Marc Roedenbeck Individuelle Pfade im Management
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Innovationen der Managementlehre Herausge...
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Marc Roedenbeck Individuelle Pfade im Management
GABLER EDITION WISSENSCHAFT Innovationen der Managementlehre Herausgegeben von Prof. Dr. Matthias Meifert, Dr. Frank E. P. Dievernich
Marc Roedenbeck
Individuelle Pfade im Management Modellentwicklung und Ansätze zur Überwindung von Pfaden
Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Matthias Meifert und Dr. Frank E. P. Dievernich
GABLER EDITION WISSENSCHAFT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Freie Universität Berlin, 2008 D 188
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frauke Schindler / Jutta Hinrichsen Gabler ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-1409-5
Geleitwort der Herausgeber Das Angebot an Monografien und Sammelbänden, die sich dem Thema Management und seiner Lehre verschrieben haben, ist vielfältig. Sie füllen Regalmeter in Bibliotheken, werden als Heilsbringer dem betrieblichen Praktikerpublikum empfohlen, Studenten als Pflichtlektüre verordnet und bilden den Bezugsrahmen für den fachlichen Diskurs. Worin liegt angesichts dieser Publikationsfülle der Bedarf an dieser neuen Schriftenreihe? Was ist ihr gemeinsamer inhaltlicher Nukleus? Und welche Beiträge werden in ihr vereinigt?
„Das ist ja interessant!“, wird der geneigte Leser denken, wenn er feststellt, dass es zwar diese unzähligen Bücher gibt, aber keines explizit das Thema der Innovation auf den Gegenstand, dem Management und seiner Lehre selbst, bezieht. Interessant erscheint auch, dass Management und die Lehre vom Management die Innovation in der Steuerung von Organisationen thematisieren muss, um gleichzeitig den Strukturerhalt der Organisation in Zukunft und in einer alles anderen als uninnovativen und damit unstatischen Umwelt zu sichern. Management und die Lehre davon ist somit selbst Ausdruck einer Paradoxie. Sie ist ihr selbst unterworfen und kann nur mit einer Gegenparadoxie sinnvollerweise begegnet werden.
Mittlerweile darf es als gängig gelten, dass Organisationen genauso wenig wie das Management selbst (fast) nicht mehr zu steuern sind. Folgerichtig ist dann die Vermutung naheliegend, dass es sich mit ihrer eigenen Lehre ähnlich verhält. Zu dieser „Unordnung“ wollen wir beitragen, in dem wir Themen vom Rande her (wo auch immer genau dieser ist), oder besser Themen, die aufgrund des Strukturierungsprinzips des bestehenden Verständnisses vom Management und seiner Lehre bisher außen vor bleiben mussten (wo auch immer dieses „außen vor“ genau zu verorten ist), aufgreifen. Diese wollen wir als Variante eines anderen Blicks dem Management und seiner Lehre anbieten. Wenn zudem darüber Kommunikation im Sinne eines „Das ist ja interessant!“ losgetreten würde, dann wäre unser Ziel erreicht: Kristallisationspunkte schaffen, an denen sich temporär das Management und seine Lehre in einer sich laufend verändernden Umwelt immer wieder neu und passender ordnen kann.
Prof. Dr. Matthias T. Meifert
Dr. Frank E. P. Dievernich
V
Vorwort Das vorliegende Buch von Marc Roedenbeck kann als Wiedereinführung verstanden werden: vom Menschen in der Organisation. Genauer: vom Menschen als Urheber von allem: soziale Strukturen, Störungen, Innovationen, Erfolge und nicht zuletzt Pfadabhängigkeiten. Es sind gerade Letztere, die darauf verweisen, wie wenig Reflexion aber vor allem wie viel an Entlastung uns die ersten Anzeichen von Strukturen im sozialen Leben und vor allem in Organisationen bescheren. Der Grund ist einleuchtend: Wir wollen unser Handeln daraus verlässlich ausrichten. Erst in zweiter Linie scheint relevant, ob sie negative oder positive Konsequenzen für die Organisation und die jeweiligen Menschen nach sich ziehen.
In diesem Kontext muss die Arbeit Roedenbecks als Fortschreibung der Geschichte des Lernens und zugleich als Entfaltung der Paradoxie zwischen Lernen als positive Formulierung der Zerstörung altbekannter Sicherheiten, und dem Versuch, diese Sicherheiten durch Lernen (wieder) zu erreichen, gesehen werden. Dabei zeigt er, dass der Ursprung von beidem, dem Verändern (Lernen) und Erhalten (Struktursicherung), im Menschen selbst verankert ist. Die erste Strukturvorgabe für eine Organisation sind die mentalen Strukturen und Modelle, die als Konstruktion im Menschen bestehen. Um das deutlich zu machen, vereinigt Roedenbeck die Perspektiven von Systemtheorie, NLP sowie Huna, bzw. deren jeweiligen Beratungsansätzen.
In all diesen Varianten eines konstruktivistischen Denkens wird ersichtlich, dass der Mensch Urheber seiner sozialen Welt ist und dass er sein Handeln aufgrund der Modellierung dieser Welt ausrichtet. Vor allem aber greift er immer wieder rückbeziehend auf diese inneren Strukturen zu, so dass, als Extremvariante formuliert, die äußere Welt sich um diese „inneren Repräsentationen“ rankt. Es wird von der äußeren Welt nur das wahrgenommen, was die innere Landkarte vorsieht, erblicken zu können. Gestaltet sich dann tatsächlich eine soziale Umwelt, die dem entspricht, was als innere Konstruktion vorherrscht, dann bestätigt sich diese Sicht der Dinge. Die letztere Beschreibung ist der Normalfall unserer sozialen Welt: Menschen werden Mitglieder in schon immer bereits bestehenden Organisationen. Sie gehen in die Schule, wandern weiter in Bildungseinrichtungen und Unternehmen, sind in der Freizeit selbst in Organisationen, wie Vereine, organisiert und halten sich in Umwelten auf, die vor allem darüber kommunizieren, wie das Leben organisiert ist und wie man es besser organisieren
VII
könnte. Bereits in der Familie von heute ist die Kommunikation von Organisationsleistungen ein, wenn nicht das relevante Gesprächsthema. Dabei greifen wir in unseren mentalen Modellen bereits auf Vorstellungen zurück, wie Organisationen und Organisationsleistungen auszusehen haben. Wir sind Bestandteil eines sozialen Netzes, bestehend aus Erwartungserwartungen: Wir erwarten von anderen, was sie von uns erwarten – und handeln dementsprechend. So gesehen erscheint es immer als wagemutig, die Frage zu stellen, wie es denn auch anders laufen könnte. Und manchmal erscheint noch nicht einmal die Vorstufe davon realistisch: es anders zu denken.
Genau hier setzt Roedenbeck an, indem er der Notwendigkeit der Reflexion eine Bühne baut. Reflexion ist die Grundbedingung dafür, dass Veränderung möglich ist, und zwar gegen die eigenen zum Teil komfortablen Denkfallen, die immer auch entlastend für das eigene Handeln wirken. Die vorliegende Arbeit zeigt nun, dass Reflexion, gerade in sozialen Kontexten wie es bspw. Unternehmen sind, im Kern nur durch die Personen selbst angestoßen werden können. Aus diesem Grund passt es, dass Roedenbeck auf das Bild des Barons von Münchhausen zugreift, der sich am eigenen Schopf selbst aus dem Sumpf, in dem er zu versinken droht, heraus zieht. Oder um es mit anderen, konstruktivistisch anmutenden Worten auszudrücken: Man kann sich letztendlich nur an sich selbst auf- und ausrichten. Es ist also längst überfällig, zu verstehen, dass man lange warten kann, bis Organisationen sich verändern, bis sie erfolgreicher, menschlicher, effizienter, innovativer, spannender etc. werden, wenn man nicht selbst diese Andersartigkeit, die Option darauf, dass es auch anders sein könnte, kommunikativ und am besten untermalt mit Handeln, in die Organisation einspielt. Was es also braucht, ist zu erkennen, dass es diesen eigenen Schopf gibt und, wie Roedenbeck zeigt, dass es Techniken gibt, die das Ziehen daran ermöglichen. Diesen Blick als Normalität für sich selbst zu verankern, ist der erste Schritt, den eigenen Denkfallen systematisch auf die Schliche zu kommen.
An dieser Stelle erfährt das „klassische“ Coaching als Beratungsdienstleistung bei Roedenbeck eine Umformulierung, in dem es als Instrument präventiven Handelns eingeführt wird. Es geht nicht mehr nur darum, Coaching als Instrument zu verstehen, um mit bestehenden Organisationsrealitäten, meistens paradoxe und ambivalente Anforderungen, als Individuum (meist Führungskraft oder Mitarbeiter) besser umzugehen und auszuhalten, sondern darum, die Frage danach zu stellen, welche alternative Handlungsoptionen aufgrund eigener, individueller Denkfallen und Pfadabhängigkeiten nicht mehr gesehen werden. Das ist ein eklatanter VIII
Schritt in jene Richtung, die Huna-orientierte Beratungsansätze im Sinne eines aus unserer Perspektive reflexiven Coachings thematisieren, wenn sie die Frage nach dem energetischen Einklang, nach der Harmonie stellen. Für ein Unternehmen bestünde Harmonie beispielsweise darin, dass zum einen Bereichsinteressen in Einklang mit dem mittel-, lang- und nachhaltigen Wohlbefinden des Gesamtunternehmens stehen, dass die Stabilität bestehender Strukturen genauso präferiert behandelt werden, wie die nachhaltige Sicherung der Veränderungsfähigkeit, dass Hierarchie auf Umsetzung von Anordnungen sowie irritierender Mitarbeiterpartizipation setzt, etc. Auf Personenebene wäre Harmonie dadurch zu erreichen, dass Mitarbeiter (hierzu gelten auch die Führungskräfte!) ihre Beobachterkompetenz tatsächlich auch ausleben dürfen, dass sie verstehen, was und warum sie in einem Unternehmen etwas tun, dass sie das Gefühl entwickeln können, jeweils an den Stellen, an denen sie sich in den Organisationen befinden, richtig zu sein und daher bei allem was sie leisten quasi selbstverständlich die Frage nach der Nützlichkeit für die Gesamtorganisation zu stellen. Das wäre eine ideale Form einer Corporate Organizational Responsibility und würde nachhaltig die Zukunftsfähigkeit der Organisation garantieren.
Im Gegensatz zu den herkömmlichen Coachingansätzen eröffnet nun reflexives und präventives Coaching zum einen die Voraussetzung für die Entdeckung und zum anderen direkt die Entdeckung neuer Welten bzw. Handlungsoptionen. Das hier auf Basis konstruktivistischer Ansätze entwickelte Coachingverständnis zeigt, dass sich die Welt nur durch Sprache und Fragen entfaltet. Nun kommt es darauf, die richtigen Fragen zu stellen und ihnen einen Platz in der Organisation einzuräumen. Der Anfang ist gemacht: im Individuum, genauer, im Organisationsmitglied, und das ist nicht der schlechteste Ort, um immer wieder einen Neuanfang für die Organisation zu wagen.
Berlin, 30.10.2008
Prof. Dr. Matthias T. Meifert
Dr. Frank E. P. Dievernich
IX
Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis..........................................................................................................XV Tabellenverzeichnis............................................................................................................XVII Glossar..................................................................................................................................XIX I
Einführung..........................................................................................................................1
II Problemstellung und leitende Fragen...............................................................................7 II.1 Skizzierung des wirtschaftswissenschaftlichen Problemfeldes..................................8 II.2 Spezifizierung eines interdisziplinären Grundlagenproblems..................................16 II.3 Ergebniserwartung und interdisziplinärer Ausblick.................................................23 II.4 Die leitende Fragestellung und das Münchhausen-Paradoxon.................................26 III Zum Stand der Pfadforschung........................................................................................31 III.1 QWERTY, Kritik und erste Weiterentwicklungen...................................................32 III.2 Pfadabhängigkeit in der Organisationsforschung.....................................................37 III.3 Kritische Würdigung bisheriger Pfadforschung.......................................................40 III.4 Definition des ‚individuellen Pfades’ und theoretische Annahmen.........................49 IV Pfade individueller Konstruktionen und deren Überwindung....................................53 IV.1 Konstruktivismus als epistemologische Grundlage..................................................55 IV.1.1 Auswahl von und Kritik an konstruktivistischer Epistemologie.................56 IV.1.2 Der eigene Standpunkt gegenüber der Kritik..............................................69 IV.1.3 Auswahl geeigneter konstruktivistischer Literatur.....................................73 IV.2 Individuelle Konstruktion und Non-Ergodizität.......................................................82 IV.2.1 Die Anfänge konstruktivistischer Forschungsperspektiven........................82 IV.2.1.1 Subjektivität, Quantität und Wahrheit – Griechische Wurzeln.............83 IV.2.1.2 A Priori und erfundene Gesetze – Philosophische Einflüsse.................85 IV.2.1.3 Gemachte Fakten – Rhetorische Einflüsse............................................86 IV.2.1.4 Sensomotorik – Denkanstöße eines Mathematikers..............................87 IV.2.1.5 Die Erfindung von Erklärung – Anthropologische Einflüsse................88 IV.2.1.6 Konstruktion und Gegenstand – Die Entwicklungspsychologie...........90
IV.2.2 Prägungen aus der Theorie persönlicher Konstrukte..................................94 IV.2.3 Zentrale Elemente radikalkonstruktivistischer Perspektiven......................98 IV.2.3.1 Der Beobachter und das Re-Entry – Biologische Impulse....................99 IV.2.3.2 Kodierung und Trivialität – Kybernetik zweiter Ordnung..................105 IV.2.3.3 Fit und Viabilität – Kognitionspsychologische Impulse......................114
XI
IV.2.4 Gemäßigte, konstruktivistische Perspektiven...........................................119 IV.2.4.1 Das Unbewusstsein – Ansätze aus der Psychoanalyse........................120 IV.2.4.2 Erkennen und Erschaffen – Eine gemäßigte Perspektive....................122
IV.2.5 Grafische Modellentwicklung in Anlehnung an die Literaturdiskussion..126 IV.3 Individuelle Konstruktion und Selbst-Verstärkung................................................134 IV.3.1 Selbstverstärkung in konstruktivistischen Ansätzen.................................135 IV.3.1.1 Beiträge aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven............136 IV.3.1.2 Beiträge aus der Theorie persönlicher Konstrukte..............................142 IV.3.1.3 Beiträge aus radikalkonstruktivistischen Perspektiven........................143
IV.3.2 Selbstverstärkung aus der Perspektive der Pfadforschung........................147 IV.3.3 Erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung.......................151 IV.4 Individuelle Konstruktion, Lock-In und dessen Überwindung..............................155 IV.4.1 Lock-In und dessen Überwindung in konstruktivistischen Perspektiven. 156 IV.4.1.1 Beiträge aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven............157 IV.4.1.2 Beiträge aus der Theorie persönlicher Konstrukte..............................159 IV.4.1.3 Beiträge aus radikalkonstruktivistischen Perspektiven........................160
IV.4.2 Lock-In und Brechung aus der Perspektive der Pfadforschung................163 IV.4.3 Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung....................165 IV.5 Kontrolle der theoretischen und neue empirische Annahmen................................168 IV.5.1 Zu den theoretischen Annahmen...............................................................169 IV.5.2 Entwicklung empirischer Annahmen........................................................172 V Empirische Viabilität des Modells eines individuellen Pfades...................................179 V.1 Zur Methodologie mit einer konstruktivistischen Perspektive...............................181 V.1.1
Empirische Sozialforschung und Konstruktivismus.................................181
V.1.2
Der Prozess empirischer Forschung und Konstruktivismus.....................188
V.2 Über die Methodenwahl.........................................................................................191 V.2.1
Auswahl einer qualitativen Erhebungsmethodik.......................................192
V.2.2
Mögliche Probleme bei der Anwendung ..................................................198
V.3 Über die Grundgesamtheit und das Sampling........................................................201
XII
V.3.1
Bestimmung einer geeigneten Samplingmethode.....................................201
V.3.2
Entwicklung eines Datenpools..................................................................203
V.3.3
Systemische Beratung – Ein Überblick.....................................................207 V.3.3.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses........207
V.3.3.2
Grundannahmen...................................................................................209
V.3.3.3
V.3.4
V.3.5
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche.....................212
NLP – Ein Überblick.................................................................................213 V.3.4.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses........214
V.3.4.2
Grundannahmen, Modellbildung und Modellrepräsentation...............215
V.3.4.3
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche.....................221
V.3.4.4
Abgrenzung von NLP gegenüber der systemischen Beratung............223
Huna – Ein Überblick................................................................................225 V.3.5.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses........225
V.3.5.2
Grundannahmen und Modellbildung...................................................227
V.3.5.3
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche.....................236
V.3.5.4
Abgrenzung von Huna zur systemischen Beratung und NLP.............237
V.4 Operationalisierung, Feldzugang und Auswertungsverfahren...............................238 V.4.1
Leitfadenerstellung....................................................................................239
V.4.2
Kontaktierung und Auswahl der Experten und Expertinnen....................240
V.4.3
Über das Vorgehen bei der Datenauswertung...........................................242
V.5 Ergebnisdarstellung................................................................................................245 V.5.1 V.5.2
Reflexion zum Ablauf der Interviews.......................................................247 Ergebnisdarstellung in Bezug auf die Annahmen im Modell...................250 V.5.2.1
Einleitende Kontrollfragen..................................................................251
V.5.2.2
Annahmen zur Wahrnehmung.............................................................257
V.5.2.3
Annahmen zur Rekursion....................................................................264
V.5.2.4
Annahmen zur Selbstverstärkung........................................................269
V.5.2.5
Annahmen zum Lock-In......................................................................277
V.5.2.6
Grafische Zusammenfassung...............................................................286
V.5.3
Zusammenstellung der Erweiterungen auf Basis der Interviews..............290
V.5.4
Auswertung zu den Lösungsmethoden.....................................................293
V.5.5
V.5.4.1
Allgemeine Anmerkung zu den Methoden..........................................294
V.5.4.2
Methoden zur Wahrnehmung..............................................................295
V.5.4.3
Methoden zur Rekursion......................................................................301
V.5.4.4
Methoden zur Selbstverstärkung.........................................................303
V.5.4.5
Methoden zum Lock-In.......................................................................310
Dritte Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung......................312
VI Rückbindung der Ergebnisse und weiterführende Fragen........................................319 VI.1 Beantwortung der leitenden Forschungsfrage........................................................320
XIII
VI.1.1 Individuelle Pfade und deren Lösung........................................................321 VI.1.2 Individuelle Pfade und die Meso- und Makro-Ebene...............................326 VI.2 Weiterführende Fragen...........................................................................................328 VI.2.1 Fragen in Bezug zu dem Modell und den Lösungsmethoden...................329 VI.2.2 Änderungen im empirischen Design.........................................................332 VI.2.3 Fragen für die Pfadforschung....................................................................333 Anhang...................................................................................................................................335 Anhang 1 Auswertungsmatrizen zur Literaturdiskussion.............................................335 Anhang 2 Methodenglossar zur systemischen Beratung...............................................343 Anhang 3 Methodenglossar zu NLP..............................................................................357 Anhang 4 Methodenglossar zu Huna.............................................................................371 Anhang 5 Leitfadendiskussion......................................................................................387 Anhang 6 Anschreiben..................................................................................................397 Anhang 7 Rückrufnotizen..............................................................................................399 Anhang 8 Roh-Auswertungsmatrizen...........................................................................401 Anhang 9 Kurzer Lebenslauf.........................................................................................403 Literaturverzeichnis..............................................................................................................405
XIV
Abbildungsverzeichnis Abbildung 01 – Aufbau der Dissertation....................................................................................4 Abbildung 02 – Strukturationstheoretische Gliederung der Pfadforschung (anlehnend an Windeler 2003, S. 318)...................................................................................10 Abbildung 03 – Feldtheorie und individuelle Pfade.................................................................12 Abbildung 04 – Feldtheorie und soziale Pfade.........................................................................13 Abbildung 05 – Das bildliche Paradoxon des Barons von Münchhausen (vgl. Bürger 1874, S. 34).........................................................................................27 Abbildung 06 – Entscheidungspfade (in Anlehnung an Sydow et al. 2005a, S. 32; Schreyögg et al. 2003, S. 286)........................................................................38 Abbildung 07 – Beispielhafte Selbstverstärkung (in Anlehnung an Monge 1995, S. 286)......48 Abbildung 08 – Erste, vorläufige grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades............................................................................................................133 Abbildung 09 – Erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades.............................................................................154 Abbildung 10 – Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades.............................................................................167 Abbildung 11 – Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades mit den empirischen Annahmen.........................177 Abbildung 12 – Der Prozess empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie................................................................................................190 Abbildung 13 – Zustimmungen zu den empirischen Annahmen............................................287 Abbildung 14 – Dritte Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades : Pfade individueller Konstruktionen.................316 Abbildung 15 – Beitrag der vorliegenden Arbeit als grafische Zusammenfassung................325 Abbildung 16 – Methodenkategorisierung der systemischen Beratung.................................343 Abbildung 17 – Methodenkategorisierung von NLP..............................................................357 Abbildung 18 – Methodenkategorisierung von Huna.............................................................371
XV
Tabellenverzeichnis Tabelle 01 – Gruppierung konstruktivistischer Autoren mit Mehrfachnennungen nach zusammenfassenden Arbeiten..............................................................................77 Tabelle 02 – Kontaktierung von Experten und Expertinnen...................................................241 Tabelle 03 – Rücklaufquoten..................................................................................................248 Tabelle 04 – Hierarchisierte Auswertung der Zusatzinformationen.......................................290 Tabelle 05 – Bekannte und neue Methoden zur Wahrnehmung.............................................301 Tabelle 06 – Bekannte und neue Methoden zur Rekursion....................................................303 Tabelle 07 – Bekannte und neue Methoden zur Selbstverstärkung........................................309 Tabelle 08 – Bekannte und neue Methoden zum Lock-In......................................................311 Tabelle 09 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 1)...........................................335 Tabelle 10 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 2)...........................................336 Tabelle 11 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 3)...........................................337 Tabelle 12 – Analyse zu den Relationen von Konstruktion (Teil 1).......................................338 Tabelle 13 – Analyse zu den Relationen von Konstruktion (Teil 2).......................................339 Tabelle 14 – Analyse zu Rekursion und Selbstverstärkung....................................................340 Tabelle 15 – Analyse zum Lock-In.........................................................................................341 Tabelle 16 – Roh-Auswertungsmatrix für die empirischen Annahmen..................................401 Tabelle 17 – Roh-Auswertungsmatrix für die Erweiterungen................................................402
XVII
Glossar AI
Aloha International
BCL
Biological Computing Laboratory
DGSF
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie
DSK
Dvorak Simplified Keyboard
DVNLP
Deutscher Verband für Neuro-Linguistisches Programmieren
DGNLP
Deutsche Gesellschaft für Neuro-Linguistische Programmierung
GANLP
German Association for Neuro-Linguistic Programming
ICD
International Classification of Diseases
NLP
Neuro-Linguistische Programmierung
Pol.
Politeia, von Platon nach der Übersetzung von F. Schleiermacher
SG
Systemische Gesellschaft
SSCI
Social Science Citation Index
XIX
I
Einführung
Wissen und Erfahrungen sind die Basis des Lernens. Manager und Managerinnen sowie Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind daher durch positive und negative Erfahrungen in der Lage ihre Kompetenzen auszubauen. Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen können die Ihnen gestellten Aufgaben durch Erfahrung besser lösen, Manager und Managerinnen werden durch Erfahrung besser in die Lage versetzt ein Unternehmen erfolgreich zu führen. Theoretisches Wissen bildet für die Erfahrung dabei oft eine Handlungs- und Bewertungsgrundlage. Paradoxer weise können aber aus Erfahrungen und Wissen auch ‚Denk-Fallen’ entstehen. Kishore Sengupta beschrieb mit seinen Kollegen in der Harvard Business Review (Februar 2008), dass Manager und Managerinnen auf Grund Ihrer Erfahrung mit dem Lernen aus Fehlern aufhören. Sie befinden sich in einer ‚Denk-Falle’. Obwohl sie negative Erfahrungen erleben erfolgt keine Anpassung ihrer Annahmen. Wesentliches Merkmal dieser ‚Denk-Fallen’ ist also, dass weder durch negative Erfahrungen noch durch theoretische Erkenntnis eine Befreiung daraus möglich erscheint. Betroffene Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen argumentieren bei Nachfragen in Bezug auf Veränderung zumeist mit den folgenden Antworten: ‚Das war schon immer so’, ‚Das geht nicht anders’, ‚Man muss das so machen’. Die negativen Folgen dieser hyper-stabilen ‚Denk-Fallen’ sind für Unternehmen, aber auch für die Gesellschaft vielfältig. So entstehen z.B. durch die ‚Denk-Falle’, dass auch bei komplexen Projekten immer kleine Teams verwendet werden, unternehmensinterne Kosten. Denn solche Projekte werden nach Sengupta und seinen Kollegen dann häufig nur über der Zeitvorgabe und über dem geplanten Budget erreicht. Es entstehen soziale Kosten, wenn Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen durch ‚Denk-Fallen’ Ihrer Vorgesetzten an Burnout leiden und dem Druck standzuhalten versuchen. Darüber hinaus entstehen nach Horst Albach negative soziale Transaktionskosten. Wenn die Projekte scheitern, müssen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen freigesetzt werden, in anderen Unternehmen neue Stellen suchen und Arbeitsverträge abschließen.
Arbeiten, welche sich im Rahmen der Wirtschaftswissenschaft mit dem Phänomen von ‚Denk-Fallen’ beschäftigen, suchen deren Ursachen zumeist in dem Unternehmen oder der sozialen Umwelt. Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind so-
1
mit zumeist eher ‚Opfer’ als ‚Täter’. So verorten Sengupta, Abdel-Hamid und van Wassenhove (2008) die Ursache in einer Zeitlücke zwischen Handlungen und der Wirkung in komplexen Umgebungen sowie in der Beharrung auf alten und falschen Annahmen. Warum diese Beharrung jedoch existiert, wird nicht explizit diskutiert. Tripsas und Gavetti (2000) sehen in ihrer Analyse dasselbe Phänomen von ‚Denk-Fallen’. In diesen verharren die zwei Chief Executive Officers von Polaroid zwischen 1937 und 1986 in Bezug auf die Unternehmensstrategie. Als Ursachen wurden einerseits die Unternehmensressourcen (Capabilities) als Umweltfaktor ermittelt sowie ein stabiles Glaubenssystem in Bezug auf die Unternehmensstrategie. Warum jedoch das Glaubenssystem nicht verändert wird, obwohl ab 1980 große Verluste bei Polaroid notiert werden müssen, wird nicht erklärt. Ein neuer Ansatz aus der Organisationsforschung von Schreyögg, Sydow und Koch (2003) zum Thema Pfade erklärt die Hyper-Stabilität von Organisationen durch einen sozialen Mechanismus: die Selbstverstärkung. Auf Grund von geschlossenen Kreisläufen verschiedenster Faktoren begünstigt eine Entscheidung von Managern und Managerinnen oder Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen eine Folgeentscheidung. Diese führt dann über einen kurzen oder längeren Entscheidungsweg zu einer Begünstigung der Wiederholung der ersten Entscheidung. Dadurch herrscht am Ende eines solchen Prozesses Hyper-Stabilität vor und die Entscheidungsvariation nimmt über den Prozess ab. In diesem Falle liegt jedoch keine ‚Denk-Falle’ vor, sondern die gesamte Organisation ist auf Grundlage der Selbstverstärkung in der Hyper-Stabilität gefangen. Diese zwei Positionen der individuellen ‚Denk-Fallen’ mit sozialen Ursachen einerseits und der sozialen Hyper-Stabilität durch soziale Mechanismen andererseits sollen nach Tamborini und seiner Veröffentlichung im Journal of Evolutionary Economics (1997) gewinnbringend verbunden werden können. Er sieht die Ursache für ‚Denk-Fallen’ in der Selbstverstärkung (Mechanismus) von Lernprozessen (Individuell). Wissen und Erfahrung führen zu einer Selbst-Bestätigung, die nicht nur eine ‚Denk-Falle’, sondern auch deren Hyper-Stabilität verursacht. Aus diesem Grunde können Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ihre Glaubenssysteme oder Annahmen nicht überwinden. Aus diesem Grunde liegt dann auch eine Hyper-Stabilität der Geschäftsstrategie oder der Organisation vor.
