Klaus Kordon
oder 10 Tage wie ein Jahr
Spectrum Verlag Stuttgart · Salzburg · Zürich
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Klaus Kordon
oder 10 Tage wie ein Jahr
Spectrum Verlag Stuttgart · Salzburg · Zürich
Book-FreewareZ ©2004
© 1978 by Spectrum Verlag Stuttgart Alle Rechte vorbehalten Einbandgestaltung Karlheinz Groß Satz: Bauer & Bökeler Filmsatz KG. Denkendorf Druck und buchb. Verarbeitung: W. Röck, Weinsberg ISBN 3-7976-1302-4
1. Kapitel Freitag, der 14. November »Ich will dir die Wahrheit sagen.« Die alte Dame strich verlegen ein paar Krümel vom Küchentisch. »Ich habe dich nicht zufällig gebeten, mir die Tasche zu tragen. Ich habe auch nicht soviel gekauft, weil mich die Musik im Supermarkt so bedudelt hätte.« Sie schüttelte heftig den Kopf und sah dann ihren Mann an, als wolle sie ihn ermahnen, nun endlich auch einmal etwas zu sagen. »Nee, nee, das war alles Absicht gewesen. Wir beide, der Paule und ich … na ja, wir hatten so eine Art Attentat auf dich vor.« Und das mußte ausgerechnet ihm passieren! Henner wußte nicht, was diese ›Oma Peschke‹ mit ihm vorhatte, aber etwas Gutes konnte es auf keinen Fall sein. Jetzt legte Paule, ihr Mann, sozusagen ›Opa Peschke‹, los. »Also, um die Sache kurz zu machen – alte Weiber reden viel und sagen wenig – es ist so: Die Lisa ist neunundsechzig, ich bin achtundsiebzig. Wir schaffen es beide nicht mehr, die verdammten Kohlen aus dem Keller zu holen. Vier Treppen sind vier Treppen und achtundsiebzig Jahre sind achtundsiebzig Jahre. Mit dem Kopp durch die Wand nützt da gar nichts.« Henner besah sich den Opa näher. Der alte Knabe erinnerte ihn irgendwie an einen Typ im 4
Physikbuch. Ach ja, Albert Einstein. Lange weiße Haare, weißer Schnurrbart und sogar der Rollkragen-Pullover – genau wie auf dem Bild. Der Opa nippte an seinem Rotwein. Er sah Henner über das Glas hinweg an. Original Einstein! Die gleichen sanften, dunklen Augen. Henner war beeindruckt. Alles was recht ist, der gefiel ihm. Paul Peschke stellte sein Glas zurück. »Auf den Wein und auf die Zijarre und auf das Hähnchen sonntags wollen Lisa und ich die letzten paar Jahre nicht mehr verzichten. Wenn wir tiefer ziehen, ins Parterre oder so, dann wird die Miete teurer, und das bißken Spaß an der Freude jeht auch noch futsch. Verstehste? Anstatt hundert Mark mehr Miete, würden wir janz jerne einem Jungen – so in deinem Alter – ’n bißchen was zahlen. Für’s Kohlenholen. So drei Mark – einmal die Woche. Einverstanden?« Henner schwieg. Das also steckte dahinter. Deshalb der Rotwein und die Witzchen vorhin. Die beiden waren nicht aus Blödmannshausen. Ganz schön raffiniert, wie sie ihn in ihre Bude gelockt hatten. Warum mußte er aber auch den netten Jungen von nebenan spielen, den Strahlemann aus der Samstag-Nachmittags-Familienserie? Mein gutes Werk für heute! Schöne Scheiße! Jetzt saß er da wie’n Laubfrosch in der Wüste. »Also, Paule, so kurz kannst du es nun auch wieder nicht machen.« Oma Peschke sah ihren Paule unwillig an. »Laß mich doch erst einmal erzählen, 5
wie ich gerade auf ihn gekommen bin.« Sie wandte sich an Henner. »Ich habe fast eine ganze Stunde auf der Straße gestanden und mir die jungen Burschen betrachtet, die da so vorbeikamen. Entweder waren mir die Herren Junioren zu alt oder zu jung, zu vergammelt oder zu fein. Und dann kamst du daher. Schmutzigblond, grauäugig, mürrisch, die Hände in den Taschen deiner zerknautschten Amijacke vergraben und mit dir und der Welt unzufrieden.« Henner blinzelte durch die Wolken. Sah er so aus? Oder scherzte die Oma? Unzufrieden könnte stimmen. Weshalb sollte er auch zufrieden aussehen? Nur Blöde oder Glückspilze sahen zufrieden aus. Er war weder Goofy noch Gustav Gans. »Ja, mein Junge. So siehst du aus.« Oma Peschke sagte das, und ihr Ton ließ keinerlei Zweifel aufkommen. »Ich dachte sofort: Der Junge ist in Ordnung. Wer so aussieht, hat Probleme. Und wer Probleme hat – denkt nach. Wer nachdenkt, ist nicht schlecht. Das kannst du mir ruhig glauben. Mit neunundsechzig hat man ’n bißchen Menschenkenntnis.« Opa Peschke hüstelte zwinkernd. Aber er dementierte nicht. Zumindest nicht laut. »Huste du nur, du oller Miesmacher.« Oma Peschke ließ sich nicht beirren. »Und als ich dich fragte, Junge, ob du mir die Tasche trägst, hast du mich so verdattert angesehen, daß ich mir gleich sagte: Der Junge hat einen guten Kern, aber alten 6
Omas die Tasche hat er bisher noch nicht getragen.« Henner schwieg. Was sollte er dazu sagen? War er auf der Welt, alten Leuten die Taschen zu tragen? War er Jesus? »Du brauchst nichts zu sagen.« Oma Peschke nahm ihm sein leeres Rotweinglas weg. »Ich verlange nicht, daß du sofort ja oder nein sagst. Wer läßt sich schon gerne mit alten Leuten ein. Wenn man jung ist, hat man andere Probleme. Ist uns klar. Leider können wir darauf nur wenig Rücksicht nehmen. Unsere Probleme sind auch nicht von schlechten Eltern.« Sie runzelte die Stirn. Henner versuchte den Blicken der alten Dame auszuweichen. Nur verstohlen sah er ab und zu zu ihr hinüber. Sie war ziemlich klein und so schmal wie ein zwölfjähriges Mädchen. Alles an ihr wirkte zart und zerbrechlich. Bis auf die Augen, die strotzten nur so vor Kraft und Lebendigkeit. Wenn diese Oma einen anblickte, hatte man das Gefühl, sie sah, was man zuletzt gefrühstückt hatte. Am umwerfendsten aber war die Stimme. Er kannte eine Menge Frauen, die einem die Ohren mit allem möglichen Zeug vollquasselten. Die fielen ihm meist schon nach zwei Sätzen auf den Wecker. Mutter zum Beispiel. Und Mutters Kundschaft natürlich. Aber diese Oma … Richtig angenehm. Bei der brauchte man sich nicht die Taschen zuzunähen. Da konnte man ruhig mal lauschen. »Wie heißt du denn überhaupt?« Ihre weiße 7
Stirn, die etwas Samtartiges an sich hatte, glättete sich langsam wieder. »Henner. Henner Brinkmann.« »Und wie alt bist du?« »Vierzehn, fast fünfzehn.« »Vierzehn?! So so! Fast fünfzehn!« wiederholte Opa Peschke. »Na, dann jibt’s ja bald Rente, was?« »Quatschkopf!« Oma Peschke lachte. Auch Henner konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Nimm es Paule nicht übel, der quatscht den ganzen Tag so ein Zeug.« »Wohnst du in der Nähe?« forschte sie weiter. »Burgallee zwölf«, antwortete Henner. Sein Grinsen verschwand. Wozu mußte sie denn das nun wieder wissen? »Na, das ist ja nur zwei Straßen weiter.« Die Auskunft schien sie zu befriedigen. Auch Opa Peschke nippelte wieder zufrieden an seinem Weinglas. Wenn er so seine Nase über den Rand verschwinden ließ, sah er noch ›einsteiniger‹ aus. Die beiden alten Leutchen waren klasse. Henner wunderte sich über sich selbst. Er hatte noch nie mit alten Leuten zu tun gehabt. Er kannte weder Opa noch Oma. Und wenn er mal welchen begegnet war, meist im Sommer, wenn die Tattergreise im Park Skat kloppten, hatte er sie nie ganz ernst genommen. ›Die Scheintoten spielen um die Särge‹, so machten sich die Jungen über die ewige Skatspielerei lustig. Oma Peschke stand auf. »So, mein Junge, jetzt 8
bist du entlassen.« Sie marschierte in ihrem etwas altmodisch Geblümten an Henner vorbei und öffnete die Wohnungstür. »Wenn du mit unserem Vorschlag einverstanden bist, sehen wir dich Montagnachmittag wieder. Wenn nicht – dann nicht. Böse sind wir dir auch nicht. Also, überleg es dir!« Langsam stieg Henner die Treppe herab. Er schüttelte den Kopf. Junge, Junge! Das war ja fast ein Rausschmiß. Erst Liebe, dann Hiebe. Er schüttelte noch einmal den Kopf. Nee, das hatte er noch nicht erlebt. Vor der Haustür empfing ihn ein kühler Wind. Er zog den Reißverschluß bis unters Kinn, vergrub die Hände in den Taschen und wanderte langsam die Straße entlang. Diese Alten waren Typen! Wenn du willst – komm, wenn nicht – bleib! Was hatte die Oma gesagt? Schmutzigblond, grauäugig, mürrisch und unzufrieden? War er das? Wahrscheinlich ja. Wie hatte die das so schnell herausgefunden? Natürlich würde er am Montag nicht hingehen. Er konnte sich doch nicht blamieren. Wenn das die Klasse herausbekam! Er, ausgerechnet er und alten Leuten die Kohlen schleppen! Die würden sich totlachen. Und mit Recht! Obwohl – ein ungutes Gefühl hatte er ja. Die Alten waren wirklich in Ordnung. Sie konnten einem beinahe leid tun. Daß die solche Fallen stel9
len mußten? Aber was soll’s? Es half ja alles nichts. Auch ein schlechter Ruf verpflichtet. Henner grinste. Wenn er nichts hatte, einen ›schönen schlechten Ruf‹, den hatte er. Zum Kotzen schön.
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2. Kapitel Samstag, der 15. November I Henner drehte sich zu Pipo herum. »Zum Kotzen, Herr Major!« Dann sah er auf seine Uhr. »Das Mistvieh geht nach.« Die Reuter-Show nahm und nahm kein Ende. Pipo zuckte die Achseln. Er empfand das nicht ganz so. Henner winkte ab, lehnte sich weit in der Bank zurück und stöhnte »Schöne Scheiße«. Scheiße war Henners Lieblingswort. Er fand, mit diesem einen Wort konnte man, wenn man etwas von der Betonung verstand, alles ausdrükken. Enttäuschung, Ärger, Wut, Schadenfreude, Triumph und Verachtung. Welches Wort konnte das noch? Gleich danach kam ›Kotzen‹. Wenn etwas zum Kotzen war, dann war damit doch alles gesagt. Wie sollte man seinem Ekel, seiner Abneigung vor bestimmten Dingen, besser Ausdruck verleihen? Chemieunterricht war zum Kotzen. Schwefelwasserstoff? Ach, du liebe Scheiße! Genüßlich wie immer malte Reuter, das ›lange dünne Ding‹, eine Formel nach der anderen an die Tafel. Nur die wenigsten konnten ihm folgen. Henner schon gar nicht. Schade um die Zeit, die man vertrödelte. 11
Reuter in der 9 b, das hieß, Perlen vor die Säue gestreut. Der Perlenspender war Reuter, die Säue die Klasse. Zwar tat Reuter, wenn er einen neuen Stoff in Angriff nahm, jedesmal, als würde er bei Adam und Eva beginnen, damit auch ja jeder mitkam. Aber der Erfolg war mäßig. Spätestens nach zehn Minuten vergaß er alle guten Vorsätze und meistens auch die gähnende Klasse. Der Mann gehörte in ein Forschungsinstitut oder nach Cap Canaveral, aber niemals vor die 9 b. Nur gut, daß er wenigstens einen tröstlichen Charakterzug sein eigen nannte: Humor. Vor ein paar Jahren hatte er, wie immer im Säuglingsjargon beginnend, Pipo gebeten, mit ganz einfachen Worten einen Hebel zu beschreiben. Pipo, bei Reuter noch einer der Besten, hatte das mit den Worten getan: »Ein Hebel? Ein Hebel ist ein langes, dünnes Ding.« Daraufhin hatte Reuter gegrinst und gefragt: »Bin ich etwa ein Hebel?« Und seitdem hieß er nur noch ›das lange dünne Ding.‹ Aber Reuter hatte noch einen guten Zug an sich: Wer nicht wollte, der brauchte nicht. Den ließ er einfach links liegen. Er zwang niemanden, sich für seine Fächer zu interessieren. Henner war ihm mehr als nur dankbar dafür. Für ihn bedeutete es eine Riesenstrapaze, in Chemie und Physik Aufmerksamkeit zu heucheln. 12
Der Käse interessierte ihn doch gar nicht. Ihn konnte doch nicht alles aufregen. Reuter aber regte ihn auf. Im positiven Sinne. Der Mann war fabelhaft. Kein sturer Pauker, ein echter Wissenschaftler. Wer sich für Chemie oder Physik interessierte, konnte eine Menge bei ihm lernen. Henners Stärken lagen in Deutsch, Geschichte, Geographie und Englisch. Mathe und Bio gingen ja noch an, aber Chemie und Physik – das letzte, das allerletzte! Schade, daß Reuter kein Deutsch gab. Wozu mußte er sich mit diesem Formelkram vollstopfen? HCL und H2 SO3 und Kohlenmonoxyd und stechometrische Rechnungen – nie würde er sich in dem vielzitierten späteren Leben, für das er ja, wie es hieß, auf der Penne hockte, mit dem Quatsch beschäftigen. Ihn interessierte das trockene Zeug nicht, ihn interessierte das Leben. Journalist wollte er werden. Kein Labormuffel. Pipo, ja der brauchte das. Der wollte schließlich Ingenieur werden. Aber er, Henner, das stand für ihn fest, würde bei der Zeitung landen. Ob als Journalist, als Fotograf oder notfalls auch nur als Drucker – ganz egal wie oder was – er würde zur Zeitung gehen. Die Zeitungen hielten das Leben fest. Bei der Zeitung erfuhr man, was los war. Da sah man durch. Da machte man mit. Henner drehte sich wieder zu dem kleinen, blassen Peter Piepenhagen herum. Er zeigte ihm an: Noch fünf Minuten! Pipo nickte verständnisvoll. 13
Er kannte Henners Qualen. Pipo hatte sogenannte Glasknochen. Er hatte sich schon -zigmal die Arme und Beine gebrochen. Es verging kein Jahr, ohne daß Pipo nicht für ein paar Wochen ins Krankenhaus ging. Dort büffelte er dann wie ein Weltmeister und war, wenn er wiederkam, besser als alle anderen. Pipo und Henner, das war ein Kapitel für sich: Pipo war der einzige in der Klasse, mit dem Henner befreundet war. Im Laufe der Schuljahre war er zu einer Art ›ständiger Begleiter‹ seines von ihm bewunderten Freundes Henner geworden. Alle anderen achteten Henner – schließlich war er kein Schwächling, die sich mit ihm angelegt hatten, konnten das bezeugen – aber besonders leiden mochte ihn keiner. Henner wußte, daß die Jungen ihn unter sich ›Henner, den Penner‹ nannten. Es machte ihm auch allerhand aus – so ehrlich war er schon – aber was konnte er dagegen tun? Laut sagte es niemand, wenn er in der Nähe war. Er wäre ein Einzelgänger, hieß es, O.K.! Er litt nicht darunter. Den Spitznamen hatte man ihm in der zweiten Klasse verliehen. Damals hatte er der Mutter einen Fünfzig-Mark-Schein aus dem Portemonnaie genommen und in der Klasse damit geprahlt. Natürlich war die Sache aufgeflogen und herausgekommen, daß er Mutter nicht zum ersten Mal beklaut hatte. Alle, selbst die Lehrer hatten ihn 14
fortan behandelt, als sei er ein kleiner Verbrecher. Es hatte Jahre gedauert, bis Gras darüber gewachsen war. Im Unterbewußtsein war es aber wohl doch nicht ausgelöscht. Und geblieben war der Spitzname. Warum er das als Achtjähriger getan hatte? Er glaubte es jetzt zu wissen. Aber heute interessierte es die Leute noch weniger als damals. Er war abgestempelt. Peng! Henner, der Penner. Mit Porto! Möglichst weit weg. Daran war nichts zu ändern. Besonders schön fand er es nicht, aber es war nun einmal so. Und er meinte nicht, daß es besser wäre, so wie die anderen zu sein. Schön, manchmal hatte er sich gewünscht, ein Musterathlet wie Joker zu sein. Hundert Meter in 11,7. Phantastische Leistung. Henner brachte es nur auf 13,9 – wenn er seinen allerbesten Tag hatte. Wenn es um ein Fußball-, Volley- oder Handballspiel ging und die Parteien ausgelost wurden, fiel als erstes immer Jokers Name. Er war wirklich der Joker. Man konnte sich darauf verlassen. Jokers Truppe gewann fast immer. Und dabei bildete sich dieser Typ noch nicht einmal etwas darauf ein. Und gut sah er aus, zum Kotzen gut. Dort in der dritten Reihe saß er, dunkelhaarig, braungebrannt und athletisch – Hartwig John. Vater Schuhhausbesitzer mit Villa am Stadtrand. Ohne Fehl und Tadel. Der Liebling der Lehrer, der Jungen und – der Mädchen. Ein wahres Wunderwerk der 15
menschlichen Entwicklungsgeschichte. Nicht zu überbieten. Marion, die eine Reihe vor ihm saß, konnte seine Schwester sein. Genauso dunkel, genauso braun. Nur nicht so sportlich. Fräulein Fehlhagen war mehr ›musisch‹ begabt. Na ja, kein Wunder. Der alte Fehlhagen, schon in den Sechzigern, war nicht umsonst Stadtrat für Kultur. Noch immer ein gutaussehender Mann, sagte Mutter. Vater nannte ihn nur den ›Silberlöwen‹. Henner stand auf Marion. Schon ewig. Er bewunderte sie. Er träumte von ihr, wie von etwas Unerreichbarem. Sie war es ja auch. Für ihn jedenfalls. Sie hatte ihn einmal einen ›unerfreulichen Kerl‹ genannt, als er ihren zwei Jahre älteren Bruder auf dem Schulhof verprügelt hatte. Was für ein Ausdruck: ›Unerfreulicher Kerl‹. Typisch musisch. Gerd, das nicht ganz so von Fortuna gesegnete Brüderchen, hatte gesagt, Henner solle ihm die Adresse seiner Mutter geben, die wäre ja noch ganz gut beieinander. Gerds Freunde hatten erst gejohlt und weitere genießerische Bemerkungen gemacht, dann aber betroffen geschwiegen. Wenn er wollte, konnte Henner wunderschön wütend werden. Und er verstand es, seine Wut keinen Hemmungen zu unterwerfen. So wie Marion hatten auch die anderen Mädchen nichts für ihn übrig. Mit einer Ausnahme: Antje. Sportlich gesehen war Antje unter den Mädchen 16
das, was Joker unter den Jungen war – eine Ausnahmeerscheinung. Sie konnte alles, war im Sportclub die Kanone ihrer Altersklasse und hatte sogar schon einmal von der Sportseite des ›Kuriers‹ heruntergelächelt. Aber Antje war ein Kumpel und kein Mädchen. Sie ging nicht unter die Haut. Ein dufter Kumpel! Groß und schlank und nicht aus Marzipan. Ein Typ zum auf die Schulter klopfen. Sie hatte genauso schmutzigblonde Haare wie er, nur länger, eine gerade kräftige Nase und ein energisches Kinn. Die Jungen meinten, ›Die wird einmal ein Besen. Wer die bekommt, hat nichts zu lachen.‹ Henner glaubte das auch. Aber das ging ihn nichts an. Er wollte sie ja nicht heiraten. Als Kumpel war sie klasse. Das Klingelzeichen! Uff! Das war geschafft. »Pipo, kommst du mit?« Es war mehr eine Aufforderung als eine Frage. Pipo nickte. Er war stolz auf Henner. Daß der gerade ihn bevorzugte?! Henner hatte einmal vor allen anderen verkündet, er, Pipo, wäre der einzige in der Klasse, mit dem es sich lohnte, ein Gespräch zu führen. Alle anderen hätten ja doch nur Fußball, Mädchen und Mofas im Kopf. Das war zwar schon lange her, aber trotzdem: Henner war ein Prachtkerl.
