sich auch die fremdenfeindlichenAversionen vor allem an Vermutungen darüber entzünden, dass sich Zuwanderer ungehindert aus den inländischen Kassen bedienen könnten - von den Familiengeldern bis zu den Pensionsleistungen. Derartige Verdächtigungen lassen sich auch dadurch nicht irritieren, dass empirische Untersuchungen zu ganz anderen Ergebnissen kommen, und auch nicht dadurch, dass die wesentlichen Sozialsysteme nur dadurch aufrechterhalten werden können, dass Immigranten die heimische demographische Lücke füllen. Wesentlich wichtiger sind aber andere Auswirkungen der Globalisierung. Diese könnte unmittelbar zu einer Schrumpfung oder Beseitigung des Wohlfahrtsstaates führen. Manche seiner Kritiker argumentieren mit solchen Hinweisen zugunsten einer erforderlichen Reduktion, während seine Verteidiger damit die schädlichen Effekte der Globalisierung anprangern. In einer verstärkten Wettbewerbssituation seien jene hohen Steuersätze, die zur Finanzierung der Sozialversicherungssysteme erforderlich seien, nicht mehr tragbar, weil das mobile Kapital zu günstigeren Standorten flüchte (Shackle 1955; Lasch 1995b). Der Wettbewerb führe also zu einem Unterbietungswettbewerb, wenn es um Steuern auf der Kapitalseite gehe, während die gesamte Finanzierung des Wohlfahrtsstaates auf den Arbeitnehmern laste: "race to the bottom". Aber auch diese könnten diese Gelder nicht mehr aufbringen, denn auch Arbeitskosten unterlägen dem internationalen Wettbewerb. Zum ökonomischen kommt ein politischer Mechanismus: Investoren hätten ange-
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sichts ihrer höheren Mobilität einen deutlichen Einfluss auf die staatliche Politik, und diese müsse sich ihren Wünschen weitgehend gefügig erweisen, wenn nicht mit "exit" der Unternehmen aus dem Land gerechnet werden solle. Zusammen mit einem neoliberalen Wirtschaftsverständnis, wie es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts seinen Aufstieg vollzogen hat, führe der "grenzenlose" Wettbewerb also zu einer Demontage oder jedenfalls zu einer Reduktion des Wohlfahrtsstaates (Wilson 1993). Das institutionelle Design kompetitiver Standorte müsse sich aneinander angleichen (wobei durchaus ein sozialpolitischer Nachholprozess weniger entwickelter Staaten möglich ist) (Lippmann 1925). Die Verteidiger des Wohlfahrtsstaates argumentieren zunächst mit der empirischen Tatsache, dass wirtschaftlich offene, also stärker globalisierte Länder die umfangreicheren wohlfahrtsstaatlichen Programme hätten. Es sei also falsch, dass internationaler Wettbewerb zu einem Abbau des Wohlfahrtsstaates führe; es mag allerdings sein, dass der Beobachtungszeitraum für eine Beurteilung dieses Zusammenhangs noch nicht ausreicht. Es gibt aber auch theoretische Argumente für die Wettbewerbsstärke eines Wohlfahrtsstaates. Maßnahmen wie etwa Qualifikationsprogramme für Arbeitskräfte gehören auch zum wohlfahrtsstaatlichen Repertoire, und sie stellen wesentliche Wettbewerbsressourcen auf dem globalen Markt dar. Was das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein anlangt, so ist mit widersprüchlichen Wirkungen zu rechnen. Globalisierung stört die nationalstaatliche Ruhe, Strukturen werden umgewälzt, das bewirkt Unsicherheit. Eine derartige Verunsicherung ist politisch nur auszuhalten, wenn sozialstaatliches Eingreifen die gröbsten Verwerfungen mildert. Allerdings gilt auch die förderliche Funktion solcher Eingriffe: Eine erfolgreiche Globalisierung beruht auf der internen Stabilisierungsleistung des Sozialstaates, und sie kann schneller vonstatten gehen, wenn Turbulenzen und Konflikte verhindert werden. Untemehmerische Geister (auf der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite) könnten sich mehr trauen, wenn sie wissen, dass im Falle eines groben Versagens der Absturz aufgefangen wird; und in diesem Falle könnte der Wohlfahrtsstaat kreative und innovative Effekte auslösen. Freilich mag ein sich verbreitendes neoliberales Grundverständnis diesen Weg verunmöglichen, dann nämlich, wenn unternehmerische Kreise den neoliberalen Ideologien mehr trauen als dem praktischen Augenschein, sich also tatsächlich lukrierbare Vorteile entgehen lassen, weil sie vergleichsweise simplen Marktmodellen aufsetzen und Umwegsrentabilitäten außer Acht lassen.
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3. Kategorien der Krise - die Gefährdung des Wohlfahrtsstaates 3.1 Paternalisierung - die Einlullung des liberalen Bewusstseins im autoritären Welfarismus Die Skepsis gegen einen ausufernden Staatsinterventionismus zieht sich ebenso durch die Ideengeschichte wie der Strang jener Forderungen, die den Staat hinsichtlich des guten Lebens seiner Bewohnerinnen und Bewohner in die Pflicht nehmen. Die berühmteste Formulierung wohlfahrtsstaatlich-totalitärer Bevormundung stammt wohl von Alexis de Tocqueville, der in seiner Analyse des Lebens in den Vereinigten Staaten auch prekäre Zukunftsentwicklungen für möglich hält: Über einer Menge ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die geschäftig über ihre private Angelegenheiten besorgt sind, "erhebt sich eine gewaltige, bevormundende Macht, die allein dafür sorgt, ihre Genüsse zu sichern und ihr Schicksal zu überwachen. Sie ist unumschränkt, ins einzelne gehend, regelmäßig, vorsorglich und mild. Sie wäre der väterlichen Gewalt gleich, wenn sie wie diese das Ziel verfolgte, die Menschen auf das reife Alter vorzubereiten; stattdessen aber sucht sie bloß, sie unwiderruflich im Zustand der Kindheit festzuhalten; es ist ihr recht, daß die Bürger sich vergnügen, vorausgesetzt, daß sie nichts anderes im Sinne haben, als sich zu belustigen. Sie arbeitet gerne für deren Wohl; sie will aber dessen alleiniger Betreuer und einziger Richter sein; sie sorgt für ihre Sicherheit, ermißt und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen; führt ihre wichtigsten Geschäfte, lenkt ihre Industrie, ordnet ihre Erbschaften, teilt ihren Nachlaß; könnte sie ihnen nicht auch die Sorge des Nachdenkens und die Mühe des Lebens ganz abnehmen?" (Tocqueville 1984, 814) Die Sorge, dass ein allseits sorgender Staat ihre Freiheitsspielräume einschränken könnte, hat jene schlecht versorgten Massen freilich nicht bedrückt, die sich zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Abhilfe für sozialpolitische Missstände vom Staat erwarteten. Erst im 20. Jahrhundert hat der Staat jene Erwartungen, die an ihn herangetragen wurden, in hinreichendem Maße eingelöst, und damit wurden sie durch ihren Erfolg gerechtfertigt: Was die politischen Apparate Europas nach dem Zweiten Weltkrieg zustande brachten, grenzt an das Unglaubliche. Das wohlfahrtsstaatliche Vertrauen in den Staat wurde nicht enttäuscht, jahrzehntelang wurde das Wohlfahrtssystem getreulich ausgebaut. "Der Staat der Gegenwart steht in der Bereitschaft, ,alle' Aufgaben aufzunehmen" (Eichenberger 1977, 193). Der souveräne Staat ist per definitionem allzuständig, er kann bestimmen, was er tun will und was nicht. Er selegiert seine Interventionen selbst.Die Erwartungen, die sich auf ihn richten, sind hoch - von der "Allzuständigkeit" wird gerne auf die "reale Allfähigkeit" geschlossen. "Die ,Ver-Staatlichung' erscheint als
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unfehlbares Instrument zur Problemlösung" (Eichenberger 1977, 104). Der modeme Wohlfahrtsstaat empfiehlt sich denn auch als Helfer in allen Lebenslagen; er sozialisiert, therapiert und subsidiert seine Bürger, was das Zeug hält. Eine behagliche Einlullung des staatsbürgerlichen Bewusstseins in eine Situation findet statt, in der fürsorgende Instanzen das Leben des Einzelnen in allen wichtigen Aspekten regeln: vom Rauchverbot in Gastlokalen bis zur Anschnallpflicht für Autofahrer - Maßnahmen, deren "Vernünftigkeit" ebenso außer Streit steht wie ihre Verletzung klassischer liberaler Prinzipien. Alles das hat Bewusstseinseffekte: Wenn der Staat viele Risiken abdeckt und sie nach Tunlichkeit auszuschalten trachtet, sinkt die Risikowahmehmungskompetenz der Individuen, ihre Risikobereitschaft und ihre Krisenbewältigungskapazität (Sass 1990, 79). Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein weist Elemente des Infantilen auf. Noch einen Schritt weiter geht der präventiv sorgende Paternalismus, der zuweilen als endgültige Erfüllung eines voll funktionsfähigen Wohlfahrtsstaates angesehen wird: Die Medizin möge Krankheiten nicht nur kurieren, sondern verhindern, die Pädagogik Störungen nicht nur reparieren, sondern abfangen, die Kriminalisten mögen nicht nur Verbrecher fangen, sondern Delikte verhindern (Baier 1989). Prävention aber, umfassend angewandt und bürokratisch implementiert, läuft auf eine die Integrität und Identität des Individuums aufhebende Kontrolle hinaus. Sie bügelt die Individuen auf das Normalmaß zurecht und radiert das Heterogene aus. "Prävention bedeutet das Ende aller Bürgerrechte zugunsten der garantierten Sicherheit, die freilich so durchaus nicht zu garantieren ist" (Narr 1979, 512). In der Tat stößt die präventive Tätigkeit aufkeinerlei Schranke: Der konventionell-expansive Wohlfahrtsstaat musste wenigstens noch bestehende Probleme ausfindig machen, um seine Intervention zu rechtfertigen; der präventiv-expansive Wohlfahrtsstaat muss nur noch potentielle, für die Zukunft vermutbare Probleme aufspüren, um seine Apparaturen in Gang zu setzen. Er wird schon vor jedem Verlangen aktiv, es genügt ein möglicherweise eintretendes Unbehagen als Rechtfertigung seiner Intervention, denn er läuft Gefahr, angesichts des Unbehagens der Ignoranz oder der Untätigkeit gescholten zu werden, wenn tatsächlich Ereignisse eintreten sollten, die von irgend jemandem für möglich gehalten wurden - und irgendwer hat immer schon gewarnt. Der Staat kann natürlich nicht für alle Ereignisse vorsorgen, die jeweils als mögliche Gefährdungen apostrophiert werden; aber wenn ein Unglück geschehen sollte, ist er jedenfalls mit Vorwürfen konfrontiert. Durch die Vorbeugung gegenüber einer Vielzahl von möglichen Schädigungen aber gewinnt er eine unbegrenzte Dynamik. "Seine Tätigkeit verliert auf diese Weise", so vermerkt der Staatsrechtler Dieter Grimm, "ihre punktuelle und retrospektive Ausrichtung und gewinnt einen flächendeckend-prospektiven Charakter, der dem
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absoluten Staat wegen seiner geringen Gestaltungsbefugnisse fremd war. Sozialbereiche, die dem staatlichen Einfluß gänzlich entzogen wären, sind nicht mehr erkennbar" (Grimm 1991,414). Insoweit das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein eine die Turbulenzen des Lebens präventiv einebnende Ordnung als Ideal proklamiert, verwandelt sich sein humanistischer Paternalismus in die totalitäre Perspektive des Kontrollstaates. Auf scharfe Weise hat eine solche Vision jüngst Gerd Habermann beschrieben: Dies würde "eine gegen den Wandel weitgehend gesicherte, ,stabilisierte' , ja möglichst stationäre Gesellschaft sein müssen, in welcher der Staat den einzelnen Gruppen und Individuen eine soziale Bestandsgarantie gewährt und zu diesem Zweck die mit Risiken verbundene Selbstständigkeit seiner Bürger faktisch aufgehoben hat. Die Menschen werden hier im Wesentlichen aus zweiter Hand leben und in diesem Sinne ihre ökonomische und soziale Eigenexistenz nur noch vom sozialen Staat zu Lehen haben. ,Personalsouveränität'? Vertragsfreiheit? Dies wird nur eine verblassende Erinnerung sein. [... ] Durch die umfassende staatliche Risikovorsorge werden die Höhen und Tiefen des materiellen Lebens eingeebnet. Es ist unvermeidlich, dass dies auch auf die emotionale Durchbildung der Menschen einen tiefgreifenden Einfluss hat. Der seelische Erfahrungsraum schwindet. Wo das ,allgemeine Grüne-Weide-Glück' des vorsorgenden Staates herrscht", so wird unter Hinweis aufFriedrich Nietzsche vermerkt, "wird die ,Verzweiflung des Herzens' ebenso selten sein wie die ,Ekstase des Überflusses'. [...] Praktische Nächstenliebe oder Akte der Wohltätigkeit sind dann zu veralteten und zum Untergang geweihten Praktiken geworden." (Wittman 1995, 7ff.)
3.2 Dekommodifizierung - Prozesse der Entstigmatisierung und Entmeritokratisierung Zu den gängigen Argumenten der Sozialstaatskritiker gehört der Vorwurf, dass die Leistungsbereitschaft der Individuen, die durch jahrhundertelange "Erziehung" geprägt worden ist, durch sozialstaatliche "Verwöhnung" abnehme. Dem unerbittlichen Getriebe des Marktes könne seine Unerbittlichkeit nur zum Teil genommen werden (Sarrazin 1983); übertreibt man, riskiere man das Stocken der ganzen Maschinerie. "Dekommodifizierung" (Esping-Andersen 1990) als wichtigstes Ziel des Wohlfahrtsstaates bedeutet, dass die Grundbedürfnisse unabhängig vom Markt gesichert werden. Wozu sich aber dann auf Märkten quälen? Wohlfahrtsstaatliche Redistributionsmaßnahmen tragen demgemäß nach Auffassung vieler zur Erosion jener Einstellungen bei, die für eine freie und dynamische Gesellschaft erforderlich sind. Tauschprinzip und Leistungsverhalten werden obsolet. Jürgen Habermas und Friedrich von Hayek sind sich in diesem Befund einig - ein schönes Beispiel für verwunderliche Koalitionen (Habermas 1973; Hayek 1944; Prisching 1989).
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Habennas spitzt die These zur Prognose einer ausweglosen Krise zu: Der entwickelte Kapitalismus könne ebensowenig ohne den Sozialstaat wie mit ihm leben - im ersteren Fall ermangle es ihm an Legitimität, im letzteren gebe er bestandswichtige Haltungen (Leistung, Markt) der Erosion preis. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist diesen Beobachtungen zufolge ein entmeritokratisiertes Bewusstsein. Es distanziert sich von der Markt- und Leistungslogik. Alle erwarten sich Geschenke vom Staat und nutzen seine Zahlungsfähigkeit auf mehr oder minder legale Weise. Hier stoßen wir geradewegs auf die Schmarotzer-Diskussion: Bei denen, die als taxpayer das Gefühl haben, dass sich, zu ihren Lasten, immer mehr taxeaters breitmachen, entsteht Verdrossenheit (Citrin 1979; Coughlin, Wilensky 1980; Ferris 1983; Lowers, Sigelman 1981; TaylorGooby 1983). Hilfsbereitschaft hängt davon ab, dass das Gefühl aufrecht bleibt, die Hilfe an keinen Unwürdigen zu verschwenden. Man will sich nicht ausnutzen lassen. "Wahrscheinlich stellt in allen Kulturen", so schreibt Barrington Moore in seinem Buch über Ungerechtigkeit, "der überzeugte Faulenzer und Schmarotzer, d.h. derjenige, der sich weigert, seinen Anteil an den gemeinsamen Aufgaben zu übernehmen und statt dessen von der Arbeit anderer lebt, ein negatives gesellschaftliches Beispiel dar, sofern er arm ist." (Moore 1982, 6lf.) Das Hängemattenproblem verschärft sich in einer "rationalen Gesellschaft", in der es zu einer Entstigmatisierung sozialpolitischer Leistungsinanspruchnahme gekommen ist. Diese Entstigmatisierung war ohne Zweifel erwünscht und segensreich, soweit sie soziale Verachtung von jenen genommen hat, die unverschuldet in den Status wohlfahrtsstaatlicher Geldempfänger geraten sind. Denn Entstigmatisierung heißt: Der Bezug von Hilfsgeldern gilt nicht mehr in dem Maße als entehrend, wie dies früher der Fall war. Auch Annut kann Würde bewahren. Selbst Arbeitslosigkeit gilt nicht mehr automatisch als vorwerfbar und schuldhaft. Nicht alle sind automatisch undeserving poor, es kann auch deserving poor geben (Fischer 1982; Pankoke 1990). Zugleich bedeutet Entstigmatisierung aber auch Kalkulierbarmachung. Wenn man zwischen Handlungsalternativen abzuwägen hat, so fallen die Kosten sozialer Verachtung weg, und das verschiebt die Entscheidungen. Sozialtransfers können nunmehr dem rationalen Kalkül unterliegen, ohne dass mitmenschliche Sanktionen als gewichtige Variablen in der individuellen Nutzenfunktion berücksichtigt werden müssen. Jetzt geht es um den Rechenstift. Wenn man ab sechzig in Pension gehen will, muss man, um seine körperlichen Beschwerden aktenkundig zu machen, zehn Jahre vorher mit den Anträgen aufregelmäßige Kuraufenthalte beginnen. Wenn man die erhöhten Karenzgelder beziehen will, muss man die Heirat um ein Jahr verschieben. Das Entsetzen, das früher ein uneheliches Kind im Bekannten- und Verwandtenkreis ausgelöst hätte, fällt weg,
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jetzt ist nur noch zu kalkulieren, ob man mit der Fingierung administrativ gesetzter Situationsdeutungen durchkommt. Die Grenze zum Missbrauch hin ist schwer zu ziehen. Missbrauch liegt sicher vor, wenn Krankheiten vorgetäuscht werden. Aber in jenen Fällen, in denen die Wenn-dann-Sätze der einschlägigen Bestimmungen sorgfältig studiert werden, um die Wenn-Voraussetzungen so zu arrangieren, dass die Dann-Gelder kassiert werden können, ist die Unterscheidung oft schwer zu treffen. Im Falle der Arbeitslosigkeit ist schlicht die ökonomische Unterscheidung zwischen "freiwilliger" und "unfreiwilliger" Arbeitslosigkeit dann sinnlos, wenn es um graduelle Zumutbarkeitsgrenzen geht: Nimmt man eine Arbeit an, die 20 oder 50 oder 100 Kilometer vom Wohnort entfernt liegt? Nimmt man eine Arbeit an, die den Qualifikationen ziemlich, ein wenig oder gar nicht entspricht? Nimmt man eine Arbeit an, bei der man um 10,20 oder 30% weniger verdient als bisher? Werden dabei Notwendigkeiten der Kinderbetreuung berücksichtigt? Insofern das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein die Standards eines angemessenen Lebens erhöht, ist man nicht mehr um jeden Preis auf Markteinkommen angewiesen, sondern kann "suchen" - auf Kosten der Allgemeinheit. Ebenso kann man einem Arbeitslosen kaum verwehren, sich so ,,rational-kalkulierend" zu verhalten, wie dies als Verhaltensideal der modernen Welt (und erst recht auf der Seite der Arbeitgeber) für selbstverständlich gehalten wird. Wenn Unternehmern das Kalkül der Rentabilität von Projekten ohne Rücksicht auf ihre soziale oder ökologische Verträglichkeit zugestanden wird, so ist es auch für Arbeitslose angemessen, die Differenz zwischen dem Arbeitslosenentgelt und dem erzielbaren Markteinkommen auf seine "Rentabilität" zu prüfen. Dann stößt man aufjene "Fallen", für die es keine brauchbaren Lösungen gibt: dass etwa die Differenz zwischen einen durch unkoordiniert verabreichte sozialpolitische Transfers abgedeckten Existenzminimum und einem für unqualifizierte Arbeitskräfte erreichbaren Niedriglohn ziemlich klein ist. Deshalb drängt sich für manche Betroffenen in der Tat die Frage auf, ob man für 200 oder 300 € Differenz tatsächlich 160 Stunden im Monat arbeiten soll. Heuchelei wäre es, theoretisch allen die egozentrische Rationalität zuzugestehen, bestimmte Gruppen von Sozialempfängern aber zu moralischen Übermenschen zu stilisieren, die ohnehin arbeiten wollen, weil sie dies zu ihrer Selbstachtung oder Identitätsentfaltung benötigen. Dies geschieht zuweilen von Seiten jener, die zwar ein Vielfaches an Einkommen beziehen, denen aber jede Streichung von zusätzlichen "Leistungsprämien" eine Unzumutbarkeit zu sein scheint. Für sie gibt es eine gespaltene Psychologie - oder zwei völlig unterschiedliche Spezies von Menschen: Manager und ihresgleichen werden durch Einkommenserhöhungen zur Leistung angestachelt, Unterklasse-Angehörige hingegen werden nur durch Einkommenssenkungen zu
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entsprechen Leistungen angehalten. Den Kontroversen um den Wohlfahrtsstaat ist zuweilen Heuchelei nicht fremd.
3.3 Rent-seeking - der Wettlaufzu den staatlichen Kassen Begründungen für wohlfahrtsstaatliche Interventionen lassen sich unschwer finden, selbst die ökonomische Theorie bietet in ihrem Instrumentenkasten genug Argumente, vom Marktversagen bis zu den öffentlichen Gütern, von externen Effekten bis zum freerider-Verhalten. In einer Gesellschaft mit egalitärem Bewusstsein reicht der Nachweis von Ungleichheit hin, um staatliche Eingriffe zu rechtfertigen; Irgendeine soziale Gruppe steht immer schlechter da als eine irgendwie vergleichbare Gruppe. In einer dynamisch sich wandelnden Gesellschaft gibt es immer Gewinner und Verlierer, und Gründe für eine Entschädigung der Verlierer können jederzeit namhaft gemacht werden. Armut existiert - bei passender Definition - gleichfalls in jeder Gesellschaft, und sie fordert einen Ausgleich. Da zudem die Armutsdefinition so gestaltet ist, dass sich der Anteil der Armen auch durch extensive Interventionen nicht senken lässt, kann das entsprechende Forderungspaket nach der Beseitigung von Armut unbegrenzt weitergespielt werden. Es ergeben sich unbegrenzte Interventionsfelder, und Ansprüche sind in Konkurrenz gegen andere Gruppen geltend zu machen. Damit ergibt sich ein Wettlauf zwischen ihnen, und den Siegern winken Prämien aus den Steuertöpfen. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein der meisten Bürger stellt keinen Konnex zwischen Einnahmen und Ausgaben des Staates her. Der Staat gilt als "Topf', aus dem schier unbegrenzt viel Geld zu holen ist (Watrin 1977). Die prinzipielle Unbegrenztheit der vorzusorgenden Sachverhalte auf der einen Seite, die kontrafaktische Vermutung einer Unbegrenztheit der Ressourcen auf der anderen Seite manövrieren den Staat zwangsläufig in eine Legitimationskrise. Er muss immer hinter den Wünschen zurückbleiben. Wird eine Maßnahme getroffen, so kann man auf entsprechende Kritiken gefasst sein: Die Maßnahme sei unzureichend nach der Höhe; sie sei unzulänglich nach dem Personenkreis; und sie hätte ohnehin schon längst gesetzt werden müssen. Stellen sich dem Staat neue Aufgaben, sind diese nicht eigentlich neu, sondern es sind Aufgaben, die skandalöserweise erst jetzt viel zu spät - als Eingriffsnotwendigkeiten erkannt wurden. Da unterstellt wird, dass es für jedes Problem eine wirkungsvolle Maßnahme gibt, kann man dem politischen System immer den Vorwurf machen, dass es das Problem nicht schon früher angepackt hat (Glazer 1975, 336). Es gilt auch als eine Selbstverständlichkeit, dass die sozialpolitischen Leistungen irreversibel sind. Die Bürger reagieren noch viel sensibler auf die Rücknahme von Leistungen als auf die Verweigerung von Zuwächsen. Rechtlich festgelegte Transfers gelten ihnen als Einkommen, das
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ihnen "zusteht"; und die Abschaffung solcher Einkommen bedeutet, dass ihnen etwas weggenommen wird. Das können sich politische Instanzen, die sich den Wahlen stellen müssen, nicht leisten. Die ,,Anspruchsin:fl.ation" der Bürger und die ,,Revolution der steigenden Erwartungen" bieten dem Staatsapparat Freiraum zur Entfaltung seiner Programme, aber sie verschließen alle Pfade, die für irgendeine Gruppe eine Reduktion von Programmen bedeuten. Es lässt sich kaum ein guter Grund dafür nennen, dass der "Steuerstaat" nicht in die Finanzkrise geraten sollte (Goldscheid et al. 1976; Groth 1978; O'Connor 1974; Peukert, Prisching 2009). Der nachauratische Staat, der sich bemüht, allen diesen Wünschen nachzukommen, löst Bewusstseinseffekte aus, die seine Probleme verschärfen. Ambivalenzen sozialpolitischer Maßnahmen sind unauthebbar. Während man das eine Loch stopft, reißt man ein anderes auf. Die Lösung eines Problems hat nichtintendierte Nebeneffekte, die weitere Probleme generieren. Maßnahmen, die alleinstehenden Müttern helfen sollen, geben Impulse dazu, eine alleinstehende Mutter zu werden. Maßnahmen, die das Schicksal zerrütteter Familien lindern sollen, machen es den Vätern oder Müttern leichter, ihre Familien zu verlassen. Maßnahmen, die Arbeitslose besser stellen sollen, machen es ihnen möglich, sich bei der Arbeitssuche mehr Zeit zu lassen. Maßnahmen, die eine Verbesserung der medizinischen Behandlung bei bestimmten Krankheitskategorien sichern beziehungsweise den Kostendruck mindern wollen, tragen dazu bei, dass mehr einschlägige Diagnosen gestellt und Behandlungen vorgenommen werden. (Plötzlich steigt der Anteil jener Patientinnen an, bei denen Krankheiten vermutet werden, die vergleichsweise großzügig bezahlt werden.) Es gilt allgemein: Wenn der Leidensdruck als Folge einer Entscheidung gelindert wird, wird die entsprechende Handlung attraktiver - und Prognosen, die auf den alten Verhaltensparametem beruht haben, werden zu Makulatur. Die Plünderungsmentalität gerät unter Konkurrenzdruck. Eigendynamische Impulse treten bei den konkurrierenden sozialen Gruppen und Individuen auf, die sich aus den Staatskassen bedienen wollen. Verbreitet sich die rent-seekingMentalität, dann entkommt man weder als Bürger noch als Gruppe dem Gefühl, dass alle anderen die Kassen des Staates bis zum letzten Groschen plündern, während man selbst nur auf der Zahlerseite sitzt. Man befindet sich in jener Situation, die spieltheoretisch am wenigsten geschätzt wird: Alle profitieren von der Situation, nur man selbst ist der Dumme. Damit verschärft sich der Wettlauf um die öffentlichen Gelder. Rent-seeking-Situationen haben einen Selbstverstärkungseffekt: Wenn alle Gruppen höhere Pensionen wollen, muss man auch selbst darum kämpfen, um nicht zurückzufallen, und dies ist eine durchaus rationale Deutung der Situation. Aber es gibt auch emotionelle Elemente, die zum selben Ergebnis
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fuhren: Wenn alle Kollegen regelmäßig ihre Kuraufenthalte nehmen, muss man sich geeignete Beschwerden zulegen, um nicht zum Gespött zu werden. So ist es oft gar nicht so sehr Geldgier, die zur Plünderung der Sozialkassen führt, sondern es sind Prestigegründe. Man orientiert sich nicht mehr an der Analyse von Sachverhalten, sondern an der Beobachtung der Handlungen anderer: Es wird so gehandelt, weil die anderen so handeln. Mißbräuche schwellen nicht nur an, wenn man sich auf einfache Weise aus den allgemeinen Ressourcen bedienen kann, sondern auch dann, wenn es peinlich wird, ehrlich zu sein. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein forciert rent-seeking-Aktivitäten nicht nur aus Gründen der Steigerung des individuellen materiellen Nutzens, sondern auch aus Gründen interaktiver Standards.
3.4 Bürokratisierung - rechtliche Verankerung, bürokratische Zuständigkeit und individuelle Entsolidarisierung Die Option, sich auf "Solidarität", "Liebe" oder "Gemeinschaft" als sozialem Koordinationsmechanismus zu verlassen, ist an einen überschaubaren sozialen Raum gebunden und schwindet mit der zunehmenden Größe der Gesellschaft (Buchanan 1965, 1978). Erstens nimmt bei steigender Teilnehmerzahl die Spürbarkeit des individuellen Handeins für die Gruppe ab. Der Einzelne kann Kosten kooperativen Verhaltens sparen, ohne dass seine Nichtteilnahme kollektiv spürbar würde. Das Eisenbahnsystem bricht nicht zusammen, wenn ein Passagier seine Gebühr nicht entrichtet. Wenn alle anderen ihren Beitrag leisten, bleiben große Systeme funktionsfähig - eine klassische freerider-Situation. Zweitens schwinden die Möglichkeiten der Kontrolle und Sanktionierung des Einzelnen durch die anderen Mitglieder. Bei steigender Gruppengröße ist nur noch durch einschlägige Fachleute und bürokratische Verfahren sicherzustellen, dass Beiträge bezahlt und Leistungen erbracht werden. Deshalb gibt es unterschiedliche Verfahren zur Kontrolle der Straßenbahngäste. Es wäre in einer modemen Gesellschaft nicht zielführend, auf das Gewissen und die Moral der Kunden zu setzen. Drittens verschärfen sich die Probleme der Verhaltenssicherheit; man kennt die Lebensgeschichten und Dispositionen der Kontrahenten nicht, weil man mit ihnen nicht mehr persönlich vertraut ist, und man kann ihre Handlungssignale weniger gut einschätzen. Diese Argumente laufen darauf hinaus, dass mit steigender Gruppengröße formalisierte Beziehungen immer wichtiger werden: Solidarität muss "umgebaut" werden. Das altruistisch-reziproke Bewusstsein der face-to-face-Beziehung wird zu einem wohlfahrtsstaatlichen Bewusstsein. "Als gezielt eingesetztes Organisationsprinzip findet man Altruismus in komplexen Gesellschaften praktisch nicht vor. Vielmehr füllen altruistisch motivierte Verhaltensweisen Lücken in der gesellschaftlich organisierten Daseinsvorsorge, die wegen fehlender politischer Basis keine politische Anerken-
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nung gefunden haben" (Münnich 1980, 177). Die unmittelbare, zwischenmenschlich wirksame Solidarität kann aus strukturellen Gründen in einer Großgesellschaft nicht bestehen; Hier ist der Sozialstaat die Institutionalisierung von Solidarität.? Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein gerät im Zuge der Modernisierung nun in einen doppelten Formalisierungssog: es wird zu einem verrechtlichten und monetisierten Bewusstsein (Achinger 1958). Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist in staatlich-formalen Kategorien befangen, schon aus dem Verlangen nach "Rechtsgleichheit", also "aus der Perhorreszierung des ,Privilegs' und aus der prinzipiellen Ablehnung der Erledigung von Fall zu Fall" (Weber 1976, 567). Es tut sich deshalb mit beiden Extremen schwer: sowohl mit der traditionellen Kategorie der Gnade als auch mit dem Charakter legistischer Vorgaben. Auf"Gnade" angewiesen zu sein, gilt dem modemen Staatsbürgerverständnis als entwürdigend, Gnadenakte gelten als Willkür, und man ist froh über anonyme, generelle Regeln. Da aber trotz der Verrechtlichung der vorrechtsstaatliche Anspruch aufrechterhalten wird, gerechte Ergebnisse in allen Fällen erzielen zu wollen, kollidiert die Gerechtigkeitserwartung im Einzelfall des öfteren mit der sturen Regelhaftigkeit der gesetzlichen Vorschriften, das heißt der Unparteilichkeit und Abstraktheit der rechtlichen Instrumente des Wohlfahrtsstaates. Verrechtlichung bedeutet immer auch Bürokratisierung, Reglementierung und Bürgerfeme; Entfremdung und Bindungslosigkeit zwischen Helfer und Betreutem; Formalisierung und Typisierung der Fälle; zuweilen Symptombehandlung statt Ursachentherapie (Tennstedt 1976; Vobruba 1983). Verrechtlichung und Monetisierung sind dem wohlfahrtsstaatlichen Bewußtsein anstößig, und doch weiß es keine Alternative dazu. Die bürokratisch-rechtliche Institutionalisierung von Wohlfahrtsleistungen und insbesondere die wahrgenommene Zuverlässigkeit bürokratischer Hilfe hat Rückwirkungen auf die individuellen psychischen Dispositionen. Wiederum haben wir es mit Wechselwirkungen zu tun, die einander fördern: Je mehr der Erfolg des Wohlfahrtsstaates individuelle Solidaritätshaltungen zerstört, desto stärker 7
Die Ambivalenz des wohlfahrtsstaatlichen Bewußtseins dokumentiert sich in widersprüchlichen Forderungen, in denen Nachklänge der Kleingruppenerfahrungen zu erkennen sind. So wird auch in sozialstaatlichen Institutionen nach der "persönlichen Betreuung" gerufen: Der Arzt, die Krankenschwester, der Sozialarbeiter, die Hebamme und der Therapeut sollen ihre Klienten nicht als "Objekte" behandeln, sie sollen sich mit ihnen und ihrer Arbeit identifizieren, sie sollen ein "persönliches" Verhältnis zu ihren Kunden entwickeln. Man findet aber auch - und das macht die Situation noch komplizierter - die Forderung nach einer Versachlichung der Beziehungen, die dem Betreuten die Zufälle und Unvollkommenheiten einer persönlichen Abhängigkeit erspart. Der Betreuer wird schließlich "belastet", der Klient muss ihm "dankbar" sein. Nicht zuletzt deshalb, um solche Schuldgefiihle auszuschließen, wollen viele ältere Menschen nicht von den Verwandten betreut werden, sondern ziehen lieber einen neutralen Hilfsdienst heran (Rassem 1979). Die Formalität bürokratischer Institutionen hat somit auch ihre guten Seiten, sie erzeugt wie die Anonymität moderner Lebenswelten Einsamkeits- und Freiheitsgefiihle zu gleicher Zeit.
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muss der Wohlfahrtsstaat selbst als Lückenbüßer für Problemfälle tätig werden. Wenn staatliche Hilfe zur Verfügung steht, schwindet die Bereitschaft, selbst solidarisch zu handeln (Prisching 1992, 1993). Erstens geht es um die psychische Disposition selbst: Solidarität muss eingeübt werden, wenn sie zu einem "unbewußten" Bestandteil des Über-Ichs werden soll, und umgekehrt kann man auch "lernen", dass Solidarität überflüssig ist. Zweitens entwickeln sich entsprechende Erwartungen: Eine beinahe lückenlose Versorgung mit sozialpolitischen Hilfseinrichtungen löst die Erwartungshaltung aus, dass es für jedes Problem eine ,,zuständige" Stelle gibt und dass eigene Verantwortung so gut wie nie aufgerufen wird. Die Wahrnehmung eines Problems löst dann nicht spontane Hilfsbereitschaft, sondern spontanes Nachdenken über die politisch-administrative Zuständigkeit aus. Es ist dann angemessen, beim Auftauchen eines sozialen Problems zunächst zu fragen: Gibt es eine ,,höhere" Einheit, die die Aufgabe übernehmen könnte? Wer ist "zuständig"? Lassen sich Dienstleister, Sachgüter oder Sozialgelder abrufen? Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein kehrt das herkömmliche Subsidiaritätsprinzip um, es gehorcht einem Antisubsidiaritätsprinzip. Nicht die kleinere Einheit ist zunächst aufgerufen, sondern die größere Einheit, und nur wenn es keine einschlägigen Programme gibt, muss der Einzelne die Ärmel selbst aufstreifen - oder er entschließt sich zum Wegschauen.
4. Kategorien der Lebensqualität - Glück im Wohlfahrtsstaat 4.1 Zufriedenheit - eine politikverdrossene Stimmung der politischen Wertschätzung Das wohlfahrtsstaatliche Zufriedenheitsniveau ist hoch. Zufriedenheit verstehen wir hier als Vorstellung eines akzeptierten, die wesentlichen Bedürfnisse abdeckenden Lebens in der Gemeinschaft. Empirisch wird diese Zufriedenheit erhoben durch das Abfragen allgemeiner Lebens- und Gesellschaftseinschätzungen und spezifischer Wünsche über politische Programme, Ausgabenkürzungen oder -erhöhungen. Klagen über eine lückenhafte und eine überdrehte Sozialstaatlichkeit, eine lästige oder sklerotisierende Sozialbürokratie, über staatliche Ignoranz oder einen ausufernden Interventionismus werden zwar laut; aber im Grunde überrascht das hohe Legitimitätsniveau des Wohlfahrtsstaates (Heidorn 1982). Die Zufriedenheit wird freilich auch gespeist durch die Akzeptanz von Inkonsistenzen im Bewusstsein: Die Bürger wollen, dass der Staat sich sozialpolitisch stärker engagiert, und sie wollen, dass er gleichzeitig weniger Ausgaben tätigt. In den letzten Jahrzehnten sind die wohlfahrtskritischen Stimmen lauter geworden, doch wann immer konkre-
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te Einsparungsziele abgefragt werden, wollen nur wenige Bürger, dass am Gefüge des Wohlfahrtsstaates Entscheidendes geändert wird. Dies gilt selbst im amerikanischen Fall, der doch von einem Wohlfahrtsstaat europäischer Prägung weit entfernt ist: Amerikaner sind staatlichen Ausgabenprogrammen gegenüber geradezu feindselig eingestellt, wenn man jedoch die einzelnen Programme durchgeht, um Kürzungsmöglichkeiten zu erfragen, wird man überhaupt nicht fündig. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ist also ein zufriedenes Bewusstsein, und doch ist es voll von Ressentiment und Verdrossenheit.
4.2 Legitimität - Fiskalillusion als Grund solidarischer Stimmungslagen Soweit empirische Ergebnisse über die Motivationslagen der Wohlfahrtsbürger vorliegen, lassen sie, bei Licht betrachtet, die Vorstellung zerrinnen, dass sich hinter der Zufriedenheit im Wohlfahrtsstaat echte solidarische Potentiale verbergen. Wer es sich leisten kann (wer also über höheres Einkommen und Ersparnisse verfügt) oder wer sonst in gesicherten Verhältnissen lebt (höhere Bildung), hält vom Solidaritätspakt wenig. Dass selbst liberale Geister sich nicht gegen Gesundheits- und Pensionsleistungen verwahren (während sie Fürsorge- und Familienleistungen ablehnen), scheint damit zusammenzuhängen, dass diese Güter eher als quasi-private betrachtet werden, die nur zufällig vom Staat angeboten werden. Egoismus wird darin deutlich, dass ältere Bürger jene Kategorien, von denen sie selbst am meisten profitieren, nämlich Gesundheits- und Pensionsausgaben, ausgeweitet sehen möchten, während sie den Fürsorge- und Familienleistungen, die sie bereits in früheren Jahren genossen haben, nunmehr distanziert gegenüberstehen. Interessant ist der Umstand, dass jene, die sich vom Sozialstaat benachteiligt fühlen, weil sie meinen, mehr zu zahlen als zu bekommen, bei den Gesundheits- und Pensionszahlungen eine Ausweitung wünschen: Dahinter steckt wohl die Motivation, durch diese Ausweitung eben diesen Sachverhalt zu ändern, nämlich zugunsten der Nettozahler; auch sie wollen durch die Reform, die sie fordern, zu Nettoempfängern werden. Alles in allem scheint das private Kalkül wesentliche Kraft zu besitzen. Wenn man diesem Gedankengang folgt, dann beruht die Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates auf einem massenhaft geteilten Irrtum. Der Wohlfahrtsstaat wird von allen Seiten gestützt, weil alle glauben, letztlich mehr zu bekommen als sie zahlen. Wenn dies richtig ist, beruht der Wohlfahrtsstaat auf Fiskali11usionen. ,,Der Staat soll ... geben, ohne zu nehmen" (Böckenförde 1991,242).
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4.3 Gemütsruhe - die vollbrachte Sicherungsleistung des Wohlfahrtsstaates Die Verunsicherung der Individuen in der modemen Welt geht mit steigender Sorglosigkeit über die Befriedigung der Grundbedürfuisse einher. Die Verunsicherung ist hoch, trotz der gewährten Sicherheit. Die Sicherheit wird oft nicht anerkannt, weil kleine Unsicherheiten oder Schicksalsschläge in einer sicheren Gesellschaft viel höher eingestuft werden. Aber dennoch herrscht (in Europa) Zufriedenheit mit den Leistungen des Wohlfahrtsstaates. Der Kapitalismus ist, soweit die wohlfahrtsstaatlichen Systeme reichen, in der Tat domestiziert worden. Es wirkt somit nicht nur die Erfahrung der durchgängigen Vermarktlichung weiter Lebensbereiche auf die Psyche der Menschen, sondern auch die Erfahrung einer Sicherung vor wirklich einschneidenden Notlagen und Lebensrisiken. Es muss niemand verhungern. Man mag dies gering schätzen, aber es gibt große Territorien auf dieser Welt, in denen dies keineswegs selbstverständlich ist. Es gibt Indizien dafür, dass soziale Sicherungssysteme den Affekthaushalt der Menschen binnen weniger Jahrzehnte verändert haben - dort, wo es ausgebaute Sicherungssysteme gibt, wie in den fortgeschrittenen europäischen Ländern, weniger in den Vereinigten Staaten, wo die Menschen trotz sichtbaren Wohlstandes in einem Netz von Abzahlungsregelungen und Risikoängsten gefangen sind (Rubin 1976). In wohlfahrtsstaatlichen Systemen hingegen verblasst die Angst vor Armut und sozialer Deklassierung. Die "Gemütsruhe im Wohlfahrtsstaat" (van Stolk, Wouters 1984) meint: Ersparnis an Ängsten, Beunruhigungen und psychischen Turbulenzen, ein gelassener Blick auf die eigenen zukünftigen Einkommensverhältnisse.
4.4 Glück - aufstaatliche Garantie "Wohlfahrt" ist wohl eine abgemagerte Version von "Glück". In einer säkularisierten Welt, die sich dem progressistischen Konstruktivismus verschrieben hat, kann das Glücksverlangen der Individuen nicht mehr durch den Verweis auftranszendente Sphären befriedigt werden. Erstens: Glück ist nur noch im Diesseits definierbar, und als diesseitige Kategorien stehen Ansehen, Macht, Wohlstand, Sicherheit, Freiheit, Bildung, Erlebnis, Freizeit und dergleichen zur Verfügung. Es gibt keine Kompensation für entgangenen Konsum im Jenseits. Was man vor dem Tode nicht erlebt hat, das wird nicht mehr stattfinden. Für viele dieser Erlebniskategorien steht auch der Wohlfahrtsstaat (und sei es deswegen, weil er Verpflichtungen abnimmt und deshalb die Erlebnismöglichkeiten des Einzelnen steigert). Zweitens: Glück ist eingebettet in ein Fortschrittsparadigma, demzufolge auch Glücksgefühle steigerbar sein müssen. Drittens: Der Staat ist, als der mäch-
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tige, erfolgreiche und versprechungsfrohe Gestalter der Welt, zunehmend der Adressat der Glücksansprüche. Das Glücksverlangen steigt, je besser es eingelöst wird. Da es auf der Hand liegt, dass eine reiche Gesellschaft mehr leisten kann, nehmen die Erwartungen an die sozialpolitischen Leistungssysteme zu. Auch diese Forderungen richten sich ja nicht mehr an bekannte andere, an Nachbarn, Freunde oder Verwandte, sondern an den Staat, eine anonyme Bürokratie, bei der man reichlich Ressourcen in der Hinterhand vermutet. Die Verwirklichung individueller Lebensziele, ja die Gewährleistung individuellen Glücks, weit über existenzgefährdende Notlagen hinaus, wird als Anspruch an das reiche Kollektiv formuliert. Das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein der Gegenwart ist ein reichtumsgewohntes, verwöhntes und anspruchsvolles Bewusstsein. Die politische Realisierung der unter dem Anspruch des Glücks formulierten Forderungen greift andererseits immer zu kurz, denn die Erfüllung der Forderungen gibt nur Anlass zu weiteren, das jeweils Gegebene übersteigenden Glücksansprüchen. Glückserwartungen können in ihrer Fülle nie eingelöst werden, auch nicht vom allmächtigen Staat, die Realität des Glücks bleibt hinter dem goldglänzenden Bild, das entworfen wurde, allemal zurück. Da dem Fortschritt aber keine Grenzen gesetzt sind, lösen unzulängliche Einlösungen von Erwartungen prompte Forderungen nach der nun "wirklichen" Einlösung aus. Die wohlfahrtsstaatliche ,,Politisierung des Glücks" (Matz 1977) belastet den Staat mit Ansprüchen, die er nicht erfüllen kann. Insofern ist das wohlfahrtsstaatliche Bewusstsein ein ruhiges und glückliches Bewusstsein, und doch ist es untrennbar auch mit Glücksdefiziten und Verdrossenheiten verbunden.
Quelle: A. BellebaumlK. Barheier (Hrsg.): Lebensqualität. Ein Konzept für Praxis und Forschung. Westdeutscher Verlag: Opladen 1994
Literatur Achinger, Hans (1958): Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeiterfrage zum Wohlfahrtsstaat. Hamburg: Rowohlt. Alber, Jens (2006): Das ,,Europäische Sozialmodell" und die USA. In: Leviathan, 34, 208-241.
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Verheißungen und Visionen
Das Glück und die Schatten der Vergänglichkeit Religiös-philosophische Konzeptualisierungen von Glück im alten Indien Heinrich von Stietencron
In Zeiten allgemeiner Depression erregt die Frage nach dem Glück Aufsehen und Interesse. Man wird aber vor allem am individuellen Glücksempfinden interessiert sein, denn dies ist es ja, was ein jeder sucht. Solche Glückserfahrung ist allerdings an einen innerpsychischen Kontext gebunden, an eine Disposition des Bewusstseins oder der Seele, welche nicht nur von Mensch zu Mensch verschieden ist, sondern auch bei jedem einzelnen Menschen von Tag zu Tag, manchmal sogar von Moment zu Moment wechseln kann. Daher ruft die gleiche Situation keineswegs immer die gleiche Glückserfahrung hervor. Das erschwert nicht nur die Suche nach Glück in der Außenwelt, es verhindert auch allgemeingültige Aussagen über die individuelle Glücksempfindung. Es ist daher sinnvoll, bei der Betrachtung des Glücks zwischen Erlebnis und Reflexion zu unterscheiden, das heißt die individuelle Empfindung von Glück zu trennen vom Nachdenken über das Glück. Ersteres ist ein Bereich, der den Psychoanalytiker angeht, letzteres ist die Aufgabe des Philosophen, Theologen und Kulturhistorikers, welche einer Theorie des Glücks und charakteristischen Glücksvorstellungen nachspüren können. Es ist jedoch von vornherein deutlich, dass die Theorie nicht ohne den Rückgriff auf die Erfahrung auskommen kann. Wenn ich mich daher jetzt der Frage nach den Konzeptualisierungen von Glück im alten Indien zuwende, so geht es vor allem um kulturspezifische Reaktionen des denkenden Geistes auf das natürliche Glücksstreben des Menschen. Er kann es fördern oder zu unterdrücken suchen; er kann es in bestimmte Richtungen lenken; er wird auch abzuwägen haben, wie sich individuelles Glück und kollektives Wohlergehen zueinander verhalten und wann das Glücksstreben des Einzelnen hinter dem Wohl der Gemeinschaft zurücktreten muss. Nun gibt es in Indien eine ganze Reihe von ausgefeilten Theorien, die sich mit der Mehrung und Sicherung von Wohlbefinden und Glück befassen. Da gibt es zum Beispiel die Lehre von einer Staatsführung (nltisästra), die allgemeines wirt-
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Heinrich von Stietencron
schaftliches und psychisches Wohlergehen des Volkes bewirken soll. Es gibt auch ein Lehrbuch der Liebeslust (kämasästra), welches die physiologischen und psychologischen Voraussetzungen für eine passende Partnerwahl und für ein Glück in der Liebe aufzeigt und zusätzlich Formen der Zärtlichkeit und Sexualtechniken schildert, welche dieses Glück noch steigern können. Die Astrologie (jyoti$a) befasst sich mit den makrokosmischen Bedingungen für den Erfolg und das Glück des Individuums - insbesondere mit der Wahl des glückverheißenden Augenblicks für den Beginn einer geplanten Handlung und mit der Vermeidung aller Unglück verheißenden Unternehmungen. Die Rechtswissenschaft (dharmasästra) lehrt, nach Kaste, Berufund Lebensstufe geordnet, das rechte Verhalten, welches im Einklang mit den Gesetzen der Weltordnung stehen und soziale Harmonie gewährleisten soll Und schließlich versucht die Opferwissenschaft aufzuzeigen, wie man durch richtiges rituelles Handeln, durch Preislied und Opfergabe das Wohlwollen der Götter gewinnt, welches für das Glück der Menschen unerlässlich ist. All diese Lehren gemeinsam wollen ein menschliches Leben ermöglichen, in dem Friede gewährleistet ist, Furcht vermindert wird und Raum für die Glückserfahrung des Einzelnen entsteht. Jede von ihnen würde eine eigene Abhandlung erfordern. Ich lasse sie jedoch hier alle beiseite, um mich den religiös-philosophischen Konzeptionen von Glück zuzuwenden. Diese nämlich spiegeln die irdischen Glückshoffnungen der Menschen, sie steigern und transformieren sie in überirdische Proportionen. Zugleich aber prüfen sie auch die Pfade, auf denen der Glücksucher wandelt, sie hinterfragen das Glück, das er findet und suchen zu ergründen, welches Glück wirklich erstrebenswert sei und welches nicht. Auch hier kann nur ein kleiner Ausschnitt genauer betrachtet werden. Die Paradieses-Schilderungen zum Beispiel bleiben gänzlich unberücksichtigt, obwohl sie durchaus erkennen lassen, wie sich mit der Zeit die Vorstellungen von einer Welt der Seligen wandelten. Mir geht es vielmehr um Kriterien für die Bewertung des Glücks. Ist Glück etwas restlos Positives oder etwa nicht? Welches Glück ist heilvoll, welches bringt Leid? Raten die indischen Religionen uns dazu, das Glück zu genießen oder es zu meiden? Und was sind die Gründe, die sie dafür angeben? Unter dieser Fragestellung möchte ich zwei grundverschiedene Typen der religiösen und philosophischen Einschätzung des Glücks vorführen. Es sind zwei Extreme, zwischen denen es noch andere Denkmöglichkeiten gab und gibt, die ich um der Übersichtlichkeit willen jetzt außer Acht lasse. Wichtig ist jedoch die Erkenntnis, dass sich solche religiösen Einschätzungen durchaus prägend auf den individuellen Umgang mit dem Glück auswirken.
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Das Glück und die Vergänglichkeit Glück, das bestätigen fast alle philosophischen oder theologischen Schulen Indiens, ist unter den erstrebenswerten Gütern eines der höchsten, die es gibt. Zusammen mit Sein (sat) und Bewusstsein (eit) gehört es in seiner höchsten (nibSreyasa-) Form als Glückseligkeit (iinanda) zu den drei Vollkommenheitsattributen, welche die Denker der Upanü,;aden dem Brahman, dem höchsten, nicht personal gedachten Absoluten zugeschrieben haben. Die gleichen drei Vollkommenheitsattribute besitzt auch die jeweils höchste Gottheit der verschiedenen theistischen Religionen der Hindus. Das bedeutet, dass Glück ein Prinzip ist, das schon vor der Schöpfung der Welt existiert und in die Welt hineinwirkt. Dort bietet es einen Vorgeschmack auf die Erfüllung, welche im Jenseits oder in der Erlösung erreichbar wird. Nur die Materialisten! und manche Buddhisten behaupteten, Glück sei auf die leibliche, körperhafte Existenz beschränkt. Dabei gingen die Materialisten davon aus, dass es nur eine Welt, nämlich unsere Erdenwelt gibt und dass das Bewusstsein - und mit ihm die Möglichkeit, Glück zu empfinden - mit dem Zerfall des Körpers zugrunde geht, Glück also nur in diesem einen Leben zu finden ist. Man sollte sich folglich beeilen, es zu erhaschen, solange man die Gelegenheit dazu hat. Für die Buddhisten dagegen gibt es neben der Erdenwelt noch mehrere Höllen und Himmelswelten, in denen sich Wesen verkörpern und in denen eine Erfahrung von Leid und Glück möglich ist. Da aber nach ihrer vorherrschenden anthropologischen Konzeption in den Lebewesen kein Selbst existiert, keine noch so feine, den Tod überdauernde Seelensubstanz, die von einer Geburt zur nächsten wanderte und in vielen Geburten immer wieder die Chance der Glückserfahrung hätte - da sie also die Existenz der Seele, nicht aber die Wiedergeburt leugnen, fallt ihre Beurteilung anders aus: Glück in der Welt ist nur von sehr begrenzter Dauer. Rasch schwindet es dahin, wie die Jugend vergeht. Was bleibt, ist leidvoll und erwartet jeden mit unentrinnbarer Konsequenz: nämlich Krankheit, Alter und Tod. Dieser Verfall des Lebens ist in unserer Erfahrungswelt überall präsent. Noch ehe wir ihn an uns selber erfahren, sehen wir ihn schon an anderen und leiden mit ihnen. Der bloße Anblick von Alter, Krankheit und Tod und das dabei entstehende Mitleid veranlasste bekanntlich den Prinzen Siddluirta, der später zum Buddha wurde, allem Wohlstand und Familienglück zu entsagen, das ihm als Angehörigen einer privilegierten Klasse sowie als Ehemann und Vater eines kleinen Sohnes zur Verfügung stand. Er suchte und fand einen Weg, der aus dem Leiden herausführt, auf dem man die Vergänglichkeit hinter sich lässt. Denn ein Glück, das vergängSie bildeten in den letzten Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung eine zwar heftig bekämpfte, aber ernstzunehmende Gruppe von Denkern, deren Lehren vor allem in der Darstellung ihrer Gegner überliefert sind.