Diesem Impuls von Tamborini, der seine eigene Idee nicht explizit weiter entwickelte, folgt die vorliegende Arbeit. Richtungsweisend gab Tamborini noch vor, den Pfadbegriff mit dem Konstruktionsbegriff zu verbinden, da er ein großes Potential in der Verknüpfung dieser bei2
den Perspektiven sah. Aus diesem Grund ist der Aufbau der Arbeit wie folgt gestaltet (vgl. dazu Abbildung 01, S. 4). Das einleitend bereits in aller Kürze dargestellte Problem der ‚Denk-Fallen’ wird zunächst noch etwas umfassender in einem wirtschaftswissenschaftlichen Rahmen beschrieben (II). Daran anschließend wird es auf Grund seiner Bedeutung auch für andere Disziplinen als interdisziplinäre Fragestellung der Grundlagenforschung formuliert. Diese Fragestellung über die Verbindung von Konstruktionen und Pfaden beinhaltet einerseits eine untergeordnete Frage oder Subfrage zur Verknüpfung der theoretischen Grundlagen. Andererseits beinhaltet diese eine untergeordnete Frage zur empirischen Bewertung dieser neuen Verbindung. Auf der Grundlage des Wissenschaftsverständnisses in Verbindung mit dem Konstruktionsbegriff wird im Rahmen der Einleitung abschließend die entwickelte Fragestellung der Grundlagenforschung mit dem Paradoxon des Barons von Münchhausen in Verbindung gebracht. Der Baron von Münchhausen, welcher sich im Sumpf gefangen, an seinem eigenen Schopf aus dem Schlamassel befreit, visualisiert die leitende Fragestellung der Selbsterkenntnis und Selbstlösung aus den ‚Denk-Fallen’. Dieser Einleitung nachfolgend wird als nächster Schritt die Literatur zur Erforschung von Pfaden theoretisch analysiert (Teil III). Pfade beschreiben historische Entwicklungen (oder Prozesse), deren Ergebnis zu Beginn nicht fest steht (Non-Ergodizität). Sie haben einen bestimmten treibenden Mechanismus, der den Prozess unaufhaltsam in die Enge führt (Selbstverstärkung). Diese Enge kann irgendwann nicht mehr verlassen werden und ein System ist hyperstabil (Lock-In). Insbesondere geht es in diesem Abschnitt darum, diese Prozessperspektive auf die Analyseebene des Individuums zu übertragen und für die Diskussion des Konstruktionsbegriffes fruchtbar zu machen. Das Ergebnis ist eine Definition des Begriffs eines individuellen Pfades. Nachdem die Prozessperspektive vorliegt, werden die Begriffe der Prozessperspektive mit Inhalten der Literatur über Konstruktionen theoretisch verbunden (Teil IV). Konstruktionen entsprechen Unterscheidungen, die von Menschen getroffen werden. Diese Unterscheidungen bezeichnen ein Objekt oder eine Sache, welche von der Umwelt abgegrenzt werden. Für ein Individuum bedeutet dies, durch seine Unterscheidungen von Möglichkeiten Handlungsalternativen zu erkennen. Auf Basis der Grundlage des Wissenschaftsverständnisses hinter dem Konstruktionsbegriff beginnt dieser Teil der Arbeit zunächst mit einer Auseinandersetzung der Kritik an dieser Position. Nach der Darstellung des eigenen Standpunktes wird wichtige Literatur aus diesem Umfeld mit Bezug auf die individuelle Analyseebene zusammengestellt. 3
Abbildung 01 – Aufbau der Dissertation
4
Diese wird anschließend einzeln in Bezug auf die Prozessbegriffe aus der Pfaddefinition analysiert. Das Ergebnis ist ein Modell über die Entwicklung von Konstruktionen, welche durch Erinnerung auf unsere Handlung selbst verstärkend einwirken und so zu einer hyper-stabilen ‚Denk-Falle’ führen können. Dieses Modell, entwickelt aus zwei verschiedenen theoretischen Forschungsrichtungen, erklärt nun, wie hyper-stabile ‚Denk-Fallen’ in Bezug auf Unterscheidungen entstehen. Um die Relevanz für die Praxis der Lösung von hyper-stabilen ‚Denk-Fallen’ fruchtbar zu machen, werden die aus dem Modell resultierenden Annahmen mit Experten und Expertinnen der Beratungsbranche – also mit Beratern und Beraterinnen – diskutiert (Teil V). Dabei geht es um deren Zustimmung zu oder Ablehnung von den getroffenen Annahmen in Bezug auf die Entstehung dieser ‚Denk-Fallen’, sowie um die Nennung von Lösungsmethoden vor dem Hintergrund dieser Annahmen. Da das Wissenschaftsverständnis, welches mit dem Konstruktionsbegriff verknüpft ist, auch auf die empirische Arbeit einwirkt, werden die Auswirkungen zu Beginn dieses Teils erläutert. Danach erfolgt in klassischer Weise die Methodenwahl zur Befragung der Experten und Expertinnen, die konkrete Auswahl der Experten und Expertinnen als Sampling sowie die Übersetzung des Modells in konkrete Fragen als Operationalisierung. Die Experten und Expertinnen werden dabei aus den Reihen derer rekrutiert, welche selbst bereits mit dem Konstruktionsbegriff arbeiten. Den Abschluss dieses Teils der Arbeit bildet die Auswertung der Aussagen aller befragten Experten und Expertinnen. Dazu werden die von den Experten und Expertinnen bestätigten Annahmen und zusätzliche Erweiterungen zusammengestellt, um damit das Modell zu überarbeiten. Zudem werden die genannten Lösungsmethoden zu den einzelnen Annahmen zusammengefasst. Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit werden die Ergebnisse der empirischen Diskussion zur Beantwortung der leitenden Fragestellung herangezogen (Teil VI). Zunächst wird dazu noch einmal die Definition des Begriffs individueller Pfade angeführt, um deren Elemente in dem Modell darzustellen. Mögliche Auswirkungen dieser rein individuellen Analyse auf die soziale Ebene (also z.B. Organisationen oder Märkte) werden abschließend nur ansatzweise skizziert, um daran anknüpfend für die zukünftige Forschung weiterführende Fragen zu entwickeln. Den Abschluss der Arbeit bildet die Zusammenstellung neuer Forschungsfragen in Bezug auf anknüpfungsfähige Theorien, andere empirische Vorgehensweisen und die Pfadforschung.
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Mit dieser Arbeit wird ein Beitrag für das interdisziplinäre Problem der individuellen und zum Teil hyper-stabilen ‚Denk-Fallen’ geliefert. Der Fokus liegt damit klar auf der individuellen Analyseebene. Es werden dazu zwei theoretische Perspektiven verbunden, um ein detaillierteres Verständnis des Prozesses der Bildung von ‚Denk-Fallen’ in Bezug auf Unterscheidungen zu erlangen und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Die Ergebnisse sind insbesondere für weitere Forschung auf höher gelagerten Analyseebenen von Interesse. Forschung zu organisationaler Rigidität oder zu rigiden Märkten können vor dem Hintergrund des Ergebnisses der vorliegenden Arbeit aus der Perspektive individueller ‚Denk-Fallen’ und deren Lösung neu diskutiert werden.
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II Problemstellung und leitende Fragen Im vorliegenden Teil II dieser Arbeit wird eine Einordnung der gewählten Fragestellungen in den Erfahrungsbereich der Wirtschaftswissenschaft erfolgen. Dieser Erfahrungsbereich entspricht dem „Kulturbereich des Menschen“ (Bea et al. 2004, S. 27). Er wird jedoch eingeschränkt auf die Hervorhebung wirtschaftlicher Aspekte – oder auch das ‚Wirtschaften’ als Erkenntnisgegenstand (vgl. Bea et al. 2004, S. 54). Für diese Einordnung wird zunächst eine Problemstellung skizziert, aus der detailliertere Subforschungsfragen entwickelt werden. Dem folgen eine kurze Beschreibung des Vorgehens sowie die Formulierung von Ergebniserwartungen hinsichtlich der Problemstellung und angrenzenden Forschungsbereiche. Im Rahmen der Problemstellung (II.1) wird zunächst die Relevanz der Pfadforschung für die Wirtschaftswissenschaft allgemein dargestellt. Es folgt eine Gruppierung geleisteter Arbeiten mit Bezug zur Pfadforschung in die Makro- (Gesellschaft) und Meso-Ebene (Organisation). Anhand von Studien wird die Bedeutung der Mikroebene (Individuum) herausgestellt und der Forschungsbedarf in ökonomischer und sozialwissenschaftlicher Hinsicht erläutert. In einem weiteren Schritt werden Arbeiten zur Mikroebene – in Anlehnung an die Organisationspsychologie – weiter bezüglich personeller und situativer Aspekte differenziert. Damit kann die Forschungslücke für weitere Untersuchungen bezüglich personeller Einflüsse auf Pfade besser herausgearbeitet werden. Hierdurch wird dann die leitende Fragestellung zur Existenz individueller Pfade ermittelt. Die Entwicklung der detaillierten Subforschungsfragen (II.2) erfolgt im Anschluss an die leitende Fragestellung und im Rückgriff auf Impulse aus aktuellen, wissenschaftlichen Beiträgen ökonomischer und verhaltenswissenschaftlicher Perspektiven. Dabei wird der erkenntnistheoretische Hintergrund auf konstruktivistische Perspektiven eingegrenzt. Die leitende Fragestellung wird in zwei Teilfragen untergliedert. Die erste ist theoretischer Natur und auf eine Modellentwicklung ausgerichtet. Das Modell wird über die zweite Frage einer explorativen, empirischen Bewertung unterzogen. Dabei wird einerseits eine Einschätzung von Experten und Expertinnen in Bezug auf die Relevanz der Elemente des Modells erfragt. Andererseits werden auch Methoden zur Veränderung individueller Pfade in Bezug auf die Elemente des Modells diskutiert. Bei der Ergebnisdiskussion werden die Antworten zu diesen Teilfragen abschließend auf die leitende Fragestellung zurück bezogen.
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Als drittes Kapitel in diesem Teil der Arbeit werden die Erwartungen bezüglich der aufgestellten Teilfragen diskutiert (II.3). Bezüglich der ersten Frage wird von einer Modellentwicklung ausgegangen, welche den individuellen Pfad aufzeigt und Möglichkeiten für eine Auflösung bietet. Bei der zweiten Frage wird mit Anregungen und Zustimmungen oder auch Kritik und Korrekturen hinsichtlich des Modells durch die befragten Experten und Expertinnen gerechnet. Diese Verbesserungen führen dann bei der Ergebnisdiskussion zu einem modifizierten Modell. Es wird erwartet, dass hieraus Möglichkeiten der Auswirkung auf soziale Interaktion abgeleitet werden können. Das letzte Kapitel in diesem Teil der Arbeit (II.4) bezieht die vorher ermittelte leitende Fragestellung auf ein bekanntes Märchen des Barons von Münchhausen. Dieser Baron von Münchhausen ist im Sumpf gefangen und zieht sich selbst an seinem eigenen Schopfe aus dem Sumpf. Dieses Paradoxon kann dazu verwendet werden, die extrahierte leitende Fragestellung der ‚Denk-Falle’ und deren Lösung zu visualisieren. Doch zunächst zur Skizzierung des Problemfeldes.
II.1 Skizzierung des wirtschaftswissenschaftlichen Problemfeldes Die geschichtliche Abhängigkeit von Märkten und Unternehmensentwicklungen, insbesondere von Entscheidungen im operativen1 und strategischen2 Management, ist derzeit in der Wirtschaftswissenschaft ein stark diskutiertes Phänomen. Diese Debatte wird auch als ‚historymatters boom’ bezeichnet (vgl. Ackermann 2001, S. 23). Pfadforscher versuchen eine ganz besondere Dramaturgie sich verstärkender, historischer Prozesse zu analysieren. In jedem der beiden genannten Fälle - einerseits der reinen geschichtlichen Abhängig und andererseits der sich verstärkenden Entwicklung - widerspricht die Debatte der Annahme des rationalen, ökonomisch wirtschaftenden Akteurs. Den Kern der Pfadforschung bildet der Mechanismus der Selbstverstärkung und dessen Facetten3, welche insbesondere die Zusammenwirkung der Teilnehmer eines Prozesses beeinflusst (vgl. Beyer 2005). Dieser Mechanismus hat den Effekt, dass vorausgehende Entwicklungen heutige Entwicklungen verstärkend beeinflussen. Ausgangspunkt dieses Selbst-Verstärkungseffektes war dabei die Analyse steigender Erträge (Increasing Returns) im Sinne von Skalen1 2
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Zum Beispiel bei der Planung der Funktionsbereiche (vgl. Wöhe 1996, S. 141). Zum Beispiel bei Analysen von Unternehmensstärken und -schwächen oder Geschäftsfeldanalysen (vgl. Wöhe 1996, S. 141). Die Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung werden im Rahmen der Pfadforschung später diskutiert.
effekten oder ‚versunkenen Kosten’ (vgl. Arthur 1989). Diese können von anfänglichen, multiplen Ausgangsmöglichkeiten zur Ausbildung von möglicherweise ineffizienten Stabilitäten (Lock-In) in der Zukunft führen. Da die Ergebnisse des Prozesses zu Beginn nicht bekannt und durch die Selbstverstärkung nicht ermittelbar sind, bezeichnet man diese Prozesse in Anlehnung an stochastische Prozesse auch als ‚non-ergodisch’. Das Besondere an der Stabilität oder dem Lock-In ist, dass diese trotz der möglichen Ineffizienz nur unter unverhältnismäßig hohem Aufwand (vgl. zur Kostenasymmetrie David 1985; Arthur 1988) oder sogar gar nicht zu überwinden sind. Insbesondere die ineffiziente Stabilität, als negativer Zustand der ‚Gefangenheit’ in einem sich selbst verstärkten Weg, verdeutlicht die Bedeutung derartiger Pfadprozesse für die Wirtschaftswissenschaft: Märkte würden nicht mehr durch die ‚unsichtbare Hand’ die effizientesten, ökonomischen Gleichgewichte entwickeln (vgl. z.B. David 1985; Arthur 1989). Unternehmen wären nicht mehr nur durch das Imprinting ihrer Gründungsphasen geprägt (vgl. z.B. Stinchcombe 1965; Burton & Beckman 2005; Beckman & Burton 2005) oder durch stabile Glaubenssysteme als Management-Kognition (vgl. Tripsas & Gavetti 2000; als ‚Denk-Fallen’ vgl. Sengupta et al. 2008). Durch Pfade würden sich strategische Entwicklungen selbst verstärken und zu einem ineffizienten Lock-In führen. Das Wesentliche dabei ist, dass der LockIn trotzdem erfolgt, obwohl die Umwelt sich ändert und dynamisch ist. Märkte und Unternehmen könnten aus diesen Rigiditäten nicht mehr so einfach ‚befreit’ werden, so dass unternehmerische Kosten, aber auch soziale Kosten und soziale Transaktionskosten entstehen. Es existieren bereits mehrere Arbeiten zur qualitativen und quantitativen Überprüfung der anfänglichen Modellierungen von Pfaden (vgl. Arthur 1989; Arthur 1994a). Als das prominenteste Beispiel der Pfadforschung ist die Pfadabhängigkeit des Tastenlayouts ‚QWERTY’ (vgl. David 1985) auf der Makroebene des Marktes zu nennen (vgl. Abbildung 02, oberer Kasten). Auch gibt es bereits Untersuchungen im Rahmen der Organisationsforschung mit einer Pfadperspektive (vgl. z.B. Helfat 1994; Bruggeman 2002) sowie in der Strategie- und Managementforschung (vgl. z.B. Stimpert et al. 1998; Burgelman 2002). Diese neben QWERTY genannten Ansätze entsprechen einer Fokussierung auf die Meso-Ebene (vgl. Abbildung 02, Kasten in der Mitte), arbeiten jedoch nur mit einem schwachen Pfadkonzept – also ohne konkrete Darstellung der Selbstverstärkung.
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Abbildung 02 – Strukturationstheoretische Gliederung der Pfadforschung (anlehnend an Windeler 2003, S. 318) Bei den erwähnten und auch weiteren Arbeiten mit Pfadperspektive auf Marktebene ist erkennbar, dass die Bedeutung oder Einwirkung des Individuums auf den Mechanismus und die Rigidität nicht hinreichend berücksichtigt wurde (vgl. Abbildung 02, unterer Kasten). So wird in der klassischen und formaltheoretischen Beschreibung von Pfaden auf Märkten (vgl. Arthur et al. 1983; Arthur 1989) die Bedeutung des Individuums auch nur auf formaler Ebene beschrieben4. Ökonomische Simulationen verwenden z.B. zwei Typen von Individuen mit verschiedenen Nutzenwerten (vgl. Leydesdorff & van den Besselaar 1998). Es fehlt jedoch die Verwendung sich verändernder oder möglicherweise auch pfadabhängiger Präferenzstrukturen (vgl. Hoeffler et al. 2006). So würde ein Wegfall der Präferenz einer Netzwerkorientierung von Individuen, also z.B. die Abkehr von Tauschnetzwerken wie Napster oder Kazaa, zu einem Zusammenbruch der Selbstverstärkung führen (vgl. Roedenbeck & Nothnagel 2008). Auch in den Arbeiten, die eher zu Management- und Organisationsforschung gezählt werden können, ist die Rolle der Individuen als Akteure und auch die Rolle kollektiver Akteure bei Pfadprozessen noch unklar. Zwar wird auf deren maßgeblichen Einfluss aufmerksam gemacht (vgl. Windeler 2003, S. 318; Sydow et al. 2005a, S. 16), wie jedoch die zum Lock-In führende Selbstverstärkung durch Akteure initiiert, unterstützt oder gestört wird, bleibt undeutlich5. 4
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Weitere Kritik findet sich vor allem bei den folgenden Autoren: Albert 1958; Haase 2006.
Zum Teil wird sogar trotz einer Analyse personalintensiver Forschung und Entwicklung von pfadabhängigen Petroleumfirmen nur die Ressourcenseite in Betracht gezogen (vgl. Helfat 1994). In der Managementliteratur findet der Einfluss von Individuen mehr in Form geschichtlicher Abhängigkeit, z.B. in Bezug auf Personalstrukturen durch die Gründung, Beachtung (vgl. Beckman & Burton 2005). Die konsequente Berücksichtigung von Einflüssen auf Verstärkungseffekte fehlt bisher noch. Vor diesem Hintergrund wird eine Schwachstelle in einigen Arbeiten aus der Pfadforschung deutlich und zwar die Beeinflussung von Pfaden auf der Meso-(Organisation) und MakroEbene (Markt, Gesellschaft) durch die Mikroebene (Individuum). Eine umfassendere Berücksichtigung dieses Einflusses der Individuen wird auch in anderen Bereichen der Wirtschaftswissenschaft gefordert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die historische Innovationsforschung verlangt ebenso eine weitaus stärkere Fokussierung auf die individuell-kognitiven Aspekte kollektiver Ereignisse (vgl. Hargadon & Douglas 2001, S. 480)6. An der Bearbeitung dieser Schwachstelle des Einflusses der Mikro-Ebene auf die Meso- und Makro-Ebene beteiligen sich einige Arbeiten, deren Einordnung im Folgenden aus einer Organisationspsychologischen Perspektive erfolgt.
Um einen Überblick über die relevanten Arbeiten der individuellen Beteiligung oder Verursachung von Pfaden zu erhalten, ist eine Ausdifferenzierung der obigen strukturationstheoretischen Perspektive nützlich. Damit wird die Bestimmung der expliziten Forschungslücke möglich. Eine besondere Bedeutung gewinnt die Organisationspsychologie bei diesem Anliegen, denn sie bietet eine detaillierte Perspektive über die Verbindung der Makro- / Mesoebene mit der Mikro-Ebene: Arbeiten der Organisationspsychologie als Disziplin innerhalb der Wirtschaftswissenschaft beschäftigen sich mit der „Erklärung des Erlebens und Verhaltens von Personen in Organisationen“ (Gebert & von Rosenstiel 2002, S. 15). Dabei verwenden sie die Perspek5
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Sydow et al. (2005a) verweisen in dem Zusammenhang nur auf das Selbstinteresse ökonomischer Akteure bei deren Entscheidungen. Arbeiten im Bereich der Management- und Organisationsforschung mit einem Schwerpunkt auf der kognitiven Ebene scheinen sich erst spät wirklich durchgesetzt zu haben. Dies verdeutlicht die initiierende Debatte um die schottische Strickwarenindustrie mit einem Fokus auf die Wahrnehmung des Wettbewerbsumfeldes durch die Manager (vgl. Porac et al. 1989: Daniels et al. 2002; Hodgkinson 2002). Spätere Arbeiten zu einer unternehmerischen Organisationstheorie (vgl. Witt 2000), aber auch in Bezug zu den mentalen Modellen von Strategen (vgl. Lindell et al. 1998), führten diesen Ansatz fort. Durch die geringe Verbreitung dieser Perspektive in den recherchierten Arbeiten erscheint die geringe Berücksichtigung in der Pfadforschung nicht verwunderlich.
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tive der Feldtheorie von Kurt Lewin (vgl. Lewin 1936)7, um die rekursiven Einflüsse von Person und Situation zu analysieren. Nach Lewin ist das Verhalten (V) eine Funktion (f) von Person (P) und Situation (S): V = f(P, S). Hiermit kann nach Ansicht der vorliegenden Arbeit die fundamentale Frage über das Verhältnis zwischen individuellen und situativen Aspekten bei Pfadverläufen detaillierter analysiert werden. Bezüglich dieses Verhältnisses sind zwei unterschiedliche Forschungsperspektiven möglich. Einerseits ist zu fragen, ob ein Pfadprozess im Individuum selbst ablaufen kann. Ein persönlicher Pfad (P[Pfad]) und Charakteristika der aktuellen Situation (S0) würden so ein Verhalten (V0) erzeugen, welches die Situation verändert (S1)8: (V0 = f[P[Pfad], S0]) Æ S1. Dieser Zusammenhang ist in der folgenden Abbildung 03 dargestellt.
Abbildung 03 – Feldtheorie und individuelle Pfade
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Dieser Ansatz ist nicht mit dem Begriff des sozialen Feldes von Bourdieu zu verwechseln. Mit der Relevanz der Feldtheorie für die Organisationspsychologie und deren darauf abgestimmte Selbst-Ordnung beschäftigen sich einige Grundlagenwerke (vgl. z.B. Gebert & von Rosenstiel 2002, S. 19 f.). Es ist anschließend denkbar, dass das pfadabhängige Individuum nun durch seinen eigenen Pfad (P[Pfad]) die Meso- und Makropfade in Organisationen und Wirtschaftssystemen (S[Pfad]) erzeugt, oder diese zumindest unterstützt (V = f[P(Pfad), S0]Æ S1[Pfad]).
Andererseits ist zu fragen, ob ein Individuum mit eigenen Charakteristika (P) sich durch Pfadprozesse in den übergeordneten Ebenen einer Situation (S0[Pfad]) beeinflussen lässt und diese durch sein Verhalten (V0) bestätigt oder verstärkt (S1[Pfad]): (V0 = f[P, S0[Pfad]) Æ S1[Pfad]. Dieser Zusammenhang ist in der folgenden Abbildung 04 verdeutlicht.
Abbildung 04 – Feldtheorie und soziale Pfade
Diese zweite Perspektive, welche die oben genannten Arbeiten der Markt-, Organisationsund Managementforschung mit nur schwachem individuellem Bezug beinhaltet, wird in einzelnen Arbeiten der Pfadforschung mit deutlichem individuellen Bezug detaillierter aufgegriffen. Durch arbeits-, organisations- und/oder wirtschaftspsychologische Konstrukte9 wird versucht, rekursive Prozesse in Organisationen zu beschreiben. Z.B. wird die institutionenökonomische Perspektive auf institutionelle Pfade (vgl. North 1990) unter Verwendung des Begriffs ‚mentaler Modelle’ ausgearbeitet (vgl. Denzau & North 1994)10. Allerdings wird jedoch von 9
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Ein prägnantes Konstrukt über menschliches Verhalten mit Auswirkung auf Prozesse ist z.B. der ‚locus of control’ (vgl. Rotter 1957; Rotter 1966; Weiner 1988). Der Begriff ‚mentale Modelle’ ist bei dieser Arbeit an die Kognitionspsychologie angelehnt (vgl. zur Vertiefung Johnson-Laird 1983; aber auch Anderson et al. 1998). Diese unterliegt in weiten Teilen dem Informationsverarbeitungsparadigma, nachdem Informationen aus einer Welt vom Individuum analysiert werden können (vgl. Varela 1997, S. 53). Insbesondere Experimente zur ‚Wahrnehmung’ von Farben haben aber ge-
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den Autoren nicht explizit dargelegt, wie die von ihnen genannten theoretischen Bausteine der Ideologien, Institutionen und Pfade in Zusammenhang mit den mentalen Modellen entstehen. Bei einer anderen Arbeit wird von ‚Teufelskreisen’ gesprochen, welche über der Zeit stabilisierten, rekursiven Abhängigkeiten entsprechen (vgl. Tabbara 2005). Tabbara ermittelte in einer Fallstudie, dass die Äußerung der Bereichsleitung über ‚gute’ und ‚schlechte’ Teams eine Entrüstung der Teamleiter produzierte – es lag eine abweichende Selbsteinschätzung vor. Das Beharren auf den Begrifflichkeiten führte den Konflikt zur Eskalation11. Im Rahmen dieser Arbeiten werden also individuelle Einflüsse auf soziale Pfade schon stärker berücksichtigt. Der konkrete Einfluss auf die Selbstverstärkung wird jedoch zumeist nicht deutlich. Tamborini schließt entgegen dieser Perspektive in seiner theoretischen Analyse von individuellem Verhalten in Wirtschaftssystemen, dass sehr wahrscheinlich ‚gefangene’ Individuen (in einem individuellen Lock-In) für beobachtete Pfad-Prozesse verantwortlich seien (vgl. Tamborini 1997, S. 59)12. Hiermit unterstützt er zumindest theoretisch die erste der oben aus der Feldtheorie formulierten Teilfragen (vgl. Abbildung 03). Meso- oder Makrostabilitäten wären demnach nur Ergebnisse von individuellen Pfaden oder eben individuellem Lock-In. Auch dieser Ansatz wird von einigen wenigen Arbeiten aufgegriffen, welche aber einige Probleme aufweisen13: In einer Ausarbeitung wird individuelles Lernen von Routinen mit einem experimentellen Kartenspiel untersucht (vgl. Egidi & Narduzzo 1997). Die Übertragbarkeit von Entscheidungen beim Kartenspiel auf generalisierte Fragestellungen der Wirtschaftswissenschaft ist hierbei aber fragwürdig. Eine andere Arbeit analysierte Lernpfade von Individuen über explizite, verbindende und übergreifenden Regeln, welche beständig und fehlerhaft sein können (vgl. Nesher & Peled 1986). Auch hier stellt die Wahl des Designs eine Generalisierbarkeit von Lernprozessen über Dezimalzahlen von Schülern der sechsten bis neunten Klasse in Frazeigt, dass Farbe nicht eine Frage der Wellenlänge ist sondern mit der Augenbewegung verbunden sein muss (vgl. für eine intensivere Diskussion dazu Varela 1997, S. 59 ff.). 11
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Ein weiterer möglicher Ansatz zu Eskalationsschleifen als Ausprägung von sozialen Pfaden mit individueller Beteiligung ist die Commitment-Forschung. Treiber sind in diesem Fall nicht unterschiedliche Wahrnehmung sondern Selbstrechtfertigung und Selbstrepräsentation (vgl. Staw & Ross 1987; Goffman 1959). So beschreibt auch eine andere Arbeit über institutionelle Pfade, dass ‚mentale Modelle’ selbst Pfaden folgen können welche eine Bildung von Institutionen beeinflussen (vgl. Ackermann 2003, S. 159). Zum Teil ist bei den vorliegenden Arbeiten eine Abgrenzung zwischen organisationaler Meso-Ebene und individueller Mikroebene schwierig. Dies liegt vor allem daran, dass einige Arbeiten die Begrifflichkeiten des organisationalen Lernens mit dem individuellen Lernen vermischen (vgl. z.B. Egidi & Narduzzo 1997), obwohl diese Bereiche von Organisationsforschern getrennt betrachtet werden (vgl. z.B. Schreyögg & Eberl 1998, S. 519). Aus diesem Grund werden die Arbeiten, welche sich hauptsächlich mit organisationalem Lernen, organisationalem Wissen und organisationalen Routinen sowie Pfaden beschäftigen hier nicht weiter berücksichtigt (vgl. Coombs & Hull 1998; Schreyögg et al. 2004).
ge. In beiden Ansätzen geht es zudem insbesondere um die historische Prägung des Individuums, nicht aber um eine individuelle Selbstverstärkung. Außerdem liefern beide Ansätze nur rudimentäre Modelle des gesamten Lernprozesses durch ihre herausgegriffenen Beispiele. Ein weiterer Versuch ist die Analyse von regionalen Clustern, bei der über funktionale, kognitive und politische Lock-Ins die Stabilität einer Region beschrieben wird (vgl. Grabher 1993). Warum der politische Lock-In nicht ebenfalls kognitiver Natur ist, und wie der kognitive Lock-In durch Selbstverstärkung entstanden ist, wird dabei auch nur ansatzweise ausgeführt. Die letzte viel versprechende Quelle ist die Übertragung der Pfadabhängigkeit auf die Mikroebene unter Verwendung neuronaler Netzwerke (vgl. Nooteboom 1997). Hier wird aber nur die Verengung der Bandbreite aktivierter Neuronen auf bestimmte Stimuli beschrieben. Als Erklärung wird Gewohnheit auf Grund von begrenzter kognitiver Kapazität angeführt14. Bestätigte neuronale Strukturen, welche zusammen aktiviert werden, würden sich verstärken. Wie diese neuronalen Strukturen dann aber mit Inhalten im Kontext von Organisationen oder Management z.B. bei strategischen Entscheidungen zu füllen sind, lässt Nooteboom offen. Zudem folgert er über eine nicht unproblematische Analogiebildung von den Neuronen auf menschliche Interaktion und erklärt organisationales Lernen mit derselben theoretischen Grundlage. Auch fehlen Prozessbeschreibungen, wie sich welche Strukturen verstärken und warum diese aktiviert werden. Als Fazit der vorliegenden Arbeiten, nach einer Differenzierung in Anlehnung an die Feldtheorie, kann gesagt werden, dass es noch kein umfassendes und detailliertes Modell über individuelle Pfade und deren Zusammenhänge mit sozialen Prozessen gibt. Ebenso wenig existiert ein umfassendes Modell über individuelle Einflüsse auf soziale Pfade. Empirische Belege für derartige Modelle fehlen daher auch. Darüber hinaus beinhaltet keiner der Ansätze eine detaillierte Analyse der Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung aus der Pfadforschung wie z.B. Legitimation oder Macht, so dass weitere Arbeit an dieser Stelle notwendig ist. Wäre eine konsistente Transformation der bisherigen Pfadforschung von der Markt- (vgl. Arthur 1989) und Organisationsebene (vgl. Sydow et al. 2005a) auf die Mikroebene möglich, dann hätte dies erheblichen Einfluss auf alle weiteren und bereits gestellte Fragen in der wirtschaftswissenschaftlichen Pfaddebatte. Das Entscheidungsverhalten von Individuen im öko14
Eine andere Arbeit mit verhaltenswissenschaftlicher Perspektive versucht die Gewohnheitsbildung selbst als pfadabhängige Entwicklung und nicht als Ursache für kognitive Pfade darzustellen (vgl. Barnes et al. 2004). Auch hier fehlen aber die Bezüge zur Selbstverstärkung und eine explizite Prozessdarstellung.