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II »Warum willst du denn schon wieder zu Vater? Du warst doch erst vorigen Sonntag dort.« Mutter stand in Stiefeln und Unterwäsche vor dem Schrank und wühlte in ihren Kleidern. »Wir wollen doch weiter am Schuppen bauen.« Henner blätterte, bäuchlings auf der Couch liegend, in den Modeillustrierten, die in ausreichender Anzahl auf dem kleinen Couchtisch verstreut lagen. ›Die neue Frühjahrskollektion ist ein Traum‹, hatte Mutter gesagt. ›Die Leute werden die Shops stürmen.‹ Mutter und ihre Shops! Aber immerhin – Modeillustrierte waren schließlich auch Zeitungen. Rein technisch gesehen meist ganz gut aufgemacht. Aber sonst? Dornröschens Klolektüre. »Was heißt hier: Ihr wollt?« Mutter hatte endlich ein passendes Kleid gefunden. Ein langes, grünes Samtkleid, mit einem schmalen, aber tiefen Ausschnitt. »Er will! Du kannst mir doch nicht erzählen, daß du gerne an dieser Bretterbude mitbastelst.« »Was soll ich denn machen? Ich kann doch nicht ablehnen, wenn er mich fragt, ob ich ihm helfe.« Mutter streifte das Kleid über und zupfte vor dem Spiegel an ihren kurzen braunen Haaren herum. Das Kleid stand ihr ausgezeichnet. Wie fünfunddreißig sah sie wirklich noch nicht aus. »Ich sage es ja. Dein Vater ist ein Egoist. Der 18
denkt nur an sich. So war er früher schon. Es klingt zwar hart, aber ich bin froh, daß ich ihn los bin.« Den Kopf etwas vorgestreckt, zog sie ihre Augenbrauen nach. Sie hatte wunderschöne Augen. Überhaupt, was Mutters Erscheinung betraf, konnte man zufrieden sein. Wenn sie sich nur nicht immer noch jugendlicher geben würde, als sie ohnehin schon aussah. Manchmal war es direkt Kirchenschändung. Sie sah aus wie Hänsel und Gretel zusammen. Vielleicht florierten deshalb ihre beiden Modeboutiquen so gut. Sie hatte aber auch eine Art, die Kunden zu bedienen. Die geborene Verkäuferin. Ja, tüchtig war sie schon. Vielleicht ein bißchen zu tüchtig. Ganz unrecht hatte Marions Bruder damals nicht gehabt. Wenn Henner sie in ihren hautengen Hosen und knappen Pullis wie eine aus der elften Klasse vom Einkaufen kommen sah und manche Männer sich grinsend nach ihr umdrehten, sich anstießen oder Bemerkungen machten, dann wäre er oftmals am liebsten an ihr vorbeigegangen. Mutter aber fühlte sich geschmeichelt: ›Man ist so jung, wie man aussieht.‹ Genaugenommen war Gerds Reaktion auf Mutter völlig normal, zum Kotzen normal. »Warum sagst du so oft, daß du froh bist, ihn los zu sein?« Henners Stimme klang böse. »Du bist ihn doch nun schon elf Jahre lang los.« »Da kann man gar nicht genug froh drüber sein.« Mutter zog ihren Wildledermantel über. »Neu! 19
Aus Paris. Teures Geld gekostet.« »Laß doch mal den blöden Mantel.« Auf Mutter wirkten Klamotten wie Rauschgift. »Wieso habt ihr überhaupt geheiratet, wenn ihr euch doch so gar nicht ausstehen könnt?« »Ach, weißt du, dein Vater war ja zu seiner Zeit ein gutaussehender Mann. Wir waren jung, dumm und verliebt. Na ja, und dann kamst du. Da haben wir eben geheiratet. Wenn ich heute so daran zurückdenke: Die große Liebe war es eigentlich nie.« »Aber dieser Klimpermaxe, das ist die große Liebe, was?« Henner sprang auf und ging ans Fenster. Er haßte es, wenn Mutter so von Vater sprach. ›Er war zu seiner Zeit ein gutaussehender Mann.‹ Als ob er tot wäre. »Sprich nicht so von Herrn Borkenhausen.« Mutter zündete sich – wie immer, wenn sie einen Disput herannahen sah – eine ihrer blumigen Zigaretten an. »Ich habe dir schon hundertmal gesagt, du sollst nicht in solch einem Ton von Herrn Borkenhausen sprechen. Herr Borkenhausen …« »… ist ein sehr angenehmer Mensch und ausgezeichneter Pianist. Ja, ich kenne die Litanei. Sag endlich mal was anderes. Warum heiratest du den angenehmen Menschen nicht? Warum spielt ihr ewig die Frischverlobten?« »Du hast kein Recht, mir diese Frage zu stellen!« Mutter wurde etwas lauter. »Du bist noch nicht trocken hinter den Ohren und bildest dir ein, du hättest Ahnung vom Leben. Keinen Schimmer 20
hast du! Du kannst von Herrn Borkenhausen denken, was du willst, aber eines merke dir: Ich lasse mir von dir in mein Leben nicht hineinreden.« »Dein Leben! Dein Leben!« äffte Henner sie nach. »Und wer spricht von meinem Leben? Kein Schwein.« Das war ja wieder mal – zum Scheiße schreien! Immer dasselbe. Er drehte sich um, ging in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Wer sollte das nur aushalten?! Jedes vernünftige Gespräch endete so. Wenn er mit Mutter in Frieden leben wollte, durfte er nur Blabla machen. Es war zum Kotzen! Und alles wegen diesem Typ, diesem Borkenhausen. »Henner!« Mutter stand in der Tür. Ihr Gesicht glühte, ihre Augen funkelten. »Ich sage es dir zum letzten Mal: In vier oder fünf Jahren verläßt du mich. Da gehst du irgendwohin und läßt dich kaum noch sehen. Meinst du, ich will dann dasitzen wie bestellt und nicht abgeholt?« Sie zog aufgeregt an ihrer Zigarette. »Ich muß mein Leben führen, so wie du einst deins führen wirst. Ich bin mir zu jung zum Versauern. Ich habe keine besonders schöne Jugend gehabt …« Ach, du liebe Scheiße! Jetzt kam wieder die Puppenarie. Ihre Puppe! Diese beschissene Puppe, die ihn von frühester Kindheit an begleitete. Immer wieder erzählte sie ihm, daß sie als Kind nur eine einzige, eine alte zerfranste Puppe besessen hätte. Weiter nichts! Bis zu ihrem dreizehnten Lebensjahr. Dann mußte das Kind aus der Flüchtlingsbaracke 21
eine Lehrstelle annehmen. Und da gab es auch nichts zu lachen. Er kannte die Arie. Er konnte sie vorwärts und rückwärts singen. Die Story kotzte ihn an. Was hatte er damit zu tun? Sollte er jetzt seinen Kopf dafür hinhalten? Sollte er sie bis ins hohe Alter bedauern, weil sie nur eine alte, speckige Puppe gehabt hatte? Nee, man muß auch verzichten können. »Ich habe heute meine beiden Shops und eine Menge zu tun. Herr Borkenhausen ist ein Mensch, den ich gern habe. In meinem Alter will man noch etwas haben vom Leben. Das steht mir zu. Verstehst du? Und dazu gehört nun einmal ein Mann. Wenn du fragst, warum ich ihn nicht heirate, dann muß ich dir leider sagen, daß ich von der Heiraterei vorläufig die Nase voll habe. So schnell gebe ich meine Freiheit nicht wieder auf.« Sie zögerte kurz. »Das nächste Mal will ich genau wissen, wen ich heirate.« »Ach so!« Henner lachte gehässig. Er übertrieb absichtlich. »Du probierst ihn erst aus. Und das seit drei Jahren. Ziemlich lange Garantiezeit, finde ich.« »Henner!« Mutters Stimme überschlug sich. »Du bist genau wie dein Vater. Genauso … roh und egoistisch. Ein echter Brinkmann.« »Besser als ein echter Borkenhausen.« Henner ging tänzelnd im Zimmer auf und ab. Er ahmte Herrn Borkenhausen nach, diesen ›Schöngeist‹, der abends im Stadttheater in die Tasten hieb, 22
wenn ein Musikstück auf dem Programm stand. Der Typ war ein Küüünstler! ›Hallo Henner! Wie geht’s uns denn heute? In der Schule alles klar? Ach, da bist du ja, Kleine. Mmphh. Gut schaust aus. Wie dir das steht! Keiner kann so was tragen, nur du!‹ Die Tür flog zu. Henner hörte, wie Mutter das Wohnzimmer durchquerte. Die Wohnungstür fiel krachend ins Schloß. Gerda Brinkmanns großer Abgang! So endete es jedesmal. Bis zum da capo. Er warf sich auf seine Couch. Wozu sich aufregen? Die Abstände der Auftritte wurden immer kürzer. Ändern würde sich daran sowieso nichts mehr. Horror ohne Ende. Wie sollte er die nächsten Jahre überstehen? Schöne Scheiße!
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3. Kapitel Sonntag, der 16. November I »Reich mir mal den Hobel, Henner.« Vater nahm ein Brett auf und legte es quer über die beiden Holzböcke. »Deine Mutter ist eine Modepuppe, mein Junge. Es tut mir leid, aber es ist so. Schön anzusehen, aber innen hohl. Alles, was du mir erzählt hast, ist typisch für sie. Ihr eigenes Leben leben! Das wollte sie schon immer. Als ich damals mein Büro aufbaute und nicht viel Zeit für euch beide hatte, hat sie auch so geredet. Ich würde ihr Leben zerstören. Ich! Ausgerechnet ich, der ich gerade dabei war, uns ein Leben aufzubauen.« Vater nahm die Pfeife aus dem Mund. »Sie hatte doch dich. Du warst noch klein. War es da so schlimm, wenn ich oftmals erst abends um neun oder um zehn nach Hause kam? Aller Anfang ist schwer und kostet Zeit. Sie aber wollte in Saus und Braus leben und trotzdem ständig den Mann um sich haben. Ja, verdammt, ich bin doch kein Schnurrkätzchen, das ewig auf der Couch herumliegt, oder?« Henner grinste. Nein, ein Schnurrkätzchen war Vater nicht. Er sah gut aus. Männlich war er. Er hatte volles Haar, eine große gerade Nase und kühl 24
blickende graue Augen. Es hieß, Rolf und Henner Brinkmann sähen einander ähnlich. Henner hatte nichts dagegen. Vater konnte sich sehenlassen. Ganz anders als Mutters Borkenhausen. »Ein Mann muß ein Ziel haben, eine Aufgabe, verstehst du? Er kann sich nicht zu Hause verkriechen. Wenn eine Frau das nicht versteht, darf sie nicht heiraten. Höchstens einen Playboy.« Rolf Brinkmann fuhr prüfend mit der Hand über die gehobelte Stelle. Er nickte zufrieden. »Glatt wie ein Kinderpopo.« »Als wir uns scheiden ließen, wollte ich dich mit zu mir nehmen. Aber das Gericht sprach dich der Mutter zu. Das ist fast immer so. Es ist zwar ungerecht, aber nicht zu ändern.« Der Vater nahm das Brett hoch und befestigte es mit kurzen, harten Hammerschlägen an der noch offenen Rückwand des Schuppens. Henner reichte ihm die Nägel. »Auf einmal warst du ihr sooo wichtig. Vorher warst du nicht genug, um den Tag auszufüllen. Na ja, was soll’s. Es ist alles gekommen, wie es gekommen ist.« Der Vater stand auf und sah auf die Uhr. »Gehen wir essen. Es ist soweit. Almut ist immer superpünktlich.« Schweigend gingen sie durch den Garten. Vor der Verandatür des ockerfarbenen Einfamilienhauses blieb der Vater noch einmal kurz stehen. »Du weißt ja, wenn du willst, kannst du sofort zu 25
uns kommen. Heute ist die Sachlage anders als damals. Du kannst den Mund aufmachen und dich selbst äußern. Du bist nicht mehr drei Jahre alt. Und außerdem weiß die ganze Stadt von dem Verhältnis deiner Mutter zu diesem Klimpermaxe.« Henner schwieg. Der Vater schlug nicht zum ersten Mal vor, die Fronten zu wechseln.
II Vater hatte auch keine leichte Jugend gehabt. Aber im Gegensatz zu Mutter sprach er nicht davon. Nur manchmal drückte er seine Zufriedenheit darüber aus, daß er es weiter gebracht hatte als die anderen Jungen aus dem evangelischen Waisenhaus. Kaum einer hatte studiert. Die meisten waren Arbeiter oder bestenfalls ›kleine‹ Angestellte geworden. Zwei Lehrer waren auch darunter. Die Kriegswaise Rolf Brinkmann aber besaß ein eigenes, gutgehendes Architekturbüro. Henner durfte Almut zu Vaters Frau sagen. Daß er Mutter nicht sagen konnte, war von Anfang an klar. Und Tante Almut hatte er nur als kleiner Junge sagen müssen. Almut war solide. ›Einen englischen Charakter‹, nannte Vater sie. Sie hatte ihm auch sein Haus in dem ihr eigenen englischen Stil eingerichtet. Sie war etwas jünger als Mutter, einunddreißig, trug stets geschmackvolle Kleider und eine korrekte, nicht zu moderne Frisur. Ihre Augen blickten 26
gleichbleibend freundlich und warm, egal ob sie ihren Mann, ihre Kinder oder ihre Möbel ansah. Es gehörte alles zusammen. ›My home is my castle.‹ Vater und Almut hatten zwei Töchter: Lilo und Biggi. Lilo war zehn Jahre alt, spielte Geige und sollte unbedingt Musik studieren. Sie war etwas bleich und hatte keinen eigenen Willen. Biggi, die kleine Ratte, war da anders. Ein achtjähriges blondes Biest. Sie konnte anstellen, was sie wollte, ihr Gesicht hatte immer den gleichen unschuldigen und erstaunten Ausdruck. Ihre Eltern waren noch nicht ganz dahintergekommen, Henner aber wußte Bescheid. ›Mach dir nur keinen Fleck ins Hemd‹, sagte er, wenn sie bei ihm die ›erstaunte Rehaugen-Masche‹ abzog. Das Mittagessen verlief wie immer. Alles war gedämpft. Gedämpfte Musik, wahrscheinlich Mozart oder Haydn, gedämpftes Licht, gedämpfte Unterhaltung und ›gedämpfte‹ Kartoffeln. Das Steak war allerdings klasse. Kochen konnte sie, die ›englische‹ Almut. Solange Henner Vater und Almut besuchte, hatte er nie erlebt, daß sich die beiden stritten. Ihre gegenseitige Zuneigung und Freundlichkeit, ihre leisen und harmonischen Töne kamen ihm manchmal unheimlich vor. Es war wie in der Kirche. Wer hier Krach schlug, war ein Fremdkörper und gehörte auf die Straße gesetzt. »Schmeckt es dir, mein Junge?« Almut sah Henner 27
an. Es schien keine bloße Höflichkeitsfloskel zu sein, so aufmerksam blickte sie. Es war aber doch eine. Sie fragte immer so bühnenreif ›echt interessiert‹. »Wen fragst du das!?« Diese ganze Atmosphäre von Feierlichkeit und Zurückhaltung belustigte ihn. Er malte sich aus, was die gute Almut für ein Gesicht machen würde, wenn er beim Essen ganz selbstverständlich einen Furz von sich geben würde. Einen richtigen Knaller und mit einem völlig harmlosen Gesicht. Der Gedanke daran war so komisch, daß er vor Lachen bald an seinem Steak erstickt wäre. »Was lachst du denn?« Der Vater schmunzelte. Er tat oft, als sei er mit Henner verbündet. Als sei er nicht der Vater, sondern der große Bruder. Vater legte Wert darauf, nicht als Autoritätsperson aufzutreten. ›Ich bin doch kein Sonntagsprediger.‹ »Ach, nichts!« Henner gluckste noch immer. »Ich habe nur an einen Witz denken müssen.« »Erzähl’ ihn.« »Doch nicht beim Essen, Rolf!« Almut schüttelte entrüstet, aber neckisch den Kopf. »Und dann vor den Kindern!« »Na, das wird ja ein belangloser sein.« Vater nickte Henner aufmunternd zu. »Gut, ich erzähle ihn.« Henner grinste Almut an. Mal sehen, wie sie reagieren würde. »Also: Zwei Betrunkene verlassen ihre Kneipe und wackeln untergehakt nach Hause. Unterwegs müssen sie … 28
na ja, lullern.« Lilo und Biggi kicherten. »Aber das ist wirklich kein Witz für den Mittagstisch.« Almut sah leicht empört ihren Mann an. Sie wirkte nicht mehr ganz so neckisch. »Nun laß ihn doch erzählen. Wenn’s weiter nichts ist.« Amüsiert blickte der Vater von Henner auf Almut und zurück. »Sie … lullern also beide. Auf einmal sagt der eine: Mensch, Emil, du lullerst ja so leise und ich so laut. Wie kommt denn das? Sagt der andere: Ist ja auch kein Wunder, hicks, du lullerst aufs Wellblech, hicks, und ich, hicks, an deinen Mantel.« Rolf Brinkmann schrie auf und schlug sich vor Begeisterung auf die Schenkel. »Der ist gut! Der ist wirklich gut, Junge.« Auch Lilo und Biggi kreischten. Almut – erst ein wenig entsetzt – lächelte nun auch. »Zu komisch, wirklich zu komisch.« Aber man sah ihr an, daß es ihr leid tat, ihre Phantasie über ihre Zurückhaltung siegen zu sehen. Nach dem Mittagessen werkelten Vater und Henner weiter am Schuppen herum. Vater erzählte dabei Witze. Und nicht nur harmlose. Henner war stolz. Vater war ein Kumpel, keine moralisierende Respektsperson. Ein schönes Gefühl, für voll genommen zu werden. Die Verabschiedung erfolgte wie immer nach dem Kaffee. 29
»Ich würde mich so freuen, wenn du für immer zu uns kommen könntest«, sagte Almut. Es war ihr ständiges Verslein. Sie sah ihren Mann dabei an, als wollte sie sagen: ›Bin ich nicht gut? Handle ich nicht immer in deinem Sinne?‹ »Weißt du, ein Junge in unserem Haus, das würde neues Leben bringen. Ich habe mir schon immer einen Jungen gewünscht.« Sie strich Henner mit ihrer zarten Hand sacht über die Wange. »Aber leider …« Es war ein angenehmes Gefühl. Henner müßte lügen, wenn er das Gegenteil behaupten wollte. Almut roch gut. Sie verstand etwas von dezenten Duftnoten. »Und am zweiten Weihnachtsfeiertag kommst du selbstverständlich zu uns.« Das war neu an ihrem Abschied. Zumindest in diesem Jahr.
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4. Kapitel Montag, der 17. November I »Henner hat sich ’ne Oma angelacht.« Wer ihn da wieder in die Pfanne gehauen hatte, war nicht mehr festzustellen. Als Henner die Schule betrat, eilte Pipo ihm schon entgegen und berichtete, daß herumerzählt würde, daß er, Henner, neuerdings alten Leuten die Tasche träge. Es wurde gemunkelt, das wäre vielleicht ein Trick, um sich irgendwo einzuschleichen, wo es was abzusahnen gäbe. Auf Henners leises »Wer hat das erzählt?« konnte Pipo nur mit den Achseln zucken. Zur Zeit zerrissen sich alle das Maul darüber. Als Henner neben Pipo die Klasse betrat, starrten alle Augen in Richtung Klassentür. Es waren neugierige, gespannte und nicht das beste vermutende Augen. Sie schienen zu sagen ›Dir trauen wir alles zu.‹ Henner stellte die Tasche auf seinen Tisch, fixierte einen nach dem anderen und fragte herausfordernd: »Wer erzählt hier Scheiße?« »Wieso?« Marion stand am Fenster und sah ihn ruhig an. »Ich habe Oma Peschke Samstag beim Bäcker getroffen. Ich kenne sie gut. Sie hat früher bei uns geputzt. Sie hat mich gefragt, ob ein gewis31
ser Henner Brinkmann in meine Klasse ginge, und gesagt, daß du so freundlich warst, ihr die Tasche zu tragen.« Marion sprach langsam und überdeutlich, wie immer. Ihre großen braunen Augen sahen Henner dabei an. »Ich find’ das echt gut von dir. Ich war nur überrascht, weil ich dir das nicht zugetraut hätte.« Was sollte man da sagen? Henner war perplex. So war das! Wieso hatte Pipo ihm das ganz anders erzählt? Und ausgerechnet Marion! Wie sie ihn ansah? So seltsam interessiert. »Wieso hast du ihm das nicht zugetraut?« Antje sah von ihrem Buch auf. Ihr Gesicht glühte. Sie hatte überhaupt nicht gelesen. An ihr war nichts Kühles und Überlegenes wie bei Marion. »Du tust ja gerade so, als wäre er ein Unmensch. Was ist denn dabei, ’ner Oma die Tasche zu tragen?« Moment mal! Henner zog die Augenbrauen zusammen. Hatten die vorhin über ihn diskutiert? Es schien ganz so, als böte er den Stoff für ein allgemeines Palaver. Joker ließ sich vernehmen: »Soll er doch mal sagen, was er mit seiner Solidaritätsaktion bezweckt hat. Ich glaube nicht ganz an die uneigennützige Hilfe.« Joker war der einzige in der Klasse, der sich solche Töne erlauben konnte. Henner und Joker hatten sich als Elfjährige einmal geschlagen. Es war ein harter Kampf gewesen. Als man sie trennte, gab es keinen Sieger, aber zwei ziemlich mitge32
nommene Jungen. Was Joker ihm an Sportlichkeit voraus hatte, ersetzte Henner durch Verbissenheit. »Sag doch, warum du der Alten geholfen hast.« Das war Antje. »Ja, sag’s.« Auch Marion nickte ihm zu. Was sollte er sagen? So ein Blödsinn! Dafür gab es keinen Grund. Sollte er sagen, daß ihn die Alte überrumpelt hatte?! »Was geht das euch an? Lest euch selber die Krümel aus dem Arsch!« Henner ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Die Angelegenheit war für ihn erledigt. Das war er. Henner, der Penner. Joker nickte zufrieden. Marion sah ihn nachdenklich an, und Antje schüttelte ärgerlich den Kopf. Mit wenigen Ausnahmen war die Klasse sich einig: Henner verfolgte ein bestimmtes Ziel mit seiner plötzlich erwachten Menschenfreundlichkeit. Und das war bestimmt kein gutes.