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lich ist, täuscht und trügt: hinterlässt es doch stets den anhaltenden Schmerz des Verlustes von Glück, ruft also nur zusätzliches Leid hervor. Es liegt in der Konsequenz dieser Lehre, welche die Existenz einer den Tod überdauernden Seele leugnet, dass es im Kreislauf des SaqIsara mit Ausnahme der ihn leitenden Gesetze überhaupt nichts Unvergängliches gibt. Der Mensch als Individuum löst sich im Tode völlig auf. Nur die karmischen Impulse seiner Lebensführung, d. h. die Folgen seiner Gedanken, Worte und Taten wirken weiter, indem sie einem neuen, ganz anderen Dasein einen Anstoß und eine Richtung geben - etwa so wie eine rollende Billardkugel eine andere Kugel anstößt und ihr neue Bewegung und Richtung verleiht, selber aber durch den Aufprall abgelenkt wird oder zum Stillstand kommt. Erst wenn diese Kette von Existenzen, die durch ihre Taten jeweils neue karmische Bewegungsimpulse hervorbringen und weitergeben, endlich zur Ruhe kommt, weil kein Karman mehr vorhanden ist, erst dann erlischt der Lebensimpuls wie eine Flamme erlischt, deren Docht nicht mehr von Öl gespeist wird. Da es keine Seele gibt und ein Körper nicht mehr entsteht, gibt es dann bei konsequenter Auslegung der älteren buddhistischen Lehre der Theraväda-Schule auch keinen Träger von Bewusstsein mehr. NirväI;la, das Verhauchen, kann als ein wirkliches Zu-Ende-Gehen gedacht werden, als ein Verlöschen, in dem Glück keinen Raum und keinen Träger mehr hat. 2 In diesem letzten Punkt unterscheiden sich alle Hindu-Religionen drastisch von der älteren Form der buddhistischen Lehre. Nach der Hindu-Tradition nämlich gibt es ein unvergängliches, bewusstes Selbst (iitman) in jedem Wesen. Kann sich dieses aus dem Kreislauf der Geburten und aus der Bindung an die Materie befreien, so gelangt es in die Sphäre reinen Seins und reinen, ungetrübten Glücks. Es gibt auch eine Seele Vlva), die als feinstoftlicher Träger des bewussten Selbst von einer Geburt zur nächsten wandert und die guten und schlechten Früchte ihrer Taten selber erlebt. Kommt diese Seele aufgrund ihrer guten Taten an einen Ort, an dem es kein Leiden gibt - etwa in den paradiesischen Himmel des Gottes Indra - so genießt sie eine zeitlang himmlische Freuden, bis ihr gutes Karma verbraucht ist. Sie erleidet andererseits höllische Qualen, wenn ihr Karma entsprechend schlecht war; und wenn sie sich auf unserer Erde inkarniert, erlebt sie Glück und Leid in einer je individuell verschiedenen Mischung, weil jede Seele unterschiedliches Karma mit sich bringt. Einzig hier auf Erden aber ist es, wo neues Karma gebil2
Diese extrem konsequente Auslegung der älteren buddhistischen Lehre wird nicht von allen Schulen, vor allem nicht von denen des Mahayana-Buddhismus geteilt. Sie wird vielmehr meist abgeschwächt auf die Feststellung, dass der Zustand nach dem Eingehen ins NirväJ)a nicht beschreibbar sei. Selbst dem Buddha und seinen Vorgängern werden dann unstoffiiche Körper und Individualität zugeschrieben.
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det wird, wo sich also künftiges Glück oder Leid formiert. In anderen Welten wird nur bereits vorhandenes Karma verbraucht, es wird kein neues erworben. Das gibt dem irdischen Leben besonderes Gewicht. Zugleich aber ist dies Leben von Vergänglichkeit bestimmt. Die Frage ist nun: Wie geht man mit dieser Vergänglichkeit um, da sich ihre Schatten über jedes irdische Glück werfen?
Die Tradition der Asketen und Mönche Will man der vorwiegend asketischen und mönchischen Linie der religiösen und literarischen Tradition Indiens folgen, welche in der westlichen Rezeption bei weitem vorherrscht, so ist es eben diese Vergänglichkeit, die uns wachrütteln sollte, damit wir erkennen, was uns an die Materie fesselt, damit wir auch aufmerksam werden aufdie Gefährlichkeit innerweltlichen Glücks. Gehört es doch zu den Charakteristika dieses Glücks, dass es trügt. Es täuscht eine Vollkommenheit vor, die in Wahrheit in der Welt nicht existiert, weil nur das Unvergängliche vollkommen sein kann. Alles irdische Glück aber ist vergänglich wie Seifenblasen. Es lockt die Menschen mit seiner Schönheit und Süße und verführt sie dazu, sich festzubeißen an den Freuden dieser Welt und an den Sinnesgenüssen, welche sie bietet. Und obwohl das so für einen Augenblick erhaschte Glück gleich wieder verschwindet, so haben die Opfer den Köder doch schon geschluckt und hängen an der Angel Hoffnung: Hoffnung auf eine Wiederkehr des Glücks oder auf neues Glück. So wird die Sehnsucht nach Glück zu einer subtilen Form der Bindung an diese Welt, einer Bindung, die ihre Kraft gerade aus dem unerfüllten, sich in Sehnsucht selber immer weiter steigernden Verlangen bezieht. Dauerhaftes Glück aber ist auf diese Weise nicht zu gewinnen. Nur jenseits des Vergänglichen ist es zu finden. Was hier als Glück erscheint, kann bestenfalls als schwaches Abbild gelten und sollte möglichst gemieden werden. Auch ist weltliches Glück in sich noch qualitativ abgestuft, wobei die Intensität der Bindung des Ego an die Materie den Maßstab bildet: Je weniger Egoismus oder physisches Bedürfnis mit dem Glücksgefühl gepaart ist, desto reiner ist das Glück. Als Beispiele unterschiedlicher Stufen des Glücks könnte man an unterster Stelle das Glück des Magens, der Sinne und der Liebe nennen - dies dreifache Glück ist das allen Wesen zugänglichste und, da es schnell wieder schwindet, zugleich auch das am häufigsten entbehrte Glück. Es folgt das Glück der Macht, welches das Selbstvertrauen stärkt oder das Selbstgefühl befriedigt. Es tritt ebenfalls relativ häufig auf, weil es selbst im tiefsten Elend immer einen noch Schwächeren gibt. Seltener schon ist das Glück, das aus Rechtschaffenheit und Pflichterfüllung erwächst und mit dem Gefühl der Aufrechterhaltung einer sinnvollen
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Ordnung verknüpft ist. Dies Glück erwächst aus der Vorstellung, dass man sich in Einklang mit der Harmonie des Kosmos befindet - oder wenigstens in Annäherung an diese. Und an letzter Stelle, nur Wenigen zugänglich, steht das Glück der Erkenntnis und Weisheit. Hier befindet man sich bereits in einem Bereich, der den Keim zur Weltüberwindung in sich trägt. Doch erst wenn Erkenntnis wirklich zur Erlösung führt, wird das höchste und einzig wahre Glück erschlossen: die außerweltliche Glückseligkeit. Je niedriger man freilich die Messlatte in dieser Skala möglichen innerweltlichen Glücks hängt, desto mehr scheinbares Glück kann man empfinden. Man könnte auch sagen: je dümmer der Mensch, desto glücklicher fühlt er sich. Denn das Glück, das aus der Befriedigung der Sinne und Begierden entspringt, ist verhältnismäßig leicht zu haben. Nur ist es erkauft mit Blindheit vor den Gefahren unseres Lebens oder, noch häufiger, mit einer Verdrängung dieser Gefahren aus dem Bewusstsein des Glücklichen. Dies jedenfalls ergibt sich aus der bitteren Analyse der conditio humana, wie sie in einer weit bekannten Parabel vom Mann im Brunnen eindrücklich geschildert wird, die zum Gemeingut mehrerer indischer Religionen gehört und ihren Weg über Persien bis in die Dichtung der deutschen Romantik gefunden hat. 3 Ich gebe sie in freier und gekürzter Nacherzählung nach der Version des Jaina-Mönches Haribhadra aus dem 8. Jh. wieder, weil Haribhadra seine Deutung der Parabel gleich mitgeliefert hat. 4
Der Mann im Brunnen Ein Mann, bedrückt von den Beschwerden der Armut, verließ sein Haus und begab sich auf Wanderschaft. Er sah viele Felder, Dörfer, Städte und Häfen. Schließlich geriet er in einen tiefen Wald. Furcht ergriff ihn vor wilden Tieren; und wie er, von Hunger und Durst gepeinigt, aufholprigem Wege weiter schritt, erblickte er einen wütenden Elefanten, der wild zu trompeten anfing und mit erhobenem Rüssel zum Angriff ansetzte. Er wandte sich zur Flucht, aber da sah er vor sich eine fürchterliche Dämonin, die ihm gefolgt war. Von schauerlicher Gestalt und mit einem Schwert in der Hand schickte sie ihm 3
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Die im Westen bekannteste Version dieser im Mahabhiirata 11,5 und in vielen anderen Werken erzählten Parabel ist die des persischen Mystikers Jaläl-ud-din RümI, welche als Vorlage für Friedrich Rückerts Gedicht ,,Es ging ein Mann im Syrerland" diente. Rückert übersetzte 1847 auch den Passus aus dem Mahäbhärata ins Deutsche (abgedruckt bei L. Hirschberg, RückertNachlese n, S. 321 und bei H. v. Glasenapp, Indische Geisteswelt I, S. 61) Haribhadra Siiri, Samaräiccakaha 2, 55-80 (Sanskrit: Samarädityakathä). Der Text wurde von Hermann Jacobi ediert und von der Asiatic Society ofBengal in den Jahren 1908-1926 publiziert (Bibliotheca Indica) .
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ein schrilles Lachen entgegen. Zu Tode erschrocken und zitternd vor Angst blickte er um sich und suchte nach Rettung. Da sah er in geringer Entfernung einen riesigen Banyanbaum. Von Hoffnung beflügelt rannte er hin, aber der mächtige Stamm war hoch und glatt, kein Ast war zu erreichen und Elefant und Dämonin waren bereits dicht auf seinen Fersen. Gehetzt und verzweifelt suchten seine Augen nach einem Versteck. Da bemerkte er einen von Gras überwachsenen alten Brunnen unter dem Baum. In höchster Not ergriff er ein kräftiges Büschel Schilfgrases, das innen in der rissigen Brunnenmauer Wurzel geschlagen hatte, hielt sich daran fest und schwang sich über den Rand hinein in den Brunnen. Dort hing er nun im Halbdunkel und schaute sich vorsichtig um. Da sah er unter sich ein Gewimmel schwarzer Schlangen und in ihrer Mitte eine riesige Kobra, welche den Rachen aufsperrte und zischte, als warte sie schon darauf, ihn zu verschlingen. Mit Schrecken wurde ihm bewusst, dass sein Leben von der Haltbarkeit des Grasbüschels abhing, an dem er hing. Doch wie er näher hinsah, da entdeckte er zwei Mäuse, eine weiße und eine schwarze, die genüsslich von beiden Seiten her an den Wurzeln des Grasbüschels nagten. Inzwischen war auch der Elefant angekommen, und da er den Mann nicht erreichen konnte, ließ er seine Wut an dem Baumstamm aus, an dem er heftig rüttelte. Die Erschütterung war so groß, dass aus einem Nest wilder Bienen, das an einem großen Aste über dem Brunnen hing, ein Teil heraus brach und hinunterfiel. Die aufgescheuchten Bienen schwärmten aus und zerstachen den Leib des Mannes, der im Brunnen hing. Wie es der Zufall wollte, fiel aber auch ein Tropfen Honigs aus einer zerbrochenen Bienenwabe herab auf das Gesicht des Mannes, erreichte irgendwie dessen Lippen und schenkte ihm einen Augenblick köstlicher Süße. Voll Sehnsucht und Begierde hoffte er auf weitere Honigtropfen. Vergessen waren die Schlangen, der Elefant, die Mäuse, die Bienen und der Brunnen, denn die Süße des Honigs hatte ein Verlangen geweckt, das seine Aufmerksamkeit ganz auf den Honig lenkte.
Diese Parabel, so sagt der Mönch Haribhadra, hat die Kraft, den Geist derer zu klären, die sich auf dem Weg zur Befreiung [aus den Fesseln des Kreislaufs der Geburten] befinden. Der Mann stelle die Seele dar und seine Wanderung sei die Wanderung dieser Seele im Kreislauf der Geburten, die in himmlische, menschliche, tierische und höllische Inkarnationen führen können. Dabei bedrohen ihn die grausige DämoninAlter und der wütende Elefant Tod. Zwar sieht er den Baum der Erlösung, der vor Alter und Tod retten und alle Furcht beenden könnte, den aber
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niemand zu erklimmen vermag, der noch an den Sinnesfreuden hängt. Der Brunnen, in den der Mann sich wagt, ist das menschliche Leben, die Schlangen seine Leidenschaften. Fällt er ihnen zum Opfer, so stürzt er in den Rachen der Hölle, welche als große Kobra bereits auf ihn wartet. Das Büschel Schilfgras, an dem er hängt, ist seine Lebensspanne, an der zwei Mäuse nagen: die weiße ist die helle Monatshälfte des zunehmenden Mondes, die schwarze dagegen die dunkle Monatshälfte mit dem abnehmenden Mond. Gemeinsam nagen sie an seiner Lebenszeit. Die stechenden Bienen sind Krankheiten, die uns quälen und die letzte Freude rauben. Welcher vernünftige Mensch, so wird am Ende gefragt, wird sich in so gefährlicher Situation mit so trivialen Sinnesgenüssen wie einem Honigtropfen zufriedengeben? Es ist ein Szenario des Schreckens, des Leidens und der Todesangst, das uns in dieser Parabel (und in vielen anderen Texten, welche die Heilsbotschaft hinduistischer, buddhistischer und jainistischer Religionsgruppen propagieren) dargeboten wird. Es soll uns daran erinnern, dass der Mensch im Zyklus ungezählter Wiedergeburten von einem Tod zum nächsten taumelt, dass Krankheit und Alter die Kraft und Schönheit der Jugend rauben, dass alles Liebenswerte im Nu wieder dahinschwindet, sich auflöst, beziehungsweise zwischen den Fingern, die es festhalten wollen, zerrinnt. Selbst ein lieblicher Körper, der uns in den Bann leidenschaftlichsten Liebesgenusses ziehen könnte, erweist sich unter diesem analytischen Blick als bloße Haut, hinter der sich neben rohem Fleisch und harten Knochen ein ekliges Konglomerat aus Kot, Urin, Fett, Blut und Schleim verbirgt. Warum, so fragt man sich angesichts dieses Befundes, hängen die Menschen überhaupt am Leben? Warum kehren sie dieser Welt nicht den Rücken? Und die Antwort, welche Buddhisten, Jainas und die Vertreter eines Monismus unter den Hindus übereinstimmend geben, lautet: Weil sie mit Verblendung (moha) geschlagen sind; weil sie den vordergründigen Schein (mäyä) dieser aus vergänglichen Namen und Formen aufgebauten Welt für real halten; kurz, weil ihr Bewusstsein durch Unwissenheit (avidyä) verdunkelt ist. Gewiss, solche Trübung des individuellen Bewusstseins hat kosmogonische Funktion. Gäbe es sie nicht, so entstünde nicht jene - von den hier angeführten Schulen als irreführend bezeichnete - Wahrnehmung einer realen Vielheit vergänglicher Gestaltungen, die wir Welt nennen. Es gäbe vielmehr nur eine einzige Realität, nämlich das eine, reine, allumfassende, oft als göttlich bezeichnete Bewusstsein, das in sich ruht und in allen Produkten seiner Vorstellung als das unvergängliche Eine erkennbar bleibt. Für die individuelle Seele aber, deren Bewusstsein durch Unwissenheit (avidyä) getrübt, durch Verblendung in die Welt eingebunden ist, und die wegen ihrer Bin-
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dung an einen Körper und damit an die Kategorien Zeit und Raum in ihrer Wahrnehmungs- und Handlungsfreiheit radikal eingeschränkt ist - für diese Seele wird die Welt zu einem Erfahrungshorizont, der in allen Bereichen vergänglich ist und daher unausweichlich das Leid der Trennung hervorruft. Je mehr Glück er bietet - in der Liebe, in der Schönheit, in der Befriedigung leiblicher und geistiger Bedürfnisse - desto größer wird der Schmerz der Trennung, das bittere Leid des Verlustes, des Sterbens, des vergeblichen Festhalten-Wollens von etwas, das keine Dauer hat und keine haben kann. Nicht Glück soll man daher suchen, sondern muss Gleichgültigkeit gegenüber den Reizen dieser Welt zu üben trachten. Man soll indifferent werden gegenüber Glück und Leid. Die weltverneinende Linie der indischen Tradition, die hier so deutlich zum Ausdruck kommt, ist eine erst in der spätvedischen Zeit erstmals auftretende und vor allem in der nachvedischen Periode sich systematisch entfaltende Sicht des weltlichen Daseins. Vorher galt die Welt nicht nur als göttlichen Ursprungs, sondern war selbst von Göttern bewohnt und von Göttlichkeit durchdrungen. Die Betonung lag nicht auf dem Leid, sondern auf dem Wunder des beseelten Lebens. Die Abkehr von dieser älteren Sicht in den asketischen und mönchischen Traditionen erhielt dadurch ein besonderes Gewicht in der literarischen Überlieferung, dass sich mehrere rivalisierende Gruppen, insbesondere die Buddhisten und die Vertreter des monistischen Vedänta, gegenseitig in eine Rhetorik hineinsteigerten, welche dem weltlichen Dasein Wert und Würde weitgehend absprach. Indem nämlich die Buddhisten die Existenz einer individuellen Seele (iitman) und damit eines bleibenden Wesenskerns im Kreislauf der Geburten leugneten, entzogen sie allem weltlichen Dasein die ihm innewohnende göttliche Präsenz. Und indem der monistische Vedänta im Gegenzug zwar an der Seele festhielt, die Welt selbst aber als Blendwerk (maya) einstufte, als irrige oder niedrige Wahrnehmung, die keine volle Realität besitze, opferte er die Göttlichkeit der Außenwelt, um sich ganz in die Bereiche einer geistigen Innenwelt zurückziehen zu können. Beide Standpunkte müssen jedoch im Kontext einer aus didaktischen Gründen überspitzt formulierten religiösen Dogmatik gesehen werden, die das Erlösungsziel des Menschen eindrücklich in den Vordergrund rücken will. Dem tatsächlichen Leben nahmen sie nicht einmal unter den Mönchen jegliche Lebensfreude und unter den Laien schon gar nicht. Das gilt auch für die Jainas, bei denen die besondere Rücksicht auf das Lebensrecht aller anderen Lebewesen und die daher geforderte Achtsamkeit ohnehin eine etwas andere Ausgangslage schuf. Festzuhalten ist ferner, dass zwar die Doktrin der Weltentsagung und Erlösung alles innerweltliche Glück als Erlösung hindernde Bindung an die Welt denunzierte, dass aber dem Prozess einer allmählichen Selbstreinigung und Annähe-
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rung an die Erlösung viele Leben zugebilligt wurden. In der Praxis bedeutet dies, dass man die Weitabkehr zwar üben kann, völliger Gleichmut gegenüber Glück und Leid jedoch nur von wenigen Menschen erreicht wird.
Gründe für die Weltabwendung Die Ablehnung innerweltlichen Glücks war durch ein neues Erlösungskonzept bedingt, das sich in Indien erst mit der breiten Durchsetzung der Wiedergeburtslehre entwickeln konnte, also ab dem 7. oder 6. Jh. vor unserer Zeitrechnung. Die beiden entscheidenden gedanklichen Voraussetzungen, auf denen sie beruht, ergaben sich als Konsequenzen aus der Brahman-Ätman-Spekulationjener Zeit5 welche in den älteren Upani~aden Gestalt angenommen hatte. Die erste dieser Voraussetzungen war eine schleichende Entwertung des Lebens, die sich mit seiner unbegrenzten Wiederholbarkeit ganz unbeabsichtigter und unerwarteter Weise einstellte, zumal recht bald deutlich wurde, dass sich ja nicht nur das Leben, sondern mit ihm auch alles Leid und der Tod wiederholen. Die zweite Voraussetzung war die bahnbrechende Erkenntnis, dass der Mensch sein bis dahin hilflos ertragenes Schicksal der Vergänglichkeit gar nicht als unabänderlich hinzunehmen braucht. Besitzt er doch als innersten Kern seines Wesens und als Quelle seines Bewusstseins den Ätman, ein Selbst, das nach der Erkenntnis der Upani~adenmit dem unvergänglichen und leidlosen Brahman identisch ist. Es ist also kein unumstößliches Gesetz, dass der Mensch sich mit vergänglichem Glück zufriedenzugeben hat, wie man bis dahin wohl glauben musste. Vielmehr ist dies nur die Folge von Unwissenheit, von Unkenntnis des eigenen Wesens, von Verkennung der verborgenen schöpferischen Kraft, die im Menschen und in allen Wesen wirkt und diese ganze Welt durchdringt und erhält. Dieses, als Brahman bezeichnete schöpferische Prinzip nämlich ist unvergänglich, und es ist der Erkenntnis zugänglich, wenn man sein Denken auf den eigenen Ätman richtet: Durch Selbsterkenntnis kann man heraustreten aus Unwissenheit und Vergänglichkeit und sich wiederfinden in der ungetrübten Reinheit des absoluten Seins, das durch Bewusstsein, und Glückseligkeit charakterisiert ist. Dort allein, in Brahman, ist das wahre Glück zu finden. Dies allerdings gelingt nur, wenn man sich von weltlichen, materiellen Bindungen gänzlich löst. 5
Die Denker der älteren Upani~en waren zu dem Schluss gekommen, dass es jenseits der Götter ein höchstes lebenspendendes und bewusstes Prinzip geben müsse: das Brahman. Dieses durchdringt die ganze Welt und ist die eigentlich wirkende Kraft in allen Wesen. Im Menschen ist es als Ätman, als bewusstes Selbst enthalten. Wer zu erkennen vermag, dass sein eigenes Selbst mit dem höchsten Brahman identisch ist, der, so glaubte man, findet Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten.
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Halten wir hier einen Moment inne, um eine kurze Zwischenbilanz zu ziehen. Vergänglichkeit, so zeigte sich, bedeutet immer Verlust; und Verlust verursacht notwendigerweise Leid. Glück, das vergänglich ist, wird daher von Leid überschattet. Wenn aber die Unvergänglichkeit des Menschen sein eigentliches und höchstes Ziel ist, und wenn dieses Ziel den Maßstab der Bewertung des Glücks abgibt, dann muss irdisches Glück als minderwertig erscheinen. Und nicht nur dies: Es wird als ein schwer zu überwindendes Hindernis erfahren, weil es die Menschen mit den Fesseln der Sehnsucht an Vergängliches bindet und ihm so den Weg zur Erlösung verstellt. Dieser Maßstab zur Bewertung des Glücks ist jedoch nicht der einzig mögliche. Wir wenden uns jetzt einem anderen Strang der religiösen Tradition der Hindus zu, in dem das Glück in einem veränderten Licht erscheint.
Weltbejahende Traditionen Vor der philosophischen Entdeckung, dass Brahman als Quelle allen Seins in den Wesen und Dingen präsent sein müsse und folglich auch im Menschen - als Ätman - zu finden sei, hatten die Inder der vedischen Zeit die Vergänglichkeit zwar auch bedauert, aber als gegeben hingenommen, so wie sie den Wechsel der Jahreszeiten oder den Wechsel von Tag und Nacht hinnahmen. Jedes Glück, das sich ihnen bot, hatten sie als Gabe der Götter empfunden, als freundliche Antwort auf ihre eigenen, nach Kräften gespendeten Opfergaben und auf die Preislieder, mit denen sie die Götter erfreuten. Was sie von den Himmlischen vor allem erflehten, war Gesundheit für Menschen, Pferde und Rinder; war auch reiche Kriegsbeute und vor allem zahlreiche und kräftige Söhne als Schutz im Krieg und im Alter sowie ein Leben von vollen hundert Herbsten und Ansehen in der Stammesgemeinschaft. Ihr Glück war das Glück der Liebe und des Krieges, das Glück beim Wagenrennen, beim Dichterwettstreit und Würfelspiel, das Glück des Erfolges, der Macht und des sichtbaren Segens der Götter. So groß war ihr Vertrauen in das Charisma des Glücklichen und die bei ihm erkennbare hilfreiche Präsenz der Götter, dass bei der Wahl eines Anführers das Würfelspiel den Ausschlag geben konnte: Nur wen die Götter lieben, dem geben sie sicher den Sieg. Von einer Abwertung der Welt war noch nicht die Rede. Im Gegenteil: Das Wunder des Kosmos und seiner Ordnung, insbesondere der gestirnte Nachthimmel riefen TÜckhaltlose Bewunderung hervor. Allein die Tatsache, dass der weite Himmel nicht herunterstürzte, dass dieses gewaltige Gewölbe ohne Stützbalken errichtet worden war, rief das Staunen des Dichters hervor, welcher sagte:
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Heinrich von Stietencron Jener war unter den Wissenden wahrhaft ein Künstler, Der diese beiden erschaffen hat: Himmel und Erde. Die weiten, tiefen, fest gegründeten Welten Ohne Balken fügte mit Kunst sie zusammen der Meisterl 6
WoW war das Glück in diesem Kosmos gefährdet durch Hunger, Krankheit, Unfall, Krieg, Alter und Tod, aber es gab Abwehrmöglichkeiten gegen diese Gefahren. Die Götter waren für den Rechtschaffenen Opferer ja ansprechbar und hilfsbereit. Sie waren unsichtbar, waren frei beweglich und konnten in Gedankenschnelle überall zugegen sein. Ihre ebenfalls unsichtbare Wohnstätte glich einer idealisierten Erde, einem Ort also, wo die Weiden stets saftig waren, wo himmlische Sänger musizierten und anmutige Nymphen die Sinne entzückten. Doch auch die Abwechslung des Kampfes fehlte nicht, wenn Dämonen die Ordnung der Welt zu stören versuchten. Diese Götter boten Schutz gegen viele Gefahren und standen dem opfernden Menschen auch im Kampfe bei. Darüber hinaus versuchte man, die Gefahren selbst gegeneinander auszuspielen. So weihte man zum Beispiel ein neugeborenes Kind dem Alterstod, damit dieser seine künftige Beute beschützen möge vor dem Zugriff von Hungertod, Krankheitstod, Unfalltod oder Tod im Kampf.? Die Welt selbst und ihre Ordnung betrachtete man als eine von Göttern geliebte und beschützte. Das vermittelte auch dem Menschen ein Gefühl der Sicherheit, sofern er sich an ihre Ordnung hielt. Solche affinnative WeItsicht zeigt sich auch in den älteren Schöpfungsmythen, so verschieden sie auch im Einzelnen sein mögen. Sie bestätigen die Göttlichkeit der Welt, sei sie durch Emanation oder Opfer entstanden, sei sie geboren, geschaffen oder von der Gottheit erdacht und realisiert. Die Glückhaftigkeit der Welt ist sogar so selbstverständlich, dass man bei der Ablösung der alten Götter durch das neue und abstrakte Konzept des Brahman diesem ersten schöpferischen Prinzip durch Rückschluss von der Wirkung Welt auf ihre Ursache drei unbezweifelbar gültige Bestimmungen zuordnen konnte, nämlich dass ihm Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit eigen sein müssen. Diese drei Bestimmungen gelten für das Brahman und für seine weltimmanente Präsenz als Ätman, als Selbst aller Wesen, das zunächst in der Höhle des Herzens lokalisiert wird. Damit - und das ist für die hier angesprochene Richtung des indischen Denkens von Bedeutung - gehört Glückseligkeit zu den zentralen Wesensmerkmalen des Lebendigen. In der TaittirIya Upani~ad 2.5 wird dieser Wonne-Charakter des Ätman folgendermaßen bildhaft in (sitzender) Menschengestalt beschrieben: "Lie6 7
Rigveda IV, 56, 3 Rupprecht Geib, Wie schützt der Tod vor dem Tode? Abhandlungen des 19. Deutschen Orientalistentags 1975.
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be8 (priyam) ist sein Haupt, Freude (moda) seine rechte Seite, Entzücken (pramoda) seine linke Seite, Gückseligkeit (iinanda) sein Leib, Brahman ist der Hintern, das Fundament." Man kann sich diesen Glücksleib des Atrnan nach dieser Schilderung deutlich vorstellen, wie er in Meditationshaltung, wahrscheinlich mit im Lotossitz verschränkten Beinen dasitzt und ein ruhendes, Zufriedenheit und Kraft ausstrahlendes Zentrum des inneren Menschen bildet. Doch nicht nur der Atrnan hat diesen Wonne-Charakter, auch die Welt hat ihn. So heißt es in der Taittmya Upani~ad 2.7 weiter: "Denn das Brahman selbst schuf die Welt als seinen Leib, sodass man sie eine Gut-Geschaffene nennt. 9 Dieses Gut-geschaffen-sein, das ist ihre Essenz. Denn wer könnte einatmen, wer könnte ausatmen, wenn es im leeren Raum dieses Glück (iinanda) nicht gäbe? Dies nämlich beglückt."10 Es setzt sich also die weltbejahende Linie der religiösen Tradition des Veda auch in der Brahman-Atrnan Lehre fort, und sie führt, wie wir gleich sehen werden, weiter zu den großen theistischen Religionen der klassischen und nachklassischen Periode Indiens. Wenn die weltverneinende Linie in Europa stärker wahrgenommen wurde, so liegt dies an der großen Beachtung, die dem Buddhismus und dem monistischen Advaita-Vedänta zuteil wurde. In Indien aber war die Weltbejahung philosophisch nicht weniger stark vertreten und sie erfasste ein weit breiteres Spektrum der Bevölkerung, als die mönchischen Bewegungen. Solche Weltbejahung kommt keineswegs nur bei den anfangs zitierten Materialisten zum Ausdruck, welche nicht an die Wiedergeburt glaubten und sich über die Genussfeindlichkeit der Asketen und Mönche lustig machten. Gewiss, so sagten sie, gibt es Leid in der Welt. Welcher vernünftige Mensch wird aber deshalb auf alles Glück verzichten wollen? "Lebensziel der Menschen ist doch allein das Glück, welches entsteht aus der Umarmung von Frauen und aus anderen (Quellen). Nicht soll man meinen, das sei kein Lebensziel, weil es mit Leid durchsetzt ist. Denn auch ein kleines Glück ist genießenswert unter Meidung des Leids, das unvermeidlich kommt. ... Wer zum Beispiel Fische begehrt, nimmt sie trotz Schuppen und Gräten. Soviel man davon gebrauchen kann, soviel nimmt er, vom Rest lässt er ab.... Und welcher Mensch, der sein Wohl erstrebt, wird Reisähren aufzugeben wün-
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Oder Freundlichkeit, Zuneigung.
tad [= idam, die Welt] iitmiinalfl svayam akurota tasmiit tat sukrtam ucyate. Wortspiel mit svayam-
kr (selbst machen) und su-kr (gut machen). Taittirlya Upani~ 2,7.
yad vai tat sukrtalfll raso vai safll... ko hy eviinyiit kafl prii(lyiitl yad e$a iikiiSa iinando na syiitl e$a hy eviinandayiiti.... 1 Taittirlya Upani~ad 2,7. Ich fasse änandayäti als Konjunktiv zum Denominativum änandaya- auf. Dieser Konjunktiv hat im Deutschen keine Entsprechung, es sei denn man übersetzte: Dies nämlich ermöglicht Glück.
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schen, die reich sind an vorzüglichsten weißen Körnern, bloß weil sie von Staub und Hülsen bedeckt sind?"ll Die Weltbejahung bricht sich in den ersten Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung auch in einer Reihe von neuen Religionen Bahn, von denen heute vor allem Vi~Q.uismus und Sivaismus noch als beherrschende Religionsgemeinschaften existieren. Gemeinsam ist ihnen der Glaube an einen höchsten Gort, der die Welt erschaffen hat und über die kosmische und moralische Ordnung wacht. Gemeinsam ist ihnen etwa ab der Zeitenwende auch, dass dieser Gort sich in mehreren Gestalten zeigt. Wie das Brahman ist er alldurchdringend und omnipräsent. Andere Gottheiten vereinnahmt er als Aspekte seiner selbst oder als untergeordnete Hilfskräfte im kosmischen Gefüge. Von diesen Religionen haben aufDauer nur der Vi~Q.uismus und der Sivaismus überlebt. Alle anderen wurden allmählich von diesen beiden Hauptströmungen absorbiert. Beide haben die Vorstellung übernommen, dass der Gort sich bei Bedarf in die Welt inkarniert, um Dämonen zu vernichten, die gefährdete Ordnung wieder aufzurichten und um den Menschen die erlösende Lehre in zeitgemäßer Form neu mitzuteilen. Sie greifen zum Teil vedische Traditionen auf, binden diese aber in eine monotheistische Gorteskonzeption ein und propagieren Yoga und Gortesliebe (bhakti) als gangbare Wege zur Erlösung für alle Schichten des Volkes. Der Yogaweg fordert eine Kontrolle des Atems, eine weitgehende Beruhigung der Körperfunktionen und die Lösung der Sinne von den Sinnesobjekten, um dem Geist jene ungestörte, höchst konzentrierte Versenkung zu ermöglichen, welche zum Durchbrechen der Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zum Einswerden mit dem Objekt und damit zur mystischen Einheitserfahrung führen soll. Diese Erfahrung wird in vielen Texten als überwältigendes Glücksgefühl geschildert. Sie ist mit der intensiven Wahrnehmung strahlenden Lichts verbunden und im Übrigen unbeschreibbar oder nur durch Worte wie Liebe, Seligkeit, Ekstase relativ vage anzudeuten. Dass eine solche mystische Glückserfahrung auch die Bestimmung des Brahman als Sein, Bewusstsein und Glückseligkeit existentiell bestätigte, ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Der Weg der Bhakti andererseits fordert zunächst die vertrauensvolle und dienende Zuwendung an die Gottheit. Bei allem vom Schicksal verhängten oder als Frucht von Taten aus früheren Leben gedeuteten Elend und Leid, das dieses Leben bringen mag, muss doch die Gewissheit überwiegen, dass die höchste Gottheit die11
SarvadarSanasaIllgraha 1. 18: matsyiirth'i saSalkän sakalJ!hakän matsyiin upiidatte I sa yiivad iideyam tiivad iidiiya nivartate I... vr'ih'ifi jihiisati sitottama-taTJtlulii4hyiin I ko niima bhos tu~a-ka{lopahitiin hitiirth'i I
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se Welt samt allen Geschöpfen liebt und ihnen gnädig gesinnt ist. Diese Basis der Bhaktireligionen wird schon in der Bhagavadgltii eindeutig ausgesprochen: Kr~l)a, der sich in diesem Text als höchster Gott offenbart, liebt die Geschöpfe, die er geschaffen hat. Die bloße Tatsache, dass er sie liebt, sollte auch seine Anhänger um seinetwillen dazu bewegen, alle Wesen zu lieben. Liebe ist denn auch ein dominantes Motiv der Kr~l)a-bhakti. Sie zieht die Seele hin zur Gottheit und die Gottheit zur Seele des Individuums. 12 Nicht Verlöschen ist das Ziel, sondern Vereinigung, Verschmelzung von Geliebtem und Geliebter, vom inkarnierten Gott Kr~l)a und dem Hirtenmädchen Riidhii, von absolutem Bewusstsein und individuellem Bewusstsein. Die Liebessymbolik, mit der diese Mensch-GottBeziehung beschrieben wird, bedient sich aller Register menschlicher Leidenschaft und Zärtlichkeit, aller Höhen und Tiefen der ersehnten Vereinigung und der leidvollen Trennung, des erwarteten Glücks und der hoffnungslosesten Verzweiflung. Sie kennt das Scherzen und Kosen, das keusche Sich-Zieren, das Sich-Finden und noch schüchtern tastende Sich-Beglücken ebenso, wie das vergebliche Warten auf den Geliebten, die unerträgliche Sehnsucht, den Kummer des Alleinseins und die zehrende Eifersucht beim Gedanken, dass der Geliebte sich vielleicht einer Anderen zugewandt haben könnte. Der Mensch - das zeigt sich in allen Texten dieser Bhaktifrömmigkeit - wird als liebende Frau konzipiert, der Gott als ihr Geliebter. Glück ist hier höchstes Ziel und Erfüllung des Liebesverlangens. Doch die Läuterung der Seele, ohne die eine Vereinigung mit der Gottheit nicht zustande kommt, geschieht durch den Schmerz der unerfüllten Liebe, durch das Dahinschwinden allen Stolzes und durch die Sehnsucht, welche alle Gedanken auf den femen Geliebten lenkt und ihn über alles erhöht. Viraha-bhakti, die ,Liebe in der Trennung', nennen die Inder diese überaus mächtige Form der Gottesbeziehung, in der Schmerz und Leiden positiv besetzt sind als notwendiger Prozess der Selbstreinigung ebenso wie als kontrapunktisch angelegte Steigerung jener überwältigenden Erfahrung höchsten Glückes, die dann schließlich im Vollzug der Vereinigung alle Grenzen des Individuums sprengend autbricht. 13 Kr~l)a ist zugleich Mensch und Gott. Er ist eine Inkarnation des höchsten Gottes Vi~l)u-NiiriiYal)a, jener unergründlichen Gottheit, welche diese Welt erschafft und erhält und, wenn sie verbraucht und degeneriert ist, wieder zerstört, um sie in vollem Glanze neu zu erschaffen. Liebevoll und hilfreich ist dieser anfangslose Gott der Welt zugewandt. Seine Gemahlin und Sakti, das einzige ande12 13
In dieser Hinsicht ist Bhakti vergleichbar mit dem Konzept des amor dei, welcher ebenfalls sowohl die Liebe des Menschen zu Gott als auch die Liebe Gottes zum Menschen bezeichnet und eine gegenseitige Annäherung bewirkt. Zu Konzept und früher Geschichte dieser Form der Devotion vergl. Friedhelm Hardy, Vrrahabhakti: the early history ofKnJ;1a devotion in South India, Delhi, Oxford University Press 1983.
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re anfangslose und ungetrübt reine Wesen, das es neben ihm gibt, ist Lak~mI, die Göttin des GlÜcks. 14 Auch hier ist Glück also ewig und existiert vor allem weltlichen Dasein. 15 Und mit seinem Eintreten in die vergängliche Welt wird es auch hier vergänglich. Aber die Bewertung ist anders. Die Vergänglichkeit ist göttliche Absicht, sie erfüllt einen Zweck, der dem Heilsgeschehen dient. Welchen Sterblichen würde denn das Glück faszinieren oder auch nur interessieren, wenn es zu jeder Zeit zur Verfügung stünde? Es lockt, es reizt, es entzückt ja nur, weil man es nicht ständig hat, weil es unerwartet kommt und ebenso unerwartet geht, weil es mit grenzenloser Phantasie in Tausend verschiedenen Formen erscheint, weil es präsent und doch nicht zu fassen ist, weil es spielerisch und schalkhaft alle Wesen verführt. Der trägen Materie, aus welcher diese Welt gebildet ist, verleiht es so ein leuchtendes Fünkchenjenes göttlichen Charmes, der kennzeichnend ist für den Gott Vi~u und für sein göttliches Spiel. Vergänglichkeit mag auch hier Leid bringen. Sie ist aber für das Glück als Glück konstitutiv. Gäbe es sie nicht, so wäre das Glück kein Glück, dessen Attraktion gerade darin liegt, dass es nicht zum Alltäglichen verflacht. Auch das Leid ist aus dieser Sicht gottgewollt und göttlich. Es ist Teil jenes kosmischen Spiels, das betört und verstrickt, aber auch befreit und erlöst - eines Spiels, das nicht außerhalb der Gottheit stattfindet, sondern in Gott, der diese Welt und alle Wesen umfasst und behütet, der sie durchdringt und in Allem präsent ist. Glück wird daher zum direkten Hinweis darauf, dass uns Göttliches Sein überall umgibt, dass nichts Existierendes so elend wäre, als dass nicht göttliche Präsenz in Form eines plötzlichen Glücksgefühls auch darin aufleuchten könnte. Maßstab für die Bewertung dieses Glücks ist nicht die Vergänglichkeit, sondern die Richtung, in die es weist, die Liebe, die es weckt, die Hinwendung und Sehnsucht zur Gottheit als Ursprung und Ziel allen Glücks, die es erzeugt. So wird Glück - das in kleiner Dosierung erfahrene ebenso wie das noch unerfüllte 14
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Dies trifft zu auf die Theologie der Päiicarätra-Schule und die auf dieser fußenden Schulen des Riimänuja und seiner Nachfolger. Bei anderen Schulen ist es Vi~l)us Maya, welche diese Stelle einnimmt. Auch andere Gottheiten werden je nach Zuständigkeit als Garanten eines partiellen Glücks verehrt: um Prüfungen in Schule und akademischer Laufbahn glücklich zu überstehen, wendet man sich an Sarasvan, die Göttin der Gelehrsamkeit. Der elefantenköpfige Gott GaI)esa, welcher Hindernisse aller Art beseitigen kann, hilft insbesondere den Buchhaltern, damit ihre Bilanzen zum Jahresende stimmen sowie Schülern und Studenten bei ihren Examen. Auch gefährliche Göttinnen, die normalerweise tödliche Krankheiten bringen, können durch rechtzeitige Verehrung gnädig gestimmt werden und zum Glück der Familie beitragen, indem sie ihre unheilvollen Krankheiten fernhalten. Die Glücksgöttin Lak~mI selbst ist vor allem für das Glück in Ehe und Familie, in Wirtschaft und Handel und im Königtum zuständig. Dies gilt, obgleich auf mythischer Ebene über die Geburt der Laqmi bei der Quirlung des Milchmeers berichtet wird.
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aber heiß ersehnte - zum lenkenden Instrument eines Heilswegs, der auf Bhakti, auf liebender, dienender und vor allem auf vertrauensvoller Hingabe an die Gottheit beruht. Das läuternde Leid gehört zu diesem Weg wie die Flamme zum Licht.
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Kleiner Nachtrag
Niccolo Macchiavelli, 1469-1527
Das Glück (L' occasione) Wer bist Du? Darf ich Dich als Göttin griissen? Wo fliehst Du hin mit flatterndem Gewand? Und warnrn trägst Du Flügel an den Füssen? "Ich bin das Glück, nur wenigen bekannt; an keiner Stätte darf ich mich verweilen: rasch rollt das Rad, auf dem ich steh, durchs Land. Kein Sterblicher vermag mich zu ereilen; und Flügel trage ich an meinem Schuh, um leicht im Lauf die Lüfte zu zerteilen. Mein langes Haar deckt Brust und Antlitz zu, dass niemand mich erkennt, der mich gewahrt, wenn ich von vom ihm nah in jähem Nu. Am Hinterkopfe bin ich unbehaart, dass jedem, der mich jagt, ich glatt entgleite, will er am Schopf mich packen auf der Fahrt." Sag mir, wer ist der Schatten Dir zur Seite? ,,Die Reue. Wer mich fehlt, hat sie erhascht und siecht durch sie dahin in innrem Streite. In müßger Fragegier hast Du genascht von törichtem Geschwätz. Nichts kann mich binden. Die Stunde ist vertan. Und überrascht begreifst Du nichts - und siehst mich schon verschwinden."
Heilsverkündigung und Heilserwartungen im Neuen Testament Alfons Weiser
Der Kanon der Heiligen Schrift des Christentums besteht aus den Heiligen Schriften 1 des Alten und des Neuen Testaments. Erstere hat das Christentum zum größten Teil mit dem Judentum gemeinsam, letztere gelten ihm allein als Heilige Schriften. Zwischen dem Alten und dem Neuen Testament besteht - ebenso wie zwischen dem Judentum und dem Christentum - Gemeinsamkeit und Verschiedenheitz. Die Gemeinsamkeit ist vor allem darin zu sehen, dass es ein und derselbe Gott ist, dem sich die Offenbarung des Alten wie des Neuen Testaments, die Heilsgeschichte des Alten wie des Neuen Bundesvolkes verdankt3 • Die Verschiedenheit zeigt sich darin, dass sich nach christlichem Glauben der Gott Israels in unüberbietbarer Selbstmitteilung in der Person, dem Werk und dem Geschick des Juden Jesus aus Nazaret offenbart hat, woraus sich manche Differenzen zu den bis dahin geltenden Traditionen Israels ergaben. Fragt man nach dem Hauptinhalt, nach der zentralen Botschaft der neutestamentlichen Schriften, so wird man sagen dürfen: Sie bezeugen insgesamt, dass der eine Gott Israels durch seinen Sohn Jesus Christus totales, universales Heil ermöglicht hat und es durch den von beiden ausgehenden Heiligen Geist vollenden wird. Dabei ist zu beachten, dass mit dem in dieser Aussage enthaltenen Trinitätsbekenntnis nicht etwa der Glaube an den einen Gott preisgegeben wird. Totales Heil meint: Wohlbefinden des ganzen Menschen mit Leib, Geist, Seele sowie mit seinem Bezug zu den Mitmenschen und zur Umwelt. Universales Heil meint: Dieses von Gott gewirkte Heil ist allen Menschen aller Zeiten und Räume zugedacht'. Im Folgenden versuche ich, die wichtigsten
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Nach Wissmann, Schriften (1995) 1280 konstituieren folgende Kriterien den religionswissenschaftlichen Begriff und grenzen Heilige Schriften von anderen Texten ab: 1. Außerweltlicher Ursprung; 2. Unveränderbarkeit des Textbestands; 3. Grundlegende Bedeutung für die Identität und Lebensfiihrung der Gläubigen; ähnlich Hoheise1, Schrift(en) (1987) 256f. Vgl. zum Phänomen und dem gegenwärtigen Forschungsstand U.a. Dohmen/Söding, Bibel (1995); Hübner, Kanon (2003) 3-17. Vgl. Gnilka, Heil (1995) 1260-1262; Scho1tissek, Heilserwartung (1995) 101f; Weiser, Heilsgeschichte (1995) 1336-1339. Eine neutestamentliche Spitzenaussage, in der dies zum Ausdruck kommt, ist 1Tim 2,4: Gott "will, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen." Zur bemerkenswerten Verbindung des Rettungs- und Wissensmotivs in der "sapientia1en Soteriologie"
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Konturen neutestamentlichen Heilsverständnisses aufzuzeigen und Rechenschaft darüber zu geben, worin die Gründe der berechtigten Hoffnung liegen, dass die Heilserwartungen sich erfüllen. Ich folge damit der Aufforderung des ersten Petrusbriefs: "Seid stets bereit, jedem Antwort zu geben, der euch nach der Hoffnung fragt, die in euch lebendig ist" (lPetr 3,15). Da nach neutestamentlichem Zeugnis der wichtigste Grund christlichen Glaubens und Hoffens das Christusereignis ist, soll dies unter dem Gesichtspunkt der "Heilsverkündigung" zunächst dargestellt werden (1). Als wichtigste Quellen gelten dafür die Evangelien. Sodann möchte ich unter dem Gesichtspunkt ,,Heilserwartungen" darstellen, welche neuen Heilserfahrungen und Heilshoffnungen sich aufgrund des Christusereignisses ergaben und in den neutestamentlichen Schriften Ausdruck gefunden haben (2). Ein abschließender Ausblick wird der Frage gewidmet sein, wie sich "Heil" und "Glück" zueinander verhalten (3). Die beiden ersten Gesichtspunkte lassen sich nicht ganz scharf voneinander trennen. Überschneidungen bestehen z.B. darin, dass ja bereits die Evangelientexte selbst sowie ihre Verfasser und deren Gemeinden Zeugnisträger jener Hoffnungen und Heilserwartungen sind, welche der Nazarener Jesus, von dem sie berichten, nicht nur als irdischer, sondern darüber hinaus auch als auferstandener hervorgerufen hats. Oder man denke etwa daran, dass und wie aus dem Verkündiger der Verkündigte wurde. Auch ist als Vorüberlegung zu berücksichtigen, dass die Heilsverkündigung Jesu ohne die Gottesoffenbarung des Alten Testaments und ohne die Religionsgeschichte des Frühjudentums6 nicht zu denken ist und dass deshalb das Christusereignis, wie es in den neutestamentlichen Texten zur Sprache kommt, selbst schon in vielfältiger Weise als Erfüllung von Heilsverheißungen und -erwartungen gilt.
1. Die Heilsverkündigung Jesu Die älteste Evangelienschrift fasst den Anfang und den Gesamtinhalt der Verkündigung Jesu mit den Worten zusammen; Er "verkündete das Evangelium Gottes und
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des Neuen Testaments vgl. Löning, Konfrontation (2002) 22-41. Zu diesem Phänomen speziell in den Pastoralbriefen vgl. Blecker, paratheke (2002) passim. Zur Verbindung des Rettungs- und Universalitätsmotivs als kennzeichnend für Missionsreligionen im Unterschied zu Stammes- und Volksreligionen vgl. ebd. 235 mit Verweis auf Flasche, Heil (1993) 72f. Zur historischen Rückfrage im Rahmen heutiger Geschichtstheorie und Hermeneutik vgl. Theißeni Merz, Jesus (1997) 22-33.96-124; Müller, Trends (1998) 2-16; Niemand, Jesus (2003) 253-259; Reinmuth, Historik (2003) 35-86; Schröter, Wissenschaft (2003) 855-866. Vgl. dazu u.a. Lang, Religion (1994) passim; Veltri, Konzepte (1994) passim; Gnilka, Heil (1995) 126Of; Scholtissek, Heilserwartungen (1995) 99-101; Hahn, Glück (2002) 110-118.
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sprach: Die Zeit ist erfüllt, und herangekommen ist die Herrschaft Gottes. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1,14f; vgl. Mt 4,17). Das Lukasevangelium bietet den programmatischen Anfang in erweiterter Form dar, und zwar in zwei eindrucksvoll gestalteten Szenen mit je einer zugehörigen Rede Jesu. In der ersten Szene erzählt der Evangelist, dass Jesus seine Verkündigung während eines Synagogengottesdienstes in seinem kleinen galiläischen HeimatdorfNazaret begann. Er las aus dem Prophetenbuch des Jesaja: "Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, Armen eine gute Botschaft zu bringen, Gefangenen Befreiung, Blinden das Augenlicht, Zerschlagene in Freiheit zu setzen und ein Gnadenjahr des Herrn auszurufen." Dann erklärte er: "Heute hat sich dieses Schriftwort erfüllt" und kurz danach: Er sei gesandt, "die Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden" (Lk 4,18-21; 4,43). In der zweiten Szene berichtet Lukas, dass Jesus nach der Auswahl der Zwölf Apostel vom Berg herabstieg und zu ihnen und einer größeren Jüngerschar sprach: "Selig ihr Armen, denn euer ist das Reich Gottes. Selig ihr Hungernden, denn ihr werdet gesättigt werden. Selig ihr Trauernden, denn ihr werdet lachen" (Lk 6,20; vgl. Mt 5,3-6). Jesus spricht hier in Form einer antiken, innerhalb und außerhalb der biblischen Tradition verbreiteten Gratulationsformel Glückwünsche aus. Die Form ist konventionelF, der Inhalt aber höchst originell und bemerkenswert, ja Anstoß erregend. Wie können Menschen beglückwünscht werden, die sich in der konkreten Notlage von Armut, Hunger und Trauer befinden, womit ganz umfassend äußere und innere Nöte und Leidenssituationen gemeint sind? Billiger Trost wäre Spott, Nicht-Ernstnehmen wäre Hohn. Auch um eine Vertröstung, etwa auf ein besseres Jenseits, kann es sich nicht handeln; denn es wird ja denArrnen hier und jetzt Besseres zugesagt. Der Sinn erschließt sich nur, wenn deutlich wird, was Jesus und die Evangelien mit dem Anteilgewinnen am Reich Gottes meinen. Der Begriff Reich bzw. Herrschaft Gottes, der in allen bisher erwähnten Texten begegnete, kennzeichnet das Zentrum der Botschaft Jesu. Auch am Vaterunser, dem Gebet, das Jesus seine Jünger lehrt, zeigt sich dies. Die Bitte: "Dein Reich komme!" steht im Mittelpunkt (Mt 6,10; Lk 11,2). Was es mit der Botschaft Jesu vom Reich Gottes zum Heil für die Menschen näher hin auf sich hat, zeigt sich deutlicher, wenn wir sehen, dass sie mit Gegenwart und Zukunft, mit Irdischem und Himmlischem, mit Gott und Mensch, mit leiblicher und seelischer Heilung, mit Freude und Leid zu tun hat.
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Reiches Belegmaterial u.a. bei RadI, Lukas (2003) 374-376. - Vgl. auch ebd. 242-287, 366-390 die Behandlung der historischen, traditions- und redaktionsgeschichtlichen Fragen zu den hier genannten Texten; zum "galiläischen Kolorit" von Lk 6,20 vgl. Hoppe, Galiläa (2003) 196f.
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1.1 Gegenwärtige Heilserfahrungen und zukünftiges Heil Zunächst fällt auf, dass Jesus im Unterschied zu der vorherrschenden Heilserwartung seiner Umgebung, zumal der apokalyptischen, betont: jetzt langt Gottes Königsherrschaft an; heute beginnt sich zu erfüllen, was Gott durch Jesaja verheißen hat; schon jetzt bekommt ihr Armen Anteil am Reich Gottes. Andere Evangelientexte weisen in die gleiche Richtung, nämlich dass mit der Person Jesu, mit seinem Wort und seinem Wirken hier undjetzt im Erfahrungshorizont seiner Mitmenschen in Israel Gottes Heil anfanghaft erfahrbar wird. Es zeigt sich z.B. daran, dass Jesus sein eigenes Wirken so deutet: "Wenn ich mit dem Finger Gottes die Dämonen austreibe, dann ist die Gottesherrschaft bis zu euch herangekommen" (Lk 11,20; vgl. Mt 12,28)8. In dem Wort kommt zum Ausdruck, wie Jesus selbst sein Wirken versteht: Er sieht in ihm Gottes Wirken zum Zug kommen; es befreit Menschen von unheilvollen Zwängen und von jeder Art der Unheilsmächte und es vollzieht sich so, dass Menschen die Befreiung im gegenwärtigen Hier und Heute als Ankunft, als Sich-Ausbreiten der Gottesherrschaft erfahren. Auch die Heilungen Jesu gelten nicht nur als Zeichen für das noch ausstehende Reich Gottes, sondern in ihnen gelangt es schon wirklich zu den Menschen und ragt in die Gegenwart herein. Auf die Anfrage, ob Jesus der zu erwartende Heilbringer sei, oder ob man noch auf einen anderen warten solle, antwortet er mit dem Hinweis auf sein Wirken und einem deutenden Zitat aus der Heilsprophetie des Jesajabuches: Geht hin und verkündet, "was ihr gesehen und gehört habt: Blinde sehen wieder, Lahme gehen, Aussätzige werden rein, Tote stehen auf und Armen wird die Heilsbotschaft verkündet" (Lk 7,22; Mt 11,5; vgl. Jes 35,5t). In der Sicht Jesu sind die Mächte des Bösen und der Schadensgeister bereits gebrochen. Er sah "den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen" (Lk 10,18) und "den Starken" bereits überwunden (Mk 3,27)9. Deshalb gratuliert Jesus auch den Jüngern und preist sie selig, weil sie sehen und hören, was "viele Propheten und Könige" sehen und hören wollten, es aber nicht gesehen und gehört haben (Mt 13, 16f; Lk 10,23t). Dass und wie die Gottesherrschaft schon gegenwärtig als Not-wendend erfahrbar wird, kommt
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Zur Übersetzung, der Differenz zurApokalyptik und zum Sinn des Logions vgl. Weder, Gegenwart (1993) 26-34; Weiser, Theologie (1993) 3lf; Heininger, Reich (2002) 76; Ebner, Jesus (2003) 142f. Weder, Gegenwart (1993) 43 formuliert zugespitzt, aber m.E. richtig: Jesu "Wrrken ist eine Folge der eschatologischen Wende. Jesus bringt nicht die Basileia, sondern die Basileia bringt Jesus mit sich. Deshalb ist Jesus nicht ein Faktor im Kampf um die eschatologische Wende, vielmehr stellt sein Leben die Feier dieser Wende dar." Statt der Kampfmetapher stehe deshalb die Kindesmetapher (Mk 10,15).