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nomischen Kontext wäre demnach nicht nur beschränkt-rational (vgl. Simon 1957; Simon 1986) und fände nicht nur mit Informationsasymmetrie (vgl. Arrow 1963) und Transaktionskosten (vgl. Coase 1937) statt. Zu diesen Aspekten würden Entscheidungen sich durch innere kognitive Pfade selbst verstärken und zu einem individuellen Lock-In führen15. Auf Grund der weitreichenden Einflüsse der Perspektive individueller Pfade sowie der bisherigen Unvollständigkeit vorgelegter Arbeiten wird die von Tamborini (1997) geäußerte Vermutung über das ökonomische Verhalten ‚gefangener’ Individuen (mit individuellem LockIn) für diese Arbeit als leitende Fragestellung transformiert. Das im Rahmen der Pfadforschung immer hervorgehobene Problem der Überwindung eines hyper-stabilen Lock-Ins wird dabei in Bezug auf das Individuum ebenso aufgegriffen. Die Auswirkung individueller Pfade auf höher gelagerte Analyseebenen wird bei der leitenden Fragestellung auf Grund der Komplexität ausgeklammert: Kann ein Individuum selbst einem inneren Pfad folgen (der Pfade auf der Meso- und Makroebene möglicherweise erzeugt oder verstärkt), und wie könnte es sich daraus befreien?
II.2 Spezifizierung eines interdisziplinären Grundlagenproblems Tamborini (1997, S. 59) schlägt zur Bearbeitung der Fragestellung über den individuellen Pfadverlauf und dessen Auswirkungen auf organisatorische und Markt-Prozesse insbesondere konstruktivistische16 Literatur vor. Auch in früheren Arbeiten zur Marktsoziologie wurde die 15
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Beispielhaft ist die Reaktion auf Absatzschwäche mit Arbeitsplatzabbau zu nennen, welche durch pfadabhängige Muster entstanden ist und nur noch repliziert wird. Auch die oben erwähnte Normierung zur Erhöhung der Skaleneffekte könnte dazu gezählt werden. Weitere Beispiele sind Platons Höhlengleichnis (vgl. Platon 1994, Pol.514a-518b), Kants Imperativ der selbstverschuldeten Unmündigkeit (vgl. Kant 1970, S. 53) oder das Paradoxon des Baron von Münchhausen im Sumpf (vgl. Bürger 1874, S. 34; Wiebel 1997). Auch die systemische Beratung und Familientherapie (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003) oder Fragen zu Vorurteilen und Konflikten aus der Sozialpsychologie könnten individuellen Pfaden zugeordnet werden (vgl. für bisherige Interpretationen ohne Pfadbezug Aronson et al. 2004). Da es nicht ‚die’ konstruktivistische Literatur gibt, sondern einige Ansätze die unter diesem Oberbegriff zusammengefasst werden können, soll im Folgenden der weiter gefasste Begriff der ‚konstruktivistischen Perspektiven’ für alle derartige Literatur verwendet werden. Eine Unterscheidung und Eingrenzung der wichtigen Perspektiven für diese Arbeit erfolgt im Kapitel IV.1. Konstruktivistische Epistemologie ist in der Organisations- und Managementforschung nach einer Zusammenstellung von Fallgatter und Koch nur selten anzutreffen. Nach den Autoren gibt es drei ältere Schulen in der Wirtschaftswissenschaft und zwar die Tradition von St. Gallen, von München und die Schule nach Karl E. Weick (vgl. Fallgatter & Koch 1998). Neben diesen gibt es zudem noch Tamborini (1997), der ein neueres Verständnis von Konstruktivismus in der Wirtschaftswissenschaft prägt. Darüber hinaus wurde anlehnend an die Endo-Physik ein Management nichtlinear-dynamisch-chaotischer Systeme entwickelt (vgl. Schmidt 1999, S. 10). Zu guter Letzt gibt es auch einige Impulse zum Verständnis von Management mit einer konstruktivistischen Epistemologie von den hauptsächlichen Entwicklern dieser epistemologischen Perspektive (vgl. z.B. von Foerster 1999a, S. 234f., 247)
Forderung nach einer kybernetischen (und damit auch konstruktivistischen) Perspektive bereits geäußert (vgl. Albert 1958, S. 288 f.). Tamborini sieht in der konstruktivistischen Literatur bereits Hinweise zur Erklärung eines individuellen Lock-In von Managern und Managerinnen sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Organisationen. Da der oben erwähnte Erklärungsversuch mit Hilfe neuronaler Netzwerke als Teil der kognitivistischen Literatur (vgl. Nooteboom 1997) als zu lückenhaft betrachtet werden kann, verspricht die hier vorgeschlagene und noch ungenutzte Perspektive ein hohes Erklärungspotential17. Allerdings wird durch diese Frage über individuelle Pfade mit der von Tamborini vorgeschlagenen konstruktivistischen Perspektive das wirtschaftswissenschaftliche Problemfeld zumindest für die Modelldiskussion in einen interdisziplinären Kontext der Grundlagenforschung gestellt. Erst die Ergebnisdiskussion wird dann wieder spezifischer auf das Problemfeld zu beziehen sein. Ein zentraler Bestandteil in der genannten Literatur konstruktivistischer Perspektiven und Bindeglied zur Erklärung eines individuellen Lock-In ist die Rekursion (Rückbezüglichkeit). Diese wird als wesentliche Ursache für das individuelle Gefangensein angeführt (vgl. Varela et al. 1974; Maturana & Varela 1980; Maturana 1980). Bei der Analyse der Rekursion spielt der Begriff der ‚Homöostasis’18 eine besondere Rolle (vgl. Jackson 1957 nach Watzlawick 1992c, S. 31; von Schlippe & Schweitzer 2003 u. a.). Homöostasis bedeutet ‚Gleichgewicht’ oder ‚Aufrechterhaltung’ und wird in konstruktivistischen Perspektiven dahingehend verwendet, dass bei vorliegender Rekursivität dennoch die Fragen nach dem ‚Wann’ oder ‚Warum’ überflüssig sind (vgl. Jackson 1957). Die Entwicklung einer Eigendynamik rekursiver Prozesse hängen damit nicht notwendigerweise mit dem „historischen Zustandekommen des Systems“ (Watzlawick 1992c, S. 31) zusammen. Dies wird oft mit der Analogie zu einer ‚nichttrivialen Maschine’ begründet19, bei der immer nur der aktuelle innere, selbst-rekursive Zustand ‚Z’ für den Output von Bedeutung ist (vgl. von Foerster 1997a, S. 37). Obwohl Homöostasis also nur die Relevanz des aktuellen inneren, selbst-rekursiven Zustandes ‚Z’ als wesentlich anerkennt, verweist die folgende Überlegung auf ein offenes Problem: Für ein Verhalten in ‚t’, welches durch Rückbezüglichkeit gerechtfertigt wird, soll ein innerer Zustand ‚Z(t)’ zur Verfügung stehen. Dieser innere Zustand entspricht jedoch dem Ergebnis 17
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In der Konsequenz werden alle kognitivistischen Ansätze aus der Analyse ausgegrenzt, da sie im Gegensatz zu konstruktivistischen Perspektiven auf dem Informationsverarbeitungsparadigma beruhen (vgl. Fußnote 10). Diese wird auch als ‚Homeostasis’ bezeichnet. Genauere Erläuterungen folgen in Kapitel IV.2 in den radikalen Perspektiven.
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aus einer Vorperiode ‚t-1’ und ist damit eigentlich genauer als Zustand in Abhängigkeit von der Vorperiode ‚Z(t-1)’ zu bezeichnen. Damit ist also nicht mehr nur der aktuelle innere Zustand von Relevanz sondern eigentlich das Ergebnis der Vorperiode, welches in einem aktuellen Zustand resultiert. Auf dieser Basis reicht aus der Perspektive dieser Arbeit Homöostasis als Erklärung nicht mehr aus, um eine Analyse der Geschichte von Prozessen zu verwerfen. Eine Auflösung des Widerspruchs zwischen zeitabhängiger Rekursion und der Verwendung von Homöostasis kann aus der Perspektive dieser Arbeit nicht nur durch einen Verzicht des Homöostasisbegriffs ‚geheilt’ werden. Vielmehr ist die Auswirkung einer zeitabhängigen Rekursion gerade vor dem Hintergrund von Selbstverstärkung im Gesamten zu überdenken. Rekursion selbst scheint ohne den Begriff der Homöoostasis die Entstehung von Stabilität nicht hinreichend zu erklären. Von Foerster, der als einer der Hauptautoren konstruktivistischer Perspektiven bezeichnet werden kann, formulierte die folgende zukunftsweisende Aufgabe. Ziel sei es, „die Rekursivität ernst zu nehmen […] diese Rekursionsthematik in ganz andere Gebiete, etwa in die sprachlichen Bereiche, in semantische Bereiche, in Handlungsbereiche etc. [zu] übernehmen und [zu] untersuchen […] unter welchen Umständen sich sichtbare Stabilitäten entwickeln“ (von Foerster 1999a, S. 245; im Original ohne Einfügungen; ähnlich auch bei von Foerster & Pörksen 2001, S. 106; Portele 1989, S. 37). Somit ist aus der Sicht von Foerster’s die Bearbeitung der Frage über die ‚Umstände sichtbarer Stabilitäten’ in Verbindung mit Rekursion noch nicht hinreichend erklärt. Und dies gilt auch für die Handlungsbereiche der Organisation oder des Managements. Auch aus der reinen Pfadperspektive heraus kann dieser Schluss durch von Foerster unterstützt werden. Eine einfache Rekursivität ohne Zeitabhängigkeit ist zur Erklärung eines LockIns durch einen individuellen Pfad nicht ausreichend. Pfadabhängigkeit – als zeitliches Prozessmodell – erklärt die Entstehung eines individuellen Lock-Ins gerade durch den Mechanismus der Selbstverstärkung. Dies steht also im Gegensatz zur Rekursion mit Homöostasis als ‚zeitlose’ Schleife.
Um die obige, leitende Fragestellung nach individuellen Pfaden bearbeiten zu können, ist vor dem Hintergrund der Diskussion des vorherigen Abschnittes zunächst die Transformation der leitenden Fragestellung in eine erste interdisziplinäre und theoretische Subforschungsfrage nötig.
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Tamborini verwies auf die Möglichkeit der Verbindung konstruktivistischer Perspektiven mit der Pfadforschung, so dass als erster Schritt ein Modell individueller Pfade entwickelt werden müsste, welches den individuellen Lock-In erklärt. Ein ‚Modell’ kann nach der allgemeinen Modelltheorie20 anhand von drei Kriterien beschrieben werden (vgl. Stachowiak 1973, S. 128 ff.): Ein Modell ist 1) eine Abbildung oder Repräsentation natürlicher Originale. Ein Modell ist daher 2) eine verkürzte Darstellung – oder Abstraktion der Realität (vgl. Hazelrigg 2000, S. Viii) –, welche anhand der Relevanz ihre Kürzung erfährt. Was relevant ist wird 3) durch einen Pragmatismus selektiert, der sich am Nützlichen orientiert. Das zu entwickelnde Modell individueller Pfade ist also eine verkürzte Abstraktion des Individuums, wobei das Modell diejenigen Bestandteile beinhaltet, welche zur Erklärung eines Lock-Ins durch einen individuellen Pfad notwendig sind. Die Bestandteile eines theoretischen Modells, welches zum Teil auch mit einer Theorie gleichgesetzt wird (vgl. Dubin 1978), sind Faktoren, Relationen und Erklärungen über deren Zusammenhänge sowie Hypothesen und Modellgrenzen (vgl. Whetten 1989). Hypothesen (für empirische Tests) oder Propositionen (Hypothesen mit Theoriebestandteilen) können aus einem jeden Modell entwickelt werden und sind daher nicht zwangsläufig aufzuführen (vgl. Whetten 1989). Die Grenzen eines Modells werden durch den Pragmatismus der Allgemeinen Modelltheorie bereits deutlich. Die Grenzen des zu entwickelnden Modells individueller Pfade liegen in der reinen Erklärung individueller Lock-Ins gegenüber einer Erklärung des individuellen Verhaltens allgemein oder der Interaktion von Individuen. Das zu entwickelnde Modell eins individuellen Pfades wird demnach aus Faktoren und Relationen zusammengesetzt, wobei die Verbindungen theoretisch zu begründen sind. Somit gilt für die Modellentwicklung, dass die wesentlichen Bestandteile eines Pfades (also Non-Ergodizität, Selbstverstärkung, Lock-In) mit den zentralen Bestandteilen konstruktivistischer Perspektiven (also Konstrukte über die Welt, Rekursion ohne Homöostasis) zu verbinden sind. Die leitende Forschungsfrage kann daher in folgende theoretische Subfrage ausformuliert werden: F1: Wie können Non-Ergodizität, Selbstverstärkung und Lock-In als Kernelemente der Pfadforschung mit konstruktivistischen Perspektiven 20
Die Allgemeine Modelltheorie fasst die etwa 2500 jährige traditionsreiche Verwendung des Begriffs ‚Modell’ zu einer interdisziplinären Theorie zusammen und wurde daher hier als Grundlage verwendet. Das ‚Modell’ wird oft als eines der „wichtigsten Werkzeuge zur Erschliessung der Gegenstandsbereiche der Einzelwissenschaften“ (Falkenburg & Hauser 1997, S. 1) angesehen. Nach der Allgemeinen Modelltheorie ist es darüber hinaus auch die Grundlage von Erkenntnis an sich: „alle Erkenntnis [ist] Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle“ (Stachowiak 1973, S. 56; im Original ohne Einfügung).
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zu einem Modell verbunden werden, um damit einen Beitrag zur besseren Erklärung der Entstehung, Stabilität und auch der Destabilisierung von individuellen Konstrukten zu leisten, als das einfache Rekursionsprinzip in Verbindung mit der Homöostasis?
Mit der Entwicklung eines theoretischen Modells, welches Pfadliteratur und konstruktivistische Perspektiven verbindet, kann jedoch noch nichts über die empirische Wirksamkeit gesagt werden. Nach der integrativen Perspektive von Uwe Flick ist die Designfrage empirischer Forschung der prinzipiellen Formulierung einer empirischen Frage nachzuordnen (vgl. z.B. Flick 2002, S. 67 ff.)21. Demnach ist zunächst die Übertragung der theoretischen Subforschungsfrage in eine empirische Subforschungsfrage in Bezug auf die leitende Fragestellung von Bedeutung, ohne dabei die Methode zu sehr zu spezifizieren (vgl. auch Flick 2002, S. 78). Die Wahl der Methode selbst ist dann an dieser Zielrichtung auszurichten. Die leitende Fragestellung beinhaltete einerseits die Erklärung der Entstehung individueller Lock-Ins und andererseits die Identifikation von Lösungsmöglichkeiten. Eine Erstellung von Hypothesen auf Basis des entwickelten Modells in Verbindung mit deren Prüfung, z.B. durch Beobachtung oder Fallstudien, würde das Modell und deren Faktoren und Relationen überprüfen. Allerdings würde ein derartiges Vorgehen den zweiten Aspekt der Identifikation von Lösungsmöglichkeiten nicht adressieren. Daher wird auf eine empirische Fragestellung mit Bezug zum Hypothesentest verzichtet22. Eine Verwendung des Modells zur Aufstellung von Hypothesen für eine Identifikation pfadabhängiger Individuen, bei anschließender Anwendung von Lösungsansätzen, wäre eine weitere Richtung zur Formulierung einer empirischen Fragestellung. Dieser Ansatz, für den eine Reihe von Probanden mit individuellen Pfaden vorliegen müsste, wäre als Aktionsforschung 21
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Andere Autoren der empirischen Literatur orientieren sich direkt an den Methoden und ordnen so die Frage den Methoden nach. Die Sortierungen der Methodenansätze divergieren dabei innerhalb der Autoren und so erfolgt zum Beispiel an einer Stelle die Klassifizierung nach qualitativer, quantitativer oder Mixed Design Forschung (vgl. Cresswell 2003, S. 74 ff.). An anderer Stelle werden Querschnittserhebungen den Längsschnitterhebungen gegenüber gestellt und mit Experimenten kontrastiert (vgl. Diekmann 2004, S. 267 ff. und S. 289 ff.). Qualitative Sozialforschung spricht dagegen in der Regel von einem Fallstudiendesign (vgl. Ragin 1992; Yin 1994), wobei vergleichende Ansätze von qualitativer und quantitativer Forschung dementsprechend Befragungen, Experimente und Fallstudien gegenüberstellen (vgl. Gomm et al. 2000, Table I). Die integrative Perspektive wird aus diesem Grunde auch bevorzugt, da erstens keine einheitliche Ordnung der Ansätze vorliegt und zweitens die Methode sich aus der Perspektive dieser Arbeit an einer Frage orientieren sollte. Auf Grundlage der in dieser Arbeit verwendeten epistemologischen Position ist der Hypothesentest unter Laborbedingungen, als eine Form der Experimente, sowieso ein nicht empfohlenes Vorgehen (vgl. Kritz 1991; von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 289).
zu bezeichnen (vgl. Klüver & Krüger 1972, S. 76f.; Locke 2001). Allerdings fehlen für diese Anwendung konkrete Lösungsansätze, deren Ermittlung eigentlich Ziel der vorliegenden Arbeit ist. Zudem sind die Akzeptanz der Durchführung von Aktionsforschung während des operativen Geschäfts und die notwendige Teilnahmebereitschaft durch einzelne Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wahrscheinlich nur eingeschränkt vorhanden. An das vorherige Vorgehen anknüpfend könnten für die Aktionsforschung Berater und Beraterinnen oder Coaches im wirtschaftswissenschaftlichen Kontext als Experten und Expertinnen herangezogen werden. Diese haben bereits einen Feldzugang durch ihren Berufsstatus. Demnach könnten diese das Modell zur Identifikation von Probanden mit individuellen Pfaden heranziehen und auf Basis von Lösungsansätzen eine Lösung der Probanden aus deren individuellen Pfaden erzielen. Allerdings müsste zunächst in einem Diskurs mit den Experten und Expertinnen die Anwendung des Modells diskutiert werden und zudem wären den Experten und Expertinnen Lösungsansätze zur Verfügung zu stellen. Während der Diskurs mit den Experten und Expertinnen bereits als eine empirische Methode formulierbar ist, liegen explizite Methoden noch nicht vor. Ihre Ermittlung war Bestandteil der leitenden Fragestellung. Vor diesem Hintergrund der möglichen Zielrichtungen für eine empirische Analyse verbleibt daher, auf Grundlage der Ergebnisse der ersten theoretischen Subforschungsfrage, eine explorative empirische Subforschungsfrage. Dazu wird der Diskurs mit den Experten und Expertinnen der Beratungsbranche als Frage formuliert, wobei es um deren Beurteilung der zusammengestellten Faktoren und Relationen des Modells eines individuellen Pfades geht. Gemeinsam mit den Experten und Expertinnen kann zudem diskutiert werden, ob einzelne Aspekte oder Relationen bereits mit ihnen bekannten Methoden bearbeiten werden könnten. Diese Ergebnisse einer explorativen Vorstudie können dann in weiteren Arbeiten dazu genutzt werden, z.B. unmittelbare Aktionsforschung (durch Forscher) oder mittelbare Aktionsforschung (gemeinsam mit Beratern und Beraterinnen oder Coaches) durchzuführen. Obwohl sich diese explorative Experten- und Expertinnenbefragung für eine erste Einschätzung über die Verwendbarkeit des Modells eignet, tritt hierbei das Problem auf, dass die Experten und Expertinnen nur ‚ihre Sicht’ über die Relevanz der Faktoren und Relationen des Modells über die Entstehung von individuellen Stabilitäten schildern. Diese Verzerrung wird im Rahmen der Arbeit dahingehend akzeptiert, dass Experten und Expertinnen der Beratungsbranche Erfahrungen in der Beobachtung von und dem Diskurs mit vielen Individuen haben und diese auf Basis ihres Wissens bereits jetzt beraten. Es wird demnach davon ausgegangen, 21
dass Ihr Beitrag im Rahmen der Vorstudie in Bezug auf das neue Modell sehr gewinnbringend sein wird. Zudem kann das Ergebnis dieser Arbeit in späteren Arbeiten durch unmittelbare und mittelbare Aktionsforschung angewendet oder geprüft werden. Der Beitrag dieser Arbeit ist damit als erster Schritt in einem Forschungsprogramm zu verstehen. Zur weiteren Präzisierung der empirischen Subforschungsfrage ist nun noch zu spezifizieren, welche Experten und Expertinnen der Beratungsbranche befragt werden sollten. Ausgehend von den theoretischen Grundlagen wurde für die Erstellung des Modells auf konstruktivistische Literatur verwiesen. Somit werden die Faktoren und Relationen des Modells hauptsächlich aus der konstruktivistischen Sprache extrahiert. Im Sinne eines zielführenden Diskurses bietet es sich also an, mit Experten und Expertinnen der Beratungsbranche zu sprechen, die selbst einen konstruktivistischen Hintergrund haben. Da das zu entwickelnde Modell individueller Pfade eine Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven ist, bei dem das bisherige Rekursionsprinzip durch die Selbstverstärkung ersetzt wird, ist nicht von einer Bestätigung aller Faktoren und Relationen durch die Experten und Expertinnen auszugehen. Vielmehr wird ihre Erfahrung mit der Rekursivität vor dem Hintergrund des zu entwickelnden Modells diskutiert. Durch einen konstruktivistischen Hintergrund der Experten und Expertinnen der Beratungsbranche können diese zudem – bei den Diskurs über mögliche Lösungsansätze – Methoden bennen, welche sie mit den Faktoren und Relationen in Verbindung bringen. Auch berücksichtigen diese Experten und Expertinnen das bereits in der leitenden Fragestellung formulierte Prinzip der Selbstbefreiung: Die Experten und Expertinnen der Beratungsbranche mit konstruktivistischem Hintergrund verstehen ihre Arbeit nur als Irritation von Managern und Managerinnen sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, welche sich selbst aus ihren Stabilitäten (dem Sumpf) befreien. Durch die aktive Arbeit an individuellen Stabilitäten werden die Experten und Expertinnen der Beratungsbranche mit konstruktivistischem Hintergrund auch als aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen bezeichnet23. Die obige Diskussion kann wie folgt zusammengefasst werden: Zentral für die empirische Subforschungsfrage ist die Beurteilung der Faktoren und Relationen des Modells, sowie die Ermittlung von Lösungsansätzen. Als Vorgehensweise wurde eine explorative Vorstudie vorgeschlagen, welche auf den Erfahrungsreichtum von Experten und Expertinnen der Beratungsbranche zurückgreift. Diese Expertinnen und Experten können durch die theoretische Subforschungsfrage und die leitende Fragestellung als aktive Konstruktivisten und Konstruk23
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Eine präzisere Auswahl der Ansätze erfolgt im empirischen Abschnitt der vorliegenden Arbeit (vgl. Kapitel V).
tivistinnen eingegrenzt werden. Ob die Erhebung des Experten- und Expertinnenwissens mittels quantitativer Techniken oder qualitativer Techniken erfolgt24, soll im methodischen Teil genauer diskutiert werden. Als empirische Subforschungsfrage wird daher formuliert: F2: Wie beurteilen aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen (als Experten und Expertinnen der Beratungsbranche mit konstruktivistischem Hintergrund) die Relevanz einzelner Faktoren und Relationen des Modells zur erfolgreichen Bearbeitung individueller Stabilität und welche Lösungsmethoden schlagen sie bezüglich des Lock-Ins durch Selbstverstärkung vor?
Mit dem Ergebnis aus den beiden Subforschungsfragen F1 und F2 wird in der zusammenfassenden Abschlussdiskussion auf die Beantwortung der leitenden Fragestellung eingegangen. Dazu werden einerseits die theoretischen und empirischen Ergebnisse zu individuellen Pfaden noch einmal skizziert. Andererseits wird auf die Auswirkungen individueller Pfade auf die Meso- und Makro-Ebene eingegangen. Darüber hinaus soll im Rahmen des Ausblicks diskutiert werden, welche weiterführenden Forschungsfragen aus den Ergebnissen entwickelt werden können. Dazu zählen zum Beispiel Ansätze zur weiteren Spezifizierung des Modells und zur Präzisierung weiterer empirischer Forschung.
II.3 Ergebniserwartung und interdisziplinärer Ausblick Nun wird skizziert, welche Ergebnisse zu den einzelnen Subforschungsfragen absehbar sind. Ebenso erfolgt eine kurze Übersicht über Erwartungen an die zusammenfassende Abschlussdiskussion, bei der die Ergebnisse auf die leitende Fragestellung bezogen werden. Dabei werden auch mögliche Ergebnisse bezüglich weiterer Forschungsfragen behandelt. Am Ende dieses Kapitels wird noch einmal kurz auf den Einfluss der Arbeit im Rahmen des Gesamtkontextes der Problemstellung eingegangen.
Die erste Subforschungsfrage (F1) ist auf die theoretische Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven ausgerichtet. Zur Beantwortung ist einer der Kernaspekte, 24
In Bezug auf Experten- und Expertinnenbefragungen ist als quantitatives Verfahren die Delphi-Methode zu nennen, bei der Fragebögen mit zu bewertenden Thesen an eine hohe Anzahl von Experten und Expertinnen verschickt werden (vgl. dazu Ammon 2005; Aichholzer 2002; Häder 2002; Häder & Häder 2000; Helmer 1966). Aus den qualitativen Verfahren ist insbesondere das problemzentrierte Interview (vgl. Witzel 1989) oder das ExpertInneninterview (vgl. Meuser & Nagel 1991) von Bedeutung.
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die in den konstruktivistischen Perspektiven bereits implizit mitgedachte Zeit, als Beziehungsrahmen unserer Welt zu verdeutlichen und explizit darzustellen. Verweise zu dieser Idee sind bereits in einigen Arbeiten zu finden: „Die Weiterarbeit an diesem Problem [der Rekursion] wird mehr als bisher auf die Zeitlichkeit […] achten müssen“ (Luhmann 1992, S. 314; im Original ohne Einfügung). Dazu wird ein Modell aufgestellt, welches die zeitliche Rekursion von Konstruktionen in Form der Selbstverstärkung aus der Pfadforschung verdeutlicht. Das Model wird aus einer Reihe von Faktoren und Relationen entwickelt, deren Relevanz im Rahmen der empirischen Subfrage zu diskutieren ist. Die Integration der Pfadforschung, und der dort diskutierten Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung auf sozialer und individueller Ebene, wird die konstruktivistischen Perspektiven dabei erweitern. Bei der zweiten Detailfrage (F2) ist die Beurteilung der Relevanz einzelner Faktoren und Relationen des Modells aus F1 zur erfolgreichen Bearbeitung individueller Stabilität das zentrale Anliegen. Dazu werden aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen als Experten und Expertinnen befragt. Durch diese Orientierung können Beratungsansätze reflektiert werden, die nach eigenen Recherchen bis heute selten im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs beachtet wurden, jedoch praktiziert werden. Die Experten und Expertinnen werden zu den einzelnen verwendeten Faktoren und Relationen ihre Einschätzung abgeben und, wenn nötig, zusätzliche Faktoren und Relationen anführen. Zu den einzelnen Faktoren und Relationen werden Methodenvorschläge erwartet, mit denen die Experten und Expertinnen bereits gute Erfahrungen vor dem Hintergrund der Rekursion gemacht haben. Bei diesen Methodenvorschlägen wird erwartet, dass die implizite Präsenz von Zeitlichkeit bei der Rekursion bereits zu einer impliziten Verwertung bei der Beratung geführt hat.
Bei der zusammenfassenden Abschlussdiskussion zur Rückbindung der Ergebnisse der beiden Subforschungsfragen an die leitende Fragestellung wird erwartet, dass ein überarbeitetes Modell individueller Pfade entwickelt werden kann – sofern Änderungen durch die Experten und Expertinnen notwendig erscheinen. Bezüglich der Methodik ist davon auszugehen, dass eine Zusammenstellung bekannter und zum Teil modifizierter Methoden zur Bearbeitung individueller Pfade durch die Experten und Expertinnen erfolgt. Da das Modell und die Methoden Ergebnisse einer explorativen Studie sind, könnte die konkrete Anwendung als weiterführende Forschungsfrage im Rahmen der unmittelbaren und mittelbaren Aktionsforschung weiterverfolgt werden. Gerade weil diese Arbeit aus der Perspektive des ‚Methodologischen Individualismus’ als Grundlagenforschung wirtschaftswissenschaftlicher Fragestellungen konzipiert ist 24
(vgl. Popper 1969, S. 98; Bohlen 1995, S. 2), ist insbesondere die Rückwirkung auf organisatorische Prozesse – oder allgemeiner wirtschaftswissenschaftliche Prozesse – von Interesse. Als letzte und bisher ausgeklammerte Frage wird daher eine Antwort in Form einer Skizzierung der Auswirkungen des Modells auf die Meso- und Makroebene (also z.B. Organisationen und Märkte) erwartet. Bei der Zusammenstellung weiterer Fragen, welche im Rahmen der Abschlussdiskussion dieser Arbeit entwickelt werden, ist eine Reihe von Ansatzpunkte zu erwarten. Diese sind zum einen insbesondere auf die Erweiterungen des Modells individueller Pfade konzentriert (in theoretischer und methodischer Hinsicht). Sie adressieren dabei aber auch methodologische Aspekte für weitere empirische Forschung, sowie Impulse für die Pfadforschung. Durch die Beantwortung der leitenden Fragestellung könnten die Ergebnisse dieser Arbeit, mit der Rückbindung an soziale Prozesse, weiter reichenden, ‚externen Effekte’ aufweisen. Dazu zählen die Rückwirkungen der Ergebnisse auf konstruktivistische Perspektiven , da diese durch die Verwendung der Selbstverstärkung in Verbindung mit der Bedeutung der relativen Zeit im Rahmen dieser Arbeit erweitert werden. Durch den Austausch der Rekursion mit der Selbstverstärkung wird die Erklärungsreichweite konstruktivistischer Perspektiven erweitert. Dazu zählen aber auch z.B. die Psychologie, Sozialpsychologie und die Philosophie. Möglicherweise könnte im Rahmen der Psychologie z.B. mit dem Modell individueller Pfade die Sucht als eine Ausprägung des Lock-Ins beschrieben werden. In der Sozialpsychologie könnte das Modell zur Erweiterung bisheriger Prozessmodelle von Konflikten oder Mobbing dienen. In der Philosophie könnte das Modell als Basis zur weiteren Diskussion von Paradoxien dienen. Auch praktische Auswirkungen der vorliegenden Arbeit sind möglich. Diese liegen einerseits bereits durch die empirische Arbeit in Form einer Beeinflussung ausgewählter Managementund Organisationsberater oder -beraterinnen vor. Andererseits könnten die Ergebnisse dieser Arbeit in der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre und der praktischen Durchführung von Organisationsentwicklung Eingang finden. Durch die Ergebnisreflexion mit Studierenden oder auch in Führungskräfteseminaren wäre die Idee vorzustellen und zu transportieren, damit im täglichen Arbeitsprozess die Selbst-Befreiung unter Kenntnis der Verfestigungsgefahr ohne Zuhilfenahme von externer Beratung gelingt.