II »Ich wußte ja, daß du kommst.« Oma Peschke lächelte. So? Na, er, Henner, hatte es bis vor zehn Minuten nicht gewußt. Wenn er nun doch gekommen war, dann mehr aus Trotz. Er wollte es der Klasse zeigen. Und ein wenig aus Neugier. Er hätte gern gewußt, was Marion über ihn gesagt hatte. Opa Peschke machte auch ein zufriedenes Gesicht. 33
»Warte, mein Junge, ich komme mit. Keine Angst, nur heute. Unser Keller is nicht so leicht zu finden.« Auf der Treppe erzählte Herr Peschke, daß dieses Haus schon über achtzig Jahre alt sei und der Einbau einer Zentralheizung mehr kosten würde, als der jetzige Hausbesitzer zu zahlen bereit sei. »Und dann darf man natürlich auch nicht verjessen, daß ’ne Zentralheizung eine entschieden höhere Miete mit sich bringen würde. Und das Jeld is knapp, mein Junge. Je älter man wird, um so knapper wird’s. Traurig, aber wahr!« »Ich kenne welche, die werden reicher, je älter sie werden.« Henner grinste. »So, und woher kennst du die?« »Aus der Zeitung.« Opa Peschke lachte. »Du bist jut, Junge, du bist wirklich jut. Dann grüß’ deine Bekannten mal schön vom ollen Opa Peschke und fühle mal vor, ob se nicht irjendwo ’ne abjelegte Villa rumsteh’n haben.« Nachdem Henner den Verschlag unter dem Küchenfenster mit Kohlen angefüllt hatte, mußte er sich die Hände waschen und anschließend in der guten Stube der Peschkes vor einem Streuselkuchen Platz nehmen. »Ich freue mich, daß du gekommen bist«, fing Oma Peschke wieder an. »Ich traf nämlich ein Mädchen aus deiner Klasse, und die war der Meinung, das wäre bei dir nicht drin. Am Freitag, das 34
müsse ein Ausrutscher gewesen sein.« »Ah, bah, Weiber!« Paul Peschke wehrte mit der Hand irgend etwas Unsichtbares ab. »Was die schon quatschen.« Oma Peschke beachtete den Einwand nicht. »Die Marion ist kein schlechtes Mädel. Ich habe fünf Monate lang dort geputzt, damals, als Paule im Krankenhaus lag und ich vor Langeweile schon zu spinnen anfing. Aber sie ist falsch erzogen. Bei ihr muß alles gerade, sauber und adrett sein. Wer ein klein bißchen schief liegt, ist bei ihr schon gefallen. Sie würde nie jemanden stützen.« »Ich liege wohl ein bißchen schief?« Henner sah Oma Peschke an. Das Gespräch interessierte ihn. »Ja, mein Junge, irgendwo stimmt etwas nicht mit dir. Marion hat mir erzählt, daß du so eine Art Außenseiter bist.« Sie goß Henner noch etwas Kaffee nach. »Wie kann man in deinem Alter ein Außenseiter sein? Da muß doch irgend etwas schief liegen. Hab’ ich recht?« Henner spürte ihren antwortheischenden Blick. »Das stimmt!« sagte er, »aber das ist schon immer so. Ich glaube nicht, daß das was mit dem Alter zu tun hat. Wenn ich nicht dabei bin, nennen sie mich ›Henner, den Penner.‹« Opa Peschke lachte. »Das is jut. Wenn de nicht dabei bist! Haben wohl Schiß, was?« »Ach, halt den Mund, Paule Peschke. Was verstehst du davon?!« Oma Peschke hätte ihren Mann am liebsten vor die Tür gesetzt. Man sah es ihr 35
an. »Das mit dem ›Penner‹ ist wohl größtenteils wegen des Reimes. Aber hast du dir schon einmal Gedanken gemacht, warum du mit den anderen nicht klarkommst? Warum du so unzufrieden bist?« »Na klar!« Henner nickte. »Aber ich bin nicht draufgekommen. Ist wohl so eine persönliche Note von mir.« »Quatsch! Persönliche Note!« Oma Peschke machte eine ärgerliche Handbewegung. Seltsam. Wenn Mutter sich über ihn ärgerte, dann zeigte sie deutlich, wie sauer sie auf ihn war. Oma Peschke zeigte auch ihren Ärger. Aber man spürte, sie ärgerte sich nur über seine Worte, nicht über ihn. Es machte Spaß, mit den beiden Alten zusammenzusitzen. Oma Peschke stieg ein. Die sagte, was sie dachte. Ihr zuzuhören, das war … das war wie eine Live-Sendung. »Wenn Paule eine persönliche Note für sich in Anspruch nimmt, will ich’s akzeptieren. Er hat dreimal in seinem Leben vor dem Nichts gestanden, einen Weltkrieg mitgemacht und zwei Söhne verloren. So etwas formt den Menschen. Bei dir ist noch alles drin, mein Junge. Du bist wie ein junger Baum, von dem man nicht weiß, wie er sich entwickeln wird. Ob groß, gerade und kräftig oder klein, krumm und schwach. Die meisten Menschen – auch Paule und ich – sind eine brauchbare Mischung aus beidem.« Oma Peschke sah auf ihre zarten, etwas glänzenden Finger. »Ob 36
ein Wind dich umbläst oder kräftigt, das alles weiß man noch nicht. Man kann nur leise ahnen, als was du dich einmal entpuppst.« Opa Peschke nickte begeistert. »Da is was Wahres dran, Junge. Die Lisa versteht was davon.« »Los, Paule! Erzähle dem Jungen, wie man zu einer ›persönlichen Note‹ kommt.« Das war keine Bitte, das war ein Befehl. »Ach, Jott! Da jibt’s ja nichts groß zu erzählen.« Die Augen des alten Herrn, der sich Mühe gab, sich ein wenig zu genieren, glänzten vor Freude, nun endlich einmal loslegen zu können. Und dann erzählte er seine Geschichte, die Geschichte eines jungen Mannes aus Danzig, dem heutigen polnischen Gdansk, der Geologie studieren wollte, weil Steine, Fossilien und Bergwanderungen für ihn alles bedeuteten. Als Paul Peschke siebzehn war, starb sein Vater, und er mußte dessen Friseurgeschäft übernehmen, um seine Mutter und sich über Wasser zu halten. Mit dem Geologiestudium und den Bergwanderungen war es aus. Zwei Jahre später ging Paul Peschke, der sich mit dem Gedanken trug, ein Mädchen aus der Nachbarschaft zu heiraten, das erste Mal zu einem der von seinen Altersgenossen längst zur Hauptbeschäftigung erkorenen Tanzvergnügen. Er tat es eigentlich nur, um seinem Mädchen eine Freude zu machen. Während er sich schwitzend und nicht sonder37
lich begeistert im Polkarhythmus durch den Saal schob, kam ein Gewitter auf, und in das Haus der Peschkes mit dem Friseurgeschäft schlug der Blitz ein. Zum Glück, oder wie man es auch sehen kann, zu seinem Unglück, war Pauls Mutter nicht im Hause, sondern bei einer ihrer Schwestern zu Besuch. Wäre sie zu Hause gewesen, wäre wohl niemand auf die Idee gekommen, daß Paul Peschke an jenem Abend selbst sein Haus angezündet hätte, um die Versicherungssumme zu kassieren. Aber so sprach vieles gegen ihn: Den Blitz hatte niemand einschlagen sehen, Peschke ging sonst nie tanzen, die Mutter war ansonsten immer zu Hause und jedermann wußte, daß der junge Peschke den Friseurberuf nicht sonderlich liebte. Er sprach ja ständig davon, den ›Saftladen‹ zu verkaufen, um doch noch Geologie zu studieren. Und mitten in die Gerichtsverhandlung platzte dann noch ein ›fabelhafter‹ Mensch, der gesehen haben wollte, wie Paul Peschke, bevor er seine Braut ausführte, in seinem Schlafzimmer zu ebener Erde ein Feuer gelegt hatte – mit Hilfe einer Kerze, die nach Herunterbrennen automatisch einen mit Petroleum getränkten Lappen erreichen mußte. Die Tatsache, daß jener ›ominöse‹ Zeuge nicht sagen konnte, woher er wußte, daß der ›nasse‹ Lappen mit Petroleum durchtränkt war, spielte keine große Rolle. Er war ein Ortsfremder, und man glaubte ihm. Warum hätte er dem Friseur Peschke etwas andichten sollen? 38
Paul Peschke wurde verurteilt und wanderte ins Gefängnis. Daß er nur zwei Jahre abzusitzen brauchte von den fünfen, zu denen man ihn verdonnert hatte, verdankte er seinem Verteidiger, der durch Zufall herausbekam, daß dieser fabelhafte Zeuge der Schwippschwager – also der Bruder des Schwagers – des Friseurmeisters Wondrat aus der Bollberggasse war. Der tüchtige Konkurrent hatte die günstige Gelegenheit benutzt und sich seines Kollegen auf diese unfeine Weise entledigt. »So eine Schweinerei!« entführ es Henner. »Das kannste wohl sagen.« Opa Peschke war mit Henners Entrüstung zufrieden. Es war ja auch eine Schweinerei. Was änderte es, daß man nun die Rollen vertauschte, den unschuldigen Peschke aus dem ›Knast‹ entließ und den sauberen Herrn Wondrat nebst Schwippschwager in Ehren aufnahm – Paul Peschkes Bindung an seine Vaterstadt war in vielen schlaflosen Zellennächten zum Teufel gegangen. Die ohnmächtige Wut, unschuldig im Gefängnis schmoren zu müssen, hatte sich in eine tiefe Abneigung verwandelt. Schließlich hatten ihm seine lieben Mitbürger doch allesamt die Brandstiftung und den Versicherungsbetrug zugetraut. Selbst seine Braut, diese ›blöde Zicke‹, die es doch wohl am besten hätte wissen müssen, hatte vor Gericht erklärt, für das, was der ›Angeklagte‹ getan hätte, bevor sie mit ihm zum Tanzen gegangen wäre, könne sie nicht ›die Hand ins Feuer legen‹. Nur seine Mutter, die hatte ihm geglaubt. 39
Und das, obwohl sie ganz genau wußte, daß er nicht ›mit Leib und Seele‹ Friseur geworden war. Als Paul Peschke entlassen wurde, lag seine Mutter bereits unter der Erde. Damals dachte er, sie hätte sich ›zu Tode gegrämt‹. Das war natürlich ›Quark‹. Sie war schlicht und einfach an einer verschleppten Lungenentzündung gestorben. Aber damals – in seiner Wut – dachte er, daran wären ›die Leute‹ schuld. Paul Peschke ließ sich seine Versicherung auszahlen, denn jetzt stand sie ihm zu, setzte sich auf die Bahn und fuhr ›rachelechzend‹ nach Berlin, in seine ›wahre Heimat‹. Er wollte es ihnen zeigen, diesen Danziger Spießern. Opa Peschke schwieg einen Augenblick. »Ja, so war das. Der Traum vom Studium war ausjeträumt. Jetzt wollte ich Friseur werden. Jetzt erst recht! In Berlin habe ich dann in der Frankfurter Allee ein Jeschäft aufjemacht. Das war damals eine der größten Jeschäftsstraßen der Stadt. Und mein Salon?! Mit allem Schislaweng, kann ich dir sagen. Damen und Herren! Der Laden wurde immer größer. Eine Außenfront hatte der! Das war selten. Vier Jahre später habe ich den Laden fotografieren lassen. Postkartengröße! Fuffzig Stück! Die habe ich dann nach Danzig jeschickt. An alle, von denen ich wußte, daß sie sich ärjern würden. Der Wondrat hat ein halbes Jahr lang jede Woche eine bekommen.« Herr Peschke stand auf. »Jetzt brauch ich erst 40
mal ein Fläschken Rotwein. Mir wird ja der Mund janz fusselig.« Als er aus dem Zimmer war, sagte Oma Peschke: »Obwohl es schon so lange her ist, ganz verstanden hat er das alles immer noch nicht. Warum haben die das alle geglaubt, fragt er sich. Eine Zeitlang muß er wohl an sich selber verzweifelt sein. Nach dem Motto: Wer einmal aus dem Blechnapf frißt.« Opa Peschke kam zurück, stellte drei geschliffene Gläser auf den Tisch und goß sie voll. »Ja, Junge, in Berlin jing’s mir jut. Die Leute jefielen mir. Und ich jefiel mir selber. Bis ich auf die blödsinnije Idee kam, ’n Lehrling einzustellen.« Er verzog sein Gesicht. »Der Lehrling, der is so meschugge, der hat heute noch nicht ausjelernt.« »Was denn? Sie waren der Lehrling?« Henner sah Oma Peschke an, als sähe er sie zum ersten Mal. Wie sie wohl als junges Mädchen aussah? Bestimmt nicht übel. »Ja, leider!« Sie seufzte gespielt traurig. »Aber geheiratet habe ich ihn nur wegen seines Frisiersalons. Ansonsten war an dem Kerl nichts dran.« »Ach nee!« Opa Peschke spielte den Gekränkten. »Und wie eifersüchtig du damals warst, als die Martha immer um mich herumstrich, das haste wohl verjessen.« »Ach, Paule. Wir waren doch beide nur scharf auf den Laden. Die Martha genauso wie ich.« »Soo!« Opa Peschke erinnerte Henner in seiner Entrüstung wieder an das Bild im Physikbuch. 41
Wer weiß, wenn er Geologie studiert hätte, wäre er vielleicht so eine Art Klamotten-Einstein geworden. »Und warum biste nicht abjehauen, als der Laden im Krieg zerbombt wurde?« »Weil wir da schon zwanzig Jahre verheiratet waren. Und weil du im Krieg warst. Und weil wir zwei Söhne hatten. Und weil Hans und Herbert im Krieg gefallen sind. Und weil ich dich kannte. Ich wußte, Paule Peschke kommt wieder hoch.« »Da haste recht.« Paul Peschke sah seine Frau nun wieder ein wenig zufriedener an. »Aber daß du mich liebst, haste nicht jesagt.« »Aber, Paule, man darf doch nicht schwindeln.« »Nun hör sich einer das an! Verfluchte Weibsbagage! Fünfzig Jahre habe ich eine Schlange an meinem Busen genährt.« Opa Peschke schwankte zwischen Spaß und Ernst. Er zupfte verdrossen an seinem weißen Schnurrbärtchen herum. »Nun erzähl weiter. Wird ja schon dunkel.« Zufrieden nahm Oma Peschke die Unsicherheit ihres ehemaligen Chefs zur Kenntnis. »Jibt ja nicht mehr viel zu erzählen«, schmollte Opa Peschke, »daß wir zwei Söhne hatten, die im Krieg jefallen sind, daß unser Salon in der Frankfurter Allee zerbombt wurde, und daß ich an der Front war, hat er ja nun schon jehört. Und daß ich jesund nach Hause kam, sieht er ja.« »Und dann?« Henners Interesse war keine bloße Höflichkeit. »Naja, dann bauten wir am Wedding, in einer 42
kleinen Straße den dritten Laden auf. Diesmal erhielten wir kein Geld von der Versicherung. Es wurde auch nur ein kleiner Laden. Ich bediente die Herren und Lisa die Damen. 1963 wurde die Jegend abjerissen. Die Häuser waren zu alt. Eine Sanierung lohnte sich nicht.« Der alte Herr steckte sich eine Zigarre an. Die Glut glimmte im Dämmerlicht des Zimmers auf. »Na ja, und wir beide, die Lisa und ich, waren auch zu alt.« Henner wagte nicht, etwas zu sagen. Er spürte, daß er die Erzählung von Herrn Peschke, die von der Erinnerung an die Vergangenheit erfüllte Stimmung und dieses seltsam anheimelnde Gefühl, das von den beiden alten Leuten ausging, nicht so schnell vergessen würde. »Wir bekamen natürlich Geld vom Berliner Senat. Aber ein viertes Jeschäft wollten wir nicht mehr aufmachen.« Opa Peschke schaltete nun doch die Stehlampe neben seinem Sessel ein. Das Licht erhellte sein Gesicht. Er sah älter aus als sonst. »Da wir sowieso eine neue Wohnung suchen mußten, wünschte Lisa sich in ihre alte Heimat zurück. Und da sind wir nun: Zwei alte Leute, ohne Anhang, ohne Enkel und ohne Verpflichtungen. Man hat das Gefühl, als ob der Teufel uns verjessen hätte. Ekelhaft, diese Warterei auf den Klabautermann.« »Quatschkopf!« Oma Peschke liebte keine Trüb43
sal. »Leute, die dauernd vom Tod reden, werden meistens hundert. Sei zufrieden, daß wir uns noch haben. Einer weniger, das wäre einer zuviel.« »Wenn du mitmachst?« Opa Peschke schmunzelte schon wieder. »Meinetwejen! Werden wir hundert.« »Was in einem Leben so alles passiert!« Henner sagte dies sehr leise und – ohne daß es ihm bewußt wurde – voller Ehrfurcht. »Dafür sorgt das Leben selber, mein Junge.« Oma Peschke öffnete das Fenster und ließ frische, feuchtkalte Novemberluft herein. »Da brauchst du nicht hinterherzulaufen. Und es ist auch kein Verdienst, viel mitgemacht zu haben. Nur das Recht, das zu haben, was du ›persönliche Note‹ nennst, das hast du dann.« Sie drehte sich zu Henner um. »Probleme sind dazu da, um angepackt zu werden, und nicht, um ewig unter ihnen zu leiden. Den Beleidigten zu spielen hat noch keinem geholfen. Wenn andere nicht an dich glauben …« »… dann schicke ich ihnen Postkarten.« Henner grinste. Opa Peschke schlug mit der Faust auf den Tisch. »Jawohl, Junge, das machste! Immer zeijen, wer du bist! Nicht unterkriejen lassen. Wer dir in den Hintern treten will, der soll sich das Bein verstauchen.« Henner stand auf. Ihm schwirrte der Kopf. Er hatte einiges zu verdauen. »Ich muß jetzt gehen. 44
Ich … bedanke mich … vielmals. Für alles.« »Geh, Junge, und komm wieder, wenn du Lust hast.« Oma Peschke zog ihr Portemonnaie. »Nein, nein!« Henner wehrte ab. Die beiden Alten glaubten doch nicht etwa, daß er Geld für das Kohlenholen nehmen würde. »Ich brauche kein Geld. Taschengeld habe ich genug.« »Gut!« Oma Peschke zierte sich nicht lange. Sie steckte die Börse wieder ein. »Komm Mittwoch, wenn du nichts Besseres vorhast.« Und wieder sah sie ihn in ihrer prüfenden Art an. »Aber nur, wenn du wirklich möchtest.« Henner nickte. Er nickte noch auf der Treppe. Er würde wiederkommen. Diese kernige Oma und dieser verhinderte Albert Einstein der Geologie mit seinen Postkarten und seinem traurigen Lächeln, das so gar nicht zu seinem natürlichen und hurmorvollen Wesen paßte, hatten es ihm angetan. Menschenskinder, das waren doch wenigstens noch Leute, mit denen man reden konnte, ohne sich anschließend in den Hintern beißen zu müssen.
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5. Kapitel Dienstag, der 18. November I Der Horror war vorüber. Endlich! Henner lief mit hochgeschlagenem Kragen und tief eingezogenen Schultern die Baumallee entlang. Die Spannung zwischen ihm und der Klasse hatte sich noch vertieft. Er war zu einer Art Beobachtungsobjekt geworden. Die Klasse machte sich wieder Gedanken über Henner, den Penner. Die Scheißhausparolen jagten sich. Wenn morgen in der Zeitung stehen würde ›Gymnasiast erschlug altes Rentnerehepaar‹, würde die Klasse nur verständnisvoll nicken. ›Wir, ja, wir hatten das vorausgesehen. Das konnte doch nicht mit rechten Dingen zugehen.‹ Diese Arschlöcher! Aber Marion? Wie sie ihn vorhin ansah! Zweimal hatte sie ihn sogar angelächelt. Ihn, Henner! Das war ihm noch nie passiert. Abgesehen von Antje. Aber Antje lächelte nicht, die lachte oder grinste. Das zählte nicht! Marion! Ausgerechnet Marion.