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auch im Sendungsauftrag Jesu an seine Jünger zum Ausdruclc "Heilt die Kranken und sagt ihnen: Gottes Herrschaft" wird darin erfahrbar (Lk 10,9; vgl. Mt 10,7t)l0. An den Exorzismen und Krankenheilungen Jesu als integralem Bestandteil seiner Wort- und Tatverkündigung lässt sich nicht nur der Gegenwartscharakter der anlangenden Gottesherrschaft ablesen. Sie weisen auch - bei aller großen Bedeutsamkeit des jetzt schon partiell Erfahrbaren! - über sich hinaus. Sie erweisen sich als anfanghafte Erfahrungen des Heils, das Gott durch Jesus vollenden und allen Menschen zukommen lassen will. Wie Heilung und Heil zusammenhängen, lässt sich z.B. gut in der Erzählung von der Heilung des Taubstummen erkennen (Mk 7,32-37). Während zunächst doch nur erzählt wird, dass Jesus dem einen Kranken "die Ohren geöffnet und die Fessel seiner Zunge gelöst hat", bekennen abschließend die Anwesenden voller Begeisterung: "Gut hat er alles gemacht. Die Tauben bringt er zum Hören, und die Stummen zum Reden." Der Evangelist Markus hat diesen Chorschluss in bewusster Anlehnung an alttestamentliche Aussagen formuliert. In Gen 1,31 heißt es von Gottes Schöpfungswerlc "Er sah alles, was er gemacht hatte, und es war sehr gut." Die Bilder vom endzeitlich-messianischen Heil enthalten bei Jesaja die Verheißung: "Die Ohren der Tauben werden hören, und die Zunge der Stummen wird gelöst werden" (Jes 35,S±). Markus und seine Mitchristen sahen in Jesu Wort und Wirken, Tod und Auferweckung die neue Schöpfung grundgelegt, in der" alles gut" sein werde. Sie glaubten sich selbst schon in der Heilszeit lebend und die Ankündigung des Jesaja sich erfüllen, trotz allernoch bestehenden Nöte und Bedrängnisse. Im Chorschluss drückt sich ein umfassendes Hoffnungs- und Glaubensbekenntnis aus. Es hat begründeterweise seine Wurzeln im Wort und Wirken des irdischen Jesus, in den punktuellen, partiellen Heilungserfahrungen einzelner Menschen, freilich darüber hinaus auch in den Ostererfahrungen. Ein derartiger Zusammenhang zwischen Heilwundern und eschatologischem Heil findet sich meines Wissens in der Antike nur im Neuen Testament.
1.2 Die Botschaft der Gleichnisse Auch die Gleichniserzählungen Jesu stehen ganz im Dienste seiner Reich-GottesBotschaft. Oft beginnen sie mit der Wendung: "Mit dem Reich Gottes verhält es sich wie ...", und dann ist z.B. von der Saat die Rede, die trotz widriger Umstände einen erstaunlichen Ertrag bringt, oder vom unscheinbaren Senfkorn, das sich zum großen Gewächs entfaltet (Mk 4,4-8.30-32), oder von der kleinen Menge Sauerteig, der den ganzen Teig durchsäuert (Mt 13,33). Der Kontrast zwischen unscheinbarem Anfang und erstaunlich großem Endergebnis soll zum einen das Vertauen auf 10
Vgl. zu den vorstehenden Interpretationszusammenhängen Merklein, Gottesherrschaft (1989) 65-68; Weiser, Theologie (1993) 31f; Heininger, Reich (2003) 75-79.
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Jesus wecken, dessen Wirken recht unscheinbar begann, und zum anderen Hoffnung darauf, dass das Reich Gottes vollendet werden wird. Dass es Gott ist, der die Vollendung bewirken wird, kommt besonders deutlich im Gleichnis von der selbstwachsenden Saat zum Ausdruck (Mk 4,26-29). Wie Gott der Erde und den Samenkörnern ihre erstaunliche Fruchtbarkeit schenkt und sie gedeihen lässt, so wird er seine Herrschaft, das Reich Gottes, zur erstaunlichen Vollendung bringen zum Heil für die Menschen. Die Gleichnisse zeigen überdies ,,nicht nur auf, wie die Herrschaft Gottes im ganz normalen menschlichen Alltag zum Zug kommt, sondern sie wollen auch dafür werben, daß" sie im ganz normalen menschlichen Alltag zum Zug kommelI. Jesus nimmt das Unscheinbare, das Alltägliche seiner Lebenswelt wahr und bezieht es auf das Gottesreich. Während in der Apokalyptik die Gegenwart, ja die ganze Weltzeit vorwiegend als Zeit des Defizits betrachtet wird (vgl. u.a. 4Esr 7,11f) und es z.B. heißt: "Du kannst nicht, vergänglich in einer vergänglichen Welt, den Weg dessen, der unvergänglich ist, erkennen" (4Esr 4,11), nimmt Jesus dagegen "im Fragment der Gegenwart das Geheimnis der großen Zukunft" wahr12 • Er leitet dazu an, in Sonnenaufgang und Wetterlage (Mt 5,45; Mt 16,2f), in der Lilie auf dem Feld und am Vogel in der Luft (Mt 6,24-34), in der Freude eines Hirten über das wiedergefundenes Schaf (Mt 18,12f), in der Freude einer Frau über die wiedergefundene Drachme (Lk 15,8-10), in der Freude des Vaters über die Heimkehr des in die Irre gegangenen Sohnes (Lk 15,11-32), in der Freude über einen gefundenen Schatz oder eine kostbare Perle (Mt 13,44-46) Erfahrungen mit dem jetzt anlangenden Gottesreich zu entdecken und zu erkennen, worauf es ankommt. Gottvertrauende Gelassenheit, Freude und beglückende Erfahrung spielen dabei eine große Rolle. Manche Gleichnisse weisen auf den ethischen Entscheidungs- und Aufforderungscharakter der Gottesherrschaft hin. Es wird z.B. in den Gleichnisbildern, die von Wachsamkeit und Bereitschaft sprechen, dazu aufgerufen, die Chance der gegenwärtig erfahrbaren Gottesherrschaft nicht zu verpassen (z.B. Mt 24,43f; 25,1-13), oder es wird davor gewarnt, ihr hohes Gut durch Veruntreuung und Fehlverhalten zu verscherzen (Mt 24,45-51), oder es wird dazu ermahnt, mit dem anvertrauten Gut "zu wuchern" und die Talente zu nutzen (Mt 25,14-30). Mit Jesu Heils-Zuspruch ist also auch ein Verhaltens-Anspruch verbunden. Er zeigte sich ja bereits in der schon erwähnten Grundbotschaft: "Die Herrschaft Gottes ist herangekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!" (Mk 1,15). Es ist aber sehr wichtig, zu sehen, dass die mit Jesu Heilsverkündigung einhergehende Ethik nicht in erster Linie als Forderung, sondern vor allem in ihrem Antwortcharakter 11 12
Heininger, Reich (2002) 79. Weder, Gegenwart (1993) 56.
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wahrgenommen wird. Zuerst ergeht das Heilsangebot, und es wird Heilserfahrung ennöglicht, dann erst und aufgrund dieser Erfahrung wird ein entsprechendes Verhalten erwartet. Jesus erzählt deshalb in einer Parabel (Mt 18,23-35), dass einem Großverwalter eine Riesenschuldsumme erlassen wurde, dass dieser aber seinem Schuldner angesichts einer verschwindend kleinen Schuld nicht den geringsten Zahlungsaufschub gewährte. Daraufhin wird er zur Rechenschaft gezogen und bekommt gesagt: "Hättest nicht auch du dich deines Mitknechts erbarmen müssen, weil und wie ich mich doch deiner erbarmt habe!" Hier wird ganz deutlich: Es geht nicht einfach um die Forderung, gut, wohlwollend, hilfsbereit, rücksichtvoll oder barmherzig im Umgang miteinander zu sein. Jesus deckt etwas viel Grundlegenderes auf. Er führt zunächst zur Einsicht, wer wir selbst sind, nämlich Beschenkte, von Gott geliebt und bedingungslos angenommen; erst aufgrund dieses Entgegenkommens, aufgrund des uns geschenkten Anteils am Reich Gottes erwartet Jesus, dass auch wir einander erweisen und gewähren, wovon wir selbst beständig leben13 • Mit dieser Grundgegebenheit sind alle ethischen Weisungen Jesu verbunden, auch die beiden grundlegendsten, nämlich das Doppelgebot der Gottesund Nächstenliebe (Mk 12,22-34) sowie die Goldene Regel: "Was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das sollt auch ihr ihnen tun!" {Mt 7,12)14. Damit beantwortet Jesus zugleich die Fragen, wie wir Menschen schon hier auf Erden zu einem erfüllten Leben und darüber hinaus zu ewigem Leben gelangen, das heißt auch: wie wir hier und über den Tod hinaus "glücklich" werden können. Der Evangelist Lukas macht diesen Zusammenhang deutlich, indem er Jesu Gebot der Gottes- und Nächstenliebe direkt als Antwort auf die Frage ergehen lässt: "Was muss ich tun, um das ewige Leben zu gewinnen?" (Lk 10,25).
1.3 Die "Fülle des Lebens" als Inbegriffdes Heils Das soeben erwähnte Stichwort "Leben" gilt im Johannesevangelium als Inbegriff des von den Menschen zu erstrebenden und von Gott durch den Offenbarungs- und Heilsmittler Jesus Christus angebotenen Heils. Demgegenüber tritt der Begriff "Reich" bzw. "Herrschaft Gottes" ganz zurück15 • In der transformierten Form der Reichgottesbotschaft, wie sie im Johannesevangelium vorliegt, stehen das "Leben" und der Bringer dieses "Lebens", Jesus Christus, der auch selbst das "Leben" ist, ganz im Vordergrund. Programmatisch sagt Jesus: Ich bin gekommen, 13 14 15
Weder, Gegenwart (1993) 48f: ,,Mk 1,15 [legt] die durch die Nähe der Gottesherrschaft ermöglichte - und nicht etwa die durch das baldige Ko=en geforderte - Umkehr aus als Vertrauen auf das Evangelium." - Vgl. auch Weiser, Theologie (1993) 111-113. Vgl. dazu Schockenhoff, Liebesgebot (1999) 55-85. Er begegnet nicht mehr als Verkündigungsterminus, sondern nur zweimal im Nikodemusgespräch (Joh 3,3.5).
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damit die Menschen "das Leben haben und es in Fülle haben" (Joh 10,10), und: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Diese Neugestaltung des Heilsverständnisses vollzieht sich "im Rahmen des Konzepts einer präsentischen Eschatologie"16, die für das Johannesevangelium charakteristisch ist. Die ,,Fülle des Lebens" ist nämlich nicht erst nach dem Tod zu erwarten. Jesus sagt z.B.: "Wer mein Wort hört und dem glaubt, mich gesandt hat, hat das ewige Leben und ... ist aus dem Tod ins Leben hinübergegangen" (Joh 5,24). Auch im Gespräch, das Jesus mit Marta führt, die um ihren verstorbenen Bruder Lazarus trauert, zeigt sich der Gegenwartscharakter des durch Jesus ermöglichten "Lebens". Auf Martas Aussage: "Ich weiß, dass [Lazarus] auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag" antwortet Jesus korrigierend: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt. Und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben" (Joh 11,24-26). Es beginnt sich also schon während des Erdenlebens die "Fülle des ewigen Lebens" allen mitzuteilen, die an den Offenbarer und Lebensspender Jesus Christus glauben und aus diesem Glauben leben 17 • Wie Jesus sich als Spender des Lebens erweist, kommt in der Evangelienkomposition des Johannes in höchst dramatischer Weise zum Ausdruck. Der Evangelist erzählt, dass Jesus zwar seinem Freund Lazarus das schon verlorene Leben erneut schenkt, selbst aber den Weg in den Tod geht (vgl. Joh lU). Jesus deutet diesen Zusammenhang so: "Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, stirbt es aber, dann bringt es reiche Frucht" (12,24).
1.4 Das Realsymbol des Mahles Zu den vielfältigen Zeichenhandlungen, die ein integraler Bestandteil der jesuanischen Heilsverkündigung sind, gehört auch Jesu Mahlpraxis. Kennzeichnend für sie ist die folgende Szene aus dem ältesten Grundbestand der Überlieferung 18 : Als Jesus zusammen mit vielen Zöllnern und Sündern zu Tische lag, entrüsteten sich die Pharisäer. Jesus antwortete ihnen: "Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken" (Mk 2,15-17). Andere Mahlszenen der Evangelien spiegeln Ähnliches. Jesus galt im Urteil der Gegner als "Fresser und Weinsäufer, als 16 17
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Gnilka, Heil (1995) 1261f. Im Johannesevangelium wird ein aus der überlieferung "vorgegebenes Lebenskonzept präzisiert. Solche Präzisierungen sind Signale eines kreativen Fortschreibungsprozesses, und so gewiss die ,Herrenwort'-überlieferung der joh. Gemeinde für eine derartige präsentisch-eschatologische Fortschreibung offen ist und ihr auch entgegenkommt, sie stellt doch noch einmal eine neue Stufe dar" (Theobald, Herrenworte [2002] 596). Vgl. dazu und zum Folgenden Heininger, Reich (2002) 85-89; Ebner, Jesus (2003) 153-159; Theobald, Herrenmah1 (2003) 259f; Weiser, Erbarmen (1996) 259-271.
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Freund der Zöllner und Sünder" (Mt 12,19; Lk 7,34). Was es mit den Mahlfeiem Jesu auf sich hat, zeigt sich zum einen, wenn man die große Bedeutung beachtet, die der Mahlgemeinschaft im Orient zukommt und die auch in den Heilsbildern des Alten Testaments Ausdruck gefunden hat. Im Buch Jesaja heißt es z.B.: Der Herr wird auf dem Berg Zion "für alle Völker ein Festmahl geben mit den feinsten Speisen, ein Gelage mit erlesenen Weinen" (25,6). Auch in Gleichnissen Jesu vom Gottesreich spielt das Festmahl eine große Rolle (z.B. Mt22,1-13; Lk 14,1624). Die Mahlfeiern Jesu weisen zeichenhaft hin auf die Sammlung Israels durch Jahwe. Das zeigt sich noch deutlicher, wenn man zum anderen beachtet, dass die MahlteilnehmerInnen, mit denen Jesus Tischgemeinschaft hält, nicht nur angesehene Leute sind, sondern vor allem Menschen, die nach damaligen moralischen, religiösen und sozialen Kriterien zu den Randgruppen gehörten. Im bedingungslosen Angenommensein durch Jesus konnten sie über die gute zwischenmenschliche Erfahrung hinaus etwas vom zuvorkommenden Erbarmen, von der ihnen zugewandten Liebe Gottes erahnen und erfahren. Sie konnten die Erfahrung dessen machen, wovon Jesus ja mehrfach und betont in den Gleichnissen sprach19 • Von besonderer Bedeutung ist die letzte Mahlfeier Jesu20 • Als die Gegnerschaft der führenden Kreise schon so gewachsen war und Jesus sich dem gewaltsamen Tode nahe sah, feierte er mit dem kleinen Kreis der ihm Nachfolgenden in Jerusalem ein festliches Abschiedsmahl Es erhielt seine Besonderheit dadurch, dass Jesus Brot und Wein mit deutenden Gesten und Worten darreichte. In diesem Abendmahl gelangt der gesamte Lebenseinsatz Jesu zu einem Höhepunkt. Lässt sich Jesu Lebenseinsatz für das Ankommen des Reiches Gottes auf die Kurzformei bringen, dass er von Gott her ganz für Gott und für die Mitmenschen lebte (= "proexistent"), dann bringt gerade das Abendmahl diese Grundhaltung Jesu besonders deutlich zum Ausdruck. Im Segen über die Gaben Brot und Wein anerkennt er Gott als den Schöpfer und dankt ihm für seine lebenspendende Gegenwart. Die auf die Gaben bezogenen Gesten und deutenden Worte besagen: Er selbst gibt sich liebend und deshalb heilwirkend dahin. Es ist eine Hin-Gabe als Speise und Trank sowie eine Hin-Gabe in den Tod. Beides geschieht so wie sein ganzer bisheriger Lebensdienst: "für andere". Durch die von Jesus dargereichten Gaben erhalten die Empfangenden Anteil an ihm selbst und an dem Heil, das er kraft seines liebenden Lebens und Sterbens zu schenken vermag. Noch einen Schritt weiter führt der prophetisch-endzeitliche Ausblick, der für unser Thema 19
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Lukas weist auf diesen Zusammenhang ausdrücklich hin, indem er den Gleichnissen vom Wiederfinden des Verlorenen (15,3-32) die Einleitung voranstellt: "Alle Zöllner und Sünder kamen zu ihm, um ihn zu hören. Die Pharisäer und Schriftgelehrten empörten sich darüber und sagten: Er gibt sich mit Sündern ab und isst sogar mit ihnen" (15,1t). Vgl. dazu Niemand, Abendmahl (2003) 81-122; Theobald, Herrenmahl (2003) 257-280.
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besonders relevant ist: "Ich werde nicht mehr vom Gewächs des Weinstocks trinken, bis zu dem Tag, an dem ich aufs neue davon trinken werde im Reich Gottes" (Mk 14,25). Jesus drückt mit dieser feierlichen Formulierung seine Todeserwartung und Todesbereitschaft aus, vor allem aber die Überzeugung, dass das Reich Gottes, dem sein ganzer Lebenseinsatz galt, vollendet werden und er über seinen Tod hinaus Anteil daran haben wird.
1.5 Bilder der Heilsvollendung Schon am nächsten Tag wurde Jesu irdisches Leben gewaltsam zerbrochen. Lukas berichtet, einer der beiden Mitgekreuzigten bat ihn: "Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst!" Jesus antwortete mit der (Glücks-)Verheißung: ,,Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein" (Lk 23,42t). Ausgemalt oder konkretisiert wird hier von Lukas ebensowenig wie sonst von Jesus selbst, worin das Glück dieses Paradieses, geschweige denn die Heilsvollendung insgesamt näher hin besteht. Alle diesbezüglichen Aussagen der Evangelien wie z.B. "Himmel" (Mt 5,10; Lk 10,15), "einen Schatz im Himmel" haben (Mk 10,21; Mt 6,20), "Lohn erhalten" (Mt 5,12), ,,ruhen in Abrahams Schoß" (Lk 16,23), "leuchten wie die Sonne" (Mt 13,43), "auf Thronen sitzen" (Mt 19,28), "Mahlhalten" (Lk 22,30), "das Reich in Besitz nehmen" (Mt 25,34), bei der Auferstehung nicht mehr heiraten, sondern "sein wie die Engel" (Mk 12,25), Leben in der "Freude des Herrn" (Mt 25,21.23) verdanken sich den religiös-soziokulturellen Vorstellungen der frühjüdischen Lebenswelt Jesu und der ersten urchristlichen Gemeinden. Die Frage, welche Vorstellung des vollendeten Heils Jesus selbst gehabt hat und welche Glaubenserkenntnis sich aus seiner Heilsverkündigung für uns heute ergibt, wird nur so zu beantworten sein21 : Es besteht kein Zweifel darüber, dass das Heil vollendet werden wird, das Wie verbleibt jedoch als eine unanschaubare Realität im Geheimnis. Jesus begründete durch sein Wort und Wirken eine Glaubenshoffnung auf eine umfassende Heilsvollendung, deren Offenbarwerden zwar fest-steht, aber in einem zeitlichen sinne noch aus-steht. Die partiellen Heilserfahrungen der Gegenwart können so zur Gewähr für die Nicht-Vergeblichkeit der Heilserwartung werden, deren Erfüllung in einem letztgültigen Sinn Gott vorbehalten bleibt. Es lässt sich deshalb weder eine Chronologie noch eine Geographie des Jenseits erstellen. Jesus selbst meinte wohl weniger eine irdische als vielmehr eine himmlische Heilsvollendung im Sinne des "totaliter aliter", einer der frühjüdischen Apokalyptik gegenüber noch gesteigerten Analogielosigkeit. Wenn das Endheil von Jesus nicht ausgemalt wird, "so doch wohl, weil alles auf die Gemeinschaft mit Gott ankommt. Vollen21
Vgl. Schlosser, Vollendung (1994) 84; Scholtissek, Heilserwartung (1995) 103.
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dung des Heils ist Vollendung der Gotteserfahrung. Die Ausmalung des Heils in der zukünftigen Gottesherrschaft kann minimal sein, weil Jesu Himmel fast ausschließlich aus Gott besteht"22.
2. Ausblick auf urchristliche Heilserwartungen Die grundlegendste Erfahrung, die Menschen aus dem Umkreis Jesu nach seiner Hinrichtung mit ihm gemacht haben, ist die Ostererfahrung. Sie bestand darin, dass Menschen durch geschichtsbezogene Offenbarungsgeschehnisse inne wurden, dass Jesus - obwohl getötet - von Gott auferweckt worden ist und wirkmächtig in der Daseinsweise Gottes lebt. Aus den Erfahrungen, die manche mit dem irdischen Jesus gemacht hatten und aus den Erfahrungen mit dem Auferweckten erwuchsen eine neu einsetzende Heilsverkündigung und ein erweiterter Horizont von Heilserwartungen. Sie können hier nur angedeutet werden.
2.1 Konturen urchristlicher Heilsverkündigung Unmittelbar mit dem Glauben an den Auferweckten waren die Überzeugungen verbunden, Gott habe ihn "zum Herrn und Messias gemacht" (Apg 2,36), "zum Sohn Gottes in Vollmacht eingesetzt" (Röm 1,4), als "Menschensohn erhöht" (Lk 22,69; Joh 12,34) und zum endzeitlichen ,,Richter" bevollmächtigt (Mt 25,31; Joh 5,27). Dementsprechend erwartet man seine Parusie zu Weltvollendung, Heilsvollendung und Gericht (lThess 1,9f; Apg 17,31). Diese Überzeugungen haben im urchristlichen Wortzeugnis vor allem in zweifacher Weise Ausdruck gefunden. Manche Trägerkreise knüpften stärker an die vorösterliche Verkündigung Jesu an, trugen seine Basilea-Botschaft weiter und riefen besonders aufzu verantwortlichem Handeln angesichts des (bald) zu erwartenden Menschensohn-Richters Jesus 23 . Andere stellten im sogenannten Christuskerygrna Jesus selbst in den Mittelpunkt und verkündeten, was er als Gekreuzigter und Auferweckter für das Heil der Menschen zu bedeuten habe. Zu diesen Verkündigem gehört vor allem Paulus. Durch seine persönliche Christuserfahrung vor Damaskus wusste er sich dazu berufen, "ihn [Christus] unter den Heiden zu verkündigen" (Gall,16). In Korinth legte der den Grund für die christliche Gemeinde durch die Verkündigung von Tod und Auferweckung Jesu zum Heil für uns Menschen (lKor 15,1-11). Mit dem Hinweis: "seid so gesinnt wie Christus" und mit der Verdeutlichung, dass der Weg Christi 22 23
Schlosser ebd. mit Verweisen auf Arbeiten von K. Koch, K. Müller, J. Theissing, B. Lang, C. McDannel1. So z.B. die Trägerkreise, deren Botschaft sich in der Redenquelle Q niedergeschlagen hat; vgl. Weiser, Theologie (1993) 21-43; Forschungsprojekt: Robinson, Documenta Q (1996ft).
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durch Erniedrigung und Dienstbereitschaft bis in den Kreuzestod führte, dass darauf aber die Erhöhung durch Gott erfolgte (Phi12,5-11), zeigt Paulus auf, welchen Weg wir Christen gehen sollen, um zum Heil zu gelangen. Die Glaubenseinsicht, dass durch Jesu liebende Lebenshingabe am Kreuz endgültiges Heil für alle Menschen ermöglicht worden ist, hat in der urchristlichen Verkündigung unter dem Einfluss alttestamentlicher, frühjüdischer und hellenistischer Vorstellungen zu einer breiten Palette von Aussageweisen geführt. Es sei nur an die Begriffe "Erlösung", "Rettung", "Rechtfertigung", "Sühnopfer", "Versöhnung" und "Befreiung" erinnert, ohne dass sie hier entfaltet werden können.
2.2 Konturen urchristlicher Erwartungen vollendeten Heils Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die durch Jesu Heilsverkündigung geweckten Heilserwartungen im Urchristentum lebendig blieben und dass sie u.a. durch die Erwartung der Parusie erweitert worden waren. Unterschiedliche sozikulturelle Lebenswelten und damit verbundene religiöse Vorstellungen oder auch neu aufkommende Probleme führten zu immer wieder neuen Teilausprägungen der Eschatologie. Einige Beispiele seien genannt. In Korinth lehnten manche den Glauben an eine leibliche Auferweckung ab. Paulus versucht mit großer Akribie zu erweisen, dass die mit der Auferweckung Christi begonnene Neuschöpfung24 die Auferstehung aller Menschen einschließt und dass "Gott alles in allem sein" wird (lKor 15,28)ls. Die Sorge der Gemeinde von Thessalonich, dass bei den bald zu erwartenden Parusieereignissen die Verstorbenen gegenüber den noch Lebenden im Nachteil sein werden, behebt Paulus, indem er erklärt, es werden zunächst die schon Verstorbenen auferweckt, und sie werden dann mit den Lebenden zusammen "auf den Wolken in die Luft entrückt, dem Herrn entgegen". Dieser selbst werde "vom Himmel herabkommen, wenn der Befehl ergeht, der Erzengel ruft und die Posaune Gottes erschallt." Von dieser mit apokalyptischen Mitteln gestalteten Textwelt hebt sich die folgende Zielaussage ab: ,,Dann werden wir immer beim Herrn sein" (1 Thess 4,15-17). Apokalyptisches Requisit zeitbedingter Einkleidung und bleibend gültige Aussage sind hier deutlich zu erkennen und von einander zu unterscheiden. Ein weiteres Beispiel zeigt, wie in urchristlich-helle24
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2Kor 5,17: Wenn ,jemand in Christus ist, so ist er eine neue Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe Neues ist geworden." Die paulinische Aktualisierung der Neuschöpfungsvorstellung ist darin zu sehen, "dass sowohl das apokalyptische Geschichtsbild wie auch die Vorstellung vom eschatologischen Heil von der Anthropoligie her als ,Geschichtlichkeit' ausgelegt werden. Die geweissagte Zeit des Heils, der neue Aon, ist jetzt schon da" (GräBer, 2Korinther [2002] 223). Grober, Herrlichkeit (1998) 342 betont den Bezug ,,aufPaulus selbst als ,neues Geschöpf." Vgl. so u.a. Gielen, Totenauferweclrung (2003) 86-104 mit präziser Herausarbeitung der Auslegungsprobleme.
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nistischem Milieu das Wortspiel "heilen [sozein]"/"Heil [soteria]" ganz bewusst eingesetzt wurde, um den Blick von einer gegenwärtigen, noch begrenzten Heilungserfahrung zu universaler Heilserwartung zu weiten26 , und zwar aufgrund des Christusglaubens. Lukas erzählt, dass ein Gelähmter "im Namen Jesu Christi" geheilt worden ist (Apg 3,6f; 4, I0). Als die Apostel darüber zur Rechenschaft gezogen werden, verkünden sie: Durch Jesus Christus, "den Gott auferweckt hat, steht dieser Mann gesund [da].... Und in keinem anderen ist Heil; denn es ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen" (4,10-12)27. Eine ähnliche Ausweitung war schon bei der markinischen Darstellung der Heilung des Taubstummen wahrzunehmen (s.o. 1.1); aber im Unterschied zu ihr hat Lukas deutlich den Hauptgrund für die Berechtigung zu einer derartigen Horizonterweiterung ausformuliert, nämlich den Glauben an den auferweckten Herrn und seine heilende und Heil schaffende Wirkmächtigkeit. Dem hellenistischen Milieu sowie seinem Erwartungshorizont und Sprachgebrauch verdanken sich auch die heilsuniversalen Bekenntnisaussagen der im Raum von Ephesus entstandenen Pastoralbirefe28• In ihnen heißt es z.B.: "Einer ist Gott, Einer auch Mittler zwischen Gott und den Menschen, der Mensch Christus Jesus" (1 Tim 2,5). Ihn gilt es in einem Leben der Gerechtigkeit und Frömmigkeit "bis zur Erfüllung unserer Hoffnung zu erwarten", nämlich bis er als Retter aller "in Herrlichkeit erscheinen" wird (Tit 2,12t). Das letzte Buch des christlichen Schriftkanons, die Offenbarung des Johannes, bietet eine unvergleichlich vielfältige und eindrucksstarke Bilderwelt endzeitlicher Heilsvorstellungen daf29. Aus viel Schreckhaftem und Bedrohlichem, das mit apokalyptischen Farben gemalt ist, wird am Schluss der Gesamtkomposition der Blick auf die Stadt Jerusalern gerichtet (Oftb 21 t). Der Seher schaut sie als "die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen. Sie war bereitet wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. [Es ist] die Wohnung Gottes unter den Menschen. Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein.... Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen, und der Tod wird nicht mehr sein, nicht Trauer, nicht Klage, nicht Mühsal" (21,2-4). Die weiteren symbolhaften Schilderungen münden in die Aussagen, dass es keinen Tempel in dieser Stadt geben wird, "denn der Herr, ihr Gott, der Herrscher über 26 27 28 29
Vgl. HaubecklKlaiber/Schneider, Erlösung (1997) 371.376. Zu den religionstheologischen Fragen vgl. Weiser, Religionen (1991) 45-60; Waldenfels, Jesus Christus (2003) passim. Vgl. zu "Retter", ,,retten", "Epiphanie" u.a. Jung, Soter (2002) passim; Weiser, 2Tim (2003) 114-118. Vgl. zur Erschließung der Metaphorik Gruber, F., Gott (1997) 422-435; Grimm, Visio (2003) 384-386; Gruber, M., Frau (2003) 409-418.
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die ganze Schöpfung, ist ihr Tempel, er und das Lamm" (21,22). In scharfem Kontrast zu der vorher geschilderten großen Stadt Babyion, ihrem gottlosen Treiben und ihrer Vernichtung (17f), drückt sich in der Symbolisierung der himmlischen Gottesstadt die Erwartung der Christen auf vollkommene Gemeinschaft mit Gott am Ende der Zeiten aus. Trotz des unbefriedigenden problematischen Dualismus der hier waltenden apokalyptischen Metaphorik "erfassen die Symbole der Stadt und der Braut, der neuen Erde und des neuen Himmels die Dimensionen der Gemeinschaft, der Erotik und der Materialität. In diesen kräftigen Bildern ist bewahrt, was Erfahrungen tiefster Sehnsucht, höchster Lust und überwältigender Harmonie formt. ,Himmel' ist dann erfüllte Materialität und vollendete Gemeinschaft"30, Gemeinschaft unter den Menschen und mit Gott. In Bildern antwortet der Text auf die Fragen nach Tod und Leben, "nach Sinn und Ziel unserer Welt und Geschichte. ... [Die] Vision zeichnet das Bild eines Gottes mit ungebrochener Schöpferkraft, der mächtig genug ist, endgültige Gerechtigkeit herzustellen. Sie zeigt gleichzeitig einen Gott, der den Menschen so nahe kommt, daß nichts mehr dazwischentreten kann [oder dazwischentreten] muß, und mit dem sie in leidenschaftlicher Liebe verbunden sind"3!. Es sind zwar Zukunftsbilder paradiesischer Lebensfiille und Schönheit sowie eines harmonischen Miteinanders, und sie sprechen davon, dass Gott dies herbefiihren wird. Sie rufen aber zugleich zur Entscheidung dafür auf, der göttlichen Verheißung in unserem Leben zu folgen, "das eigene Leben danach auszurichten und die versprochene Lebensfülle schon jetzt in die eigene Gegenwart hereinzuIassen"32. Es ist eine Aufgabe, die nicht nur jeden einzelnen persönlich angeht, sondern eine, welche angesichts des heutigen Jerusalern hochaktuell Juden, Muslime und Christen betrifft.
3. Gottes Heil, das wahre Glück des Menschen Mein exegetischer Lehrer RudolfSchnackenburg ging vor fast dreißig Jahren in einem veröffentlichten Vortrag auf die Frage ein, wie sich "das menschliche Glücksverlangen und die Botschaft vom Reich Gottes" zueinander verhalten33 . Er schilderte zunächst Erfahrungen innerweltlicher Glückserfüllungen sinnenhafter, geistiger und personaler Art mit ihren zugehörigen Grenzerfahrungen. Sodann zeigte er auf, dass das von Jesus verkündete Reich Gottes "nichts Weltfernes und Geschichtsge30 31 32 33
Gruber, F., Gott (1997) 430. - Ro1off, Weltgericht (1994) 124f: Das "vö1lige Gegenbild der gerichteten großen Stadt, nämlich ein von der unmittelbaren Gemeinschaft der Menschen mit Gott geprägtes Gemeinwesen. Kurz: es ist die vollendete Heilsgemeinde." Müller-Fieberg, Jerusa1em (2003) 390. Ebd. 390. Schnackenburg, Glücksverlangen (1976) 37-46.
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löstes ist, sondern das irdische Geschehen und das Geschick der Menschen betriffi:" (43). "Eine Gegenüberstellung von Reich Gottes und innerweltlichem Glück ist ... von der Bibel her schief und falsch" (ebd.). Das Reich Gottes steht nicht "gegen innerweltliche Glückserfüllung" (45). Des weiteren erläuterte Schnackenburg, dass und wie die biblischen Heilsverheißungen über die innerweltlichen Glücks- und Grenzerfahrungen hinausführen und wie das biblische Heilsverständnis auch ein kritischer Maßstab ist gegenüber zu vordergründig oder zu egoistisch und rücksichtslos gesuchtem und deshalb nur scheinbarem Glück. Dieser skizzierten Verhältnisbestimmung ist man seitdem in philosophisch-theologischen Abhandlungen m.E. zu Recht im wesentlichen gefolgt34. In den systematisch-theologischen Beiträgen wird meist darauf hingewiesen, dass erst seit Beginn der Neuzeit und vor allem seit der Aufklärung das Auseinandertreten, die "Dissoziierung", ja die Kontrastierung der Begriffe Glück und Heil eingetreten seps. Die Gründe dafür liegen nicht nur im neuzeitlichen Säkularisierungsprozess. Gisbert Greshake hat auch innertheologische Gründe namhaft gemacht wie z.B. die seit der Spätscholastik einsetzende Trennung zwischen der ,,natürlichen und übernatürlichen Ordnung, wonach das übernatürliche Heil, d.h. die Berufung des Menschen zur Teilnahme am Leben Gottes, eine Art unerfahrbare ,Überwelt' ist, die zu einer in sich schon Sinngestalt aufweisenden ,Natur' hinzukommt. Damit werden Glücksverlangen und Glückserfahrung der ,Natur' vom Heilsweg des ,übernatürlich' begnadeten Menschen getrennt"36. Seit der Mitte des 20. Jh.s begann die Überwindung dieser unheilvollen Trennung und damit eine neue Zuordnungsmöglichkeit von Glück und Heil: Im Streben nach wahrem Glück, im Bemühen um die Schaffung "glückender" Lebensumstände und in der Erfahrung, dass das Leben wirklich "glückt", kann deutlich werden, dass Gottes Heil jetzt schon in die Geschichte tritt. Es wird vermittelt durch das Handeln von uns Menschen. Es begegnet in vielfältigen Antizipationen heilen Lebens und kann beglückend erfahren werden. Es bleibt aber auch dort nicht ausgeklammert, wo Kreuz und Leiden menschliches Leben treffen. Immer weist es über das gegenwärtig Erfahrbare hinaus auf 34
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Nur nebenbei sei auch folgender Indikator erwähnt: Die 1. Auflage des "Lexikons fiir Theologie und Kirche", hg. von M. Buchberger, Freiburg/Br. 1937 enthielt keinen Eintrag zu "Glück" (nur zu: "Seligkeit", "Seligkeiten"). Die 2. Auflage, hg. von 1. Höfer enthielt in Bd. IV (1960) zu "Glück" die Sp. 973-976. In der 3. Auflage, hg. von W. Kasper enthält Bd. IV (1995) zu "Glück" die Sp. 757-761; zu "Heil" die Sp. 1258-1264. So z.B. Greshake, Heil (1983) 159-161; Waldenfels, Heil (1987); Bien, Glück (1995) 758; Greshake, Glück (1995) 759; Kienzler, Heil (1995) 1259. Mehrfach wird auch auf das Motto des Romans von L. Estang, Das Glück und das Heil, Köln 1963 verwiesen: "Nie wurde es einem Menschen zuteil, gleichzeitig sein Glück und sein Heil zu erlangen". Greshake, Glück (1995) 759. - Orth, Gott (2003) 272: "Wo aber Natur und Gnade in verschiedene Ordnungen unterzubringen sind, muss das Glück den Theologen abhanden kommen."
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eine endgültige Erfüllung37. In diesem Sinne pflegte der Gründer der religiösen Gemeinschaft, der ich angehöre, Vinzenz Pallotti, zu beten: Gott, du brennendes Feuer, du unendliche Liebe, du Sehnsucht der Menschen. In jedem Menschen, so auch in mir, hast du einen Funken von deinem Feuer entzündet, der im Herzen glimmt: das Verlangen nach Befreiung und Glück, die Sehnsucht nach Liebe und Frieden, nach Schutz und Geborgenheit. Gott, du unendliche Liebe, in dir findet mein und aller Menschen Leben Erfüllung und Glück.
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Vgl. Greshake, Glück (1995) 759fmit Verweisen auf Dokumente des II. Vatikanischen Konzils (LG 35.48; GS 39); vgl. ähnlich Waldenfels, Heil (1987) 244. - Zu der im theologischen Diskurs vor allem von J.B. Metz zu Recht angemahnten, stets wachzuhaltenden "memoria passionis" bemerkt Orth, Gott (2003) 272 ergänzend, es müsse auch die ,,memoria beatitudinis" im Sinne des von "Gott bereits geschenkten Heils" beachtet werden.
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Die Erleuchteten sind unter uns Spiritualität als moderner Weg zum Glück? Gerhard Schmied
Eingrenzung des Gegenstands: Neue Spiritualität Zu den Schriften, die ich mir nie kaufen würde, gehört das von Dietmar Bittrich und Christian Salvesen verfasste Taschenbuch "Die Erleuchteten kommen". Ich würde es wahrscheinlich nicht einmal anfassen. Und wenn ich - etwa in einem Buchkaufuaus - zufällig doch danach griffe, würde ich es spätestens nach der Autorennotiz aufder ersten Seite amüsiert, aber letztlich doch desinteressiert zurücklegen. Denn dort wird als wichtigste Veröffentlichung von Dietmar Bittrich angegeben; Das Gummibärchen-Orakel. Aber wie kommt es dann zu einem Vortrag, in dem der Begriff "Erleuchteten" im Zentrum der Überschrift steht? Professor Bellebaum, der spiritus rector dieser Veranstaltung, empfahl mir das Buch "Die Erleuchteten kommen", fast nötigte er es mir auf, indem er es mir zusandte und die Erleuchteten in die Überschrift brachte. Auf dem Buchdeckel wird als Thema des Buches aufgeführt: "Eine neue geistig-spirituelle Bewegung erfasst den Westen". Das Schlüsselwort ist hier wie in den folgenden Ausführungen der Begriff "spirituell". Die Bewegung selber wird mit dem aus dem Indischen kommenden Satsang bezeichnet, und es wird erläutert: "Satsang - Zusammensein in Wahrheit - nennt man in der indischen Tradition jene Zusammenkünfte eines Gurus mit seinen Schülern. Der große Unterschied zu damals besteht jedoch darin, dass die heutigen Begegnungen zwischen Lehrern und Schülern ohne Rituale und einen vorgeschriebenen Glaubenskodex stattfinden". Dieser spirituellen Bewegung fehlt also das Gerüst von fest gefügten Vorstellungen und Verhaltensmustern. Damit haben wir ein erstes Charakteristikum dieser Art von Spiritualität festgestellt. Aber noch in einer anderen Hinsicht passt dieses Buch genau zu dieser Veranstaltung. Sein erster Satz - wir haben uns also schon vom Umschlag in die Schrift selbst hineingearbeitet - lautet: "Es geht in diesem Buch um Glück" (S. 11). Damit ist alles umrissen, worum es in diesem Vortrag zu gehen hat: zentral um modeme Spiritualität und dann letztlich um das Band, das auf dieser Tagung alles zusammenhält: das Glück.
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Nach diesem ersten Zugangsweg zu unserer Thematik soll ein zweiter über die Etymologie versucht werden. Dabei wird die Spiritualität in einen Kontrast zur Religion gestellt. Dies ist ein häufig vorzufindendes Verfahren. Die Deutung des Wortes ,,Religion" ist nicht eindeutig. Ich will mich hier an die Verknüpfung mit ..religare" halten, was mit Rückbindung übersetzt werden kann (RahnerNorgrimler, S. 360). Ob hier die Rückbindung an ein transzendentes Wesen oder nur an andere Anhänger oder menschliche Autoritäten gemeint ist, soll zunächst zweitrangig sein. Auf jeden Fall ist der von Soziologen stets gesuchte Bezug zum anderen vorhanden. Gehen wir bei Spiritualität von dem Begriff ..spiritus" aus, was mit Geist übersetzt wird, so verbleibt man bei sich selbst und seinem Geist, der zu formen ist. Und damit sind wir bei einem zweiten Charakteristikum dieser Art von Spiritualität. Ihr Gegenstand ist das Selbst. Dieses Selbst, das Ich wird der Dreh- und Angelpunkt unserer Argumentation bleiben, egal welche Windungen diese Argumentation nehmen wird. Sehr nahe liegend ist ein dritter Zugangsweg. Man schaut einfach in einem Lexikon nach. Und da ist man vielleicht überrascht. Weder im RGG von 19571965 noch in dem von Volker Drehsen und anderen 1988 herausgegebenen ..Lexikon des Christentums" mit seinen unzähligen Artikeln :findet man ein Schlagwort ..Spiritualität". Es fehlt auch im ..Kleines Theologisches Wörterbuch", das unter anderem von dem namhaften katholischen Theologen Karl Ralmer verfasst wurde. Aber in der katholischen Kirche ist der Spiritual ein wichtiges Amt innerhalb der Priesterausbildung; der Spiritual soll sich um die Ausbildung einer persönlichen (!) Frömmigkeit der künftigen Priester kümmern. In dieser Amtsbezeichnung spiegelt sich eine eher traditionalistische Sicht des Begriffs ..Spiritualität", weit entfernt von einem modischen Trend, wie er sich etwa im Satsang manifestiert. Es gibt also mindestens zwei Sichtweisen von Spiritualität. Christoph Bochinger hat diese beiden Formen sorgsam getrennt und jeweils für sich analysiert (1994, S. 377ff.). Natürlich gilt sein Interesse in stärkerem Maße der modemen Version, denn er handelt beide Formen in seiner voluminösen Schrift über die New-AgeBewegung ab, für die vieles gilt, was hier abgehandelt wird. Bochinger unterscheidet idealtypisch eine traditionelle und eine modeme Version von Spiritualität. Die erstere ist ein aus dem französischen Sprachraum kommender Vorstellungskomplex (spiritualite), der im Bereich der katholischen Orden eine wichtige Rolle spielte und die personale dauernde Eingestimmtheit auf den unmittelbaren Gottesbezug, eben die Frömmigkeit, meinte, wie sie mit dem Mönchtum verbunden ist. Die modeme Version wird auf das englische ,.spirituality" zurückgeführt. Sie ist ursprünglich protestantischer Provenienz, wird aber heute weitgehend mit Vorstellungen assoziiert, deren Wurzeln außerhalb des Rahmens
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der christlichen Kirchen entstanden sind und außerhalb dieses Rahmens verbreitet und gepflegt werden. Im Folgenden soll nur diese zweite, die modeme Version thematisiert werden. Wir werden das Etikett "neue Spiritualität" verwenden. Diese Klarstellung erklärt auch, warum ich bisher von "dieser Art der Spiritualität" gesprochen habe. Und ich habe soeben die beiden Formen idealtypisch genannt, weil es viele Abweichungen von den weitgehend übereinstimmenden Definitionen gibt. Da sind katholische Mönche, die ostasiatische Meditationsformen propagieren, und Theologen, die Spiritualität im traditionellen Sinne nicht auf persönliche Frömmigkeit reduzieren wollen.
Charakterisierung des Gegenstands "Neue Spiritualität" Zur Charakterisierung dieser modemen Form von Spiritualität wollen wir bei den beiden bereits benannten Merkmalen ansetzen. Das erste war das Fehlen von Dogmen und Riten und das zweite war die Fokusierung auf das Selbst. Mit dem ersten Merkmal ist eine soziologisch relevante soziale Dimension eng verbunden, der weitgehende Ausfall von Strukturiertheit, wie sie sich aus verpflichtenden Vorstellungen und Handlungen ergibt. Diese Art von Spiritualität entzieht sich in weiten Teilen der Organisiertheit. Eng damit verbunden ist die Konzentration auf das Selbst, dessen Eigenanteil an den von ihm gepflegten Vorstellungen und Handlungen überragend ist. Das bedeutet auch, dass der Einzelne entscheidet, welche weltanschaulichen Vorstellungen er für sich gelten lässt. Der amerikanische Soziologe Jon P. Bloch berichtet, dass seine Probanden, die sich als spirituell verstanden, immer wieder betont hätten: "I can only speak for myself' und "Everyone has to find their own way" (S. 296). Der Einzelne kann frei aus dem ihm vorliegenden Angebot von Ideen auswählen und sie synkretistisch kombinieren. Man kann sich dabei aus dem riesigen Fundus der großen Weltreligionen ebenso bedienen wie aus volksreligiösen Variationen und aus Traditionen der Religionen von so genannten Naturvölkern. Man kann pfingstlerisches Entzücktsein mit asiatischen Karma-Vorstellungen, Heilmitteln aus der Apotheke der Hildegard von Bingen und Ritualen von Schamanen in eine Weltanschauung zusammenbringen. Autorität, wenn man sie so bezeichnen will, die solche Auswahl trifft und legitimiert, ist wieder das Selbst. Oft wird der Auswahl das Erlebnis einer persönlichen Erfahrung zugrunde gelegt, die auch als Ergriffensein oder Erleuchtung interpretiert werden kann. Es fehlt bei solcher Fokusierung auf das Selbst die ausgeprägte Form eines transzendenten Gegenüber, wie sie etwa im Christentum oder Judentum ein persönlicher Gott darstellt, oder diese Form bleibt blass; konkrete Namen von Göttern oder Göttinnen werden als metaphorisch aufgefasst (Bloch, S. 296).
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Da ist die Rede von kosmischen Kräften, von der Einheit mit dem Kosmos oder auch von einem inwendigen Geist oder Gott (Bochinger 1994, S. 389), vom höheren, dem kreativen Selbst (Hanegraaff, 156), von einer höheren Macht (Zinnbauer, S. 557). Von hier erklärt sich auch die Affinität vieler derart spirituell gestimmter Menschen sowohl für fernöstliches Gedankengut wie auch für Vorstellungen, wie sie bei Naturvölkern verbreitet sind. Einer solchen Kraft gegenüber ist man nicht verantwortlich wie der Christ, dessen Tun von Gott beurteilt wird, man ist nicht zwingend auf sie angewiesen wie etwa der Christ, der sein Schicksal Gott anheim stellt oder dieses durch die Wirkung des Gebetes beeinflussen will. Wenn man den transzendenten Kräften nicht verantwortlich ist, so man kann von ihnen auch nicht viel erwarten. Es ist der Eigenanteil, die eigene Anstrengung, ja Leistung, die einen voranbringt (Knoblauch 1999, S. 181). Diese Eigenleistung ist es auch etwa, die im genuinen Buddhismus das Movens des religiösen Lebens ist. Die konkreten Formen der modemen Spiritualität sind derartig vielfältig, dass es kaum möglich ist, sie umfassend zu beschreiben. Man greift auf traditionelle Konzepte wie Astrologie, Kartenlesen oder Spiritismus zurück. Auch die bisher schon mehrfach thematisierten Meditationen und Meditationstechniken weisen eine lange Tradition auf. Modern sind Ufo-, Hexen- oder Göttinnenkulte. Ein weithin bekannter Komplex von Vorstellungen ist "New Age". "New Age" meint konkret das Anbrechen eines neuen Zeitalters, und zwar des Wassermann-Zeitalters, das das Fische-Zeitalter ablöst, welches durch Konflikte und Kriege charakterisiert war. Im Zeitalter des Wassermanns wird Harmonie herrschen, vor allem zwischen dem Menschen und der Natur beziehungsweise dem Kosmos. Man beachte die Formulierung: dem Menschen. Auch hier ist es wieder der Einzelne, der diesen harmonischen Zustand für sich selbst herstellt. Daher spielen Techniken der Transformation dieses Individuums, dieses Selbst eine große Rolle. Da werden Übungen aus der Tradition des Yoga ebenso herangezogen wie durch moderne Psychologie unterfütterte Therapien. Denn New Age kann als Komplex (Knoblauch 1999, S. 179ff.) bezeichnet werden, der ungeheuer vieles, Traditionelles wie Modemes, umfasst. Die beiden Zeitalter, von denen im Namen "New Age" ausgegangen wird, weisen deutlich aufAnleihen aus der Astrologie. Andererseits wird auf die modeme Naturwissenschaften Bezug genommen, in denen die Harmonie mit dem Kosmos erreicht werden soll. Die so verstandene neue Naturwissenschaft soll nicht mehr zergliedernd vorgehen, wie das bisher der Fall war, sondern die Phänomene ganzheitlich und in ihrem Zusammenhang erfassen. An einem begrenzten Bereich soll exemplarisch die bisher schon betonte ungeheure Vielfalt demonstriert werden. Ein wichtiges Feld der Transformation ist der Körper, dessen Beherrschung und Formung auch Mittel zur Transformation
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des Selbst sein können. Die in den Niederlanden tätige SoziologinAnneke H. van Otterloo hat 1995/1996 die Programme von 24 New-Age-Zentren in einer niederländischen Städteagglomeration erfasst. 1220 Kurse und Therapien wurden angeboten, die Hälfte davon bezog sich auf den Körper. Die andere Hälfte wurde unter "Mind and Spirit" eingeordnet und wieder in drei Bereiche unterteilt. Zunächst ging es um psychologische Techniken wie Transaktionsanalyse oder Therapien unter Zuhilfenahme der Hypnose. Der zweite Bereich umfasste esoterisches und religiöses Wissen. Beispiele sind Kurse über Gnostik oder Anthroposophie, Astrologie oder die Kabballah. Und dann ging es um esoterische Praktiken wie Traumdeutung und Handlesen. Die Kurse, in denen der Körper eine Rolle spielte, wurden in sechs Themenkreise unterteilt. Der Bereich von Speise und Ernährung orientierte sich an Art und Qualität der Nahrungsmittel. Bevorzugt werden pflanzliche Stoffe, die bestimmten Kriterien genügen müssen, etwa aus kontrolliertem Anbau zu kommen haben. Es werden Kochkurse angeboten, und in manchen Zentren kann das ,,richtige" Essen gleich in einem angeschlossenen Restaurant eingenommen werden. Ein zweiter Bereich ist Heilen, etwa mittels Bachblüten oder Edelsteinen. Es folgen Massagen und Handauflegen, dann Übungen wie heilige Tänze oder die alte chinesische Kampftechnik des Tai chi. Im Bereich von Sexualität und Erotik greift man wieder auf asiatische Traditionen wie die Tantra-Philosophie zurück. An Bedeutung scheinen die Atemtechniken zu gewinnen. Otterloo zitiert aus einem Prospekt: "Breath is the basic medium for inner deve1opment, aided by ki (life-energy). Deep ventral breathing is undertaken energetically by the use of spiritual energy and metaphysicallaws" (S. 199). Die religiös verbrämten Vorstellungen über das Atmen scheinen schon bis in die kirchliche Theologie vorgedrungen zu sein. Nachdem ich eine Pfingstpredigt gehört hatte, die größtenteils wie aus einer Broschüre über Atemtherapie abgeschrieben erschien, gelang es mir ohne viel Mühe, ein gleichgestaltiges Produkt in Internet zu finden (http://www.gassenschmidt.de/ansprachen/ a045.htm - vom 2.6.04). In der Popmusik würde man bei einer solchen Übertragung von crossover sprechen.
Sozialformen Die eingangs benannten Autoren Bittrich und Salvesen führen aus: "Satsang ist die preisgünstigste Art, Seelenfrieden zu bekommen. Es gibt keine Voraussetzungen, keine Verpflichtungen, keine Rituale. Man muss kein Wort sagen. Nichts unterschreiben. Man muss seine Adresse nicht hinterlassen, muss niemanden verehren, muss kein Gebet, keine Lehre, keinen Glaubenssatz übernehmen. Im Gegenteil.