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II.4 Die leitende Fragestellung und das Münchhausen-Paradoxon In Anlehnung an die leitende Fragestellung wird zum Abschluss des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit eine Verbindung der Fragestellung zum Paradoxon des Barons von Münchhausen hergestellt. Es erfolgt zunächst eine bildliche Darstellung des Paradoxons des Barons von Münchhausen. Anhand dieses Paradoxons soll dann gezeigt werden, dass es aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive negativ, aus der Perspektive der Aufklärung aber positiv besetzt ist. Daran anschließend wird das Paradoxon des Barons von Münchhausen mit der leitenden Fragestellung der vorliegenden Arbeit direkt verknüpft. Einerseits, um die Selbstlösung pfadabhängiger Individuen als positives Verhalten im Sinne der Aufklärung zu verdeutlichen und andererseits, um vor dem Hintergrund des Paradoxons die Rolle externer Experten und Expertinnen in dem Selbstlösungsprozess zu skizzieren. Am Ende dieser Arbeit wird noch einmal auf das Paradoxon des Barons von Münchhausen zurückgegriffen, um die Ergebnisse vor dem Hintergrund dieses Paradoxons einzuordnen.
Wie bereits in der Fußnote zur leitenden Fragestellung festgehalten wurde (vgl. Fußnote 15), umfasst das Paradoxon des Barons von Münchhausen das Problem der Selbstverursachung von ausweglosen Situationen, deren Selbst-Erkenntnis und die Selbst-Lösung25. Die Situation kann auch als Dilemma bezeichnet werden, bei dem der Baron von Münchhausen entweder im Sumpf verbleiben kann oder sich in Mangel an Alternativen selbst befreit. In den Landabenteuern des Barons von Münchhausen ist das folgende Bild gegeben, wie sich der Baron von Münchhausen selbst, mit samt seinem Pferd, an seinem Zopf aus dem Sumpf zieht (vgl. Abbildung 05).
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Schon biblisch ist die Selbsthilfe von Nöten, bevor das Geschenk der Lösung erfolgt „Wer überwindet, dem will ich geben“ (vgl. Offb. 3, 21).
Abbildung 05 – Das bildliche Paradoxon des Barons von Münchhausen (vgl. Bürger 1874, S. 34)
Dieses Paradoxon wird in der wissenschaftlichen Literatur insbesondere für die Veranschaulichung einer Selbstbezüglichkeit herangezogen, bei der etwas auf sich selbst zurückgeführt wird. Zwei Beispiele mit unterschiedlicher Bewertung sind dabei von besonderem Interesse: Zum einen wird das Paradoxon für das wissenschaftstheoretische Problem der unzureichenden Begründung bei der Deduktion verwendet (vgl. Albert 1968, S. 11 ff.). Hier wird es als das ‚Münchhausen-Trilemma’ bezeichnet (vgl. Albert 1968, S. 11), mit dem der Kritische Rationalismus gegen das klassische Vernunftsverständnis argumentiert. Trilemma bezieht sich dabei auf drei paradoxe Auswegsituationen bei der Suche nach einer Letztbegründung: 1) der infinite Regress, 2) die Rekursion und 3) das Dogma. Alle drei Auswegsituationen sind für eine Letztbegründung unzureichend, worauf Hans Albert den Weg der kritischen Prüfung begründet (vgl. Albert 1968, S. 29 ff.). Der Regress hat kein Ende und das Dogma ist ein unbefriedigender Entschluss, der oft von einer sozialen Stellung abhängig ist. Die Rekursion ist 27
insbesondere problematisch, wenn in dem Hempel-Oppenheim Modell der Erklärung (vgl. Hempel & Oppenheim 1948)26 das aufgestellte Gesetz von den Randbedingungen und auch von dem zu Erklärenden abhängig ist. Es entsteht ein Kreislauf der die Wirkung des Gesetzes in Frage stellt. Aus einer wissenschaftstheoretischen Perspektive ist damit das Paradoxon des Barons von Münchhausen negativ besetzt. Zum anderen wird das Paradoxon des Barons von Münchhausen als Paradebeispiel für eine gelungene Aufklärung in der Praxis verwendet (vgl. Wiebel 1997). Nach Immanuel Kant ist der rekursive Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstlösung das Ideal der Aufklärung: „Sapere Aude!“ (Kant 1970, S. 53). Dieser Ausruf entspricht einem Menschen, welcher sich aus eigener Kraft aus der durch ihn selbst verschuldeten Unmündigkeit befreit (dem Sumpf des Barons von Münchhausen). Die Problematik der Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit wurzelt nach Kant in dem Unvermögen der Menschen, ihren Verstand nicht ohne Anleitung durch Dritte zu gebrauchen (vgl. Kant 1970, S. 53). Wer dies jedoch überwinden kann, wäre nach dem Ideal aufgeklärt. In Bezug auf die Aufklärung wird das Paradoxon also positiv besetzt. Das Paradoxon, nach dem der Baron von Münchhausen sich trotz der Wirkung des Sumpfes selbst aus dem Sumpf befreit, kann auch auf die leitende Fragestellung der vorliegenden Arbeit übertragen werden: Wenn ein Individuum einem inneren Pfad folgt, welcher sich auf Basis der Selbstverstärkung entwickelt, und sich dann trotz eines Lock-Ins selbst aus dem Pfad befreit, dann handelt das Individuum nach dem Ideal der Aufklärung. In dieser Hinsicht folgt die leitende Fragestellung der positiven Besetzung des Paradoxons eben im Sinne der Aufklärung. Die Selbst-Lösung aus individuellen Stabilitäten ist auch in konstruktivistischer Literatur die „eigentümlichste Charakteristik eines autopoietischen Systems […], daß es sich sozusagen an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht“ (Maturana & Varela 1987, S. 54). Liegt das Ideal der Aufklärung nicht vor - also die Selbsterkenntnis und die Selbstbefreiung dann müsste nach Kant eine Leitung des Verstandes der Individuen durch Dritte erfolgen. Da autopoietische Systeme aus konstruktivistischen Perspektiven jedoch in sich operational geschlossen sind, kann die von Kant angeführte Leitung des Verstandes nur in Form von Irritationen erfolgen. Also nicht, wie in anderen Beratungsverständnissen angenommen, durch eine externe Lösung des Problems27. Um diese Leitung des Verstandes zuzulassen, muss das pfad26
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Nach dem Hempel-Oppenheim Modell gilt, dass mit einem Gesetz und gültigen Randbedingungen eine Beobachtung erklärt werden kann. Dieses Bild von Münchhausen ist also eine Grundlage des Verständnisses von Hilfe zur Selbsthilfe.
abhängige Individuum also zunächst die Situation als subjektives Problem selbst erkennen und es aus seiner sich als ‚schlecht’ bewerten. Erkennt es dies nicht, dann wird es auch keiner externen Position zustimmen, die es von einem ‚blinden Fleck’ zu überzeugen versucht. Wenn das pfadabhängige Individuum sein Problem oder seine Gefangenheit im Sumpf erkennt, dann erlischt der ‚blinde Fleck’. Die Grenze des Systems wird durchlässig. Dann kann es sich selbst, mit Einfluss von ihm selbst zugelassenen Experten und Expertinnen, aus dem subjektiven Problem befreien. Sollte das pfadabhängige Individuum jedoch Methoden zur Selbstlösung kennen, dann kann es diese auch ohne externe Hilfe auf sich selbst anwenden und sich selbst befreien. Die Einwirkung der externen Experten und Expertinnen ist bei diesem Lösungsprozess also möglich, jedoch lösen diese das Problem nicht – sie assistieren. Aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen vertreten bereits diese Perspektive und haben ihre Methoden insbesondere auf die Irritation ausgerichtet, um die Selbsterkenntnis und die Selbstlösung zu unterstützen.
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III Zum Stand der Pfadforschung Die Pfadforschung ist für die vorliegende Arbeit von großer Bedeutung, da sie den Begriff der Selbstverstärkung und ein Prozessverständnis einführt. Ihren Ursprung nahm die Pfadforschung in einer wirtschaftshistorischen Debatte im angelsächsischen Sprachraum (vgl. David 1985). Durch verschiedenste Weiterentwicklungen der ursprünglichen Veröffentlichung liegt jedoch keine einheitliche Theorie vor, so dass mit ‚Pfadforschung’ alle Ansätze mit Pfadbezug gemeint sind. Auswirkungen der Pfadforschung in der Wirtschafswissenschaft sind mittlerweile nicht mehr auf pfadabhängige Märkte beschränkt. Auch Technologieentwicklungen oder Organisationsprozesse werden von ihr behandelt. Die Debatte begann mit einem Artikel zu dem bekannten Phänomen der QWERTY-Tastatur durch Paul A. David. Dieser beschrieb die technologische Entwicklung des spezifischen und heute am weitesten verbreiteten Tastaturlayouts QWERTY. Der Prozess der technologischen Entwicklung von QWERTY sei geprägt durch historische Ereignisse mit einem ineffizienten Ergebnis (vgl. David 1985). Mit einem QWERTY-Layout seien Schreiber langsamer als im Vergleich mit anderen Varianten der Tastenlayouts. Die Nutzer würden jedoch nicht wechseln. Mit dieser Argumentation forderte er die neoklassische Argumentation heraus (vgl. Ackermann 2001, S. 22 ff.). Diese Herausforderung an den Determinismus des optimalen Marktgleichgewichts, unter der Bedingung von Effizienz, ist jedoch zum heutigen Zeitpunkt überschattet von einer Vielzahl verwässerter Argumentationslinien. David fasst dazu die Verwendung des von ihm geprägten Begriffes der ‚path dependence’, welcher zu einem regelrechten ‚history-matters boom’ geführt hat (vgl. Ackermann 2001, S. 23), selbst wie folgt zusammen: Der Begriff wird öfter verwendet als definiert (vgl. David 2000, S. 1) und die Elemente seiner Definition so kaum analysiert. Damit kritisiert er insbesondere Arbeiten, welche nur auf die Historizität von Entwicklungen achten und dabei die Mechanismen, die Stabilität und die Ineffizienz nicht hinreichend berücksichtigen.
Auf Grund der relativ jungen Debatte wird die Diskussion der Pfadforschung mit besonderer Berücksichtigung theoretischer Beiträge skizziert (III.1). Nach einer Darstellung der ersten Definitionen von David und Arthur wird insbesondere auf die neo-klassische Kritik an diesen
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eingegangen. Dieser folgten historisch geprägte, empirische Ausarbeitungen und theoretische Übertragungen in andere Fachgebiete. Insbesondere ein Ansatz aus der Organisationsforschung ist für die Wirtschaftswissenschaft von großer Bedeutung. Daher wird das Modell von Schreyögg, Sydow und Koch (2003) auch separat diskutiert (III.2). In diesem fassen die Autoren die stringente Anfangsidee von David mit den zum Teil aufweichenden Übertragungen anderer Disziplinen zu einem stringenten organisationssoziologischen Modell zusammen. Vor dem Hintergrund der historischen Skizze der Pfadforschung und der Vorstellung der Übertragung der Pfadidee in die Organisationsforschung werden die Ergebnisse kritisch gewürdigt (III.3). Die wichtigsten Aspekte aus der Debatte können dann in die Definition eines Pfadbegriffs überführt werden. Diese Definition, als Ergebnis der kritischen Würdigung, wird dann noch einmal überarbeitet und auf die Analyseebene des Individuums übertragen (III.4). Hiermit wird eine Definition des Begriffs ‚individueller Pfade’ geliefert, aus der theoretische Annahmen über die Verknüpfung mit konstruktivistischen Perspektiven entwickelt werden.
III.1 QWERTY, Kritik und erste Weiterentwicklungen David (1985) analysierte die Durchdringung einer ineffizienten28 Technologie am Markt gegenüber deren damaligen Mitbewerbern29 und bezeichnete seine Beobachtungen zunächst als ‚Pfadabhängigkeit’. Diese ‚Pfadabhängigkeit’ besteht nach ihm aus verschiedenen Bestandteilen. Zunächst sei der Prozess einer pfadabhängigen Entwicklung und dessen Ergebnis beeinflusst von „temporally remote events, including happenings dominated by chance elements rather than systematic forces“ (David 1985, S. 332, im Original zum Teil abweichend formatiert). ‚Zufallsereignisse’ (oder small events) sind nach David also ein Kernelement eines pfadabhängigen Prozesses (vgl. David 1985, S. 335), wobei diese in ökonomischen Analyse berücksichtigt werden müssen: „'historical accidents' can neither be ignored, nor neatly quarantined for the purpose of economic analysis“ (David 1985, S. 332). 28
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Das Effizienzkriterium ist im Rahmen dieser kritisierenden Debatte gegenüber der Neoklassik ein wesentlicher Faktor, welches aber nicht unumstritten von verschiedenen Autoren unterschiedlich interpretiert wird. Paul A. David legt hier als sein Effizienzkriterium die Tippgeschwindigkeit an, wodurch eine Arbeitszeitverkürzung und damit ein größerer Gewinn realisiert werden können (vgl. David 1985, S. 332). Bedeutendster Mitstreiter im damaligen Wettbewerb war das DSK (Dvorak Simplified Keyboard). Weitere Konkurrenten waren z.B. das ‚electric print-wheel’ (Thomas Edison, 1872) oder das ‚cylindrical sleeve’ (Lucia S. Crandall, 1879) (vgl. David 1985).
Im Vergleich zu stochastischen Modellen konstatierte er für pfadabhängige Prozesse, dass diese aus seiner Perspektive nicht zu einem festen Gleichgewicht konvergieren (vgl. David 1985, S. 332). Es gibt damit also keine singulären Verteilungsgleichgewichte, sondern multiple Gleichgewichte. In Abhängigkeit von kleinen Zufallsereignissen wird eben eines dieser Gleichgewichte angestrebt. In Anbetracht des Marktes für Tastaturlayouts entspricht QWERTY30 damit einem ‚Angriff’ gegen die neoklassischen Grundlagen optimaler Märkte mit nur einem Gleichgewicht. David pointiert diesen Zusammenhang in seiner Definition von ‘NonErgodizität’ als weiteres Kernelement pfadabhängiger Prozesse: „not converge to a fixedpoint distribution“ (vgl. David 1985, S. 332). ‚Non-Ergodizität’ wird daher auch als die Existenz multipler Ergebnismöglichkeiten verstanden. Diese kleinen Ereignisse sind jedoch nicht alleine für die weitreichende Wirkung bei pfadabhängigen Prozessen verantwortlich, sondern vielmehr dienen sie der Weichenstellung. Verantwortlich für den Prozessverlauf machte David die zwei Treiber der wechselseitigen Beziehungen zwischen Technologie und Nutzer (technical interrelatedness) sowie der Skalenerträge als Fixkostendegression (system scale economies). Diese Treiber fasste er als ‚steigende Erträge’ (increasing returns) zusammen und definierte diese als ein weiteres Kernelement pfadabhängiger Prozesse (vgl. David 1985, S. 335). Als letztes benannte David als Kernelement den Punkt einer quasi Unumkehrbarkeit von Investitionen (quasi-irreversibility of investment) durch Kostenasymmetrie31. Das Ergebnis nach diesem Punkt der Unumkehrbarkeit derartiger Prozesse fasste er als ‚Lock-In’ zusammen: „lock in to a de facto […] standard“ (David 1985, S. 335). In einer späteren Zusammenfassung seiner Arbeit schlug David dann die Möglichkeit der Auflösung des Lock-Ins vor. Nach ihm kann dieser aber nicht durch ein System oder im Markt des Tastenlayouts erfolgen, sondern nur durch externe Schocks. Diese externen Schocks müssten die Konfiguration oder
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Paul A. David analysierte in seinem Artikel die QWERTY-Tastatur. In anderen Arbeiten aus der Pfadforschung werden weitere Beispiele genannt, welche bisher aber nur zum Teil empirisch untersucht wurden: „clocks go clockwise […] drive on the right […] diamond industry in New York […] Microsoft's Windows […] Intel's processors […] gauge of a railroad […] success accrues to the success” (Sterman 2000, S. 349 f.). Nach David (1985) besteht eine Kostenasymmetrie dann, wenn eine Überwindung des Pfades auf Basis der Höhe der Transaktionskosten im Vergleich zu den Kosten der weiteren Beschreitung des Pfades zu teuer ist und nahezu unmöglich wird (vgl. David 1985, S. 335 f.). Die Quasi-Irreversibilität wurde im späteren Verlauf der Diskussion pfadabhängiger Prozesse als eines der wesentlichen Kriterien für Pfade definiert - zum Teil wird es auch als hauptsächlicher Treiber von Pfadabhängigkeit im Sinne der ‚increasing returns’ beschrieben (vgl. Arrow 2004, S. 24).
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Zusammensetzung innerhalb des betroffenen Systems oder des Marktes verändern (vgl. David 2000, S. 10).
Der Reiz, den dieses Marktmodell auf Kritiker der Neoklassik ausübt, ist offenkundig und daher wurde es sowohl positiv als auch negativ rezitiert. Die wohl wichtigsten Kritiker an der Studie von David (1985) sind Stan J. Liebowitz und Stephen E. Margolis, welche den Standardisierungsprozess in Märkten mit Berücksichtigung der Problematik von möglicher Ineffizienz untersuchten (vgl. Liebowitz & Margolis 1990; Liebowitz & Margolis 2001). Sie analysierten den Fall der QWERTY-Tastatur in allen Details erneut und kamen mit folgenden Argumenten zu dem Schluss, dass die Studie von David (1985) nicht haltbar sei: Im Wesentlichen warfen sie David (1985) vor, er habe zum Teil undokumentierte Studien verwendet (vgl. Liebowitz & Margolis 1990, S. 8), habe die Schreiber der Studien nicht kritisch genug reflektiert (vgl. Liebowitz & Margolis 1990, S. 9) und auf die Zitierung wesentlicher Gegenstudien32 verzichtet (vgl. Liebowitz & Margolis 1990, S. 14 ff.). Nebst Kritik an der empirischen Vorgehensweise verwiesen die Autoren auf wesentliche Maßnahmen durch Marktteilnehmer (oder auch Marktkräfte), welche David in seiner Analyse nicht berücksichtigt hatte: „no guarantees, no rental markets, no mergers, no loss-leader pricing, no advertising, no marketing research“ (Liebowitz & Margolis 1990, S. 22). Mit deren Integration in das Model würde sich diese ineffiziente Situation nicht entwickeln.
W. Brain Arthur dagegen fundierte das Modell von David (1985) theoretisch im Anschluss an seine eigenen Untersuchungen zur Polya-Urne (vgl. Arthur et al. 1983). Wie schon David (1985) definiert er für pfadabhängige Prozesse die Existenz der Kernelemente von potentieller Ineffizienz und Non-Ergodizität durch multiple Ergebnismöglichkeiten (Arthur 1989, S. 116). Sein Modell beinhaltet zwei Wahl-Alternativen, sowie die Verwendung der steigenden Erträge (increasing returns) als Treiber des pfadabhängigen Prozesses. Unter der Annahme des Sponsoringverbotes (vgl. Arthur 1989, S. 117) zeigt Arthur mathematisch den Eintritt eines 32
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Ohne das Effizienzkriterium der Tippgeschwindigkeit von David (1985) an sich zu kritisieren, werden Ergebnisse von Studien angeführt, welche der Vorteilhaftigkeit des DSK (Dvorak Simplified Keyboard) gegenüber QWERTY widersprechen: DSK sei nur 2,6% besser als QWERTY (Yamada nach Liebowitz & Margolis 1990, S. 15), es gäbe keine signifikanten Unterschiede (Miller & Thomas nach Liebowitz & Margolis 1990, S. 15), mit dem DSK sei man nur 6,2% schneller als mit QWERTY (Nickells, Jr. nach Liebowitz & Margolis 1990, S. 15) und das DSK sei 5% besser als QWERTY (Norman & Rumelhart nach Liebowitz & Margolis 1990, S. 16). Interessant ist, dass die angeführten Studien alle einen Vorteil des DSK gegenüber dem QWERTY-Layout ausweisen und damit David unterstützen, die Kritiker aber auf Basis des geringen Vorsprungs ihr Argument stützen wollen.
Lock-In in Abhängigkeit von den zufälligen Aktionen zu Prozessbeginn – dies wird auch als Diffusionsprozess aufgefasst (vgl. Strobel & Roedenbeck 2006). In seiner abschließenden Diskussion formulierte Arthur ebenfalls eine Herausforderung an die Neoklassik: Trotz der nachträglichen Rücknahme seiner zuvor gesetzten Annahme des Sponsoringverbotes und der Diskussion weiterer Einflussmöglichkeiten können multiple Marktergebnisse immer vorliegen. Der pfadabhängige Prozess verstärkt sich nach Arthur sogar dann, wenn eine Vorhersageoption der Akteure besteht und diese über das Wissen um die Möglichkeit eines Lock-Ins verfügen. Im Ergebnis würde der Lock-In noch schneller erfolgen. Hiermit lieferte er ein Gegenargument zur Kritik von Liebowitz & Margolis (1990) bezüglich des Sponsorings. Die von David (1985) umdefinierten Merkmale zu dem Mechanismus der ansteigenden Erträge spezifiziert er in weiteren Artikeln als (i) Setup- / Fixkosten, (ii) Lerneffekte, (iii) Koordinationseffekte und (iv) Adaptive Effekte / Erwartungen für technologische Märkte (vgl. Arthur 1988; Arthur 1994b). Für Hoch-Technologiemärkte schränkte er sie dann wieder auf (i) Setupkosten, (ii) Netzwerkeffekte und (iii) Lerneffekte ein (vgl. Arthur 1996, S. 3).
Allerdings bot die modelltheoretische Fundierung des der Neoklassik widersprechenden Ansatzes ebenfalls Möglichkeiten zur Kritik. Liebowitz & Margolis reagierten darauf auch umgehend. Nach ihrer Ansicht muss das Modell von Arthur (1989, 1994) in drei verschiedene Formen der Pfadabhängigkeit unterteilt werden und zwar basierend auf dem Effizienzbegriff. Bei der ersten Form kann das Ergebnis vom Entscheidenden vollständig abgeschätzt werden (vgl. Liebowitz & Margolis 1995, S. 206). Die rationale Wahl kann so zu einem ‚lock-in’ führen, jedoch ist die Entscheidung ex ante und ex post effizient. Dies ist z.B. der Fall, wenn durch den erneuten Kauf eine Technologieplattform fokussiert wird. Im zweiten Fall gilt: „information is imperfect“ (Liebowitz & Margolis 1995, S. 207). Eine Entscheidung kann auf asymmetrischer Information beruhend ex ante effizient sein und ex post ineffizient werden. Dies bezeichnen sie auch als „history of our ignorance“ (S. 211). Der hier vorliegende Lock-In existiert jedoch nur so lange die Ineffizienz nicht bekannt ist. Der Markt überführt das ineffiziente Ergebnis aber nach Kenntnis direkt wieder in einen effizienten Zustand. Grund dafür ist, dass einzelne Akteure Möglichkeiten für Profit erkennen. Eine nachträgliche ‚what-if’ Diskussion, unter Annahme möglicher Bekanntheit von Ineffizienz im Vorhinein, hilft nach den Autoren in der theoretischen Debatte um die Existenz von Pfaden nicht weiter.
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Der letzte Fall von Pfaden entspricht einer chaostheoretischen Anlehnung: „sensitive dependence on initial conditions leads to an outcome that is inefficient” (Liebowitz & Margolis 1995, S. 207). Also eine ex ante Ineffizienz, welche aber vermeidbar gewesen sein muss und trotzdem begangen wurde. Dies entspricht aber dem Fall, von dem sie sich vorher schon distanzierten. So ist es auch nicht auffällig, dass die Autoren diesen Fall für unrealistisch halten und die Wirkmächtigkeit der ‚increasing returns’ bestreiten. Durch die Bekanntheit der zukünftigen Rückzahlungen würde sofort das Kalkül der Akteure dazu führen, ein Sponsoring für die zukünftig effizientere Alternative einzurichten (hier liegt eine Ignoranz oder andere Bewertung des von Arthur vorgestellten schnelleren Lock-Ins durch Sponsoring vor). Liebowitz und Margolis argumenteierte, dass man sich damit im zweiten Fall der Pfadabhängigkeit und genau nach dem Punkt der Erkenntnis von einer effizienteren Alternative befände. Wären hingegen weder Anzahl der Akteure noch die individuellen Rückzahlungen bekannt, befände man sich im zweiten Fall der Pfadabhängigkeit vor dem Punkt des bekannt werden einer Alternative. Also zerfällt der dritte Fall in ein neoklassisches Phänomen, welches der Markt bei Kenntnis korrigiert.
Unbeeindruckt von dieser Kritik gingen Autoren verschiedener Disziplinen auf die Thematik des Pfades aus dem ökonomischen Kontext ein, um die Idee theoretisch in ihr Gebiet zu übertragen. Vor dem Hintergrund eines Verständnisses von Institutionen wurde die mit einem Nobelpreis geehrte Neue Institutionenökonomik entwickelt (vgl. North 1990). Eine Übertragungen des Pfad-Konzeptes in die Soziologie wurde ebenso durchgeführt (vgl. Mahoney 2000) wie die in die Politikwissenschaften (vgl. Pierson 2000). In diesen Übertragungen wurden die bisherigen ‚increasing returns’ als ökonomische Aspekte der Selbstverstärkung zusammengefasst und durch selbstverstärkende Legitimität, Funktionalität, Macht und Komplementarität erweitert33. Zudem wurde die Selbstverstärkung als allgemeiner Mechanismus der Pfadabhängigkeit (vgl. Mahoney 2000, S. 512) aufgefasst und um den Mechanismus der Reaktivität oder linearen Kausalität ergänzt (vgl. Mahoney 2000, S. 526). Im Fall der Selbstverstärkung setzt sich ein Ereignis in der Zukunft fort und verstärkt seine eigene Erscheinung. Im Fall der Reaktivität führt ein Ereignis durch kausale Verknüpfungen zu einer Reihe ganz anderer Ereignisse, deren Erscheinung nun historisch aber nicht verstärkend bedingt ist. Die Dramatur33
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In den Quellen werden die ökonomischen Aspekte der ‚increasing returns’ auch als utilitaristische Aspekte bezeichnet (vgl. Mahoney 2000). Da diese soziologische Etikettierung aber die ethische und philosophische Komponente des Begriffs ‚Utilitarismus’ unberücksichtigt lässt, ist hier der allgemeine Begriff ‚ökonomisch’ bevorzugt worden.
gie der Selbstverstärkung sowie die Reaktivität werden durch ihre Historizität beide als pfadabhängig bezeichnet. Neben der theoretischen Übertragung in andere Disziplinen wurden weitere empirische Belege für pfadabhängige Prozesse neben QWERTY gesucht. Dabei wurden die von David und Arthur eingeführten Kernaspekte der Pfadabhängigkeit (i) ‚small events’ / ‚Non-Ergodizität’ (ii) ‚increasing returns’ und (iii) ‚lock-in’ zur ihrer Unzufriedenheit nur lose verwendet (vgl. David 2000, S. 2). Dies führte zwar zur Berücksichtigung der geforderten historischen Komponente in der Sozialforschung (vgl. Kieser 1994), jedoch wurde die Dramaturgie des Pfades gegenüber einem ‚history-matters boom’ verwischt (vgl. Ackermann 2001, S. 23). Ein kurzer Überblick über die empirischen Wirkungsbereiche der Idee der Pfadforschung kann der folgenden Liste entnommen werden: x
Technologie (vgl. z.B. Arthur 1996; David 1985; Hargadon & Douglas 2001; Stimpert et al. 1998; Strobel & Roedenbeck 2006),
x
Politik (vgl. z.B. Bachmann 2004; Crouch & Farrell 2004; Deeg 2001; Mahoney 2001; North 1990; Siehl 1997; Strobel 2004; Thelen 1999),
x
Organisation (vgl. z.B. Bruggeman 2002; Cearney & Gedajlovic 2002; Helfat 1994; Human & Provan 2000; Jarren 2002; Karim & Mitchell 2000; Langlois & Savage 2001),
x
Netzwerke und Cluster (vgl. z.B. Britton 2004; Grabher 1993; Gulati et al. 2000; Krugman 1991; Marquis 2003; Schienstock 2004; Sydow et al. 2004; Sydow et al. 2005b; Walker et al. 1997),
x
und Strategie (vgl. z.B. Bruggeman 2002; Burgelman 2002; Cearney & Gedajlovic 2002; Danneels 2002; Stimpert et al. 1998).
Neben den empirischen Arbeiten ist insbesondere ein Beitrag für die Organisations- und Managementforschung von großer Bedeutung. Er verbindet die stringente Perspektive von David und Arthur mit den ‚aufgeweichten’, soziologischen Perspektiven zu einem neuen, stringenten organisationssoziologischen Rahmenwerk. Dieser Beitrag wird im nächsten Kapitel diskutiert.
III.2 Pfadabhängigkeit in der Organisationsforschung Georg Schreyögg, Jörg Sydow und Jochen Koch (2003) übertrugen die Diskussionen bisheriger Pfadforschung in ein Phasenmodell der Pfadabhängigkeit oder eine modifizierte Pfadab-
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hängigkeitstheorie34. Diese besteht aus den vier analytisch streng getrennten Teilabschnitten der (i) ‚increasing selectivity’, (ii), des ‚positive feedback’ (iii) der ‚path-dependence’ und des (iv) ‚path breaking’. Sie werden durch die Übergangszustände des ‚critical juncture’, des ‚lock-in’ und des ‚de-locking’ verbunden (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 272, 286). Die bisherigen Kernmerkmale der möglichen multiplen Gleichgewichtszustände am Ende und der potentiellen Ineffizienz wurden in diesem Modell beibehalten (vgl. Sydow et al. 2005a, S. 17).