II »Ich glaube, wir beide haben noch etwas miteinander zu bereden.« Mutter beendete ihre Schmink46
arbeiten und setzte sich zu dem der Länge nach bäuchlings auf der Couch liegenden Henner. Sie sah wieder einmal gut aus. Die lange, braune Hose, der braune Pulli und die smaragdgrüne Brosche – alles war aufeinander abgestimmt. In dieser Kluft würde sie gleich in ihrer Boutique erscheinen und mit strahlendem Lächeln die Herzen und Brieftaschen der Kunden für sich einnehmen. »Ich habe etwas gesagt.« Sie steckte sich eine Zigarette an. »Wir müssen noch einiges klären. Schließlich kann es so nicht weitergehen.« Henner drehte sich zur Mutter herum. Sie sah nervös auf ihre Armbanduhr. Täuschte er sich, oder schminkte sie sich wirklich in der letzten Zeit noch stärker? Es war überhaupt seltsam, je älter sie wurde, desto mehr Klimbim schleppte sie an. Kerzenhalter, abstrakte Figuren, Vasen. ›Ist das nicht entzükkend?‹ fragte sie ihn dann, stellte das Zeug in die Regale und vergaß es innerhalb von zehn Minuten. »Was würdest du dazu sagen, wenn ich zu Vater ziehen würde?« Schrecksekunde! Sie kniff die Augen zusammen und betrachtete ihn, während sie ihre Zigarette ausdrückte. Genauso sah sie diesen Borkenhausen manchmal an, wenn er ihr den Rücken zudrehte. Es war ein abwägender Blick. 47
»Nun hör mal zu, Henner. Wir wollen vernünftig miteinander reden.« Sie kreuzte die Arme über der Brust. »Ich rede vernünftig, Mutter. Was soll ich bei dir? Ich störe dich doch nur. Du hast deine zwei Shops, du hast deinen … Herrn Borkenhausen und du hast deine zahlreichen Verpflichtungen. Ich bin doch nur … ein Klotz am Bein.« Henner richtete sich auf und sah der Mutter in die Augen. Aber – wie immer – ihre Augen waren eine Barriere, man konnte nicht durch sie hindurchblicken. Ganz anders als bei Oma Peschke. Bei der wußte man sofort, woran man war. »Wie kannst du so etwas sagen, Junge! Du bist doch keine Last für mich. Du kannst dein Leben führen, wie du willst, du hast alle Freiheiten. Du mußt nur eins tun: Mich auch mein Leben führen lassen.« »Ich glaube, so etwas nennt man ›aneinander vorbeileben‹.« »Ach, rede doch nicht solches Zeug, das sind doch ›Fragen Sie Frau Susanne‹-Probleme. Aneinander vorbeileben! Ja, was denkst du, was die meisten Menschen heute tun? Denkst du, dein Vater und seine Prinzessin auf der Erbse leben nicht aneinander vorbei?« Wollte sie ablenken? Nur nicht beirren lassen. »Ich kann aber nicht mit dir und diesem … Borkenhausen zusammenleben. Der Mann ist mir widerlich. Und daß du mit diesem Typ zusammen bist, das … das macht mich reineweg verrückt.« 48
Die Mutter zog ihre frisch geschwärzten Augenbrauen in die Höhe. »Ja, sag mal, bist du etwa eifersüchtig?« Sie konnte einen leichten Hauch Stolz nicht unterdrücken. Das war zuviel. Henner sprang auf. »Du verstehst mich ja nicht im geringsten. Wir beide könnten stundenlang miteinander reden, wir redeten immer in den Wind.« »Aber Junge, so eine natürliche kindliche Eifersucht, das gibt es. Das ist doch nichts Schlechtes.« Auch die Mutter war jetzt aufgestanden. Sie lächelte. Sie lächelte auf ihre netteste Art. Henner mußte an sich halten, um nicht loszuheulen, vor Wut und Enttäuschung. So – genauso – lächelte sie die Kunden an, wenn sie der Meinung war, das richtige Kleidungsstück gefunden zu haben. Er ging aus dem Zimmer. Im Flur zog er seinen Parka an und verließ die Wohnung. Gab es so etwas, daß ein Sohn seine Mutter nicht ertragen konnte? War es nicht von Anfang an Bestimmung, daß ein Kind seine Mutter zu lieben hatte? Er glaubte nicht, daß er seine Mutter liebte. Sie war manchmal so dumm, so borniert; sie lebte in einer so ganz anderen Welt, er konnte ihre Art zu leben, ihr ganzes Denken und Handeln nicht verstehen. Wenn Verständnis und Liebe irgend etwas miteinander zu tun hatten, dann liebte er seine Mutter nicht. Da gab’s nichts dran zu rütteln, das war nun einmal so. 49
III Auf der Treppe traf Henner Pipo. »Kommst du mit ins Kino? Sie spielen einen Western. ›Mein Name ist Nobody‹.« O.K. Ging er eben ins Kino. Es war sowieso egal, womit er seine Zeit totschlug. Der Saal war nicht sehr voll. Nur ein paar Jungen in ihrem Alter fläzten sich in den Stühlen herum, riefen sich mehr oder minder geistreiche Bemerkungen zu und warteten auf den Anfang des Spektakels. Henner wandte den Kopf – es war wie eine Eingebung, wie eine Art siebter Sinn – am Eingang stand Marion und sah sich suchend um. Henner spürte, wie er rot wurde. Sein Herz klopfte so laut, daß er meinte, es wäre im ganzen Saal zu hören. Einige Jungen pfiffen anerkennend und riefen, daß der Platz neben ihnen noch frei sei. Marion hatte Henner und Pipo entdeckt. Sie zwängte sich durch die Reihe und ließ sich neben Henner nieder. »So ein Zufall!« sagte sie. »Wollt ihr euch auch den Film ansehen?« »Wieso? Ist das’n Kino? Ich dachte, das ist ’ne Würstchenbude.« Pipo bemühte sich, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Die Mühe war umsonst. Henner schwieg und starrte mürrisch auf den noch immer geschlossenen Vorhang. Und Marion schwieg nun auch. Sie 50
ließ ihren Blick im Kino umherschweifen, als sei sie das erste Mal hier. Warum sagten die beiden nichts? Pipo fand das unerträglich. Wozu hatte Marion ihn beauftragt, Henner ins Kino zu lotsen, wenn sie jetzt kein Wort sagte? Gott sei Dank ging das Licht aus. Jetzt konnte er sich auf den Film konzentrieren. Sollten die beiden doch sehen, wie sie miteinander fertig würden. Natürlich wußte Henner genau, daß Pipo seine Hand im Spiel hatte. Er wußte nur nicht, ob Pipo zufällig erfahren hatte, daß Marion sich den Film ansah, oder ob Marion Pipo den Auftrag gegeben hatte, ihn ins Kino zu schleppen. Das letztere war wünschenswerter. Henner spürte Marions Arm in der flauschigen Jacke. Manchmal hörte er sie atmen und zuweilen glaubte er, daß sie ihn heimlich von der Seite ansah. Der Film war urkomisch. Dieser blauäugige, blonde Nobody war vielleicht eine Ulknudel. Die paar Zuschauer schrien vor Lachen. Und auch Marion kicherte vor sich hin. Ganz laut lachte sie selten. Aus eigenem Antrieb ging sie bestimmt nicht in solche Filme. Sie kam seinetwegen. Es war ihm, als hätte jemand das Licht in einem Warenhaus angezündet. Natürlich! Mädchen gingen doch immer zu zweit irgendwohin und sei es auch nur ins Kino. Sie kam seinetwegen! 51
Henner wurde es heiß. Jetzt oder nie, Fräulein Marie! Langsam tastete er nach Marions Hand. Da. Sie zuckte zusammen. Dann überließ sie ihm ihre Hand. Henner hätte aufspringen und Scheiße schreien können. Scheiße hoch drei! War das denn zu fassen?! Sie hatte ihm ihre Hand überlassen! Das tat man doch nur, wenn … Sie mochte ihn! Marion mochte ihn! Ihn, Henner, den Penner. Vorsichtig, ganz vorsichtig drückte Henner Marions Hand. Seine Finger waren feucht vor Aufregung. Hoffentlich dachte sie nicht, er hätte Schweißfinger. Marion erwiderte den Druck. Ganz leise zwar nur, aber unverkennbar – sie erwiderte den Druck.
IV »Findest du nicht auch, daß es jetzt schon recht früh dunkel wird?« Marion und Henner schlenderten durch die erleuchteten Straßen. Doch. Henner fand das auch. »Man wundert sich jedes Jahr neu darüber, nicht?« Henner war ganz ihrer Meinung. Marion seufzte. »Wo hast du eigentlich Pipo gelassen?« Jetzt mußte er ja mal den Mund aufmachen. Er grinste. »Den habe ich nach Sand geschickt.« »Wohin?« »Nach Sand! Das sagt man so, wenn man jeman52
den loswerden will.« »Und warum wolltest du Pipo loswerden?« Henner zögerte einen Augenblick. »Ich wollte mit dir allein sein.« Zum Teufel, die tat ja ahnungslos. »Und warum …« Marion schwieg. Man konnte auch zuviel fragen. Henner zuckte die Achseln. »Ich muß jetzt nach Hause.« Marion sagte dies mit einem verzeihungsheischenden Unterton. »Ich bring’ dich hin.« Und wieder gingen sie schweigend durch die Straßen. Es war wohltuend, spazierenzugehen und Marion neben sich zu wissen. Noch schöner wäre es freilich, wenn man wüßte, was man ihr erzählen könnte. Aber bevor er irgendeinen Blödsinn erzählte, hielt er lieber die Klappe. Immerhin war ihr Vater Stadtrat für Kultur. Eine komplett ›musische‹ Familie. Es war wieder Marion, die begann. »Finde ich gut von dir, daß du den Peschkes hilfst. Das zeugt von innerer Kultur.« Innere Kultur! Da hatte er es. Das klang beinahe wie Borkenhausens Gefasel. Aber Marion meinte es ja gut. Trotzdem: Er mußte aufpassen. Wie leicht konnte er da ins Fettnäpfchen treten. »Da drüben wohne ich.« »Ich weiß.« Henner nickte bedauernd. »Woher weißt du das?« Henner sah zur Seite. »Hat mich immer schon 53
interessiert.« Sie schwiegen beide, bis Marion ihm die Hand gab. »Also denn: Tschüs. Wir sehen uns morgen in der Schule.« Ihre Hand war schmal und weich. Henner drückte sie vorsichtig. In Filmen wurde an dieser Stelle immer geküßt. Ob Marion das von ihm erwartete? Oder nicht? »Tschüs.« Henner drehte sich um und ging betont langsam und lässig davon. Am liebsten wäre er gerannt. Aber wie wäre das bei ihr angekommen? Womöglich hätte sie gedacht, er wäre froh, von ihr wegzukommen. Er mußte sich zwingen, langsam, ganz langsam zu gehen, interessiert in die Schaufenster zu blicken und leise vor sich hinzupfeifen. Ob er sie doch hätte küssen sollen? Wahrscheinlich hatte er sich angestellt wie der erste Mensch. So hilflos und maulfaul wie der letzte Trottel. Sicher dachte sie jetzt, er hätte zum ersten Mal ein Mädchen nach Hause gebracht. Na gut, es war das erste Mal. Aber er hätte nicht so deutlich den Anfänger hervorkehren sollen. Vielleicht hätte er sie ein bißchen abgrabschen sollen? Die anderen taten doch immer so, als ob die Mädchen nur darauf warteten. Aber diesen Eindruck hatte Marion eigentlich nicht gemacht. Da müßte er sich schon sehr täuschen. Was für einen Eindruck hatte sie denn gemacht? Einen … ja, einen ›ehrenwerten‹ Eindruck. Ein 54
besseres Wort fiel ihm dafür nicht ein. ›Sehr ehrenwert!‹ Nee, da war nichts mit Abgrabscherei. So eine war sie nicht. Nicht beim ersten Mal! Nee!
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6. Kapitel Mittwoch, der 19. November I Das hätte er sich denken können. Irgend jemand hatte ihn mit Marion gesehen. Jetzt jagten sich die Gerüchte und kursierten die tollsten Vermutungen. Die Klasse war völlig aus dem Häuschen. Henner und Marion? Das war doch unmöglich. Die Prinzessin und der Schweinehirt? Marion aber schien unbeeindruckt zu sein. Zwar nickte sie ihm nur flüchtig zu, als sie die Klasse betrat – so flüchtig, daß ein Uneingeweihter es nicht bemerken konnte – aber sie steckte auch nicht den Kopf in den Sand und tat, als sei nichts gewesen. Die neugierigen Fragen der Mädchen beantwortete sie selbstbewußt. Nur konnte Henner nicht verstehen, was sie sagte. Reuter, das ›lange dünne Ding‹, gab die Chemiearbeiten zurück. Gute Nacht, Marie! Das rummst wieder im Karton. Pipo eine Zwei. Wie immer, die beste Arbeit. Joker auch ’ne Zwei. Na, da war er wieder froh – der Prinz Wasserklo. Marion eine Drei. Na ja, Mädchen und Chemie. Antje eine Zwei. Sieh an, sieh an, das war neu. Lobende Worte. Brav, brav, nur weiter so, etc. pipapo. 56
Jetzt kam Reuter genießerisch grinsend zu ihm. Bitte schön, mein Kopf, Euer Ehren. Eine Drei! Das gab’s doch nicht! »Pipo, mich streift ein Bus, ich hab’ ’ne Drei.« Mutter, es spukt! Was hatte Reuter unter die Arbeit geschrieben? ›Im Ansatz gut – beim nächsten Mal mehr ins Detail gehen.‹ Mehr ins Detail gehen? Wie sollte er das? Er hatte keine Ahnung vom Detail. Er hatte nur allgemeines Gewäsch und ein paar zusammenhanglose Brocken in die Arbeit ›eingebaut‹. Mehr oder weniger, um kein leeres Blatt Papier abzugeben. Hatte der das nicht bemerkt? Reuter stand schon wieder an der Tafel, um ein Problem, das die ganze Klasse nicht kapiert hatte, noch einmal zu erläutern. Doch außer Pipo hörte niemand zu. Man war zufrieden mit den Noten. Auch wenn man in Reuters Unterricht kaum mitkam – er ließ einen am Leben, er erschoß keinen. Gott sei Dank. Als Reuter durch das schrille Läuten der Schulglocke gezwungen wurde, seine Formelkette abzubrechen und aus dem Reich der höheren Chemie ins stinknormale Schulleben zurückzukehren, warf nicht nur Henner erleichtert seine Tasche auf den Tisch. Feierabend! Er drehte sich zu Pipo herum. Neben Pipo stand Marion. Aha, Pipo, der Kuppler. Er hatte richtig vermutet. Pipo hatte einen Zettel für ihn: ›Heute um fünf – vor der Stadtbibliothek. 57
Marion.‹ Henner spürte, wie sein Herz schneller klopfte. Bisher dachte er immer, das gäbe es nur in Romanen. Jetzt wußte er es besser. Das gab es echt – dieses ›Frühlingsgefühl‹. Und mitten im November. Tenor, komm vor!
II Das Gefühl hielt an. Auf dem Weg nach Hause, beim Mittagessen und auch jetzt, während er wieder zu den alten Peschkes emporstieg. Er hätte keine halbe Stunde ruhig auf einem Stuhl sitzen können. Der Gedanke an Marion und an ihre Verabredung um fünf vor der Stadtbibliothek, das war wie Hasch. Er hätte vor Stolz in den Tarzanschrei ausbrechen können. Oma Peschke merkte das sofort. »Mein Gott, Junge, du strahlst ja wie ein Weihnachtsbaum am Heiligen Abend. Komm nur herein! Trage deinen Glanz in unsere Hütte.« Seltsam! Mutter hatte nichts bemerkt. Oma Peschke aber schien alles zu wissen. »Ja, Junge«, sagte Oma Peschke, als sie ihn in die Küche bugsiert hatte, wo die Kellerschlüssel schon bereitlagen, »wenn man dich so ansieht, könnte man meinen, dir wäre das große Glück begegnet.« Henner hätte es nicht ausgehalten, den Ahnungslosen zu spielen. Jemandem mußte er es doch erzählen. Ihm war, als hätte er nur auf diese 58
Frage gewartet. »Ist es auch.« Hinterher allerdings hätte er sich auf die Zunge beißen können. Aber da war es zu spät. Oma Peschke sah ihn nachdenklich an. »Marion, was?« Henner nickte ergeben. Warum hatte er die Klappe nicht halten können! Was ging denn das die alten Leute an. Er war doch hier in keiner Familienserie. »Alles hat seine Zeit, nur die alten Weiber nicht«, dozierte Opa Peschke, während er Henner lange und herzlich, wie einem Mitverschwörer, die Hand schüttelte. »Ach, was verstehst du davon?« Oma Peschke schien nicht sonderlich zum Spaßen aufgelegt zu sein. »Hast du jemals jemanden wirklich gerne gehabt?« »Ja«, grinste der alte Mann und kniff ein Auge zu, »mich! Ich habe mich eijentlich immer janz jerne jehabt.« Er wandte sich wieder an Henner. »Wenn du aus dem Keller kommst, trinken wir einen herrlichen Glühwein. Mir is heute so kalt.« Er hüstelte im Flur und Henner hörte ihn leise murmeln. »Wirste älter – wirste kälter! Was soll’s?« Der Glühwein schmeckte phantastisch. Nur die Nelken im Glas störten Henner. Er schob sie mit dem Löffel beiseite. Opa Peschkes Augen glänzten. Er hielt sein Glas mit beiden Händen fest, als müsse er sie auf diese 59
Weise wärmen. »Warum heizen Sie nicht mehr ein?« fragte Henner verwundert. »Die Kohlen reichen doch noch lange.« »Wieso, frierst du?« Jetzt wunderte sich Opa Peschke. »So ein junges Blut?« »Ich? Nein! Mir ist warm. Aber Sie frieren doch.« Oma Peschke lachte. »Da kennst du Paule aber schlecht. Der friert, weil er möchte. So schmeckt ihm sein Glühwein besser.« »Was heißt: Schmeckt besser? Er wärmt die alten Knochen. Und das soll er denn ja auch.« Opa Peschke schmunzelte. Dann fiel ihm etwas ein, und er fuhr hoch. »Oder darf ich mir Glühwein nur leisten, wenn ich friere?« »Gottbewahre! Ob du deinen Wein kalt oder heiß trinkst, ist mir doch schnuppe. Du trinkst ihn doch sowieso in rauhen Mengen.« »Und das ist auch mein gutes Recht. Lange trinke ich sowieso nicht mehr. Wenn ich erst unter der Erde bin …« »Wie sind Sie eigentlich Lehrling bei Ihrem Mann geworden? Ich meine, kannten Sie sich vorher schon?« Henner nippte an dem heißen, aromatisch duftenden Wein. Oma Peschke sah überrascht auf. »Dich hat also Paules Erzählung interessiert?« Henner nickte. Ja, die Geschichte der Peschkes interessierte ihn. Er wollte das Leben anderer Menschen nicht nur aus 60
Büchern kennenlernen. Er wollte die Menschen selbst kennenlernen. Das war viel interessanter. »Na, erzähl’ schon!« Opa Peschkes Wangen röteten sich. Er hatte das dritte Glas Glühwein in Angriff genommen. »Viel Gutes gibt’s von dir nicht zu berichten.« Oma Peschke holte ein Fotoalbum aus der Anrichte. Sie zeigte Henner das von der Zeit braune Bild eines Hochzeitspaares. Es war ein hübsches Paar. Er, ein brünetter, junger Mann mit einem schmalen Schnurrbart, und sie ein blondes, junges Mädchen mit einem ›Laß mal, ich mach’ das schon – Gesichtsausdruck.‹ »Ja, Junge, ich war recht hübsch und unternehmungslustig, als meine Mutter mich nach Berlin schickte.« Oma Peschke zeigte Henner weitere Bilder. »Einijermaßen hübsch«, wandte der Opa ein. »Na, für dich hat’s gereicht.« Oma Peschke konterte, ohne ihre Stimme zu heben. »Das stimmt. Ich war immer sehr bescheiden.« Henner lachte. Die Peschkes waren in Ordnung. Sie waren wirklich in Ordnung. Auch Oma Peschke lachte. »Also gut! Einigermaßen hübsch kam ich in Berlin an, um einen Beruf zu erlernen. Meine Tante Auguste sollte mich beraten. Nun, Berlin war damals schon eine Riesenstadt, und ich verirrte mich in meiner Hast, möglichst viel auf einmal zu sehen, auch prompt. Als ich die Nase voll hatte, 61
beschloß ich, meine Schüchternheit …« »Ja, damals war sie noch schüchtern. Heute schüchtert sie die anderen ein.« Wenn Opa Peschke vom Glühwein erhitzt und voller Schabernack seine Witzchen machte, erinnerte er kaum noch an den Physikbuch-Einstein. »… beschloß ich, meine Schüchternheit zu überwinden und jemanden zu fragen, wie ich meine Tante finden könnte. Ich blieb stehen und stand direkt vor einem Friseurgeschäft.« »Friseurjeschäft? Frisiersalon, Damen und Herren, bitte. Friseurjeschäft!« »Und vor der Tür des ›Salons‹ stand ein Herr im weißen Kittel, der mich unverschämt anstarrte.« »Also, das ist ja wohl …« »… die Wahrheit. Ich faßte mir ein Herz und fragte nach Tante Auguste.« »Ja, tatsächlich.« Opa Peschke fuhr hoch und krähte: »Sie fragte mich nach Aujuste Meier. Ob ich in Berlin Aujuste Meier kennen würde. Kannste dir das vorstellen?« »Der impertinente Kerl vor dem Laden glotzte mich von oben bis unten an. Dann fragte er, ob ich den Namen noch einmal wiederholen könne. Ich Knalltüte wiederholte tatsächlich: Auguste Meier. Da wackelte der Kerl mit dem Kopf und fragte, ob die gesuchte Frau Meier noch einen Bruder hätte. Ich nickte blöderweise, denn meine Tante hatte wirklich noch einen Bruder. Wunderbar, sagte da dieser Figaro, drei Straßen weiter sei ein 62
Milchgeschäft, der Inhaber hieße auch Meier, ich sollte ihn doch mal fragen, ob er vielleicht der Bruder meiner Tante sei.« »Ihr Jesicht …« Dem Opa tränten vor Lachen die Augen. »Ihr Jesicht hättest du sehen müssen. Keine Kuh glotzt so dämlich.« »Ja, und dann hatte ich endlich kapiert.« Oma Peschke warf ihrem Mann einen strafenden Blick zu. »Ich drehte mich um und ließ den Bartschaber vor seinem Rasierpinselgeschäft stehen. Er aber lief mir nach.« »Was? Ich bin dir nachjelaufen? Na, das is doch wohl der größte Witz.« »Du bist mir nachgelaufen. Entschuldigen Sie mal, Fräuleinchen, hast du gesagt, es war ja bloß ein Spaß. Wo wohnt denn das Gustchen? Und: Wir werden sie schon finden.« Opa Peschke winkte ab. »Solche Worte wären mir nie über die Zunge jekommen. Aber erzähle nur weiter. Sehr interessant, deine Jeschichtchen.« »Ich hätte dich stehenlassen sollen, dich mit deinem dämlichen Monbijou-Schnurrbärtchen.« »Menjou-Bart. Nicht Monbijou. Monbijou hieß eine Brücke in Berlin. Hähä!« »Egal wie diese Karikatur von einem Schnurrbart hieß. Ich hätte dich damit stehenlassen sollen. Aber dann fiel mein Blick unglückseligerweise auf ein Schild in deinem Schaufenster. Lehrling gesucht, stand dort. Für die Damenabteilung. Na ja, und da habe ich es mir überlegt.« 63
»Jawoll! Und dann haste mir entjejenjehaucht: Aber nicht doch, Herr Meister, man versteht doch einen guten Scherz.« »Das habe ich nie gesagt. Ich habe gesagt: Na, dann werden wir man nicht so sein und den dummen Scherz vergessen.« »Waas? Da lachen ja die Hühner. Du hast jesagt …« »Ich habe gesagt …« Henner hätte sich beinahe an seinem Glühwein die Zunge verbrannt. Es war neu nachgefüllt worden. »Und dann?« fragte er. »Dann gingen wir in seinen Laden, er hat mir die Damen-Abteilung gezeigt und mich am Nachmittag zu Tante Auguste gebracht.« »Ja, ja, ›zu Tante Aujuste jebracht!‹ Mitjeschleppt hast du mich. In dem großen Berlin verlaufe ich mich sonst wieder, hast du jesagt und mich mit deinen großen, wunderschönen graugrünen Augen anjesehen, daß meine Knie weich wurden.« »Hört, hört!« Oma Peschke war zufrieden. »Wunderschöne graugrüne Augen, hat er gesagt. Vorhin war ich allerdings nur leidlich hübsch.« »Die Augen waren auch das einzije. Und dann hast du mich zu diesem Justchen, dem alten Wrack, jeschleppt, das mich dann von Anfang an als zukünft’jen Bräutijam betrachtete.« »Ach, herrjeh! Du hättest dich ja dagegen wehren können. Wer hätte dich denn zwingen können? Und was das ›alte Wrack‹ betrifft, so bist du heu64
te zwanzig Jahre älter als das alte Wrack damals. Und außerdem war ich dafür um so jünger. Und es ging dir ja wohl um mich und nicht um Tante Auguste.« »Ja, was denn? Hätte ich Tante Justchen heiraten sollen?« Opa Peschkes Augen funkelten vor Spaß. Dieses Duell der Erinnerungen belebte ihn sichtlich. »Mir reichte es schon, daß die uns nie allein jelassen hat. Immer kluckte sie auf dem Sofa herum und hielt große Reden.« »So wie wir heute«, ergänzte Oma Peschke und lachte über den stumm protestierenden Henner. »Jetzt zu dir!« Oma Peschke wechselte das Thema. »Glaubst du, daß Marion das richtige Mädel für dich ist?« Henner zuckte die Achseln. Wie sollte er das wissen? Außerdem hatte er keine große Lust, die Angelegenheit hier durchzukauen. So sympathisch ihm die Peschkes waren, das mit Marion ging sie nichts an. Das war seine Angelegenheit. »Mir ist die Marion nicht standfest genug. Versteh’ mich nicht falsch, sie ist keins von diesen nackichten Mädchen, die man heutzutage am Strand und in den Zeitungen und manchmal auch auf der Straße sieht.« »Was hast du jejen die jungen Mädchen? Wer hat, kann zeijen.« Opa Peschke trank mindestens schon das sechste oder siebte Glas von dem Zeug. »Ja, ich weiß, je höher der Affe klettert, um so mehr Hintern zeigt er.« Oma Peschke knipste die 65
Stehlampe an. Es war bereits wieder schummrig geworden. »Schöne Weiterentwicklung des Menschen. Ich halte dieses Nackedei-Getue jedenfalls für Blödsinn. Was hat das mit Kultur zu tun? Früher liebte man sich auch. Da war ein Stückchen nackte Haut noch was Besonderes.« Opa Peschke kicherte albern: »Da jab’s noch Überraschungen.« »Schweig! Davon verstehst du nichts.« Sie sagte das so barsch, daß Henner sie erstaunt ansah. Es schien, als ob sie nicht bereit wäre, dieses Thema ins Spaßige abgleiten zu lassen. »Aber wie gesagt: So eine ist die Marion nicht. Und wenn ich sage, sie ist nicht standfest, dann meine ich, sie hat keinen festen Boden unter den Füßen. Die geht nicht mit dir durch dick und dünn. Jetzt interessiert sie sich für dich, weil du anders bist als die anderen. Eines Tages aber wird sie einen bequemen, strebsamen und keinen nachdenklichen und schwierigen Charakter haben wollen.« Opa Peschke rang die Hände. »Ach, Jott, nun laß den Jungen doch seine eijenen Erfahrungen sammeln. Du tust ja, als ob er morjen schon heiraten will.« »Der Junge ist schon genug auf sich allein angewiesen. Das merkt man doch. Er ist wie Herbert. Der war auch hinterher immer wie am Boden zerschmettert. Ich möchte ihm eine Enttäuschung 66
ersparen, die nicht lange auf sich warten lassen wird.« Henner schaltete auf stur. Was ging diese alten Leutchen seine Freundschaft mit Marion an? Was mischten die sich da ein? Mutter hätte sich nie eingemischt. Vielleicht fragte er noch um Erlaubnis. Er stand auf. Was wollte er eigentlich hier? Die sollten sich ihre Kohlen demnächst selber aus dem Keller holen. Und ihre Moralpredigten konnten sie dann auch für sich behalten. Aber laut sagte er nur: »Ich muß jetzt gehen.« Und dann ging er, unter den erschrockenen Blicken der beiden Alten und ohne zu grüßen.