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In der Stille, die in jedem Teilnehmer lebendig wird, verblassen alle Lehren, alle Glaubenssätze. Man muss das erlebt haben. Deshalb können Sie einfach nach hinten blättern und nachsehen, welcher Satsang-Lehrer bei Ihnen in der Nähe auftaucht" (S. 13). An diesem Zitat lässt sich etwas von der sozialen Form ablesen, in der sich die neue Spiritualität realisiert. Es sind lockere Beziehungen; ihr organisatorischer Fixpunkt ist der Lehrer, vielleicht noch Assistenten. Ferner wird man durch eine Idee zusammengehalten, die hier recht vage (Gewinnung des Seelenfriedens) erscheint. Man kann über diese Merkmale die soziale Form der neuen Spiritualität zu den sozialen Bewegungen rechnen, vergleichbar der Frauen- und der Friedensbewegung. Konkrete Organisationsformen, die den Satsang-Sitzungen entsprechen, sind workshops, Wochenendmeetings, wöchentliche Diskussionsrunden, Festivals und Messen, auf denen Dienste und Gegenstände, wie etwa Kristalle, Edelsteine, Messgeräte für Strahlungen und Amulette, angeboten werden. Die Teilnehmer an den Veranstaltungen sind nicht stets die gleichen, bisweilen triffi: man auf Bekannte, mit denen man weltanschauliche Ansichten, Erfahrungen mit Veranstaltungen, Initiativen und Personen austauscht. Insgesamt handelt es sich um ein flottierendes Publikum. In der Literatur wird die so entstehende Form der sozialen Bewegungen unter die so genannten Netzwerke gezählt. (Bloch, S. 289, Knoblauch 1993, S. 32 und 199, S. 181) Und vieles spielt sich im Privaten ab. In die damit angegebene neue Richtung der Vergesellschaftung deutet auch das Medium "Buch", aus dem das obige Zitat entnommen war und der Hinweis in dem Buch von Bittrich und Salvesen auf eine Namensliste, die durch eine Adressenliste mit Angaben zu Homepage und Literatur ergänzt werden wird. Viele Ideen und sonstige Informationen zur modemen Spiritualität werden über Literatur rezipiert. In jeder Buchhandlung mit Vollsortiment sind Regale zu Esoterik, Spiritualität und Neues Denken zu finden, und selbst in ländlichen Gegenden gibt es inzwischen Buchläden, die sich auf Spiritualität spezialisiert haben. Dort sind auch einschlägige Video-Kassetten und Compact Discs erhältlich. Regelmäßig erscheinen Publikationen vom vervielfältigten Mitteilungsblatt bis zur Hochglanzzeitschrift. Wichtig ist auch das Internet, dessen Bedeutung für die Rezeption spiritueller Ideen noch zunehmen dürfte. Angesichts der Fülle der Möglichkeiten, sich privat mit moderner Spiritualität zu befassen, ist der Vorschlag des japanischen Religionssoziologen Susumu Shimazono einleuchtend, sich nicht mehr aufdie mit der Spiritualität verbundene soziale Form zu konzentrieren, sondern von der Neuen Spiritualität nicht nur als von soziale Bewegungen, sondern auch als "Kultur" zu sprechen (zum Beispiel S. 126: ,,New Spirituality Movements and Culture"). Ausgehend von der Nutzung des Internet kann Shimazono diese Kultur der Neuen Spiritualität als eine globale kennzeichnen (S. 130f.). Er weist aber auch
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aufdie regional verschiedenen Färbungen dieser sich globalisierenden Kultur hin. Für den Fall Japans zeigt er die Tendenz zum Animismus auf, die in einer starken Traditionslinie stehe. Ist für die westliche Spiritualität die Faszination des Orients, speziell Indiens typisch?
Wurzeln und Wertungen Von den Überlegungen Shimazonos aus kann man auch zum Problem der, historisch gesehen, absoluten Neuheit des Phänomens der Neuen Spiritualität überleiten, von der etwa der niederländische Religionsgeschichtler Wouter J. Hanegraaff ausgeht. Mir fiel dazu spontan eine Stelle aus einem klassischen Text der Soziologie ein. Max Weber äußerte in seiner berühmten Rede von 1919, die unter dem Titel "Wissenschaft als Beruf' bekannt wurde, "dass manche modeme Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei dann noch erinnern, dass dazu auch die Religion gehört hat, die sie nun einmal nicht haben, für die sie aber eine Art von spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierter Hauskapelle als Ersatz sich aufputzen oder ein Surrogat schaffen in allerhand Arten des Erlebens, denen sie die Würde mystischen Heiligkeitsbesitzes zuschreiben und mit dem sie - auf dem Büchermarkt hausieren gehen" (S. 611). Hier könnte das uns leitende Stichwort "Spiritualität" gemeint sein. Welche Züge schreibt Weber dem Phänomen zu? Es ist primär ein Erleben, dass sich weiter aus Vorstellungen speist, die verschiedenen Kulturen entstammen und nicht unmittelbar zugänglich sind, worauf das Wort "mystisch" deuten könnte. Und auch die Verbreitung solcher Ideen über Literatur kommt bei ihm vor. Der Zeitpunkt der Äußerung zeigt, dass wir es nicht mit einem bloß aktuellen Phänomen zu tun haben, dass die Neue Spiritualität eben so neu nicht ist. Interessant und an späterer Stelle noch einmal aufzugreifen ist aufjeden Fall die Entgegensetzung zur Religion, von der Weber sagt, "die sie nun einmal nicht haben". Aber zunächst müssen wir uns einem anderen Gesichtspunkt widmen. Max Weber äußert sich - wie an vielen anderen Stellen auch - sehr harsch. Oben war schon von Surrogat die Rede. Und der Text, den Sie anfangs hörten, wird so fortgesetzt: "Das ist einfach: Schwindel oder Selbstbetrug" (ebd.). Hier haben wir das vor uns, was Weber, der große Theoretiker der Werturteilsfreiheit, eigentlich vermeiden will und das er als Fehler in der wissenschaftlichen Diskussion betrachtet: eine eindeutige Beurteilung. In diese Debatte soll hier nicht eingegriffen werden, aber er muss doch festgehalten werden, dass im Begriff des Spirituellen eindeutige wertende Komponenten enthalten sein können. In der Regel erfolgt eine solche
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Wertung in einer Gegenüberstellung zur Religion. Im säkularisierten Europa ließe sich argumentieren: Religiös sein ist altmodisch, spirituell dagegen nicht nur modem, sondern sogar trendy. Ernsthafter argumentierte eine ältere US-amerikanische Frau in der Untersuchung von Penny Long Marler und C. IUrk Hadaway mit der Gegenüberstellung von Herz und Kopf: "Religion is ritual and from the head. Spirituality is what you are feeling from the heart" (S. 296). Aus parteiischer Perspektive hört sich das so an: "spirituality as the search for meaning is ,good' and religion as a stultifying institution is ,bad', or at least anachronistic" oder von der Gegenseite: "fuzzy and individualistic spirituality is ,bad' or, at best, inconsequential, and strong, strict religion is ,good'" (ebd., S. 290). Nur wenn man die Fußangeln kennt, kann man sie vermeiden.
Untersuchungen zur Neuen Spiritualität und eine Entscheidung Die neue Spiritualität kann man auch als Erfahrungsreligion oder Erlebnisreligion bezeichnen, die in doppelter Hinsicht privat ist. Sie besteht auf der Basis privat gewonnener wie privat praktizierter Kenntnis. Für sie gilt, was mit dem bekannten Buchtitel von Thomas Luckmann ausgedrückt wird: Sie ist eine "unsichtbare Religion". Daher ist es schwer, ihre Anhängerschaft in der Bevölkerung zu erfassen. Christoph Bochinger schließt sich der Meinung an, die ,,Anhänger des ,spiritual shift'" seien "mit soziologisch-statistischen Kriterien, z.B. anhand von Mitgliederlisten und ähnlichen ,objektiven' Parametern, kaum zu fassen" (1994, S. 388). Für Deutschland wurde 2001 durch das Institut für Demoskopie Allensbach das Interesse an esoterischen Praktiken erfasst. Die Frage, die einer repräsentativen Gesamtheit gestellt wurde, lautete: "Hier auf dieser Liste ist einmal verschiedenes aufgeschrieben. Bei was davon würden Sie sagen, da ist etwas dran, damit sollte man sich näher beschäftigen?". ,,Favorit" bei den Vorgaben war eindeutig ,,Meditieren, Yoga"; 29 Prozent der Befragten fanden dies einer Auseinandersetzung wert. Es folgten Traumdeutung (21 Prozent), Astrologie und Horoskope (19 Prozent), Bach-Blütentherapie (ebenfalls 19 Prozent), Fernöstliche Religionen (17 Prozent), Aromatherapie (13 Prozent), Gedankenlesen, Gedankenübertragung (11 Prozent) und Farbtherapie (11 Prozent) (Noelle-Neumann und Köcher, S. 376). Diese nicht sonderlich aufschlussreichen Ergebnisse sind größtenteils Elemente der Kurse, die nach van Otterloo in niederländischen New-Age-Zentren angeboten wurden. Sehr viel aussagekräftiger sind Untersuchungen aus den USA. Die Erfassung der als relevant angesehenen Phänomene erfolgte auch hier über Selbsteinstufung. Dieses Verfahren fußt auf der Annahme der Wahrheit der subjektiven Wahmeh-
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mungo Dabei wurde mehrfach auf die Dichotomie von Religion und Spiritualität zurückgegriffen (Zinnbauer; Übersicht bei: Marler). Ich möchte mich im Folgenden auf die Untersuchung von Bryan J. Zinnbauer und anderen konzentrieren, allerdings sollen auch ergänzend die Arbeiten von Penny Long Marler und C. Kirk Hadaway sowie von Clark Wade Roof herangezogen werden. Für die Untersuchung von Zinnbauer wurden 346 Angehörige verschiedener Gruppen in den USA befragt. Sie sollten sich selbst in folgende vier Kategorien einordnen; religiös und spirituell, nur spirituell, nur religiös, weder spirituell noch religiös. Die Reihenfolge, in der die Kategorien hier aufgeführt wurden, gibt auch die Häufigkeit ihres Vorkommens an; Unter "religiös und spirituell" ordneten sich 74 Prozent der Probanden ein, 19 Prozent als nur "spirituell", 4 Prozent als "nur religiös" und 3 Prozent als "wederreligiös noch spirituell". 93 Prozent der Befragten ordneten sich unter "spirituell" ein und 78 Prozent unter "religiös" (S. 555). In unserem Zusammenhang dürften die Merkmale der Personen interessieren, die sich als nur spirituell orientiert einstuften und die in einer der Untersuchung von Wade Clark Roof als "hochaktive Sucher" (highly active seekers) bezeichnet wurden. Es sind Personen, deren Bildungsgrad über dem Durchschnitt liegt, sie kommen aus Familien, in denen Gottesdienste nur unregelmäßig besucht wurden, sie sind stark individualistisch eingestellt, nehmen seltener einen persönlichen Gott an und beschreiben häufiger ihr Leben als eine spirituelle Reise (Zinnbauer, S. 551) Aus der Untersuchung von Roof geht auch hervor, dass der Anteil der Personen, die sich als "nur spirituell orientiert" bezeichneten, umso mehr zunahm, je jünger die Befragten waren (nach: Marler, S. 292f.). Zinnbauer und andere erhoben von den Befragten auch Definitionen von "Spiritualität" und "Religiosität". Beim Konzept "Spiritualität" zeigte sich, dass viele Befragte von Vorstellungen ausgingen, die in der traditionellen, vor allem monastischen Tradition wurzeln. So wurde als häufigstes Kennzeichen der Spiritualität genannt: Gefühl oder Erfahrung der Verbundenheit/der Beziehung/der Offenheit mit/zu Gott/Christus/einer höheren Macht/transzendenten WirklichkeitlNatur und Ähnliches. Im Falle der Religiosität wurden am häufigsten dieselben Arten der Beziehung und dieselben Adressaten der Beziehung (also: Gott, Christus und so weiter) aufgeführt, nur dass die Wörter "Gefühl" und "Erfahrung" durch das Wort "Glaube" ersetzt wurden. Hier finden wir unsere Vorstellung von Spiritualität als einer Erfahrungsreligion bestätigt. Die Adressaten der Beziehung erlaubten eine stärkere Differenzierung der beiden Konzepte. Für beide ist der Anteil derer, die von Zinnbauer so genannte traditionelle Vorstellungen (etwa Gott, Christus) nannten, relativ hoch, aber in der Nennung so genannter nichttradtioneller Vorstellungen (transzendente Wirklichkeit, Grund des Seins, Natur) unterscheiden sie sich
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deutlich. Letztere tauchen im Konzept "Spiritualität" mehr als zehnmal häufiger auf als bei "Religiosität" (S. 555ff.). Zinnbauer und andere fragten ihre Probanden, wie sich die Konzepte "Religiosität" und "Spiritualität" zueinander verhielten. Hier standen folgende Antwortvorgaben zur Auswahl: Religiosität und Spiritualität überlappen einander, sind aber nicht identisch; 41,7 Prozent der Befragten entschieden sich :für diese Vorgabe. 38,8 Prozent sahen Spiritualität als das breitere Konzept an, das Religiosität einschließe, 10,2 Prozent sahen Religiosität als dieses breitere Konzept an, 6,7 Prozent sahen beide Konzepte als völlig verschieden an, und :für 2,6 Prozent deckten sie sich völlig (S. 555). Diese Gegenüberstellung von Religion und Spiritualität kam in unseren bisherigen Überlegungen immer wieder vor. Wie soll man die beiden Begriffe zuordnen? Es macht sicherlich nur begrenzt Sinn, diese Frage auf der Basis von Befragungsergebnissen zu entscheiden. Ich schließe mich Zinnbauer an und schlage vor, Spiritualität, auch die modeme Form, die beispielsweise Elemente von New Age enthält, der Religion zuzuordnen. Das Argument von Zinnbauer ist, dass mit der Religionswissenschaft bereits eine wissenschaftliche Disziplin und deren Organisation :für die Erforschung dieser in der Gegenwart so wichtigen Phänomene bereitsteht. Aus meiner Sicht spricht weiter dafür, dass Termini vorhanden sind, unter deren Nutzung diese Einordnung gelingen kann. Ich verweise hier auf das Begriffspaar "Parareligion" und "Quasireligion". Die AutorenArthur L. Greil und Thomas Robbins beziehen Parareligion auf"phenomena which seem to share features with religious phenomena but which do not make explicit reference to a supernatural or superempirical realm" (S. 4). Bei Quasireligion ist dieser Bezug auf das Übernatürliche vorhanden, die Autoren bringen hier den Begriff des Heiligen ins Spiel. Astrologie und Spiritismus wären Beispielefür Quasireligion, und makrobiotische Ernährung oder Bachblütentherapie würden unter Parareligion eingeordnet. So hätten unter dem breiten Dach der Religion viele in der Gegenwart vorzufindende, als spirituell eingestufte Phänomene ihren Platz gefunden.
Verwandte Ansätze: Mystik, Magie und Postmoderne Zu dem Konzept der neuen Spiritualität existieren in der traditionellen Soziologie zwei Ansätze, die wenigstens teilweise Schnittmengen mit dem hier zur erörternden Phänomen aufweisen. Das sind Ernst Troeltschs Vorstellung von Mystik und Emile Durkheims Begriff der Magie. Endlich soll der Komplex der Postmoderne im Verhältnis zur modemen Spiritualität gesehen werden.
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Ernst Troeltsch, ein Theologe, der Max Weber freundschaftlich verbunden war, unterscheidet in seinem fast tausend Seiten umfassenden Werk ,,Die Soziallehren der christlichen lUrchen und Gruppen" aus dem Jahre 1912 Kirche und Sekte als Organisationsformen von Religion. Diese für die Religionssoziologie wichtige Unterscheidung, die viele Untersuchungen und Überlegungen nach sich zog, soll an dieser Stelle nicht weiter erörtert werden. Quasi im Windschatten dieser beiden Leitbegriffe behandelt er die Mystik. Sie steht für eine religiöse Orientierung individualistischen Zuschnitts, denn sie ist "ohne Organisationstrieb" (S. 940). An anderer Stelle spricht Troeltsch vom "Rückzug auf private Gesinnungsgemeinschaften rein persönlicher Art" (S. 972). Hier bezieht er sich auf die sozialen Aspekte, doch strahlen diese Züge auf das Inhaltliche aus: "Sie (die Mystik, G.S.) verinnerlicht und relativiert die Heilswahrheit zu einem individuellen persönlichen Besitz" (ebd.). Und direkt modem klingt es, wenn er die Mystik durch ,,Drängen auf Unmittelbarkeit, Innerlichkeit und Gegenwärtigkeit des religiösen Erlebens" (S. 850) charakterisiert. Die Parallelen werden klar geworden sein. Sie zeigen aber auch wieder, dass die modeme Spiritualität keineswegs etwas Neues darstellt. Die Mystik kann auf eine große Tradition zurückblicken, auf die auch "Erleuchtete" gerne zurückgreifen. In Bittrichs und Salvesens Schrift bezieht sich ein indischer Satsang-Lehrer namens Ramesh Balsekar auf Meister Eckart, um gleich darauf Gleichsinniges im Epos "Bhagavad Gita" zu identifizieren (S. 166). Emile Durkheim hat in seinem ebenfalls 1912 veröffentlichen Werk "Die elementaren Formen des religiösen Lebens" Religion und Magie unterschieden. Magie weist mehrere Züge auf, die sich in der modemen Spiritualität wieder finden (auch Bloch). Die Wirkungen des Magiers resultieren aus den Handlungen selbst, nicht durch die Gunst eines Dritten. Die richtige Handlung erbringt die gewünschte Wirkung. Über diese Vorstellung hat man die Magie zur Vorläuferin der Naturwissenschaft erklärt. Die Beziehungen zwischen Magier und seinem Klienten sind mit dem Verhältnis von Lehrer und Schüler vergleichbar. Zwischen beiden herrscht auch eine Art Kundenverhältnis. Damit hängt ein weiteres gemeinsames Merkmal zwischen Magie und moderner Spiritualität zusammen, das bisher überhaupt noch nicht zur Sprache gekommen ist. Durkheim schreibt: ,,zwischen dem Magier und den Individuen, die ihn befragen, gibt es keine dauerhaften Bindungen, die aus ihnen Mitglieder eines gleichen moralischen Körpers machten, der dem zu vergleichen wäre, den die Gläubigen eines gleichen Gottes und die Anhänger eines gleichen Kultes bilden. Der Magier hat eine Kundschaft und keine Kirche, und seine Kunden brauchen untereinander keine Beziehungen zu haben, so dass sie sich oft gar nicht kennen. Selbst die Beziehungen, die sie mit ihm haben, sind im Allgemeinen zufällig und vorübergehend; sie ähneln den Beziehungen eines Kranken
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mit seinem Arzt" (S. 72). Zum Wesen des Kundenseins gehört, dass, wenn man mit den erbrachten Leistungen nicht zufrieden ist, zu einem anderen Anbieter, sei er Magier, Arzt oder spirituelle Autorität, wechseln kann. Was in den ersten beiden Fällen eher situationsbedingt ist, scheint den spirituellen "Kunden" inhärent zu sein. Ja, sie definieren ihre Spiritualität gerade über einen solchen Wechsel von spirituellen Stationen, Positionen und Autoritäten. Sie verstehen sich als "Wanderer" (Bochinger 2002, S. 36, 39, 40), als Suchende (Knoblauch 1999, S. 183), Hubert Knoblauch sieht hier eine '" vagabundierende' Religiosität" (ebd.). Hier triffi: das schon fast zu Tode zitierte Wort, nach dem der Weg das Ziel ist. Die Kirchen haben dieses Wort zeitweise auch für sich usurpiert, weil es so gut aufWallfahrten passt, bis sie feststellten, dass sie doch ein Ziel haben und nicht stets aufder Suche sein müssen. Für Bittrich und Salvesen gehört die Phase des Vagabundierens zur Karriere eines Satsang-Schülers; sie ist "eine unterhaltsame und bisweilen aufregende Orientierungsstufe" (S. 70). Es kann vorkommen, dass Lehrer ihre Schüler wegschicken oder ihnen einen Wechsel anraten. Manchen müsste man nachreisen, um dauernd bei ihnen zu sein, denn sie befinden sich auf "Tournee" (ebd., S. 32). Postmoderne ist ein wichtiges Label, wenn unsere gegenwärtige kulturelle Situation gekennzeichnet werden soll. Aber es ist auch kein klar geschnittener Begriff (Übersicht bei: Kunstmann). Daher ist er vor seiner Anbindung an das Phänomen der neuen Spiritualität zu klären. Ausgangspunkt soll die Rede des Philosophen Jean-Francois Lyotard von den großen Erzählungen (grands recits), jenen großen Entwürfen sein, die heute nebeneinander stehen und Aufmerksamkeit fordern. Das Christentum ist eine der großen Erzählungen, aber nur eine. An ihm und den Reaktionen der Zeitgenossen lässt sich ablesen, dass diese Erzählung nicht mehr das Wahrheitsmonopol beanspruchen kann. Sie steht in Konkurrenz um die Aufmerksamkeit. Maria Widl, deren Überlegungen in das Folgende eingegangen sind, unterscheidet aufdem Gebiet der Religion drei Konkurrenten, die den Kriterien postmoderner Religiosität entsprechen. Da sind zunächst im kirchlichen Bereich die so genannten geistlichen Bewegungen, die vornehmlich von Laien getragen werden. Als zweites nennt sie die Esoterik, also das, was wir bisher als neue Spiritualität beschrieben haben, und als drittes die modeme Wirtschaftswelt des Profits, des Konsums mit "dem Gott des Geldes" (S. 3). Schon von der Sozialform gleichen sich die drei Phänomene. Bezeichnenderweise wird die kirchliche Ausprägung als Bewegung gekennzeichnet, der die feste Einbettung in traditionelle organisatorische Strukturen fehlt. Beispielsweise triffi: das für die meist jugendliche Anhängerschaft zu, die sich am burgundischen Kloster Taize orientiert. Das fanden wir ebenso in der neuen Spiritualität, und auch die Konsumszenen sind selten organisiert. Desgleichen passt der Begriff des Netzwerkes, den wir schon erwähnten,
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auf alle drei Bereiche. Ebenso wie der Begriff der Bewegung enthält er das Vorläufige, das Mitdenken des plötzlichen oder schleichenden Ausscheidens und des Überwechselns zu einem Konkurrenten oder in ein anderes Segment des gleichen Feldes. Widl fügt in Bezug auf die Esoterik neben dem Bild der Wanderung und der Suche noch das des Abenteuers hinzu, das das Anziehende wie das Riskante dieser Suche zum Ausdruck bringt. Eine wichtige Funktion jeder Art von Religiosität ist die Identitätsbildung, die Beantwortung der Frage: Wer bin ich? oder die Frage nach dem Selbst. Früher wurde diese Frage auf weltanschaulichem Gebiet über die Konfession beantwortet. Unter postmodernen Bedingungen gibt es viele Antwortmöglichkeiten. Aber heute heißt Identität nicht mehr Einreihung in ein Kollektiv, sondern bestenfalls eine eigene, von anderen abgesetzte Position in einem Kollektiv, das für den Einzelnen ein Kollektiv aufAbruf darstellt. Die Frage nach der Identität zieht die Frage dem daraus folgenden Handeln nach sich. Dieses Handeln soll mit der Identität im Einklang stehen, aber wie diese zumindest als zufrieden stellend empfunden werden. Trifft dieses nicht zu, kann man eine andere Identität wählen, zu der ein anderes Handeln gehört. Und damit sind wir schon nahe bei dem Leitbegriff dieser Tagung, dem Glück. Nicht nur eine attraktive Version der etablierten Religion, nicht nur die Produktwerbung, sondern auch die vielen Angebote der neuen Spiritualität sind für postmoderne Menschen eine Version der - wie Widl sich ausdrückt - "Religion, die ihnen zeigt, wie Glück geht" (S. 4). Als Fazit der Überlegungen zu verwandten Ansätzen kann abschließend festgestellt werden, dass die traditionellen Konzepte der Mystik und der Magie durchaus der neuen Spiritualität verwandte Aspekte aufweisen. Aber das Konzept der Postmoderne hat zwei entscheidende Vorteile: Es stellt die neue Spiritualität in einen größeren Zusammenhang und dieser Zusammenhang ist ein Stück Zeitdiagnose, der sich über Religion auf vielen Feldern bewähren kann.
Und das Glück? Und wo bleibt nach alledem das Glück? Es soll doch in dieser Tagung nicht aus dem Blickfeld geraten. Endlich - und das heißt am Ende - wollen wir seine Spuren in der neuen Spiritualität suchen. Der amerikanische Soziologe David O. Moberg spricht vom spirituellen Wohlergehen (spiritual well-being) (S. 136). Aber Wohlergehen ist doch lediglich ein schwacher Ausdruck für Glück. Aber ein weiterer Hinweis - aber nur ein Hinweis - stammt von Susumu Shimazono. Die Erlösung als kollektives Ziel fällt in der spirituellen Kultur aus. " ... people in the New Spirituality Movements and Culture do not consider that all humanity is either evil or suffering. If some individuals happen to be faced with suffering or evil, it is attri-
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buted to vicious elements in a modem society or from past civilization, and is not inherent to human nature" (S. 128f.). Und dann folgt, was wir inzwischen wissen; "Efforts to liberate one self from such viciousness should be experienced as a process of self-transformation" (S. 129). Bis jetzt haben wir eher über Vorausetzungen des Glücks gehandelt als über das Glück selbst, aber wir können aus dem bisher Gesagten schließen; Der Mensch ist prinzipiell glücksfähig. Um nun endgültig zum Phänomen "Glück" zu gelangen, müssen wir wieder auf Bittrich und Salvesens "Die Erleuchteten kommen" zurückgreifen. Dort scheinen wohl alle das Glück zu wollen, aber meist wird nur von glücklichen Satsang-Lehrem berichtet. Befragt nach dem Merkmal eines erwachten Lehrers antwortet ein Erwachter mit Namen Satyam Nadeem: "Sein einziges Erkennungsmerkmal ist das offensichtliche Glücksgefühl, das aus ihm hervorstrahlt" (S. 72). Gibt es Wege zum Glück? Empfohlen wird das Ausschalten des Wissens, aller Gedanken (S. 84); Plänernachen ist verpönt (S. 85). Ja, das Ich selbst muss aufgelöst werden. "Es löst sich von selbst auf. Und zwar im milden Säurebad des Satsang" (S. 125) Zurück bleibt ein umfassendes Mitgefühl. "Mir ist alles recht und ich bin glücklich und zufrieden. Und in all dem ist Mitgefühl" (S. 184), sagt der Erwachte Pyar Troll. Ist das Glück ein dauernder oder ein momentaner Zustand? Die Lehrer wie Pyar Troll scheinen im dauernden Glück zu leben zu können. Wie bei Pyar wird Glück passiv erfahren. Eckhart Tolle schreibt: "Es war eine so erfüllende Glückseligkeit, einfach nur zu sein, dass ich jedes Interesse daran verlor, etwas zu tun oder zu interagieren. Für einige Jahre war ich vom Sein überwältigt" (S.229). Und von Han Marie Stiekma heißt es: ,,Die Jahre zwischen 1977 und 1987 beschreibt er als Phase ununterbrochener Glückseligkeit" (S. 245). Die Schüler müssen diesen Zustand des Glücks immer wieder neu finden; denn Satsang geht von immer neuen Anläufen aus oder wie es der Lehrer Cyrus erklärt: "Jeder weitere Eindruck verstärkt den Duft von Freiheit und Glück" (S. 63). Aber der Duft ist noch nicht der Braten. Quelle: A. BellebaumlD. Herbers (Hrsg.): Glücksangebote in der Alltagswelt. Verlag Aschendorff: Münster 2006, S. 7-28
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Erlebnisse und Gefühle
Lesen als Überlebensmittel Aleida Assmann
Leseglück wird in der Regel als wunderbare Entdeckung einer fremden Welt beschrieben. Die unscheinbaren schwarzen Buchstaben auf weißem Grund haben etwas, was man ihnen nicht unmittelbar ansieht, nämlich die magische Kraft eines fliegenden Teppichs, der den Leser und die Leserin in ein anderes Reich entführt. In der Wirkungsgeschichte dieses Topos bedeutet Leseglück Fremderfahrung, Transzendenzerlebnis, Aussteigen aus den Beschränkungen der Alltagswelt. Beispiele für solches Leseglück sind reich belegt in autobiographischen Rückblicken. Leseglück wird dort gern als erstes oder frühes Leseglück beschrieben. Eine der wenigen Frauen, die im England des 17. Jahrhunderts ihre Autobiographie geschrieben haben, ist Lady Lucy Hutchinson. Ihre Zugehörigigkeit zum Adel und die Unterstützung ihres Vaters haben ihr den Zugang zu Bildungsprivilegien ermöglicht, die damals in der Regel noch außer weiblicher Reichweite waren. Sie schreibt 1670 in ihrem Lebensrückblick: Als ich etwa sieben Jahre als war, hatte ich gleichzeitig acht Hauslehrer, die mich nebeneinander in Sprachen, Musik, Tanzen, Schreiben und Nähen unterrichteten. Meine Neigung aber galt ganz allein meinem Buch, und das mit solcher Heftigkeit, daß meine Mutter, die für meine Gesundheit fürchtete, mich zur Mäßigung zwang. Das wiederum entfachte die Leidenschaft eher, als daß es sie zügelte. Jeden Augenblick, den ich mich vom Spielen wegstehlen konnte, verbrachte ich mit einem Buch, das ich irgendwo auftreiben konnte, da mir meines weggeschlossen war. Nach Mittag- und Abendessen hatte ich eine freie Stunde zum Spielen, die ich dazu nutzte, mich in irgendeinem Versteck zu verkriechen um dort ungestört zu lesen. 1
Stellen wir dem kindlich weiblichen Leseglück aus dem 17. Jahrhundert ein kindlich männliches aus dem 19. gegenüber, ebenfalls bezeugt aus autobiographischer Perspektive. Es handelt sich um Heinrich Heine, der vom seinem ersten Lektüreerlebnis erzählt. Es fand statt zu einer Zeit, nachdem er
"The Life of Mrs. Lucy Hutchinson written by herself', in: Memoirs of the Life of Colonel Hutchinson (1670-75), hg. v. James Sutherland, London 1973,288. (Zit. nach Gabriele Rippl, Lebenstexte. Weibliche Autobiographien im England des 17. Jahrhunderts, Diss. 1994, Ms. S. 7.; meine übersetzung).
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Aleida Assmann schon in ein verständiges Kindesalter getreten und des Buchstabenwesens einigennaßen kundig war. Ich erinnere mich ganz genau jener kleinen Zeit, wo ich mich eines frühen Morgens von Hause wegstahl und nach dem Hofgarten eilte, um dort ungestört den Don Quichote zu lesen. (00') Ich setzte mich auf eine alte moosige Steinbank in der sogenannten Seufzerallee, unfern des Wasserfalls, und ergötzte mein kleines Herz an den großen Abenteuern des kühnen Ritters. In meiner kindischen Ehrlichkeit nahm ich alles fiir baaren Ernst. (00') Da ich, noch ungeübt im Lesen, jedes Wort laut aussprach, so konnten Vögel und Bäume, Bach und Blume Alles mit anhören, und da solche unschuldige Naturwesen, eben so wie die Kinder, von der WeItironie nichts wissen, so hielten sie gleichfalls Alles fiir baaren Ernst und weinten mit mir über die Leiden des annen Ritters?
Lady Hutchinsons wie Heinrich Heines frühes biographisches Leseglück entspricht ganz dem eben beschriebenen Topos. Lesen löst die Fesseln des Alltags, es entrückt in eine andere Welt, was in beiden Fällen durch ein heimliches Sich-Wegstehlen auch räumlich markiert wird. Das adlige Mädchen entdeckt mit dem Buch in der Hand eine Welt des Wissens, die, so ist zu befürchten, nicht nur für ihre Gesundheit, sondern vor allem für die von ihr geforderten weiblichen Tugenden schädlich ist. Sie macht sich heimlich bekannt mit einer Welt, die nicht für sie gedacht ist und in der sie keinen Platz hat. Der bürgerliche Knabe entdeckt nicht nur eine fremde faszinierende Welt, sondern auch die Grenze zwischen (häuslicher) Gemeinschaft und der Privatheit des Ich. Ganz einsam ist seine Privatheit indessen nicht, weil die vernehmliche Lektüre ihn mit der umgebenden Natur vergesellschaftet. Die Weltironie, von der das Kind nichts weiß, fügt der retrospektive Blick der autobiographischen Reminiszenz hinzu; sie manifestiert sich im Text in der Vorliebe für Gegensatzpaare: Leseglück - Seufzerallee, kleines Herz - große Abenteuer, spielerische Fiktion - baarer Ernst, einsame Lektüre - die Natur als Mitleserin. Es ist reizvoll, Heines Schilderung des am Don Quichote erfahrenen Leseglücks mit dem des englischen Dichters William Wordsworth zu vergleichen. Wordsworth verfaßte ein autobiographisches Epos über das Reifen seines Dichtergeistes, in dem er den Büchern und dem Lesen ein eigenes Kapitel gewidmet hat. Auch Wordsworths frühes Leseglück ist mit Don Quichote verbunden, den er ebenfalls einsam im Freien liest. Zu seiner Lektüre hatte er sich an einem Sommertag in eine Felsenhöhle zurückgezogen, von wo er einen Ausblick aufs Meer hatte. Der Eindruck der Lektüre schlägt sich erst in einem Tagtraum nieder und dann in einem echten Traum, während der Knabe über seinem Buch eingeschlafen ist. Während Heine sein Lektüreerlebnis nachträglich mit Ironie verquickt hat, mischt sich in Wordsworths Stimmung ein unüberhörbarer Ton von Melancholie. Es ist eine tiefe, vage Sorge, die ihn erfaßt um die Vergänglichkeit jener 2
Heinrich Heine, "Einleitung zu Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha", hg. v. Klaus Briegleb, Sämtliche Schriften Bd. 4, München 1978, 151.
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Bücher, in denen kulturelle Höchstleistungen aufbewahrt sind. In unverkennbarer Ähnlichkeit mit dem Helden von Cervantes erscheint ihm im Traum eine ritterliche Gestalt, die vergeblich bemüht ist, die Trophäen der Kultur, zwei Bücher, die im Traum die Gestalt einer geheimnisvollen Muschel und eines wertvollen Steins angenommen haben, vor einer drohenden Umweltkatastrophe zu retten. Wordsworths Leseglück ist melancholisch von Verlusterfahrung grundiert; die Schätze der Kultur sind für ihn kein stabiler Besitz, sondern ebenso flüchtig und gefährdet wie das frühe Leseglück selbst, das in späteren Jahren nicht mehr wiederherzustellen ist. Die traurige Gestalt des Don Quichote verkörpert ihm das Gefühl, sich selbst überlebt zu haben. In die Erinnerung an das frühe Leseglück ist das Bewußtsein verlorener Empfindungskraft eingeschrieben. Wordsworths eindrucksvolles Bild für das verlorene Leseglück, das sich in späteren Jahren nicht mehr mit der gewohnten Intensität einstellen will, ist das leere Theater, dessen Sitzreihen von Zuschauern verlassen sind. I amsad At thought ofraptures now for ever flown; AImost to tears I sometimes could be sad To tbink of, to read over, many a page, Poems withal ofname, which at that time Did never fuil to entrance me, and are now Dead in my eyes, dead as a theatre Fresh emptied ofspectators. 3
In Lucy Hutchinsons wie Heines Lektüre-Idylle steigert sich das Leseglück durch Heimlichkeit. Diese Beispiele stehen in leuchtendem Konstrast zu den vielen, alltäglichen Lese-Exerzitien, die unter pädagogischem Druck und physischem Zwang stattfinden. Zum Leseglück gehört offensichtlich die selbständige Initiative und Eroberung eines eigenen Freiraums. Lady Hutchinson dringt ohne Lizenz in die männliche Welt des Wissens ein, Heine ist ein ahnungsloser Eindringling in die Gefilde der Fiktion. In der Lektüre des Don Quichote verknüpft sich Leseglück mit Leseunglück, nicht nur als subjektive Erinnerung an ein früheres Selbst, wie bei Wordsworth, sondern auch im Gegenstand der Lektüre, sind doch dieAbenteuer des Helden von der traurigen Gestalt zum Inbegriff für eine das Leben verfehlende Form des Lesens geworden. Das quixotische Lesen, das darin besteht, "alles für baaren Ernst" zu nehmen, bzw. die Grenze zwischen erzählter und erlebter Welt zu verkennen, hat nach Cervantes' Musterbeispiel viele Nachfolger gefunden. Dieses Leseverhalten ist typisch für das Kind, das als unschuldiges Naturwe3
William Wordsworth, The Prelude (1805), Buch V, 568-575; hg. v. I.C. Maxwell, Hannondsworth 1975,198-200.
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sen von der Weltironie nichts weiß. Es ist ebenso typisch - so will es ein weiterer Topos - für weibliche Leserinnen, die mit Vorliebe ihren von der Gesellschaft eingeschränkten Handlungs- und Erfahrungsradius durch extravagante LektüreEskapaden kompensieren. Das kann dann dazu führen, daß ihre Erfahrungen zum größeren Teil aus zweiter Hand sind. 4 Die quixotischen Leserinnen demonstrieren mit ihrem Leseunglück ex negativo eine neuzeitliche Kompetenz, welche darin besteht, zuverlässig Fiktion von Realität unterscheiden zu können. Was dieses Unterscheidungsvermögen und die beim Lesen geforderte,Umschaltkompetenz'angeht, so gelten die weiblichen Leserinnen als notorisch rückständig. An Heines Beispiel anschließend dürfen wir verallgemeinern, daß Leseglück weithin gleichgesetzt wird mit Aussteigen und Eskapismus, weshalb Leseglück leicht umschlagen kann in Lebensunglück. Von diesen allzu gut bekannten Varianten des Leseverhaltens soll im Folgenden nicht die Rede sein. Vielmehr möchte ich mich hier auf solche Fälle konzentrieren, in denen sich Leseglück nicht als Aussteigen, sondern als Einsteigen darstellt. Die übergreifenden Belange der Gesellschaft und der Ernst des persönlichen Lebens in Gegenwart und Zukunft werden in solcher Lektüre gerade nicht ausgeschaltet, sondern eingeschaltet. Lesen kann in solchen Fällen zur wichtigsten Form von Sozialisation und Enkulturation werden, wo die nähere Umgebung diese Aufgaben nicht wahrnimmt. Lady Hutchinsons Fall war ein anderer: sie war als weibliche Leserin im 17. Jahrhundert deprivilegiert, d.h. gesellschaftlich vom Bücher-Wissen abgeschnitten, das damals nicht zum Kanon weiblicher Tugend und Anmut gehörte und von einem anderen, spezifisch weiblichen Erziehungsprozeß verdrängt wurde. Für sie war männliche Bildung durch die Anforderungen einer weiblichen Bildung verstellt. Im Folgenden möchte ich mich anhand literarischer Beispiele radikaleren Formen von Bildungsentzug zuwenden; ich denke an Situationen elementarer Verlassenheit und Ausbeutung. Wo Menschen anderen Menschen das Menschenrecht aufErziehung und Bildung absprechen und vorenthalten, können Bücher und Schriften Glück bedeuten, weil sie den Nicht-Privilegierten einen Ersatz für das gesellschaftlich Vorenthaltene bieten. Die Inszenierung von Leseglück vor dem Hintergrund schwärzesten Lebensunglücks ist also mein Thema. Ich möchte es an Romanen zweier Autorinnen untersuchen, einer weißen vom Anfang des 19. und einer schwarzen vom Ende des 20. Jahrhunderts.
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Vgl. dazu Vf.in, "Deutungswahn. Zur Pathologie des Lesens in Henry lames' The Turn ofthe Screw", in: loser Simon, Hg., Distanz im Verstehen, Frankfurt 1995.
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1. Lesen als Vorschule des Lebens in Mary Shelleys Frankenstein Das Monster, das Viktor Frankenstein in Ingoldstadt aus zerfledderten Leichenteilen zusammensetzte und dem er mithilfe alchemischer Praktiken tatsächlich den Lebensodem einzuhauchen vermochte, ist vom ersten Augenblick seiner Existenz an verwaist. Der Schöpfer dieses Wesens nämlich vermag den Anblick seines Machwerks nicht zu ertragen, er wendet sich entsetzt ab und ergreift die Flucht. Das Laborprodukt steht von Anfang an allein in der Welt und muß für seine Erziehung und Sozialisation selber sorgen, ohne daß ihm dabei irgend jemand behilflich wäre. Auf den biologischen Bildungsprozeß muß ja erst noch der kulturelle Bildungsprozeß folgen, und es ist sofort klar, daß der Hersteller Frankenstein sich dieser Verantwortung für sein Produkt von Anfang entziehen wird. Wunderbarerweise ist das jedoch nicht der Anfang einer seelischen Verrohung des Monsters, sondern seiner perfekten ,education sentimentale'. Die Geschichte seiner Erziehung ist Gegenstand einer ausführlichen autobiographischen Erzählung, die das Monster später in einer Bergeshöhle, umgeben vom ewigen Eis der Alpengletscher, seinem Schöpfer aufzwingt. Aus dieser umfangreichen Binnenerzählung geht Erstaunliches hervor. Nach einigen traumatischen Begegnungen mit Menschen lernt das Monster, daß er sich vor dieser Spezies verbergen muß, die ihn nicht als einen der ihren anerkennen kann. Er findet Schutz in einem kleinen Holzverschlag, der ihm zugleich heimlichen Einblick in das Interieur eines biedermeierlichen Hauhalts ermöglicht. In dieser Position verbringt er mehrere Jahre unentdeckt als verborgener und doch intensiv teilnehmender Beobachter. Diese Existenzform, die mehrere Jahre anhält, entspricht einer sozialen Inkubationszeit, aus der er erst heraustritt, nachdem er seinen Bildungsgang abgeschlossen hat. Dieser umfaßt elementare Grundlagen der Bildsemiotik - das Geschehen, das er beobachtet, rollt zunächst in Form eines unverständlichen Stummfilms vor ihm ab, darauf aufbauend muß er die menschliche Sprache erlernen, die er "a godlike science" nennt, und darauf aufbauend lernt er zuletzt auch noch die Schrift. Im Zentrum des Romans schildert das Monster, wie es einen besonderen Fund gemacht hat: im Wald stieß es auf eine Ledertasche mit ein paar Kleidern und einigen Büchern. Dieser Fund kommt genau im richtigen Moment und es ist genau der richtige Lesestoff (obendrein in französischen Übersetzungen, der Sprache, die das Monster bei seiner Sample-Familie, einer adligen französischen Familie, die unglücklich im deutschen Exil lebt, gelernt hat). Das Monster hat bereits genug Erfahrung gesammelt, um seinen Bücherfund sofort als kapitalen Schatz zu erkennen: "Tbe possession ofthese treasures gave me extreme delight". 5 Der Um5
Mary Shelley, Frankenstein, Or, The Modem Prometheus (1817), New York, London 1965. Alle weiteren Zitate aus diesem Roman sind dieser Ausgabe entnommen.
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fang dieses Leseglücks wird jedoch erst voll sichtbar, nachdem jedes einzelne Buch samt dem Eindruck, den es auf seinen Leser gemacht hat, vorgestellt worden ist. Die Lektüre vertieft den bislang weitgehend über die sinnliche Anschauung vermittelten Bildungsprozeß des Monsters; sie fügt den gewonnenen Erfahrungen ganz neue Dimensionen hinzu. Das erste der drei Bücher, die den Lektürekanon des Monsters bilden, stammt von Goethe und heißt Die Leiden des jungen Werther. Mit diesem Buch öffnet sich dem überwältigten Leser eine Welt des Gefühls zwischen den Polen der Verzückung und der äußersten Niedergeschlagenheit. Was er nicht verstehen kann, kann er dennoch beweinen, denn der Leser als Monster fühlt eine tiefe innere Affinität mit dem Helden als Außenseiter. Im Dialog mit dem fiktiven Helden, der in seiner Entschiedenheit und Tiefe den lebendigen Menschen seines Erfahrungskreises unendlich überlegen ist, entdeckt das Monster soetwas wie Selbstbewußtsein in der Frage nach seinem eigenen Ich: "Wer bin ich? Was bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?" (123) Aus der privaten Welt des Gefühls in die öffentliche Welt der Praxis führt ihn das zweite Buch, Plutarchs Biographien großer Männer. Hier geht es um die hohen männlichen Tugenden, die allerdings nicht martialischen Helden sondern an großen Gesetzgebern und Gründern der Republik abzulesen sind. Das dritte Buch ist John Miltons Paradise Lost, dem Mary Shelley auch das Motto für ihren Roman entnommen hat. Zu den Dimensionen des Privaten und Öffentlichen tritt mit diesem dritten Buch die Metaphysik hinzu, die das menschliche Leben auf eine kosmischen Bühne stellt und in einem großen Rahmen tranzendenter Welten sichtbar macht. Mit Staunen und Verwunderung lernt er hier von Dingen, die im Muster seiner Anschauung, der begrenzten Welt der Biedermeier-Idylle, nicht vorkamen und, weil unsichtbar, auch undenkbar waren: von satanischer Revolte, Himmelskämpfen und ewiger Verdammnis in der Hölle, vom göttlichen Schöpfungswerk der Natur und des Menschen, von menschlicher Schuld durch Ungehorsam und Abfall. Der faszinierte Leser vergleicht sich zunächst mit Adam, um festzustellen, daß er selbst keinen väterlichen Schöpfer und keine liebende Gefährtin hat; dann mit Satan, der im Gegensatz zu ihm immerhin die Gesellschaft der gefallenen Engel hat. Die Lektüre bringt ihm zu Bewußtsein, daß sein eigenes Schicksal einzigartig ist und keine Parallele hat in Fiktion, Geschichte oder Mythos. Das Monster liest alle drei Bücher "as a true history", als wahre Geschichte, es nimmt alles, wie der kleine Heinrich Heine "für baaren Ernst". Ebenfalls liest es alle Bücher als Spiegel seines Selbst; die Lektüre wird ihm zum Medium der Selbsterkenntnis, zum laufenden Kommentar seines eigenen Wesens und Schicksals. Dieser Prozeß der Selbsterkenntnis durch Lektüre mündet in die trostlose Diagnose: "I was wretched, helpless and alone" (124).
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Und so ist es folgerichtig, daß sich an das Leseglück, das ihm in der Trias Goethe-Plutarch-Milton beschieden ist, ein Leseunglück anschließt. Er ist nämlich obendrein im Besitz eines vierten Buches, und das ist das Tagebuch, das Frankenstein als Arbeitsprotokoll über seine Entstehung geführt hat. Dieses Skript wird zum Horror-Roman der Horror-Figur, zu einer Lektüre, die dem Monster physische Qualen verursacht. "I sickened as I read" bekennt er seinem Erzeuger, und so läßt er die Erzählung seiner Autobiographie gipfeln in einer pathetischen, vom selbstmordssüchtigen Adam aus dem I O. Buch von Miltons Epos inspirierten Geste der Selbstverfluchung (die Szene, übrigens, der auch das Motto zum Roman entlehnt ist): "Hateful the day when I received life!"
2. Emanzipation per Post: AIice Walkers Color Purpie Ich komme zu meinem zweiten Beispiel. Es handelt von einem Lese-glück, das sich ebenfalls vom Hintergrund eines dramatischen Lebens-unglücks abhebt. Für die HeIdin in Alice Walkers Roman Color Purple wird Schreiben und Lesen zum Überlebensmittel. Die Bedingungen, auf die die Existenz des jungen Mädchens Celie, wie wir sie zu Beginn des Roman kennenlemen, reduziert ist, sind schlimmer als der Tod, denn, wie sie lakonisch bemerkt, im Grab muß man nicht arbeiten. Das Leben der schwarzen Frauen in der ländlichen Bevölkerung des amerikanischen Südens ist durch doppelte Ausbeutung gezeichnet; zur Herrschaft der Weißen über die Schwarzen kommt die Herrschaft der Männer über die Frauen noch dazu. Die letztere Form von Herrschaft nimmt vor allem die Form sexueller Gewalt an, die von keiner gesellschaftlichen Instanz kontrolliert und eingeschränkt wird. Der Körper des Mädchens ist dem Vater ebenso ausgeliefert wie der Körper der jungen Frau dem Ehemann. Dieser Körper ist durch sexuellen Mißbrauch und darauf folgende Schwangerschaften erschöpft und zu jeder Liebeserfahrung unfähig. Die Heidin, die solchen Machtverhältnissen ausgeliefert ist, verhält sich völlig passiv, sie hat den Zustand der Betäubung verinnerlicht. An Kämpfen kann sie nicht denken; ihr einziges Ziel ist das Überleben. "I don't know how to fight. All I know how to do is stay alive".6 Überleben wird hier gleichbedeutend mit vollständigem inneren Absterben, Leben wird zur Mimikri des Todes. In diesem grausamen und hoffnungslosen Szenario gibt es zwei Elemente, die das Bild von der vollständigen Ausgeliefertheit und Abhängigkeit der Frau in Frage stellen und schließlich zum Medium ihrer Befreiung aus den erstickenden Verhältnissen werden. Das eine Element, auf das ich hier nicht näher eingehen 6
Allee Walker, The Color Purple, New York, London usw. 1985, 18. Alle weiteren Zitate des Romans sind dieser Ausgabe entnommen.