Abbildung 06 – Entscheidungspfade (in Anlehnung an Sydow et al. 2005a, S. 32; Schreyögg et al. 2003, S. 286)
Einige Änderungen gegenüber der bisherigen Literatur nahmen die Autoren an der klar bezeichneten Phase der Selbstverstärkung und dem Lock-In vor. Die Diskussion der steigenden Erträge (increasing returns) aus der Ökonomik erweiterten sie, ähnlich wie bereits Mahoney (2000), durch den Begriff der positiven Rückkopplungen. Dabei lösten sie sich von dem engen Kern der Nutzentheorie (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 269). Sie extrahierten in ihrer Arbeit eine Reihe von Facetten der positiven Rückkopplung. Dazu zählen: (i) kognitive [wie Erwartungen und Erwartungserwartungen], (ii) emotionale, (iii) soziale und (iv) Ressourcen bedingte Aspekte (vgl. Sydow et al. 2005a, S. 25; Schreyögg et al. 2003, S. 270). Bei dem Prozessverlauf der positiven Rückkopplung sprechen die Autoren von einer spiralförmigen Dynamik (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 262). Über die Einteilung der positiven Rückkopplungen 34
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Die Autoren bezeichnen ihr Verständnis als ‚Theorie’ (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 260, 271), die einen Prozessverlauf beschreibt und in verschiedene andere Theoriegebäude integrierbar ist (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 267). Als Theoriegebäude werden verhaltenstheoretische, systemtheoretische, strukturationstheoretische wie auch komplexitätstheoretische Ansätze genannt. Abschließend verdichten die Autoren ihre Erkenntnisse „zu einem Modell“ (Schreyögg et al. 2003, S. 285 und 271). Es ist also davon auszugehen, dass die Autoren den Modell und den Theoriebegriff in dieser Arbeit synonym verwenden.
herrscht in den Sozialwissenschaften jedoch noch keine Einigkeit, andere Vorschläge der Ordnung fassen unter Rückkopplungen (i) Increasing Returns, (ii) Sequenzen, (iii) Funktionalität, (iv) Komplementarität35, (v) Macht36, (vi) Legitimität und (vii) Konformität37 (vgl. Beyer 2005, S. 18). Bezogen auf die Strenge des Lock-In bei David, welcher hier den Übergang in die Phase der ‚path dependence’ markiert, führen die Autoren eine Lockerung ein. Der Lock-In führt lediglich in einen begrenzenden Korridor (vgl. Sydow et al. 2005a, S. 17). Die Ineffizienz des Lock-In gilt in diesem Modell als möglich oder potentiell, viel wesentlicher für den Pfad ist allerdings dessen Zustandekommen über die spiralförmige Dynamik38. Auch bei der Brechung des Pfades gehen die Autoren gegenüber den ursprünglichen Ansätzen von David (1985) einen Schritt weiter. Nach ihnen ist Brechung möglich und zwar nicht notwendigerweise durch externe Schocks, wie David (2000) es später einführte. Externe Schocks können als Prüfregel für die Existenz von äußerst starken Pfaden verwendet werden (vgl. Koch 2005), die Auflösung erfolgt im Sinne der doppelten Hermeneutik (vgl. Giddens 1995 hier nach Sydow et al. 2005a, S. 20) durch Erkenntnis39. Empirische Arbeiten zu diesem klaren Phasenmodell liegen derzeit noch nicht vor, es eignet sich jedoch gerade wegen seiner Klarheit für eine Operationalisierung des Konstruktes der Pfadabhängigkeit. Im folgenden Kapitel werden die Ergebnisse der Pfadforschung kritisch gewürdigt, um dann die zentralen Elemente als eigenen Definitionsansatz zu extrahieren.
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Der Komplementaritätseffekt bedeutet eine scheinbare Gegensätzlichkeit, wobei beide Beteiligten einen Nutzen aus der Situation ziehen. Sie legitimieren oder akzeptieren ihre eigene Abhängigkeit durch den erwarteten Gewinn. Die Bedeutung von Macht wurde bereits vielfältig analysiert (vgl. French & Raven 1959; Etzioni 1961; Cartwright 1965; Raven 1992). In allen Definitionen hängt jedoch Macht immer von zwei Beteiligten ab: „Macht ist etwas, was sich […] im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht“ (Foucault 1983, S. 115). Im Rahmen einer Detailbetrachtung der Abhängigkeitsverhältnisse als Grund sozialer Machtverhältnisse (vgl. French 1956; French & Raven 1959) wird von bewusst legitimierter oder akzeptierter Macht gesprochen. Wird bei den anderen Fällen von einer unbewussten Legitimierung oder Akzeptanz der Macht ausgegangen, kann Legitimation oder Akzeptanz als das Basiskonzept hinter Macht angesehen werden. Konformität ist als Gruppendenken zu verstehen, bei dem der einzelne Beobachter die externen Aussagen stärker Gewichtet als seine eigene Wahrnehmung (vgl. Janis & Mann 1979; Janis 1982; Forsyth 1990); er oder sie legitimiert oder akzeptiert also die Gruppenmeinung. Hierbei ist natürlich sehr wesentlich, dass der Mechanismus der Selbstverstärkung einerseits vom Nutzenkalkül losgelöst aber nicht getrennt wird (vgl. Fußnote 34) und andererseits bei Nichtexistenz wenigstens einer Facette des Mechanismus der Selbstverstärkung von reaktiven Sequenzen (vgl. Mahoney 2000) anstelle von Pfaden gesprochen werden soll. Da dort jedoch nicht explizit angegeben wird, mit welchen Methoden eben diese Erkenntnis eingeführt werden kann, wird die Relevanz der Fragestellung dieser Arbeit auch an diesem Punkt noch einmal bestätigt.
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Aufbauend auf diesem Phasenmodell, welches als Kernmerkmal die spiralförmige Dynamik der Selbstverstärkung beinhaltet, entwickelte Frank Dievernich seinen Ansatz des Managements von Pfaden (vgl. Dievernich 2007). Er behandelt vor dem Hintergrund des Phasenmodells vornehmlich die Frage, wie Unternehmen und Entscheider sich von der spiralförmigen Dynamik der alten Pfade entfernen können. Die nach ihm nur scheinbar unumkehrbaren Dynamik ist durch die Fokussierung auf bisher unsichtbare, jedoch präsente Pfade für die vorherrschende Kommunikation – also Parallel-Pfade – zu überwinden. Auch Marc Roedenbeck und Philip Holtmann setzten an dem Phasenmodell an und entwickelten den Ansatz des Pfadmanagements von Frank Dievernich weiter (vgl. Roedenbeck & Holtmann 2008). Sie zeigten insbesondere auf, wie der Pfadbruch durch die Fokussierung auf die Unterbrechung der selbstverstärkenden Dynamik zu erreichen ist.
III.3 Kritische Würdigung bisheriger Pfadforschung Entsprechend dem Titel eines aktuellen Beitrages aus der Pfadforschung ‚Pfadabhängigkeit ist nicht gleich Pfadabhängigkeit!’ (vgl. Beyer 2005) ist zu konstatieren, dass sich auf diesem Gebiet derzeit viel bewegt40. Die entwickelten theoretischen und empirischen Arbeiten verwenden dabei oft unterschiedlichste Definitionen für den Begriff des ‚Pfades’. Ein Grund dafür ist, dass sich gegenüber den Anfängen der Pfadforschung mittlerweile eine Reihe von Disziplinen mit unterschiedlichen epistemologischen und theoretischen Positionen an dem Forschungsprozess beteiligen. Die einheitliche Sprachfindung ist daher noch nicht abgeschlossen. Nach einer kritischen Würdigung der anfänglichen Debatte um die Definition des Pfadbegriffs von Paul David und einer kritischen Würdigung der Debatte aus der Organisationsforschung, erfolgt die Zusammenführung der wesentlichen Elemente zu einer hier verwendeten Definition des Begriffs ‚Pfad’. An den vorgestellten Modellen und deren Kritiken ist abzulesen, dass die Pfadforschung insbesondere gegen die Aufrechterhaltung des neoklassischen Paradigmas in der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung gerichtet ist: Sich selbstverstärkende Marktprozesse können zu nicht vorhersehbaren Ergebnissen multipler Möglichkeiten führen, welche darüber hinaus auch potentiell ineffizient sein können. Multiple und ineffiziente Gleichgewichte an Märkten stehen aus der Perspektive der Pfadforschung damit singulären und optimalen Gleichgewich40
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Dies unterstützt eine Recherche meines Kollegen Markus Tepe bei dem SSCI (Zitationsindex der Sozialwissenschaft), mit kontinuierlich steigenden Veröffentlichungszahlen seit 1985 bis 2007 unter dem Schlagwort ‚path dependence’.
ten aus der neoklassischen Ökonomik gegenüber. Auch wurde die ‚unsichtbare Hand’ als Steuerungsmechanismus der Märkte durch die Pfadforschung sichtbar gemacht. Die Analyse des Mechanismus der Selbstverstärkung führte in der Sozialwissenschaft dann zu einer Mechanismen zentrierten Forschung (vgl. dazu Mahoney 2000; Mayntz 2005). Die Bedeutung des Fokus auf Mechanismen verdeutlichte David insbesondere durch die Dramaturgie des Lock-Ins. Dieser Fokus auf die Analyse von Mechanismen ist jedoch nicht unbedingt neu, er greift auf die Debatte der ‚System Dynamics’ zurück (vgl. Forrester 1961; Sterman 2000). Deutliche Kritik folgte, wie oben dargestellt, von einigen Neoklassikern. Sie stellten dem identifizierten Mechanismus und insbesondere der dargelegten Ineffizienz einerseits eine Quellenkritik gegenüber. Zudem gliederten sie die Definition des Pfadbegriffs anhand eines Effizienzbegriffs in drei Fälle auf, welche dem neoklassischen Paradigma wiederum entsprachen oder in der Empirie nicht gefunden werden können (vgl. dazu III.1). In Bezug auf die Quellenkritik ist den Kritikern zumindest teilweise stattzugeben, da David in seinem Artikel nur wenig auf die verwendeten Quellen eingeht. Aber auch wenn er hierauf mehr Rücksicht gelegt hätte, wäre er mit den durch die Kritiker zitierten Gegenstudien zum selben Ergebnis gelangt. Dort wies nämlich nur eine Studie keinen signifikanten Unterschied zwischen der QWERTY-Tastatur und anderen Herausforderern auf. Drei Quellen dagegen belegten einen signifikanten Vorsprung herausfordernder Tastaturlayouts wie dem DSK gegenüber der QWERTY-Tastatur, nur war der Vorsprung dort geringer angegeben, als David dies belegte (vgl. Liebowitz & Margolis 1990, S. 15). Daher führt das Argument der Kritiker in die Leere. Die Aufgliederung von Pfaden in Anlehnung an den Effizienzbegriff scheint zunächst die wichtigste Kritik am Pfadkonzept zu sein. Allerdings zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Aufgliederung von Pfaden in Anlehnung an den Effizienzbegriff kein Gegenargument darstellt. Der Effizienzbegriff, in Verbindung mit der Betrachtungszeit, führte die Kritiker zu drei unterschiedlichen Pfadformen, wobei nur die zweite und dritte Form wegen der Existenz von Ineffizienzen relevant sind. Bei der zweiten Form von Pfaden setzt sich eine ineffiziente Alternative am Markt durch. Dies ist jedoch kein Problem, so die Kritiker, da sobald jemand am Markt in Kenntnis einer effizienteren Alternative gelangt, er diese z.B. als Unternehmer einführen würde. Bei der dritten Form von Pfaden setzt sich eine ineffiziente Alternative durch und obwohl deren Ineffizienz bekannt ist, wird sie nicht z.B. durch Unternehmer abgelöst. Diese dritte Pfadform führen die Kritiker aber umgehend wieder auf die zweite Form zurück: 41
Entweder erkennen Unternehmer oder Sponsoren die Gewinnmöglichkeit und man befindet sich in der zweiten Form nach der Erkenntnis einer Alternative. Oder eine Alternative ist noch nicht bekannt, dann gibt es auch noch kein Problem - wird die Alternative bekannt, dann wird der Markt, so die Kritiker, die Einführung unterstützen. Das entspricht damit ebenfalls der zweiten Form, jedoch vor der Erkenntnis einer Alternative. Obwohl eigentlich genau die dritte Form den Pfad nach David charakterisiert, lösten die Kritiker diese Form vor dem Hintergrund der Neoklassik in bekannte Phänomene auf. Bei dieser Argumentation stören vor allem drei Dinge: Erstens bezeichnet David den gelockten Zustand einer ineffizienten Alternative als Problem, welcher gerade nicht durch Marktkräfte aufgelöst werden kann. Die Wirkmächtigkeit der hinter dem Lock-In präsenten Selbstverstärkungskräfte bestreiten die Kritiker lediglich und beachten dabei weder Forschungen aus ihrem Gebiet41 noch aus anderen Bereichen. Lerneffekte und Investitionskosten (wie im Fall von QWERTY) könnten Unternehmer zur langfristigen Abdiskontierung erwarteter Gewinne führen, wobei möglicherweise durch die Langfristigkeit keine Investitionskredite aufgetrieben werden. Damit haben die Zeit und die Kräfte der Selbstverstärkung eine größere Bedeutung als von den Kritikern wahrgenommen. Zweitens ist auch die Sponsoringaktivität kein Argument gegen den Lock-In, denn auch hier wirkt die Langfristigkeit abdiskontierter Gewinne in Verbindung mit der Bonität bei Risikokapitalgebern und Banken. Auch Arthur hatte schon gezeigt, dass gerade Sponsoring den Prozess zum Lock-In beschleunigt. Drittens ist der Effizienzbegriff selbst ein hoch problematisches Kriterium zur Differenzierung des Pfadbegriffes. Denn nach dem Pangloss-Argument kann jeder etablierte Zustand auf seine Art als effizient eingestuft werden (vgl. Herrmann-Pillath 2002, S. 241). Damit wird deutlich, dass nicht die Effizienz (oder Ineffizienz) das entscheidende Merkmal von Pfaden ist, sondern vielmehr die Irreversibilität. Für die Ökonomik wird anstelle des Effizienzkriteriums daher auf die Verwendung der Viabilität42 – im Sinne der stabilen Funktionalität – als Kriterium verwiesen (vgl. Herrmann-Pillath 2002, S. 242). Für die Pfadforschung bedeutet dies, dass erstens kein Wert auf den Effizienzbegriff zu legen ist. Zweitens bedeutet es, dass vielmehr auf die Stabilität des Lock-In zu achten ist sowie auf den Mechanismus der Entstehung. 41
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Eine ökonomische Analyse zeigte die Einwirkung einer am Markt bereits existierenden Produktbasis auf zukünftige Adoptionen (vgl. Farrell & Saloner 1986; Farrell & Saloner 1985). Auf den Viabilitätsbegriff wird später, in einem anderen Kontext, noch einmal eingegangen. Er steht hier für die generelle Funktionalität z.B. einer Alternative am Markt und beschreibt damit eine Möglichkeit. Dieses Kriterium wurde in der Evolutionsökonomik als Reaktion auf das Pangloss-Argument eingeführt. Viabilität wird auch in konstruktivistischen Perspektiven als Bezeichnung für funktionale Konstruktionen verwendet.
Wenn der Mechanismus der Selbstverstärkung jedoch den Mechanismus der ‚unsichtbaren Hand’ am Markt ersetzt, dann entspräche dies nur einem Austausch verschiedener Determinismen (vgl. Thelen 1999, S. 385). Wichtiger scheint es, den Pfad als eine Form von Prozessen am Markt oder in Organisationen zu verstehen und ihn dahingehend explizit zu spezifizieren. Andere Mechanismen sind aber ebenso denkbar (vgl. Mayntz 2005), sollten jedoch anders bezeichnet werden. Eine Spezifizierung von Pfaden stellt das Phasenmodell als organisationssoziologischer Vorstoß im Gebiet der Pfadforschung dar. An vielen Stellen ist die Spezifizierung gelungen. Zum Beispiel in den klar abgegrenzten Phasen, aber auch mit der reinen Verwendung der Selbstverstärkung (als positive Rückkopplung) und gleichzeitiger Verwerfung der reaktiven Sequenz von Mahoney (2000). Auch ist die Ordnung der Aspekte des Mechanismus der Selbstverstärkung ein Schritt in die richtige Richtung. Dies hilft, weitere Aspekte zu identifizieren und diese in die jeweiligen Oberkategorien zu sortieren. Die Spezifizierung führte aber auch zu einer leichten Aufweichung der Phase nach dem Lock-In, hin zu einem Korridor. Dieser Schritt bedeutet demnach einerseits die Lösung von einem Determinismus und andererseits entspricht der Korridor dennoch einer engen Definition des Pfadbegriffs. Das obige Ergebnis der Kritik an den Kritikern, den Effizienzbegriff nicht mehr in den Mittelpunkt zu stellen, wird dabei ebenfalls beachtet. Die Autoren sprechen von ‚potentieller Ineffizienz’.
Gerade durch die Spezifizierung der Pfadforschung in ein stringentes Phasenmodell werden einige weitere Kritikpunkte an den darauf beruhenden Ergebnissen der Pfadforschung erst möglich. Zentral sind dabei folgende Punkte: Zunächst fehlt eine Erläuterung über die Kräfte hinter der ersten Phase einer ‚increasing selectivity’. Zudem fehlt eine explizite Beschreibung der Wirksamkeit der in einer Tabelle zusammengestellten Facetten der positiven Rückkopplung (oder des Mechanismus der Selbstverstärkung) und es fehlt auch die Integration weiterer, bereits in der Forschung extrahierten Facetten der positiven Rückkopplung. Abschließend fehlt in dem Phasenmodell eine Erklärung über die Identifikation des Lock-In als Punkt und der Umgang mit Pfadbruch durch Erkenntnis erscheint zu einfach. Beginnend mit den fehlenden Kräften hinter der ersten Phase ist bei der angedeuteten Verengung von Alternativen nicht ersichtlich, warum hier nicht auch von einer Selbstverstärkung gesprochen wird. Es wird auch kein anderer Mechanismus angegeben, welcher zu dieser Verengung führt. Die Autoren erwähnen lediglich Zufallselemente. Diese können aber eigentlich gerade wegen ihrer Zufälligkeit nicht zu einem spezifischen Ergebnis führen – hier der Veren43
gung. In einer Modellierung im Journal of Artificial Societies and Social Simulation wurde noch einmal deutlich am Beispiel von Netzeffekten gezeigt, dass diese ab dem ersten Adoptionsschritt bereits ihre Wirkung entfalten (vgl. Roedenbeck & Nothnagel 2008). Selbst mit einer schwächeren Gewichtung des Effektes zu Beginn der Adoptionsphase lag keine Zufälligkeit vor. Als Zufall kann also lediglich der Start des Prozesses angesehen werden, so dass diese erste Phase nach Ansicht der vorliegenden Arbeit aus einer Definition des Pfadbegriffs auszuschließen ist. Die Wirksamkeit der in einer Tabelle zusammengestellten Facetten der positiven Rückkopplung ist ein weitaus größeres Problem. Wenn von ‚Entscheidungspfaden’ gesprochen wird und sich die Entscheidungsselektivität verringert oder sich der Handlungsspielraum verengt, dann könnten sich einerseits Entscheidungen selbst verstärken. Andererseits könnten auch Entscheidungen zu Skaleneffekten führen, welche die Entscheidung z.B. zum Sparen begünstigt und damit zur Entscheidung für weitere Skaleneffekte führt. Die Selbstverstärkung läge im zweiten Fall zwischen Entscheidungen und Effekten, wobei eine Erhöhung nur bei den Skaleneffekten, den Gewinnen oder Margen erfolgt, nicht aber bei den Entscheidungen selbst. Da im zweiten Fall die Bewertung von Ergebnissen und auch die Zielsetzung von Entscheidungsträgern eine große Rolle spielt, scheinen die Verstärkungseffekte mit den beteiligten Individuen deutlicher in einem Zusammenhang zu stehen. Empirische Arbeiten wären also darauf auszurichten, den Zusammenhang zwischen Effekten (Skalenerträge, Gewinne, Kundenzahlen und andere) und Entscheidungen zu zeigen. Neben den Erläuterungen zur Selbstverstärkung wurden einige weitere Facetten der positiven Rückkopplung aus der Forschung nicht in die Ordnung integriert. Dieser Kritikpunkt bezieht sich insbesondere auf Studien aus der ‚Business Dynamics’ Perspektive43. Diese skizziert nicht-lineare Polya-Urnen Prozesse als selbstverstärkende Schleife, wobei die Facetten der Selbstverstärkung z.B. Netzwerkeffekte, Komplementaritäten, Entwicklungskosten, Merger & Aquisitions, Produktwahrnehmung und -entwicklung sind (für detailliertere Abbildungen vgl. Sterman 2000, S. 354, 359, 365 ff.; als Zusammenfassung Strobel & Roedenbeck 2006, Tabelle 1). Dabei ist insbesondere der Detailgrad der Beschreibung über die Wirkungsweise dieser Facetten der positiven Rückkopplung größer als in den bisherigen Arbeiten der Pfadfor43
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Grundlage für den Pfadansatz in Business Dynamics ist das Verständnis von Pfaden als ein Prozess. Dieser Prozess ist über die drei bekannten Eigenschaften definiert: Dazu zählen kleine Zufallsereignisse zu Beginn, positive Rückkopplungsschleifen oder Todesspiralen und einem Lock-In in einem Gleichgewichtszustand (vgl. Sterman 2000, S. 350). Von empirischen Arbeiten wird neben dem Nachweis von Zufallsereignissen und dem Lock-In verlangt, mindestens eine Verstärkungsschleife zu skizzieren.
schung. Dieser Kritikpunkt der fehlenden Berücksichtigung weiterer Facetten der positiven Rückkopplung zielt aber auch auf die explizite Ausgrenzung der Macht im organisationssoziologischen Vorstoß (vgl. Schreyögg et al. 2003, S. 271 mit Verweis auf Ackermann 2001). Andere Autoren bringen Macht dagegen direkt mit Pfadabhängigkeit in Verbindung (vgl. Beyer 2005; Thelen 1999; Mahoney 2000). Für weitere empirische Forschung wäre es aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit bedeutsam, Nachweise für alle angeführten Facetten der positiven Rückkopplung zu liefern. Für die weitere theoretische Forschung und insbesondere für die Entwicklung eines Modells individueller Pfade ist dagegen zunächst auf die übergeordneten Zusammenfassungen der Facetten positiver Rückkopplung zurückzugreifen (vgl. Sydow et al. 2005a, S. 25; Schreyögg et al. 2003, S. 270; Beyer 2005, S. 18). Die fehlende Erklärung über den Punkt des Lock-Ins wurde oben als vorletzter Kritikpunkt am Phasenmodell aufgeführt. Der Punkt des Lock-Ins wurde zwar von David benutzt und von Arthur durch eine willkürliche Barriere in seiner Modellierung verwendet, bisher fehlt dazu aber jede Erklärung für dessen konkrete Nachweisbarkeit. Auch hiermit beschäftigte sich die oben bereits erwähnte Modellierung im Journal of Artifical Societies and Social Simulation (vgl. Roedenbeck & Nothnagel 2008). Als Erweiterung bisheriger Pfadforschung wurde dort der Lock-In als dynamischer Prozess zur Ermittlung der Rückkehrwahrscheinlichkeit zu einem Gleichgewicht der Marktanteile zweier Alternativen auf einem Markt definiert. Wird eine Rückkehrwahrscheinlichkeit unterschritten (z.B. 0.1%), dann entspricht dieser Punkt dem Zustand am Markt, bei dem nur noch mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.1% zu einem Gleichgewicht der Marktanteile zurückgekehrt werden kann. Die Rückkehrwahrscheinlichkeit sinkt damit im Prozessverlauf, wobei sich durch die verwendete Gauß-Verteilung für Akteurspräferenzen ein breiteres Spektrum (Lock-In Band) von 0.1%-Zuständen am Markt ergibt. Je geringer die Rückkehrwahrscheinlichkeit, desto höher müssen die notwendigen Sponsoringaktivitäten ausfallen. Im Rahmen einer Fallstudie konnte gezeigt werden, dass Sponsoringaktivitäten zur Brechung oder Auflösung eines alten Pfades auch den Wechselkosten zu einem anderen Pfad entsprechen können (vgl. Roedenbeck et al. 2005; Strobel & Roedenbeck 2006) - die Stärke eines Lock-Ins kann damit über die Höhe der Wechselkosten kalkuliert werden. Diese Ansicht unterstützt im ökonomischen Bereich die Wirkung der monetären Kosten, im übertragenen Sinne die Wirkung eines ‚Aufwandes’ z.B. kognitiver, emotionaler oder sozialer Art. Für empirische Forschung hat diese Kritik die Auswirkung, dass der Lock-In nicht mehr als Zeitpunkt ermittelt werden muss, sondern wahrscheinlichkeitstheoretisch zu bestimmen ist. Die Intensität des Lock-Ins ist dagegen über die Wechselkosten oder eine 45
‚Aufwandsermittlung’ zu erheben. Im Rahmen weiterführender theoretischer Forschung ist der Prozesscharakter des Lock-Ins von Bedeutung. Abschließend war als Kritikpunkt am Phasenmodell das weiche Verständnis der vierten Phase der Pfadbrechung angesprochen worden. Es wurde die doppelte Hermeneutik erwähnt, wobei die Erkenntnis der eigenen Abhängigkeit bereits den Brechungsprozess einleitet. Wäre die Brechung jedoch so einfach möglich, wie durch die Reflexion angedeutet, dann würde die Phase der Abhängigkeit nach dem Lock-In ihre Bedeutung verlieren. Auch hierzu konnte in der oben bereits erwähnten Modellierung im Journal of Artificial Societies and Social Simulation (vgl. Roedenbeck & Nothnagel 2008) und auch in der Fallstudie (vgl. Strobel & Roedenbeck 2006) gezeigt werden, dass im Prozess der Pfadbrechung die Kräfte des Pfades noch aktiv sind. Entsprechend dem Lock-In, welcher sich parallel zur Selbstverstärkung wahrscheinlichkeitstheoretisch aufbaut, ist die Brechung ein paralleler Prozess zur Selbstverstärkung. Brechungsaktivitäten müssten demnach entweder permanent gegen die aktiven Facetten der positiven Rückkopplung wirken oder diese abrupt anhalten, so dass eine reine Erkenntnis nicht ausreicht. Dies entspricht dem Problem der Differenz von Handlung und Wissen44; wonach hier Erkenntnis nicht ausreicht, um die dauerhafte Präsenz der Facetten der Selbstverstärkung zu unterbrechen. Die Höhe der Sponsoringaktivitäten drückt hierbei nicht nur die Stärke eines Lock-In aus, sondern sie bezeichnet ebenfalls die Intensität oder Kosten der Brechungsaktivität. Pfadbrechung ist weitaus schwieriger und langwieriger als durch die doppelte Hermeneutik bisher angenommen wurde.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es bisher nicht ‚die’ Theorie der Pfadabhängigkeit gibt, sondern es werden verschiedene und zum Teil gemeinsame Charakteristika oder Phasen genannt und Mechanismen diskutiert. Für die Übertragung der Pfadforschung auf die Analyseebene des Individuums werden daher zentrale Charakteristika, Phasen und Mechanismen aus den vorliegenden Arbeiten zusammengestellt und als Elemente in eine Definition übertragen. Anpassungen dieser Definition an die epistemologische Grundlage erfolgen später (vgl. Kapitel IV.3).
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Das Problem der Differenz von Wissen und Handeln taucht unter anderem in der lerntheoretischen Debatte auf. Einige Autoren sehen den Lernerfolg bereits in dem Potential für einen Wandel durch Reflexion (vgl. Vandenbosch & Higgins 1996, S. 103), andere Autoren dagegen sehen Erfolg erst in Verbindung mit einer nach außen erkennbaren Leistungssteigerung (vgl. Norman 1982, S. 3 nach Vandenbosch & Higgins 1996, S. 103). Das hier dargestellte Verständnis des Lock-Ins verdeutlicht, dass eine Erkenntnis alleine nicht zwangsläufig ausreicht, um die Selbstverstärkung anzuhalten.
Erster, immer wieder auftauchender Punkt war die ‚Non-Ergodizität’. Dieser Begriff war in Anlehnung an stochastische Prozesse in die Pfadforschung übernommen worden und bezeichnet hier, dass kleine Zufallsereignisse (small events45) große Auswirkungen haben können und damit multiple Ergebnismöglichkeiten vorliegen. Ein Ergebnis eines pfadabhängigen Prozesses ist nicht vorhersagbar. Diese kleinen Zufallsereignisse bezeichnen den modelltheoretischen Anfangspunkt von sich selbstverstärkenden Aspekten. Bereits in Arbeiten mit chaostheoretischem oder komplexitätstheoretischem Hintergrund wurde konstatiert, dass in deren Modellen folgendes Problem vorherrschte: „the impossibility of measuring initial conditions precisely“ (Lorenz 1963, S. 133). Da nun bei sozialen Systemen und erst recht bei Individuen von komplexen Strukturen auszugehen ist, entfällt für die Pfadforschung die Messung dieser Zufallsereignisse und des kritischen Startpunktes. Es bedarf jedoch einer Analyse der Existenz multipler Ergebnismöglichkeiten. Das Problem der Komplexitätstheorie heißt jedoch nicht im Umkehrschluss, dass generell eine Analyse von komplexen Systemen unmöglich ist nur der Anfang eines Prozesses und dessen Bedingungen sind eben unmöglich zu bestimmen. Zweiter, immer wieder auftauchender Punkt war der Mechanismus der Selbstverstärkung oder die positive Rückkopplung als Treiber des Prozesses. Dieser wirkt zunächst am Anfang des Prozesses, jedoch auch während des Lock-In und während der Brechung. Dieser Mechanismus ist deutlich von den reaktiven Sequenzen (vgl. Mahoney 2000), aber auch von rekursiven Abhängigkeiten (vgl. Giddens 1995; Luhmann 1980) zu unterscheiden. Er ist wirkungsmächtiger als eine bloße Historizität und führt dazu, dass ein einmal eingeschlagener Weg im nächsten Schritt nur noch eine kleinere Auswahlmöglichkeit zur Verfügung stellt. Der wahrgenommene Handlungsspielraum oder die beobachtete Entscheidungsvielfalt verringern sich. Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung oder der positiven Rückkopplung werden hier fachgebietsübergreifend zusammengefasst (in Anlehnung an Sydow et al. 2005a, S. 25; Schreyögg et al. 2003, S. 270; Beyer 2005, S. 18). Zu diesen Facetten zählen die ökonomisch (das Nutzenkahlkühl, Ressourcen und dabei besonders monetäre Kosten, Skalenerträge), emotional, kognitiv (also Erwartungen, Erwartungserwartungen, Lerneffekte, Wahrnehmung) und die soziale Facette (wie Macht, Legitimität, Funktionalität, Komplementarität, Koordinationseffekte, Netzwerkeffekte, Konformität). Im Rahmen empirischer Forschung sind die für einen
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Ein Aspekt der Non-Ergodizität, dass kleine Ereignisse große Wirkungen haben können (vgl. David 2000, S. 5), ist in der Chaostheorie oder Komplexitätsforschung schon lange bekannt (vgl. Turing 1950, S. 440; Lorenz 1963). Dort wird mit Bezug zu den ‚small events’ vom Möwen- oder Schmetterlingseffekt gesprochen (vgl. Lorenz 1993 u. a. mit einem Nachdruck des Vortrages von 1972).