III »Mein Vater hat uns gestern gesehen«, sagte Marion und bemühte sich, im größtmöglichen Abstand neben Henner herzugehen. Er hatte es ihr gleich angesehen, als sie mit einem Stoß Bücher unter dem Arm aus der Bibliothek gekommen war. Das war nicht die Marion von gestern. Diese Marion würde seinetwegen nicht in einen Western gehen. »Du mußt das verstehen. Er meint, ich wäre noch zu jung, um mich mit einem … na ja, mit einem Freund zu treffen. Ich soll erst einmal mein Abitur machen. Eine Jungenbekanntschaft würde nur ablenken.« Während sie das sagte, starrte sie in die erleuch67
teten Fenster. Henner, der links von ihr ging, hatte Mühe, ihre Worte zu verstehen. So, er war also seit gestern eine ›Jungenbekanntschaft‹. Vorher hatte sie ihn wohl nicht gekannt? »Ich möchte dich deshalb bitten, von der ganzen Sache nichts zu erzählen. Es gäbe nur dummes Gerede.« Es kostete Henner Kraft, den Mund aufzumachen. »Zu spät.« Am liebsten hätte er überhaupt nichts gesagt. Sie sollte nicht merken, wie enttäuscht er war. »Zu spät? Wie meinst du das?« »Es ist zu spät. Die alten Peschkes wissen es.« Er betonte jedes Wort, als müsse sie es auswendig lernen. »Was? Ja, wieso hast du es denn den Peschkes erzählt? Was geht die das an?« Jetzt ging Marion direkt neben ihm. Sie sah ihm verstört und aufgebracht ins Gesicht. »Außerdem: Was gab’s denn überhaupt zu erzählen? Wir haben uns einmal im Kino getroffen, du hast mich nach Hause gebracht. Weiter nichts! Was mußt du das gleich überall herumerzählen?« Das letzte klang zornig. Sie tat, als hätte er sich ein Recht herausgenommen, das ihm nicht zustand. Es war zum Kotzen. Da freute man sich den ganzen Tag wie ein Kind auf einen Lutscher, und dann erlebte man so eine Pleite. Dieses ›ehrenwerte‹ Mädchen! Die alte Peschke hatte recht. Und 68
wie sie recht hatte. Marion ging wirklich nicht mit ihm durch dick und dünn. Kaum sagte ihr Vater, dieser Silberlöwe, ein Wort, schon ließ sie ihn fallen. Und dieses Hanghuhn tönte jetzt, als müsse man sich aus Vernunftsgründen scheiden lassen. »Wenn nichts dabei ist, warum soll es dann nicht erzählt werden? Was in der Klasse getratscht wird, ist mir keinen nassen Furz wert.« Marion zuckte zusammen. Daß das der gleiche Junge war, der sie gestern so schüchtern nach Hause gebracht hatte? Aber sie wußte ja, daß er ein aggressiver Typ war. Er legte in der Klasse doch oft so ein Benehmen an den Tag. Wieso hatte sie das vergessen können? Nur weil er gestern mal ihre Hand gedrückt und sie recht nett nach Hause gebracht hatte? »Ich möchte einfach nicht, daß darüber geredet wird.« Obwohl sie es bittend sagen wollte, klang es wie ein Befehl. Sie bemerkte Henners musternden Blick und fügte versöhnlich hinzu: »Da wird dann wieder aus einer Mücke ein Elefant gemacht. Du kennst das doch.« »Die Mücke läßt schön grüßen.« Henner ließ Marion stehen und ging auf die andere Straßenseite. Am liebsten hätte er ihr die Bücher auf ihren frischgewellten Schädel geknallt. Eine Art hatte die! Marion lief hinterher. Henner stand vor einem Schaufenster mit Spielwaren und starrte einen überdimensionalen Teddybär an. 69
»So habe ich es doch nicht gemeint. Ich will doch nur nicht, daß gleich eine Liebesgeschichte daraus gebastelt wird.« Sie stand so dicht neben ihm, daß ihre Schultern sich berührten. Henner schwieg. Er starrte den Teddybär an. Für ihn war es eine ›Liebesgeschichte‹ gewesen. Er war ein Idiot. »Henner! Wir wollen doch Freunde bleiben. Ich mag dich ja. Es ist doch nicht gesagt, daß später einmal …« »Halt die Klappe und verpiss dich. Mitleid ist nicht gefragt. So tief trifft’s mich nicht.« Henner sah sie an. Er bemühte sich, abweisend und zugleich spöttisch zu blicken. »Geh’ zu deinem Supervater, werde eine Supertochter und laß mich demnächst alleine ins Kino gehen.« Er ließ sie wieder stehen und ging ein paar Schritte am Schaufenster entlang. Dann drehte er sich noch einmal um. »Erst drängelt sich die Eule auf, und dann bekommt sie Schiß vor der eigenen Courage. Quatscht von innerer Kultur! Außen beflissen, innen beschissen.« Er hätte lieber den Überlegenen gespielt. Ruhig und gentlemanlike hätte er sie nach Hause schikken sollen. ›Na klar, mein Kind, du bist noch zu jung. Geh’ nach Hause und lerne schön.‹ Aber das konnte er nicht. Er konnte nur immer gleich Scheiße schreien. Scheiße!
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7. Kapitel Donnerstag, der 20. November I Die Klasse hatte sich wieder beruhigt. Es wurden zwar noch diese und jene Vermutungen geäußert, aber an eine Love-Story zwischen Marion und Henner glaubte niemand mehr. Marion gab sich wie immer. Es fiel ihr wahrscheinlich nicht besonders schwer. Henner versuchte ebenfalls, sich gleichgültig zu geben. Er konnte aber nur hoffen, daß es ihm gelang. Er war kein großer Schauspieler. Zum Glück brauchte er, außer mit Pipo, auch mit niemandem zu reden. Seit gestern, seit das Gerücht von der Geschichte zwischen Marion und ihm in der Klasse herumgeflattert war, sprach Antje auch nicht mehr mit ihm. Nahm sie ihm etwas übel? So ein Quatsch! Antje sollte sich nicht so albern haben. Die Sache mit Marion hatte doch gar nichts mit ihr zu tun.
II Henner lag wieder einmal auf der Couch. Zu Hause lag er meistens auf der Couch. Er konnte sich auch hinsetzen. Na klar. Aber war er dann 71
besser dran? Er wartete auf Mutter. Heute würde er es ihr endgültig sagen. Er hatte die Nase voll. Jeden Tag diese Diskussionen. Er konnte nicht verlangen, daß Mutter diesen Typ laufen ließ. Und er verlangte es auch nicht. Aber dann sollte auch sie nichts Unmögliches von ihm verlangen. Eigentlich war die Geschichte mit Marion gar nicht so wichtig. Fehler sind da, um gemacht zu werden. Sein Fehler war ein Traum gewesen. Ein Wunschtraum. Er hatte sich geirrt. Jahrelang war sie sein Traummädchen gewesen. Er hatte sie bewundert, ihr braunes Haar und ihren braunen Teint. Alles an ihr war tadellos. Sie war immer ordentlich, immer freundlich, immer hübsch. Wie aus der Retorte! Und nun das? Jahrelang bewundert, zwei Tage näher kennengelernt und – peng! Der ›Silberlöwe‹ bat seine ordentliche, freundliche und hübsche Tochter, den unordentlichen, unfreundlichen und nicht gerade hübschen Kerl, kurz: Henner, den Penner, sausen zu lassen, und die fromme Tochter gehorchte Strictly and promptly. Ob der ›Silberlöwe‹ auch gegen Joker etwas einzuwenden gehabt hätte? Ob der auch erst nach dem Abitur wieder ›vorsprechen‹ dürfte? Oma Peschke hatte recht: ›Die geht nicht mit dir durch dick und dünn.‹ Oma Peschke war einsame Klasse. Die blickte durch. Sie hatte es gut gemeint. Und er, Henner, der Penner, hatte die beiden alten Leutchen einfach sitzenlassen. Zutiefst verletzt, 72
wie immer. Ein richtiger ›Rührmichnichtan.‹ Er würde sich entschuldigen. Es wäre schade, wenn er Peschkes nicht mehr besuchen dürfte. Es gefiel ihm dort ja besser als zu Hause. Das mußte man sich mal vorstellen. Es gefiel ihm bei einem völlig fremden Rentnerehepaar besser als zu Hause. Traurig, aber wahr.
III »Ich hab’s mir überlegt, Mutter. Ich ziehe in den Weihnachtsferien zu Vater.« Henner hatte erwartet, daß die Mutter wütend werden würde. Er hatte auch einen ihrer hysterischen Ausbrüche eingeplant. Darin rettete sie sich ja meistens, wenn sie keine Argumente mehr hatte. Daß sie so kühl und gelassen reagieren würde, hatte er nicht erwartet. »Mein lieber Junge, nach unserem letzten Gespräch habe ich mich bei Rechtsanwalt Berger erkundigt. Die Sachlage ist folgende: Du bist nach der Scheidung ausdrücklich mir zugesprochen worden. Ich übe die elterliche Vormundschaft über dich aus. Wenn du heimlich zu deinem Vater gehen solltest, wird das Gericht beschließen, daß du notfalls mit Gewalt wieder zu mir zurückzubringen bist.« Sollte das ein Witz sein? Wollte man ihm etwa auferlegen, wen er mehr zu mögen hatte, Mutter oder Vater? Gab es das wirklich, oder war das nur ein Trick, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen? 73
»Das wäre doch Blödsinn. Denkst du, ich ließe mich hier einsperren? Kaum hätten die mich zurücktransportiert, wäre ich wieder weg. Oder willst du einen Knast aus deiner Wohnung machen?« Die Mutter saß mit übereinandergeschlagenen Beinen im Sessel neben dem Fenster und zog nachdenklich an ihrer Zigarette. Sie trug Krempeljeans, Stiefel und eine großkarierte Hemdbluse. BaudenLook nannte sie das in ihren Schaufenstern. »Laß uns vernünftig reden, Junge. Ohne falsche Emotionen. Du bist nun einmal mir zugesprochen worden. Woran fehlt es dir denn? Brauchst du mehr Taschengeld? Hast du nicht genug Freiheiten?« »Mit dir kann man ja nicht reden,« sagte Henner voller Verzweiflung. »Du willst mich ja nicht verstehen. Ich brauche nicht mehr Taschengeld. Ich will weg von dir und deinem Borkenhausen. Ich kann es nicht mit ansehen, wie ihr lebt, dieser Kerl und du. Ich passe nicht zu euch.« Er bat leise: »Mutter, bitte, laß mich doch gehen! Es ist besser für uns alle. Ich werde dich ja ab und zu besuchen. So wie ich Vater jetzt besuche. Wenn ich hier bleibe, wird es immer schlimmer zwischen uns.« Die Mutter war blaß geworden. »Was ist denn bei Vater besser? Die zwei eingebildeten Gören? Diese leisetreterische Almut? Oder etwa dein Vater? Dieser Egoist, der um sich herum einen Stall aufgebaut hat, der ganz nach Rolf Brinkmann ausgerichtet ist. Wo er bewundert wird von früh 74
bis spät. Der tüchtige Mann, der geldverdienende Mann, der tolle Mann. Almut sitzt am Ofen und hütet die Kinder.« Sie ereiferte sich: »Alle Welt redet von der Emanzipation der Frau. Das aber liebt dein Vater nicht. Er zieht sich ein Hausmütterchen heran. Wenn diese Almut nicht so strohdumm wäre, könnte sie einem leid tun. Die soll erst einmal leisten, was ich geleistet habe. Die hat doch keine Ahnung, was es heißt, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich bin heute unabhängig. Ich bin ich selbst. Ich muß nicht kuschen, wenn der Herr Gemahl es befiehlt.« »Wenn alle emanzipierten Frauen so sind wie du, dann bezweifle ich, daß das ein Fortschritt ist.« Henner war ganz ruhig. Zum ersten Mal nahm Mutter ihn für voll. Zum ersten Mal sagte sie ihm, was ihr wirklich wichtig war: Nicht Vater war der Egoist, Mutter war es. Sie dachte nur an ihr eigenes Dasein. Sie wollte die tüchtige Geschäftsfrau sein, unabhängig, niemandem Rechenschaft schuldig und nicht bereit, irgend jemandem etwas zu opfern. Auch ihm nicht. Er hatte sie richtig eingeschätzt. »Wo gehst du hin?« Die Mutter stand auf und hielt ihn am Arm fest. Henner wußte nicht, ob sie seine Worte richtig verstanden hatte. »Ich gehe zu Vater. Ich will ihm sagen, daß ich in den Ferien zu ihm ziehe. Ich will mich auch ›emanzipieren‹.« Er sprach das letzte Wort überdeutlich 75
und Silbe für Silbe. »Junge! Junge! Du kannst mich doch nicht auch noch im Stich lassen!« Mutter weinte. Sie legte den Kopf an seine Schulter und weinte. Sie tat ihm leid. Aber er konnte sie nicht trösten. Wenn er sie trösten wollte, müßte er sagen, daß er bei ihr bleiben würde. Das konnte er nicht. Mutter irrte. Nicht er ließ sie im Stich, sie hatte ihn im Stich gelassen. Schon lange. Die Emanzipation der Frau! Bitte sehr, bitte gleich! Das konnte er auch. Die Emanzipation des Kindes! Oder besser – des Jugendlichen. Wie sich das alles anhörte? Da konnte man doch wirklich nur noch Scheiße schreien. Oder war Emanzipation etwas ganz anderes?
IV »Na, Herr Kollege«, sagte Rolf Brinkmann, als er, aus dem Büro nach Hause kommend, seinen Sohn im Wohnzimmer vorfand, »was treibt dich denn mitten in der Woche in unsere heiligen Hallen?« »Ich möchte mit dir reden.« Henner legte die Illustrierte beiseite, in der er geblättert hatte. Almut, die bis dahin Wäsche sortiert hatte, küßte flüchtig, aber nicht zu flüchtig, ihren Mann. »Ich mache uns einen Tee.« It’s tea-time, Sir! Henner kam es vor, als hätte die ›englische‹ Almut Vater einen warnenden Blick zugeworfen. Aber er konnte sich auch geirrt haben. 76
Vielleicht sah er schon Gespenster. Als Almut aus dem Zimmer war und sich der Vater ihm gegenüber niedergelassen hatte, erklärte Henner: »Vater, ich möchte in den Ferien zu euch ziehen.« Es kam zu überraschend. Der Vater, der anfangs einen recht müden Eindruck gemacht hatte, war sofort hellwach. Der Schreck war unverkennbar. »Ich komme mit Mutter nicht mehr klar. Ich möchte weg von ihr. Du hast doch gesagt, ich könnte jederzeit zu euch kommen.« »Aber ja doch. Selbstverständlich!« Der Vater wußte nicht, was für ein Gesicht er machen sollte. Er fummelte an seiner Uhr herum. »Es ist nur … So einfach geht das nicht. Du kannst nicht einfach deine Sachen packen und weggehen.« »Aber du hast doch immer gesagt …« »Ich habe gesagt, daß du gern zu uns kommen kannst. Dazu stehe ich auch.« Was war das? Das klang ja ganz anders. »Vater! Du hast gesagt, daß ich jederzeit zu euch kommen kann. Und jetzt sagst du …« »Und jetzt sage ich dasselbe.« Vaters Stimme hatte einen ärgerlichen Unterton. Seine Bemühungen, den Ärger über diese Feierabendüberraschung zu verbergen, waren nicht sehr erfolgreich. »Henner, betreibe doch bitte keine Wortklauberei. In deinem Alter müßtest du eigentlich wissen, daß man so eine Sache nicht von heute auf morgen erledigen kann.« 77
»Aber es ist doch noch ein Monat Zeit.« »Ein Monat ist nichts.« Rolf Brinkmann wurde immer unruhiger. »Das alles wird seine Zeit in Anspruch nehmen. Als erstes muß ich vor Gericht die Übertragung der Vormundschaft durchsetzen. Dazu müßte ich nachweisen, daß deine Mutter nicht in der Lage ist, dich zu einem ordentlichen Menschen zu erziehen. Das ist die Grundvoraussetzung. Und das wird nicht einfach sein, mein Junge.« Der Vater war aufgestanden und lief im Zimmer hin und her. Man konnte spüren, wie unangenehm ihm die ganze Sache war. »Aber Vater, du hast doch gesagt, das wäre kein Problem mehr. Jetzt, wo Mutter und dieser Typ, der Borkenhausen …« »Na ja, da habe ich mich vielleicht etwas zu optimistisch ausgedrückt.« Der Vater verstummte. Almut betrat mit dem Tee das Wohnzimmer. »Tee mit Zitrone?« fragte Almut. »Ja, mit!« antwortete Henner. Er sagte es laut, ärgerlich und unbeherrscht. Was interessierte ihn dieser beschissene Tee? Was wollte er überhaupt hier? Hatte er etwa ernsthaft geglaubt, man würde sich über sein Vorhaben freuen? Das waren doch alles nur Redensarten gewesen. Jetzt, wo es ernst wurde, waren die freundlichen Gesichter verschwunden. Die Helden zogen die Schwänze ein. »Der Junge trägt sich mit der Absicht, zu uns zu ziehen, Almut«, sagte der Vater salbungsvoll. 78
Almut, über Henners barsches ›Ja, mit!‹ leicht schockiert, zauberte ein gequetschtes Lächeln hervor. »Oh, wie schön«, sagte sie. In ihren Augen aber stand die Angst. »Na ja, so einfach geht das leider nicht.« Der Vater nahm wieder Platz. »Ich muß erst erreichen, daß mir die Vormundschaft übertragen wird. Dazu muß ich meiner ersten Frau nachweisen, daß ihr Lebenswandel nicht ganz in Ordnung ist. Nun gibt es da zwar diesen Borkenhausen, aber der allein wird nicht ausreichen.« Henner bemerkte, wie Almut innerlich aufatmete. Äußerlich bedauerte sie die Sachlage. »Aber wie lange wird das denn dauern?« »Kindchen«, der Vater ergriff Almuts linke Hand, »das ist schwer zu sagen. Ein halbes Jahr? Ein Jahr? Zwei Jahre? Je nachdem, wie der Fall liegt.« Die Gesichter der beiden wurden wieder gleichmütiger. Der Schreck war von ihnen gewichen. So schnell schossen die Preußen nicht. Henner sah das. Diese Heuchler, sie hatten ihn in die Pfanne gehauen. Mit ihrem Gerede hatten sie ihm einen Floh ins Ohr gesetzt. Sie hatten ihm etwas vorgespielt. Sie hatten sich darin gebadet, als tolerante Eltern zu erscheinen. Komödianten! Als sie minutenlang annahmen, er würde wirklich zu ihnen ziehen, waren sie blaß bis auf die Unterhose geworden. Jetzt war ihnen eingefallen, daß es ja Gott sei Dank gar nicht so ging, wie er es sich vorstellte. Ja, daß es wahrscheinlich überhaupt nicht 79
ging. Er glaubte ihnen die Schwierigkeiten. Gewußt hatten sie es wohl immer schon. Darum die großen Worte: ›Du kannst jederzeit zu uns kommen. Ich habe mir schon immer einen Jungen gewünscht.‹ Und er war darauf hereingefallen. Es war zum Kotzen! Es gab nur noch eins: Nicht enttäuscht von dannen ziehen! Die sollten nicht merken, wie sehr sie ihn getroffen hatten. Soviel Talent wie diese beiden Engländer hatte er schon lange. Er lachte plötzlich los. »Jetzt habt ihr wohl Schiß, was? Kommt wieder zu euch, Kameraden. Es war nur ein Test. Eine ganz gewöhnliche Probe aufs Exempel. Ich will zwar weg von Mutter, aber zu euch, das könnt ihr mir glauben, wollte ich nie. In euer Bühnenbild passe ich nicht. Ich such’ mir ein anderes Theater.« Henner stand auf, noch immer lachend. »Aber eure Gesichter! Zum Scheiße schreien! Innen bitter, außen süß. Quatschen konntet ihr immer ganz gut. Nur ernst werden durfte es nicht, was?« Er sah die beiden noch einmal kurz an. Almut rührte wie abwesend in ihrer Teetasse herum, Vater schüttelte besorgt den Kopf. Er machte ein strenges Gesicht und sagte: »Geh jetzt!« »Das kannste glauben«, antwortete Henner noch immer lachend. »Auf eure Gastfreundschaft scheiß ich. Ab jetzt habt ihr eure Ruhe.« Er schlug die Tür hinter sich zu. 80
Als er draußen war, kamen ihm die Tränen. Er wußte nicht genau warum. Es spielte so vieles mit. Enttäuschung, Wut über sich selbst, Trauer über den verlorenen Vater. Doch halt: Eigentlich hatte er ihn ja gar nicht verloren, er hatte ihn nie gehabt. Der Mann, der alle paar Wochen sonntagnachmittags seine Show abgezogen hatte, war nie sein Vater gewesen. Der hatte nur immer für eine Weile die Rolle gespielt, sozusagen eine Pflichtkür. Und er, Henner, hatte noch Beifall geklatscht. Es hatte Vater Spaß gemacht, Mutter mieszumachen, so wie es Mutter Genugtuung bereitete, Vater mit Dreck zu bewerfen. Sie hatten sich auf seinem Rücken immer wieder gegenseitig eins ausgewischt, die ganze Schlacht auf seine Kosten geführt. Und er hatte das nicht bemerkt. Was war er für ein blödes Schwein? Vater war ein Typ wie Marion. Alles ›ehrenwerte‹ Leute. Solange es keine Schwierigkeiten gab. Eines jedenfalls begriff Henner nun: Man durfte den Leuten nichts glauben. Man mußte sie testen. Auf die Probe stellen mußte man sie, wenn man wissen wollte, woran man war. Menschenskind, wie hatte er auf seinen Vater gestanden! Dieser scheinheilige Kumpel-Vater. Eigentlich hätte er ihm in die Fresse hauen müssen.