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kann, ist die lesbische Beziehung zu einer schwarzen Frau, die das Wunder einer schrittweisen Wiederbelebung des betäubten Körpers und des zerstörten Selbstbewußtseins vollbringt. Das andere Element, das vom ersten Wort des Romans an anwesend ist, ist die Schrift. "Dear God, I am fourteen years old." Mit diesen Worten beginnt der Roman. Es handelt sich durchgängig um einen Briefroman, allerdings um einen Briefroman besonderer Art, in dem mehr als das erste Drittel der Briefe an Gott gerichtet ist. Ein Briefroman setzt die Fähigkeit zum Schreiben und Lesen voraus, die unter den geschilderten Lebensbedingungen alles andere als selbstverständlich ist. Die schwarze patriarchalische Dorfgesellschaft hat keinen großen Ehrgeiz, die Frauen etwas lernen zu lassen. Wissen ist allenfalls solchen Frauen gemäß, die für Männer aus welchen Gründen auch immer untauglich sind. Celies Schwester Nettie verkörpert eine emanzipatorische weibliche Haltung, die Wissen bewußt gegen die Macht der Männer einsetzt, und nach Lebenswegen sucht, die aus der Unterdrückung und Ausbeutung herausführen. Das Gegenbeispiel Nettie bestätigt die Regel: sexuelle Vert'ügbarkeit bzw. biologische Reproduktion und geistige Entwicklung schließen sich gegenseitig aus. Celie, die ältere Schwester, kann nicht in den Genuß einer kontinuierlichen Schulbildung kommen, weil sie durch ihre frühzeitigen Schwangerschaften für die Schulklasse unzumutbar ist, was selbst die Lehrerin zugibt. Unter solchen Umständen wird Lernen zu einem großen Privileg, ja mehr noch: zu einem Zaubermittel. Um ausbrechen zu können, das ist klar, muß man schlau sein; diese kindliche Utopie motiviert die HeIdin des Romans zum mühsamen Erwerb unverdauten Lemstoffs in der Hoffnung auf eine wunderbare Befreiung. The way you know who discover America, Nettie say, is think bout cucurnbers. That what Colurnbus sound like. I leamed all about Colurnbus in first grade, but look like he the first thing I forgot. (10)
Der Roman gliedert sich nach der Kommunikationssituation in drei nicht ganz gleichlange Teile: im ersten schreibt die HeIdin ausschließlich, im zweiten liest sie ausschließlich und im dritten wechseln sich Schreiben und Lesen in dialogischer Folge ab. In diesen unterschiedlichen Modi und Konstellationen spiegeln sich die Stationen eines besonderen Bildungsprozesses. Zum ersten Teil: die HeIdin schreibt an Gott. An Gott zu schreiben ist etwas anderes als zu Gott zu beten. Das Gebet als mündliche Kommunikationsform stellt man sich gewöhnlich als eine direkte Interaktion vor. Die Idee eines direkten Gegenüber ist für die HeIdin jedoch undenkbar und unannehmbar, weil die Last und Scham ihres jungen Lebens nicht aussprechbar, sondern allenfalls auf schreibbar ist. Nettie erläutert das in einem späteren Brief:
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I remember one time you said your life made you feel so ashamed you couldn't even ta1k about it 10 God, you had 10 write it, bad as you thought your writing was. (136)
Die in ihr Leiden und ihre Einsamkeit Eingeschlossene kann sich keinem Menschen anvertrauen; aber selbst Gott fällt als Ansprechpartner für sie aus. So macht sie ihn zumAnschreibpartner, womit sie eher eine schmerzende Leerstelle der Beziehung markiert als eine wirkliche Kommunikation aufbaut. Schrift ist interaktionsfreie Kommunikation; Celie bezieht Gott ein, indem sie ihn auch schon wieder entfernt, d.h. wie einen Briefempfänger zum abwesenden Adressaten macht. Mit anderen Worten: die schriftliche Anrede ,,Dear God" macht aus Gott dem Hörer Gott den Leser, den mehr oder weniger teilnehmenden Leser eines Menschenschicksals. Gott als Leser steht dem Geschehen genauso nah und fern wie die empirische Leserin des Romans: beiden ist eine externe Position zugewiesen, von der aus keine unmittelbaren Eingriffe in die Handlung zu erwarten sind. Der Text ist gewissermaßen von zwei Leser-Positionen flankiert, und zwar so, daß die Position der Leserin die sich im Sicherheitsabstand befindet gegenüber einer unverbindlichen Fiktion in; die Position Gottes, d. h. in die Position der Zeugenschaft, von Leiden und Unrecht einbezogen wird. Die an Gott gerichteten Briefe sind Notrufe aus einem Käfig erstickender Einsamkeit. Das Leben in dem Käfig läßt sich aushalten durch das Als Ob eines externen Beobachters, der auf das trostlose Leben von außen hereinblickt. Geöffnet und bewegt wird dadurch zunächst jedoch gar nichts; im Gegenteil entspricht es zunächst dem passiven Fatalismus der Protagonistin, die Schreckenserfahrung ihres Lebens aufein Konto zu schreiben, für das sie erst im Jenseits einen Ausgleich erwartet. Die Bewegung des Roman geht nun dahin, die in eine metaphysische Feme entrückten Heils-Erwartungen in die Gegenwart menschlicher Interaktion zurückzuholen. Das bedeutet, daß Gott als Briefadressat umbesetzt werden muß durch menschliche Bezugpersonen. An seine Stelle tritt schließlich die Schwester Nettie, so heißt es im letzten Teil des Romans: Dear Nettie, I don 't write 10 God no more, I write 10 you. (199)
Und diese Briefe an die Schwester werden dann regelmäßig mit ,,Amen" unterzeichnet. Was bisher gesagt wurde, bildet den Hintergrund für die Erläuterung des Leseglücks, das im Zentrum des Roman steht. Denn Lesen steigert sich hier zum Glück vor der Erfahrung des einsamen Schreibunglücks, das ihm voranging und von ihm allmählich überwunden wird. Das Leseglück wird dabei auf der Handlungsebene
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durch bösartige Schikanen noch zusätzlich gesteigert. Denn der Briefverkehr, den sich die Schwestern bei ihrer Trennung gelobt haben, 1 say, Write. She say, What? 1 say Write. She say, Nothing but death can keep me ftom it. She never write. (19)
wurde, wie sich später herausstellt, durch den Ehemann unterbrochen, der die Briefe der Schwester einbehält, um sich nachträglich an der zu rächen, die sich seinen Annäherungsversuchen verweigert hatte. Die hinterhältige Sabotage der Korrespondenz mündet ins Leseglück nach Öffnung des Verstecks, aus dem die Briefe vieler Jahre unversehrt hervorquellen. An diesem Wendepunkt wird die HeIdin, die bis dahin die Schreiberin ihres Familienromans war, zur Leserin des Familienromans der Schwester, ebenfalls in Briefen verfaßt, allerdings in solchen, die an eine konkrete Adressatin gerichtet sind, auch wenn die Schreiberin, die ja keine Antwort erhielt, die Hoffnung längst aufgegeben hat, daß ihre Briefe je ans Ziel gelangen. And whether God will read letters or no, 1know you will go on writing them; which is guidance enough for me. Anyway, when 1 don't write to you 1 feel as bad as 1 do when 1 don't pray, 10cked up in myself and choking on my own heart. 1 am so lonely, Celie. (136)
Leseglück setzt an dem Punkt des Romans ein, wo die Briefe der beiden Schwestern nicht mehr ins Leere laufen, sondern sie ein kommunikatives Band zwischen ihnen knüpfen. Es ist der Punkt, an dem das abwesende Gegenüber in die Anwesenheit interaktiver Kommunikation tritt, an dem einsames Schreiben zu schriftlichem Austausch wird. Der Wechsel der Schreiberinnen ist in diesem Roman mehr als eine Konvention der Erzählperspektive, die es ermöglicht, die divergierenden Lebensgeschichten der Schwestern einzeln zu verfolgen und anschließend zusammenzuführen. Als wesentlich erscheint mir vielmehr der Positionswechsel der HeIdin von der Schreiberin an ein ungreitbares (Nicht-) Gegenüber zur Leserin einer an sie gerichteten Post. Die Briefe, die schließlich ihre Adressatin erreichen, vermitteln Leseglück auf zwei Ebenen; auf der Ebene der Handlung als Wiederherstellung des Bandes zwischen den getrennten Schwester, und auf der Ebene der Entwicklung der HeIdin als Chance einer gigantischen Horizonterweiterung. Von letzterem soll hier noch kurz die Rede sein. Die Briefe führen Ce1ie das zu, was ihr bislang strikt verweigert worden ist: ein Wissen, das ihren engen Erfahrungsraum überschreitet und relativiert. Die Schilderung großer ferner Städte und Länder, die Segnungen und Bedrohungen
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der Zivilisation, Überblicks-Darstellungen in den Fächern Geographie und Geschichte, Anschauungsunterricht in Kolonialgeschichte und Ethnographie - all das kommt zusätzlich zu den Familiennachrichten per Post zu ihr ins Haus. Es fügt sich zu einem Grundkurs in Welterfahrung zusammen, der deutlich auf den Bezugspunkt der Emptangerin, der schwarzen Frau, zugeschnitten ist. Der Adressatin wird über die Briefe ihrer Schwester aus New York, London und Afrika das Wissen zugespielt, das sie braucht, um ihre persönliche Biographie im Horizont einer übergreifenden schwarzen weiblichen Identität aufzubauen. Sie emanzipiert sich damit zugleich vom dominanten weißen Bildungskanon, in dem Schwarze wenig Anhaltspunkte für Identifikation und Solidarität finden. Die Themen, die hier zur Sprache kommen, bilden das Curriculum einer gegenwärtig höchst aktuellen (und freilich auch umstrittenen) schwarzen Kulturgeschichte. Darin geht es um solche Fragen wie die Zugehörigkeit der altägyptischen Kultur zur afrikanischen Welt, die afrikanischen Wurzeln der Bibel, das krause Haar von Jesus, aber auch die Geschichte der Sklaverei, der Zivilisationsrückstand in Afrika, die Enteignung durch die Kolonisatoren. Es ist festzustellen, daß die amerikanische Geschichte und Kultur in diesem neuen Bezugshorizont nicht mehr vorkommen. An die Stelle Nordamerikas ist Afrika getreten, was - wie ich meine - ein deutliches Symptom ist für den Übergang von einer nationalen zu einer ethnischen Identität. Celie begann im Schulunterricht mit dem vergeblichen Versuch, sich den Namen von Columbus zu merken, und sie endet mit der Ausrichtung auf einen Kontinent, der ihr räumlich fern, aber innerlich nahe steht. So jedenfalls wünscht es sich Nettie, die schon früh aus den engen Verhältnissen der Familie ausbrach, um Lehrerin zu werden, und später der Schwester, die ihre schützende Hand über sie gehalten hatte, dankt, indem sie sich zu ihrer Lehrerin macht. Nettie teilt ihr mit, was ihr widerfuhr, als auf der Überfahrt zum ersten Mal die afrikanische Küste in Sicht kam: Did I mention my first sight of the African coast? Something struck in me, in my soul, Celie, like large bell, and Ijust vibrated. Corinne and Sarnuel (ihre Reisegenossen) feit the same. And we kneeled down right on the deck and gave tbanks to God for letting us see the land for which our mothers and fathers cried - and lived and died - to see again. (149)
Ob Celie, die keine eigene Anschauung von all dem hat, sich ebenso enthusiastisch zu ihrer afrikanischen Identität bekennt, bleibt freilich offen. Aber am Schluß des Romans steht etwas, das als Signal einer national-amerikanischen Desidentifikation unüberhörbar ist. Jemand stellt die Frage, warnm die großen Familientreffen ausgerechnet am 4. Juli stattfinden müssen, wo es dann grade doch so entsetzlich heiß ist. Die Antwort lautet:
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Aleida Assmann White people busy celebrating they independence from England July 4th, say Harpo, so most black folks don't have 10 work. Us can spend the day celebrating each other. (294)
3. Bildungsroman und Identitätsroman Abschließend gilt es, die beiden vorgestellten Beispiele von Leseglück noch einmal zu vergleichen. Gewiß stammen die Romane, die hier untersucht wurden, nicht nur aus unterschiedlichen Epochen, sondern auch aus unterschiedlichen Welten. Gemeinsam ist ihnen jedoch, daß sie beide ein Leseerlebnis in den Mittelpunkt stellen, das nicht als Aussteigen in fiktive Möglichkeitsräume dargestellt wird, sondern als ein Einsteigen in soziokulturelle Zusammenhänge. In beiden Beispielen steht das Leseglück der Hauptfigur des Romans in Kontrast zu einem schweren Leiden am Leben und zu seiner/ihrer abgründigen Einsamkeit. Über die Bücher und Briefe wird der Erfahrungshorizont drastisch erweitert. Es wird das Innenleben der Person stimuliert, das in einem reichen und differenzierten Spektrum sich entfaltet, zu dem solche Seelenregungen wie Spekulation, Verwunderung, Begeisterung und Erschütterung gehören. Es werden Fremderfahrungen zugänglich gemacht, die den Horizont des eigenen Erlebens drastisch erweitern, und es wird Wissen vermittelt, das aus dem engen Kreis alltäglicher Praxis und Gewohnheit herausführt. Bei all diesen Gemeinsamkeiten besteht auch ein markanter Unterschied, den ich als ,Wandel vom Bildungsroman zum Identitätsroman' bezeichnen möchte. Das Thema des Bildungsromans ist - auf eine vielleicht unzulässig kurze Formel gebracht - die Entwicklung des Helden zum Menschen. Sozialisation und Enkulturation stehen im Dienste einer höheren Aufgabe, der Eingliederung von Fähigkeiten und Fertigkeiten in ein integrales Konzept vom Menschen, das die engeren Bindungen räumlicher und zeitlicher Prägungen übersteigt. Der Bildungsroman ist am Mehrwert des Menschen gegenüber seinen familialen, berufsmäßgen und sozialen Verkörperungen interessiert. Deshalb legt er - ein Kind des 19. Jahrhunderts - ein so großes Gewicht auf die innere Entwicklung und Ausdehnung der Seele. Aufschlußreich für das Ethos der Gattung Bildungsroman ist, was Hegel in seiner Enzyklopädie über Lesen und Schreiben festgehalten hat. Er betont dort, daß Lesen- und Schreibenlemen einer Buchstabenschrift für ein nicht genug geschätztes, unendliches Bildungsmittel zu achten ist, indem es den Geist von dem sinnlich Konkreten zu der Aufmerksamkeit auf das Formellere, das tönende Wort und dessen abstrakte Elemente, bringt und den Boden der Innerlichkeit im Subjekte zu begründen und rein zu machen ein Wesentliches tut. 7 7
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), hg. v. F. Nicolin u. O. Pöggeler, Hamburg 1975, § 459,373.
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In ihrem Roman Frankenstein demonstriert Mary Shelley exemplarisch, was zum Grundkurs der Menschwerdung gehört und was passiert, wenn dieser schriftgeleitete Bildungs-Weg der Verinnerlichung, Abstraktion und Sublimierung durch soziale Widerstände blockiert wird. Der auffällige Unterschied zwischen Mary Shelley und Alice Walker besteht in der Aufgabe dieses universalistischen Menschenbildes. Dem allgemeinen Menschen als Ideal der Bildungspädagogik steht die Idee des Menschen inje spezifischer ethnischer, historischer und kultureller Verankerung gegenüber. Diese Verankerung ist keineswegs naturwüchsig; sie ist eine Sache der Affirmation und der Aneignung, die nicht ohne Studium und Anstrengung zu haben ist. Während die Vorstellung vom universalen Menschen individualistisch grundiert ist, ist die Vorstellung von ethnischer, historischer, kultureller Identität kollektiv grundiert. In diesem Fall bedeutet Bildung nicht vordinglich persönliche Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung, sondern Zugehörigkeit zu einer Gruppe, deren Merkmale distinktiv und deren Grenzen somit klar erkennbar sind. Das Individuum erfährt seine Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung nicht in der universalistischen Leerform des Menschen sondern in der Mitgliedschaft und Solidarität mit der Gruppe. In Mary Shelleys Horror-Roman ist ein Bildungsroman eingebaut, der erzählt, wie die im Monsterkörper wohnende Seele sich mithilfe von Büchern zum wahren Menschen bildet, was die Monstrosität des Monsters - versteht man unter ,Monstrum' die Zusammenfügung heterogener Teile - natürlich nur noch steigert. Alice Walkers Roman beschreibt, was in Mary Shelleys Frankenstein nicht möglich ist: der allmähliche Aufbau humaner sozialer Beziehungen in einer Wüste der Gewalt, Unterdrückung und Mißhandlung. Dazu bedarf es nicht nur der Wiedererweckung der Liebe in zwischen-menschlichen Beziehungen, sondern auch der kulturellen Bildung-als-Bindung an eine weibliche und schwarze Identität, die der Person Würde, Inhalt, Gedächtnis und Rückhalt gibt.
4. Klassiker im KZ Da die Erfahrung von Leseglück vor dem Hintergrund schwärzesten Lebensunglücks mein Thema ist, möchte ich nach den literarischen Beispielen noch einmal auf autobiographisch bezeugte Leseerfahrungen zurückgekommen. Was Texte bedeuten können, das bringen eben nicht nur geschulte Interpretationen professioneller Leser und Leserinnen hervor, sondern gerade auch die lebensweltlichen Kontexte und Erfahrungshintergründe. Daß plötzlich unter besonderen Bedingungen aus Texten neue Bedeutungen hervortreten können, entspricht dem Verhältnis von Figur und Grund, das Hilde Domin einmal eindringlich so beschrieben hat:
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Aleida Assmann Die Schrift an der Wand: für viele ist das eine Schrift in der Luft, gleich weggeweht. Die Wand dahinter macht diese Schrift erst zu einem Zeichen. 8
Bei den beiden folgenden Beispielen kann von ,lebensweltlichen Kontexten' nicht eigentlich die Rede sein, eher müßte es hier ,todesweltlich' heißen. Es geht um die Bedeutung, die Literatur und Lektüre für Häftlinge in Konzentrationslagern gewann. Als Beispiele sollen Primo Levi und Ruth Klüger zur Sprache kommen. Primo Levi wurde im Frühjahr 1944 als Jude und Mitglied der Resistenza verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo er dem Arbeitslager Auschwitz-Monowitz zugeteilt wurde. Zum Alltag in diesem Lager, der von Hunger, Kälte, Krankheiten, Schindung und Schwerstarbeit bestimmt war, gab es für das Lesen keinen Platz. Bücher gehörten zur Welt der Freiheit, Zivilisation und Kommunikation, die den Häftlingen mit ihrem Eintritt ins Lager abrupt geraubt und unerreichbar verschlossen war. Wenn auch Lektüre im eigentlichen Sinn undenkbar geworden war, so spielte doch das Gelesene in der Erinnerung eine Rolle. Ein belesener und gebildeter Mensch, der Primo Levi bei seinem Eintritt in die Welt des Lager war, kann gar nicht umhin, bestimmte Erfahrungen, zumal in der nachträglichen Reflexion der Niederschrift, mit literarischen Reminiszenzen zu verbinden. In seinem Buch Ist das ein Mensch? erwähnt Levi zum Beispiel einen seiner Kameraden, der seine eigene Identität aufgegeben und selbst unter den Häftlingen seinen Namen verloren hatte, sodaß er allgemein mit den letzten drei Ziffern seiner Nummer als Null Achtzehn benannt wurde. Diesen jungen Mann beschreibt Levi mithilfe einer literarischen Erinnerung: Er besitzt nicht die elementare Gewitztheit der Karrengäule, die kurz vor der Erschöpfung anhalten; er zieht oder trägt oder schiebt, solange es seine Kräfte zulassen, dann setzt er urplötzlich aus, ohne ein Wort der Ankündigung und ohne die traurigen Augen vom Boden zu heben. Er erinnert mich an die Schlittenhunde in den Büchern Jack Londons, die sich bis zum letzten Atemzug abschinden und auf der Strecke verenden. 9
In diesem Bericht gibt es jedoch ein Kapitel, das man einem Lektüre-Erlebnis an die Seite stellen kann und mit dem Stichwort ,Leseglück' in Verbindung bringen kann. Levi ist mit einem anderen Häftling eingeteilt, um in einem großen Kessel die tägliche Suppe aus der ein Kilometer entfernten Lagerküche zu holen. Auf diesem Weg, an diesem Junitag, in dieser Stunde, die schon keine Stunde mehr ist, kommt es Levi in den Sinn, den Franzosen Jean, genannt Pikkolo, der einige Brokken italienisch lernen möchte, mit Dante bekannt zu machen. Nach einer kurzen 8 9
Hilde Domin, Gesammelte autobiographische Schriften. Fast ein Lebenslauf, München, Zürich 1992,264. Primo Levi, Ist das ein Mensch? Ein autobiographischer Bericht, München 1992,48. (Alle weiteren Zitate aus dem Bericht folgen dieser Ausgabe.)
Lesen als Überlebensmittel
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Einführung geht Levi zur Rezitation über und setzt mit dem Gesang des Ulysses ein. In kurzen Passagen wechseln die Memorate mit den Übersetzungen, Erläuterungen und Reaktionen ab. Im Gegensatz zur kontinuierlichen Lektüre ist dieses Studium des Klassikers von Brüchen durchsetzt. Gedächtnislücken skandieren die Verse, die sich sehr unregelmäßig, einige flüssig, andere mühsam und fragmentarisch, andere gar nicht als Text konstituieren. In der Erläuterung der Verse nun spricht die Situation des Gefangenen und zum Tode Verurteilten mit einer diesen selbst überraschenden Heftigkeit mit. Ja, hier bin ich ganz sicher, das kann ich Pikkolo erklären, kann ihm auseinandersetzen, warum ,,misi me" nicht dasselbe ist wie ,je me mis", daß es viel stärker und viel wagemutiger ist, eine zersprengte Fessel, ein Sichhinüberwerfen auf die andere Seite der Barriere, wie gut wir doch diesen Drang kennen. (135-136)
Als er zu den Versen gelangt, in denen Ulysses die Kameraden zu ihrer letzten großen Ausfahrt aufruft, erreicht die Spannung ihren Höhepunkt. Es heißt dort: Bedenket, welchem Samen ihr entsprossen: Man schuf euch nicht, zu leben wie die Tiere, Nach Tugend und nach Wissen sollt ihr trachten.
Und Levi fährt fort: Als härte ich das selber zum erstenmal: wie ein Posaunenstoß, wie Gottes Stimme. Einen Augenblick lang vergesse ich, wer ich bin und wo ich mich befinde. (136-137)
"Einen Augenblick lang vergesse ich, wer ich bin und wo ich mich befinde" - dieses Stereotyp in der Beschreibung von Leseglück erhält im fremden Kontext ein ganz neues Gewicht. Literatur wird hier zur Transzendenzerfahrung, nicht in einem religiösen Sinne, sondern im prägnanten Sinne der Überschreitung einer Grenze, die die Lagerkommandanten nicht kontrollieren können. In dieser Situation macht Levi die Bekanntschaft mit seinem Bildungs-Gedächtnis als einer Ressource, einer unzuverlässigen freilich und lückenhaften, doch ist es gerade auch die Knappheit, die die Kostbarkeit der Verse und Wortfetzten, die deren Strahlkraft und Bedeutungsintensität ausmacht. Über dieses BildungsGedächtnis findet er unvermittelt Anschluß an eine kulturelle Dimension seiner Identität, die das Reglement des Lagerlebens als erste zu vernichten bestrebt war. Das Pathos dieses Memorierglücks, wie wir vielleicht in Analogie zum Leseglück sagen dürfen, wird durch den Abbruch der Worte zum Ausdruck gebracht: und da ist noch etwas anderes, Gigantisches, was ich in der Intuition eines Augenblicks eben erst erkannt habe, vielleicht das Warum unseres Schicksals, unseres heutigen Hierseins ... (139)
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Doch wird diese gigantische Sinnfrage zugleich wieder zurückgebogen auf die nächsten und konkreten Belange des Tages, der Stunde, d.h. auf die Frage, ob die Suppe heute aus Kohl oder Rüben besteht. Ruth Klüger kam im Gegensatz zu Levi nicht als gebildete Erwachsene, sondern als Kind von elfJahren ins Konzentrationslager. Sie besaß keine Erinnerungen an eine heile Gegenwelt, weil sie bereits in Wien unter den Bedingungen einer verschärften Ausgrenzung der Juden aufgewachsen war. Trotz ihres kindlichen Alters hatte sie, die ein geradezu zwanghaftes Memoriertalent für alles Gereimte hatte, sich jedoch bereits ein beträchtliches Bildungs-Gedächtnis erworben. Die physischen Strapazen des stundenlangen Appell-Stehens bei Hitze und Kälte überstand sie mit einem Schatz von Schiller-Balladen, die ihr die leere Zeit rhythmisierten und auszufüllen halfen. Ohne daß es ihr jemand beigebrachte hätte setzte das Kind Ruth Klüger instinktiv den Bildungsschatz der Klassiker als Überlebenstechnik ein. Vor dem Hintergrund dieses Gedächtnisfundus sind dann auch ihre eigenen Gedichte entstanden, die ebenfalls zu einem Überlebensmittel wurden, in denen das Kind ihre traumatische Erfahrung in die poetische Form zwingt. Von diesen soll hier jedoch nicht die Rede sein, sondern von einem echten Leseglück, das Ruth Klüger aus dem Konzentrationslager Christianstadt berichtet. In dieses Lager war sie mit einer Gruppen von Frauen zur Sklavenarbeit in einer Fabrik und zum Schienenlegen verlegt worden. Der Mutter, die ebenfalls dieser Gruppe angehörte, gelang es, von einem Vorarbeiter der Fabrik ein Buch für ihre Tochter auszuleihen. Das Buch, das der Vorarbeiter am nächsten Tag tatsächlich mitbringt, ist zwar keiner der üblichen Groschenromane, sondern ein altes und halb zerrissenes Schullesebuch. Während die Mutter sichtlich enttäuscht ist, ist die Tochter selig. "Das Geschenk übertraf alle Erwartungen. Eine wohlbekannte Türe hatte sich wieder geöffnet, ich hatte einen vertrauten Zugang zur Welt wiedergefunden."10 Der Text, auf den das Mädchen im niederschlesischen Konzentrationslager eines eiskalten Januartags des Jahres 1945 stößt, ist der Osterspaziergang aus Goethes Faust. Diese Verse gewinnen für sie - wie Dante für Levi - die Intensität von Posaunenstößen. Dabei geht dem dreizehnjährigen Mädchen zum ersten Mal ein Unterschied zu den klingenden Abenteuer-Balladen Schillers auf, die bislang ihr Bildungs-Gedächtnis bevölkerten. Die Semantik hatte bislang eine untergeordnete Rolle gespielt. Nun beginnt sie, auf die einzelnen Worte zu hören und den Gehalt dieser Worte vor dem Hintergrund ihrer existentiellen Situation zu erfassen. Da war nun dieses Gedicht, in dem schon der Auftakt Kälte und Gefangenschaft gleichsetzte: "Vom Eise befreit sind Strom und Bäche." Man muß Atem holen, um diese erste Zeile zu sagen; ich hole Atem. Eine Stimme, die mich direkt ansprach. Wind eines großen Aufbruchs, einer 10
Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, 160.
Lesen als Überlebensmittel
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ausdrücklich nicht religiösen, nicht-christlichen Auferstehung (,,Denn sie sind selber auferstanden/Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern"), von der ich mich also nicht ausgeschlossen fühlte. Der Rückzug des Winters (,Jn raube Berge") und der Rückzug der deutschen Armee (wir konnten die Geschosse hören) waren ein und dasselbe. Es mußte ja gelingen, der Feind, die Kälte waren im Fliehen, sandten nur noch "Ohnmächt'ge Schauer körnigen EiseslIn Streifen über die blühende Flur". (160)
Von diesem in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Beispiel für Leseglück fallt abschließend noch einmal ein Licht auf die im letzten Kapitel gezogene Grenze zwischen Bildungsroman und Identitätsroman. Die universalistische Perspektive des Bildungsromans, die den abstrakten Menschen im Blick hatte, rechnete nicht mit den gewachsenen, aktuell bestehenden und auch gar nicht abzuschaffenden kulturellen Grenzen, in denen Menschen nun einmal aufwachsen und in denen sie ihre Identitäten ausbilden. Näher betrachtet bedeutet Universalisierung jedoch oft nicht mehr als die gedankenlose Verallgemeinerung des Eigenen. Man muß sich auf den Standpunkt von Minderheiten stellen, um überhaupt den fremden und bedrohenden Aspekt solcher Verallgemeinerungen zu Gesicht zu bekommen. Der christliche Auferstehungsglaube ist für die jüdische Leserin ein Signal, das Identifikation blockiert und ihr im Gegenteil ihren Status als Ausgeschlossene zu Bewußtsein bringt. Im Falle des Goethe-Gedichtes jedoch, das auf christliche Obertöne verzichtet, kann Bildungslektüre unmittelbar zur Identitätslektüre werden. Das erklärt dann auch, warum der gedruckte Text im zerfledderten deutschen Lesebuch fast unwiderstehlich zum Teil des lebendigen Bildungs-Gedächtnisses wird, und diesmal ist es nicht nur der zwanghaft memorative Habitus gegenüber allem Gereimten: Ich habe diesen Text praktisch sofort auswendig gekonnt wegen der Versprechen, die er enthielt, Und die erhielt. "Im Tale grünet Hoffnungsglück". Es war eben ein sehr kalter Winter. (161)
Quelle: A. BellebaumlL. Muth (Hrsg.): Leseglück. Eine vergessene Erfahrung? Westdeutscher Verlag: Opladen 1996
Das Glück des Gourmets Alois Hahn
1. Gratifikationsverfall Mit dem Glück ist es wie mit dem Guten überhaupt. Man kann eher sagen, was es nicht ist, als dass es positiv bestimmbar wäre. Deshalb verraten die nicht nur scherzhaften Verse von Wilhelm Busch viel Einsicht ins Problem: "Das Gute, dieser Satz steht fest, ist stets das Böse, das man läßt."1 In Bezug auf das Glück des Essens und Trinkens zeigt sich Analoges: Die Freuden der Tafel haben in den Weisheitslehren des Abendlandes (und nicht nur dort) keinesfalls als unverdächtige, weil unschuldige Form des Glücks Anerkennung gefunden. Selbst Goethe, gewiss kein Kostverächter, befindet: "Genießen macht gemein". Umgekehrt steht aber außer Frage, dass Hunger und Durst, zumal auf Dauer gestellt, oder gar Verhungern und Verdursten ganz schreckliche Formen von Unglück sind. Und denjenigen, die wirklich Hunger oder Durst leiden, mag es während dieses qualvollen Zustandes als das höchste Glück der Welt erscheinen, den Hunger zu stillen und den Durst zu löschen. Diese Einschätzung wird sich auch zunächst nicht verändern, selbst wenn man gesättigt ist, solange einem der vorherige Zustand bewusst bleibt oder die Angst vor seinem Wiedereintreten gegenwärtig bleibt. Wenn aber eine Situation eintritt, in der man realistischerweise davon ausgehen kann, dass man jederzeit genug zu essen und zu trinken hat, dann verändert sich die Gratifikationsbilanz. Mit dem Verschwinden der Sorge um die Nahrung sinkt ihr Beitrag zur Unglücksvermeidung ins Unbedachte. Amold Gehlen hat in diesem Kontext von ,,Hintergrundsbefriedigung" gesprochen. Befriedigungsformen dieser Art werden deshalb kaum mit Aufmerksamkeit bedacht. Ihre Rolle für das positive Glücksempfinden geht gegen Null. Der Grund liegt nach Friedrich Tenbruck darin, dass alle sicheren und unbedroht scheinenden Befriedigungsweisen einen "Gratifikationsverfall" durchmachen. Man könnte jede unserer Lebenslagen daraufhin beobachten, welche latenten Befriedigungen in ihr stecken. Die Latenz selbst wäre uns Das hat diesen bedeutenden Dichter nicht daran gehindert, zwnindest fiir die Sphäre der Gastronomie eine Ausnahme zu machen, schreibt er doch: ,,Es wird mit Recht ein guter Braten gerechnet zu den guten Taten. Und das man ihn gehörig mache, ist weibliche Charaktersache."
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aber in vielen Fällen absolut unbewusst. Erst bei einer Veränderung der Situation könnten sich plötzlich vorher latente Bedürfnisse zurückmelden. Die mit ihrem Wiederauftauchen verbundenen Ängste wären aber bloß der negative Aspekt ihres Erscheinens. Zumindest dann, wenn sie mit der Hoffnung verknüpft sind, befriedigt werden zu können, entfalten sie gerade wegen ihres prekären Charakters auch die Chance neuer Formen der Glückserwartung.
2. Soziologie der Mahlzeit und der Prozess der Zivilisation Da, wo sich die Soziologie um Essen und Trinken kümmere, geht es ebenfalls niemals um den Beitrag, den die elegante Stillung von Hunger und Durst zum Glück leisten. Im Zentrum der soziologischen Analyse standen vor allem zivilisationsoder klassentheoretische Erörterungen. Das liegt bei Elias auf der Hand, dem es vor allem um die Verfeinerung der Tischsitten im Prozess der Zivilisierung des europäischen Menschen gegangen ist. Aber auch bei Simmel steht die Ästhetisierung des Benehmens beim Essen und Trinken im Vordergrund der Aufmerksamkeit, ein Prozess, der mit der Sensibilisierung des modemen Menschen und seiner 2
Zur Soziologie des Essens und Trinkens gibt es natürlich eine Menge Arbeiten. Klassisch ist selbstredend immer noch Simmels "Soziologie der Mahlzeit" (siehe unten) In vieler Hinsicht auf seinen Spuren, wenn auch selbstredend unendlich viel materialreicher die Arbeiten von Norbert Elias über den Zivilisationsprozess. Nicht zufällig hat sich vor allem die französische Soziologie zum Thema geäußert. Dort beherrschen kulturhistorische Arbeiten die Szene. In vieler Hinsicht bahnbrechend war ohne Zweifel Claude Levi-Strauss und sein Buch "Le cru et le cuit". (paris: PIon 1964). Die eigentliche Pointe des Werks, das Gastronomische als System von Signifikanten zu behandeln, lässt den, der an den Referenten interessiert ist, eher hungrig, was übrigens verstärkt für den Aufsatz von Mary Douglas ,,Decyphering a Meal" (in: Daedalus, 101, 101, 1972, S.61-81) gilt, ohne dass man leugnen könnte, dass Gerichte auch Texte sind, vor allem in ihrer Form als Rezept. Gleichwohl macht die Lektüre der Speisekarten nur selten satt. Ob sie stattdessen glücklich macht? Wer sich für die historische Dimension unserer Frage interessiert, greife unbedingt zu Jean-Fran(,:ois Revel: Un festin en paroles. Histoire litteraire de la sensibilite gastronomique de 1'antiquite anos jours (paris: Pauvert 1979). Speziell auf die Soziologie der Mahlzeit im 19. Jahrhundert bezogen: das schöne Buch von Jean-Paul Aron: Le mangeur du XIX. swcle. (paris: Laffont 1973) und auf den Kontext von Mahl und Opfermahl bei den Griechen der Klassiker: Marcel Detienne und Jean-Pierre Vernant: La cuisine du sacrifice en pays grec" (paris: Gallimard 1979). Die "Physiologie du gout" von Brillat-Savarin ist selbstredend sehr häufig kommentiert worden, am schönsten (für meinen Geschmack) von Roland Barthes in einer Ausgabe von Brillal-Savarins Werk, die 1975 in Paris bei Hermann erschienen ist. Ähnlich wie in seinen Arbeiten über Mode wird aber auch hier die Speise als Text behandelt. Zahlreiche wertvolle Hinweise aufdie Verknüpfung von Nahrungsproduktion und ihrer Konsumption in dem höchst gelehrten Werk von Eberhard Schmauderer: Studien zur Geschichte der Lebensmittelwissenschaft (Wiesbaden: Steiner 1975). Dass sich die zeitlichen, sachlichen und sozialen Aspekte des Essens und Trinkens mit den Habitus unterschiedlicher Klassen und Milieus korrelieren lassen, kann spätestens seit Pierre Bourdieu: La Distinetion. Critique sociale du jugement. Paris (Minuit) 1979 keinem Zweifel mehr unterliegen.
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größeren Individualisierung, zumal in den Oberschichten, zwingend einhergeht. Gerade weil die Stillung von Hunger und Durst ein Bedürfnis ist, das wir mit den Tieren teilen, kommt es darauf an, diesen Zusammenhang durch Veredelung vergessen zu machen. Das "Niedere" wird durch Überformung überhöht. Und dieser Zwang ergibt sich sowohl in Bezug auf die Speisen und ihre Zubereitung, ihre zeitliche3 und sachliche Präsentation, die Art der Bewegung beim Essen4 und nicht zuletzt dessen Integration in ein soziales Ereignis, eben die Mahlzeit. Dabei liegt die Pointe der Simmelschen Interpretation dieser Form von Geselligkeit darin, dass er in ihr eine paradoxe Einheit des schlechthin Individuell-Organischen und des Normiert-Sozialen sieht: "Von allem nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: daß sie essen und
trinken müssen. Und gerade dieses ist eigentümlicherweise das Egoistischste, am unbedingtes-
ten und unmittelbarsten auf das Individuum Beschränkte: was ich denke, kann ich andere wissen lassen; was ich sehe, kann ich sie sehen lassen; was ich rede, können Hunderte hören - aber
3
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,,zunächst tritt hier die Regelmäßigkeit der Mahlzeiten auf. Von sehr tief stehenden Völkerschaften wissen wir, daß sie nicht zu bestimmten Stunden, sondern anarchisch, wenn ein jeder gerade Hunger hat, essen. Die Gemeinsamkeit des Mahles aber fuhrt sogleich zeitliche Regelmäßigkeit herbei, denn nur zu vorbestimmter Stunde kann ein Kreis sich zusammenfinden - die erste Überwindung des Naturalismus des Essens. Georg Simmel: "Soziologie der Mahlzeit", in: Ders.: Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft. Im Verein mit Margarete Susmann herausgegeben von Michael Landmann, Stuttgart (Koehler) 1957, S.243-250; hier S.245 (urspr. 1910). ,,Endlich ist die Regulierung der Eßgebärde, ihre Normierung nach ästhetischen Prinzipien ein Erfolg der Sozialisierung der Mahlzeit. In den niederen Ständen, wo die Mahlzeit wesentlich um das Essen seinem Stoffe nach zentriert, bilden sich keine typischen Regulative der Eßgebärde aus. In den höheren, in denen der Reiz des Zusammenseins bis zu seiner - mindestens angeblichen - Kulminierung in der Gesellschaft die bloße Materie der Mahlzeit dominiert, entsteht das fiir diese bestimmte Benehmen, ein Kodex von Regeln von der Haltung von Messer und Gabel bis zu den angemessenen Themen der Tischunterhaltung. Gegenüber dem Bilde der Esser in einem Bauernhaus oder bei einem Arbeiterfeste erscheint ein Diner in gebildeten Kreisen den Bewegungen der Personen nach völlig schematisiert, überindividuell reguliert. Diese strenge Nonnierung und Gleichgestaltung hat gar keinen äußeren Zweck, sie bedeutet ausschließlich die Aufhebung oder Umbildung, die die materialistisch individuelle Selbstsucht durch den Übergang in die Sozialform der Mahlzeit erfährt. Schon das Essen mit einem Gerät hat diese Basis seines ästhetischeren Stiles. Das Essen aus der Hand hat etwas entschieden Individualistischeres als das mit Messer und Gabel, es verknüpft den Einzelnen unmittelbarer mit der Materie und ist die Äußerung der reserveloseren Begierde. Indem das Eßgerät diese letztere in eine gewisse Distanz rückt, wird eine gemeinsame, den Zusammenschluß mehrerer begünstigende Form über den Vorgang gelegt, wie sie bei dem Essen aus der Hand gar nicht besteht. In der Hantierung mit dem Eßgerät steigert sich dies Motiv, indem sich hier die allgemein nonnierte Form zugleich als die freiere offenbart. Messer und Gabel mit der ganzen Faust zu umschließen, ist häßlich, weil dies die Freiheit der Bewegung hindert. Die Eßgebärden des Ungebildeten sind hart und ungelenk, aber ohne überpersönliche Reguliertheit; die des Gebildeten besitzen diese Regulative, indem sie beweglich und frei wirken - wie ein Symbol davon, daß die soziale Nonnierung ihr eigentliches Leben erst an der Freiheit des Individuums gewinnt, die sich auf diese Weise als das Widerspiel des naturalistischen Individualismus zeigt." Simmel, a.a.O., S.246f.
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was der einzelne ißt, kann unter keinen Umständen ein anderer essen. In keinem der höheren Gebiete findet dies statt, daß auf das, was der eine haben soll, der andere unbedingt verzichten muß. Indem aber dieses primitiv Physiologische ein absolut allgemein Menschliches ist, wird es gerade zum Inhalt gemeinsamer Aktionen, das soziologische Gebilde der Mahlzeit entsteht, das gerade an die exklusive Selbstsucht des Essens eine Häufigkeit des Zusammenseins, eine Gewöhnung an das Vereinigtsein knüpft, wie sie durch höher gelegene und geistige Veranlassungen nur selten erreichbar ist. Personen, die keinerlei spezielles Interesse teilen, können sich bei dem gemeinsamen Mahle finden - in dieser Möglichkeit, angeknüpft an die Primitivität und deshalb Durchgängigkeit des stofflichen Interesses, liegt die unermeßliche soziologische Bedeutung der Mahlzeit."s
Die Mahlzeit wird also zwar unter dem Aspekt der Integration von Gruppen analysiert, nicht aber als Form individuellen oder kollektiven Glücks. Als Form der Selbstdisziplinierung verlegt sie das "Unbehagen in der Kultur" (im Sinne Freuds) in die Sphäre der elementarsten Befriedigungen. Der sinnliche Genuss wird durch Manieren und kulturelle Normierung eingehegt, und zwar so sehr, dass die sozial unerwünschten Formen des Konsums durch Ekelschranken geschützt werden. Das Wohlschmeckende wird so zu einer Sonderform des Wohlanständigen. Im Sinne von Talcott Parsons könnte man sagen, dass die Nahrungssphäre durch kathektische Normierung sozial neu konstruiert wird.
3. "Plaisir de la table" versus "Plaisir de manger" Dabei wirkt diese Normierung aufzwei Ebenen. Einmal geht es um die Manieren bei Tisch und um das Vergnügen, das gerade durch die Geselligkeit beim Tafeln erzeugt wird. Manche Leute könnten sich gar nicht vorstellen, dass ihnen das Essen allein überhaupt schmecken würde, wenn sie es einsam verzehren müssten, selbst wenn ihnen erlesene Genüsse geboten würden. In diesem Sinne schreibt Ulrich Schulz-Buschhaus (bezeichnenderweise im Kochbuch einer der renommiertesten Köchinnen Österreichs, nämlich Sissy Sonnleitner): "Um seine euphorisierende Wirkung auszukosten, darf der Gourmet ebenso wenig allein sein, wie man sich im 18. und 19. Jahrhundert einen einsam Soupierenden vorzustellen vermochte." Es gibt aber ein "Andererseits", das damit zusammenhängt, dass die Gerichte der Haute Cuisine Kunstwerke sind, die eigentlich eine Art Aufmerksamkeit verlangen, die auch Bilder oder Symphonien beanspruchen. Wer seiner Lust am Fabulieren etwa in einem Konzert keine Zügel anlegte, würde heutzutage gewiss als Banause gelten, was im 18. Jahrhundert keineswegs unbedingt der Fall war. Für die Situation bei Tisch gibt es durchaus Analogien, auf die Schulz-Buschhaus verweist: "Sonst ist ja durchaus die Frage angebracht, ob ein Gourmet seiner 5
Simmel, a.a.G., S.243t:
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Lust - und seinem kulinarischen Urteilsvermögen - besser allein oder in Gesellschaft huldigt: Ein Pariser Restaurateur erzählte mir einmal, dass er den exzellenten und mit Recht gefürchteten Gastronomiekritiker Robert Courtine (der in ,Le Monde' als ,La Reynil~re' signierte) bei dessen stillen Besuchen niemals in Begleitung gesichtet habe. Tatsächlich lässt sich die ,Lust am Essen' (der ,plaisir de manger'), die Brillat-Savarin von der ,Lust an der Tafel' (dem ,plaisir de la table') unterschied, in einen Grad kritischer Verfeinerung steigern, bei dem jede Gesellschaft nur Ablenkung und Minderung des konzentrierten Erlebens zur Folge haben würde."6 Wer je professionelle Weinverkoster bei der Arbeit (I I!) gesehen hat, dem wird aufgefallen sein, dass die Angestrengtheit des Schlürfens, Schnüffelns und Speiens in höchstem Maße jeder geselligen Form von Manieren widerspricht. Für den Soziologen ist aber evident, dass auch das einsame Genießen von Speisen oder Weinen den Verkoster nicht von dem Geschmack befreit, den er im Kontext von Kommunikation entwickelt hat. Rainer Diaz-Bone7 hat das am Beispiel der Geschmacksbildung im Bereich von Pop-Musik (in diesem Falle in Bezug auf die Differenz zwischen "Heavy Metai" und "Techno") empirisch belegt. Geschmack ist Diskursfolge, ohne dass man aber sagen könnte, dass es nicht von Diskursen angeregte Autonomisierungen des Empfindens gäbe, die, einmal entstanden, selbständig weiterentwickelt werden. Die Schwierigkeit der Sozialisation des Geschmacks besteht ohnehin darin, dass alle sprachlichen Beschreibungen von den hier thematisierten Sinneserfahrungen schwer intersubjektiv zu kontrollieren sind. Was jemand schmeckt, weiß ein anderer nie. Man kann nur feststellen, dass bestimmte Gruppen über bestimmte Speisen und Weine ähnlich sprechen. Ob das auf identische "innere" Empfindungen zurückzuführen ist oder auf Diskurszwänge ist schwer auszumachen. Ob also die Austern einem deshalb munden, weil sie in der Tat eine Art von Glücksgefühl vermitteln, das ein Profaner nicht nachfühlen kann oder ob es sich bei entsprechenden Äußerungen nur um "Lippenbekenntnisse" ostreokulturell Unmusikalischer handelt, ist im Einzelfall nicht entscheidbar. Manchmal liegt einem entsprechenden Entzücken uneingestanden lediglich etwas zugrunde, was im folgenden Gedicht unvorsichtigerweise ausgeplaudert wird: "Austern sind mein Lieblingsessen. Zwar hab ich sie noch nie gegessen. Doch hab ich mal einen Freund besessen, und der hat neben einem Mann gesessen, und der hat einen sehen Austern essen. Drum sind Austern auch mein Lieblingsessen." 6 7
Uhich Schulz-Buschhaus: "Sylvester", in: Sissy Sonnleitner: Um einen Tisch. Feste, Alltag und Fasten. Ausgewählte Rezepte im Reigen der Jahreszeiten mit Essays und Gedanken. Klagenfurt (Heyn) 1995, S. 155f. Rainer Diaz-Bone: Kulturwe1t, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurstheoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie. Opladen (Leske und Budrich) 2002.
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4. Gastronomische Diskurse Die reale Mahlzeit und das (vielleicht!), während sie sich abspielt, aktualisierte Glück, ist eben nur eine Form der kommunikativen Gastronomie. Darauf weist das zitierte Gedicht hin. Nicht erst seit der Erfindung der Druckerpresse, doch seitdem in verstärktem Maße, ist Gastronomie auch Gegenstand von Kommunikation, die nicht notwendigerweise Esser verbindet. Kundige Gourmets lesen Rezepte wie "strukturelle Hörer" (im Sinne Adornos) Partituren. Ich erinnere mich an eine Studienstiftlerakademie, aufder ein Musikwissenschaftier erklärte, Bach müsse man nicht hören, es reiche, ihn zu lesen. Der erwähnte Courtine hat über viele Restaurants Kritiken geschrieben, in denen die Mehrzahl seiner Leser nie gegessen hat. Haben diese nur Neidgefühle empfunden, während sie sich dem Bericht der kulinarischen Freuden "La Reynieres" hingaben? Oder aber ging es ihnen wie dem oben erwähnten Austernesser? Die gleiche Frage stellt sich, wenn man bedenkt, welcher publizistischen Fortüne gastronomische Artikel sich rühmen dürfen: nicht nur in spezialisierten Organen wie "Der Feinschmecker" oder "Essen und Trinken". Selbst in deutschen Tages- oder Wochenzeitungen - von der ZEIT bis zur Sonntagsausgabe der FAZ, von der "Berliner Zeitung" bis zum "Trierischen Volksfreund", vom Fernsehen, wo die Palette von Biolek bis Lafer reicht, ganz zu schweigen - finden sich nicht nur Restaurantkritiken, sondern auch Rezepte namhafter Küchenchefs. In der FAZ-Sonntagsausgabe vom 14. Dezember 2003 z.B. stellte der DreiSterne- Koch Heinz Winkler ein Festmahl für die Weihnachtsfeiertage vor, das vom "Panache von Edelfischen" über "Hasenrücken im Nudelmantel mit Backpflaumen und Balsamico-Sauce" bis zu "Claire Fontaine a l'Orange" reichte, während sein vielleicht noch berühmterer Lehrer Eckart Witzigmann in der Wochenendausgabe der "Berliner Zeitung" vom 20./21.12.2003 die Rezepte eines Weihnachtsmenüs beschrieb, das mit "Tunfischtatar mit Vinaigrette" beginnt, dann zu "Kürbissuppe mit Zimtcroutons" übergeht, um schließlich zum Hauptgericht, der Weihnachtsgans, zu gelangen, ohne dass freilich das Dessert "Lebkuchenflammerle" ausgelassen wäre. Dazu empfehlen in beiden Zeitungen Sommeliers oder Sommelieres die passenden Weine, die sich z.B. dadurch empfehlen, dass sie "sehr schlank" sind, "im Aroma an frische Kräuter und exotische Früchte" erinnern oder mit ihrer "Mineralität und Würze ein Traum" sind. Die Beispiele sind selbstverständlich beliebig ausgewählt. Es gibt keine Zeitung, aus der sich nicht Ähnliches zitieren ließe. Ich kenne keine Untersuchung darüber, wie viele Leser solche Rezepte nachkochen und wie vielen schon bei der Lektüre das Wasser im Munde zusammenläuft. So wie Faust ja auch den höchsten Augenblick nicht wirklich erlebte, sondern mit dem (freilich illusorischen) "Vorgefühl von solchem Glück" zufrieden
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war. Vorfreude sei die schönste Freude, sagt das Sprichwort. Gilt das auch für die Welt der Gastronomie? Oder am Ende für Glück überhaupt? Oder ist es bei den Tafelfreuden zusätzlich so, dass sie uns erst in der Erinnerung als Glück erscheinen? Vor allem, wenn man anderen davon erzählt? Aber wie genau sind eigentlich Erinnerungen an vergangene kulinarische Genüsse? Und kann man mit Nietzsche behaupten, dass vom Duft der leeren Flasche niemand leben kann? Ist Reden über Genüsse "vicarious living"? Auch wenn es schwer fällt, solche Fragen definitiv zu beantworten (zumal wenn quantitativ imponierende Auskünfte erwartet würden), kann man jedenfalls nicht leugnen, dass Gastronomie und die von ihr generierte Variante des Glücks nicht nur aus dem "plaisir de manger" und dem "plaisir de la table" bestehen, sondern auch aus der Produktion und der Rezeption von (gesprochenen oder geschriebenen) Texten.
Kleiner Exkurs zur Problematik der Tischgespräche Ob die Behandlung von Tischgesprächen in einen Artikel über das Glück des Gourmets gehört, ist zweifelhaft. Die einschlägige Forschung schweigt sich meines Wissens zur Frage aus, ob Tischgespräche einen Gourmet glücklich machen können8• Fest steht jedenfalls, dass man auch in Gesellschaft schweigend essen kann. Für die klösterliche Mahlzeit ist dies sogar vielfach zwingend vorgeschrieben. 9 Fest steht auch, dass das Niveau der Speisen und das der Konversation sich zueinander oft umgekehrt proportional verhalten. Ohne dass man sagen könnte, eine versalzene Suppe ließe sich durch eine geistreiche Bemerkung als solche retten, darf doch behauptet werden, dass Streit bei Tisch oder auch nur "Geschmacklosigkeiten" bei der Wahl oder Behandlung der Themen einem den Appetit verderben können. Grundsätzlich kann man, während man isst, eigentlich nicht reden, allenfalls zuhören oder sich als Bedienung nützlich machen: Eine Einsicht, die Mozarts Don Giovanni sich mit boshafter Präzision seinem Diener Leporello gegenüber zunutze macht. Leporello muss während der Mahlzeit seines Herrn unentwegt singen. So kontrolliert Don Giovanni dessen Neigung, von den für den Herrn bestimmten Leckerbissen zu naschen. Während der Mahlzeit zu sprechen, heißt also stets, dass der Sprechende sich beim Speisen unterbricht, während die Zuhörenden weiterkauen können. Die Mahl8 9
Das gilt auch fiir die ansonsten überaus instruktive Arbeit von Angela Keppler: Tischgespräche. Ober Formen kommunikativer Vergemeinschaftung am Beispiel der Konversation in Familien. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1994. Zur Logik von Redeverboten vgl. Vf.: "Rede- und Schweigeverbote". In: Kötner Zeitschrift fiir Soziologie und Sozialpsychologie, 43,1991, H.1, S.86-105.
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zeit verlängert sich folglich durch diese (im besten Falle) reihum gehenden Esspausen der Sprecher. Gerade das führt vermutlich zur Tabuisierung des Sprechens beim Essen in asketisch-klösterlichen Kontexten: Das Essen soll nicht allzu lange dauern. Es dient der notwendigen Ernährung der Frommen, nicht ihrer vom Heil ablenkenden Ergötzung. Deshalb sollte es lediglich als Mittel zum Zweck dienen. Je kürzer, desto besser. Damit durch die fehlende Unterhaltung sich nicht etwa eine kulinarische Konzentration auf den Genuss der Speisen und Getränke ergibt (die sich bei wirklich asketischer Küche ohnehin verböte), wird während des Essens ein erbaulicher Text verlesen oder neuerdings eine Schallplatte abgespielt, oft mit geistlicher Musik. Das Essen soll auf diese Weise als niedere Nebensache eines Höherem gewidmeten Daseinsentwurfs symbolisiert werden. Denn man darfzwar nicht beim Beten essen, wohl aber beim Essen beten, aber keinesfalls sprechen. Die gleiche Auffassung von der Nebensächlichkeit des Essens gegenüber dem eigentlich Wesentlichen findet sich auch bei den so genannten ,,Arbeitsessen". Hier daif nicht nur, hier soll gesprochen werden. Die Unterhaltung soll aber ebenfalls nicht der Steigerung des kulinarischen Genusses dienen, sondern der möglichst ungestörten Beförderung der Geschäfte. Das Business-Lunch macht sich dabei die schon erwähnte anatomische Eigentümlichkeit (die durch das kulturell gesetzte Verbot, mit vollem Munde zu essen, unterstrichen wird) zunutze, dass man beim Reden nicht essen, wohl aber beim Essen zuhören kann. Analoges triffi auf Konversation zu: Auch hier sind die Zuhörenden eher zum Schweigen verpflichtet lO • Während aber im normalen Gespräch die gerade Zuhörenden sonst nichts weiter zu tun haben, gibt ihnen das Arbeitsessen Gelegenheit, zusätzlich noch einen Happen in den Mund zu schieben. Auf diese Weise sind immer nur die Redner vorübergehend beim Essen und die Esser vorübergehend beim Reden außer Gefecht gesetzt. So fungiert der Rhythmus von Essen und Reden als natürliche "Verkehrsampel", die jeden immer wieder abwechselnd zum Schweigen bringt. Bisweilen ist freilich auch ein Business-Lunch wie das klösterliche Mahl organisiert, während die einen essen, hält ein anderer, nämlich ein bezahlter Redner den Lunch-Vortrag. Er hat sich dann schon vorher gestärkt oder erledigt das im Anschluss an seine "Performance". Das Gemeinsame in beiden Fällen ist, dass das Essen als Nebensache angesehen wird, die eigentlich nur Zeit verschlingt, die man besser für anderes verwenden möchte. Aber man muss halt Zugeständnisse an den Organismus machen. Allerdings: So kurz wie möglich. ll Dem Gourmet sträuben sich die 10 11
Dass diese ideale Regel allerdings häufig nicht eingehalten wird, sondern statt des gesitteten "take and turn" oft alle durcheinander reden, hat Angela K.epler bei der Analyse ihrer Tischgespräche in Familien sehr anschaulich belegt. Aber das widerlegt die Regel nicht. In der Mitte zwischen diesen beiden Formen des Sprechens beim Essen dürften Konversationen in Familien, vor allern bei Festen, stehen. Wie das Material vonAngela Keppler zeigt, ist auch
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Haare, wenn er auch nur daran denkt, einer solchen Tortur ausgesetzt zu sein, und zwar ganz unabhängig davon, ob die Qualität der jeweiligen kulinarischen Angebote auf dem Niveau von Würstchen mit Sen:fl 2 oder dem "Fingerfood" aus dem Feinkostladen entspricht. Kann man also sagen, Tischgespräche seien dem Gourmet als solche ein Greuel? Ich glaube nicht. Es müsste nur eine andere Rangordnung eingehalten werden. Dem Gourmet kommt es darauf an, dass die Tischgespräche dem Genuss dienen (und nicht umgekehrt), auf die Steigerung der kulinarischen Reize bedacht sind. Die durch Konversation ausgelösten Sprechpausen sieht er als willkommene Ver-
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hier nicht das Essen die Hauptsache, sondern Anlass zur Vergemeinschaftung der Familiengruppe. Es geht auch nicht eigentlich um die jeweiligen Themen oder kommunikativen Gattungen. Im Gegenteil: Die Tischgespräche können sich virtuell jedes Themas bemächtigen, auch der heiklen. Voraussetzung für das Gelingen ist aber in jedem Falle, dass die rituelle Funktion der Mahlzeit nicht zerstört wird. Man kann dann auch Strittiges oder Kontroverses aufgreifen, wenn nur die (wenigstens fiktive) übereinstimmung über die Gemeinschaft stiftende Aufgabe des Verfahrens als solchen nicht gesprengt wird. Hier haben Gespräche zur Folge, dass die Mahlzeiten sich in die Länge ziehen. Der Grund ist aber die Fortsetzbarkeit der Geselligkeit, nicht die Mahlzeit. Diese dient fast als Vorwand ihrer Fortsetzbarkeit, die ansonsten bei reiner Konzentration auf verbale Kommunikation - zumal bei erheblicher Divergenz der Interessen der Familienmitglieder - ihrer thematischen Ressourcen verlustig ginge. Sie hätten einander nichts mehr zu sagen. Es ginge ihnen wie dem von Wilhelm Busch apostrophierten alten Ehepaar, dass, als es noch ein Liebespaar war, unendlich viel sich zu erzählen wusste. ,,Jetzo, bei eine Strumpfes Bereitung, sitzt sie im Morgenhabit, und er ließt die Kölnische Zeitung und teilt ihr das Nötige mit." Seit der Ära Schröder wohl eher: mit Curry. überhaupt wäre es eine soziologische Studie wert, warum der derzeitige Kanzler sich zwar zu Havanna-Zigarren und Brioni-Anzügen bekennt, nicht aber zu häufigen Besuchen in Feinschmeckerlokalen (wenn die denn privat überhaupt stattgefunden hätten). Die seinem Vorgänger bisweilen mit norddeutschem Hochmut vorgeworfene proletenhafte Liebe zum "Saumagen" übersah dabei (geflissentlich oder ignorant?), dass diese Speise nicht nur in einem Restaurant eingenommen wurde, das sich seit Jahren eines Michelin-Sterns rühmen kann, sondern auch mit Trüffeln und ähnlichen Finessen gefiillt war. Vermutlich befinden sich die Leser einschlägiger Hamburger Journale noch immer in dem Glauben, bei diesem Gericht würden Saurnägen verzehrt. Die gleichen Leute vermutlich, die bei Salami daraufbestehen, dass sie in ,,Naturdarm" gefiillt sind. Soll man sie in Zukunft als Darmesser apostrophieren? Hätte die besagte kulinarisch verfeinerte pf'alzische Speise als "Cartoccio naturale di truffi, maroni e funghi con maiale" firmiert, wären besagte Hamburger "Feinschmecker" vielleicht in Ehrfurcht erstarrt. Allenfalls würden sie noch Kuhmägen zulassen, aber nur wenn die sich hinter dem Etikett "Tripes alamode de Caen" verbergen. Schon der Ausdruck "Kutteln" würde alle NichtSchwaben oder Nicht-Badener schaudern lassen. Dabei ginge ihnen, wie ihrem gastronomischen Leitwolf, v=utlich nicht auf, dass im diesbezüglich besten Pariser Restaurant, dem Pharamond, die Pointe gerade darin besteht, die verschiedenen Kuhmagenarten, vier davon sind kulinarisch interessant, je differenziell gegart sind und auch einen unterschiedlichen Geschmack entfalten. Besagter Kritiker hatte nur Kutteln an sich wahrgenommen. Manchmal hilft vielleicht doch Lektüre. In diesem Fall bei dem schon erwähnten ,,La Reyniere" alias Robert Courtine. Man vergewissere sich lieber nicht bei: Wolfram Siebeck: Mit Wolfram Siebeck in Paris. Restaurants, Bistrots, Weinbars, Brasserien, Plätze. Lahr (Schauenburg) 1998, S.44 ff., einem im übrigen lesenswerten und schön aufgemachten Buch.