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Prozess verdeutlichten Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung oder der positiven Rückkopplung in Prozessen mit folgender Dynamik darzustellen:
Abbildung 07 – Beispielhafte Selbstverstärkung (in Anlehnung an Monge 1995, S. 286)
Dritter, immer wieder auftauchender Punkt ist der Lock-In, welcher als Phase und nicht nur als (Brücken-)Punkt verstanden wird. Der Lock-In ist ein graduelles Phänomen, welcher die Rückkehrwahrscheinlichkeit zum Ausgangspunkt eines Gleichgewichts der Marktanteile zweier Alternativen beschreibt. Die Rückkehrwahrscheinlichkeit sinkt im Verlauf, womit die Intensität des Lock-Ins steigt. Der Lock-In als Rückkehrwahrscheinlichkeit entwickelt sich damit parallel zu dem Mechanismus der Selbstverstärkung, so dass die Selbstverstärkung auch während des Lock-Ins aktiv ist. Neben einer wahrscheinlichkeitstheoretischen Bestimmung ist es auch möglich, die Selbsteinschätzung von Entscheidenden als Indikator dafür zu wählen. Damit ist, auch in Anlehnung an die obige Diskussion zum Pangloss-Argument, nicht die Ineffizienz des Lock-Ins von Bedeutung, sondern - auf Grund der sinkenden Rückkehrwahrscheinlichkeit - dessen Stabilität. Diese Stabilität eines Zustandes ist dann von besonderem Interesse, wenn eine neue Alternative bekannt ist. Ob die Stabilität des alten Zustandes positiv oder negativ bewertet wird, ist ein systemspezifisches Urteil. Daher unterliegt ein Pfad nicht per sé einem objektiv-pathologischen Verständnis. Abschließend ist die Möglichkeit der Brechung in Anlehnung an das organisationssoziologische Modell und die Stabilität des Lock-In zu nennen. Hierbei wird auf Grund der Präsenz der Selbstverstärkung auch während des Lock-In davon ausgegangen, dass die Brechung gegen die Selbstverstärkung des alten Pfades agieren muss. Brechungsaktivitäten müssten also entweder permanent gegen die aktiven Facetten der Selbstverstärkung wirken (Ausbremsung) oder diese abrupt anhalten (Auflösung). Diese Aktivität läuft damit parallel zum Lock-In und der Selbstverstärkung. Eine Brechung kann während des gesamten Lock-In eintreten, Brechungsversuche können aber auch fehlschlagen und Unwahrscheinlichkeit der Rückkehr nicht mehr abwenden. 48
Eine, diese Punkte zusammenfassende Definition, kann wie folgt formuliert werden: Pfade sind non-ergodische Prozesse, welche am Beginn viele Ergebnismöglichkeiten aufweisen. Ihr Treiber während der Entstehung, dem Lock-In und auch noch während der Brechung, ist die Selbstverstärkung. Der Lock-In selbst läuft parallel zur Selbstverstärkung und bezeichnet die wahrgenommene oder wahrscheinliche Rückkehrmöglichkeit zum Anfang. Die Brechung läuft parallel zum Lock-In sowie zur Selbstverstärkung und bezeichnet die Einwirkung als Ausbremsung oder Auflösung vorhandener Aspekte der Selbstverstärkung.
Mit der vorliegenden Definition eines allgemeinen Pfadbegriffs kann nun die Übertragung auf die individuelle Ebene erfolgen. Würde eine empirische Analyse erfolgen, müssten die einzelnen Elemente der Definition nachgewiesen werden, um einen Pfad zu identifizieren.
III.4 Definition des ‚individuellen Pfades’ und theoretische Annahmen Die oben vorgestellte Definition eines allgemeinen Pfadbegriffs ist das Ergebnis der kritischen Würdigung bisheriger Forschung mit Pfadbezug. Die leitende Fragestellung sowie die erste Subforschungsfrage adressieren jedoch individuelle Pfade. Aus diesem Grund werden die einzelnen Elemente der Definition eines allgemeinen Pfadbegriffs wie Non-Ergodizität, Selbstverstärkung, Lock-In und Brechung nun einzeln auf die individuelle Analyseebene übertragen. Non-Ergodizität war in Analogie zu stochastischen Prozessen von David eingeführt worden. Der Begriff bezeichnet im Rahmen der Pfadforschung, dass ein Pfadprozess durch kleine Ereignisse beeinflusst wird und multiple Ergebnismöglichkeiten vorliegen. In Bezug zur individuellen Analyseebene bedeutet Non-Ergodizität im Rahmen dieser Arbeit, dass für Individuen multiple Verhaltens- und Denkweisen vorliegen können und die Herausbildung stabiler Verhaltens- und Denkweisen durch kleine Ereignisse beeinflusst werden kann. Möglichkeiten von Verhaltens- und Denkweisen entsprechen dabei subjektiv, wahrgenommenen Handlungsoptionen. Selbstverstärkung war der zentrale Mechanismus in einem Pfadprozess, welcher verschiedene Facetten aufweisen kann. Die Selbstverstärkung bleibt auf der individuellen Analyseebene unberührt. Die aufgelisteten Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung oder der positiven Rückkopplung aus der Pfadforschung sind allerdings in Verbindung mit dem Individuum zu 49
bringen. Dieser Schritt kann jedoch erst während der Entwicklung eines Prozessmodells individueller Pfade adressiert werden. Die folgenden Facetten sind dabei zu berücksichtigen: ökonomisch (das Nutzenkahlkühl, Ressourcen und dabei besonders monetäre Kosten, Skalenerträge), emotional, kognitiv (also Erwartungen, Erwartungserwartungen, Lerneffekte, Wahrnehmung) und sozial (wie Macht, Legitimität, Funktionalität, Komplementarität, Koordinationseffekte, Netzwerkeffekte, Konformität). Der Lock-In von Pfaden bezeichnet die Rückkehrwahrscheinlichkeit zum Ausgangspunkt eines Gleichgewichts der Marktanteile z.B. zweier Alternativen und damit die Stabilität des aktuellen Zustandes. Dieser Lock-In ist nun als individueller Lock-In zu verstehen. Für das Individuum ist die Definition des individuellen Lock-Ins an dessen wahrgenommenen Handlungsoptionen anzulehnen. Die ‚Rückkehrwahrscheinlichkeit zum Ausgangspunkt eines Gleichgewichts’ wird hier als ‚Rückkehrwahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfreiheit’ umformuliert. Mit einer sinkenden Rückkehrwahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfreiheit wird der Lock-In also umso stabiler. Ob diese Stabilität nun positiv oder negativ bewertet wird ist eine Perspektivenfrage. In Anlehnung an die leitende Fragestellung und damit auch in Anlehnung an das Münchhausen-Paradox wird hier die Bewertung aus der Perspektive des Individuums bevorzugt. Die Negativität eines individuellen Lock-In besteht dann, wenn Beobachter bzw. Beobachterinnen „an der Norm zu verzweifeln“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 77) drohen. ‚Norm’ entspricht im sozialen System der Reaktion der Umwelt auf das eigene Verhalten. Zur Betonung der Selbstbewertung wird also von einem intra-individuellen Lock-In gesprochen. Auf die externe Bewertung der Negativität im Sinne eines klinischen Begriffe wie die ‚Pathologie’46 wird hier verzichtet, da aus Sicht der vorliegenden Arbeit die Selbsterkenntnis mit der Selbstlösung einhergeht. Die Brechung war das letzte Element der Definition eines allgemeinen Pfadbegriffs und entsprach der permanenten Entgegenwirkung in Bezug auf die aktiven Facetten der Selbstverstärkung (Ausbremsung) oder der abrupten Unterbrechung dieser (Auflösung). Diese beiden Varianten werden in die Definition des Begriffs eines ‚individuellen Pfades’ übernommen, jedoch wird das ‚harte’ Wort der Brechung in Bezug zum Individuum mit dem ‚weichen’ Wort der ‚Destabilisierung’ individueller Pfade ersetzt. Diese Übertragung ergibt die folgende Definition:
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Pathologie im Sinne von Krankheit, Psychopathologie oder psychischen Störungen als Kapitel F der ICD 10.
Individuelle Pfade sind non-ergodische Prozesse, welche am Beginn viele Ergebnismöglichkeiten aufweisen. Ihr Treiber während der Entstehung, dem intra-individuellen Lock-In und auch noch während der Destabilisierung ist die Selbstverstärkung. Der intra-individuelle Lock-In selbst läuft parallel zur Selbstverstärkung und bezeichnet die wahrgenommene oder wahrscheinliche Rückkehrmöglichkeit zur Entscheidungsfreiheit. Die Destabilisierung läuft parallel zum intra-individuellen Lock-In sowie zur Selbstverstärkung und bezeichnet die Einwirkung als Ausbremsung oder Auflösung vorhandener Aspekte der Selbstverstärkung.
Mit dieser Definition des Begriffs eines ‚individuellen Pfades’ können nun Annahmen (A) zu der theoretischen Subfragestellung (T) aufgestellt werden. Diese leiten die weitere Analyse im Detail und sind an der theoretischen Subforschungsfrage orientiert. Die theoretische Subforschungsfrage lautete wie folgt: Wie können Non-Ergodizität, Selbstverstärkung und Lock-In als Kernelemente der Pfadforschung mit konstruktivistischen Perspektiven zu einem Modell verbunden werden, um damit einen Beitrag zur besseren Erklärung der Entstehung, Stabilität und auch der Destabilisierung von individuellen Konstrukten zu leisten, als das einfache Rekursionsprinzip in Verbindung mit der Homöostasis? Ein wesentlicher Punkt zur Formulierung dieser Frage war der Aspekt, dass ‚Rekursion’ bereits in den konstruktivistischen Perspektiven verwendet und in der Literatur zu Pfaden von ‚Selbstverstärkung’ gesprochen wird. Während bei der Rekursion die Homöostasis gilt, und damit immer nur die aktuellen, inneren Zustände berücksichtigt werden, berücksichtigt die Selbstverstärkung eine zeitliche Entwicklung der inneren Zustände. So lag in der Literatur mit konstruktivistischen Perspektiven das Problem der Erklärung von Stabilität vor, welches bei der Selbstverstärkung durch die Entwicklung eines Lock-Ins erfasst wurde. Da Rekursion in konstruktivistischen Perspektiven auf der individuellen Ebene verwendet wurde und Selbstverstärkung bisher auf der sozialen Ebene wird auf Basis der leitenden Fragestellung davon ausgegangen, dass Rekursion und Selbstverstärkung miteinander vereinbar sind (Vereinbarkeitsannahme): AT1: Die Rekursion in Verbindung mit Homöostasis aus Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive kann mit der zeitabhängigen Selbstverstärkung aus der Pfadforschung ersetzt werden, so dass die bisher 51
nicht erklärbare Entstehung einer Stabilität in konstruktivistischen Perspektiven durch ein Modell eines individuellen Pfades im Sinne des Lock-Ins erklärbar wird.
Obwohl durch die Integration der Selbstverstärkung in konstruktivistische Perspektiven nun die Stabilität von individuellen Konstruktionen als intra-individueller Lock-In erklärt werden kann, liegt dennoch gleichzeitig nach der obigen Definition des Begriffs eines ‚individuellen Pfades’ eine Destabilisierungsmöglichkeit vor. Es wird daher angenommen, dass die nun erklärbare Stabilität als intra-individueller Lock-In auch destabilisiert werden kann (Veränderungsannahme). AT2: Sich selbst verstärkende Konstruktionen können trotz eines intraindividuellen Lock-Ins durch sinkende Rückkehrwahrscheinlichkeit und damit verbundene Stabilität vom Individuum verändert werden.
Diese angenommene Veränderungsfähigkeit bedeutet jedoch nicht, dass ein Wandel ohne Aufwand (z.B. gemessen in Zeit oder Leistung) möglich ist. Die Destabilisierung des LockIns erfolgt entweder durch permanente Einwirkung auf die aktive Selbstverstärkung (Ausbremsung) oder durch deren abrupte Unterbrechung (Auflösung). Insbesondere die permanente Einwirkung auf die aktive Selbstverstärkung führt zu der Annahme, dass ein zeitabhängiger Wandel mit unterschiedlichem Aufwand vorliegen wird (Aufwandsannahme): AT3: Die Stärke der Stabilität des intra-individuellen Lock-Ins wird durch unterschiedliche Dekonstruktionsleistungen charakterisiert.
Mit diesen Annahmen (AT1-T3) über die theoretische Verbindung der Pfadforschung mit konstruktivistischen Perspektiven kann nun die Diskussion über deren Verbindung im nächsten Teil der Arbeit erfolgen.
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IV Pfade individueller Konstruktionen und deren Überwindung In dem vorherigen Abschnitt wurden der allgemeine Begriff des Pfades definiert und dessen zentrale Elemente eingeführt. Es folgte eine Übertragung des allgemeinen Begriffs auf die individuelle Analyseebene, wobei die Elemente im Rahmen dieser Übertragung an die individuelle Analyseebene angepasst wurden. Anhand dieser Definition des Begriffs eines ‚ individuellen Pfades’ konnten Annahmen über die theoretische Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven aufgestellt wurden. Diese Definition und die Annahmen leiten die nun folgende Analyse konstruktivistischer Perspektiven, um den obigen Definitionsansatz mit Inhalten zu untermauern. Für diesen Teil IV der vorliegenden Arbeit ist die Vereinbarkeitsannahme (AT1) von besonderer Bedeutung. Die Veränderungs- und Aufwandsannahme (AT2 und AT3) werden nur relevant, wenn die Vereinbarkeitsannahme Zustimmung erfährt. Diese Vereinbarkeitsannahme verknüpfte einen Begriff konstruktivistischer Perspektiven (Rekursion) mit einem Begriff der Pfadforschung (Selbstverstärkung), wobei letzterer nun in Verbindung mit der Entstehung von individuellen Konstruktionen zu bringen ist. In diesem Teil wird daher ein Modell der Konstruktionsbildung in Verbindung mit Selbstverstärkung entwickelt.
Zunächst geht es in diesem vorliegenden Teil der Arbeit darum, welche konstruktivistischen Perspektiven für die Entwicklung eines Modells individueller Pfade herangezogen werden können (IV.1). Da die konstruktivistischen Perspektiven ein anderes Wissenschaftsverständnis als der Kritische Rationalismus in Verbindung mit dem Realismus aufweisen, erfolgt als erstes die Begründung der Wahl als epistemologische Grundlage und dann eine Auseinandersetzung mit der Kritik. Gegenüber dieser Kritik wird dann eine eigene Position bezogen, welche die Wahl der epistemologischen Position unterstützt - auf Auswirkungen auf das wissenschaftliche ‚Erklärungsmodell’47 wird dabei eingegangen. Auf Grundlage dieser Position können dann Arbeiten analysiert werden, welche konstruktivistische Literatur zusammenfassen. Dabei sollen die Perspektiven extrahiert werden, welche für die Bearbeitung der theoretischen Subforschungsfrage (Perspektive auf das Individuum) herangezogen werden können. Es erfolgt anschließend eine nähere Analyse der ausgewählten, grundlegenden Ansätze konstruktivistischer Perspektiven. Hierbei geht es um die Diskussion deren wichtigster Beiträge 47
Das Modell wissenschaftlicher Erklärung entspricht hier dem bereits oben zitierten Hempel-Oppenheim Modell (vgl. Fußnote 26).
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in Bezug auf die Konstruktionsbildung von Individuen (IV.2). Deren Beiträge werden als Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) in ein Modell individueller Pfade übertragen. Für jeden Autor werden die Beiträge in zwei separaten Listen (Faktoren und Relationen) zusammengestellt. Nach dieser Detailanalyse wird ein vorläufiges Modell grafisch vorgestellt. Anhand dieses Modells kann das erste Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades veranschaulichen werden: Die Existenz multipler Konstruktionsmöglichkeiten der Welt für jeden Beobachter – und dass, obwohl die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen durch ein übergreifendes Schema beschrieben wird. Nach dieser Diskussion erfolgt eine Analyse derselben Literatur bezogen auf das zentrale Merkmal der Pfadforschung: Selbstverstärkung. Im Spezifischen bedeutet dies eine Analyse der Literatur in Bezug auf Rekursion und das implizite Zeitverständnis (IV.3). Hierbei werden die Zusammenhänge von Rekursion und Zeit der jeweiligen Perspektive diskutiert und Veränderungen für das oben erstellte, vorläufige Modell zusammengestellt. Um weitere Impulse zu erhalten, werden die Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung (oder der positiven Rückkopplung) aus der Pfadforschung in Bezug auf das Individuum diskutiert und differenziert. Als Abschluss des Kapitels werden die verschiedenen Perspektiven auf Rekursion sowie die Ergebnisse bezüglich der Aspekte der Pfadforschung in das vorläufige Modell integriert. Anhand dieser Erweiterung des vorläufigen Modells kann dann das zweite Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades veranschaulicht werden: Die Selbstverstärkung von Konstruktionen. Nach der Selbstverstärkung war der intra-individuelle Lock-In das dritte Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades. In Verbindung mit dem vierten Element der Destabilisierung wird in dem folgenden Kapitel der Prozess der Rekursion im Hinblick auf dessen Ergebnis untersucht (IV.4). Auch hier werden die konstruktivistischen Perspektiven durch einzelne Aspekte aus der Pfadforschung ergänzt und das Ergebnis abschließend als zweite Erweiterung in das vorläufige Modell integriert. Anhand dieser Erweiterung kann dann das dritte (intra-individueller Lock-In) und vierte (Destabilisierung) Element der Definition des Begriffs eines ‚individuellen Pfades’ veranschaulicht werden: Der Lock-In individueller Konstruktionen und die Möglichkeit der Destabilisierung von Konstruktionen. Die zweite Erweiterung des vorläufigen Modells wird dann abschließend dazu verwendet, die zuvor aufgestellten Annahmen über die theoretische Verbindung (AT1-T3) auf deren Erfüllung hin zu überprüfen. Es wird bereits in der Gliederung der Arbeit ersichtlich, dass die wichtigste 54
Annahme der Verbindungsmöglichkeit konstruktivistischer Perspektiven und der Pfadforschung im Rahmen der theoretischen Diskussion bestätigt werden kann. Daher werden am Ende dieses Teils der vorliegenden Arbeit für die explorative Vorstudie Annahmen über die Relevanz der berücksichtigten Faktoren und Relationen im Modell individueller Pfade zur Erklärung des intra-individuellen Lock-Ins anhand der zweiten Erweiterung des Modells aufgestellt (IV.5). Diese empirischen Annahmen bieten die Grundlage für die Diskussion des daran anschließenden, empirischen Teils dieser Arbeit. Doch zunächst zur theoretischen Diskussion.
IV.1 Konstruktivismus als epistemologische Grundlage Das erste Kapitel dieses Abschnittes zum Thema der konstruktivistischen Perspektiven befasst sich zunächst kurz mit den Gründen der Auswahl einer konstruktivistischen Perspektive als epistemologischem Hintergrund. Daran schließt eine Auseinandersetzung mit der Kritik an den konstruktivistischen Perspektiven an, da diese ein anderes Wissenschaftsverständnis aufweisen als der Kritische Rationalismus in Verbindung mit dem Realismus. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Kritik wird zunächst eine Zusammenfassung der kritischen Punkte gegeben, um dann jeden kritischen Punkt einzeln mit dessen jeweiliger Gegenpositionen aus konstruktivistischer Literatur zu diskutieren (IV.1.1). Auf Basis dieser Diskussion der Kritik und der jeweiligen Gegenpositionen wird eine eigene Position in Bezug auf die konstruktivistischen Perspektiven entwickelt, bei der zu jedem Kritikpunkt Stellung bezogen wird (IV.1.2). Mit dieser eigenen Position wird die Wahl der epistemologischen Grundlage unterstützt, da bei den zentralen Kritikpunkten der Argumentation konstruktivistischer Perspektiven gefolgt wird. Auswirkungen auf die theoretische Forschung, insbesondere auf das Modell wissenschaftlicher ‚Erklärung’, werden dabei diskutiert, wobei die Diskussion der Auswirkungen auf die empirische Forschung auf den empirischen Teil dieser Arbeit verschoben wird. Auf der Grundlage dieser eigenen Position können dann einige Arbeiten analysiert werden, welche konstruktivistische Literatur zusammenfassen. Damit kann eine Auswahl an wesentlicher Literatur für die folgende Diskussion zusammengestellt werden (IV.1.3). In einem ersten Schritt werden Arbeiten, die mindestens in zwei der Zusammenstellungen ein ähnliche Bezeichnung erhielten, zunächst in übergeordnete Gruppen sortiert. Dabei entstehen zwei Gruppen, wovon nur eine inhaltlich für die theoretische Subforschungsfrage (Perspektive auf das Individuum) relevant ist. In einem zweiten Schritt werden die Arbeiten, welche nur in einer 55
der Zusammenstellungen erwähnt wurden, auf deren inhaltlichen Beitrag zur theoretischen Subforschungsfrage kritisch überprüft und eventuell hinzugezogen. Als letzter Schritt erfolgen Ergänzungen zu dieser Auswahl auf Basis zitierter Arbeiten der selektierten Autoren. Das Ergebnis ist eine Zusammenstellung von Autoren mit konstruktivistischem Hintergrund, welche einen Beitrag zur Analyse individueller Konstruktion geleistet haben. Deren Arbeiten werden dann im folgenden Kapitel Hinblick auf deren Beiträge als Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) für das Modell eines individuellen Pfades analysiert.
IV.1.1
Auswahl von und Kritik an konstruktivistischer Epistemologie
Die Verwendung einer konstruktivistischen Perspektive in der Sozialwissenschaft oder spezieller in der Organisations- und Managementforschung ist bei weitem nicht neu (vgl. Fußnote 16). Die Auswahl einer konstruktivistischen Epistemologie für diese Arbeit erfolgte vor allem aus zwei zentralen Gründen: Erstens schließt die konstruktivistische Epistemologie an die hier verwendete Allgemeine Modelltheorie an, nach der „Erkenntnis in Modellen oder durch Modelle“ (Stachowiak 1973, S. 56) generiert wird und eine ‚Letztbegründung’ daher unmöglich ist (vgl. Stachowiak 1973, S. 33, 45f., 55). Erkenntnis wird hier also auf Basis konstruierter Modelle generiert und entspricht diesen Modellen, so dass Wissen nach der Allgemeinen Modelltheorie immer ‚nur’ Modellen entspricht. Zweitens wird auf Basis konstruktivistischer Perspektiven ein Modell individueller Pfade entwickelt, welches für alle Individuen und somit auf für Forscher gilt. Vor diesem Hintergrund wird es für die vorliegende Arbeit als wichtig erachtet, theoretische Forschung auf Basis konstruktivistischer Kriterien durchzuführen. Ebenso ist es wichtig, empirische Forschung auf Basis konstruktivistischer Kriterien und Durchführungshinweisen zu vollziehen und die theoretischen und empirischen Ergebnisse vor diesem Hintergrund zu bewerten. Beide zentralen Gründe unterstützen somit die Wahl einer konstruktivistischen Epistemologie. Mit einer anderen Modelltheorie, oder kognitivistischen statt konstruktivistischen Ansätzen, wäre natürlich auch eine andere Wahl sinnvoll.
Die Wahl einer konstruktivistischen Epistemologie wird gerade in der Sozialwissenschaft oder spezieller in der Organisations- und Managementforschung mitunter deutlich für das abweichende Verständnis von Wissenschaft gegenüber dem Kritischen Rationalismus kritisiert.
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Harte Kritik an konstruktivistischen Denkweisen wird besonders durch Naturwissenschaftler angeführt. Konstruktionen, welche Handlungsfreiheit ermöglichen und Verantwortung für das eigene Handeln fordern, widersprechen der Schicksalsgläubigkeit an die Phylogenese (Evolution bzgl. der Gene) und der Macht der Naturgesetze. Diese ‚Herausforderung’ tradierter Denkweisen erinnert an den Diskurs der Aufklärung gegenüber der Dogmatik der Kirche im Mittelalter (so auch Watzlawick 1992b, S. 89). Neben dem argumentativen Schlagabtausch wird in einigen Arbeiten der Kritiker ein ‚Wahrheitsrecht’ beansprucht. In wiederum anderen Arbeiten der Kritiker werden ‚Verdammnisse’ der wissenschaftlichen Gegner ausgesprochen: „organisms that do not ‘believe’ in a mind-independent reality will be eradicated by natural selection“ (Wuketits 1992 zitiert nach Riegler 2005, S. 57). Andere bezeichnen ‚den’ Konstruktivismus als solipsistische Schule, welche selbst wiederum sinnlos ist: „To believe plain nonsense is a privilege of the human being“ (Riedl 1979, S. 34, zitiert nach Riegler 2005, S. 57). Auch wird konstruktivistischen Denkweisen Unlogik vorgeworfen und deren Grundlagen als „Laienepistemologie“ (Unger 2003, S. 41) bezeichnet, die von „Pseudointellektuellen“ (Unger 2003, S. 44) vertreten wird. Die häufig anzutreffende Polemik der Kritik ist wenig zielführend, verweist aber auf die Emotionalität der Debatte zum Teil durch Ignoranz, Unwissenheit oder Angst vor den weitreichenden Konsequenzen z.B. einer Nicht-Existenz von Wissen. In weniger unsachlichen Debatten wird argumentiert, dass Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive „sozialwissenschaftliche Aussagen ignorieren oder gar verfälschen“ (Unger 2003, S. 4). Im Kern wird ihre Denkweise als „konsequenter Kritischer Rationalismus“ (Unger 2003, S. 43) interpretiert. Die zentralen sachlichen Argumente der Kritiker konstruktivistischer Perspektiven wurden in einem erst kürzlich erschienenen Werk von Unger (2003) zusammengefasst. Aus diesem Grund wird mit seinen zentralen Argumenten gearbeitet und es werden nicht aus der Literatur die einzelnen Argumente erneut zusammengestellt. Die folgenden sechs zentralen Punkte an konstruktivistischen Perspektiven werden von Unger angeführt.