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8. Kapitel Freitag, der 21. November I Oma Peschke hatte ihm seinen abrupten Abgang nicht übelgenommen. Sie sagte nur: »Ah, da bist du ja wieder. Ich hatte schon Angst, du kommst nicht mehr.« Dann nahm sie ihre Einkaufstaschen und drückte eine davon Henner in die Hand. Auf dem Weg zum Supermarkt erzählte Henner von Marion und gab zu, daß Oma Peschke recht gehabt hätte. Marion sei schon beim geringsten Widerstand umgefallen. »Na, da brauch’ ich nicht stolz drauf zu sein«, meinte Oma Peschke. »Erstens sollte es ja wohl auch so sein, daß alte Leute mehr Lebenserfahrung haben als junge, und zweitens kenne ich Marion lange genug. Sie ist ein hübsches und nettes Mädel, aber sie wird immer mit dem Wind segeln. Du aber bist ein ›Gegen-den-Wind-Segler‹.« »Woher wissen Sie das so genau?« fragte Henner. »So lange kennen Sie mich doch noch gar nicht.« Er sagte das nicht provozierend, ihre Antwort interessierte ihn. Er hatte manchmal den Eindruck, daß Oma Peschke alles von ihm wußte. Es lohnte sich nicht, ihr etwas vorzumachen. Die alte Dame hatte ganz schön was auf dem Kasten. 82
»Junge, ich hatte auch einmal zwei Söhne. Wir haben dir davon erzählt, Hans und Herbert hießen sie. Der Herbert, das war auch so einer wie du. Ein aufgeweckter Kerl war das. Aber er schwamm immer gegen den Strom.« Oma Peschke seufzte. »Denkt nur nicht, daß ihr heute so anders seid, als die Jugend vor dreißig Jahren. Die Probleme sind die gleichen, sie haben sich nur ein bißchen der Zeit angepaßt. Ihr reißt heute mehr den Mund auf. Ihr seid immer gleich empört, wenn etwas nicht so läuft, wie ihr es euch wünscht. Früher duckte man sich und fraß hinterher den Ärger in sich hinein. Heute protestiert man erst und duckt sich dann. Irgendwann aber ordnen sich die meisten ein.« »Ihre … Ihre Söhne sind im Krieg gefallen?« »Ja, den Hans, den älteren, den hat es gleich am Anfang erwischt. Er war immer ein Pechvogel. Dem Herbert, dem ging es nicht viel besser. Der hat auch im Feld nicht die richtige Richtung gefunden. Immer alleine, keine richtigen Freunde und immer grüblerisch. Eines Tages muß er was angestellt haben, sie haben ihn in die Strafkompanie gesteckt. Warum, wissen wir bis heute nicht. 44 kam dann der Brief. Auf dem Felde der Ehre gefallen.« Oma Peschke schwieg. Man hatte den Supermarkt erreicht.
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II Oma Peschke schimpfte, als sie den Supermarkt wieder verließen. »Diese ewigen Sonderangebote. Verfluchte Konsumgesellschaft! Da weiß man ja nicht mehr, was man kaufen soll. Immer neue Namen. Wer soll das alles studieren?« Henner hörte nicht auf sie. Er hatte sich entschlossen, mit Oma Peschke zu sprechen. Mit irgend jemandem mußte er doch reden. Ohne Vorankündigung begann er, seine Probleme zu schildern. Von den Streitereien mit der Mutter erzählte er, von Borkenhausen und von der gestrigen Enttäuschung, dem Besuch beim Vater. »Ich will weg von zu Hause. Aber ich finde es blöd, auf Trebe zu gehen.« »Trebe?« Oma Peschke wußte nicht, was Henner meinte. Als er es ihr erklärt hatte, sagte sie: »Ja, da hast du recht, ausreißen nützt gar nichts. Das wäre wirklich blöd. Jack Londons Zeiten sind vorbei. Wenn du wirklich Journalist werden willst, mußt du vor allen Dingen die Schule beenden.« »Das ist es ja eben. Aber auch so wäre es blöd. Abhauen, erwischt werden, Polizei, Jugendheim – das ist doch alles Scheiße.« Henner schwieg ein paar Sekunden. »Aber ich muß weg von zu Hause. Ich mach’ das nicht mehr mit. Mutter und ihre Boutiquen! Dieser Borkenhausen! Die endlosen Streitereien! Das halte ich nicht länger aus.« Oma Peschke war stehengeblieben. »Soll ich mit 84
deiner Mutter reden?« »Nein! Bitte nicht! Nur das nicht! Das hat auch gar keinen Zweck.« Henner wehrte sich gegen diesen Vorschlag. Allein der Gedanke war ihm unangenehm. Seine Mutter und Oma Peschke? Er schämte sich jetzt schon für Mutter. »Ich will sie ja nicht überreden, sich zu ändern.« Oma Peschke ging langsam weiter. »Ich würde sie nur fragen, ob sie etwas dagegen hätte, wenn du zu uns ziehen würdest.« Zu Oma Peschke? »Du könntest das kleine Zimmer bekommen. Das wäre kein Problem.« »Aber … aber Sie kennen mich doch gar nicht?« »Du machst mir Spaß.« Oma Peschke lachte. »Erst wunderst du dich darüber, wie gut ich dich kenne, und dann behauptest du, ich würde dich überhaupt nicht kennen. Sag doch, wenn dir der Gedanke nicht angenehm ist. War doch nur ein Vorschlag.« Henner wurde rot. So hatte er es nicht gemeint. Das heißt, ein bißchen hatte er es schon so gemeint. Was sollte er bei den alten Leutchen? Jeden Tag Rotwein trinken und Geschichten anhören? »Du wärst dein eigener Herr, solange wir dir zutrauen können, dein eigener Herr zu sein. Wir würden dir nicht dreinreden, wenn du es nicht willst.« Oma Peschke schien Gefallen an dem Gedanken gefunden zu haben. »Und .. Ihr Mann?« 85
»Ach, Gottchen, mein Mann!« Oma Peschke kicherte leise. »Ich habe den besten Mann der Welt. Das hast du hoffentlich schon gemerkt. Und weil er so ein prima Mann ist, tut er, was ich sage. Das war immer so, und das bleibt auch so.« Sie waren vor der Haustür angelangt. »Aber Paule mag dich auch ohne meine Befürwortung. Überleg es dir.« Henner stieg nachdenklich die Stufen empor. Die Idee war nicht schlecht. Er wäre so eine Art Untermieter, blieb in der Stadt, ging weiter zur Schule und könnte Mutter ab und zu besuchen. Das mit dem Rotwein und den Geschichten müßte man eben auf einmal pro Woche beschränken. Höchstens zweimal. »Ich würde gerne zu Ihnen ziehen«, sagte Henner und lachte plötzlich. »Warum lachst du denn, Junge?« Oma Peschke blieb stehen. »Ich weiß auch nicht, warum.« Henner lachte schon wieder. »Ich muß einfach lachen.« »Na, das ist schön. Dann lach’ mal. Oft lachst du ja nicht. Das ist wie bei meinem Herbert. Die ernsten Jungen haben es am schwersten.«
III Opa Peschke rieb sich seine trockenen, dünnen Finger. »Das is fein, mein Junge. Zieh nur zu uns. Dann trinken wir jeden Tag Glühwein und spielen Skat. Was meinst du, was Oma für einen Skat 86
drischt?!« Na, bitte! Henner zog die Stirn kraus. Jetzt kam noch Skat dazu. Nee, Opa, das gewöhne ich dir ab. »Das könnte dir so passen, den Jungen für dich in Beschlag nehmen. Da hat er aber nach 14 Tagen die Nase voll.« Oma Peschke schob Henner in ein ihm noch unbekanntes Zimmer. Er sah einen riesigen Schreibtisch, einen Bücherschrank, voll mit Büchern und Zeitschriften, eine breite Couch, einen Tisch mit einer Steinplatte und zwei einladende wuchtige Ledersessel. »So was nannte man früher ein ›Herrenzimmer‹. Wer was auf sich hielt, hatte es.« Opa Peschke rieb sich noch immer die Hände. »Phantastisch«, entfuhr es Henner. Das ›kleine‹ Zimmer war ein ziemlich großer Raum. Hier war mehr als genug Platz für seinen Krempel. Und – Gott sei Dank – an den Wänden hingen keine ›antiken‹ Bilder. »Du kannst das ruhig alles umstellen, wenn du willst. Hauptsache, das Zimmer lebt wieder. Diese Zimmer, die man hatte, wenn man was auf sich hielt, waren meistens totgeborene Kinder.« Oma Peschke sah ihren Paule von der Seite an. »Na, na!« Opa Peschke machte wieder sein Albert-EinsteinGesicht. »Guck dir den Schrank an, voller Bücher und Zeitschriften.« »Die Zeitschriften stammen aus dreißig Jahren und die Bücher in dem ›Herrenzimmer‹ von mir.« 87
»Was? So alt sind die Dinger?« Henner war vollends begeistert. Er sah sich den Stapel näher an. Das hatte er sich schon immer gewünscht, einmal so richtig in alten Zeitschriften herumzuwühlen, um zu sehen, wie früher die Zeitungen gemacht wurden, was die Leute damals schrieben und was sie dachten. Eine wahre Fundgrube, dieses Arsenal vergilbter Zeitschriften. »Na, siehst du!« Opa Peschke war stolz. Diesmal behielt er das letzte Wort. »Nicht alles, was neu ist, ist auch gut.« Henner war auch zufrieden. »Jetzt muß ich nur noch meine Mutter überreden. Und Sie müssen mir sagen, was das Zimmer kostet.« »Das Zimmer kostet nichts. Du mußt dich mit deiner Mutter nur über Kleidung und Taschengeld unterhalten.« Oma Peschke packte in der Küche ihre Einkaufstasche aus. Henners Blick fiel auf eine Wurst. »Und das Essen?« »Wenn deine Mutter monatlich etwas zahlt, ist es gut. Wenn sie nichts zahlt, ist es auch gut.« Die alte Frau hatte Farbe bekommen. Sie sagte das nicht gern, es ging aber nicht anders. Henner verstand. »Sie wird etwas zahlen.« »Soll ich nicht lieber mit deiner Mutter sprechen? Einverstanden muß sie sein. Sonst geht die ganze Sache nicht.« Oma Peschke sah ihn aufmerksam an. »Nein, das möchte ich nicht. Mutter hat … so 88
wenig Verständnis. Ich möchte das nicht. Ich rede mit ihr.« »Na gut, Junge. Aber wenn du das geklärt hast, werde ich mich auch mit ihr unterhalten. Das können wir nur gemeinsam machen. Anders geht’s nicht.« Henner nickte. Wenn es nur erst soweit wäre!
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9. Kapitel Samstag, der 22. November I Er hatte es ihr am Freitagabend nicht mehr sagen können – Borkenhausen war dagewesen. Er hatte in dem großen, grünen Sessel gehangen, seine Damenzigaretten geraucht und sich gerade über einen Kollegen ausgelassen, einen angeblich ›ganz widerlichen‹ Kerl. Henner war unter den ängstlichen Blicken der Mutter in sein Zimmer gegangen. Dieser Kollege mußte ein netter Kerl sein. Ein verdammt netter Kerl. Jetzt lief Henner ziellos durch die Stadt. Er wollte noch nicht nach Hause. Er wollte erst nach Hause kommen, wenn Mutter zurück war. Das Schaufenster, der Teddybär. Bei Tage sah er ganz anders aus. Warum war er Marion gegenüber ausfallend geworden? Warum mußte er immer gleich zutreten? Warum fühlte er sich immer gleich so verletzt? Er glaubte nicht, daß er ein schlechter Kerl war. Vielleicht tat er es, weil die Methode so erfolgreich war. Pflaumt dich einer an, pflaume sofort zurück. Gib alles. Volle Materialschlacht. Aber hatte Marion ihn angepflaumt? Nein, sie 90
hatte ihn nur enttäuscht, sehr enttäuscht. Und er? Er hatte seinem Spitznamen alle Ehre gemacht. Henner, der Penner. Es war zum Kotzen.
II Plötzlich stand Henner vor dem Sportplatz. Wie er dahingekommen war, wußte der Teufel. ›Zufall ist alles das, was der Mensch sich nicht erklären kann‹, hatte Reuter, das lange dünne Ding, einmal gesagt. Henner hörte Anfeuerungsrufe. Das mußte das Grün-Weiß-Sportfest sein. Antje startete bestimmt. Und Joker, der Supermann. Normalerweise hätte Henner sich auf dem Absatz herumgedreht und wäre verschwunden. Aber heute hatte er zu viel Zeit totzuschlagen. Es waren nur wenige Zuschauer anwesend. Antjes Eltern waren darunter. Antjes Vater, hieß es, habe seiner Tochter das Talent vererbt. Er war als junger Mann für Grün-Weiß gestartet und einmal sogar Dritter der Deutschen Meisterschaft im 200 m-Lauf geworden. 1940 oder so. Kurz nach seinem Abitur und kurz bevor er an die Ostfront mußte. Obwohl er nur mit einem Bein zurückkam, war er sofort dabei, als es daran ging, den Sportclub wieder aufzubauen. Er war noch heute irgendein Funktionär. Mehr wußte Henner über Antjes Eltern nicht. Sie kauften nicht in Mutters Boutiquen, also hat91
te er von Mutter nichts über die Meynhardts hören können. Da war Antje. Sie sah gut aus in ihrem grün-weißen Dress. Sie hatte nicht die harten Eierwaden der meisten Sportlerinnen. Na, das kam vielleicht noch. Ihre schmutzigblonden Haare hatte sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Dadurch kamen ihre klaren und geradlinigen Gesichtszüge noch stärker zur Geltung. Es wurde zum Start aufgerufen. Antje hatte die 3. Bahn von rechts. Sie kauerte sich in den Startblöcken nieder. Man konnte sehen, wie sie sich konzentrierte. Sie wackelte nicht so aufgeregt mit dem Hintern herum wie die anderen Mädchen. Sie war die Ruhe selbst. Kein Wunder, sie wußte ja, daß sie gewinnen würde, konkurrenzlos, wie sie war. Der Start! Antje führte sofort. Mit langen raumgreifenden Schritten und einem beachtlichen Vorsprung strebte sie dem Ziel entgegen. Der Beifall war nur mäßig. Niemand hatte an ihrem Sieg gezweifelt. Doch dann brandete der Beifall auf. Auf einer Tafel zeigten die Kampfrichter die Zeit an. 12,4 Sekunden für die 100 Meter. Das war eine phantastische Zeit für Antjes Altersklasse. Sie warf die Arme in die Luft und fiel einem auf sie zueilenden Jungen um den Hals. Der Junge war Joker. Henner sah zu Boden. Es war ihm, als hätte man ihm einen Schlag in die Magengrube versetzt. 92
Antje und Joker? Das konnte es nicht geben. Die paßten doch zusammen wie Fisch und Rotkohl. War er schon wieder mal enttäuscht? Er hatte doch gar keinen Grund dafür. Nun gut, bisher war er immer der Meinung gewesen, Antje könne den ›Klassenprinzen‹ nicht besonders, dafür aber ihn, Henner, um so besser leiden. Er hatte das immer als eine Art fälligen Tributs hingenommen. Einen Tribut, auf den man nicht besonders stolz sein konnte, den man aber gnädig zur Kenntnis nahm. Jetzt fiel sie Joker um den Hals. Und ihm versetzte das einen Stich? Was sollte man dazu sagen? »Tag, Henner. Was treibt dich denn auf den Sportplatz?« Henner hob den Kopf. Antje stand vor ihm. Vom Lauf noch etwas erhitzt sah sie ihn an. Wie ihre Augen strahlten! Junge, mußte die stolz auf ihren Rekord sein. Die wurde ja direkt schön. »Ich wollte bloß mal sehen, wie es aussieht, wenn du Joker um den Hals fällst.« Antje musterte ihn aufmerksam, aber nicht ärgerlich. Dann sagte sie: »Na, dann hat sich dein Kommen ja gelohnt.« Sie drehte sich um, als wollte sie weggehen. Doch dann blieb sie stehen. »Trotzdem, vielen Dank.« »Vielen Dank? Wofür?« Sie dachte doch nicht etwa, er sei ihretwegen hierher gekommen? »Für den Rekord. Ich habe dich vor dem Lauf hier stehen sehen.« Sie holte tief Luft. »Und da ich 93
dir imponieren wollte, habe ich das Letzte aus mir herausgeholt. Ein Rekord aus purer Angabe.« Sie wurde rot, sah ihn an und schwieg. Dann lachte sie los. »Mann Gottes, mach’ nicht so ein blödes Gesicht! Ich will dich nicht verkohlen. Stimmt tatsächlich.« Henner blieb die Spucke weg. Sagte ihm das Mädchen doch tatsächlich ins Gesicht, daß sie seinetwegen diese irre Zeit gelaufen war. »Und Joker?« Er grinste verzweifelt. Jetzt war es wieder heraus. Er war doch reineweg zum Scheißen zu dämlich. Warum mußte er die Sache mit Joker nun schon zum zweiten Mal anbringen? Was ging ihn das an? Wieder musterte sie ihn. Das konnte sie. Das ging einem durch und durch. »Du gefällst mir, du gehst den Dingen immer gleich auf den Grund. Ja, ich bin Joker um den Hals gefallen. So wie ich jeden, der mir in den Weg gekommen wäre, umarmt hätte, egal, ob Trainer, Zuschauer oder Joker. Wenn du dich für Fußball interessieren würdest, wüßtest du, daß die sich auch nach jedem Tor um den Hals fallen. Meinst du, das sind alles Warme?« Sie zuckte resignierend die Achseln, drehte sich um und ging. »Antje!« Er ging ihr nach und hielt sie am Arm fest. »Antje! Hast du nachher Zeit für mich?« Sie sah ihn wieder in ihrer abschätzenden Art an. »Nach dem 200 m-Lauf bin ich fertig.« »Antje, ich … ich möchte mit dir reden.« Er 94
fummelte an seinem Parka herum. »Du bist in Ordnung, mit dir kann man reden.« »Klar! Ich bin ein dufter Kumpel, aber kein Mädchen. Mit mir kann man reden.« Sie lachte. Aber Henner konnte deutlich den Vorwurf heraushören. »Wie kommst du denn auf so was?« Er spielte den Entrüsteten. »Über Pipo komme ich auf so was.« Antje lächelte überlegen. Jetzt sah er alt aus. Asbach – Uralt. Pipo! Schon wieder Pipo! Erst lotste er ihn in Marions Auftrag ins Kino und jetzt hatte dieses Strichmännchen auch noch der Antje erzählt, was er über sie dachte. Dem Kerl müßte man sämtliche Glasknochen einzeln zerbrechen. »Kommst du?« Henner gab sich geschlagen. »Ich komme.« Sie nickte und lief davon. Nach etwa zwanzig Metern drehte sie sich noch einmal herum und winkte ihm zu. Henner nickte lässig mit dem Kopf. Fast hätte er zurückgewinkt. Antje nahm einfach nichts übel. Tolles Mädchen. Die hatte mehr Grips im kleinen Zeh als Marion im Kopf. Mit Antje konnte man reden. Die würde ihn nicht auf den leisesten Wink ihres Vaters abzittern lassen.