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längenmg des Essens und seiner Annehmlichkeit an, als zeitliche Ausdehnung eines Plaisir, das sonst allzu schnell verginge. Auch der Gourmet, ja gerade er, weiß, dass nicht einmal das Essen synästhetischer Steigerunen entraten kann. ,,Das Auge isst mit", sagt schon der Volksmund. Die kulinarischen Höhepunkte bedürfen eines Rahmens, der den "Plaisir de manger" sich entfalten lässt. Das kulinarische Fest ist ein Ereignis, an dem alle Sinne beteiligt sind: das Auge, die Nase, das Ohr, die Zunge und nicht zuletzt auch der Tastsinn, dem beim Berühren feiner Tischwäsche oder feiner Gläser Tribut gezollt wird. Deshalb mag auch Tafelmusik bisweilen angemessen sein. Aber eben auch ein den intellektuellen Bedürfnissen der Tafelnden adäquates Gespräch, bei dem auch den Verstand und die Lust, sich gepflegt zu amüsieren, nicht zu kurz kommen. Vielleicht kann man das Gemeinte mit einer selbst aus der Küchensphäre entstammenden Metapher verdeutlichen: Das Gespräch muss sich zum gastronomischen Genuss verhalten wie das Salz zur Suppe. Es ist die Würze. Ein wenig zu viel oder zu wenig oder ein falsches Thema, zu laut oder zu leise: schon wird aus einem gelungenen Mahl ein Repas ridicule 13 aus einem Fest eine Katastrophe. Dass so etwas leicht passieren kann, davon weiß man in Europa, seit man der Parthenon-Fries und die dort geschilderte Hochzeit kennt. Mahlzeiten sind - nicht nur für Gourmets sozial gefährliche Orte.
5. Gibt es ein gastronomisches Subsystem? Für die Systemtheorie Niklas Luhmanns besteht Soziales ausschließlich in Kommunikation. Das gilt dann auch für das Essen und Trinken. Sozial ist das an den Speisen und Getränken, was darüber geredet oder geschrieben wird. Dabei tun aber die Kommunikationen selbstverständlich so, als läge das, woraufes ankommt, nicht im Diskurs, sondern im realen Genuss selbst, der sich nur auf dem Gaumen der Leserinnen entfaltet. Das gastronomische Subsystem der Kommunikation (Luhmann selbst hat die Möglichkeit, dass es so etwas geben könnte, nie erwogen. Bei ihm tauchen Beispiele aus der Sphäre der Mahlzeiten nur als Extremfälle von Kommunikation auf, so z.B. wenn er erwägt, was geschähe, wenn aus der Suppenschüssel weiße Mäuse sprängen oder wenn er an den Ehemann denkt, der wortlos "die nicht ganz gar gekochte Kartoffel" an den Tellerrand schiebt 14) hätte 13 14
Für eine ebenso gelehrte wie vergnügliche Analyse der poetologischen Verarbeitung solcher Katastrophen bei Boileau greife man zu: Ulrich Schulz-Buschhaus: "Boileaus ,repas ridicule''', in: Ders.: Moralistik und Poetik. Hamburg (LIT-Verlag) 1997, S.133-154. Vgl. Niklas Luhmann. "Sinn als Grundbegriff der Soziologie", in: Jürgen Habermas und Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1971, S. 45.
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also mit dem sinnlichen Erleben nur als seiner Spezialumwelt zu tun. Ganz ähnlich hat Luhmann auch die Religion als Kommunikation gefasst. Das, worauf es dieser ankommt, ist aber gerade nicht das, was geredet wird, sondern dessen Referenz: also einerseits der Glaube des Gläubigen und andererseits Gott als dessen Gegenstand. Man mag die Juxtaposition von Religion und Gastronomie für frivol halten Aber einerseits gibt es eine innerreligiöse Affinität von Kult und Mahl, und andererseits wird nirgendwo so sehr wie hier die Differenz zwischen Doktrin und realer Erfahrung unterstrichen. Was die Theologie für das religiöse Erleben, das ist die gastronomische Kommunikation für das wirkliche Geschmacksempfinden.
6. Klassen Dieses aber ist sozial nur als Kommunikation präsent. Wir wissen nicht, wie eine Speise oder ein Wein anderen schmeckt, wir können nur in Erfahrung bringen, was sie darüber mitteilen. Hält man sich daran, so gewinnt man den Eindruck, dass das Wohlschmeckende nicht nur zwischen unterschiedlichen Gesellschaften, sondern auch innerhalb einer und derselben Gesellschaft nach Klassen und Milieus differiert. Wie gerade Bourdieu gezeigt hat, sind die gastronomischen Differenzen zwischen den "classes populaires" und der Bourgeoisie nicht einfach dadurch zu erklären, dass die einen sich nicht leisten können, was die anderen im Übermaß besitzen. Gerade die Unterschichten "mögen" vieles nicht, was den Oberschichten schmeckt. Umgekehrt wird gerade die "abondance" (üppig gefüllte Teller, große Portionen usw.) für die "classes populaires" zum Inbegriff des guten oder festlichen Essens, während die Bourgeoisie gerade auf dezente Manierlichkeit achtet. 15 Die Askese wird in den Oberschichten, jedenfalls was den offiziellen Stil der Selbstthematisierung betrifft, zum Moment des Genusses selbst, sei es auch um den Preis der Heuchelei. Die berühmte Stelle von Bert Brecht "Über niedrigen Materialismus" aus den Flüchtlingsgesprächen müsste insofern modifiziert werden: "Ich find, da ist was dran, daß der sogenannte MateriaIismus in den besseren Kreisen in Verruf ist, man spricht gern von niedrigen materiellen Genüssen und rät den unteren Klassen ab, sich ihnen in die Arme zu werfen. An sich ist es nicht nötig, weil sie das Kleingeld dafür sowieso nicht haben. Ich hab mich oft genug gewundert, warum die linken Schriftsteller zum Aufhetzen nicht saftige Beschreibungen von den Genüssen anfertigen, die man hat, wenn man hat. Ich seh immer nur Handbücher, mit denen man sich über die Philosophie und über die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und über die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man oben nur den Kant nicht kennte! Das ist ja traurig, daß mancher die Pyramiden nicht gesehen hat, aber ich finde beklemmender, daß er auch noch kein Filet in Champignonsauce gegessen hat. Eine einfache Be15
Vgl. Bourdieu, a.a.O., S. 216ff.
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AloisHahn schreibung der Käsesorten, faßlich und anschaulich geschrieben, oder ein künstlerisch empfundenes Bild von einem echten Omelett würde unbedingt bildend wirken. Eine gute Rindssuppe geht mit dem Humanismus ausgezeichnet zusammen."!·
Zumindest Friedrich Engels jedenfalls war in der Lage, sich das Glück als Weingenuss vorzustellen. Wie sonst soll man sich seine Eintragung ins Album von Jenny Marx erklären: ,,Auffassung vom Glück: Chateau Margaux 1848".17 7. Genussfeindlichkeit oder das Glück der kulinarischen Selbstkontrolle Wie lässt es sich erklären, dass den Oberschichten, übrigens nicht nur im Abendland, kulinarische und ganz generell sinnliche Freuden als etwas erscheinen, dass mit Glück nichts zu tun habe? Warum erscheint diese Form des leibgebundenen Behagens nicht nur nicht als Glück, sondern oft geradezu als dessen Gegenteil? Schon Augustinus hatte in der "Civitas Dei" zwischen der wahren Freude und der leeren Fröhlichkeit, dem "gaudium verum" und dem "inaniter laetum" unterschieden. Man hat für das Christentum oft behauptet, diese Tendenz hänge mit der generellen Leibfeindlichkeit dieser Religion zusammen, wie sie sich am deutlichsten etwa in den Briefen des Apostels Paulus äußere und seitdem zum festen Bestandteil der christlichen Tradition geworden sei. Nun hat uns aber Foucault daran erinnert, dass entsprechende Konzeptionen bereits im antiken Griechenland beheimatet waren, wo sie sich nicht mit einer spezifisch christlichen ErbsÜDdenlehre verbinden lassen. Im Zentrum stehe vielmehr die Idee, dass Glück mit souveräner Selbstverfiigung zusammengedacht werde. Sowohl die Sexualität als auch das Essen und Trinken bergen aber die Möglichkeit des Kontrollverlustes, der auch als Selbstverlust empfunden werden kann. Gerade in der Antike sei die entsprechende Angst viel stärker mit der Sphäre des Essens und Trinkens als mit der der Sexualität verbunden gewesen. Der Verdacht richtet sich also gegen die Völlerei und den Rausch als Formen des Verlustes der selbstbestimmten Würde. Es geht also im Sinne von Seneca um die "potestas Sui".18 Es verbindet sich also die Vorstellung vom Glück mit der von der Triebunabhängigkeit, von der quasi göttlichen Herrschaft über sich selbst, an der man sein Wohlgefallen hat. Damit wird die Abhängigkeit von äußeren Glücksgütern zur 16
17 18
Ich erlaube mir diesen Text nach einer etwas unorthodoxen, aber hier vielleicht angemessenen Quelle zu zitieren: Bertold Brecht: Flüchtlingsgespräche, in: Peter Fischer: Schlaraffenland, ninuns in die Hand. Kochbuch für Gesellschaften, Kooperativen, Wohngemeinschaften, Kollektive und andere Menschenhaufen sowie isolierte Fresser. Berlin (Wagenbach) 1975, 8.28f. Fischer, a.a.O., S.29. Ich selbst verdanke meine diesbezüglichen Kenntnisse den Arbeiten des Mediävisten Peter von Moos.
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Gefahr für den Seelenfrieden, und zwar zunächst nicht im theologischen Sinne, sondern ganz und gar im Sinne weltlich-eleganter Souveränität des Selbst. Das sinnliche Glück wird zum Feind des Selbstgenusses, der sich auf Dauer stellen lässt. Damit aber kommen wir zu einer zweiten Dimension der abendländischen Glücksauffassung (Es ist hier stets von der "angesehenen Meinung" die Rede, wie sie durch den Mainstream der pilosophisch-theologischen Tradition vertreten wird): Für sie liegt Glück in der Dauer eines Zustandes, nicht in der Intensität eines augenblicklichen Empfindens. Nun ist zwar die kulinarische Kunst durchaus ein Versuch, "Künstlichkeit" auch als Distanz zu bloßer Unmittelbarkeit des Erlebens zu zelebrieren. Es geht ihr auch darum, gegen den schnellen "Gratifikationsverfall" einzelner gustativer Erregungen etwas Dauerhafteres zu setzen, nämlich die permanente Variation der Reize. Die kulinarische Form des Kampfes gegen das "taedium gustus" ist die Innovation im Bereich der Rezepte und der Präsentation der Speisen. Aber auch sie bleibt stets auf der Jagd nach einem Reiz, der für einen Augenblick restlose Befriedigung herzustellen vermag. Die Vergänglichkeit ihres Erfolges beantwortet sie mit der stets neuen Veränderung ihrer Erregungen. Aber nie erzeugt sie selige Dauerzustände, sondern im besten Fall andauernde Serien von immer wieder zerfallenden glücklichen Augenblicken.
8. Der Gourmet als Hungerkünstler und die virtuelle Unendlichkeit der geschmacklichen Reize Der Gourmet kann der kulinarischen Kunst insofern behilflich sein, als er Pausen einlegt. Der Gourmet hält sich offen für den glücklichen kulinarischen Augenblick, indem er sich durch temporäre Askese auf sie vorbereitet. Das, was für die Unterschichten jahrhundertelang der schlichte Mangel von allein bewirkte, nämlich die Genusspause, das wird vom Gourmet durch Selbstbeherrschung absichtlich herbeigeführt. Man könnte ihn insofern mit Katkas "Hungerkünstler" vergleichen, der am Ende seines Lebens sagt, er habe nur deshalb so gut auf das Essen verzichten können, weil er keine Speise gefunden habe, die ihm geschmeckt habe. Aber im Gegensatz zu dieser tragischen Form des Gourmets kennt die glückliche Variante sehr wohl Speisen, die ihm munden. Er ist nur von ihrem Reiz nicht so abhängig, dass er durch pausenlose Wiederholung des Genusses die Quelle des Glücks selbst zerstört. Nun könnte man hier vielleicht einwenden, das sei gar nicht notwendig, weil die geschmacklichen Reize, die "saveurs" unerschöpflich seien. Eine Wiederholung käme dann ohnehin nur selten vor. Selbst das bloße Durchlaufen der geschmackli-
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chen Tonleiter wäre eine unendliche Geschichte. Wer so denkt, könnte sich sicher auf Brillat-Savarin berufen, der in seinem Kapitel über die "Saveurs" schreibt: ,,Le nombre des saveurs est infini, car tout corps soluble a une saveur speciale qui ne ressemble entiecement Aaucune autre. Les saveurs se modifient en outre par leur agregation simple, double, multiple; de sorte qu'il est impossible d'en faire le tableau, depuis la plus attrayante jusqu'A la plus insupportable, depuis la fraise jusqu'A la coloquinte. Aussi tous ceux qui l'ont essaye ont-ils Apeu pres 6choue."'9
Dieses Argument übersähe aber, dass auch der permanente Wechsel eine eigentümliche Langeweile erzeugt, die damit zusammenhängt, dass zwar kein Einzelreiz zweimal auftritt, wohl aber die Empfindung des Wechsels als solchem. Paradoxerweise bleibt eben bei Konstanz des Wechsels von einem bestimmten Zeitpunkt an der dominante Eindruck nicht der der Variation, sondern der der Konstanz. Simmel nennt diesen Zustand Blasiertheit und ordnet ihn dem Geistesleben der Großstädter zu. Der "Genußmensch ohne Herz" im Sinne Max Webers ließe sich eben auch als Reisender zwischen den Feinschmeckerlokalen finden. Simmel formuliert so: ,,Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien; weshalb denn auch dumme und von vornherein geistig unlebendige Menschen nicht gerade blasiert zu sein pflegen. Wie ein maßloses Genußleben blasiert macht, weil es die Nerven so lange zu ihren stärksten Reaktionen aufregt, bis sie schließlich überhaupt keine Reaktion mehr hergeben - so zwingen ihnen auch harmlosere Eindrücke durch die Raschheit und Gegensätzlichkeit ihres Wechsels so gewaltsame Antworten ab, reißen sie so brutal hin und her, daß sie ihre letzte Kraftreserve hergeben und, in dem gleichen Milieu verbleibend, keine Zeit haben, eine neue zu sammeln. Die so entstehende Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren, ist eben jene Blasiertheit, die eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt. "20
Die Pflicht, stets etwas Neues zu schaffen oder zu empfinden, steht gerade dann, wenn sie als Konstante begriffen wird, in einem eigentümlichen Widerspruch zu sich selbst: Wer ihr genügt, fügt sich der Tradition, der Tradition nämlich, sich nicht zu wiederholen. Nur durch Wiederholung könnte man also der immer wiederholten Praxis, sich nicht zu wiederholen, entsprechen. Die eigentliche Innovation wäre, auf Innovation zu verzichten. Der glückliche Gourmet käme diesem Gebot zu seinem eigenen Nutzen durch Unterbrechungen nach. Er würde der Versuchung widerstehen, jeden Tag zum Fest zu machen, obwohl er materiell dazu 19 20
Brillat-Savarin, a.aO., S. 50 Georg Simmel: "Die Großstädte und das Geistesleben", in: ders.: Brücke und Tür, a.a.O., S.232.
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eventuell durchaus in der Lage wäre. Psychisch ist es nämlich niemand. In diesem Sinne behandelt auch Goethe das Dilemma in seinem bekannten Paradoxon: "Nichts ist schwerer zu ertragen als eine Reihe von guten Tagen."
9. Rausch, seliger Augenblick und Dauer An dieser Stelle empfiehlt es sich, noch einmal auf die Entscheidung der abendländischen Tradition zurückzukommen, Glück nur als Dauer gelten zu lassen und damit den zwar bloß temporären, aber deshalb eben um so intensiver erfahrbaren "seligen Augenblick" allenfalls als Zeichen für Glück zuzulassen. Betroffen sind von dieser "Abwertung" vor allem "Orgasmen", wie sie für das Sexuelle oder aber für Rauschzustände charakteristisch sind. Es geht also um Situationen, in denen - mit welchen Deutungen sie dann auch immer überformt werden - der Körper als Lieferant von Euphorien in Dienst genommen wird. Technisch ausgedrückt: Was im organischen System als Ausschüttung von Endorphinen beschrieben werden kann, wird im sozialen präsent als Kommunikation über glückliche Erfahrungen, die im Psychischen widerhallen, Erfahrungen, von denen behauptet wird, durch sie würden zumindest vorübergehend alle Sinnfragen suspendiert. Ekstasen dieser Art sind nicht nur in ihrer Dauer aufAugenblicke beschränkt, sie bestehen großenteils auch ihrem Inhalt nach (wenn sie nicht gerade völlig inhaltsleer sind bzw. ihr eigentlicher Inhalt die Leere selbst ist) darin, Vergangenheit und Zukunft aus dem Bewusstsein auszublenden. Darin eben besteht ihre Glücksverheißung und ihr möglicherweise Sucht erzeugendes Potential, also ihre bei sozial unkontrolliertem Auftreten massive Gefährlichkeit: Denn wie schon Nietzsche wusste: "Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit". Damit huldigt auch er natürlich der am Glück als Dauer orientierten philosophischen Doktrin. Es ist aber deutlich, dass innerweltliche Ewigkeit von Lust nur als permanenter Rauschzustand zu haben ist. Das aber ist mit verantwortungsvoller Selbststeuerung des Handelns nicht kompatibel. Im Kontext von Tafelfreuden sind, zumindest im europäischen Raum, solche Rauschzustände am ehesten als Trinkgelage sozialisiert worden. Trotz je nach Gesellschaft höchst unterschiedlicher Toleranz gegenüber bestimmten Formen der Betrunkenheit, trotz höchst diversen Formen ihrer Funktionalisierung, die sie sogar unter Umständen als geboten erscheinen lassen kann, ist doch unabweislich, dass soziale Akzeptanz solchen Glücks an deren zeitliche Begrenzung gebunden sein muss, selbst wenn sie sich technisch auf Dauer stellen ließe. Das Glück ist hier mit Handlungsunfähigkeit verbunden, die sozial zwar vorübergehend in Kauf genommen wird, etwa um Formen totaler Verbrüderung zu beschwören. In
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diesem Fall verbindet sich die ohnehin sozial integrative Funktion der Mahlzeit zusätzlich mit jener Form von unverbrüchlicher Gemeinschaft wie sie etwa zwischen Waffenbrüdern oder Menschen gefeiert wird, die gemeinsam lebensgefährliche Risiken eingehen. Es wird behauptet, dass etwa terroristische Kommandos sich vor ultimativen Aktionen in gemeinsame Rauschzustände versetzen. Bisweilen fungieren Orgien dieser Art auch im Kontext von Rites de passages. Soziologisch entscheidend ist in diesem Zusammenhang immer die Frage, inwieweit die während solcher Sauf- und Fressorgien entstandenen Zustandsveränderungen der Beteiligten nachträglich kommunikativanschlussfähig sind, ob man sich also auf sie beziehen darf. In vielen Fällen ist genau das untersagt. Obwohl die Beteiligten vielleicht auch noch am nächsten Tag wissen, was am Vorabend geschehen oder gesagt worden ist, gilt die Regel strikten Schweigegebotes, oft nicht nur gegenüber Dritten, sondern auch gegenüber den Mittrinkem. Die Toleranz in Bezug auf Exzesse im Essen und Trinken ist im übrigen von Gesellschaft zu Gesellschaft und - innerhalb einer und derselben Gesellschaft zwischen verschiedenen Gruppen, vor allem zwischen den Geschlechtern und Status, signifikant verschieden. Während, um nur einige Beispiele zu nennen, in Ländern Nordeuropas Betrunkenheit (gelegentliche, versteht sich) unter Männern keinesfalls als Dauerschaden für die persönliche Identität aufgefasst wird, sind die Lizenzen für Frauen erheblich restringierter. In den südlichen Ländern Europas waren die Deutschen schon im Mittelalter - man denke nur an entsprechend degoutierte Briefe von Petrarca - als notorische Trunkenbolde in Verruf. Dass sich hier die Sitten auch epochal im Lauf des von Norbert Elias so genannten Zivilisationsprozesses verschoben haben, kann man vermuten. Kontrollverlust wird zunehmend als Selbstbeschädigung empfunden. Wer sich nicht selbst kontrolliert, wird virtuell legitimer Gegenstand von Fremdkontrolle, und zwar bis hin zur Dauerüberwachung. Man könnte das auch so formulieren: Wer nicht mehr handeln kann, wird behandelt. Die Gründe für den Bedarf an massenhafter Selbstkontrolle, an Massendisziplin im Sinne Max Webers, liegen für modeme Gesellschaften auf der Hand. Man denke, um auch hier nur ein Beispiel zu nennen, an die objektive Gefährlichkeit unkontrollierten Handelns im Straßenverkehr oder in vielen sensiblen Produktionsabläufen. Eine Gestalt wie Shakespeares Falstaff war auch schon im 17. Jahrhundert komisch, aber wegen seiner Ess- und Trinkallüren nicht eigentlich verächtlich, zumindest nicht in dem Maße, in dem sie es heute notwendigerweise wäre. Man hat den Eindruck, dass riesige Mengen von genossenen Speisen und Getränken zwar von den Moraltheologen als Völlerei, "Gula", sehr missbilligt wurden. Diese stellt schließlich eine der Hauptsünden dar und wird mit entsprechend
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plastischer Anschaulichkeit in vielen Darstellungen des Spätmittelalters gegeißelt. 21 Die Wirkung solcher Predigten scheint aber begrenzt gewesen zu sein. Bis in die jüngste Gegenwart hat man zumindest für die Gruppen, die in der französischen Soziologie als "classes populaires" bezeichnet werden, den Eindruck, dass Üppigkeit zu Festen hinzugehört und dass es nicht darauf ankommt, wie viel man isst, sondern wie viel man verträgt. Nicht der ist dann der Held, der keinen Schnaps trinkt, sondern derjenige, der nicht Gedenfalls nicht als erster) unter den Tisch sinkt. Wie stark selbst noch am Hofe Ludwigs XIV - Zivilisation hin, Zivilisation her - die schiere Masse dessen, was man verzehrte, nicht schon als solche diskreditierte, mag man aus den Speiseplänen des Königs selbst ersehen. Lieselotte von der Pfalz berichtet, dass sie seine Majestät häufig ernorme Mengen verschlingen gesehen habe: Vier Teller mit dicken Suppen verschiedener Art, einen ganzen Fasan, ein ganzes Rebhuhn, eine große Schüssel mit Salat, ein Hammelgericht mit Knoblauch und Sauce, zwei dicke Scheiben Schinken, danach einen Teller mit Gebäck, Früchten und Konfitüre. Das alles während einer Mahlzeit. Gewiss, der König wurde späterhin von Fagon auf Diät gesetzt. Was aß er da? Nur noch eine Suppe, in der sich ein Geflügel befand. Danach drei gebratene Hähnchen, von denen er allerdings nur die Brüste, zwei Keulen und vier Flügel verzehrt. 22 Völlerei ist also nicht einfach als Ausschweifung der bäuerlichen Bevölkerung an den wenigen Festtagen, wo es genug gab, zu begreifen. Nun ist - wie gesagt - Betrunkenheit immer schon problematisch gewesen. Aber Alkohol als gepflegter Begleiter gepflegter Mahlzeiten waren immer höchst geschätzt, nicht nur wegen des "Plaisir de manger", sondern auch wegen des "plaisir de la table". Mit den heutigen polizeilichen Alkoholkontrollen freilich verschieben sich die gebilligten Mengen in einen Bereich, der früher gar nicht auffällig gewesen wäre, weil die Schwellenwerte sich nicht nach individueller Trinkfestigkeit und Fahrkompetenz, sondern nach numerischen Sollwerten richten, also eine besondere Form der Normalisierung darstellen, auf die Jfugen Links Arbeiten eingehen. 23
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Ich nenne nur ein Beispiel von vielen, vielleicht das berühmteste, die "Gula" von Hieronymus Bosch auf dem "Tisch der Weisheit" (früher hieß er "Die Sieben Todsünden'') im Prado, der urspriinglich im Wohngemach Philipps des Zweiten als dessen Lieblingsbild im Escorial stand. Vgl.: Wilhelm Fraenger: Hieronymus Bosch. Dresden (Verlag der Kunst) 1975, S.267ff. Zu den Beispielen vgl. Robert J. Courtine: La Gastronomie. Paris (Presses Universitaires de France) 1970, S.31ff. Vgl.: Jürgen Link: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1997. Speziell auf die Rolle des Alkohols im Kontext moderner Selbstund Fremdkontrolldispositive geht ein: Jan Reinhardt: Alkohol und (Selbst-) Kontrolle. Gedanken zu einer Soziologie des Alkoholismus. Trier 1999 (Diplomarbeit).
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10. Der Gourmet und sein Distinktionsvermögen Der Gourmet würde sich gewiss schon deshalb nicht betrinken, weil ihm das die Unterscheidungsfähigkeit in beiden Bereichen rauben würde. Das Anregende anregender Getränke bezieht sich eben einerseits auf die geistreiche Geselligkeit, andererseits aber auch auf die Distinktionsflihigkeit in Bezug auf die Speisen. Dabei ist etwa die "Weinansprache" bei Tisch ein Zeichen für Kennerschaft in beiden Bereichen. Man stelle sich einen mehr als angeheiterten Gourmet vor! Wäre das nicht eine "contradictio in adiecto"? Er wäre am Ende nicht in der Lage, den schon jetzt (2003) exzellenten Chateau Margaux von 1999 von einem Chateau PrieureLichine, aus dem gleichen Jahrgang (und dem gleichen Dorf) zu unterscheiden. Würde er die "notes vanillees et grillees, fines et elegantes, s'associant au cassis et aux fruits rouges pour former la trame d'une composition d'une agreable complexire" des Chateau Margaux überhaupt in ihrer reichen runden Textur noch erfassen, ohne zu übersehen, dass diese noch verfeinert wird durch "de savoureux aromes de cerises cuites et epices"? Wohl kaum! Das Glück des Gourmets hängt mit anderen Worten immer auch davon ab, dass er nicht die Kapazität verliert, die sein Spezialgebiet ist. Er ist nicht nur Genießer, sondern auch Kenner, der auch um die ganz feinen Unterschiede weiß, und zwar nicht nur, weil er sich darüber durch Lektüre kundig gemacht hat (das natürlich auch!), sondern weil ihm die Zunge das ist, was dem schon erwähnten strukturellen Hörer Adornos das Ohr. So wie dieser beim bloßen Anhören komplexer symphonischer Werke sich die Partitur vors innere Auge halten kann, so ist unser Gourmet "struktureller" Esser und Trinker, der nicht einfach nur die Speisen und Getränke zu identifizieren weiß, sondern deren Zutaten, Zubereitungsarten nebst dazu gehörigen Raffinessen derjeweiligen "Speisekomponisten" zu unterscheiden weiß. Er würde nie einen Medoc mit einem Graves verwechseln, selbst innerhalb der Weine eines Dorfes wie etwa Margaux würde er, selbst wenn es sich um den gleichen Jahrgang handelte, sofort merken, dass bei dem schon erwähnten 199ger Prieure Lichine die schwarzen Beeren das Aroma deutlicher prägen als die roten. Schon das (von den Welten der Qualität, die zwischen den beiden Weinen liegen, im Übrigen ganz abgesehen) würde für den Gourmet eine Verwechslung der beiden Weine ganz unmöglich machen. Er verwendet im Genuss das Hochkulturschema, von dem Gerhard Schulze gesprochen hat. 24 Die sozialen Orte, an denen Schulze das Wirken diese Schemas darstellt, sind aber gerade nicht die Restaurants der Haute Cuisine, sondern vor allem Theater, Oper, Konzerte mit klassischer Musik oder Kunstausstellungen. Das 24
Vgl. Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursozio1ogie der Gegenwart. Frankfurt am Main und New York (Campus), 2. Auflage 1992, S. 475 und passim.
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liegt vielleicht auch daran, dass Schulze sein empirisches Material ausschließlich einer Untersuchung Nürnbergs verdankt, wo solche Etablissements schwer auffindbar sein dürften. Damit soll nicht gesagt werden, dass gastrisches Glück nicht auch beim Verspeisen der nicht zu unrecht berühmten Würstchen aus dieser schönen alten Stadt erlebbar wäre, die - sagen wir - in der Historischen Bratwurstküche ,,zum Gulden Stern" in der Zirkelschmiedsgasse mit etlichen Glas "Tucher" "verputzt" werden könnten. Aber ein Gourmet würde sich dort eben nur wiederfinden, wenn er Ferien vom Ich gemacht hätte. Es ist bedauerlich, dass Gerhard Schulzes Forschungsetat nicht ausreichte, die Erlebnisgesellschaft in der Hochkulturszene von Paris zu rekognoszieren. Aber -les choses etant ce qu'elles sont - die einzige Szene, die nach einem für Essen und Trinken bestimmten Lokal sich nennt und dennoch in der "Erlebnisgesellschaft" auftaucht, ist die Kneipenszene. 25 Man würde allerdings auch bei einer Untersuchung der Haute Cuisine sofort feststellen, dass nicht alle, die einen ihrer Tempel frequentieren, Gourmets im Sinne von "strukturellen" Essern und Trinkern sind. Die Erfahrung, die man aus Konzerthäusern oder Vernissagen zu Genüge kennt, würde sich hier wiederholen. Bei einem Blindtest würden die meisten Klienten die oben erwähnte Differenz zwischen den verschiedenen Weingütern in Margaux schwerlich sauber herausarbeiten könnten. Aber vermutlich könnten sie wenigstens kundig darüber reden, nachdem man ihnen gesagt hat, was sie getrunken haben. Vor etlichen Jahren hat es im französischen Fernsehen öffentliche "Blindproben" gegeben, an denen sich anfangs auch renommierte Gastronomiekritiker und sogar Drei-Sterne-Köche beteiligten. Die Resultate waren allerdings von der Art, dass die Herrschaften sehr bald zu Wiederholungen für kein Geld der Welt mehr zu gewinnen waren. Sagt man. Dennoch wäre es zynisch, die Existenz des hier als Idealtyp postulierten Gourmets schlicht zu leugnen. Auch die empirischen Puritaner hätten sich sehr anstrengen müssen, um von Weber als solche anerkannt werden zu können. Gleichwohl hat es sie gegeben. Oder sagen wir vorsichtiger: Zumindest haben viele daran geglaubt, dass wenigstens die anderen oder doch einige andere den Idealen und dem Idealtyp entsprachen. Claude Levi-Strauss hat das für die Schamanen behauptet, die zwar selbst betrügen, aber doch meinen, dass die anderen keine Betrüger sind. So ist es auch beim strukturellen Hörer und beim Gourmet. Man würde nicht so tun, als gehörte man zu ihnen, wenn man nicht anerkennte, dass sie es sind, die den Maßstab setzen. Den Maßstab aber eben nicht nur für gehobene Statusdemonstration, sondern auch für ein zivilisiertes Glück, das sicherlich nicht ohne Geld, aber beileibe auch nicht für Geld zu haben ist. Man mag den Glauben an eine kulinarische Differenz, wie sie für das gastronomische Feld eine Wirklich25
Schulze, a.a.O., S.487ff.
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keit konstituiert, für pure Illusion halten. Bourdieu hat zumindest die Soziologie darüber belehrt, dass alle Wirklichkeitsfelder Resultat einer solchen "illusio" oder eines solchen "enjeux" sind. Auch der religiös Unmusikalische oder der gläubige Atheist wird nicht leugnen können, dass es so etwas wie Religion gibt. Auch wer Gounnets verachtet oder gar - angesichts einer Welt voller Hunger und Mangel für skandalös hält, wird - wenn er zufällig auch noch Soziologe ist, ihre soziale Existenz seiner Aufmerksamkeit entziehen können. Die Soziologie kann sich nur an die Kommunikation halten. Ob der Gounnetwelt im Jenseits der modischen Gastronomieführer, Kochbücher, Restaurantkritikspalten ein wirkliches Geschmackserlebnis korrespondiert, wird schwer zu bestimmen sein. So wie man auch nicht wissen kann, woran Fromme wirklich glauben, wenn das, was sie zu glauben bekennen, etwas völlig anderes ist, als sie uns sagen. Aber es handelt sich in allen Fällen um Kommunikation über höchst spezielle Formen von Glück. Der Soziologe kann als solcher nicht entscheiden, ob es Pessimismus oder Optimismus ist, wenn man glaubt ,,(...) daß die Dinge nur existieren, wenn man von ihnen spricht, oder, was das gleiche ist, dass sie sich nicht entwickeln oder sich am Ende verflüchtigen, wenn man ihnen keine verbale Existenz verleiht oder sie ihnen verweigert."26 Aber er neigt professionell zu diesem Glauben. Quelle: A. Bellebaum/H. Braun (Hrsg.): Quellen des Glücks - Glück als Lebenskunst. ERGON Verlag: Würzburg 2004
26
Javier Marias: Alle Seelen. Roman. Aus dem Spanischen von Eike Wehr. Stuttgart (Klett-Cotta) 1989, S.171. Für den Hinweis danke ich Peter von Moos.
Vermittelte Unmittelbarkeit* Das Glück der ästhetischen Erfahrung** Hans-Georg Soeffner
1. Endliches Gelingen
Die Liebe zur Kunst, insbesondere zur Musik, habe, so erzählte mir ein enger, vor einigen Jahren verstorbener Freund l , sein ganzes Leben bestimmt. Aussagen dieser Art finden sich allenthalben. Sie sind bei Bildungsbürgern oder solchen, die dafür gehalten werden wollen, ebenso beliebt wie bei Künstlern unterschiedlicher Art und Qualität. Und fast immer basieren diese Bekenntnisse auf Erfahrungen, in denen sich Ästhetik und Affekt vermischen. Je nach affektiver Beigabe kleidet sich das Bekenntnis in heroisches Pathos oder romantische Verklärung; in die kühle Sachlichkeit des ästhetischen Konstrukteurs oder in schwärmerische Gefiihligkeit und völlige Hingabe an das, was als Kunstgenuss empfunden wird. Die Aussage meines Freundes dagegen zielte einerseits auf weniger, andererseits auf mehr, als in den meisten Liebesbekenntnissen zur Kunst enthalten ist: auf weniger Gefühlsbeimischung, stattdessen auf so etwas wie Vollendung - auf das Glück der und in der ästhetischen Erfahrung. Seine Eltern hatten ihm, als er noch ein Kind war, ein Klavier gekauft. Den Klavierunterricht bezahlten sie, obwohl sie es sich eigentlich nicht leisten konnten oder vielleicht gerade, weil es über das Lebensnotwendige hinausging. Der Schüler dankte es dem Klavierlehrer dadurch, dass er den Unterricht nicht als Last empfand - obwohl beiden schon bald klar war, dass die Begabung des Schülers
* **
Vgl. Plessner, Helmuth (1928-1975), Die Stufen des Organischen und der Mensch, BerlinI New York, das zweite anthropologische Gesetz: "Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Immanenz und Expressivität", S. 32 !ff.. Die Herausgeber haben mich dazu gebracht, über das Glück in der ästhetischen Erfahrung nachzudenken. Unglücklicherweise stießen sie mich damit auf ein Thema, das eine eigene Dynamik enthält und das selbst dann, wenn man das Glück haben sollte, über viel Zeit zu verfUgen, nicht erschöpfend behandelt werden könnte. - Es sei denn, man wäre im Stande, durch einen glücklichen Einfall, zum Beispiel in den drei Zeilen eines vollendet eleganten Haiku das Glück einzufangen und erfahrbar zu machen. Im folgenden - erkennbar nicht haikuartigen - Aufsatz geht es dagegen nur um einige Vorbemerkungen zu einem umfassenden Thema. Anselm Strauss, *18. Dezember 1916; t 5. September 1996.
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nicht außergewöhnlich war. Mein Freund hatte nichts von einem musikalischen Wunderkind, wohl aber eine enge Wahlverwandtschaft zur Welt der Musik, einer Welt, in der uns das große gespielte Werk, solange das Spiel anhält, in eine ebenso vollkommene wie flüchtige Ordnung stellt. Flüchtige Ordnungen sind auch das Thema der Sozialwissenschaften, ohne dass - bis auf ganz wenige Ausnahmen - sozialen Ordnungen auch nur ansatzweise so etwas wie Vollkommenheit in einem ästhetischen Sinne zugeschrieben werden könnte. Aber die Parallelität in Flüchtigkeit und ,Werkcharakter' einerseits und andererseits die Differenz in der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen ,Sinnprovinzen', ,Erkenntnisstilen' und Einstellungen, fordern geradezu dazu heraus, diese verschiedenartigen Ordnungstypen - Alltagswelt und Welt der Ästhetik - zu kontrastieren und den Kontrast analytisch zu nutzen. Von solchen Überlegungen war der Klavierschüler allerdings, zunächst noch, weit entfernt. Später prägten sie, wie sich zeigen lässt, seinen theoretischen Stil,2 Erst einmal aber galt es, die Fingerübungen abzuleisten und den Erfolg an einer Serie von Etüden zu erproben. Dann folgten, zu Beginn noch heimlich und gegen den Willen des Klavierlehrers, angeregt durch Konzertbesuche, die ersten Versuche mit Sonaten der ,Klassiker'. Salons, Sonntagskonzerte und Solisten hatten hier den Publikumsgeschmack und damit anfangs auch den des Musikschülers vorgeformt und Favoriten geschaffen, an denen auch die musikalischen Lehrlinge sich zu bewähren versuchten. Eine Klaviersonate Mozarts, die schon zur Zeit ihrer Entstehung das Publikum durch das souveräne Spiel mit (vorgeblich) türkischen Stilelementen gewonnen hatte3, zog meinen Freund in besonderer Weise an. Es war eine Faszination, die ihn bis zum Ende seines Lebens nicht mehr los ließ. Immer wieder versuchte er sich an ihr. Schon bald konnte er sie auswendig. Und auch seine Spieltechnik war so weit fortgeschritten, dass sich nur noch geringfügige Fehler in das Spiel einschlichen. Über mehr als siebzig Jahre blieb Mozarts ,Klingstück' meines Freundes ständige Herausforderung. Obwohl die Sonate längst durch ein verhältnismäßig großes Repertoire anderer Stücke Konkurrenz erhalten hatte, war und blieb sie letztlich seine einzige große, persönliche, musikalische Liebe: Eine Geliebte allerdings, die sich ihm immer wieder entzog. Denn alles Üben, Wiederholen, Verbessern hatte nie dazu geführt, dass er die Sonate auch nur einmal so hatte spielen können, wie er sie - seinem "inneren Wissen und Empfinden" nach - hätte spielen müssen. 2 3
Vgl. SoefIner, Hans-Georg (1991), "Trajectory - Das geplante Fragment. Die Kritik der empirischen Vernunft bei Anse1m Strauss", in: BIaS, Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 1/91,4. Jahrgang. Übersetzung der englischen Version von 1990. Mozart, Wolfgang Amadeus, Klaviersonate A-dur KV 331 (AHa turca).
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In seinem letzten Lebensjahrzehnt wurde er schwerhörig. Sein Leben als akademischer Lehrer - und eben auch als Musikliebhaber - bestand aus einem immer hartnäckigeren und ständig schwerer werdenden Kampf gegen die immer wieder versagenden, pfeifenden, knarrenden oder scheppernden Hörgeräte. Auch die Finger wehrten sich mit zunehmendem Alter immer renitenter gegen den Spielwillen meines Freundes. Das alles hinderte ihn nicht daran, sich weiter aufopfernd um seine musikalische Geliebte zu bemühen. Manchmal, wenn wir nach langem Gespräch und einigen Gläsern Wein nachts zusammen saßen, fragte er, ob ich - noch einmal- hören wolle, wie weit er mit seiner Interpretation fortgeschritten sei. Ich wollte immer, schon weil er wieder und wieder - insbesondere im ersten Satz die Mozartschen Variationen mit ,eigenen' Variationen und Abtönungen unterlegte. Nie jedoch war er mit seinen Bemühungen zufrieden. Er starb plötzlich, eigentümlich leicht und gelöst - bei einem kleinen Park nahe am Meer in der kalifornischen Sonne. Am Abend vor seinem Tode habe er, erzählte mir seine Frau, wieder einmal- und für sich allein - ,seine' Sonate gespielt. Beim Frühstück habe er glücklich gesagt, dieses Mal habe er sie so spielen können, wie er sie habe spielen müssen.
2. Utopischer Standort Dem zwar kurzen und flüchtigen, im Gedächtnis dann aber wohl unzerstörbaren Glückserlebnis waren lange Jahre an Arbeit vorausgegangen. Dabei bildete die sich ständig wiederholende Erfahrung, dem eigenen Ideal nicht gerecht zu werden, den Antrieb: Die erlebte Differenz zwischen einem geahnten Ideal und den daran scheiternden Realisierungsbemühungen hielt den Willen wach, das zu besitzen, was eben kein selbstverständlicher Besitz sein kann - das Erlebnis, glücklich zu sein. "Glücklich zu sein", schreibt Kant, "ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen, aber endlichen Wesens und also ein unvenneidlicher Bestimrnungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewusstsein seiner unabhängigen Selbstgenügsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist". 4
Wenn nun die Notwendigkeit des,Verlangens', glücklich zu sein, auf die - offenkundig wiederholte - Erfahrung trifft, dass die Chancen, glücklich zu werden, bei einem endlichen, bedürftigen und um seine Bedürftigkeit wissenden Wesen, nicht 4
Kant, Immanuel (1788 (1968», Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt, Bd. 6, S. 133 (Anmerkung 11).
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eben groß sind, liegt es nahe, dass dieses bereit ist, hohe Kosten oder Risiken in Kaufzu nehmen, um das Ziel zu erreichen. Ebenso naheliegend ist die Gefahr der Selbsttäuschung, dann nämlich, wenn das unbändige Glücksstreben, der Wunsch nach Glück, zum Vater der (imaginierten) Glückserfüllung wird. Beides, Risikobereitschaft und Selbsttäuschungsanfälligkeit beweist Faust. Seine riskante Wette liefert ihn an Mephisto aus, wenn es diesem gelingt, Faust im ,,höchsten Augenblick" vollendetes Glück genießen zu lassen: "Werd' ich zum Augenblicke sagen:Nerweile doch! du bist so schön!/ Dann magst du mich in Fesseln schlagen,/Dann will ich gern zugrunde gehen".5 Da Mephisto um Fausts - aus der Sehnsucht nach Glück entspringende - Empfänglichkeit für Illusionen weiß, gaukelt er am Ende der Tragödie dem schon Erblindeten vor, was dieser gern sähe - und aus den (von Lemuren imitierten) Arbeitsgeräuschen schließt: "Solch ein Gewimmel möcht' ich sehnjAuf freiem Grund mit freiem Volke stehn/Zum Augenblicke dürft' ich sagen;Nerweile doch, du bist so schön!lEs kann die Spur von meinen ErdentagenlNicht in Äonen untergehn. -/In Vorgefühl von solchem hohen Glück/genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick. (Faust sinkt zurück, die Lemuren fassen ihn auf und legen ihn auf den Boden)". 6 Vergleicht man den Wortlaut der Wette - im strengen Sinne - mit Fausts angeblicher Einlösung des Paktes, so zeigt sich, dass Mephisto durchaus nicht als Sieger über Faust dasteht. Goethe selbst hat denn auch gegenüber C.F.D. Schubarth (3.11.1820) festgestellt: "Mephistopheles darf seine Wette nur halb gewinnen, und wenn die halbe Schuld auf Faust ruhen bleibt, so tritt das Begnadigungsrecht des Alten Herrn sogleich herein, zum heitersten Schluss des Ganzen".? Nähme man den Wortlaut der phantasierten Wunscherfüllung des sterbenden Faust juristisch genau, so hätte Mephisto seine Wette vermutlich ganz verloren. Denn die vollständige Hingegebenheit an den Augenblick, wie sie in der Wettformel formuliert ist, findet sich in den letzten Worten Fausts nicht: Weder wird die Formel wiederholt, noch findet die Wunscherfüllung als solche tatsächlich in der erlebten Gegenwart statt. Die endgültige Befriedigung des Wunsches verlagert sich stattdessen aus der faktischen, gegenwärtigen Welt in eine zukünftige, konjunktivische Utopie, in der man zum Augenblicke sagen " dürft" (Hervorhebung H-G.S.), "verweile doch, du bist so schön!" So genießt Faust denn auch nicht einen bereits erfüllten Wunsch, sondern "Im Vorgefühl (Hervorhebung H-G.S.) von solchem Glück [...] jetzt den höchsten Augenblick". 5 6 7
Goethe, Johann Wolfgang von «1808) 1999), Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust. Herausgegeben und kommentiert von Erieh Trunz, München, S. 57. Ebenda, S. 348. Vgl. dazu auch Friedenthai, Riehard (1963), Goethe - Sein Leben und seine Zeit, StuttgartJ Hamburg, S. 630 ff..
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Unabhängig von allen Diskussionen über die Doppelwette (Gott/Teufel; FaustJMephisto) und über ethische Rechtfertigungen, göttliche Gnade oder Goethes ,Anleihen' bei Mysterienspielen, zeigt sich in Fausts letzten Worten, dass sich der Genuss des ,höchsten Augenblickes' interessanterweise gerade nicht aus der Wunscherfüllung selbst, sondern aus dem Vorgefühl solchen Glückes speist. Der Superlativ in der Formulierung verrät, dass es eben nicht das Erlebnis einer vollkommenen Wunscherfüllung ist, das einen ,höheren Augenblick' - oder gar den Genuss des ,höchsten Augenblickes' erzeugen könnte. Denn in solch vollendeter Wunscherfüllung würde der Erlebende im Erlebnis aufgehen und das Glück sich selbst genügen. Zurecht stellt Schopenhauer daher fest, dass "der Wunsch, d.h. Mangel [...] die vorhergehende Bedingung jedes Genusses [ist]. Mit der Befriedigung hört aber der Wunsch und folglich der Genuss auf'. 8 Der Schwebezustand eines anhaltenden Genusses von etwas - auch der Genuss des eigenen Selbst verdankt sich dagegen dem Hiatus zwischen Erlebendem und Erlebtem: einer Distanz, die aus Beobachtung, Reflexion oder Selbstwahmehmung des genießenden Subjektes entspringt und nicht zur Ruhe kommt. Aus eben dieser Distanz konstituiert sich jener spezifische Stil des Erkennens und Erlebens, der die Besonderheit dessen ausmacht, was als das ,Glück der ästhetischen Erfahrung' gilt. Deshalb sind auch, so lässt sich vermuten, Ekstase und unmittelbare Versenkung in der Meditation zwar wesentliche Elemente des Glückes der religiösen, nicht aber des Glückes der ästhetischen Erfahrung. Die Mehrdeutigkeit in der Genitivkonstruktion dieser Formulierung verweist zudem auf die eigentümlichen Strukturelemente ästhetischer Erfahrung: Einerseits - genitivus subjectivus- entspringt das Glück aus der ästhetischen Erfahrung, es liegt in ihr selbst; andererseits - genitivus objectivus - ist das Glück der ästhetischen Erfahrung nichts Selbstverständliches. Man muss sich dezidiert bemühen, um schließlich (vielleicht) das Glück der ästhetischen Erfahrung einzufangen und zu genießen. Bei solchen Bemühungen geht es nicht um den Einsatz von Techniken, wie sie von der alten und neuen Ratgeberliteratur für ein,Glückseligkeitsmanagement' vorgeschlagen werden. In ihr werden Glückseligkeit bzw. Glückszustände entweder - wie schon in der antiken Philosophie bei den Kynikern - durch eine so kräftige Absenkung der eigenen Bedürfnisse erreicht, dass man die Bedürfnisbefriedigung verhältnismäßig leicht bewerkstelligen kann, oder aber dadurch, dass man - wie bei den Epikuräern - auf die immer neue Erfindung von Steigerungsformen der Befriedigung setzt. 8
Schopenhauer, Arthur (1923), Sämtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstedt, Zweite Auflage, neue Ausgabe 2, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. I, Leipzig, S. 376.
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Beide Formen solchen Glückseligkeitsmanagements arbeiten mit der Hoffnung auf die Manipulierbarkeit jenes ursprünglichen und notwendigen Bedürfnisses, von dem Kant spricht (s.o.). Anders als jenes beruhen jedoch die instrumentell und ala carte fabrizierten Standardformen gesellschaftlich angepriesener Glückseligkeiten auf dem Einsatz von Täuschung und Selbsttäuschung. Frei nach Swift lassen sich folglich solche Glückseligkeiten als Zustände kennzeichnen, ,da man ununterbrochen wohl und geschickt betrogen wird'9 oder sich selbst betrügt. Ähnlich verhält es sich mit Empfehlungen, nicht dem großen Glück nachzujagen, sondern sich mit dem ,stillen und kleinen Glück zu bescheiden'. Was immer in solcher Bescheidung genossen wird, mit dem Glück der ästhetischen Erfahrung und ihrer Dimensionen hat das ,stille, kleine Glück' kaum etwas zu tun. Die Spannung und Anspannung, aber auch der Schwebezustand, in die ästhetische Erfahrung die Subjekte versetzt, werden in solcher Selbstbescheidung ersetzt durch eine Harmonisierungsmaxime, die sich gegenjedeArt von Widerständigkeit durch Selbstabkapselung zu schützen sucht: "Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will", stellt Nietzsche in diesem Zusammenhang fest, "der mag nur immer der höheren Kultur aus dem Weg gehen"lO, einer Kultur, so ist zu ergänzen, in der das Glück des Menschen - statt im Behagen - darin besteht, ein Gleichgewicht zwischen einerseits intendierter und andererseits objektiver, d.h. tatsächlicher aber unwahrscheinlicher Erfüllung herzustellen. Es ist ein Gleichgewicht, das dem Menschen nicht gegeben, sondern als Problem aufgegeben, "durch seine endliche Natur [...] aufgedrungen"ll ist, und das er immer "aufs Neue mit Glück"12, aber in der Regel vergeblich, zu erreichen versucht. Das Glück der ästhetischen Erfahrung besteht dann, sofern man es zu fassen bekommt, in dem Erstaunen über das unwahrscheinliche - jenseits des praktisch Möglichen - Eintreten eines Gleichgewichts, einer Balance, in der die existenzielle Endlichkeit und Bedürftigkeit des Erlebenden eben nicht kaschiert oder gar gänzlich zum Vergessen gebracht werden darf. Im Gegenteil: die Freude über das unverhoffte, zwar flüchtige, aber sich in die Erinnerung einbrennende Gelingen der Balance lebt gerade von der punktuellen Überwindung jener prinzipiellen Bedrohung, die von der ,Brüchigkeit des Mundanen' (Alfred Schütz) ausgeht. Gegen diese Bedrohung suchen wir uns im alltäglichen Handeln abzusichern durch die unentwegte intersubjektive Arbeit an der Konstruktion und Erhaltung 9 10 11 12
Zitiert nach Mauthner, Fe1ix (1910/1911 (1980)), Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, Zürich, S.442. Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden, hrsg. von Kar1 Schlechta, zweiter Band, Menschliches, Allzumenschliches. Erster Band, Münhen/Berlien, 277, S. 617. Kant, Inunanue1 (1788 (1968)), Kritik der praktischen Vernunft, a.a.O., S. 133 (s.o.). P1essner, Helmuth (1928 (1975)), Die Stufen des Organischen und der Mensch, a.a.O., S. 339.