1. Wahrheitsexistenz: Im Sinne konstruktivistischer Perspektiven gibt es weder Wahrheit noch Wirklichkeit, so dass alles nur als willkürliche Konstruktion zu verstehen ist. Eines der wesentlichsten Argumente der Kritik ist, dass im Sinne konstruktivistischer Perspektiven keine ‚Wirklichkeit’ existiert (vgl. z.B. Unger 2003, S. 54f.; und auch Nüse et al. 1991). Hierin besteht auch die Konkurrenz zwischen evolutorischen und konstruktivistischen 57
Perspektiven auf Kognition. Eine sehr ‚extreme’ Position der Nichtexistenz von ‚Wirklichkeit’ ist der Solipsismus48. Nach diesem existiert alles nur in dem Kopf eines Beobachters (vgl. z.B. die Abbildung bei von Foerster 1981, S. 59; von Foerster & Pörksen 2001, S. 25; von Foerster 1995a, S. 65). Unterstützt wird das Argument der Nichtexistenz von Wirklichkeit durch Selbst-Aussagen in konstruktivistischen Arbeiten, wenn der eigene Standpunkt gegenüber einem naiven Realismus dichotomisiert wird (vgl. Elmer 1998, sein Kapitel 3.4.3). Argumentationen von Konstruktivisten, dass der Realitätsbegriff oder ‚Wirklichkeit’ nur anders verstanden werden muss (vgl. Ros 1994, S. 185), sind für die Kritiker nicht überzeugend. Die Kritiker formulieren somit gegen diese Perspektive, dass folgender Sachverhalt vorliegt: „evidence that continuously convinces us of the factual existence of a mind-independent reality based on our commonsense reasoning” (Riegler 2005, S. 57 in Anlehnung an Vollmer 1987). So wird die „Existenz einer einzigen und wahren Realität“ (Unger 2003, S. 96 auch S. 4, 32, 86, 92, 108, 110 u.a.) beteuert. Hieraus folgt, dass „durch immer ,realitätsgerechtere’ Decodierung die Wahrnehmung von Systemen oder Personen sich der Realität anpasst“ (Unger 2003, S. 97). Obwohl Kritiker auch folgendes einräumen: „[i]n keiner heute zu akzeptierenden Wissenschaftsauffassung wird angenommen, dass es eine ausschließlich menschenunabhängige Wirklichkeit gibt“ (Unger 2003, S. 8). Dass keine ‚Wirklichkeit’ existiert, wenn also ‚der’ Konstruktivismus mit dem Solipsismus gleichgesetzt wird, ist allerdings in den wesentlichen Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive gar nicht behauptet worden (vgl. z.B. von Glasersfeld 1995b, S. 113). Der Solipsismus hat nämlich das Problem, dass, wenn zwei Solipsisten aufeinander treffen, diese nicht über ihre Begegnung und damit sich selbst sprechen können (vgl. von Foerster 1995a, S. 28). Daher distanzieren sich konstruktivistische Arbeiten vom Solipsismus. Dennoch wird damit kein ‚Wirklichkeitsbegriff’ in die epistemologische Position integriert. Beginnend mit der Klärung des metaphysischen Bezugspunktes dieser Frage werden Aussagen in unbeantwortbare49 (metaphysische) und beantwortbare (nicht-metaphysische) Aussagen unterteilt (vgl. von Foerster 1993a, S. 70). Die Frage nach ‚Wirklichkeit’ oder ‚Realität’ ist nun auf Basis dieser Unterscheidung aus einer konstruktivistischen Perspektive im Prinzip eine metaphysi48
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Solipsismus entstammt dem lateinischen „soli ipsere – allein und vollständig einsam“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 26, im Original zum Teil abweichend formatiert; auch von Foerster 1995a, S. 28). Interessanterweise argumentiert von Foerster (1993, S. 73) dafür, dass wir dann aber final nur über metaphysische Fragen Entscheidungen treffen können, da beantwortbare Fragen bereits durch deren Bezugsrahmen vordefiniert sind. So z.B. durch Logik oder Mathematik, nicht aber durch ‚Realität’ wie es manchmal gefordert wird (vgl. Unger 2003, S. 83).
sche Frage (vgl. dazu von Foerster 1993a, S. 69 ff.)50. Ob ‚Wirklichkeit’ oder ‚Realität’ existiert, kann damit nicht beantwortet werden. Daher bezeichnen konstruktivistische Autoren den Realismus mit seinen Ausprägungen51 - der wiederum die Basis für den Kritischen Rationalismus darstellt (vgl. Albert 1968) - als ‚metaphysischen Realismus / Rationalismus’ (anlehnend an von Glasersfeld 1981, S. 18; Riegler 2005, S. 48). Grundposition konstruktivistischer Perspektiven ist, dass Menschen ‚Realität’ nicht erkennen können und daher eine Aussage darüber nicht sinnvoll erscheint (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 9, 12)52. Diese ‚Unfähigkeit’ zu einer Aussage über die Welt besteht, da ein Zugang zu dieser nur sensomotorisch erfolgt, was wiederum selbst ein Konstrukt des sensomotorischen Zugangs ist (vgl. Riegler 2005, S. 51; Roth 2000, S. 231; von Glasersfeld 1995b; von Foerster 1994)53. Daher wird die Einführung der Sensorik nach Locke, Berkeley und Hume nicht als Argument für ‚Wahrheitsfindung’ verwendet, sondern als Unterstützung der eher skeptischen Perspektive angesehen (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 20; von Glasersfeld 1995a, S. 2). Die fünf Sinne werden aus konstruktivistischer Perspektive damit als durch unsere Wahrnehmungsfilter (die fünf Sinne) bereits erkannte Wahrnehmungsfilter angesehen - der Zugang zur Welt ist also von einem ‚blinden Fleck’ geprägt. Auch der ‚Beweis’ externer Realität durch extreme Beispiele, wie z.B. aus dem Fenster zu springen54 oder vor eine Tür zu laufen, kann aus einer konstruktivistischen Perspektive nicht als Beweis angenommen werden. Aus konstruktivistischen Perspektiven hängen die Körperlichkeit des menschlichen Körpers und die der Tür voneinander ab: „the ‘reality’ of a door and the experience of bumping into it are mental constructs that are mutually dependent“ 50
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Gleichlautende Standpunkte wären z.B. von Foerster & Pörksen 2001, S. 25; von Glasersfeld 1981, S. 18, 24; von Glasersfeld 1995b, S. 113; von Glasersfeld 1996a, S. 2. In der Literatur wird auf die Existenz mehrerer Formen des Realismus hingewiesen: naiv, kritisch, streng kritisch und hypothetisch (vgl. Vollmer 1987, S. 35 nach Unger 2003, S. 20). Die naive Fassung des Realismus beinhaltet, dass es eine reale Welt gibt, die so ist, wie wir sie wahrnehmen. Der kritische Realismus beinhaltet, dass es eine reale Welt gibt, welche nicht in allen Aspekten so ist, wie sie uns erscheint. Die streng kritische Fassung des Realismus beinhaltet, dass es eine reale Welt gibt, aber nichts was uns erscheint entspricht dieser. Als letzte Form verbleibt der hypothetische Realismus, nach dem eine reale Welt existiert, deren Strukturen aber nur teilweise erkennbar und prüfbar sind. Der Unterschied aller Varianten des Realismus gegenüber dem Konstruktivismus ist die grundsätzliche Zustimmung zu der Frage nach der Existenz von ‚Realität’ (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 21; so auch Campbell 1974 zitiert aus Riegler 2005, S. 57), welche konstruktivistisch als metaphysische Frage angesehen wird. Würde der streng kritische Realismus auf diesen Aspekt verzichten, läge eine Übereinstimmung in diesem Punkt vor. Weitere Argumente ähnlicher Art finden sich z.B. bei von Foerster 1995a, S. 37; Watzlawick 1992b, S. 91; Richards & von Glasersfeld 1988, S. 194 f.; von Foerster 1985b; von Foerster 1981, S. 40. Dieses Argument wird jedoch manches Mal als zu wenig stichhaltig gegen den Realismus gesehen, der selbst den Ursprung von Wahrheit durch Sinneserfahrung, „diesen überholten Positivismus“ (Unger 2003, S. 27; auch S. 47, 53, 57), attackiert. Oft wird der Tod unter den finalen „Grenzen des Konstruktivismus“ (Unger 2003, S. 47) angeführt.
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(Riegler 2005, S. 58). Ebenso ist auch der Tod definiert durch seinen Unterschied zum Leben – im Sinne der Lebe- und Sterbewesen (vgl. Portele 1989, S. 41). Ein Bruch mit den Lebensregeln (aus dem 12. Stock springen) führt offensichtlich zum Tod oder Verlassen des definierten Spieles (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 24), dies belegt für konstruktivistische Perspektiven aber nichts Existenzielles. Denn mit dem Tod kann nichts über die Welt gesagt werden, in der das eigentliche Spiel hinter dem Leben stattfindet (vgl. zur Transzendenz auch Bateson 1996, S. 597). Bezüglich des Arguments der evolutorischen Anpassung an Wirklichkeit55 wird gesagt, dass dies nur ein Versuch ist, die eigenen Erlebnisse über die Ähnlichkeit zu korrelieren (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 22). Daraus ist aber kein Naturgesetz ableitbar. Konstruktivistische Perspektiven können also als Zwischenposition neben dem Solipsismus und dem Realismus angesehen werden (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 21; ‚ich bin kein Anti-Realist’ so bei von Foerster & Pörksen 2001, S. 50). Es kann hierbei auch von einem anderen Verständnis von ‚Erkennen’, ‚Wissen’ oder ‚Erklären’ gesprochen werden56. Dennoch bleibt die folgende Aussage bestehen: „to assume a mind-independent reality in order to account for cognition – based on the claim that purported real things resist our actions and thoughts – is rejected“ (Riegler 2005, S. 59).
2. Stabilität: Im Sinne konstruktivistischer Perspektiven kann keine Annährung an Wissen erfolgen und damit wäre Wissenschaft Unsinn. Die Frage nach der Existenz von Wahrheit wird in der Frage nach Stabilität weitergeführt. Denn in der evolutorischen Perspektive wird für alle Individuen die überprüfbare Stabilität der Welt als Indikator für ‚Wahrheit’ angeführt (in Anlehnung an von Glasersfeld 1990; auch Unger 2003, S. 62). 55
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Die Diskussion der einzig-möglichen Anpassung an eine Nische (hier Wirklichkeit), welche aus Darwin’s Theorie zu erlesen ist (vgl. Darwin 1859), wurde auch schon unter dessen Kollegen attackiert und durch die Möglichkeit der Homologie- / Analogiebildung (als Beispiel der Fledermausflügel vs. dem Vogelflügel) ersetzt (vgl. dazu Owen 1843; Owen 1848 und heute Sattler 1984). Zu der Kritik gehört auch die unkonkretisierte Verwendung des Nischenbegriffs. Konstruktivismus als Epistemologie wurde von einigen Konstruktivisten selbst als ‚Post-Epistemologie’ beschrieben (vgl. Noddings 1990; von Glasersfeld 1990). Die Abgrenzung zur Epistemologie lag darin begründet, einen theoretischen Ansatz vorzustellen, welcher sein eigenes Zustandekommen beschreibt und dabei nicht mehr von Erkenntnis, Wissen und Wahrheit ausgeht (vgl. von Glasersfeld 1990). Dies fordert jedoch die Frage nach dem Begriff hinter der ‚Post-Epistemologie’ heraus. ‚Post-Epistemologie’ verweist nämlich nur auf etwas Nachgeordnetes, bezeichnet es aber nicht. Ein anderer möglicher Standpunkt wäre Konstruktivismus selbst als Epistemologie oder Erkenntnistheorie zu bezeichnen, welche von Erkenntnis, Wissen und Wahrheit ein eigenes Verständnis hat (vgl. dazu Haase 2008). Dies ist ähnlich der Verwendung des Solipsismus im Rahmen der Erkenntnistheorie zu sehen. Um nicht in eine wissenschaftstheoretische, obgleich nicht irrelevante Diskussion zu driften, wird im Folgenden der herkömmliche Begriff von ‚Epistemologie’ für Konstruktivismus verwendet.
Eine Formulierung der Stabilität in einer zeitlichen Perspektive kann zur oben bereits aufgegriffenen ‚Annäherung’ an Wahres oder die Welt führen. Dies wäre dann eines der Kernelemente des Kritischen Rationalismus und Realismus. Pointiert gilt dort, dass ‚Realität’ über das Erkennen von Irrtümern erschlossen wird (vgl. Unger 2003, S. 4). Dies entspricht dem Kernprinzip der Falsifikation. Von den Kritikern wird akzeptiert, dass Sicherheit über die ‚Realität’ und Erkenntnisse nach Karl Popper und Hans Albert nicht erreicht werden kann (vgl. Unger 2003, S. 10, 33). Dennoch kann aber von einer Annäherung an ‚Wahrheit’ gesprochen werden (vgl. Unger 2003, S. 45), wobei die Annäherung an Wahrheit durch ‚Objektivität’ gewährleistet wird. ‚Objektiv’ ist dabei, was intersubjektiv nachvollziehbar ist (vgl. Unger 2003, S. 8 in Anlehnung an Popper 1982, S. 18). Intersubjektiv nachvollziehbar wird etwas dadurch, dass es mit einer zu kritisierenden Methode erzeugt wurde (vgl. Popper 1987, S. 82, 88). Diese Intersubjektivität als Kriterium für eine Annäherung an das Wahre gilt als das Fundament des Kritischen Rationalismus und Kritiker sehen in der Abkehr von eben diesem Prinzip die Gefahr, dass „Willkür und Lüge Tür und Tor“ (Unger 2003, S. 8) geöffnet würden. In der Literatur mit konstruktivistischen Perspektiven wird deutlich, dass Gegenargumentationen eher auf den naiven als auf den kritischen Realismus gerichtet sind. So wird dort zum Beispiel verworfen, dass unser Wissen ein ‚Spiegelbild’ der Natur ist (vgl. Varela 1993, S. 93) oder Wissen ‚wahrheitsgetreu’ abgebildet wird (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 28). Es wird betont, dass die Suche nach ‚Wahrheit’ nur Krieg bedeuten würde (vgl. von Foerster & Pörksen 2001. S. 32). Wird, wie im kritischen Realismus, von einer Annährung an ‚Realität’ ausgegangen, dann sind diese angeführten Gegenargumente jedoch nicht treffend. Sie adressieren nur die ‚Übereinstimmung’. Anders dagegen die Aussage, dass unsere Art und Weise des Erlebens das Ergebnis bestimmen (vgl. von Glasersfeld 1997, S. 10). Falsifikation wird daher in konstruktivistischen Perspektiven nicht als Weg zu Annäherung an ‚Wahrheit’ gesehen. Bei Popper ist aber die folgende Voraussetzung zu finden: „es sei da ein natürliches, selbstverständliches Verhältnis der Entsprechung zwischen Phänomenen der Erlebenswelt und der postulierten Welt“ (von Glasersfeld 1995a, S. 7). Ist Objektivität also im Sinne der Wahrheitsfindung oder Nährung gemeint, so ist der Begriff ‚Objektivität’ in konstruktivistischen Perspektiven hinfällig (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 8). Im Sinne des konstruktivistischen ‚fit’ ergibt die Falsifikation nämlich nur die ‚Viabilität’ (als funktionale Möglichkeit) von Konstruktionen (also z.B. auch Hypothesen als Wenn-Dann Beziehung), nicht aber deren Annährung an Wahrheit (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 20; ähnlich von Foerster & Pörksen 2001, S. 32). Mehrfache Erfolge in der 61
Anwendung einer Konstruktion oder die erfolgreiche Verwendung gänzlich davon verschiedener Konstruktionen verweisen nur auf Möglichkeiten. Auch ‚Intersubjektivität’ ist aus konstruktivistischer Perspektive ein schwieriger Begriff, denn dahinter steht die Annahme, dass zwei Beobachtungen als ‚gleich’ angesehen werden können. Allerdings gilt unter den konstruktivistischen Perspektiven: „No experience is ever the same as another in the absolute sense“ (von Glasersfeld 1990, S. 24; und auch von Foerster & Pörksen 2001, S. 19). Von Seiten einiger konstruktivistischer Perspektiven wurde daher vorgeschlagen ‚Objektivität’ im Sinne der ‚Intersubjektivität’ (ohne Gleichheit) als Begrifflichkeit zu übernehmen (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 119). Gerade auf Basis der Nicht-Gleichheit von Beobachtungen bestünde die Chance, Konstruktionen durch einen Kommunikationsprozess zu vergleichen. Bleiben Kritische Rationalisten bei ihrer Forderung, dass „Erkenntnis immer nur ein System mehr oder weniger gut bewährter Hypothesen“ (Unger 2003, S. 91, 126) ist - aus denen Theorien erstellt werden können -, ohne eine Annäherung an nicht determinierbare ‚Wahrheit’ zu verfolgen, so wären der Kritische Rationalismus und konstruktivistische Perspektiven nach Ansicht dieser Arbeit vereinbar.
3. Werturteilsfreiheit: In konstruktivistischen Perspektiven gibt es keine Objektivität und damit ist jedes Urteil bewertend. Wissenschaft kann daher nicht ohne Urteil geführt werden. Der dritte Aspekt umfasst die Beschreibung der ‚Objektivität’ nicht als intersubjektive Nachvollziehbarkeit und damit Stabilität, sondern als Werturteilsfreiheit (also Unbeeinflussbarkeit von subjektiven Werturteilen). Der Vorwurf der unsachgemäßen Behandlung des Begriffes der ‚Objektivität’ (vgl. Unger 2003, S. 8) beruht aus der Perspektive dieser Arbeit auf dem Verständnis der ‚Objektivität’ als intersubjektive Nachvollziehbarkeit. Diese wurde bereits in dem vorherigen Abschnitt diskutiert . Die nun folgende Diskussion zur Werturteilsfreiheit ist insbesondere vor dem Hintergrund der Kritik von Interesse, dass konstruktivistische Perspektiven „keine Argumente gegen den Kritischen Realismus“ (Unger 2003, S. 41) liefern. Der kritische Rationalismus in Verbindung mit dem kritischen Realismus versucht durch die kritische Methode einem Werturteil in der Wissenschaft zu entgehen (vgl. Unger 2003, S. 28). So kann „wahr und falsch ohne Wertung ermittelt werden“ (Unger 2003, S. 87). Andererseits gibt es aber keine Wahrnehmung, welche deutungsfrei ist (vgl. Unger 2003, S. 51). Deshalb wird auch von Kritikern der Schluss gezogen, dass Wissenschaft eine ‚soziale Veranstaltung’ ist und hierbei den Schwächen der teilnehmenden Menschen unterliegt: Eitelkeit, Rechthabe62
rei, Karrierestreben, Egoismus, vom Streben nach Sicherheit und Widerspruchsfreiheit (vgl. Unger 2003, S. 105). Diese deutungsabhängige Wahrnehmung erfolgt jedoch nur in der Auswahl von Forschungsfragen (vgl. Unger 2003, S. 131), nicht aber bei der Ergebnisbildung. Aus der Perspektive konstruktivistischer Literatur wird jedoch nicht nur jede Frage sondern auch jede Antwort von einem Beobachter formuliert. Der Beobachter57 ist einer der Zentralbegriffe konstruktivistischer Literatur und wird nach Maturana (1980, S. 8) als eine allgemeine Bezeichnung für Menschen oder lebende Systeme verstanden. Jeder Beobachter hat spezifische Eigenschaften, die in die Formulierung von Fragen und Antworten eingehen - jedoch verlangt die Objektivität genau das Gegensätzliche: „the properties of the observer shall not enter the description of his observations“ (von Foerster 1995b). Aus konstruktivistischen Perspektiven ist dies jedoch nicht möglich, da Beobachter mit ihren Eigenschaften Verbunden sind; Auch kritische Rationalisten sehen dies als „eine unerfüllbare Forderung, fast eine unfaire, dialektische Argumentation“ (Unger 2003, S. 61). Heinz von Foerster machte genau mit den Eigenschaften des Beobachters auf das Problem des subjektiven Werturteils aufmerksam, welches eben nicht nur bei der Forschungsfrage, sondern auch bei der Methodenwahl oder der Ergebnisauswertung zum Tragen kommt. In einer Ausführung zu den Eigenschaften des Beobachters stellt er dar, warum es ohne subjektive Werturteile nach ihm keine Aussagen geben kann: „wie wäre es möglich, überhaupt eine Beschreibung anzufertigen, wenn der Beobachter nicht die Eigenschaften besäße, die die Anfertigung einer Beschreibung erfordern?“ (von Foerster 1993b, S. 88).
4. Kausalketten: Konstruktivistische Perspektiven verwenden keine Logik der Kausalität, sondern die Paradoxie der Rekursion, mit der Erkenntnis verhindert wird. Der vierte Aspekt ist die Kausalität, welche im Kritischen Rationalismus und auch in der Evolutionstheorie angenommen und von konstruktivistischen Perspektiven in Frage gestellt wird (Unger 2003, S. 87).
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Der Beobachter steht unabhängig von spezifischen Definitionen für die Subjektivität. Von Bedeutung sind dabei die Eigenschaften des Beobachters, welche sowohl Grundlage als auch Gegenstand der Forschung sind. Haupteigenschaft des Beobachters ist die Bildung von rückbezüglichen Unterscheidungen (vgl. Spencer-Brown 1969; Varela et al. 1974). Durch diese rückbezügliche Unterscheidung wird ein Paradox als Ausgangspunkt der Konstruktion eingeführt und die Forderung der konstruktivistischen Epistemologie aufgegriffen, dass eine Theorie ihr Zustandekommen beschreiben kann (vgl. Noddings 1990 in Verbindung mit von Foerster 1994).
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Kausalität im Kritischen Rationalismus wird nach dem Hempel-Oppenheim Modell der Erklärung verstanden, bei dem Randbedingungen durch ein Gesetz eine Beobachtung erklären (vgl. Hempel & Oppenheim 1948). Die Beziehung zwischen dem Input der Randbedingungen und dem Output der Beobachtung wird hier durch ein kausales Gesetz hergestellt. In konstruktivistischen Perspektiven wird Kausalität aber nur als ein mögliches (oder auch willkürliches) Erklärungsmodell angesehen. Wie dies Hume bereits formulierte, spiegelt Kausalität nur die „Assoziation des Erlebenden“ (von Glasersfeld 1995a, S. 2) wieder. Kausalketten entsprechen also einer möglichen Assoziation, um den Input und Output in Systemen – zum Teil über (hypothetische) Entitäten in der Umwelt – in Verbindung zu bringen (vgl. Riegler 2005, S. 62; ähnlich auch von Glasersfeld 1990). Eine andere Assoziation ist nach konstruktivistischen Perspektiven eben die Rekursivität. Wie bereits in der Diskussion über die Werturteilsfreiheit, bei der Beobachtungen des Beobachters von seinen eigenen Beobachtungseigenschaften abhängen, bestehen aus konstruktivistischer Perspektive rekursive Verbindungen zwischen dem Beobachteten und den Randbedingungen oder dem Gesetz. Somit ist es aus konstruktivistischen Perspektiven auch nicht hilfreich die ‚Wahrheit’ von Gesetzen in der empirischen Welt zu analysieren, da Gesetze nur Setzungen (oder Voraus-Setzung für folgende Setzungen) entsprechen (vgl. Schmidt 2003). Diesen Zusammenhang stellt das Thomas’sche Theorem über die selbsterfüllende Prophezeiung (vgl. Merton 1975) zusammen. Konstruktivistische Perspektiven berücksichtigen genau diesen rekursiven Zusammenhang im Rahmen der Forschung und sind auf diesem Hintergrund auch wesentlich vorsichtiger, was die Aufstellung von Prognosen auf Basis von Gesetzen als Kausalketten betrifft (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 31).
5. Tautologie: Konstruktivistische Perspektiven sind eine in sich geschlossene Tautologie, der kein Argument entgegnet werden kann und aus diesem Grund nicht haltbar ist als epistemologische Position. Als fünftes Argument ist der Zirkelschluss oder Tautologievorwurf genannt worden. Dieser knüpft an die Rekursivität des vorherigen Abschnittes an, adressiert jedoch die logische und nicht die empirische Ebene. Durch den Zirkelschluss stehen nach Ansicht der Kritiker konstruktivistische Perspektiven einem Dogmatismus nahe (vgl. Unger 2003, S. 10): Wenn Wissen im Sinne konstruktivistischer Perspektiven durch Beobachter nur konstruiert ist (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 19), dann können konstruktivistische Perspektiven auch nur ein Konstrukt sein, das nicht der Wahrheit 64
entspricht. Aussagen aus konstruktivistischen Perspektiven wären damit ‚willkürlicher Art’. Als besonders problematisches Beispiel für den Tautologievorwurf gilt der sich selbst widerlegende Satz ‚Ich als Beobachter kann nichts über die Welt sagen, weil ich ein autopoietisches System bin’ (in Anlehnung an Elmer 1998 und Nüse et al. 1991): Autopoiesis ist ein Begriff konstruktivistischer Perspektiven und damit selbst eine Konstruktion, welcher auf Basis der Annahme einer Konstruktivität entstanden ist. Der Beobachter kann aber nicht für die Begründung eines konstruktivistischen Standpunktes ein Konstrukt heranziehen, welches auf Basis von Konstruktivität entwickelt wurde und dann damit seinen Schluss der Konstruktivität als ‚wahr’ zu belegen. Vor diesem Hintergrund wird konstruktivistischen Perspektiven vorgeworfen, unpassable Erkenntnisse zu verwerfen, während passable angenommen werden: „Ideologie […] ein Denken im Zirkel, das Kritik ablehnt, die nicht dem eigenen Denken entspringt, genau weil es dem eigenen Denken nicht entspricht“ (Unger 2003, S. 52). Diese Zirkularität von konstruktivistischen Perspektiven wird auch als Paradoxon bezeichnet. Da die konstruktivistischen Perspektiven zirkuläres Denken fordern und die Klarheit der zweiwertigen Logik der Wissenschaftstheorie verwerfen, bezeichnen Kritiker Rekursion und Paradoxien als ‚närrisches Denken’ (vgl. Bardmann 1994, S. 245, 249). Grundsätzlich ist der Zirkelschluss konstruierter konstruktivistischer Perspektiven zulässig. Im Rahmen einer konstruktivistischen Perspektive stellt dieser Zusammenhang aber kein Problem dar, denn es wird sogar gefordert, dass jede Theorie auch ihre eigene Entstehung erklären sollte (vgl. von Foerster 1993a). Die Tautologie oder der Zirkelschluss ist nach von Foerster (1994) sogar eine Notwendigkeit für eine Epistemologie, welche sie sich nicht nur erlauben, sondern sogar erklären muss. Demnach können konstruktivistische Perspektiven nur als Konstrukt verstanden werden und sind insofern eine „theory of knowing rather than a ‚theory of knowledge’“ (von Glasersfeld 1990, S. 19). Die Rekursion einer Theorie auf sich selbst ist dabei kein Problem, wie einleitend zum Münchhausen-Paradoxon dargestellt (vgl. II.4), sondern wird als ein essentieller Bestandteil angesehen. Vor dem Hintergrund, dass der Zirkelschluss nicht als Kritik sondern als Anforderung verstanden wird , ist es dennoch der Anspruch konstruktivistischer Perspektiven, die Handlungsfähigkeit von Wissenschaft und Praxis zu belegen.
6. Naturwissenschaftliche Grundlagen: Basis konstruktivistischer Perspektiven sind naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die jedoch als ‚Er-
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kenntnis’ und Grundlage konstruktivistischer Perspektiven gar nicht existieren können. Abschließend wird das eigentlich größte Problem der konstruktivistischen Perspektiven als sechster Kritikpunkt angesprochen. Dies hängt mit dem Tautologievorwurf eng zusammen und bezieht sich dabei aber auf einen spezifischen Aspekt: Konstruktivistische Perspektiven sind oft unkritisch Verbunden mit naturwissenschaftlicher Forschung. Konstruktivistische Perspektiven sind weder eine reine Erkenntnistheorie noch eine reine Erfahrungswissenschaft, sondern haben „Wurzeln in der Biologie oder Neurologie“ (Haase 2007, S. 47; vgl. z.B. die Bezüge bei von Foerster 1995a, S. 27) und äußern sich zum Begriff ‚Erkenntnis’. Die erkenntnistheoretischen Grundlagen konstruktivistischer Perspektiven werden unter anderem mit der sensomotorischen Konstruktion und der undifferenzierten Kodierung aus der Erfahrungswissenschaft begründet. Gerade weil nur eine subjektive und undifferenzierte Wahrnehmung über Sensoren in Verbindung mit Motorik erfolgt und der Sinn durch den Beobachter erst geschaffen wird, begründen konstruktivistische Perspektiven damit ihre erkenntnistheoretische Position der Konstruktivität. Dies ist erstens problematisch, weil keine Trennung zwischen Erfahrungswissenschaft und Erkenntnistheorie vorliegt (vgl. dazu Haase 2007). Zweitens ist dies problematisch, weil die verwendeten Ergebnisse verschiedener Erfahrungswissenschaften selbst wiederum auf Basis von realistischen oder positivistischen Positionen entstanden sind. Die Begriffe von Sensorik und Motorik aus der Biologie könnten demnach eigentlich nicht in Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive verwendet werden. Studien über das Funktionieren der Rezeptoren und andere Fragen wären nach einigen Kritikern unmöglich (vgl. bei Unger 2003, S. 40). Aussagen über den Wahrnehmungsapparat an sich, als Grundlage der Wahrnehmung einer Erfahrungswirklichkeit, können damit nicht getroffen werden. Im Mittelpunkt der Forschung mit konstruktivistischen Perspektiven dürfte also nicht die Struktur der ‚realen Welt’ ermittelt werden, sondern lediglich die Struktur der Erfahrungswirklichkeit (vgl. Richards & von Glasersfeld 1988, S. 196; so auch bei Unger 2003, S. 40) analysiert werden. Themen wären daher nur, wie Konstruktionen erschaffen werden oder worauf Beobachter reagieren. Da die Begriffe und somit empirische Ergebnisse der Biologie aber häufig Verwendung finden, werden konstruktivistische Perspektiven schnell von Kritikern als eine realistische Erkenntnistheorie eingestuft (vgl. bei Lohmann 1994, S. 206; so auch Bender 1994, S. 273 ff.). Es ist von erheblicher Bedeutung für konstruktivistische Perspektiven, wie mit diesem Vorwurf umgegangen werden kann. Einerseits in Bezug zum Vorwurf der Vermischung von Er66
fahrungswissenschaft und Erkenntnistheorie und andererseits in Bezug zu der Verwendung von Forschungsergebnissen vor dem Hintergrund realistischer oder positivistischer Positionen. Zur Erklärung der Position konstruktivistischer Perspektiven gegenüber diesen zwei Ergebnissen, ist die Verwendung der Rekursivität von zentraler Bedeutung. Diese wurde oben bereits bei der Diskussion zum vierten Aspekt der Kritikliste über Kausalität eingeführt und bezeichnet aus konstruktivistischen Perspektiven, dass die Beobachtungen des Beobachters von seinen eigenen Beobachtungseigenschaften abhängen; oder Gesetze als Setzungen und damit Voraus-Setzung für folgende Setzungen angesehen werden. Demnach ist die Erkenntnistheorie eine Setzung (die zur Beobachtereigenschaft wird), welche die Beobachtung in der Erfahrungswissenschaft als Voraus-Setzung beeinflusst. Oder anders herum betrachtet ist die Beobachtung in der Erfahrungswissenschaft eine Voraus-Setzung, welche die Erkenntnistheorie als Setzung erzeugt. Die Antwort auf den Vorwurf der Vermischung von Erfahrungswissenschaft und Erkenntnistheorie ist aus konstruktivistischen Perspektiven demnach, dass die Vermischung kein Problem und damit auch keine Kritik ist. Sondern diese Vermischung ist vielmehr zwangsläufig, da Erkenntnistheorie und Erfahrungswissenschaft rekursiv verbunden sind. Damit ist auch bereits die Antwort in Bezug auf die Verwendung von Forschungsergebnissen vor dem Hintergrund realistischer oder positivistischer Positionen. Heinz von Foerster löst dieses Problem damit auf, dass er die Übertragungen aus der Neurobiologie auf das ‚Verständnis’ des Gehirns als reine Analogie betrachtet. Versteht man den Rückgriff auf das biologische Rezeptorensystem und die Einführung des Prinzips der undifferenzierten Kodierung (vgl. dazu später IV.2.3.2) als eine spezifische Reflexion eines lebenden Systems von sich selbst (vgl. dazu Riegler 2005, S. 51; Roth 2000, S. 231), dann kann mit diesen empirischen Ergebnissen auch in konstruktivistischen Perspektiven gearbeitet werden. Diese spezifischen Reflexionen (Sinne) sind unter Verwendung spezifischer Kapazitäten (Sinne) des Beobachters durchgeführt worden, so dass das Ergebnis (Sinne) von den Kapazitäten (Sinne) abhängt (vgl. Choe 2005, S. 105). Der Begriff der Sensorik kann damit weiterhin in konstruktivistischen Perspektiven verwendet werden. Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung (insbesondere der Physik) können andere Phänomene messbar machen, jedoch steht hinter ihnen selbst wiederum nur eine Denkweise, die zu rekursiven Ergebnissen führt (vgl. Choe 2005, S. 105)58. Erkenntnistheorie und Erfahrungswissenschaft sind aus dieser Perspektive daher untrennbar 58
Ein kurzer Exkurs auf die traditionell chinesische Medizin zeigt, dass mit einem anderen Fokus der Sensorik (Fühlen statt Sehen) auch andere Ergebnisse erzielt werden. Dort wurde auf die ‚energetische Wahrnehmung’ großen Wert gelegt, wodurch auch Energiebahnen wahrzunehmen sind. Darauf basierend, konnten Verfahren der Akupunktur entwickelt werden.