III »Setz deiner Mutter das Messer an die Brust«, sagte Antje und hieb ärgerlich mit ihrer Sporttasche in die Sträucher. »So etwas ist typisch für die Alten. 95
Du sollst den Rücksichtsvollen spielen. Nimmt sie Rücksicht auf deine Gefühle?« Sie sah Henner wütend an. »Ich stelle mir das ekelhaft vor, so einen Typ bei meiner Mutter sitzen zu haben. Das kann einem ja alles verleiden.« Wenn sie wütend war, wurden ihre Augen ganz groß. Sie riß sie auf, als könne sie damit jemanden einschüchtern. Keine Spur von ›innerer Kultur‹. Sie war ›echt‹ sauer, und das tat ihm wohl. Das ungute Gefühl, daß vielleicht doch er es war, der sich im Unrecht befand, war verflogen. Antje dachte genau wie er. Er hatte ihr ohne Umschweife von seinem Vorhaben erzählt. Sie fand seinen Plan, von der Mutter weg und zu den alten Peschkes zu ziehen, ›den Gegebenheiten entsprechend‹. Sachlich, aber ehrlich. »Siehst du«, hatte sie gesagt, »deshalb gefällst du mir. Du bist nicht wie die anderen, die immer versuchen, den einfachsten Weg zu gehen. Du gehst den Weg, den du denkst gehen zu müssen. Alle sind sie nett zu Pipo. Sie haben Mitleid mit ihm, wegen seiner Glasknochen. Aber zum Freund will ihn keiner. Befreundet, echt befreundet ist er nur mit dir.« Sie sprach wie Oma Peschke. Langsam hatte er das Gefühl, die beiden kannten ihn besser als Mutter, als Vater und auch besser als er sich selbst. Und jetzt sagte sie: »Du mußt hart sein. Reiß aus, wenn sie dir nicht erlaubt, zu den alten Leuten 96
zu ziehen. Natürlich nur zum Schein. Auf Trebe zu gehen, finde ich auch blöd. Dabei wird man voll zum Penner.« Henner zuckte zusammen. Das Wort Penner bezog er immer auf sich. Antje hatte es nicht bemerkt. Sie fuhr fort: »Geh nach Hause und sag deiner Mutter, daß du verschwindest, wenn sie dem Umzug nicht zustimmt. Stimmt sie dann noch nicht zu, läßt du sie eine Nacht lang schmoren. Damit sie besser nachdenken kann. Du kannst bei uns in der Laube schlafen. Da ist sogar ein Heizgerät drin.« Mein lieber Herr Gesangsverein! Die ging ran, da blieb kein Auge trocken. »Hast du auch Ärger mit deinen Alt… Eltern?« »Na, Gott sei Dank nicht. Meine Eltern sind ganz vernünftig. Aber das liegt vielleicht daran, daß ich sie gut erzogen habe.« Sie kicherte. Wenn sie kicherte, hätte man sie für zwölf halten können. Und trotzdem erschien sie Henner so selbstsicher, als würde sie jede Nacht jemanden in der Laube verstecken. »Fürwahr, Brünhilde, du erziehst deine Eltern, dir glaube ich das.« Es sollte spöttisch klingen, aber er merkte selbst, daß mehr Bewunderung als Spott dabei herauskam. »Ja, was? Ich hab’ Haare auf den Zähnen.« Sie bleckte ihr Gebiß. Und da tat Henner etwas, was er sich selbst nicht zugetraut hätte, und was wie der Blitz aus 97
heiterem Himmel über ihn kam: Er stieß seinen Kopf nach vorn und versuchte Antje zu küssen. Sein Mund knallte so heftig gegen ihre Zähne, daß Antje vor Schreck ganz blaß wurde. Seine Lippen schmerzten zwar nur wenig, aber dafür kam er sich um so blöder vor. Antje schüttelte verzweifelt den Kopf. »Wenn du mich das nächste Mal küssen willst, dann sag gefälligst vorher Bescheid.« Sie betastete ihre Zähne. Henner fuhr sich ebenfalls über den Mund, grinste halb bitter, halb süß und sagte: »Du bist ein harter Brocken.« »Ja, und besonders meine Zähne.« Antje war zufrieden. Es war nicht zu übersehen.
IV Henner hatte es schon auf der Treppe geahnt. Sein siebter Sinn hatte es ihm gesagt oder seine Allergie hatte geklingelt: Borkenhausen war da. Er saß in seinem Stammsessel, trank Kaffee und qualmte wie ein Schlot. Draußen dämmerte es bereits. Irgendwo in der Dämmerung stand Antje, behielt den Hauseingang im Auge und wartete auf ihn. Henner seufzte. Es gab kein Zurück. »Mutter, ich muß dich sprechen.« Er bemühte sich, Borkenhausen nicht anzusehen. Der Pianist blickte einmal kurz auf, lächelte amüsiert und blätterte dann weiter in Mutters Modekatalogen. Sein 98
schwarzgelocktes, schulterlanges Haar glänzte im schwachen Licht der Wandlampe. Er liebte wenig Licht. ›Schummerstündchen‹ nannte er das. Mutter trug ihren overallartigen, großblumigen Hausanzug. Dieser hautenge einteilige Anzug war hinten mit einem Reißverschluß zu schließen. Borkenhausen hatte ihn ihr geschenkt. Sie trug ihn nur, wenn er da war. Einmal, als Borkenhausen, wie meist samstags, über Nacht geblieben war, hatte Mutter den Pianisten vom Morgenkaffee weg ins Schlafzimmer gerufen, um den Reißverschluß schließen zu lassen. Es hatte eine halbe Stunde gedauert. Henner war bald verrückt geworden. »Muß das jetzt sein?« Mutter machte einen nervösen Eindruck. Sie blickte unruhig von Borkenhausen zu Henner und zurück. Sie fürchtete wahrscheinlich einen neuen Streit. »Ja, es ist wichtig.« Henner ging in sein Zimmer. Im Spiegel konnte er im Vorbeigehen sehen, wie Mutter hilflos die Achseln zuckte, Borkenhausen entschuldigend ansah und ihm dann folgte. Na gut, bald würde sie sich nicht mehr entschuldigen müssen. Als die Mutter sich auf seine Couch gesetzt hatte, erzählte er ihr von den Peschkes und von seinem Plan, zu ihnen zu ziehen. In seiner Furcht, Gefühl zu zeigen, berichtete er in so kühlem Ton von seinem Plan, als handle es sich um einen Sonntagsausflug. 99
Die Mutter glaubte erst, sie hätte ihn nicht richtig verstanden. Als er ihr das zweite Mal die Sache erklärt hatte, verlor sie jede Beherrschung. »Ja, bist du denn völlig übergeschnappt? Zu wildfremden Leuten willst du gehen? Du verläßt mich, um zu irgendwelchen alten Leuten zu gehen?« Sie stand auf, rang nach Luft und schrie, daß sich ihre Stimme überschlug: »Dir gehört der Hintern versohlt! Weiter nichts. Eingebildeter Bengel! Was denkst du denn, wer du bist? Denkst du, du kannst dir alles erlauben? Erst willst du zu deinem Vater und jetzt sogar zu irgendwelchen Leuten!« »Mutter …« »Halt deinen unverschämten Mund! Seit ein paar Jahren beleidigst du mich. Tust so, als sei ich irgendein billiges Flittchen, nur weil ich mich noch nicht als Oma fühle. Als ob man heutzutage gleich heiraten muß, wenn man einen Mann liebt. Du hast Ansichten, die aus dem Mittelalter stammen.« Sie legte die Hände vors Gesicht und lehnte den Kopf an die Wand. Nach einer Weile flüsterte sie: »Wäre es dir sympathischer, wenn er dein Stiefvater wäre?« Es klang, als wollte sie ihm ein Angebot machen. Es klang aber auch, als wollte sie ihm damit drohen. Henner schüttelte den Kopf. Er verstand sie nicht, und sie verstand ihn nicht. Sie schlug mit der Faust auf Henners Schreibtisch. »Du bleibst hier und damit basta. Wenn du volljährig bist, 100
kannst du gehen, wohin du willst. Jetzt bleibst du hier.« »Mutter, wenn du mich nicht zu den Peschkes ziehen läßt, reiße ich aus.« Er sprach sehr leise. Aber diesmal verstand ihn die Mutter sofort. »Waas? Du drohst mir? Du willst mich erpressen? Mich, deine Mutter?« Sie schlug auf ihn ein. Es tat nicht weh. Ihre weichen Hände störten kaum. Er ging an seinen Schrank, nahm einige Papiere und sein Geld heraus. »Du gehst nicht!« schrie die Mutter. Ihre Haare hatten sich aufgelöst, ihr Gesicht war dunkelrot. Sie sah älter aus, als sie war. Zum ersten Mal sah seine Mutter älter aus, als sie war. »Henner! Laß uns miteinander reden. Morgen. Wenn wir allein sind.« Sie bat jetzt. Sie flehte förmlich. Er sah es ihr an, sie war ihm nicht mehr gewachsen. Sie weinte. Wenn es nur möglich gewesen wäre, heimlich zu verschwinden! Er hätte diese Szene gern vermieden. Noch dazu, da dieser Borkenhausen im Wohnzimmer alles mit anhören konnte. Aber er brauchte die Einwilligung der Mutter. Es gab keinen Weg um drei Ecken. Ihm nützte nur der direkte Weg. Er schüttelte den Kopf, ging ins Bad, nahm seine Zahnbürste, einen Becher und ein Stück Seife. Er rollte alles in ein Handtuch und steckte es in eine Plastiktüte. »Dann geh’ doch. Geh doch endlich! 101
Du wirst schon wiederkommen. Du weißt genau, wo dein Napf steht.« So war sie! Innerhalb von Sekunden fiel sie von einem Extrem ins andere. Als sie weinte, hatte sie ihm leid getan. Jetzt tat sie ihm nicht mehr leid. Oder doch? Eigentlich doch! Sie tat ihm leid. Er verstand ihre Situation ja. Sie liebte diesen Typ. Sie wollte nicht auf ihn verzichten. Auf ihren Sohn wollte sie aber auch nicht verzichten. Er verstand ihre Situation. Warum verstand sie seine Lage nicht? Er war doch kein Idiot, der mit allem einverstanden war. Er konnte diesen Borkenhausen und er konnte Mutters Leben nicht verknusen. Und daran würde sich nie etwas ändern. Sie lief hinter ihm durchs Wohnzimmer. Borkenhausen sah aus seiner Zeitschrift hoch. Er lächelte Henner zu, stand auf und nahm die schluchzende Mutter in seinen Arm. Dieser Unsympath! In die Fresse müßte man ihm schlagen, bis er endlich mit dem blöden Grinsen aufhörte. »Ich laß dich durch die Polizei von diesen Leuten wegholen«, rief Mutter mit halberstickter Stimme. »Ich bin nicht bei Peschkes, laß die alten Leute aus dem Spiel.« Henner schlug die Tür hinter sich zu. So, das wäre geschafft. Jetzt tief durchatmen und dann ab. Hoffentlich hatte diese Inszenierung den gewünschten Erfolg.
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V »Hab’ jetzt nur keine Gewissensbisse. Es geht schließlich nicht nur um deine Mutter, es geht auch um dich.« Antje trug allerlei Zeug im Arm. Sie drückte Henner zwei Tüten in die Hand. Er hatte vor ihrer Haustür gewartet. »Ich habe keine Gewissensbisse. Aber meine Mutter war ganz schön fertig. Das ist schon ein Scheißspiel. Ich komme mir fast wie ein Erpresser vor.« Sie liefen dicht nebeneinander durch die dunklen Straßen. »Du bist ja auch ein Erpresser. Was heißt das schon? Der Zweck heiligt die Mittel. Ein Verbrecher, dem die Polizei die Pistole auf die Brust drückt, fühlt sich auch erpreßt.« Die Laube der Meynhardts lag inmitten einer Schrebergartenkolonie. Antje fummelte den Schlüssel aus ihrer Jeansjacke und schloß die Gartentür auf. Unter ihren Schritten knirschte der Kies. »Neben dem Sportclub ist der Garten Vaters Hauptbeschäftigung. Er sagt immer, er kann beruhigt alt werden, er hat ein Hobby.« »Ich kann mir nicht vorstellen, was meine Mutter mal macht, wenn sie alt ist. Den Borkenhausen hat sie dann bestimmt nicht mehr.« Antje tastete in der dunklen Laube herum, bis sie eine Kerze fand. »Wir haben hier zwar Strom, 103
aber es muß ja nicht gleich jeder sehen, daß heute abend jemand hier ist.« »Kerze ist auch viel gemütlicher.« Henner grinste. Er fühlte sich nicht sehr wohl in seiner Haut. »Romantiker!« Antje stellte die brennende Kerze auf den Tisch. »Aber den elektrischen Heizofen stellen wir an. Wozu frieren, wenn wir sowieso keinen Hunger haben.« Antje zog die Vorhänge zu und begann im Schein der Kerze ihr Mitgebrachtes auszupacken. Sie hielt in ihrer Beschäftigung inne, sah Henner an und fragte: »Willst du ein Bier? Vater hat immer ein paar Flaschen herumstehen.« Henner wollte. Er machte sich zwar sonst nichts aus Bier, aber heute, so fand er, paßte eine Flasche Bier ganz gut zu ihm. »Gut, dann trinke ich ein Glas Wein.« Antje kicherte wirklich seltsam. Als ob ein Kätzchen fauchte. Langsam wurde es warm in der Küche. Antjes Abendbrot schmeckte bombastisch. So mußte man leben: Wurst aus der Faust und nur soviel Brot, daß einem der Geschmack nicht verlorenging. Ab und zu prosteten sie sich zu. Antje wurde immer alberner. Sie erzählte und erzählte. Man hätte meinen können, daß sie schon lange darauf gewartet habe, Henner einmal so richtig ihr Herz auszuschütten. Ihr Herz mußte ein Faß ohne Boden sein. Henner beneidete sie. Im Grunde genommen 104
kam sie mit ihren Eltern gut aus. Ihre Probleme waren doch nur Problemchen. Mangels echter Differenzen nahm sie sie viel zu wichtig. Er sagte es ihr. »Wehret den Anfängen«, meinte Antje. »So wie dir kann es ja nicht jedem gehen.« Sie nahm aber auch wirklich nichts krumm. Nach dem Essen schaltete sie das Transistorradio ein. Nostalgie in rotem Plüsch. »Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt …« »Manchmal ist Kitsch richtig schön«, flüsterte Antje. Dann schwieg sie. Es schien ihr wirklich zu gefallen. Mädchen sind ulkige Geschöpfe. Selbst solche wie Antje. »Ach Egon, Egon, Eegon. ich halt ja nur aus Liebe zu dir …« »Es ist komisch«, flüsterte Antje, »schon in der ersten Klasse gefielst du mir. Alle deine Sprüche und Frechheiten habe ich nie richtig ernst genommen. Ich wußte immer, daß du eigentlich gar nicht so eine Horrortype bist.« »Und wie bin ich? Warum tue ich so?« Henner hatte bereits die zweite Flasche Bier vor sich stehen. Er spürte auch schon die Wirkung, im Kopf und in der Blase. »Du bist unsicher.« Antje sprach wieder etwas lauter. »Tagelang merkt man dich in der Klasse überhaupt nicht. Sowie du dich aber angegriffen und unsicher fühlst, reagierst du übertrieben aggressiv. Die anderen fühlen sich naß gemacht und 105
halten die Klappe. Mit deiner Schnauze kommen sie nicht mit. Und verprügeln können sie dich auch nicht. Du hast wieder deine Ruhe. Und weil du weißt, daß dieses Verfahren klappt, benutzt du es immer wieder.« »So etwas Ähnliches habe ich mir auch schon gedacht.« Henner hatte wieder einmal Gelegenheit, sich zu wundern. Wie gut Antje ihn kannte! »Und – was meinst du – warum bin ich so?« Antje zog ihre Jeansjacke aus. Ihr war warm geworden. »Aus Angst? Aus Unsicherheit? Weil du denkst, du müßtest zuschlagen, bevor andere zuschlagen? So ähnlich stelle ich mir das vor.« Antje trug einen engen roten Pulli mit einem bunten Halstuch. Henner fiel auf, daß sie keinen BH trug und in der letzten Zeit erstaunlich hübsche Brüste bekommen hatte. Irgendwie gefiel ihm das. Es war, als wären sie ihr über Nacht gewachsen. Er hatte das bis gestern nicht bemerkt. O Jesus, war er auf dem Holzweg gewesen! Sie merkte, daß er sie musterte und wurde rot, sehr rot. »Bin ich wirklich nur ein dufter Kumpel?« Antje war offen, verdammt offen! Henner wurde es ebenfalls sehr heiß. Er schüttelte den Kopf. Sagen konnte er es nicht. Er spürte, Antje mochte ihn. Ihn, Henner, den Penner. Und schon immer! Das war ein Mädchen! Mit dem konnte man durch dick und dünn gehen. Aber es war auch ein 106
verdammt hübsches Mädchen. Ihm wurde noch heißer. Menschenskind, daß es das gab! Antje senkte den Kopf. »Wie war das mit Marion?« Henner erzählte es ihr. Er erzählte es ihr so, wie es gewesen war. Einmal Kino, einmal nach Hause bringen und Schluß. Nur, daß Marion seit langem sein Traummädchen gewesen war, erzählte er nicht. Antje atmete auf. Die Gerüchte waren also wieder einmal nur Scheißhausparolen gewesen. Sie glaubte Henners Erzählung. Es paßte zu ihm. »Ich muß jetzt gehen. Morgen früh um neun bin ich wieder da. Früher kann ich nicht, sonst fällt es auf.« Henner zog ein saures Gesicht. Er hätte die ganze Nacht so dasitzen können, erzählen und erzählen und erzählen. Ohne Antje war die Bude nur halb so gemütlich. Antje zog ihre Jacke an. Er trat zu ihr, nahm ihren Kopf in seine Hände und küßte sie ganz vorsichtig auf den Mund. Vorsichtshalber schloß er seine Augen. Er kam sich ein bißchen blöd dabei vor. Zuerst rührte sich Antje nicht, dann aber preßte sie ihre Lippen fest auf seinen Mund. Als sie ihren Mund ein wenig öffnete, schreckte Henner, der noch nie zuvor ein Mädchen geküßt hatte, zurück. Antje lachte, huschte durch die Tür ins Freie und rief: »Paß mit der Kerze auf! Sonst brennt die gan107
ze Hütte ab.« Es dauerte eine geraume Zeit, bis ihm einfiel, daß er sie hätte nach Hause bringen müssen. Was konnte einem Mädchen um diese Zeit nicht alles zustoßen! Er war ein beschissener Liebhaber. Es wurde eine unruhige Nacht. Die Couch, auf der er schlief, quietschte und knarrte. Und der Gedanke, daß Antje etwas passieren könnte, verfolgte ihn bis in die Träume. Dann dachte er daran, daß sie beim Küssen ihren Mund aufgemacht hatte, und er nannte sich einen Trottel. Natürlich, er hätte auch den Mund aufmachen müssen. Das hatte er doch oft genug im Kino gesehen. An seine Mutter und an die alten Peschkes dachte er nicht.
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10. Kapitel Sonntag, der 23. November I Er war erst gegen Morgen eingeschlafen. Und er schlief auch nur drei – vier Stunden. Dann war er wieder wach. Er war so hellwach, als ob er zehn oder zwölf Stunden geschlafen hätte. Der gestrige Tag fiel ihm ein. Antje! Heute würde er sie richtig küssen. Sie sollte nicht denken, er könne das nicht. Woher konnte sie es eigentlich? Hatte sie doch schon andere Freunde gehabt? Stimmte es nicht, daß er der einzige war, der ihr bisher zugesagt hatte? Oder stimmte es doch, und sie hatte mit anderen Jungen nur mal so zum Spaß …? Mit Joker vielleicht? Die Szene auf dem Sportplatz! Unruhig sprang Henner auf, ging in die Küche, zog die Vorhänge zurück und wusch sich. Als er fertig war, aß er ein wenig von den Resten des gestrigen Abendbrotes. Nein, Antje hatte ihn nicht belogen. Das traute er ihr nicht zu. Und wenn doch? Dann wäre er wieder einmal enttäuscht. Wie so oft! Na, so oft nun auch wieder nicht. Henner sah durchs Fenster in den Garten. Ob er mal ein bißchen ums Haus gehen konnte, ohne ge109
sehen zu werden? Frische Luft würde ihm guttun. Es war ja auch erst acht.