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jener "Strukturen der Lebenswelt"13, die es uns ermöglichen, uns so in der Welt einzurichten, dass unser - im Hintergrund immer vorhandenes -Wissen um die Bedürftigkeit, Endlichkeit und Riskiertheit unserer Existenz uns nicht handlungsunfähig macht oder gar in ,gegenstandsloser Angst' 14 versinken lässt. Anders als im alltäglichen Handeln begegnen wir in der ästhetischen Erfahrung der Bedrohung nicht durch die Konstruktion von Sicherheitssystemen, sondern - im Wissen darum, dass es endgültige Sicherungssysteme nicht geben kann - letztlich in utopischer Einstellung. Die in dieser Haltung entworfene Utopie der Ästhetik, ein durch die Imagination konstituiertes Irgendwo, ein ,Nicht-Ort', steht zwischen der Atopie, der widersinnigen, verkehrten, ,gottlosen' Welt 15 und der Eutopie eines befriedeten, vollendeten und in sich ruhenden Ortes. Zugleich nimmt die utopische Einstellung, aus der heraus ästhetische Utopien entworfen werden, eine Mittlerstellung ein zwischen der Realität und dem Entwurf besserer Welten. 16 In den ,glücklichen Fällen' entsteht aus dieser Einstellung jenes einfach erscheinende und doch raffiniert ausbalancierte Spielen mit der Bedrohung, das den Schein entstehen lässt, es könne eine Kultur geben, in der die "Herrschaft der Kunst über das Leben" gelänge. Sie wäre eine Kultur, in der "wie im älteren Griechenland [...] jene Verstellung, jenes Leugnen der Bedürftigkeit [...] und überhaupt jene Unmittelbarkeit der Täuschung [...] alle Äußerungen" des Lebens begleitet. In einer solchen Kultur verrieten "weder das Haus noch der Schritt noch die Kleidung, noch der tönerne Krug [...], daß die Notdurft sie erfand: es scheint so, als ob in ihnen allen ein erhabenes Glück und eine olympische Wolkenlosigkeit und gleichsam ein Spielen mit dem Ernste ausgesprochen werden". 17 Gegenüber diesem Schein einer in sich ruhenden, die Bedürftigkeit ausklammernden ,olympischen Wolkenlosigkeit' zeichnet sich die utopische Einstellung, in der sich die ästhetische Erfahrung vollzieht, aus durch die Einklammerung der uns ,aufgedrungenen' endlichen Natur. Insofern ist es von vornherein problematisch und nicht zu rechtfertigen, die ästhetische Erfahrung an das Erleben des Schönen zu binden. Wir haben das - in dieser Hinsicht zweifelhafte - Glück der ästhetischen Erfahrung (und dies nicht erst seit dem Auftritt der modemen Kunst) auch bei der Betrachtung von äußerst 13 14 15 16 17
Vgl. Schütz, Alfred; Luckmann, Thomas (1979) 1984), Strukturen der Lebenswelt, Band 1 und 2, Frankfurt. Vgl. Kierkegaard, Sören (1844 (1960», Der Begriff Angst, übersetzt und kommentiert von Lieselotte Richter, Hainburg. Vgl. dazu die Verwendung des Adjektives ätopos im Neuen Testament. Vgl. Soeffner, Hans-Georg (1974), Der geplante Mythos. Untersuchungen zur Struktur und Wrrkungsbedingung der Utopie, Hamburg, insbesondere S. 9 f.. Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden. Fünfter Band, darin: Über Wahrheit und Lüge im außennoraiischen Sinne, München, alle Zitate S. 321.
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,realistischen' Kruzifixdarstellungen, Dämonenbildem, Tragödien, musikalischen Totenmessen und den oft ganz und gar nicht schönen Gegenständen der Literatur. Die Schönheit eines Werkes, das unsere ästhetische Erfahrung anzieht und begeistert, ist ein Glücksfall, oder auch nur, so Stendhal, "une promesse de bonheur" aber nicht die Grundlage der ästhetischen Erfahrung an sich. Denn es ist wesentlich die Spannung zwischen intendierter und tatsächlich erreichbarer Erfüllung; zwischen dem erfahrenden Betrachter (Rezipienten) und der von ihm erfahrenen Wahrnehmung; zwischen unvollkommener Realität und angestrebtem - vollkommenem - Entwurf, die aus einer pragmatischen eine ästhetische Erfahrung macht. Wenn dem Begriff des Schönen innerhalb dieses Erfahrungsstiles überhaupt eine Bedeutung zukommt, so liegt sie nicht darin, dass die äußeren Gegenstände der Erfahrung ,schön' sein müssten, sondern in dem unverhofft gelingenden, zwar flüchtigen, aber bewussten Erfassen der erfolgreichen und zugleich fragilen Balance - des unwahrscheinlichen, aber glücklich möglichen - Gleichgewichtes zwischen gewusster Bedürftigkeit und Endlichkeit des Erfahrenden einerseits und der Außeralltäglichkeit sowohl des Erfahrenen als auch der Erfahrung andererseits. An solcher Außeralltäglichkeit werden wiedernm Nähe von - aber auch Differenz zwischen - ästhetischer und religiöser Erfahrung erkennbar. Beide entspringen der Einsicht in die prinzipielle Endlichkeit und Bedrohtheit der menschlichen Existenz, und beide setzen auf eine außeralltägliche Lösung. Aber während die religiöse Erfahrung darauf abzielt, sich aus dieser Lage durch den "Sprung in den Glauben" zu befreien und sich selbst noch an dem Gedanken erbauen kann, "daß wir gegen Gott immer unrecht haben"18, verweigert die ästhetische Erfahrung den Sprung auf ein ,Definitivum', aufein festes Ufer jenseits der menschlichen Existenz. Will man bei dem Bild, der Metapher, des Sprunges bleiben, so ließe sich sagen: Zwar ist auch in der ästhetischen Erfahrung der Sprung angelegt, aber der Springende weiß, dass ihm seine Landung keine Sicherheit bringen, sondern ihm seinen "utopischen Standort", seine "exzentrische Positionalität"19 in Erinnerung rufen wird. Nicht in dem Endpunkt des Sprunges, in der Landung, sondern im Springen selbst, in dem Schwebezustand der Ablösung von der ,existenziellen Schwere' liegt das ästhetische Moment dieser spezifischen Erfahrung. In ihr kommt es nicht nur, wie Nietzsche meint, auf das "Kunststück" an, ",In Ketten' [zu] tanzen, es sich schwer [zu] machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit
18 19
Vgl. Kierkegaard, Sären (1843 (1988», Entweder- Oder. Teil I und 11, hrsg. von Hermann Diem und Walter Rest, München, insbesondere S. 923 f.. Ebenda, S. 341 fI..
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darüber zu breiten"20, sondern darauf, in der Leichtigkeit zu genießen, dass sie den Ketten abgewonnen wurde.
3. Konjunktivischer Stil Aus dem bisher Gesagten wird deutlich, dass weder das Glück, das einer ästhetischen Erfahrung entspringt, noch jenes, das sich einer außeralitäglichen Erfahrung verdankt, gleichzusetzen sind mit ungetrübter Seligkeit, restloser Beglückung, wohligem Behagen oder anhaltendem seelisch-geistigem Sonnenschein. Das deutsche Wort "Glück", das, wie das Grimmsche Wörterbuch feststellt, in der deutschen Sprache erst spät (um 1160) auftritt und belegt ist, hat denn auch von Anfang an einen insgesamt ausgesprochen ambivalenten Bedeutungshorizont."21 Dieser spannt sich auf zwischen ,Schicksal', ,Geschick', ,Zufall' einerseits und ,Gelingen', ,Heil', ,Seligkeit', ,Wonne', ,Erfolg', ,Entzücken' andererseits. Eines allerdings haben (fast) alle Bedeutungsvarianten gemeinsam: Sie betonen die Unberechenbarkeit des Glückes. Man kann sein Glück machen, Glück haben, sein Glück versuchen oder auch seinem Glücke vertrauen. Eines jedoch kann man nicht (auch wenn es entsprechende Redewendungen gibt): Man kann das Glück weder erzwingen noch vorhersagen oder planen. Denn durchgehend zeigt der Wortgebrauch, dass Glück (in welcher Bedeutung auch immer) als das Geschenk einer von außen wirkenden (Schicksals-)Macht angesehen wird. Seine Unkalkulierbarkeit führt folglich dazu, dass man dem Glück seine Launenhaftigkeit vorwirft und es dementsprechend behandeln sollte wie eine kapriziöse, wankelmütige Dame, die ihre Gunst heute diesem und morgen jenem gewährt. Der Kavalier der launischen Diva, der Glücksritter, hat sich in dieser Ungewissheit eingerichtet und lebt mit ihr. Auch für das Glück der - oder in der - ästhetischen Erfahrung gilt, so hat sich gezeigt, die Unverhofftheit (bis hin zur Unwahrscheinlichkeit) seines Eintretens. Aber den Hintergrund dieser Ungewissheit bilden weder Zufall noch Schicksalsmächte, sondern sie ergibt sich aus der Besonderheit des Verhältnisses, das der Mensch zur Welt und zu sich selbst hat: aus seiner exzentrischen Positionalität und seinem utopischen Standort (s.o.). Die Strukturen dieses Selbst - und Weltverhältnisses sind ihm ebenso auferlegt wie seine Endlichkeit, Bedürftigkeit und Bedrohtheit. Nicht auferlegt ist ihm allerdings, was er aus dieser Ausgangslage
20 21
Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden. Zweiter Band, a.a.O., darin: Menschliches, Allzumenschliches. Der Wanderer und sein Schaffen 140, S. 932. Vgl. Grimm, Jacob und Wilhelm (1984), Deutsches Wörterbuch, Bd. 8, München, S. 226 ff..
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macht. Denn "unfestgestellter als irgendein Tier"22 ist und bleibt der Mensch nicht das, was er von vornherein ist, sondern er muss sich zu dem machen, was er sein wird oder sein könnte".23 Seine Experimente, sowohl bei der Suche nach Sicherheit als auch beim Austesten des aus dieser ,Nichtfestgestelltheit' sich ergebenen Freiraumes, haben insofern von vornherein etwas, Unwirkliches' an sich, als dem Menschen,Wirklichkeit' als solche nicht gegeben ist. Vielmehr ist sie im Handeln und Deuten immer wieder erst herzustellen und damit variierbar: also ebenfalls nicht ,festgestellt'. Versetzte man sich gegenüber solchem Verhalten hypothetisch in die Perspektive der Tiere, so käme man zwangsläufig zu der Befürchtung, dass der Mensch zwar auch ein Tier sei, allerdings ein besonders merkwürdiges "das in höchst gefährlicher Weise gegen den gesunden Tierverstand handelt, - als das wahnwitzigste Tier, als das lachende Tier, als das weinende Tier, als das unglückselige Tier".24 Angesichts des Zusammenspiels von Nichtfestgestelltheit, Unsicherheit und Endlichkeit besteht das dem Menschen auferlegte und insofern notwendige Ziel des dem Pragma verpflichteten, alltäglichen Handelns darin, so weit wie möglich Sicherheit, Ordnung, Überschaubarkeit und Planbarkeit herzustellen. Gelingt dies, wenn auch nur vorübergehend, so wird es in der alltäglichen Lebenswelt mit Recht - als Glück empfunden: als ein Glück, das dem Gefühl des Sieges über die Unsicherheit entspringt. Anlass sowohl des Kampfes als auch des Sieges gegen die Unsicherheit ist die Notwendigkeit, der "Nichtfestgestelltheit" Herr zu werden. Ästhetisches Handeln und ästhetische Erfahrung sehen sich mit der gleichen Ausgangslage konfrontiert wie alltäglich-pragmatisches Handeln. Aber in ihnen wird das Ungewisse und nicht Festgelegte nicht lediglich als Bedrohung, sondern auch als Spielraum gesehen. Unverfügbar ist zwar die Ausgangssituation selbst, nicht aber der Horizont, der sich daraus eröffnet. Denn durch ihn wird auch und gerade das Reich der Notwendigkeiten und der Selbstverständlichkeiten, wie es das alltägliche Handeln hervorbringen muss, in das Spiel und das Bemühen um das Glück der ästhetischen Erfahrung einbezogen: Ästhetisches Handeln und mit ihm die gelingende ästhetische Erfahrung werden so zu den - aus dem utopischen Standort des Menschen geborenen - Gegnern des Notwendigen. Anders ausgedrückt: Aus der uns vorgegebenen, exzentrischen Positionalität erwachsen sowohl die Zwänge, Notwendigkeiten und ,Selbstverständlichkeiten' des alltäglichen Handelns und der alltäglichen Lebenswelt als auch der Spiel- und Freiheitsraum äs22 23 24
Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden, Vierter Band, a.a.O., darin: Zur Genealogie der Moral III, 13, S. 862. Vgl. dazu die entsprechenden überlegungen bei Plessner und Gehlen. Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden, Dritter Band, a.a.O., darin: Die fröhliche Wissenschaft, 224, ,,Kritik der Tiere", S. 152.
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thetischen Handelns und ästhetischer Erfahrung. Entdeckung und Nutzung dieses Freiraumes prägen den spezifisch konjunktivischen 25 Stil ästhetischen Handelns und ästhetischer Erfahrung. Beide Erkenntnis-, Handlungs- und Wahmehmungsstile, der alltägliche wie der ästhetische, verdanken sich dem gleichen Problemhintergrund, aufden sie ihre unterschiedlichen Antworten geben. Beide sind als strukturell vorgegebene Ausd:rucksformen exzentrischer Positionalität gleichurspriinglich. Insofern ist es nicht einleuchtend, wenn der aus dem alltäglichen Handeln erwachsenden Alltagswirklichkeit - so sehr diese auch die meisten unserer Aktivitäten und auch den größten Anteil unserer Lebenszeit bestimmt - die Qualität der "ausgezeichneten Wirklichkeit", der ,paramount reality', gegenüber anderen Wirklichkeiten, vor allem gegenüber der des ästhetischen Handelns und Erfahrens, zugesprochen wird. 26 Unbestritten ist, dass wir uns ,der Wirklichkeit' - abhängig von unterschiedlichen Erkenntnis- und Wahmehmungsstilen, Akzentsetzungen und ,Bewusstseinsspannungen' , Zeitperspektiven und Formen der Sozialität - jeweils anders zuwenden. So können wir uns - wie William James - vorstellen, dass wir in unterschiedlichen ,Subuniversa'27 leben, von denen jedes nicht nur "eine Wirklichkeit eigener Art"28, sondern auch - wie Schütz betont - aufgrund unserer jeweils spezifischen Zugangsweisen zur Wirklichkeit - eine eigene "geschlossene Sinnprovinz"29 darstellt. Aber ebenso unbestreitbar ist, dass wir diese Sinnprovinzen, so geschlossen sie auch sein mögen, in ihrer jeweiligen Besonderheit nur deswegen erfahren können, weil wir auch die jeweils anderen kennen und erfahren haben. Denn "die Wirklichkeit des Alltags ist immer vom Halbschatten ganz anderer Wirklichkeiten umgeben"30. So ist es insbesondere zweifelhaft, ob der pragmatisch-kognitive Stil, der in der Welt unseres Alltagslebens vorherrscht, und jener konjunktivische Wahmehmungs- und Erkenntnisstil, der die ästhetische Erfahrung prägt, tatsächlich als so voneinander abgeschlossen charakterisiert werden können, dass man
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30
Vgl. hierzu auch Plessner, Helmuth (1983), Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt/Main, darin: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft, S. 338-352. Vgl. Schütz, Alfred (2003), Werkausgabe, hrsg. von R Grathoff, H.-G. Soeffner und I. Srubar, Band V.l, Theorie der Lebenswelt 1. Die pragmatische Schichtung der Lebenswelt, Konstanz, S. 206 ff.. Vgl. James, William (1890 (1927», The Principles ofPsychology, Authorized Edition in Two Volumes, New York, Bd. 11, Kap. XXI, S. 283-322. Schütz, Alfred (2003), Werksausgabe, Band V.l, a.a.O., S. 206. Ebenda, S. 206 ff. Als unterschiedliche "geschlossene Sinnprovinzen" bzw. "Welten" nennt Schütz "die Welt der Träume, der imaginierten Vorstellungen und der Phantasien, insbesondere die Welt der Kunst, die Welt der religiösen Erfahrung, die Welt der wissenschaftlichen Kontemplation, die Spielwelt des Kindes und die Welt des Geisteskrankeit", S. 208. Berger, Peter L. (1973), Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt! Main, S. 42.
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das Wechseln von einem zum anderen nur durch einen "Sprung" leisten kann, der seinerseits "subjektiv als Schock erfahren wird".3! Kierkegaard, von dem Schütz den Ausdruck "Sprung" übernimmt, charakterisiert diese Metapher als "qualitativen Sprung", als grundlegende Diskontinuitätserfahrung und als ,fortwährenden (Hervorhebung H-G.S.) Sprung im Dasein".32 Vor allem aber bezieht der dänische Philosoph und Glaubensanalytiker diese Metapher ausdrücklich und ausschließlich auf die religiöse Erfahrung und dort auf den Augenblick der Entscheidung für den Glauben. Die Übertragung der Metapher "Sprung" auf die Erfahrung der Grenzüberschreitung bei allen ,geschlossenen Sinnprovinzen' ist also äußerst problematisch. 33 Noch problematischer erscheint mir die semantische Überspitzung von ,Sprung' zu ,Schock'. Denn der pragmatisch-kognitive Stil alltäglichen Handelns und der konjunktivische Wahrnehmungs- und Erkenntnisstil ästhetischen Handelns und Erfahrens haben nicht nur einen gemeinsamen Ursprung, sondern sie sind auch wechselseitig aufeinander bezogen: Der eine kann ohne den anderen nicht leben. So wie der konjunktivische Stil der Ästhetik sich vom praktischen Indikativ des Alltags dadurch abhebt, dass er sich ihm bewusst entgegensetzt - ihn zitierend, überhöhend oder negierend, der Notwendigkeit die Freiheit, dem Faktischen die Option entgegenhaltend - so versteht es der kognitive Stil der Praxis, das ihm vom konjunktivischen Stil der ästhetischen Erfahrung eröffnete Reich der Optionen zur Lösung der ständig anstehenden neuen Problemlagen zu nutzen: In Boccaccios ,Decamerone' fliehen die Erzählerinnen und Erzähler vor der Pest in einen idyllisch gelegenen Palast. Das Leben und das Erzählen dort behält als unauslöschbaren Hintergrund die außerhalb der Mauem tobende Pest. Es ist gerade diese düstere Kulisse, vor der sich der idyllische Palast so hell abhebt und vor der die erzählten Novellen eine besondere Leichtigkeit und Heiterkeit ausstrahlen. 34 Gleich aber, ob die Gegensätzlichkeit der beiden Stile dazu führt, dass die Gegensätze einander anziehen oder abstoßen, ob das Individuum die beiden Sinnprovinzen als unvereinbar ansieht und an der Unvereinbarkeit leidet, oder ob es beide Bereiche so aufeinander bezieht, dass der eine vom anderen profitiert: Das Nebeneinander der beiden, ihre wechselseitige Anziehung und Abstoßung, der geregelte oder überraschende Übergang von dem einen zum anderen, kennzeichnet unser gesamtes Leben bis hinein in die Gestaltung unseres Tagesablaufes. "Die Wochentage", schreibt E.T.A. Hoffinann, "bin ich Jurist: und höchstens etwas Mu31 32 33 34
Ebenda, S. 209. Kierkegaard, SÖIen (1849 (1959», Furcht und Zittern, Frankfurt am Main/Hamburg, S. 135, Anmerkung 1. Kierkegaard, Sären (1844 (1960», Der BegriffAngst, a.a.O., S. 57. Boccaccio, Giovanni (1492 (1957», Der Decamerone, Zürich.
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siker, sonntags am Tage wird gezeichnet und abends bin ich ein sehr witziger Autor bis in die späte Nacht".35 Auch das Glück der - oder in der - ästhetischen Erfahrung lebt vom anhaltend erfahrenen Wechselspiel und Gegensatz der beiden Sinnprovinzen. Das ästhetischkonjunktivische Wahrnehmen, Handeln und Erfahren erlebt, gerade weil es sich als Gegner des Notwendigen - der wehrlosen Verfallenheit an den ,unvermeidlichen Bestimmungsgrund' (Kant, s.o..), endlich und bedürftig zu sein - versteht, im Glück der ästhetischen Erfahrung: Freiheit. Aber diese Freiheit wird nicht als verdientes Resultat einer Leistung, sondern als Geschenk empfunden. Sie ist eine Freiheit aus Gnade: eine Freiheit, die sich nicht von allein einstellt und die auch nicht selbstverständlich ein - noch so angestrengtes - Bemühen belohnt (s.o. I). Nicht nur für den Rezipienten, den ästhetischen Wahrnehmenden, sondern auch für den Künstler, den ästhetischen Handelnden, tritt oft "ein Ereignis an die Stelle der Tat"36: die überraschende Erfahrung einer außeralltäglichen Wahrnehmungsgestalt oder einer weder kalkulierten noch kalkulierbaren Gestaltschließung. 37 So wird die Erfahrung der Unberechenbarkeit des ästhetischen Gelingens und der daran anschließenden Glückserfahrung, in der auch die Welt sich in ein Kunstwerk verwandelt, zwangsläufig selbst wiederum zum Gegenstand der Kunst, beispielhaft in den ebenso schönen wie einfachen Schlusszeilen eines EichendorffGedichtes: "Und die Welt hebt an zu singen,!rrriffst Du nur das Zauberwort".38 Bezeichnenderweise gibt Eichendorff seinem bekannten Gedicht die weniger bekannte Überschrift"Wünschelrute". Denn das, was - wenn es gelingt - als vollendet und in sich geschlossen erscheint, ergibt sich, wie gesagt, nicht automatisch aus "Mühe und Arbeit"39 oder effektiver Planung im Horizont des kognitiven Stils der Praxis. Für letzteren gilt, wenn er erfolgreich ist: "Jedes Ding wird mit mehr
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Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus (E.T.A.) (I 767), E.T.A. Hoffmanns Briefwechsel. Ges. und erl. von Hans V. Müller, hrsg. von Friedrich Schnapp, Band 1. Königsberg bis Leipzig 17941814. München, S. 78. Was den TagesablaufbeiAlfred Schütz angeht, so finden sich dort einige überraschende Parallelen zu Hoffmann, und es ist nur schwer vorstellbar, dass Schütz seinen Tagesablauf als eine Folge von sich ständig wiederholenden Schockerfahrungen erlebt hat. Adalbert von Charnisso (1811 (1960», Peter Schlemihls wundersame Geschichte, Stuttgart, S. 56. Vgl. hierzu auch die Problematik des "abduktiven Schließens" bei Peirce, Charles S. (1983), Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. und übersetzt von H. Pape, Frankfurt am Main 1983; dazu auch: Soeffner, Hans-Georg (2000), Gesellschaft ohne Baldachin, Weilerswist, darin: Zur Soziologie des Symbols und des Rituals, insbesondere S. 189 ff.; ebenso: Reichertz, Jo (2003), Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, Opladen. Eichendorff, Joseph Freiherr von (1965), Werke in vier Bänden, Band 1. Gedichte, Köln, S. 149. So die Definition, die das Alte Testament dem alltäglichen menschlichen Leben gibt, vgl. Psalm 90 in der Lutherschen übersetzung.
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Trieb erjaget, als genossen".40 Ganz anders verhält es sich mit dem konjunktivischen Stil der Ästhetik. In ihm wird unsere Wahrnehmung zur ästhetischen Erfahrung ,verzaubert'. Die Glückserfahrung verdankt sich diesem Zauber. Es ist der Zauber einer spezifischen Zeitempjindung, die Nietzsche dadurch zu erfassen versucht, dass er behauptet, Glück werde für uns zum Glück durch "das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfinden''''l. Für das Glück in einem allgemeinen Sinn (s.o.) mag dies zutreffen. Das Glück der - oder in der - ästhetischen Erfahrung wird durch diese Charakterisierung jedoch nicht hinreichend erfasst.
4. Der Augenblick Dass die ästhetische Erfahrung von sich aus kein Glücksversprechen enthält und auch nicht in der Glückserfahrung aufgeht, wurde schon deutlich. Im Gegenteil: Die ästhetische Erfahrung entspringt nicht nur dem Wissen um die menschliche Bedürftigkeit, Endlichkeit und Bedrohtheit, sie bildet nicht nur deren Gegenpol, sondern sie stößt sich ebenso an der Mangelhaftigkeit und Dürftigkeit wie an der Banalität, Fadheit und Gewöhnlichkeit dessen, was sowohl einen Großteil unseres Lebens ausmacht als auch in fehlschlagenden ästhetischen Bemühungen und Produktionen aufdringlich sichtbar wird: Der sich trotz aller ästhetischer Anstrengungen immer wieder einstellende Misserfolg, die Kläglichkeit und Trivialität eines Endproduktes verweisen so unverschämt auf die Kluft zwischen intendierter Perfektion und realisierter Durchschnittlichkeit, dass - pathetisch gesprochen - das Leiden in der ästhetischen Erfahrung eher angelegt ist als das Glück. Wenn es allerdings zu der - eher unwahrscheinlichen - Erfahrung ,ästhetischen Glückes' kommt, dann in einem eigentümlichen Zeitmodus: In einer Aufhebung der ,Standardzeit'42, haben wir das paradoxe Erlebnis von Dauer jenseits des Zeitflusses. Der "gemischte Charakter unserer unmittelbaren Wahrnehmung", in der wir sowohl "einen Zustand unseres Bewusstseins" als auch "eine [00'] uns [(als unabhängig erscheinende), Einfügung der Klammer H-G.S.] Wirklichkeit zugleich erfassen''''3, verliert seine Gebrochenheit. Er scheint aufgehoben zu sein in einer Einheit von Erfahrendem und Erfahrenem: in einem Evidenzerlebnis, bei dem erfahrendes Subjekt und erfahrener Gegenstand zu einer Einheit zusammengezogen 40 41 42 43
Shakespeare, William (1867), Dramatische Werke, übers. v. A.w. Schlegel und Ludwig Tieck, neue Ausgabe in neun Bänden, Berlin, Fünfter Band, darin: Der Kaufmann von Venedig, S. 40. Nietzsche, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden, a.aO., Erster Band, darin: Vom Nutzen und Nachteil der Historie, S. 212. Vgl. Schütz, Alfred (2003), Werkausgabe, Band V.I. Theorie der Lebenswelt 1, a.aO., S. 207. Bergson, Henri (1982), Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. übersetzt von Julius Frankenberger, Frankfurt am Main/Ber1in/Wien, S. 202.
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zu werden scheinen: Trifft man das Zauberwort, so hebt nicht nur die Welt an zu singen, sondern man wird auch selbst zum Mitglied des Chores, Teil des Gesanges. Das griechische Wort Kair6s, das in sich die Bedeutungen "rechtes Maß", ,,rechter Ort", ,,rechte, günstige Zeit", "Vorteil, Nutzen", "Zeitumstände" vereint44 und diesen Bedeutungshorizont in die unterschiedlichen Verwendungskontexte mit einfließen lässt, trifft den Zeit-lRaummodus der Erfahrung ästhetischen Glückes noch am ehesten, ohne ihn allerdings analytisch hinreichend zu erfassen. Immerhin verdeutlicht die Bedeutungsvielfalt des Ausdruckes, dass - aller Ganzheitserfahrung zum Trotz - die von ihm suggerierte Einheit sich aus unterschiedlichen räumlich-zeitlichen Elementen zusammensetzt. Zugleich war schon für die griechische Antike der Kair6s Repräsentant eines subjektiven Zeitbegriffes, der im Gegensatz stand zu Chronos, der gleichmäßig fließenden Zeit. Das für den K.air6s charakteristische Zusammenziehen und Konzentrieren unterschiedlicher Komponenten in einem Zeitfenster hat den Ausdruck zwangsläufig auch für die Philosophen attraktiv gemacht, zumal dann, wenn es um die Analyse von Entscheidungssituationen ging: um Situationen, in denen für ein handelndes Subjekt zwei oder mehrere Alternativen nebeneinander stehen, die auch bewusst nebeneinander gehalten werden, während zugleich der Zwang besteht, unmittelbar handeln, d.h. sich für eine der Alternativen entscheiden zu müssen. Die gelingende Entscheidung verdanke sich, so glaubten schon die Griechen, dem Erkennen und rechtzeitigen Ergreifen des günstigen Augenblickes, wobei die treffsichere Entscheidung nicht allein auf die Intelligenz des Handelnden zurückgeführt, sondern auch als ,Glücksgriff' angesehen würde. Die Existenzphilosophie, insbesondere die Martin Heideggers, dramatisiert den ,existenziellen Augenblick' demgegenüber als eigentliche, den Sinn des gesamten menschlichen Daseins erfassende und sichtbar machende Entscheidungssituation, durch die ihrerseits eine "ursprüngliche Zeitigungsweise" aufgedeckt wird: die der "ekstatischen Zeitlichkeit selbst". Dabei ermöglicht erst diese ekstatische Zeitlichkeit "den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt".45 Dementsprechend stellt Heidegger eine ,ursprüngliche Zeitigungsweise' gegen spätere Zeitkonstruktionen. Die ,ekstatische', aus dem Zeitkontinuum heraustretende, im Augenblick komprimierte "ursprüngliche Zeit'<46 ,ereignet' sich allerdings auch bei ihm nur in der Ausnahmesituation der, Unverstelltheit' des Seins. Es ist eine Grenzsituation, auf die Einfluss zu nehmen, kaum möglich ist.
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Gemoll, Willielm (1959), Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, München/Wien, S. 400. Heidegger, Martin (9. Aufl. 1960), Sein und Zeit. 9. Auflage, Tübingen, S. 437. Ebenda
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Anders als in Heideggers Versuch einer Existenzialontologie zielt Kierkegaard, von dem Heidegger an anderer Stelle grundlegende Gedanken übernimmt?, darauf ab, den Augenblick als das zwar ,Plötzliche', aber dennoch eben nicht Unvermittelte oder Unvennittelbare zu begreifen: als ein für die menschliche Erfahrung ebenso einzigartiges wie zentrales Phänomen. Dabei geht es Kierkegaard darum, in Abhebung von der griechischen Antike, die Besonderheit des christlichen Glaubens darzustellen: den durch die Vernunft nicht zu begründenden und dennoch notwendigen ,Sprung' in den Glauben. Diesem Sprung geht eine Entscheidungssituation voraus, in der ganz verschiedenartige Zeitdimensionen im ,Augenblick' aufeinandertreffen. Aber das Zusammenziehen dieser Zeitdimensionen im Augenblick hebt deren Unterschiedlichkeit nicht auf. Vielmehr ergeben sich die Besonderheit und die Kraft der Augenblickserfahrung gerade aus dem Austragen und Aushalten der Gegensätze: "Der Augenblick ist jenes Zweideutige, worin Zeit und Ewigkeit einander berühren, und hiermit ist der Begriff der Zeitlichkeit gesetzt, wo die Zeit ständig die Ewigkeit abschneidet und die Ewigkeit ständig die Zeit durchdringt".48 Gleichzeitig versteht Kierkegaard den Augenblick nicht einfach als "das Atom der Zeit, sondern als das Atom der Ewigkeit. Es ist der erste Reflex [Spiegelung] der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, die Zeit gleichsam anzuhalten".49 Was für Platon noch "das Plötzliche", der schicksalhafte Moment, war~;o, verliert in der Entscheidungssituation des Augenblicks - und auch im Sprung - den Charakter des Plötzlichen, Blitzartigen und sofort wieder Verschwindenden. Die paradoxe Formulierung "Atom der Ewigkeit" und die Räumlichkeit der Metapher eines (nicht ausmessbaren) Sprunges stehen denn auch nicht für extreme Zeitraffung, sondern für die Charakterisierung des Überganges, der Transzendenz, von einem Zustand in einen anderen. In der Analyse des Augenblicks, so lässt sich, wiederum mit Kierkegaard, formulieren, stößt das Denken auf etwas, was es überrascht und zugleich glücklich macht: auf "das höchste Paradox des Denkens, etwas zu entdecken, was es selbst nicht denken kann". SI Denn diese spezifische Entdeckung verdankt sich gerade nicht dem (menschlichen) Denken selbst und geht nicht notwendig aus ihm hervor. Was Kierkegaard in seinen Schriften zum christlichen Glauben über den Zeithorizont des Augenblicks der Entscheidung für den Glauben sagt, lässt sich nicht 47 48 49 50 51
Ebenda, S. 235 ff. Kierkegaard, Sören (1844 (1960», Der BegriffAngst, a.a.O., S. 82. Ebenda. Ebenda, S. 8I. Kierkegaard, Sören (1844 (1964», Philosophische Brocken oder Ein Bisschen Philosophie. Hamburg, S. 36.
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umstandslos auf andere Erfahrungsbereiche übertragen, auch wenn die strukturelle Nähe von ästhetischer und religiöser Erfahrung immer wieder erkennbar ist (s.o. III). Für die Analyse des Zeitmodus ästhetischer Glückserfahrung lassen sich dennoch einige Strukturelemente aus der Kierkegaardschen Beschreibung des Augenblickes übertragen. Auch das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung besteht weder im Erleben einer in sich geschlossenen, vollendeten Gegenwart noch in einem Gefühls- oder Gedankenblitz. Und auch die ästhetische Glückserfahrung hält die unterschiedlichen Zeitdimensionen ebenso nebeneinander wie die gewählten und ausgeschlossenen Alternativen; die ursprüngliche Intention und das tatsächliche Gelingen; den alltäglichen Zwang des Notwendigen und das Erlebnis der Freiheit im ästhetischen Entwurf. Der konjunktivische Wahrnehmungs-, Erfahrungs- und Handlungsstil der Ästhetik spannt sich, wie bei Faust vom "Vorgefühl" hohen Glückes bis zum Genuss "des höchsten Augenblicks" (s.o. 11). Beide, das Vorgefühl und die im ,Jetzt' stattfindende Wunscherfiillung, werden in einem Genuss zusammengezogen. Dieser Situation geht eine konjunktivische Formel voraus: ,,zum Augenblicke dürft' ich sagen:Nerweile doch, du bist so schön!".52 Sie steht für die noch nicht aufgelöste Spannung zwischen dem intentionalen Entwurf und dem erreichten Ziel. Gelöst ist diese Spannung erst dann, wenn Intention und Ziel in ein gelungenes Verhältnis treten. Zugleich müssen die Gegenwart und die ihr folgende Erinnerung zukunftsfähig sein. Die Erfahrung des ästhetischen Glückes darf sich also nicht unwiederbringlich auflösen, sondern muss für den erinnernden Rückgriff wachgehalten werden und in der Rückwendung wieder erreichbar sein. So gehört es also notwendig zum Zeitmodus des Glückes (in) der ästhetischen Erfahrung, dass eine als vergessen geglaubte Vergangenheit wieder entdeckt und festgehalten werden kann, wie zufällig der Anlass auch immer sei - zum Beispiel der Genuss einer Tasse Tee und eines Sandtörtchens mit dem Namen ,Madeleine' : "In der Sekunde nun, als dieser mit dem Kuchengeschmack gemischte Schluck Tee meinen Gaumen berührte, zuckte ich zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in mir vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand und dessen Grund mir unbekannt blieb, hatte mich durchströmt".53 Dieses Glücksgefühl, das zunächst ,ganz für sich allein' besteht und ,dessen Grund' - ebenfalls zunächst - unbekannt ist, wird bei Proust im Anschluss an die zitierte Textpassage phänomenologisch sorgfältig entschlüsselt. Der blitzartigen Erleuchtung (Illumination) folgt eine Beschreibung der komplexen Bewusst52 53
Goethe, Johann Wo1fgang von «1808) 1999), Faust. Der Tragödie erster und zweiter Teil. Urfaust,
a.a.O. S. 57.
Proust, Marce1 (2000), Auf der Suche nach der verlorenen. Zeit, Band 1, Frankfurt am Main, S. 63.
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seinsinhalte, Zeitperspektiven, Körperreaktionen und Wahmehmungsakte, aufdie sich das Glücksgefühl stützt. Der eigentliche ästhetische Gewinn besteht jedoch nicht in der Wiederholung des ursprünglichen Glücksgefühls, sondern darin, dass diesem Gefühl durch Worte Ausdruck verschaffi:, dass es in eine (gelungene) ästhetische Form überführt, aus der Diffusität befreit und damit neu geschaffen wird. Das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung und die Eigenart des konjunktivischen Stils der Ästhetik liegen, so zeigt sich nun am (vorläufigen) Ende dieser Überlegungen, in der äußerst konzentrierten Zusammenziehung von Gegensätzen. Diese Gegensätze lassen sich auf fast allen Ebenen finden: in der anthropologischen Grundbefindlichkeit (,exzentrische Positionalität'), in widersprüchlichen Strukturen des Zeit- und Raumerlebens, in Wirklichkeitsdefinitionen und utopischen Entwürfen, Notwendigkeiten und Möglichkeiten (Freiheit), indikativischer Alltagspraxis und konjunktivischem Horizont, vorgestellter, intendierter und (nicht) realisierter Erfüllung. Das Geheimnis des spezifisch ästhetischen Glückes besteht somit darin, dass die Gegensätze nicht zum Verschwinden, sondern (vorübergehend) in eine Balance gebracht werden. Das Ergebnis ist die unwahrscheinliche, ebenso paradoxe wie vollendete Komposition von Disharmonien zu einem großen harmonischen Akkord, der so kräftig ist, dass er eine wunderbar einprägsame Enklave in unserem Erleben und in unserem Bewusstsein schaffi:, die für ihre eigene Erinnerung sorgt. Obwohl dieser Akkord überladen ist mit Problemen, Antinomien und übermäßigen Erwartungen, klingt er schwebend leicht. So erfüllt er das, was wir letztlich von der Ästhetik erwarten; Sie gibt uns einerseits eine gut bebilderte Ahnung dessen, was eine gelungene Wunscherfüllung sein könnte, etwa jene, die Nietzsche als ,ersten Satz seiner Ästhetik' formuliert: "Das Gute ist leicht, alles Göttliche läuft auf zarten Füßen". 54 Andererseits zeigt sie uns im Widerschein: Bedürftigkeit, Endlichkeit, Durchschnittlichkeit. Gäbe es das Glück (in) der ästhetischen Erfahrung nicht, so würden einerseits - zumindest die Nicht-Religiösen unter uns - an der eigenen Unvollkommenheit weniger leiden: Sie würden den Mangel kaum spüren. Andererseits wäre ein menschliches Leben kaum vorstellbar, in dem nicht einmal eine Ahnung vorhanden wäre von Freiheit und ästhetischer Vollkommenheit, von der Entlastung vom 'Praktischen' und Zweckmäßigen im gelungenen Spiel und von der Befreiung aus der Gefangenschaft von Sinnzuschreibungen oder Sinnkonstruktionen. So aber gilt - auch für die Erfahrung ästhetischen Glückes - zu guter Letzt, dass darin auch die
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Nietzsehe, Friedrich (1980), Werke in sechs Bänden. Vierter Band, a.a.O., darin: Der Fall Wagner I, S. 905.
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Befreiung von der ,Schwere des Sinns' erlebt werden kann. Denn auch dies triffi: zu: "Fast überall, wo es Glück gibt, gibt es Freude am Unsinn." Quelle: A. Bellebaum/H. Braun (Hrsg.): Quellen des Glücks - Glück als Lebenskunst. ERGON Verlag: Würzburg 2004
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Messner, Helmuth (1928 (1975»: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin/New York, das zweite anthropologische Gesetz: ,,Das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit. Immanenz und Expressivität". Peirce, Charles S. (1983): Phänomen und Logik der Zeichen, hrsg. und übersetzt von H. Pape, Frankfurt am Main. Plessner, Helmuth (1983): Gesammelte Schriften VIII, Frankfurt am Main, darin: Der kategorische Konjunktiv. Ein Versuch über die Leidenschaft. Proust, Marcel (2000): Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 1, Frankfurt am Main. Reichertz, Jo (2003): Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung, Opladen. Schopenhauer, Arthur (1923): Sämtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstedt, Zweite Auflage, neue Ausgabe 2, Die Welt als Wille und Vorstellung, erster Band, Leipzig. Schütz, Alfted (2003): Werkausgabe, hrsg. von Richard Grathoff, Hans-Georg Soeffner und Ilja Srubar, Band Y.l, Theorie der Lebenswelt I. Die pragmatische Schichtung der Lebenswe1t, Konstanz. Schütz, Alfted; Luckmann, Thomas (1 97911 984): Strukturen der Lebenswelt, Band 1 und 2, Frankfurt am Main. Shakespeare, William (1867): Dramatische Werke, übers. Y. A.W. Schlegel und Ludwig Tieck, neue Ausgabe in neun Bänden, Berlin, Fünfter Band, darin: Der Kaufmann von Venedig. Soeffner, Hans-Georg (1974): Der geplante Mythos. Untersuchungen zur Struktur und Wirkungsbedingung der Utopie, Hamburg. Soeffer, Hans-Georg (1991): ",Trajectory' - Das geplante Fragment. Die Kritik der empirischen Vernunft bei Anselm Strauss", in: BIaS, Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History, Heft 1/91 - 4. Jahrgang, Leverkusen 1991: 1-12. übersetzung der englischen Version von 1990. Soeffner, Hans-Georg (2000): Gesellschaft ohne Baldachin, Weilerswist, darin: Zur Soziologie des Symbols und des Rituals.
Forschungsmethoden
Empirische Glücksforschung Ein schwieriges Unterfangen Hans Braun
1. "Glücksforschung" als gesellschaftliches Phänomen Wer sich als Sozialwissenscha:ftler mit Glücksforschung beschäftigt, wird über kurz oder lang zu dem Schluss kommen, dass es sich bei dieser vergleichsweise jungen Forschungsrichtung um ein Phänomen handelt, das selbst wieder das Interesse der Sozialwissenschaften verdient. Während in den Geisteswissenschaften die Befassung mit dem Thema "Glück" eine lange Tradition hat, ist das Unterfangen relativ neu, "Glück" und seine Korrelate auch der empirischen Analyse in Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft, Ökonomie und anderen Fächern zugänglich zu machen. Was etwa die Ökonomie anbelangt, so sagt Karl Georg Zinn: ,,Die Worte ,Glück' und ,glücklich' gehören nicht zum wirtschaftswissenschaftlichen Fachvokabular. Die Ökonomen sprechen von Wohlstand, Wohlfahrt und Zufriedenheit, meinen damit aber eine Art Glück. "1 Die Frage liegt nahe, welche gesellschaftlichen Entwicklungen dazu beigetragen haben, dass Glücksforschung zu einer eigenen Forschungsrichtung werden konnte, für deren Ergebnisse es offensichtlich einen "Markt" gibt. Bei aller Vorsicht, die gegenüber einfachen Erklärungen geboten ist, kann zumindest so viel gesagt werden, dass in der Herausbildung der Glücksforschung eine zunehmende Tendenz zur öffentlichen, das heißt über den Kreis von Philosophen und Literaten hinausgehenden, Thematisierung von "Glück" zum Ausdruck kommt. Ist in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 noch vom Recht, nach Glück zu streben ("pursuit of happiness"), die Rede, so proklamiert die der französischen Revolutionsverfassung von 1793 vorangestellte Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, das Ziel der Gesellschaft sei das gemeinsame Glück ("le bonheur commun").2 Die öffentliche Thematisierung von "Glück" ist
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Karl Georg Zinn: Bedürfnisse als Basis des Wlrtschaftens - Entwicklungen im sozialökonomischen Denken und Bedeutung fiir eine neue ökonomische Wissenschaft. In: Alfred Bellebaum, Herbert Schaaff, Karl Georg Zinn (Hrsg.): Ökonomie und Glück. Beiträge zu einer Wirtschaftslehre des guten Lebens. Opladen 1999, S. 146. FaustinAdolphe HeHe: Les constitutions de 1a France. Paris 1879, S. 376.
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im Zusammenhang zu sehen mit der tendenziellen Verlagerung von Heilserwartungen, die, wie sich an den Paradiesvorstellungen zeigt,3 in gewisser Weise immer auch Glückserwartungen sind, aus einer transzendenten Zukunft in das Hier und Jetzt. Wenn Glück aber in einer im historischen Rückblick zwar erheblich ausgeweiteten,4letztendlich aber immer beschränkten Lebenszeit zu verwirklichen ist, dann muss Sorge dafür getragen werden, dass glücksbegünstigende Zustände geschaffen, zumindest aber glücksverhindernde Zustände beseitigt werden. Da dies die Möglichkeiten des Einzelnen übersteigt, liegt es nahe, Glück zu einer öffentlichen Aufgabe zu machen. Damit ist die Politik gefordert. Hierzu schreibt Helmut Klages: "Der Glaube an die politische HersteIlbarkeit von Glück gehört an zentraler Stelle zum Selbstverständnis der ,Modeme' schlechthin, legitimiert unter den Bedingungen des ,modemen' (oder auch ,modernistischen') Denkens geradezu die Politik."5 Dies gilt in ganz besondere Weise für die Politik des Wohlfahrtsstaates. 6 Es liegt in der Logik dieser Entwicklung, nach einer Institution zu suchen, welche die Art und das Ausmaß von Glück sowie dessen Veränderungen im Zeitablauf überwacht. In der Sprache der heutigen Zeit geht es also um so etwas wie ein GlÜcks-Monitoring. In demokratisch verfassten Staaten bietet sich hier eine Institution an, der eine gewisse Unabhängigkeit von unmittelbaren politischen und wirtschaftlichen Interessen zugeschrieben wird und die auch eine solche Unabhängigkeit für sich beansprucht, nämlich die Wissenschaft. Geeignet erscheinen insbesondere die Sozialwissenschaften. Dabei stellt "Glücks-Monitoring" wissenschaftsgeschichtlich in gewisser Weise schon eine Anspruchsreduktion der Sozialwissenschaften dar, verstanden sich diese in ihren Anfängen, zumindest in Teilbereichen, ja auch als ein Unterfangen zur Schaffung von "Glück" begünstigenden Verhältnissen. Und auch die "kritischen" Sozialwissenschaften marxistischer, marxistisch inspirierter und nicht-marxistischer Prägung folgten dem Anspruch, dass sie, indem sie die Menschen aus angeblichen ökonomisch, politisch und religiös bedingten Verblendungszusammenhängen herauslösen, ihnen zu einem von der Fi3 4 5 6
Siehe hierzu Alois Hahn: Soziologie der Paradiesvorstellungen. Trier 1976 und ders: Unrecht im Diesseits - Unglück im Jenseits. In: Alfred Bellebaum (Hrsg.): Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion. Op1aden 1992, S. 141-163. Siehe hierzu Arthur E. Imhof: Die Lebenszeit. Vom aufgeschobenen Tod und von der Kunst des Lebens. München 1988, S. 54-68 und Hans Braun: Alter als gesellschaftliche Herausforderung. Regensburg 1992, S. 12-19. Helmut Klages: Glückerzeugung durch Politik - ein immer vergebliches Unterfangen? Thesen auf der Grundlage der empirischen Politikforschung. In: Alfred Bellebaum (Hrsg.): Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion. Opladen 1992, S. 104. Siehe hierzu Manfred Prisching: Glücksverpflichtungen des Staates. In: Alfred Bellebaum, Hans Braun, Elke Groß (Hrsg.): Staat und Glück. Politische Dimensionen der Wohlfahrt. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 30-33.
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xierung auf ein kleinbürgerliches Glück freien und damit für "wirkliches" Glück offenen Existenz verhelfen. Heute sind die Ansprüche der Sozialwissenschaften bescheidener. So stellt etwa Richard Eckersley unter Verweis auf die Forschungslage fest, dass es keine einfache Antwort auf die Frage gebe, was Glück verursache: "Instead, there is a complex interplay between genes and environment, between life events and circumstances, culture, personality, goals and various adaptation and coping strategies".7 Das heißt indessen nicht, dass die Sozialwissenschaften nicht doch mit der Erwartung konfrontiert werden, an deren Zustandekommen sie vielleicht sogar unbewusst beteiligt sind, aus dem Aufweis von Faktoren, welche Glücksempfindungen beeinflussen, ließen sich Konsequenzen für die Lebenspraxis und damit für das individuelle und kollektive Glücksmanagement ableiten. Insofern ist Glücksforschung nicht nur Ausdruck einer Gesellschaft, in der Glück als individuelles und kollektives Ziel thematisiert wird, sondern stellt in gewisser Weise selbst einen Faktor im Prozess der Produktion von Glück dar. Nun wäre es naiv, würde man die Herausbildung der Glücksforschung ausschließlich als Reaktion auf die Bedürfnisse einer "glücksorientierten" Gesellschaft sehen. Wie bei der Herausbildung anderer Teildisziplinen und Spezialisierungen spielen auch wissenschaftsimmanente Bedingungen eine Rolle. Dazu gehört die Strategie, sich durch neue Themen, originelle Konzepte und vermeintlich oder sogar tatsächlich überraschende empirische Befunde zu profilieren. Sich auf diese Weise einen Bekanntheitsvorsprung zu verschaffen, ist beileibe nichts Anstößiges. Schließlich arbeitet auch das Wissenschaftssystem über weite Strecken hinweg unter Konkurrenzbedingungen. Es gibt nicht nur die Konkurrenz um die Angemessenheit von Konzepten, um die Tragfähigkeit von Theorien und um die Gültigkeit von empirischen Befunden, sondern auch die Konkurrenz um Positionen, um Forschungsmittel und ganz generell um Reputation. Unter diesen Umständen verschafft ein neues Themengebiet zumindest für eine gewisse Zeit das, was in der Sprache der Ökonomen "Alleinstellung" heißt: die Identifikation eines Produkts oder einer Produktionsweise mit einem ganz bestimmten Produzenten. Indessen kann im Alltag wie in der Wissenschaft vermeintliche Originalität auch schlicht und einfach darin begründet sein, dass entweder die Akteure oder deren Umwelt oder beide nicht realisieren, dass die Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema schon eine sehr lange Tradition hat. Der Grund hierfür liegt mitunter ganz einfach darin, dass die Auseinandersetzung über Jahrhunderte hin7
Richard Eckersley: The Mixed Blessings ofMaterial Progress: Diminishing Returns in the Pursuit ofHappiness. In: Journal ofHappiness Studies. An Interdisciplinary Forum on Subjective Well-Being, 3/2000, S. 273.
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weg in einer Begriffiichkeit erfolgte, die heutigen Menschen nur schwer zugänglich ist. In diese Gefahr könnte auch die Glücksforschung geraten, wenn beim empirischen Zugriff auf die Phänomene die lange Tradition der Behandlung des Themas in der Philosophie, in der politischen Wissenschaft, in der Geschichtswissenschaft, in der Literatur und in der bildenden Kunst aus dem Blick gerieten. Unter diesen Umständen kommt einer Institution wie dem 1990 von Alfred Bellebaum gegründeten Institut für Glücksforschung eine wichtige Rolle zu. Schließlich geht es um die Vergegenwärtigung der langen Tradition im Umgang mit und um den Aufweis der zeitlichen Tiefe und thematischen Breite von "Glück". Dadurch kann die empirische Forschung zum einen vor einer falschen Einschätzung der eigenen Originalität bewahrt und zum anderen bei der Formulierung und wissenschaftssystematischen Verortung ihrer Konzepte unterstützt werden.
2. Institutionelle Aspekte der empirischen Glücksforschung Mit Fragen der empirischen Erfassung der Determinanten, Ausprägungen und Auswirkungen von Glücksempfindungen beschäftigen sich Psychologen schon seit einigen Jahrzehnten. Insbesondere seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts lässt sich eine rasante Zunahme einschlägiger Studien und darauf aufbauender Publikationen feststellen. Außer in, vor allem psychologisch ausgerichteten, Untersuchungen an kleineren Populationen und in der Demoskopie8 ist "Glück" in der Konzeptualisierung als "subjektives Wohlbefinden" auch Gegenstand der soziologisch orientierten Umfrageforschung, bei der es um die subjektiven und objektiven Lebensbedingungen ganzer Bevölkerungen geht. 9 Diese Surveys sind mittlerweile zu einem festen Bestandteil der gesellschaftlichen Dauerbeobachtung geworden. 8
9
Siehe hierzu Elisabeth Noelle-Neumann: Stationen der Glücksforschung. Ein autobiographischer Beitrag. In: Alfred Bellebaum, Ludwig Muth (Hrsg.): Leseglück. Eine Vergessene Erfahrung? Opladen 1996, S. 15 f. und dies.: Ein Museum der Irrtümer. Die Ergebnisse der empirischen Glücksforschung finden keinen Eingang in die Gesellschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13. Januar 1999, Nr. 10, S. 5. Siehe Hans Braun: Des Narren subjektives WoWbefinden. Die Sozialwissenschaften entdecken das Glück. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 221. 24. September 1986, S. 34. Zu den Methoden und Befunden soziologisch orientierter Glücksforschung siehe Wolfgang Zapf: Individuelle WoWfahrt: Lebensbedingungen und wahrgenommene Lebensqualität. In: Wolfgang Glatzer, Wolfgang Zapf (Hrsg.): Lebensqualität in der Bundesrepublik. Objektive Lebensbedingungen und subjektives Wohlbefinden. Frankfurt 1984, S. 13-26: Wolfgang Glatzer: Lebensqualität und subjektives WoWbefinden. Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. In: Alfred Bellebaum (Hrsg.): Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion. Opladen 1992, S. 49-85; Thomas Bulmahn: Determinanten des subjektiven WoWbefindens. In: Wolfgang Zapf, Roland Habich (Hrsg.): Wohlfahrtsentwicklung im vereinten DeutscWand. Sozialstruktur, sozialer Wandel und Lebensqualität. Berlin 1996, S. 79-96.
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Ein Beispiel, das über die Jahre hinweg in den USA zu einer gesellschaftlichen und politischen Institution geworden ist, ist der 1972 ins Leben gerufene General Social Survey (GSS) des National Opinion Research Center (NORC) an der Universität Chicago. lO Bis zum Jahre 2000 wurden im Rahmen des General Social Survey 23 Erhebungen durchgeführt. Der eingesetzte Fragebogen enthält auch Fragen zum subjektiven Wohlbefinden. Eines der zentralen Ziele des General Social Survey ist es, Trends in der amerikanischen Gesellschaft aufzuzeigen. Der General Social Survey ist Teil des Forschungsverbundes International Social Survey Programme (ISSP). Die deutsche Arbeitsgruppe des ISSP ist verbunden mit dem Zentrum für Umfragen, Methoden und Analysen an der Universität Mannheim (ZUMA).11 Bei diesem Zentrum liegt auch die methodische Beratung bei dem seit 1978 durchgeführten Wohlfahrtssurvey, wobei die damit verbundene Feldarbeit von zwei kommerziellen Sozialforschungsinstituten getragen wird. Beim Wohlfahrtssurvey handelt es sich um "eine Repräsentativbefragung, die speziell für die Erhebung von Daten zur individuellen Wohlfahrt und Lebensqualität konzipiert wurde". 12 Im Rahmen des Survey "werden für verschiedene Lebensbereiche Fragen sowohl zu objektiven Lebensbedingungen als auch zu deren subjektiver Wahrnehmung und Bewertung gestellt".13 Die Ergebnisse des Wohlfahrtssurvey gehen in das ebenfalls von ZUMA verwaltete System sozialer Indikatoren ein. Das System sozialer Indikatoren enthält fast 400 Indikatoren und mehr als 3.000 Zeitreihen, die 14 Bereichen zugeordnet sind. Im Bereich "XIV: Globale Wohlfahrtsmaße" sind Zeitreihen zum subjektiven Wohlbefinden aufgeführt, wobei es sowohl für "Glück" als auch für "Lebenszufriedenheit" eigene Zeitreihen gibt. 14 Die in vielen Ländern im Rahmen der Hochschulforschung und im Rahmen der Aktivitäten anderer Forschungseinrichtungen unternommenen Anstrengungen, subjektives Wohlbefinden zu messen und im Zeitablauf darzustellen, führten zu einer Fülle von Daten und Publikationen. Forschungsinstrumente, Daten und einschlägige Veröffentlichungen gehen mittlerweile ein in die von Ruut Veenhoven, einem Wegbereiter der empirischen Glücksforschung in Europa, an der Europa-
10 11 12 13 14
National Opinion Research Center: General Socia! Survey. www.norc.uchicago.edu/projects/ gensoc.asp. Zugriff am 07.03.2002. Generell zur sozia!wissenschaftlichen Forschungsinfrastruktur in Deutschland siehe Rüdiger Jacob, Willy H. Einnbter: Allgemeine Bevölkerungsurnfragen. Einfiihrung in die Methoden der Umfrageforschung mit Hilfen zur Erstellung von Fragebögen. München, Wien 2000, S. 305-323. Ebd., S. 318. Ebd., S. 318. Gesellschaft Sozia!wissenschaftlicher Struktureinrlchtungen: System sozialer Indikatoren. www. gesis.org/Dauerbeobachtung/SozialindikatorenIDaten/System_Sozialer_Indikatoren/index.htm. Zugriff am 07.03.2002.
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Universität Rorterdam aufgebaute "World Database ofHappiness".15 Im Zentrum dieser Datenbank steht die Erfassung entsprechender Studien, wodurch eine Basis für Metaanalysen geschaffen wird. Gleichsam als ein "Nebenprodukt" dieses Erfassungsvorgangs entstand eine Bibliographie mit bis zum Anfang des Jahres 2001 über 3.400 Titeln. Bei der Erfassung kam es nicht daraufan, ob explizit von "happiness", "Glück" oder deren Äquivalente in einer anderen Sprache die Rede ist. Das Erfassungskriterium ist inhaltlicher Art. Aufgenommen wurden Studien, in denen es um die subjektive Bewertung des Lebens als Ganzes ("life-as-a-whole") geht. Nicht aufgenommen wurden Studien, die sich auf die Zufriedenheit mit bestimmten Lebensbereichen (Familie, Arbeit, Freizeit) beziehen. In der Bibliographie wurden als Synonyme von Glück Lebenszufriedenheit (life satisfaction) und psychisches Wohlbefinden (psychological well-being) geführt. Definiert wird Glück bzw. happiness als "the degree to which an individualjudges the overall quality ofherlhis life as-a-whole favorably".16 Als relativ gut erfasst gelten Veröffentlichungen aus dem englischen, deutschen und niederländischen Sprachraum. Es zeigt sich, dass, während für den Zeitraum 1951-1960 noch 58 Studien nachgewiesen sind, es für den Zeitraum 1961-1970 schon 200 sind. Für den Zeitraum 1971-1980 sind es dann 811 und für den Zeitraum 1981-1990 schließlich 1.336. Die meisten der erfassten Studien, nämlich 93 Prozent, werden dem Bereich der Sozialwissenschaften, dabei vor allem der Psychologie, zugerechnet, rund vier Prozent den "medical sciences" und der Rest der Philosophie. Neben der Bibliographie enthält die Datenbank über 500 Fragesätze und einzelne Fragen, die in den empirischen Studien zum Einsatz gelangten. Weitere Komponenten der Datenbank sind ein Katalog von rund 1.900 Studien aus über 100 Ländern zur Verbreitung von glücksrelevanten Merkmalen, ein Katalog von Korrelaten von Glück und ein Verzeichnis von auf dem Gebiet der Glücksforschung tätigen Wissenschaftlern.
3. Glücksvorstellungen als Forschungsgegenstand Wenn Alfred Bellebaum auf die ihm in zahlreichen Interviews immer wieder gestellte Frage, was eigentlich Glück sei, antwortet: "Glück ist das, was Menschen sich darunter vorstellen", dann mag der eine oder andere darin einen Hinweis auf die Unmöglichkeit sinnvoller empirischer Glücksforschung sehen. Die Antwort 15 16
Ruut Veenhoven: World Database ofHappiness. www.eur.nlIfsw/research/happiness. Zugriff am 08.10.2001 Siehe hierzu auch Ruut Veenhoven: Conditions of Happiness. Dordrecht, Boston, Lancaster 1984, S. 22-24.
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kann aber auch als die implizite Fonnulierung eines anspruchsvollen Forschungsprogramms verstanden werden, in dessen Zentrum die Ennittlung und vergleichende Analyse jener Vorstellungen steht, die Menschen im Hinblick auf einen Zustand haben, den sie üblicherweise mit der Bezeichnung "Glück" belegen. Nun kann es durchaus sein, dass Menschen Vorstellungen von in kognitiver oder in emotionaler oder in beiderlei Hinsicht positiv bewerteten Zuständen haben, auf diese aber nicht den Terminus "Glück" anwenden, sei es, weil sie mit dem Begriff nichts verbinden können, sei es, weil ihnen der Begriff abgenutzt erscheint. Indessen ist wohl davon auszugehen, dass die meisten Menschen zumindest eine vage Assoziation haben, wenn von Glück die Rede ist. Wenn dem so ist, folgt dann aus der Aussage, Glück sei das, was sich Menschen darunter vorstellen, dass es in einer Gesellschaft eine letztlich unüberschaubare Fülle von Glücksvorstellungen gibt? Die Antwort lautet: Auch in einer durch Pluralisierung der Lebensfonnen und Individualisierung der Lebensverläufe geprägten Gesellschaft ist das Reservoir an Originalität begrenzt. Das heißt, auch beim "Umgang mit GlücklGlückszielenl Glücksmitteln ist die bei uns hochbewertete Individualität stark eingegrenzt, sind die gesellschaftlichen Einflüsse unübersehbar."l? Vieles spricht dafür, dass es ähnlich wie etwa bei Vorstellungen von der "richtigen" politischen Ordnung und vom "harmonischen" Zusammenleben auch bei Glücksvorstellungen bestimmte Grundtypen gibt. l8 Diese Grundtypen dürften in unserer Gesellschaft zumindest indirekt von der Tradition der philosophischen oder ganz allgemein der geistesgeschichtlichen Befassung mit dem Thema Glück beeinflusst sein. Diese Tradition schlägt sich bis heute, wenngleich in stark vergröberter Fonn, auch in der Populärkultur nieder, die für die Mehrzahl der Menschen die Vorstellungen von Glück prägen dürfte. Gerade in der Ermittlung und Systematisierung solcher Vorstellungen liegt ein wichtiges Potential für die Analyse der Prozesse, in denen in der modemen Gesellschaft Befindlichkeiten strukturiert und kommuniziert werden.
4. Forschungspraxis Von den in der Sozialforschung gewöhnlich eingesetzten Verfahren der Datenerhebung, nämlich Befragung, Beobachtung und Inhaltsanalyse, spielt in der empirischen Glücksforschung praktisch nur die Befragung eine Rolle. Zwar sagt uns die Alltagserfahrung, dass es beobachtbare Manifestationen von "Glück" gibt, 17 18
Alfred Bellebaum: Auf der Suche nach dem Glück. In: MUT. Forum fiir Kultur, Politik und Geschichte, Nr. 383, 1999, S. 92. Solche Grundtypen variieren natürlich je nach Epoche und Kulturkreis. Siehe hierzu Alfred Bellebawn (Hrsg.): Vom guten Leben. Glücksvorstellungen in Hochkulturen. Berlin 1994
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doch sind diese durch den Forscher oder durch in dessen Auftrag tätige Beobachter aus dem primären sozialen Umfeld der Untersuchungspersonen kaum mit hinreichender Reliabilität (Zuverlässigkeit) einzuordnen. Eine der Schwierigkeiten, mit denen dabei zu rechnen ist, formuliert Veenhoven so: " ... there is the problem that attributions of other people's happiness are not independent from one's own happinesS."19 Was die Inhaltsanalyse anbelangt, so ist es zwar vorstellbar, schriftlich fixierte oder auf Tonträger festgehaltene Vorstellungen von Glück und Äußerungen zur aktuellen "Glücksverfassung" auszuwerten, doch müssen bei einem solchen Forschungsdesign von vornherein große Gruppen der Bevölkerung unberücksichtigt bleiben, nämlich alle diejenigen, denen es schwer fällt, das, was sie sich vorstellen und was sie bewegt, zu verbalisieren. Eine Befragung zum Thema "Glück" bzw. zum "subjektiven Wohlbefinden" kann als persönliches Interview oder in schriftlicher Form durchgeführt werden. 20 Die Fragen können offen oder geschlossen sein. Offene Fragen strukturieren, anders als bei einem ,,Aufsatz", zwar das Themenfeld und steuern so die Aufmerksamkeit der Befragten, doch spielt auch hier wieder die Verbalisierungsfähigkeit eine entscheidende Rolle. Dies erklärt, worum wir in der empirischen Glücksforschung vor allem geschlossene Fragen finden. Sie sind auch die Grundlage für die häufig eingesetzten Skalen. Beispiele für solche Fragen seien aus dem amerikanischen General Social Survey und aus dem deutschen Wohlfahrtssurvey angeführt. Im General Social Survey wurde im Hinblick auf "General happiness" etwa gefragt: "Taken all together, how would you say things are these days - would you say that you are very happy, pretty happy or not too happy?" Die in der Frage genannten Möglichkeiten waren auch die vorgegebenen Antwortkategorien. Eine andere Formulierung im Hinblick auf den Tatbestand "Happy or unhappy with life today" lautete: "Ifyou were to consider your life in general these days, how happy or unhappy would you say you are, on the whole ... very happy, fairly happy, not very happy, not at all happy."21 Im Wohlfahrtssurvey lautete eine Frage zum Zielbereich "subjektives Wohlbefinden" in der Zieldimension "Wohlbefinden - affektiv": "Ist Ihr Leben im Augenblick ,sehr glücklich?', ,ziemlich glücklich?', ,ziemlich unglücklich?' oder ,sehr unglücklich?'" Im System Sozialer Indikatoren von ZUMA ist der Indikator "Glück" durch den Anteil der Befragten definiert, die mit "sehr glücklich" ant19 20 21
Veenhoven, S. 83; generell zu Beobachterfehlem und Beobachtereinflüssen siehe Rainer Schnell, Paul B. Hili, Elke Esser: Methoden der empirischen Sozialforschung. München, Wien 4. Aufi. 1993, S. 402-406. Zum folgenden siehe Veenhoven, S. 65-77. Queens CollegelCUNY: Local Resources in Sociology, General Social Survey Resources. www. soc.qc.edu. Zugriff am 07.03.2002.
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worteten. Dabei zeigt sich, dass zwischen 1978 und 1998 dieser Anteil zwischen 19 Prozent (im Jahre 1998) und 26 Prozent (im Jahre 1980) schwankte. In Gesamtdeutschland nahm der Wert von 22 Prozent im Jahre 1993 auf 19 Prozent im Jahre 1998 ab. Es zeigt sich auch, dass unter Zugrundelegung des besagten Indikators Männer "glücklicher" sind als Frauen und Westdeutsche "glücklicher" als Ostdeutsche. Eine andere Frage zum gleichen Zielbereich in der Zieldimension "Wohlbefinden - kognitiv" lautete: "Wie zufrieden sind Sie gegenwärtig alles in allem heute mit Ihrem Leben?" In den Zeitreihen des ZUMA-Indikatorensystems lag der durchschnittliche Wert der Lebenszufriedenheit auf einer von 0 bis 10 reichenden Skala in Westdeutschland zwischen 7,5 im Jahre 1984 und 8,1 im Jahre 1988. In Gesamtdeutschland lag im Jahre 1998 der durchschnittliche Wert bei 7,6. Wiederum gab es Unterschiede zwischen Westdeutschen und Ostdeutschen. Im Westen war man "zufriedener" als im Osten. 22
5. Kritische Einwände Wie immer eine Befragung aber gestaltet ist, es wird, um eine Unterscheidung von Wolf Schneider aufzugreifen, immer nur das erfasst, was er das "beredete Glück" nennt, das heißt das Glück, das der Befragte entweder schon vor der Befragung oder durch diese stimuliert zumindest ansatzweise zum Thema gemacht hat. Dem "beredeten" Glück stellt Schneider das "empfundene" Glück gegenüber. Für ihn gilt: "Für das Glücksempfinden ist jede Äußerung darüber ein überaus schwaches Indiz. "23 Und er verbindet diese Feststellung mit der provokanten Frage: "Oder wer hätte je in der Tischrede eines Goldenen Hochzeiters die Wahrheit über sein Eheglück vermutet?"24 Schneider vertritt die Position, "daß Glück nur das wirklich empfundene Glück zu heißen verdient, das Hochgefühl eines bestimmten Menschen zu einer bestimmten Zeit, und daß nur dieser Mensch sein Richter ist". 25 Nun kommt in der Rede vom "Hochgefühl" sicherlich ein sehr spezielles Verständnis von Glück zum Ausdruck, was nur eine der Vorstellungen wiedergibt, mit denen es die Glücksforschung zu tun hat. Dessen ungeachtet sind die Einwände ernst zu nehmen, die Schneider gegenüber der empirischen Erfassung von "Glück" vorbringt. So sieht er zunächst ein Problem darin, dass Menschen unterschiedliche Maßstäbe anlegen, wenn sie, etwa im Rahmen einer Befragung, darauf angespro22 23 24 25
Gesellschaft Sozialwissenschaftlicher Struktureinrichtungen, a.a.O. Wolf Schneider: Glück: - was ist das? Versuch, etwas zu beschreiben, das jeder haben wilL Reinbek 1981, S. 42. Ebd. Ebd.
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chen werden, ob ihr Leben glücklich sei. Es sei zu unterscheiden, "ob wir nach Höhepunkten messen oder eine Bilanz von Freude und Venlruß aufstellen".26 Dabei steht für ihn fest: ,,Höhepunkte gibt es in jedem Leben - der Saldo würde uns selten befriedigen. Er würde: wenn eben unsere private Glücksbilanz nicht unvermeidlich von unserem Temperament, unserer Laune, den jeweiligen Lebensumständen oder sogar den herrschenden Sitten gefärbt wäre."27 Was hier über die Randbedingungen einer "Glücksbilanz" gesagt wurde, gilt im Grunde für alle Befragungen zu komplexen und sensiblen Sachverhalten. Persönliche Dispositionen, die aktuelle psychische Verfassung, die jeweilige Situation des Befragten und gesellschaftliche Leitbilder haben Einfluss auf das Ergebnis. Zu ergänzen wären noch die konkreten Umstände, unter denen eine Befragung stattfindet. Bei den persönlichen Dispositionen haben wir zu denken an die Bereitschaft, sich mit der eigenen Lage auseinander zu setzen, an die Fähigkeit zu einer solchen Auseinandersetzung, an die Fähigkeit, die Ergebnisse der Auseinandersetzung zu verbalisieren und an die Bereitschaft, sich anderen mitzuteilen. Es liegt auf der Hand, dass diese Randbedingungen eine geringere Rolle spielen bei der Beantwortung einer Frage von der Art, wie man mit dem Urlaubsquartier zufrieden war oder welche Anschaffungen man in den nächsten zwölf Monaten zu tätigen gedenke, als bei der Beantwortung der Frage nach der Lebenszufriedenheit oder eben nach dem Glück. Dies gilt auch für die Rolle der psychischen Verfassung. Sind wir traurig wegen eines erlittenen Verlustes oder zornig wegen einer uns zugefügten Zurücksetzung, so fallen Antworten auf Fragen nach unserem subjektiven Wohlbefinden anders aus, als wenn wir gerade einen schönen Abend im Kreise unserer Freunde verbracht haben. Der Einfluss der konkreten Situation wird an dem von Schneider herangezogenen Beispiel der Nierenkolik deutlich, die uns keine Chance lasse, "die unzähligen Glücks- und Unglücksstunden unseres Lebens gegeneinander abzuwägen; vielmehr scheint es uns dann, als habe unsere ganze irdische Existenz auf die Kolik dieser Minute hingewirkt".28 Nun wird gewiss niemand bestreiten, dass eine Extremsituation wie eine Kolik keine abwägende "Glücksbilanz" zulässt. Die Frage ist, wie stabil solche Bewertungen in "Normalsituationen" sind. Und hier ist Veenhoven in seiner Aussage entschieden optimistisch: "Happiness ratings appear far from being unstable."29 Was schließlich die Rolle gesellschaftlicher Leitbilder anbelangt, so ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sich Gesellschaften darin unterscheiden, in welchem Maße Menschen sich veranlasst sehen, sich 26 27 28
29
Ebd. Ebd., S. 42f. Ebd., S. 43. \'eenhoven,S.44.
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"glücklich" zu fühlen und sich insbesondere anderen gegenüber als "glücklich" zu bezeichnen. So charakterisiert Georg Kamphausen etwa die amerikanische Gesellschaft als eine, "in der es als öffentliche Pflicht gilt, so glücklich wie nur irgend möglich zu sein und die den Pessimismus nicht für eine philosophische Lebenshaltung, sondern für eine Krankheit hält".30 Damit ist ein Sachverhalt angesprochen, der den Einfluss der Befragungssituation berührt. Gesellschaftliche Leitbilder und Normen werden in der empirischen Sozialforschung im Hinblick auf die durch sie verursachten Effekte der "social desirability" betrachtet, also der sozialen Erwünschtheit einer Antwort, die ein bestimmtes Verhalten, eine Einstellung oder eine Bewertung zum Ausdruck bringt. Sind bei einer unter den Bedingungen der Anonymität stattfindenden schriftlichen Befragung Menschen noch bereit, sich zu Meinungen und Verhaltensweisen zu bekennen, die nicht von der Mehrheit geteilt werden oder sogar sozial missbilligt werden, so fällt dies wesentlich schwerer, wenn man einer konkreten Person, in diesem Falle dem Interviewer, gegenüber sitzt. Es handelt sich hier um eine soziale Situation im ganz elementaren Sinne, in der wir gewöhnlich versuchen, dem anderen ein möglichst positives Bild von uns zu vermitteln. Die Folge ist, dass der Interviewer Daten sammelt, die nur teilweise und unter Umständen überhaupt nicht das wiedergeben, was die Befragten tatsächlich bewegt, was sie denken und was sie empfinden. Aus einschlägigen Untersuchungen zieht Veenhoven den Schluss: ,,Anyway, all these investigations suggest that social desirability bias is relatively high in the personal interviews."31 Das Problem der "unehrlichen" Antworten sei aber in den Griff zu bekommen: "For the time being I assume that people talk honestly about their happiness, ifprovided with sufficient anonymity."32 Auch bei zugesicherter und, was noch wichtiger ist, vom Befragten geglaubter Anonymität bleibt aber das Problem, dass Menschen in sozialen Situationen in einem bestimmten Licht erscheinen möchten. Die angeführten Faktoren - subjektive Maßstäbe, persönliche Dispositionen und momentane Verfassung der Zielpersonen sowie Bedingungen der konkreten Situation und gesellschaftliche Leitbilder - spielen, dies sei noch einmal betont, bei jedweder Form der empirischen Sozialforschung, insbesondere aber bei der Befragung, eine Rolle. Ihr Einfluss ist freilich umso stärker, je komplexer und sensibler der Forschungsgegenstand ist. Und um einen solchen Gegenstand handelt es sichja ohne Zweifel beim Thema "Glück". Bedeutet dies nun, dass dieses Thema der empirischen Sozialforschung generell unzugänglich ist? Ist es so, dass, wie Schneider 30
31 32
Georg Kamphausen: Recht auf Glück? In: Alfred Bellebaum (Hrsg.): Glück und Zufriedenheit. Ein Symposion. Opladen 1992, S. 92. Veenhoven, S. 50. Ebd., S. 51
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schreibt, Meinungsumfragen den "Höhepunkt der Bilanzfälschung" markieren?33 Solche Umfragen gäben zwar "interessante Aufschlüsse über vielerlei psychologische und soziologische Zusammenhänge - nur fast keinen über die Frage, die gestellt worden ist".34 Dies hat seiner Auffassung nach eine Reihe von Ursachen: "Verzerrungen, weil der Befragte sich mit Glück brüsten, sich durch Unglück interessant machen oder sich mit dem Befrager einen Spaß erlauben will; Halbwahrheiten, weil die gerade modische Denkrichtung in die Wertungen des Befragten einfließt; die Einhüllung des Glücksempfindens in das Nachdenken darüber...."35
6. Realistische Perspektiven Die angeführten Schwächen sind gewiss nicht zu leugnen. Indessen ist zu fragen, ob sie wirklich ausreichen, um die empirische Glücksforschung in Bausch und Bogen als irrelevant abzutun. Es ist wohl zu differenzieren. Zunächst einmal steht außer Zweifel, dass keine Befragung, ob sie sich nun auf politische Präferenzen, Partnerbeziehungen oder eben auf "Glück" bezieht, erfassen kann, was die Menschen "wirklich" bewegt: Weil sie sich darüber selbst nicht im klaren sind, weil sie es nicht ausdrücken können oder weil sie es gar nicht oder nur in einer sozial erwünschten Weise zum Ausdruck bringen wollen. Fest steht auch, dass Menschen unterschiedliche Maßstäbe haben bei der Beurteilung ihrer eigenen Lage und dass bei Bewertungsprozessen - dies gilt für die aktuelle Verfassung genauso wie für das Leben insgesamt - situative Gegebenheiten eine Rolle spielen können. Von daher ist bei Aussagen über das Ausmaß von "Glück" in einer Population immer Zurückhaltung geboten und sind Aussagen von der Art "Befragter A ist glücklicher als Befragter B" oder "Befragte C ist noch unglücklicher als Befragte D" unsinnig. Indessen werden empirisch arbeitende Sozialwissenschaftler, welche die Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen ihres Tuns reflektieren, solche Aussagen auch gar nicht treffen. Sie werden etwa aufgrund der Daten des Wohlfahrtssurveys 1998 auch nicht sagen: ,,19 Prozent der Deutschen sind sehr glücklich!" Ein solcher Satz ist eher in einer Meldung der Medien zu finden, wo der Entstehungszusammenhang von Aussagen gewöhnlich als den Leser, Zuhörer oder Zuschauer nicht interessierend abgetan wird. Die seriöse Aussage wird wohl lauten: "Von den im Wohlfahrtssurvey 1998 erfassten Personen stuften sich 19 Prozent als ,sehr glücklich' ein." Und auch der Sozialwissenschaftler oder Zeithistoriker, der sich mit den Lebensgefühlen in einer Epoche beschäftigt, wird seine Argu33 34 35
Schneider, S. 44. Ebd. Ebd.
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mentation nicht auf die Zahl von 19 Prozent stützen, sondern darauf, in welchem Maße die Ergebnisse unterschiedlicher Studien konvergieren. Weiterhin wird ihn die Tendenz interessieren, mit der sich Äußerungen zu Glück und Zufriedenheit im Zeitablaufverändern. Ein Befund wie "Berufstätige Frauen sind glücklicher als Nur-Hausfrauen" oder "Landwirte sind heute unglücklicher als vor zehn Jahren" hat, wenn er völlig für sich steht, sicherlich keinen besonderen wissenschaftlichen Wert. Einen Stellenwert kann ein solcher Befund indessen haben, wenn er sich in einen breiteren thematischen Zusammenhang einfügt, im vorliegenden Falle etwa in die Lebenssituation von Frauen oder den Strukturwandel in der Landwirtschaft.
7. Ein Vorschlag zur Güte Nicht nur die empirische Glücksforschung produziert Aussagen über das Ausmaß des Glücksempfindens in unserer Gesellschaft. Auch Kulturkritiker, Schriftsteller und Journalisten äußern sich, mit von ihnen beanspruchter oder mit ihnen zugeschriebener Autorität, zur Befindlichkeit der Menschen in unserem Lande und in anderen Ländern. Dabei finden sie nichts an einer Feststellung wie dieser, dass eine bestimmte Bevölkerungsgruppe von einer tiefen Schwermut geprägt sei oder dass die Menschen in einem Land mit einem - gemessen an unserem - deutlich niedrigeren Lebensstandard (oftmals unausgesprochen: deshalb) "ganz einfach glücklich" seien. Kaum jemand wagt zu fragen, worauf sich denn solche und ähnliche Aussagen eigentlich stützen. Bei näherem Zusehen zeigt sich, dass es sich nicht selten um die Wiedergabe von Klischees handelt, deren empirische Basis gar nicht mehr festgestellt werden kann. In anderen Fällen beruhen Aussagen zu kollektiven Befindlichkeiten, worunter eben auch die Zuerkennung von Attributen wie "glücklich" oder "unglücklich" zählt, auf Intuition. Solche Intuition ist in unserer Gesellschaft eine hoch geschätzte Gabe. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Ergebnis in literarisch anspruchsvoller Form präsentiert wird. Zu fragen ist allerdings, ob Aussagen zum Glück in sozialen Gruppen oder ganzen Gesellschaften, die aufIntuition beruhen, allein schon deshalb gehaltvoller sind als Aussagen, die sich auf Ergebnisse empirischer Forschung stützen. 36 Schließlich kommen beide Formen des Zugriffs auf die Wirklichkeit, die intuitive Erfassung wie die empirische Forschung, letztlich kaum an das tatsächlich empfundene Glück von Menschen heran. Die empirische Forschung hat es im Wesentlichen mit aufrepräsentativer Basis erhobenen Äußerungen zum Thema Glück zu 36
Ein Beispiel für die Fruchtbarkeit einer sozialwissenschaftlichen Betrachtungsweise ist etwa Thomas Bulmahn: Modemity and Happiness - The Case ofGermany. In: Journal ofHappiness Studies. An Interdisciplinary Forum on Subjective Well-Being, 3/2000, S. 375-400.
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tun, wobei die zugrunde liegenden Maßstäbe sowie die situativen Bedingungen der Datenerhebung gewöhnlich unbeachtet bleiben bzw. bleiben müssen. Die intuitive Glücksdiagnose basiert gewöhnlich auf im Grunde riskanten, aber gerade deshalb interessanten Verallgemeinerungen von mehr oder weniger intensiven persönlichen Erfahrungen. Für den Sozialwissenschaftler, der sich mit einer gesellschaftlichen Gruppe oder mit einer Epoche beschäftigt, sind beide Arten von Befunden interessant. Beide sagen zunächst aber nur etwas aus über die Thematisierung von Glück. Da, wo die wissenschaftlichen Befunde und die veröffentlichten Ergebnisse der Intuition konvergieren, werden es freilich auch Sozialwissenschaftler wagen, sich zu solchen Befindlichkeiten in einer Gesellschaft zu äußern, auf die üblicherweise die Kategorie des Glücks angewendet wird. Für sie genau so interessant sind aber auch die Vorstellungen, die sich Menschen von Glück machen, und die Umstände, unter denen Glück thematisiert wird. Und hier sind die Geisteswissenschaften, die bildende Kunst, die Literatur und der Journalismus durchaus Partner bei der Erschließung der Vielgestaltigkeit des Phänomens Glück. Sie sind aber auch, und dies gilt vor allem für Literatur und Journalismus, zusammen mit der Unterhaltungsindustrie Objekt der sozialwissenschaftlichen Analyse. Schließlich sind es ja Literatur, Journalismus und Unterhaltungsindustrie, die heute in nicht unerheblichem Maße Glücksvorstellungen strukturieren und Glück zu einem Bestandteil der von ihnen getragenen Kommunikation machen. Gerade im Hinblick auf solche Strukturierungen und Kommunikationsprozesse eröffnen sich der sozialwissenschaftlich orientierten Glücksforschung interessante Perspektiven. "Glück" wird ja nicht zuletzt gerade dadurch zum Gegenstand des sozialwissenschaftlichen Interesses, dass Vorstellungen von Glück sozial geteilt werden, dass es Bereiche gibt, in denen Glück bevorzugt thematisiert wird und dass es insbesondere in der modemen Gesellschaft eine Vielzahl von Agenturen gibt, die Glücksvorstellungen erzeugen. Letztendlich, und damit schließt sich der Kreis der hier angestellten Überlegungen, verdient die Frage das Interesse der Wissenschaft, welche Bedingungen es eigentlich sind, die Glück zu einem Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit haben werden lassen und die so Glücksforschung im heutigen Sinne mit hervorgebracht haben. Quelle: A. Bellebaum (Hrsg.): Glücksforschung. Eine Bestandsaufnahme. UVK Verlagsgesellschaft: Konstanz 2002
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Prof. Dr. Dr. h. c. Aleida Assmann, Jahrgang 1947, Studium der Anglistik und Ägyptologie in Heidelberg und Tübingen, M.A. (1972), Promotion (1977) in Anglistik (Heidelberg) und in Ägyptologie (Tübingen), Habilitation (1992) an der Universität Heide1berg, Berufung auf den Lehrstuhl für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz (1993). Gastprofessuren u.a.: Princeton University (2001), Yale University (2002, 2003, 2005), Universität Wien (Sir Peter-Ustinov- Gastprofessur 2005), University ofChicago (2007). Veröffentlichungen u.a.: Erinnenmgsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1994, 4. Edition 2009), Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik (2006), Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen (2006, 2. Edition 2008), Geschichte im Gedächtnis: Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (2007). Sie ist Mitherausgeberin mehrerer Monographien und Sammelbände und hat selbst zahlreiche Aufsätze zu diesen Themen publiziert. Forschungsschwerpunkte: Schrift und Gedächtnis, Historische Anthropologie der Medien, Theorie des kulturellen Gedächtnisses sowie Trauma. Prof. Dr. Thomas Bargatzky, geb. 1946. Studium der Ethnologie, Altamerikanistik, Soziologie, Vor- und Frühgeschichte und Philosophie in München und Hamburg. Promotion in Hamburg (1977) mit einer Dissertation zum Thema Die Rolle des Fremden beim Kulturwandel (veröffentlicht 1978). Habilitation (1988) an der Universität München für das Fach Ethnologie mit einer Habilitationsschrift über das traditionelle politisch-zeremonielle Titel- und Verwandtschaftssystem in Samoa. Vertretungsprofessuren in Tübingen und Heidelberg. Seit 1990 Professor für Ethnologie an der Universität Bayreuth. Foreign Visitor am East- West Center in Honolu1u, Hawaii (1994). Gastprofessor an der Universität Wien, Sommersemester 1998. Visiting Scholar an der Indiana University in Bloomington, Indiana USA (2007 und 2009). Ethnologische Feldforschungen in Samoa (1980-181, 1985 und 1995). Arbeitsschwerpunkte: Religion und Mythos, Kulturökologie, po-
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litische Strukturen, Geschichtstheorie, Nationalstaatsidee in Europa und Übersee, Interkulturelle Kommunikation. Veröffentlichungen u.a.: EinjUhrung in die Ethnologie. Hamburg: Buske 1985 (2. Auft. 1989); EinjUhrung in die Kulturökologie. Umwelt, Kultur und Gesellschaft. Berlin: Reimer 1986; Ethnologie. Eine EinjUhrung in die Wissenschaft von den urproduktiven Gesellschaften. Hamburg: Buske 1997; The Invention 0/ Nature (Hg., zusammen mit RolfKuschei). Frankfurt am Main: Peter Lang 1994; Mythos, Weg und Welthaus. Erfahrungsreligion als Kultus und Alltag. Münster: Lit, 2007. Dr. rer. pol. Alfred BeUebaum, geb. 1931, Diplom-Volkswirt, Prof. em. für Soziologie, studierte Wirtschaftswissenschaften und Soziologie an der Universität zu Köln und promovierte dort bei Rene König mit einer Arbeit über Ferdinand Tönnies. Berufliche Tätigkeiten: Sozialabteilung der Vereinigten Seidenwebereien in Krefeld; Fachredakteur für Soziologie bei der 6. Auflage des Staatslexikons der Görresgesellschaft im Verlag Herder/Freiburg; Wissenschaftlicher Assistent für Soziologie im Seminar für Gesellschaftslehre der Universität Frankfurt bei Friedrich H. Tenbruck; Chefredakteur für Sozialwissenschaften im Lexikographischen Institut des Verlages Herder/Freiburg; o. Univ. Professor für Soziologie an der Universität Koblenz; zusätzlich Honorarprofessor für Soziologie an der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn; mehrjähriges Mitglied des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Soziologie; einsemestrige Vertretungen in Tübingen (EH. Tenbruck) und in Köln (R. König); Gründung und Leitung des Gemeinnützigen Instituts für Glücksforschung e.V. in Vallendar (1990 - geschlossen 2006). Veröffentlichungen u.a. Soziologische Grundbegriffe, Stuttgart 1972, 13. Aufl. 2001, Handlungswert der Soziologie. Vermittlungs- und Verwertungsprobleme, Meisenheim 1977, Soziologie der modernen Gesellschaft, 3. Aufl. Hamburg 1980, Langeweile, Überdruss und Lebenssinn. Eine geistesgeschichtliche und kultursoziologische Untersuchung, Opladen 1990, Schweigen und Verschweigen. Erscheinungsvielfalt und Bedeutungsreichtum einer Kommunikations/orm, Opladen 1992, Abschiede. Trennungen im Leben, Wien 1992. Prof. Dr. Binswanger, geb. 1962, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten und Privatdozent an der Universität St. Gallen. Er war zusätzlich Gastprofessor an der Technischen Universität Freiberg in Deutschland, an der Qingdao Technological University in China und der Banking University in Saigon. Mathias Binswanger schreibt Bücher und publiziert sowohl
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in Fachzeitschriften als auch in der Presse. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Makroökonomie, Finanzmarkttheorie, Umweltökonomie sowie in der Erforschung des Zusammenhangs zwischen Glück und Einkommen. Mathias Binswanger ist Autor des 2006 erschienenen Buches Die Tretmühlen des Glücks, welches in der Schweiz zum Bestseller wurde. Im Jahre 2010 erschien sein neuestes Buch Sinnlose Wettbewerbe - Warum wir immer mehr Unsinn produzieren.
Prof. Dr. Hans Braun; geb. 1941. Studium der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Freiburg und Frankfurt, Promotion 1970, Habilitation 1975. Von 1976 bis 1980 Professor für Soziologie an der Universität Tübingen, von 1980 bis 2006 o. Professor für Soziologie an der Universität Trier, 1986 Mitbegründer und von 1991 bis 2006 Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Arbeit und Soziales. Gastprofessuren in Winnipeg, Sydney und Vancouver. Veröffentlichungen u.a.: Soziales Handeln und soziale Sicherheit. Alltagstechniken und gesellschaftliche Strategien, FrankfurtlNew York 1978; Alter als gesellschaftliche Herausforderung, Regensburg 1992; "Wer aber ist mein Nächster?" Solidarität als Praxis und als Programm, Tübingen 2003; Quellen des Glücks Glück als Lebenskunst, Würzburg 2004 (Hrsg. MitA. Bellebaum); Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, Baden-Baden 2007 (Hrsg. mit U. Gerhardt und E. Holtmann).
Prof. Dr. AIois Hahn, geb. 1941, Professor für Soziologie. Von 1971-1974 Dozent bzw. Professor für Soziologie und Politik an der Pädagogischen Hochschule Esslingen; seit 1974 o. Professor für Soziologie an der Universität Trier. Directeur d'etude an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris; Sommersemester 2002 Otto-von-Freisung-GHastprofessur an der Katholischen Universität Eichstätt ; 2004-2005 Fellow am Wissenschaftskolleg Berlin; 2008 NiklasLuhmann-Gastprofessur an der Universität Bielefeld; 2009-2010 Gastprofessur an der Universität Luzem. Veröffentlichungen u.a.: (zusammen mit V. Kapp) Selbstthematisierung und Selbstzeugnis. Bekenntnis und Geständnis, Frankfurt a.M. 1987; (zusammen mit W. Eimbter und R. Jacob) Krankheitsvorstellungen. Das Beispiel AIDS, Opladen 1986; Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M 2000; Erinnerung und Prognose. Zur Vergegenwärtigung von Vergangenheit und Zukunft, Opladen 2003; Körper und Gedächtnis, Wiesbaden 2009.
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Prof. Dr. Dr. Robert Hettlage, geb. 1943, em Professor für Soziologie an der Universität Regensburg. Studium der Volkswirtschaftslehre, Philosophie und Soziologie an der Universität Fribourg/Schweiz. Dr. rer. pol. 1969, Dr. phil. 1971; 1972-1977 wissenschaftlicher Assistent für Soziologie an der Universität Basel; 1978-1981 Privatdozent; seit 1981 Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Regensburg; Gastprofessuren an den Universitäten St. Gallen und Trento (Italien). Mehrjähriges Mitglied des Vorstands der Schweizer Gesellschaft für Soziologie; langjähriges Mitglied der Redaktion der Schweizerischen Zeitschrift für Soziologie; Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten. Forschungsschwerpunkte im Bereich Wirtschafts-, Kultur- und Entwicklungssoziologie, der Familiensoziologie, der Genossenschafts- und Migrationsforschung, der Europäischen Integration und des Grenzgebiets zwischen Sozialphilosophie und soziologischer Theorie. Veröffentlichungen u.a.: Die Veränderungstendenzen in den EU-Handelsbilanzen der EWG-Länder zwischen 1958-1967, München 1969; Genossenschaftstheorie und Partizipationsdiskussion, Göttingen 1987; Die posttraditionale Welt der Bauern, FrankfurtJM. 1987; Kollektive Identität in Krisen: Ethnizität in Region, Nation, Europa, Op1aden 1997; Familienreport. Eine Lebensform im Umbruch, München 1998; Identitäten in der modemen Welt, Wiesbaden 2000; Verleugnen, Vertuschen, Verdrehen. Leben in der Lügengesellschaft, Konstanz 2003; Die europäische Gesellschaft, Konstanz 2006; Der europäische Raum. Die Konstruktion europäischer Grenzen, Wiesbaden 2007. - Über 200 Aufsätze in deutschsprachigen und ausländischen Fachzeitschriften, Sammelbänden und Lexika. Prof. Dr. Malte Hossenfelder, geb. 1935. Studium der Philosophie und Klassischen Philologie in Tübingen, Hamburg und Gießen. Staatsexamen in Griechisch und Lateinisch, Promotion und Habilitation in Philosophie. 1976-1991 Professor für Philosophie an der Universität Münster. Seit 1991 an der Universität Graz (2003 emeritiert). Veröffentlichungen u. a.: Der Wille zum Recht und das Streben nach Glück. Grundlegung einer Ethik des Wollens und Begründung der Menschenrechte, 2000, Antike Glückslehren, 1996, Epikur 1991, 3. Aufl. 2006, Stoa, Epikureismus und Skepsis, 1985,2. Aufl. 1995, Kants Konstitutionstheorie und die Transzendentale Deduktion, 1978, Ungewißheit und Seelenruhe. Die Funktion der Skepsis im Pyrrhonismus, 1964
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Prof. Dr. Erwin Hufnagel, geb. 1940. Studium der Philosophie, Pädagogik und Romanischen Philologie in Saarbrücken und Bonn. Promotion zum Dr. phil. in Bonn, Wissenschaftlicher Assistent mit Lehrauftrag am Institut für Erziehungswissenschaft (Lehrstuhl für Philosophie und Pädagogik) der Universität Bonn (prof. Dr. Wolfgang Ritzel), Lehrstuhl für Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (BollnowlBallauff-Lehrstuhl, Gastprofessor an der Universität Zagreb (Kroatien), Leiter des Internationalen Philosophischen Symposions Verstehen und Auslegen in Zadar (Kroatien), Leiter des IUC-Kurses Hermeneutik und Phänomenologie in Dubrovnik (Kroatien); 2005 Emeritierung; weiterhin Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Mainz. Prof. Dr. Gertrud Nunner-WinkIer, geb. 1941. Studium der Soziologie, Assistenzprofessorin FU Berlin (1966-1971, Dr. rer pol. 1970). Wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPI zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechnischen Welt, Starnberg, im Arbeitsbereich von Jfugen Habermas (1971-1981, Habilitation 1978), am MPI für Psychologische Forschung, München (1981-2001 ), bis 2006 Leiterin der Arbeitsgruppe Moralforschung am MPI Kognitions- und Neurowissenschaften, München; Honorarprofessur LMU München. Veröffentlichungen u.a.: Chancengleichheit und individuelle Förderung. Stuttgart 1971; (mit R. Döbert) Adoleszenzkrise und Identitätsbildung. Frankfurt a.M. 1975 (mit D. Meyer-Nikele, M. Wohlrab, D.). Integration durch Moral. Wiesbaden 2006. Herausgeberschaften: (mit R. Döbert, J. Habermas): Entwicklung des Ich. Köln 1980; Weibliche Moral, Frankfurt 1991; (mit W. Edelstein) Zur Bestimmung der Moral. Frankfurt 1986; Moral und Person. Frankfurt 1996; Moral im sozialen Kontext. Frankfurt 2000. Zahlreiche Aufsätze über Identität, Geschlechterrollen, Entwicklung moralischer Motivation. Wandel in den Moralvorstellungen.
Prof. Dr. Manfred Prisching, geb. 1950, Studium der Rechtswissenschaften (Dr. jur. 1974) und der Volkswirtschaftslehre (Mag. rer. soc. oec. 1977), Universitätsassistent an den Instituten für Rechtsphilosophie, für Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschaftspolitik und für Soziologie. Habilitation für Soziologie 1985; tit. ao. Univ.Prof. 1994. 1987/88 an der Rijksuniversiteit Limburg (Maastricht, NL); 1995/96 Schumpeter-Gastprofessur an der Harvard University (Cambridge/ Boston); 2005/06 Visiting Scholar an den Universitäten von New Orleans, Little Rock, Las Vegas. 1997-2001 wissenschaftlicher Leiter der Technikum Joanneum
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GmbH (steirische Fachhochschulen). Korr. Mitglied der ÖsterreichischenAkademie der Wissenschaften. Veröffentlichungen u.a.: Krisen. Eine soziologische Analyse, 1986; Arbeitslosenprotest und Resignation in der Wirtschaftskrise, 1988; Soziologie. Themen, Theorien, Perspektiven, 3. Aufl. 1995; Die Sozialpartnerschaft. Modell der Vergangenheit oder ModelljUr Europa?, 1996; Bilder des Wohlfahrtsstaates, 1996; Die McGesellschaft, 1998; Good Bye New Orleans, 2006; Die zweidimensionale Gesellschaft, 2006; Bildungsideologien, 2008; Das Selbst. Die Maske. Der Bluff, 2009. Zahlreiche Aufsätze über Wirtschaftssoziologie, Politiksoziologie, Kultursoziologie, Wissenschaftssoziologie, sozialwissenschaftliche Theorie und Ideengeschichte, Zeitdiagnostik. Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg, geb. 1943. Buchhändler, Lokaljournalist, Mitarbeiter im Deutschen Bundestag, seit 1969 Studium der Soziologie und Politische Wissenschaft an der Universität zu Köln und an der RWTH Aachen, dort 1973 Promotion bei Arnold Gehlen (seit 1976 Herausgeber der Arnold-Gehlen-Gesamtausgabe), Privatdozent und Hochschullehrer. 1992 Gründungsprofessor für Soziologie und Inhaber des Lehrstuhles für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden, 1994-1997 Dekan der Philosophischen Fakultät, am 1.10.2009 zum (ersten) Senior Professor an der TU Dresden ernannt. Wissenschaftlicher Leiter der Dresden School 01Culture in der Dresden International University. 2003-2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Gastprofessuren in Leiden, Rom., Neapel, Paris, Lausanne, Basel und Trento, seit 2009 Korrespondierendes Mitglied des Collegio San Car10 in Modena. 1996-2008 Mitglied des SFB 537 und des Europäischen Graduiertenkollegs 625, seit 2009 Mitglied des SFB 804. Wissenschaftlicher Koordinator des BMBF-Verbundprojektes "Bildatlas: Kunst in der DDR". Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte. Veröffentlichungen u.a.: Existentielle Motive im Werk Amold Gehlens. "Persönlichkeit" als Schlüsselkategorie der Gehlenschen Anthropologie und Sozialtheorie. In: Helmut Klages/Helmut Quaritsch (Hg.): Zur geisteswissenschaftlichen Bedeutung Amold Gehlens. Vorträge und Diskussionsbeiträge des Sonderseminars 1989 der HochschulejUr Verwaltungswis-senschaften Speyer. Berlin 1994, S. 491-530; Philosophische Anthropologie und die" Soziologisierung" des Wissens vom Menschen. Einige Zusammenhänge zwischen einer philosophischen Denktradition und der Soziologie in Deutschland. In: M Rainer Lepsius (Hg.): Soziologie in Deutschland und Österreich 1918-1945. Sonderheft 23 der Kölner Zeit-
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schrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen 1981, S. 160-198; (Hg.): Norbert Elias und die Menschenwissenschaften. Studien zu Entstehung und Wirkungsgeschichte der" Zivilisationstheorie ". Frankfurt a.M. 1996; (Hg. gemeinsam mit Paul Kaiser) Enge und Vielfalt. Auftragskunst und Kunstförderung in der DDR -Analysen und Meinungen. Hamburg 1999; (Hg. gemeinsam mit Barbara Marx) Sammeln als Institution. Von derfürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates. MünchenlBerlin: Deutscher Kunstverlag 2006
Dr. Herbert Schaaff, Dipl.-Kaufmann. Studium der Wirtschaftswissenschaften an der RWTHAachen. SechsjährigeAssistententätigkeit und Promotion am Lehrstuhl für Volkswirtschaftslehre (prof. Dr. K.G. Zinn) an der RWTH Aachen. Im Anschluss seit 1991 im Personalbereich des Mannesmann-Konzerns in Düsseldorf und Mülheim a.d.R.. 1997 Wechsel zur Deutschen Telekom AG nach Bonn. Dort Stabsleiter des Personalvorstandes in der Konzernzentrale. 2001 Leiter des Bereiches Human Resources im Geschäftsbereich Systemintegration von T-System, hier Geschäftsführers Human Resources und Arbeitsdirektors für die T-Systems Nova GmbH in Bonn und die T-Systems GEI GmbH in Aachen. Von 2004 bis 2008 Geschäftsführer Personal und Arbeitsdirektor bei T-Systems Enterprise Services GmbH in FrankfurtJM. Seit 2010 Leiter Human Resources Management bei der Media Broadcast GmbH in Bonn. Seit 2009 zudem Lehrbeauftragter am Fachbereich Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Veröffentlichungen u.a.: Kritik der eindimensionalen Wirtschaftstheorie: Zur Begründung einer ökologischen Glücksökonomie, Thun, Frankfurt/M. 1991; Hrsg. zus. mit Al:fred Bellebaum und Karl Georg Zinn, Ökonomie und Glück: Beiträge zu einer Wirtschaftslehre des guten Lebens, Opladen, Wiesbaden 1999
Prof. Dr. phi!. Gerhard Schmied, geb. 1940, Professor für Soziologie, Studium der Soziologie, der Pädagogik, der Politischen Wissenschaften und der Katholischen Theologie in Heidelberg und Mainz. 1972 Promotion, 1983 Habilitation, zuletztAkad. Direktor an der Universität Mainz (pensioniert seit 2005) Forschungsschwerpunkt: Kultur-, insbesondere Religionssoziologie. Veröffentlichungen u.a.: Pfarrgemeinderat und Kommunikation. Zur Soziologie einer neuen Institution. München/Freiburg 1974; Sterben und Trauern in der modemen Gesellschaft. Leverkusen 1985; Soziale Zeit. Umfang, "Geschwindigkeit" und Evolution. Berlin/München 1985; Kirche oder Sekte? Entwicklungen und Perspektiven des Katholizismus in der westlichen Welt. Zürich/München 1988; Reli-
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gion - eine List der Gene? Soziobiologie contra Schöpfung. Osnabrück 1989; Kanäle Gottes? Katholische Kirche in der Medienzange, Opladen 1991; Schenken. Über eine Form sozialen HandeIns, Opladen 1996, "Lieber Gott, gütigste Frau ...". Eine empirische Untersuchung von Fürbittbüchern. Konstanz 1998, Friedhofsgespräche. Untersuchungen zum" Wohnort" der Toten. Opladen 2002, Das Rätsel Mensch. Antworten der Soziologie. Opladen und Fannington Hills 2007
Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner studierte Philosophie, Gennanistik, Kunstge-
schichte, Soziologie, Kommunikationswissenschaften an den Universitäten Tübingen, Köln und Bonn. Nach seiner Promotion an der Universität Bonn (1972) und Habilitation in Essen (1976) hatte er Professuren in Essen, Hagen, Potsdam und zuletzt in Konstanz (Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie). Gastprofessuren unter anderem in Berkeley, Boston, Santiago de Chile und Wien. Er ist seit 2007 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, Senior Fellow und Vorstandsmitglied am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen, Mitherausgeber der Soziologischen Revue, bis 2008 Vorsitzender des Beirates,Wissenschaft, Literatur und Zeitgeschehen' des Goethe-Institutes und Senior Fellow am DFG 212 Exzellenzcluster "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Modeme". Sein wissenschaftliches Interesse gilt der Soziologischen Theorie, der Wissens-, Kultur-, Medien- und Religionssoziologie sowie der Theorie und Methodologie wissenssoziologischer Hermeneutik. Veröffentlichungen u.a.: Gesellschaft ohne Baldachin, Über die Labilität von Ordnungskonstruktionen, Weilerswist, Vellbrück 2000; Zeitbilder. Versuche über Glück, Lebensstil, Gewalt und Schuld, Frankfurt a.M./New York, Campus, 2005; ; Die eilige Allianz: Terrorismus und Medien, in: Antje Gunsenheimer (Hg.): Grenzen. Differenzen. Übergänge: Spannungsfelder inter- und transkultureller Kommunikation, Bielefeld, transcript 2007, S.77-92; Politik im Film. Über die Darstellung der Macht und die Macht der Darstellung (mit JÜfgen Raab), in Markus Schroer (Hg.): Die Gesellschaft des Films, Konstanz, UVK 2007; Pina Bauschs Inszenierung des Le Sacre du Printemps. Eine Fallanalyse zur Soziologie symbolischer Formen und ritueller Ordnungen (mit JÜfgen Raab), in: Gabrie1e Brandtstetter und Gabrie1e Klein (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanalysen zu Pina Bauschs "Le Sacre du Printemps", Bielefeld, transcript 2007, S. 197-214; Sozialwissenschaftliche Hermeneutik. In: Uwe Flick, Ernst von Kardorff, Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch. 6. durchgesehene und aktualisierte Auflage. Rowohlts Enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 2008, Rowohlt, Kap. 3.5, S. 164175; Symbolische Präsenz: unmittelbare Vermittlung - zur Wirkung von
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Symbolen. In: JÜfgen Raab et al. (Hrsg.): Phänomenologie und Soziologie. Theoretische Positionen, aktuelle Problemfelder und empirische Umsetzungen. Wiesbaden, VS Verlag 2008, S. 53-64; Mittendrin im Abseits. Ethnische Gruppenbeziehungen im lokalen Kontext. Hg. mit Sighard Neckei, Wiesbaden, VS Verlag 2008; Posttraditionale Migranten. Ein moderner Typus der Vergemeinschaftung (mit Darius Zifonun), in: Ronald Hitzler et al. (Hg.): Posttraditionale Gemeinschaften. Theoretische und ethnografische Erkundungen. Wiesbaden, VS Verlag 2008, S. 285-309; Rituale - kalkuliertes Risiko und riskantes Kalkül. Zur pragmatischen Ästhetik von Ritualen. In: Renate Schlesier, Ulrike Zellmann (Hrsg.): Ritual als provoziertes Risiko, Würzburg, Königshausen & Neumann 2009; Symbolkonkurrenzen und kommunikative Leerstellen. Wolframs Parzival: Ein Prototyp auf der Suche nach seinem Standort. In: Peter Strohschneider (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation im Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin/ New York, de Gruyter 2009, S. 161-183; Klimakulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel. Hg. mit Harald Welzer und Dana Giesecke: Frankfurt a. M./New York, Campus 2010. Prof. em. Dr. Heinrich Freiherr von Stietencron, geb. 1933. Professor emeritus für Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft, Universität Tübingen. Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften Ehrenmitglied, Societe Asiatique, Paris. 2004 vom Präsidenten Indiens ausgezeichnet mit der Ehrung ,,Padmashree". Studium in München und London, Promotion in München 1965, Habilitation in Heidelberg 1970; Ordinarius für Indologie und Vergleichende Religionsgeschichte in Tübingen 1973-1998, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte (DVRG) 1980-1993, Vorsitzender des Instituts für Historische Anthropologie 1982-1991, Mitglied der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (DMG) 1970-2008; Gastprofessuren in Philadelphia 1983-84, Rom 1989, Paris 1993; Zahlreiche Forschungsaufenthalte in Indien. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Allgemeine Religionsgeschichte, Kulturgeschichte Indiens. Veröffentlichungen u.a.: The Oxford India Hinduism Reader (Co-ed., co-author) Oxford Delhi 2007, Hindu Myth, Hindu History: Religion, Art, Politics. Delhi: Permanent Black, 2005, Der Hinduismus, Beck Reihe Wissen, 2000, Der Begriff der Religion. (Co-Autor, W. Kerber Hrsg.) 1993, Angst und Religion (Herausgeber, Co-Autor) 1991, Das alte Indien (mit G. Franz et al.) 1990, Theologen und Theologien in verschiedenen Kulturkreisen. (Herausgeber, co-Autor) 1986, Christentum und Weltreligionen (mit Hans Koog et al.) 1984, The Cult ofJagannath
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and the Regional Tradition ofOrissa (mit Kulke, et al.) 1978, Ganga und Yamuna 1972, Indische Sonnenpriester 1966 Prof. em. Dr. Alfons Weiser, geb. 1934. Studium der Philosophie und Theologie in Vallendar und Würzburg, Promotion zum Dr. theol. an der Universität Würzburg über ein Thema aus der Gleichnisforschung, von 1970 bis 1975 Dozent und von 1975 bis 2002 Professor für Neutestamentliche Exegese an der PhilosophischTheologischen Fakultät der Gesellschaft des Katholischen Apostolates (Pallottiner) in Vallendar. Mitglied der Societas Novi Testamenti Studiorum und der Arbeitsgemeinschaft Katholischer Neutestamentler. Veröffentlichungen u.a.: Die Knechtsgleichnisse der synoptischen Evangelien, München 1971; Jesus- Gottes Sohn?, Stuttgart 1973 (31975); Was die Bibel Wunder nennt, Stuttgart 1975 (71988; übersetzt ins Portugiesische, Spanische, Niederländische, Italienische, Koreanische); Zentrale Themen des Neuen Testamentes, Donauwörth 1978 (31986); Die Apostelgeschichte, 2 Bde., GüterslohIWürzburg, 1981/1985; Miteinander Gemeinde werden, Stuttgart 1987 (21992); Studien zu Christsein und Kirche (gesammelte Aufsätze), Stuttgart 1990; Theologie des Neuen Testaments. Die Theologie der Evangelien, Stuttgart 1993; Die gesellschaftliche Verantwortung der Christen nach den Pastoralbriefen, Stuttgart 1994; Der zweite Briefan Timotheus, N eukirchen-Vluyn/Düsseldorf2003. Herausgeberschaft: Mitverantwortung aller in der Kirche (zusammen mit F. Courth), Limburg 1985; Dialog in der Kirche (zusammen mit E. Leuninger), Limburg 1992).