II Das gab es doch nicht! Wer stand im Nachbargarten und nickte ihm schmunzelnd zu? Reuter, das lange dünne Ding. Der Meister der Naturwissenschaften. ›Warum fallen die Wolken nicht runter?‹ »Na, haben Sie gut geschlafen, Brinkmann?« War das nun eine Floskel, oder meinte der Chemiegigant das ironisch? Woher wußte der überhaupt, daß er hier geschlafen hatte? Er hätte ja ebensogut gerade erst angekommen sein können. »Nicht so gut«, antwortete Henner ehrlich. »Die Couch hat gequietscht und geknarrt.« Warum sollte er lügen? Erstens war die Sache unsicher und zweitens gar nicht notwendig. Was ging den Reuter an, wo seine Schüler schliefen? »Kein Wunder«, Reuter kam näher an den Zaun, »Meynhardts schlafen nie hier.« Angriff ist die beste Verteidigung. »Und Sie?« fragte Henner. »Was meinen Sie? Ob ich gut geschlafen habe, oder ob ich immer hier schlafe?« »Beides.« Henner war nun auch näher am Zaun. »Weil letzteres stimmt, kann ich auch ersteres bejahen.« So war Reuter. Immer der Zwang zum Mitdenken. »So wohnen Sie hier draußen? Sommer und 110
Winter?« Reuter lachte. »Im Winter ist es erst richtig schön hier. Wenn alles schneebedeckt ist und Rauch aus der Hütte aufsteigt. Ja, mein Freund, auch Naturwissenschaftler sind gelegentlich Romantiker. Ich habe auch noch einen alten Kohleofen. Nichts ist so gemütlich wie glühende Kohle.« Er schwieg einen Augenblick. »Kommen Sie über den Zaun. Wir trinken zusammen Kaffee. Sie haben heute bestimmt noch nichts Warmes gehabt.« Reuters Laube war wirklich urgemütlich. An den Wänden hingen Familien- und Klassenfotos, in und auf den Schränken stapelten sich die Bücher. »Sie dürfen sich nicht so genau umsehen, ich bin Junggeselle.« Reuter fuhrwerkte in der Küche herum. »Wie kamen Sie denn zu der Ehre, bei Meynhardts übernachten zu dürfen?« Reuter kam mit Geschirr und der dampfenden Kaffeekanne. Da war sie, die Frage. Henner hatte sie jeden Augenblick kommen sehen, aber eine einigermaßen glaubhafte Story war ihm noch nicht eingefallen. Er wollte ja auch gar keine Märchen erzählen. Schließlich war er im Recht. Aber was ging das Reuter an? »Bevor Sie mir jetzt eine Geschichte auftischen, möchte ich Ihnen sagen, daß ich Sie schätze.« Reuter steckte sich eine Pfeife an. »Mir gefällt die Konsequenz, mit der Sie Chemie und Physik miß111
achten.« Hatte er richtig gehört? »Doch, doch, Brinkmann! Sie haben richtig gehört. Genauso wie Sie meine Fächer nicht ausstehen können, so habe ich früher Sprachen und Geschichte nicht gemocht. Ein toter Stoff, zu dem ich keine Beziehung fand. So ungefähr geht es Ihnen mit Chemie und Physik. Stimmt’s? Ich bin ein Gegner des jetzigen Schulsystems. Ein System, das verlangt, daß jeder für alles Interesse aufbringt, ist meines Erachtens nicht genügend zukunftsorientiert. Alles spezialisiert sich, das vorhandene Wissen wird immer umfangreicher, und die Schule startet einen Wettlauf gegen die Wissenschaften. Jeder soll alles lernen. Schlechte Zensuren zwingen die Schüler dazu, Interesse aufzubringen. Was ist das Ergebnis? Man erzieht Lernroboter oder programmierte Versager.« Solche Worte aus dem Munde eines Lehrers? Henner kam die Szene unwirklich vor. »Natürlich muß eine gewisse Allgemeinbildung angestrebt werden. Aber das heutige Schulsystem übertreibt. Wenn ein begnadeter Aufsatzschreiber nicht Germanistik studieren kann, weil er die Integralrechnung nicht verstanden hat, dann kann ich nur sagen: Verrückte Welt.« Also deshalb ließ Reuter nie jemand durchfallen! Der war ja noch drei Zacken besser, als er gedacht hatte. »Ja, Brinkmann, deshalb schätze ich Sie. Ich weiß, 112
daß Sie Journalist werden wollen. Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Das heißt, wenn Sie ein guter Journalist werden wollen. Es gibt ja solche und solche. Aber Sie bringen alle Voraussetzungen mit, glaube ich. Sie sind ein kritischer Typ. Das gefällt mir. Und wozu müssen Sie die Fischer-TropschSynthese beherrschen, wenn Sie eines Tages mal Theaterkritiken oder politische Kommentare schreiben wollen? Oder warum sollte ein Chemiker nur die Schüler mögen, die in Chemie gut sind?« Reuter grinste. »Also, so lange ich Ihr Lehrer für Chemie und Physik bin, und Sie nicht gerade in den Prüfungen weißes Papier abgeben, haben Sie nicht viel zu befürchten.« Henner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Der war ja schwer in Ordnung, der Reuter. Das glaubte einem ja kein Schwein. Doch woher wußte er das mit dem Journalismus? Von Pipo? Oder von Antje? »Aber jetzt erzählen Sie. Und seien Sie so fair, wie ich es war. Mich interessiert Ihr privates Wohlergehen. Kritische Typen sind schwierige Charaktere. Ich habe Sie schon längere Zeit beobachtet.« Der kannte ihn also auch ganz gut. Nach Oma Peschke und Antje war das nun schon der dritte. Wenn ihn Mutter doch wenigstens halb so gut verstehen würde! Aber dazu gehörte wohl Interesse. Henner war fair. Er verriet seinen Plan, die Mutter zu verlassen, um zu den alten Peschkes 113
zu ziehen. Er gab zu, daß er pro forma auf Trebe gegangen sei, um die Mutter zu bewegen, ihre Zustimmung zu diesem Vorhaben zu geben. Auch, daß Antje ihm den Laubenschlüssel für diese Nacht zur Verfügung gestellt hatte, erzählte er. Reuter war auch einer von denen, zu denen man Vertrauen haben konnte. Der war nicht wie Vater. Der stand zu seinen Worten, noch bevor er sie ausgesprochen hatte. Reuter hörte ernst und nachdenklich zu. Dann stellte er Fragen. Henners Verhältnis zur Mutter interessierte ihn sehr. Als er genug gefragt hatte, sagte er: »Was du getan hast, ist sozusagen Notwehr. Jeder Mensch hat ein Recht darauf, nicht heucheln zu müssen, ob er nun volljährig ist oder nicht. Ob es sich dabei um die Schule handelt oder um das Elternhaus. Ich wünsche dir Glück bei deinem Vorhaben. Und es würde mich freuen, wenn du mir von dem Ausgang der Angelegenheit berichten würdest.« Erst als Henner wieder über den Zaun gestiegen war, fiel ihm auf, daß Reuter ihn zum Schluß geduzt hatte.
III Henner war happy. Er saß neben Antje in der Konditorei und verschlang heißhungrig ein Stück Streuselkuchen nach dem anderen. Sie waren den ganzen Vormittag spazieren gewesen, hatten ge114
quatscht und gequatscht und sich prima verstanden. Aber das war nicht der einzige Grund für Henners gute Laune. Ihm war aufgefallen, daß es auf einmal eine Menge Leute gab, die ihn gut leiden konnten. Alles Leute, die ihm ebenfalls zusagten. Früher hatte es nur Pipo gegeben. Jetzt gab es die alten Peschkes, Antje und sogar Reuter. Und wenn man es recht betrachtete, war Marion auch scharf auf ihn gewesen. Sie hatte nur ihrem Vater zuliebe einen Rückzieher gemacht. Antje trug heute nicht ihren üblichen Jeansanzug. Sie habe sich für ihn schön gemacht, hatte sie offenherzig erklärt. Bunte Bluse, langer brauner Cordrock und braune Stiefel – es war ihr gelungen! Henner hätte platzen können vor Stolz. Daran, daß Reuter in der Nachbarlaube wohnte, hatte sie nicht gedacht. Das wäre aber kein Beinbruch. Das ›lange, dünne Ding‹ sei schwer in Ordnung, meinte Antje. Kein Grund zur Unruhe. Ja, das mit Henners Journalistenfimmel hatte sie ihm erzählt. Er hätte sich schon oft nach Henner erkundigt. »Daß du soviel Kuchen ißt«, lenkte Henner ab. »Ich dachte, Mädchen achten wie verrückt auf ihre Figur.« Innerlich aber klatschte er in die Hände. Menschenskind, der Reuter! Die Sympathie dieses Mannes machte ihn stolz. Das war doch nicht irgendwer, das war Reuter – der Inbegriff von Wissen, Humor und Großzügigkeit. »Ach, das wird alles wieder abtrainiert. Das ist 115
der Vorteil, wenn man Sport treibt.« Antje kicherte ihr Spezialkichern. »Ja, aber der Nachteil ist, daß man später Eierwaden bekommt.« Es fiel Henner schwer, ernst zu bleiben. Er fühlte sich so aufgekratzt, am liebsten hätte er sie gekitzelt und abgeküßt. Antje hätte sich fast an ihrem Kuchen verschluckt. »Wer spricht denn von so was?« »Schau dir unsere Damennationalmannschaft an.« Heute vormittag im Park hatte er sie geküßt. Es war eine feuchte Angelegenheit gewesen, aber es hatte unwahrscheinlich viel Spaß gemacht. Na ja, und das bißchen Spucke. Antje überlegte etwas langsamer kauend. »Hör mal zu, du Sportfan. Wegen der eventuell kräftigen Waden verzichte ich nicht auf den Sport. Kräftige Waden, kräftige Lunge.« Henner grinste. Wie sie sich aufplusterte! »Treibst du wegen der Gesundheit Sport?« »Quatsch! Es macht mir Spaß. So lange ich denken kann, bin ich im Sportverein.« »Du meinst, so lange dein Herr Papa denken kann.« »Na und? Eltern sollen ihren Kindern etwas mit auf den Weg geben. Steht im Ratgeber ›Erziehung‹. Inzwischen macht es mir selber Spaß. Das ist besser, als vor Langeweile zu schielen.« Henner lachte und schielte angestrengt. Antje war keine Mimose. Er auch nicht. »Ich kann aber Eierwaden nicht leiden.« 116
»Na und? Bekommst du welche, wenn ich laufe?« »Nein, aber du.« »Das sind dann meine und gehen dich nichts an.« Ihre Stimme bekam etwas Nachdrückliches. »Mädchen mit Eierwaden liegen mir nicht.« Wollen wir doch mal sehen, was jetzt kommt. »Dann hast du Pech, Hennerich! Und ich auch. Aber ändern tut das fast nix.« Sie biß resolut in das letzte Stück Kuchen. Beklommenes Schweigen. Man überprüfte die Positionen. Der Spaß hatte einen bitteren Nachgeschmack bekommen. Henner schob seinen leeren Teller beiseite. Junge, Junge! Die vertrat ihre Meinung. Einfach würde es nicht mit ihr sein. Entweder mit Eierwaden oder überhaupt nicht. Dabei hatte sie gar keine! Sie mochte ihn, das gab sie zu. Aber sie würde seinetwegen nicht auf das verzichten, was ihr Spaß machte. Sie liebte ihren Sport. Kompromißlos! »Was willst du später machen? Weißt du das schon?« Henner versuchte, das Thema zu wechseln. »Sportlehrerin. Und dazu vielleicht noch Mathe.« Das Thema war also noch nicht beendet. »Was denn? Dann ist der Sport so eine Art Lebensbeschäftigung für dich?« »Gibt es Schöneres? Hobby und Beruf in einem. Mir gefällt’s, Vater gefällt’s, Mutter gefällt’s.« »Die heilige Dreieinigkeit!« stöhnte Henner. So was von Familienübereinstimmung. 117
»Übrigens«, Antje kicherte wieder, »Sportlehrerinnen haben keine Eierwaden. Zumindest ist mir noch keine über den Weg gelaufen.« Tatsächlich! Henner hatte auch schon mehrere Sportlehrerinnen kennengelernt. Alle waren sie groß und schlank gewesen. Eierwaden hatte keine. »Und bis in die Nationalmannschaft schaffe ich es bestimmt nicht.« »Na, Gott sei Dank.« »Wenn ich es aber doch schaffen sollte, dann ohne Rücksicht auf Verluste.« Henner gab auf. Sie hatte ja recht. Er würde ihretwegen auch nicht die Zeitung aufgeben. Allerdings bekam man vom Schreiben auch keine Eierwaden. »Ich glaube, für dich ist Sport, was für meine Mutter Borkenhausen ist.« Er seufzte. »Aber meinetwegen. Du trägst dann eben immer lange Röcke.« Diesmal kicherten sie beide. Dann sah Antje zur Uhr. Es war soweit. Auf nach Canossa!
IV Mutter und Borkenhausen hatten ihn offensichtlich erwartet. Sie lagen auf der Couch und hörten Tschaikowski. Als Henner eintrat, stand Borkenhausen auf und stellte die Musik leiser. »Na, wieder zurück?« fragte er, als wäre Henner seinetwegen gekommen. »Was geht Sie das an?« Mit dem würde er sich 118
nicht herumstreiten. Der sollte Fingerübungen machen, dieser Pianissimo. Borkenhausen setzte sich, zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie mit weit gespreizten Fingern. »Sei nicht gleich so aggressiv, Junge. Ich bin voll auf deiner Seite. Ich verstehe, daß du dein eigener Herr sein willst.« Weil es ihm in den Kram paßte, diesem Fiesling. Besseres konnte dem doch gar nicht passieren. »Ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Sie hat nichts mehr dagegen. Es ist wohl für alle besser so. Natürlich muß es sich bei diesen Leuten um ehrbare Personen handeln.« So ehrbar wie Monsieur Borkenhausen, was? Warum Mutter nichts sagte? Henner sah sie an. Sie nickte. Es war ein müdes Nicken. »Es fiel deiner Mutter nicht leicht, dem zuzustimmen. Es ist ja immerhin ein ungewöhnliches Ansinnen. Schließlich aber sah sie ein, daß man dich nicht zu deinem Glück zwingen kann.« Borkenhausen lächelte süßlich-bitter. »Übrigens, diesen kleinen Erpressungsversuch haben wir durchschaut. Wir wußten, daß du heute frisch und munter hier antanzen würdest. Ich habe auch vom Fenster aus gesehen, daß gestern ein Mädchen auf dich gewartet hat. Sturmfreie Bude will er haben, habe ich zu deiner Mutter gesagt.« »Warum läßt du dieses … Warum sprichst du nicht mit mir, Mutter?« Henner fühlte, daß er vor 119
Wut den Tränen nahe war. Warum ließ sie dieses Ekel reden? »Weil sie sich sonst wieder zu sehr erregt.« Borkenhausen fuhr in seiner gleichgültigen Art fort. »Sie hatte gestern abend fast einen Herzanfall, mein Lieber. Wir haben uns deshalb so abgestimmt, daß ich mit dir … verhandle. Es ist ja fast eine Verhandlung.« Henner beachtete ihn nicht. »Du bist also einverstanden, Mutter?« »Ja, deine Mutter ist einverstanden. Ich sagte es bereits. Wir müssen uns jetzt nur noch über die Kosten einigen. Was kostet das Zimmer? Wieviel brauchst du für Kleidung und Verpflegung?« Von der Couch kam ein unterdrücktes Schluchzen. Mutter preßte ihren Kopf ins Kissen und weinte. Henner ging zu ihr, nahm ihre Hand und sagte: »Mutter, ich besuche dich, so oft du willst. Ich wohne doch nur zwei Straßen weiter.« Sie schluchzte noch heftiger. »Und … was die Leute sagen, daran denkst du gar nicht? An die Auswirkungen … aufs Geschäft?« Henner stand auf. Das war’s also. Das Geschäft! Natürlich! Was hatte er denn gedacht?! Er war ein Idiot. Er brauchte sich wirklich keine Gewissensbisse zu machen. Die Mutter erriet seine Gedanken. Sie sprang auf, fuchtelte mit den Händen und schrie: »Ach, der Herr ist beleidigt! Das Geschäft ist nicht so wichtig, was? Nur er ist wichtig, der Herr Sohn. 120
Wovon lebt der großartige Sohn denn? Wer zahlt denn alles?« In Henner kochte es. Dieses Theater! Und alles vor diesem Borkenhausen. »Die teuersten Jeans tragen! Dickes Taschengeld! Das alles muß sein. Aber wo das Geld herkommt, das interessiert ihn nicht, den Herrn Sohnematz!« »Vater und du, ihr habt mich in die Welt gesetzt. Ich habe nicht darum gebeten.« Henner versuchte kühl und sachlich zu bleiben. »Daß Ihr mich kleiden und ernähren müßt, tut mir leid für euch. Sehr leid! Aber es geht leider nicht anders, ich kann nicht darauf verzichten und Ihr würdet euch sonst strafbar machen. Aber das weißt du ja, du gehst ja neuerdings zu Rechtsanwälten. Und was die teuren Jeans betrifft, die bekommst du zu Großhandelspreisen. Außerdem habe ich nie gesagt, ich will nur die teuersten. Du hast es so gewollt. Ich mußte ja Reklame laufen – fürs Geschäft.« Mutters Gesicht verfärbte sich. Sie atmete heftig, wollte irgend etwas herausschreien, ließ es dann aber sein und flüsterte nur, während sie sich wieder auf die Couch sinken ließ: »Er ist wie sein Vater. Alles grenzenlose Egoisten, diese Brinkmanns.« »Ich habe dir gleich gesagt, du sollst mich diese Angelegenheit bereinigen lassen.« Nervös fuhr sich Borkenhausen durchs Haar. Anscheinend hatte diese Szene sein ansonsten so ausgepegeltes inneres Gleichgewicht durcheinandergebracht. 121
Er wandte sich an den an der Wand lehnenden Henner. »Also, sei vernünftig Junge. Laß uns die Sache schnell beenden. Wie hoch sind die Kosten?« »Das Zimmer kostet nichts.« Henner sprach schnell. »Nur fürs Essen brauche ich Geld. Wenn ich Kleidung brauche, komme ich ins Geschäft.« Er ging zur Tür. »Gut! Wir haben uns gedacht, 250 Mark monatlich für Verpflegung und Taschengeld müßten reichen. Kleidung bekommst du – wie gesagt – im Geschäft.« Borkenhausen sah auf seine Zigarette. »Du weißt ja, Großhandelspreise!« Henner hatte schon die Klinke in der Hand. Wenn er jetzt nicht ging, müßte er dieser Ratte in die Fresse schlagen. Dann wär’ das Theater vollkommen. »Und wann willst du ziehen?« Das war Mutter. Es klang winselnd. Sie bemitleidete sich selbst. Und sie übertrieb – wie immer! Henner wollte sagen: In den Weihnachtsferien. Doch nach kurzem Zögern änderte er seine Meinung. »Heute abend. Es wäre gut, wenn der Typ dann nicht anwesend ist. Den Schlüssel werfe ich in den Briefkasten, falls du auch nicht da bist.« Die Mutter schlug mit der Faust in das Couchkissen, aber sie sagte nichts mehr.
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V »Wenn das ein Sieg war, möchte ich wissen, wie Niederlagen aussehen.« Henner sah Antje nicht an. »Dieser Borkenhausen, dem kommt das gerade recht. Er hat Mutter umgestimmt. Sie hat nichts mehr dagegen.« Er hob den Kopf. »Oder besser, sie hat allerhand dagegen, aber sie hat sich damit abgefunden. Ganz einfach damit abgefunden. Vielleicht … vielleicht gefällt sie sich sogar in ihrer neuen Rolle als verlassene Mutter. Na ja, die Geschäfte werden nicht darunter leiden.« Antje schob ihre Hand unter seinen Arm, als wären sie ein altes Ehepaar. »Sei zufrieden, daß sie sich nicht weiter gesträubt hat. Sonst wärst du vielleicht doch noch auf Trebe gegangen.« Henner hob den Arm und nahm Antjes Hand. Er wollte nicht so altbacken durch die Gegend schlendern. »Ich weiß nicht, ob ich froh sein soll oder nicht. Eigentlich erwartet man ja von seiner Mutter, daß sie kämpft. Das einzige, was sie interessierte, war, was die Leute sagen; wegen der Shops. Wer weiß, was der Borkenhausen ihr erzählt hat.« »Die Shops sind ihr Leben, du bist ihre Pflicht, und dieser Pianist ist ihr Vergnügen. Es gab für deine Mutter doch nur zwei Möglichkeiten. Entweder sie ließ den Borkenhausen sausen – oder dich.« Antje drückte seine Hand. »Du hast sie vor 123
die Wahl gestellt, Pflicht oder Vergnügen. Wenn sie dir heute gesagt hätte, daß Schluß ist mit dem Typ, dann wärst du doch geblieben. Sie hätte ihr Vergnügen aufgegeben, um eine Pflicht zu erfüllen.« »Ich habe nicht im entferntesten gehofft, daß sie meinetwegen auf Borkenhausen verzichtet.« Der Gedanke, daß er seine Mutter unbewußt vor eine Entscheidung gestellt hatte, ärgerte ihn. »Ich will ja gar nicht, daß sie sich von ihrem ›Vergnügen‹ trennt. Ich verstehe es zwar nicht, aber wenn er ihr ein und alles ist – bitte schön! Ich will doch nur, daß sie einsieht, daß er und ich nicht zusammenpassen. Was ist daran so unnormal? Wenn ich sie alle zwei – drei Wochen besuche, braucht sie nicht zu verzichten, und ich muß den Kerl nicht ertragen. Damit ist beiden geholfen.« Antje schüttelte den Kopf. »Das versteht sie nicht. Das verstehen die meisten nicht. Als Jugendlicher hast du noch keine eigene Meinung zu haben. Du hast zu akzeptieren und zu gehorchen. Was du getan hast, ist für sie unnormal. Die Altvorderen sind gewöhnt daran, daß in einem solchen Fall der Sohn oder die Tochter kuschen. Du hast die Klappe zu halten und gefälligst so lange zu leiden, bis du volljährig bist. Und damit basta!« Henner sah Antje an. Wieso konnte sie so reden? Woher wußte sie, daß er im Recht war und nicht Mutter? Sie kannte die ganze Story doch nur vom Hörensagen. Sie kannte seine Version, sonst wuß124
te sie nichts. Vertraute sie ihm blindlings? Hielten Menschen immer zusammen, nur weil sie sich mochten? Mutter und Borkenhausen, Vater und Almut, er und Antje? Ja, so mußte es sein. Jeder suchte sich einen Partner, der zu ihm hielt. Um stärker zu sein, um Zuflucht zu finden und um der Bestätigung willen, es richtig zu machen. Antje bemerkte seinen nachdenklichen Blick nicht. »Schnauze halten, das ist normal. So haben sie es am liebsten. Oder ausreißen? Das mögen sie zwar nicht, aber das kennen sie schon. Das ist nicht neu. Sozusagen eine fast normale Reaktion.« »Aber was du getan hast«, Antjes Stimme hob sich vor Stolz, »das ist für sie unnormal. Ein Junge, der sagt: ›Ich sehe ein, daß du deinen Typ liebst, ich habe auch gar nichts dagegen, aber verlange nicht von mir, daß ich täglich freundlich zu ihm bin, sondern lasse mich zwei Querstraßen weiterziehen‹ – das ist unnormal.« »Du bist fürwahr ein kluges Mädchen«, sagte Henner und legte seinen Arm um ihre Schulter. Sie standen vor dem Haus, in dem Peschkes wohnten. »Und du bist ein so unnormaler Knilch, daß ich gespannt bin, wo du morgen wieder aus der Reihe tanzt. Mit dir wird’s bestimmt nicht langweilig.« »Wollen wir so bleiben?« »Warum nicht? Wenn wir nicht besser werden.«
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