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verknüpft, wobei Ergebnisse anderer Erfahrungswissenschaften in Verbindung mit der Reflexion des Bezugssystems direkt oder in Form von Analogien auch in konstruktivistischen Perspektiven verwendet werden. Neben diesen sechs zentralen Kritikpunkten gibt es zwei weitere kritische Aspekte, welche in der Literatur häufig in Bezug auf konstruktivistische Perspektiven angeführt werden und nicht bei Unger (2003) auftauchten: die Überindividualisierung sowie das Fehlen empirischer Arbeiten. Aus sozialkonstruktivistischer Perspektive wird gerne die ‚Überindividualisierung’ kritisiert (vgl. Gergen 1995). Der Beobachter steht im Mittelpunkt ohne auf dessen Einbettung in einem sozialen System einzugehen. Macht, soziale Abhängigkeit und soziale Gruppeneffekte sind dabei unterberücksichtigt. Im Sozialkonstruktivismus steht daher der soziale Diskurs im Mittelpunkt, insbesondere darüber was zur ‚Wahrheit’ erklärt wird (vgl. Gergen 1985, S. 226). Konstruktivistische Perspektiven führen allerdings gegen die Überindividualisierung an, dass Sprache und Diskurse selbst auf konstruktiven Prozessen der Individuen beruhen (vgl. Schmidt 1992, S. 295). Verstehen zwischen Beobachtern bedeutet, dass der Hörer Sinn aus den selektierten ‚Klicks’ des Sprechers erzeugt und durch den von ihm selbst erzeugten Inhalt befriedigt wird (vgl. Schmidt 1992, S. 295). Aus diesem Grund sehen konstruktivistische Perspektiven kein Problem in der Überindividualisierung ihrer Perspektive, sondern fordern, Forschung auf den Konstruktions- und Verstehensprozess auszurichten (vgl. Raskin 2002, S. 11) – dies entspricht der Forderung aus der Innovationsforschung komplexe soziale Prozesse aus der individuellen Perspektive zu analysieren (vgl. Hargadon & Douglas 2001, S. 480). Als letztes wird das weitgehende Fehlen empirischer Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive sowie das Fehlen empirischer Arbeiten mit Belegen für die Grundlagen konstruktivistischer Perspektiven kritisiert. In Bezug auf empirische Arbeiten mit Belegen für die Grundlagen konstruktivistischer Perspektiven werden neben Arbeiten zum Farbsehen kaum Studien erbracht (vgl. Nüse et al. 1991; Elmer 1998). Dieser Kritik wird von konstruktivistischen Perspektiven kaum etwas entgegnet, da diese zumeist theoretisch arbeiten und vor allem Analogien zu anderen Forschungsergebnissen herstellen. Mit empirischen Arbeiten zu den konstruktivistischen Grundlagen beschäftigen sich tatsächlich nur vereinzelte Autoren (vgl. dazu Varela 1997). Das Fehlen empirischer Arbeiten mit konstruktivistischen Perspektiven in Bezug auf soziale oder individuelle Phänomene ist dagegen nicht ganz zutreffend, da es insbesondere empirischen Arbeiten aus der Medien- und Literaturwissenschaft gibt (vgl. für eine Zusammenstellung Hejl & Schmidt 1987) und auch aus einer sozialkonstruktivisti68
schen Perspektive (vgl. für eine Zusammenstellung Knorr-Cetina 1989). Dennoch gibt es weder im deutsprachigen noch im englischsprachigen Raum ein Methodenhandbuch konstruktivistischer Forschung.
In der vorherigen Debatte wurden die zentralen, kritischen Argumente gegenüber konstruktivistischen Perspektiven behandelt. Hierzu zählten die Wahrheit, die Stabilität oder Annäherung an Wahrheit, die Werturteilsfreiheit, die Kausalität, der Tautologievorwurf und die Abhängigkeit von den Naturwissenschaften. Darüber hinaus wurden zwei weitere Aspekte kurz diskutiert, welche ebenfalls in Zusammenhang mit konstruktivistischen Perspektiven gebracht werden: die Überindividualisierung sowie das Fehlen empirischer Arbeiten. Für jeden Kritikpunkt wurde das Für und Wider ausgewogen. Im nun folgenden Kapitel soll die eigene Position gegenüber jedem der Kritikpunkte zusammengefasst werden, um die Wahl des epistemologischen Standpunktes einer konstruktivistischen Perspektive zu untermauern. Ausgehend von dieser Darstellung der eigenen Position gegenüber der Kritik werden die Auswirkungen auf die weitere theoretische Forschung dargelegt.
IV.1.2
Der eigene Standpunkt gegenüber der Kritik
Im vorherigen Unterkapitel wurden die sechs hauptsächlichen Kritikpunkte an konstruktivistischen Perspektiven von Wahrheit, Stabilität, Werturteilsfreiheit, Kausalität, Zirkularität und naturwissenschaftlichen Bezügen diskutiert. Hinzu kam die Diskussion zweier weiterer kritischer Aspekte, welche ebenfalls behandelt wurden: Überindividualisierung und fehlende empirische Methodologie. Alle wesentlichen kritischen Punkte an konstruktivistischer Epistemologie konnten im Rahmen der Diskussion mit Argumenten aus konstruktivistischen Perspektiven widerlegt werden. Daher kann im vorliegenden Unterkapitel eine Zusammenfassung der eigenen Position gegenüber der Kritik ohne Hindernisse erfolgen. Nach dieser Zusammenstellung erfolgt eine Diskussion der Auswirkung der epistemologischen Position einer konstruktivistischen Perspektive auf die weitere theoretische Forschung. Für diese Arbeit wird eine konstruktivistische Epistemologie verwendet, um damit einerseits an die Allgemeine Modelltheorie anschlussfähig zu sein und andererseits, um die konstruktivistischen Grundlagen des Modells individueller Pfade auch im Rahmen der Forschung zu berücksichtigen (vgl. Unterkapitel IV.1.1). Durch diese Wahl ergibt sich eine Zweiteilung formulierbarer Fragen in unbeantwortbare und damit metaphysische Fragen, sowie beantwortbare und damit nicht-metaphysische Fragen. 69
Die Frage nach der Existenz von Wahrheit ist im Rahmen dieser Arbeit eine metaphysische Frage, die nicht beantwortet werden kann. Dem folgte die Frage nach der Annäherungsmöglichkeit an Wahrheit durch intersubjektive Stabilität. Zunächst gilt, dass wenn die Frage nach der Existenz von Wahrheit metaphysisch ist, dann ist auch die Bewertung einer Annäherung daran eine metaphysische Frage. Um dennoch einen Wissensbegriff zu verwenden, werden Ergebnisse von Fragen als funktionale (viable) Möglichkeiten angesehen, wodurch als Kriterium für die Ergebnisse eben die ‚Viabilität’ gilt. Intersubjektivität von funktionalen Möglichkeiten wird durch einen Kommunikationsprozess erzielt, wobei dessen Ergebnis der gemeinsame Nenner des gegenseitigen Verstehens dieser vielfältigen Möglichkeiten ist. Die Bewertungen der gestellten Fragen und auch der Antworten erfolgen dabei von einem Beobachter, wobei keine Beobachtung dieselbe und jede Beobachtung durch den Beobachter selber geprägt ist. Ein Beobachter ist jeder Mensch, der sich und anderes beobachtet und dabei Unterscheidungen bildet. Diese speichert er als individuelles Konstrukt59 ab. Im Rahmen dieser Arbeit existiert demnach keine Werturteilsfreiheit. Jede Frage und jede Antwort kann demnach geprägt sein von Eitelkeit, Rechthaberei, Karrierestreben, Egoismus und einem Sicherheitsbedürfnis. Jede Frage und Antwort hängt vom Beobachter selbst ab, was bei empirischen Arbeiten auf die Befragten ebenso zutrifft wie auf den Fragenden selbst. Auch die Wahl der kritischen Methode und die Auswertung ist nach dieser Perspektive nicht werturteilsfrei zu treffen. Als nächster Aspekt folgte die Diskussion um Kausalität als Erklärungsmuster. Kausale Verbindungen, wie sie nach dem Hempel-Oppenheim Modell wissenschaftlicher Erklärung über Gesetze hergestellt werden, sind aus konstruktivistischer Perspektive nur eine Möglichkeit der Erklärung. Eine weitere und aus konstruktivistischen Perspektiven zentrale Möglichkeit ist Rekursivität (Rückbezüglichkeit), nach denen Gesetze und Randbedingungen von dem Beobachteten abhängen können. Antworten hängen daher von den Fragen ab. Als Beispiel wurden die Sinne angeführt, welche durch die Sinne selbst ‚entdeckt’ worden sind. 59
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Ein individuelles Konstrukt ist hier als geistiges Konstrukt zu verstehen, welches sich auf alle erzeugten ‚Formen’ der Umwelt bezieht (vgl. Spencer-Brown 1969). Hier ist explizit das Wort ‚geistig’ gewählt, um eine breitere Basis konstruktiver Inhalte zu erreichen. Im Kognitivismus wird dagegen der Begriff ‚mentales Modell’ verwendet (vgl. Johnson-Laird 1983). ‚Mental’ wird dabei zumeist darauf bezogen „den Bereich des Verstandes“ (Drosdowski et al. 1997, S. 509) zu betreffen. Geistige Konstrukte können hier viel allgemeiner betrachtet werden z.B. bewusste und unbewusste Erklärungen, Objekte oder auch Emotionen enthalten. Alle Inhalte werden umfassend als ‚Formen’ beschrieben und entsprechen jeder möglichen Unterscheidung im Sinne des Formenkalküls (vgl. Spencer-Brown 1969).
Die Zirkularität der gesamten konstruktivistischen Perspektive auf logischer Ebene (Konstruktion als Konstruktion) wird nicht als Problem, sondern als notwendige Tautologie für eine funktionale Epistemologie angesehen. Damit wird das Problem der ‚Letztbegründung’ in der Wissenschaftstheorie aufgehoben, denn die Epistemologie erklärt ihr eigenes Zustandekommen und das Zustandekommen anderer Erklärungen. ‚Wissen’ hängt von der epistemologischen Position und von sich selbst ab. Der Fokus der Forschung aus dieser epistemologischen Position heraus liegt damit auf der Analyse ‚wie’ die Welt durch die Beobachter ‚erschaffen’ wird und nicht, wie die Welt ‚beschaffen ist’. Die bisherige und auch zukünftige Verwendung naturwissenschaftlicher aber auch philosophischer Ergebnisse, ist vor dem Hintergrund konstruktivistischer Epistemologie trotz der Kritik möglich. Erstens aus dem Grund, da Erkenntnistheorie und Erfahrungswissenschaft hier ebenfalls als untrennbarer Zirkel angesehen werden: Erfahrungswissenschaft ist Voraussetzung für Erkenntnistheorie et vice versa. Damit werden Sensorik, Motorik oder auch das Prinzip der undifferenzierten Kodierung als Ergebnisse auf Basis spezifischer Konstrukte verstanden, die zur Erschaffung der genannten Konstrukte geführt haben. Sie sind also rekursiv entstanden und so wurde Sensorik und Motorik durch Sensomotorik (Hinsehen, Hinhören) ermittelt. Daher ist es zweitens aus der Perspektive dieser Arbeit auch ohne weiteres möglich, Ergebnisse aus anderen Erfahrungswissenschaften zu Berücksichtigen und in den hier verwendeten Erkenntnistheoretischen Hintergrund zu übertragen. Ergebnisse der traditionell chinesischen Medizin sind ebenso Ergebnisse, welche auf Basis eines spezifischen Konstruktes (Energiebahnen) entstanden sind wie die ‚Raumzeit’ aus der Physik. Die Überindividualisierung konstruktivistischer Perspektiven ist eine berechtigte Kritik, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit durch Berücksichtigung sozialer Facetten des Mechanismus der Pfadforschung abgemildert werden soll. Dennoch wird als Grundperspektive dieser Arbeit angesehen, dass die Individuen der Nukleus für eine Gesellschaft sind (vgl. von Foerster 1979, S. 5) und soziale Systeme entstehen lassen. Emergenz ist eine Facette von Komplexität, wobei Organisation als ein ‚Viel-Hirn-Problem’ (vgl. von Foerster 1985b, S. 21 hier aus Schmidt 1999, S. 310) verschiedener Beobachter und Beobachterinnen verstanden wird. Um Organisationen zu verstehen sind die beteiligten Beobachter und Beobachterinnen zu verstehen. Forschung aus konstruktivistischer Perspektive, welche sich insbesondere mit der Interaktion zwischen Beobachtern und Beobachterinnen auseinandersetzt, könnte auf funktionale Ideen aus der Diskurstheorie von Habermas, Adorno und Schmidt sowie aus der Hermeneutik nach Heidegger und Gadamer zurückgreifen. 71
Empirische Arbeiten zu den Grundlagen konstruktivistischer Perspektiven sind entsprechend den Kritiken nicht in großer Fülle vorhanden. Es liegen Ergebnisse zur Forschung am Farbsehen vor, sowie ebenfalls Ergebnisse zur sensomotorischen Konstruktion. Dennoch besteht hier ein weiterer Forschungsbedarf, um die theoretischen Perspektiven und vor allem die Analogiebildungen mit empirischen Ergebnissen zu unterstützen. Empirische Arbeiten aus konstruktivistischer Perspektive wurden, wie in der Kritik angegeben, bereits einige verfasst. Allerdings stammen diese vermehrt aus dem Bereich sozialkonstruktivistischer Forschung. Da auf kein Basiswerk konstruktivistischer Methodologie zurückgegriffen werden kann, sind die Auswirkungen dieser gewählten Epistemologie auf empirische Forschung im empirischen Teil dieser Arbeit noch einmal zu diskutieren. Dabei werden insbesondere Beiträge zum Begriffe des ‚Verstehens’ und auch zu dem Prüfkriterium der ‚Viabilität’ zusammengestellt. Bevor die Wahl der geeigneten konstruktivistischen Literatur für die weitere Arbeit zusammengestellt werden kann, ist noch auf die Auswirkungen der gewählten Epistemologie auf die weitere theoretische Forschung einzugehen. Im Rahmen der Kritik zur Kausalität wurde bereits das Hempel-Oppenheim Modell wissenschaftlicher Erklärung als Basis wissenschaftlicher Forschung genannt (vgl. Hempel & Oppenheim 1948). Nach diesem gilt, dass mit einem Gesetz und gültigen Randbedingungen eine Beobachtung erklärt werden kann. Dazu wurde bereits ebenfalls im Rahmen der Kritik zur Kausalität die konstruktivistische Position eingeführt, dass Gesetze als Setzungen (oder Voraus-Setzung für folgende Setzungen) verstanden werden (vgl. Schmidt 2003). Demnach werden im Hempel-Oppenheim Modell nun mit Randbedingungen und Setzungen Beobachtungen (das Explanandum) erklärt. Da aber Setzungen im Sinne der Konstruktion nicht einer ‚Wahrheit’ von ‚Naturgesetzen’ entsprechen, wird in konstruktivistischen Perspektiven der Vorgang wissenschaftlicher Erklärung auch als ‚Beschreibung’ der ‚experimentellen Welt’ verstanden (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 51). Wenn nun die ‚Beschreibung’ nur für etwas bisher schon Bekanntes gilt und nur die ‚Erklärung’ einen Beitrag in Bezug auf etwas bisher Unbekanntes darstellt (vgl. z.B. Sieben et al. 2003), dann würden konstruktivistische Perspektiven nie etwas Neues erklären. Aus der Perspektive konstruktivistischer Epistemologie können aber auch neue Setzungen erschaffen werden, mit denen etwas Neues beschrieben werden kann. Der einzige Unterschied zwischen dem ‚Erklären’ im Hempel-Oppenheim Modell und dem ‚Beschreiben’ aus konstruktivistischer Perspektive ist der vorsichtigere Umgang mit dem Wort ‚Gesetz’ hin zur ‚Setzung’. Daher wird auch vorsichtiger von ‚beschreiben’ und nicht von ‚erklären’ gesprochen. Wenn also 72
das ‚Gesetz’ im Hempel-Oppenheim Modell nun mit der ‚Setzung’ ersetzt wird, dann kann nach dem modifizierten Hempel-Oppenheim Modell auch aus konstruktivistischer Perspektive auf Basis von Setzungen erklärt werden. Zu berücksichtigen ist jedoch bei dieser Modifikation des Hempel-Oppenheim Modells, dass entsprechend dem Münchhausen-Paradoxon und entsprechend der diskutierten Rekursivität, die Setzungen und auch die Randbedingungen von dem Erklärten abhängen können bzw. die Setzungen selbst von Voraussetzungen abhängen. Dazu wurde oben bereits die Rekursivität bei der ‚Erkenntnis’ von Sinnen durch Sinne angeführt. Dies unterstützt den vorsichtigen Umgang mit Forschungsergebnissen und deren Bezeichnung als ‚funktionale Möglichkeit’ oder auch einer ‚Bewährung’. Darüber hinaus werden durch die innere Rekursivität von Systemen spezifische Systeme jedoch unbestimmbar (vgl. dazu die Analogie der nicht-triviale Maschine weiter unten). Auf dieser Grundlage können nun die geeigneten konstruktivistischen Perspektiven für die weitere Analyse bestimmt werden.
IV.1.3
Auswahl geeigneter konstruktivistischer Literatur
Mit der im vorherigen Unterkapitel bestimmten eigenen Position zu konstruktivistischen Perspektiven - und deren Auswirkung auf das Modell wissenschaftlicher Erklärung - kann nun diskutiert werden, welche konstruktivistischen Perspektiven für die Analyse individueller Pfade herangezogen werden können. Prinzipiell wird zunächst einmal davon ausgegangen, dass eigentlich alle konstruktivistischen Perspektiven in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden müssten, sofern kein Unterschied zwischen ihnen besteht. Um zu identifizieren, ob innerhalb konstruktivistischer Perspektiven fundamentale Unterschiede bestehen und einige Arbeiten im Hinblick auf die leitende Fragestellung nicht berücksichtig werden müssten, erfolgt zunächst eine Analyse einiger Zusammenfassungen konstruktivistischer Literatur60. Arbeiten, welche durch eine mindestens zweifache Nennung in den Zusammenfassungen eine ähnliche Bezeichnung erhielten, werden zunächst in übergeordnete Gruppen einsortiert. Dabei bilden sich zwei Gruppen heraus, wobei nur aus einer der Gruppen Beiträge in Verbindung zur leitenden Fragestellung die60
Eine Ordnung der Arbeiten nach den Begriffen ‚Konstruktivismus’ und ‚Konstruktionismus’ erwies sich dagegen als problematisch. Diese Begriffe werden so inkonsistent verwendet, dass sie als Unterscheidungskriterium versagen (vgl. Raskin 2002, S. 1). Auch scheiterte der Versuch einer epistemologischen gegenüber einer hermeneutischen Gliederung, da einige Arbeiten zu beiden Perspektiven gezählt werden können: Maturana z.B. basiert seinen radikalen Konstruktivismus auf einer epistemologischen Untersuchung, aber diese beinhaltet nach Ansicht anderer Autoren hermeneutische Elemente (vgl. Raskin 2002, S. 3).
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ser Arbeit extrahiert werden können. Daher wird im weiteren Verlauf auch nur diese eine Gruppe berücksichtigt. Arbeiten, welche nur in einer der analysierten Zusammenstellungen Berücksichtigung finden, werden anschließend in Bezug auf deren inhaltlichen Beitrag zur leitenden Fragestellung untersucht. Auf Basis dieser Auswertung kann die gewählte Gruppe um einige zusätzliche Arbeiten erweitert werden. Den letzten Schritt zur Vervollständigung der selektierten Gruppe bildet die Berücksichtigung der Arbeiten, welche von den Autoren der gewählten Gruppe zitiert werden. Dazu zählen vor allem Arbeiten über die Anfänge konstruktivistischer Denkweisen, um eventuell weitere Beiträge aus dieser Literatur zu extrahieren.
Zunächst erfolgt nun die Auflistung einzelner Arbeiten, welche sich mit der Zusammenstellung von Literatur mir konstruktivistischer Perspektive beschäftigten. Die Reihenfolge ist dabei anhand des Publikationsdatums gewählt. x
Ordnungskonzept nach Knorr-Cetina 1989: o Sozialkonstruktivismus (Peter Berger & Thomas Luckmann), o kognitionstheoretischer Konstruktivismus (Immanuel Kant, Charles S. Peirce, Ludwig W. Wittgenstein, Jean Piaget, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld, Humberto Maturana, Francisco Varela, Siegfried J. Schmidt), o Empirisches Programm des Konstruktivismus (Karin Knorr-Cetina, Bruno Latour, Steve Woolgar, Michel Lynch, Sharon Traweek, Warren Handel, John Heritage, Clifford Geertz, Pierre Bourdieu, Michel Foucault).
x
Ordnungskonzept nach Kasper 1990: o Sozialkonstruktivismus (Peter Berger & Thomas Luckmann), o Kognitionstheoretischer Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld, Humberto Maturana), o Empirisches Programm des Konstruktivismus (Pierre Bourdieu, Michel Foucault), o Kommunikationstheoretischer Konstruktivismus (Paul Watzlawick).
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x
Ordnungskonzept nach Weber 1996: o Siegener Konstruktivismus (Siegfried J. Schmidt, Peter Hejl), o Differenzlogische Systemtheorie / Operativer Konstruktivismus (Niklas Luhmann), o Kybernetik 2. Ordnung / Unterscheidungs-Kybernetik (Heinz von Foerster, Dirk Baecker), o Endo-Physik (Otto Rössler).
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Ordnungskonzept nach Walter-Busch 1996: o Radikaler Konstruktivismus (Humberto Maturana, Francisco Varela), o Sozialkonstruktivismus (Kenneth Gergen, Jean-François Lyotard, Jacques Derrida, Michel Foucault), o Phänomenologische und ethnomethodologische Soziologie (Edmund Husserl, Alfred Schütz).
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Ordnungskonzept nach Flick 2005: o Tradition von Piaget (Jean Piaget, Ernst von Glasersfeld, Siegfried J. Schmidt, Niklas Luhmann), o Sozialer Konstruktivismus (Alfred Schütz, Peter Berger & Thomas Luckmann, Kenneth Gergen), o Konstruktivistische Wissen(schaft)ssoziologie (Ludwik Fleck, Karin KnorrCetina, Bruno Latour & Steve Woolgar).
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Ordnungskonzept nach Choe 2005: o Methodischer Konstruktivismus (Erlanger Schule: Wilhelm Kamlah, Paul Lorenzen), o Wissenschaftstheoretischer Konstruktivismus (Klaus Holzkamp), o Epistemology Naturalized (Willard Quine), o Radikaler Konstruktivismus (Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Humberto Maturana, Francisco Varela, Niklas Luhmann), o Persönliche Konstrukte (George Kelly), o Sozialer Konstruktionismus (Kenneth Gergen), 75
o Sozialer Konstruktionismus in der Theorie sozialer Probleme (Malcolm Spector, John I. Kitsuse), o Psychoanalytischer Konstruktivismus (Klaus-Jürgen Bruder), o Konstruktivismus gegenwärtiger Wissenssoziologie (Peter Berger & Thomas Luckmann), o Konstruktiver Realismus (Fritz Wallner), o Interpretationskonstruktionismus (Hans Lenk).
Die verschiedenartigen Ordnungen zeigen insbesondere, dass eine klare Bezeichnung der Arbeiten spezifischer Autoren schwierig erscheint. Während Choe sehr detailliert die soziologischen Arbeiten in Wissenssoziologie und sozialem Konstruktionismus ausdifferenziert, fasst z.B. Flick diese unter dem Begriff ‚sozialer Konstruktivismus’ zusammen. Die Ordnungsversuche werden dabei von dem jeweiligen Verständnis der Autoren und dem gewünschten Detailgrad der Ordnung geprägt. Wie bereits einleitend erwähnt, werden in einem ersten Schritt die aufgelisteten Arbeiten in Gruppen einsortiert, welche durch eine mindestens zweifache Nennung in den Zusammenfassungen eine Bezeichnung erhielten. Ziel ist es dabei, Gruppen der Autoren zu bilden und die für die leitende Fragestellung relevanten Arbeiten zu extrahieren. Dazu wurde eine Matrix über alle Autoren (Zeilen) und alle Einordnungen (Spalten) gebildet. Die Autoren mit einer mehrmaligen Nennung über alle Zusammenfassungen (zwei und höher), wurden für den nächsten Analyseschritt ausgewählt. Bei diesem folgenden Schritt wurde jeder genannte Autor einer Gruppe zugeordnet, welche durch einen Oberbegriff zu den genannten Einordnungen bezeichnet wurde. Das Ergebnis waren die zwei Gruppen der sozialen und individuellen Perspektiven konstruktivistischer Literatur. Die folgende Tabelle 01 fasst das Ergebnis zusammen, wobei Autoren mit zunächst problematischer Zuordnung umrandet sind.
In der hier entwickelten Gruppierung mussten in Bezug auf die drei, mit einer Umrandung markierten Autoren kritische Entscheidungen über deren Zuordnung getroffen werden: Erstens bezeichneten einige Autoren in ihren Zusammenfassungen einige Arbeiten (mehrfach insbesondere Knorr-Cetina) als Bestandteil des empirischen Programms des Konstruktivismus. Damit könnten diese Arbeiten sowohl als Beiträge für die soziale Perspektive wie auch als Beiträge für die individuelle Perspektive konstruktivistischer Literatur angesehen werden.
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Da in anderen Zusammenfassungen (z.B. Flick) der theoretische Hintergrund der Arbeiten des empirischen Programms des Konstruktivismus aber der Wissenssoziologie zugeordnet wurde, erfolgte die Einordnung zur sozialen Perspektive.
Tabelle 01 – Gruppierung konstruktivistischer Autoren mit Mehrfachnennungen nach zusammenfassenden Arbeiten
Zweitens wurde die Arbeit von Niklas Luhmann zum Teil mit der Tradition von Piaget und damit mit der individuellen Perspektive konstruktivistischer Perspektiven in Verbindung gebracht. In anderen Zusammenstellungen wurde die Theorie sozialer Systeme von Niklas Luhmann aber eher dem operativen Konstruktivismus bzw. der Systemtheorie zugeordnet (z.B. Weber 1996). Der Beitrag von Luhmann selbst, was die Grundlagendiskussion der individuellen Perspektiven konstruktivistischer Literatur angeht, ist als eher gering einzustufen (vgl. z.B. Flick 2005, S. 151; Bender 1994, S. 276). Luhmann ging es vielmehr darum, die konstruktivistischen Grundlagen auf ein soziales System zu übertragen (vgl. insbesondere Luhmann 1980; Luhmann 1982; Luhmann 1992). Dabei entstehen die sozialen Systeme aber nicht durch einzelne Beobachter, sondern durch Entscheidungen und Kommunikation. Kernelement der sozialen Systeme ist die Autopoiesis, welche von lebenden auf soziale Systeme übertragen wurde. Diese Analogiebildung ist jedoch von einigen Autoren als zu weitläufig interpretiert
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angegriffen worden (vgl. Hejl 1985, S. 6)61. Auf Grund der Systemperspektive wurde daher die Einordnung von Luhmann in die Gruppe konstruktivistischer Literatur mit einer sozialen Perspektive bevorzugt. Drittens konnten aus den Zusammenfassungen die Arbeiten von Siegfried J. Schmidt nicht direkt einer Perspektive zugeordnet werden. Zum Teil wird seine Arbeit in den Zusammenfassungen als Siegener Konstruktivismus bezeichnet, in denen er sich mit Medien und Kommunikation beschäftig. Andererseits lieferte er mit seinen Herausgeberwerken - so z.B. seinem Sammelband „Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus“ - einen bedeutenden Beitrag zur Verbreitung der individuellen Perspektive im deutschsprachigen Raum. Für eine klarere Einordnung ist von besonderem Interesse, dass sich seine eigene Vorstellung der von ihm verwendeten Epistemologie über der Zeit änderte. 2003 provozierte er individuelle konstruktivistische Perspektiven mit einem neuen Werk. Im Untertitel heißt es da „Abschied vom Konstruktivismus“ (vgl. Schmidt 2003). Dort entwickelt er einen neuen Weg der Interaktion über Gesellschaft und Diskurse, um sich in Teilen von radikalen Positionen konstruktivistischer Perspektiven zu lösen. Da in dem Vorwort seines Buches angeführt wird, dass er den Abschied von der individuellen Perspektive bereits seit 1994 verfolgt (vgl. Schmidt 2003, S. 7), werden seine Arbeiten hier in die soziale Perspektive konstruktivistischer Literatur eingeordnet. Da jedoch seine Arbeit eine Brück zwischen der individuellen und der sozialen Perspektive aufbaut, wird sein Werk bei der abschließenden Diskussion der vorliegenden Arbeit noch einmal reflektiert (vgl. VI.1.2).
Eine Betrachtung des vorliegenden Ergebnisses der gruppierten Mehrfachnennungen von Autoren mit konstruktivistischem Hintergrund zeigt, dass nur die Arbeiten in der Gruppe der individuellen Perspektive konstruktivistischer Literatur für die Beantwortung der leitenden Fragestellung relevante Beiträge liefern. Die Arbeiten mit der sozialen Perspektive werden dagegen in dieser Arbeit nicht weiter berücksichtigt. Dies liegt vor allem daran, dass die Ansätze nicht beschreiben, wie individuelle Konstruktion entsteht (vgl. z.B. die Kritik bei von Glasersfeld 1995b, S. 191; Knorr-Cetina 1989; so selbst bei Berger & Luckmann 1997). Diese beziehen sich im Hauptsächlichen darauf, wie unter Annahme der Existenz der individuellen Erfahrung gemeinschaftliche ‚Realität’ konstruiert wird. Individuen gelten zumeist als reaktiv (vgl. 61
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Weitere kritische Äußerungen zu Luhmann’s Umgang mit der Autopoiesis finden sich vor allem in folgenden Werken: vgl. Hejl 1984 nach Portele 1989, S. 37; Varela et al. 1974, S. 188; Maturana & Varela 1987, S. 50; von Foerster 1999a, S. 246; Portele 1989, S. 79; Schmid 1992, S. 41.
Berger & Luckmann 1997, S. 21). Wirklichkeit wird interpretiert als das, was die Gesellschaft als ‚wirklich’ bezeichnet (vgl. Portele 1994, S. 128). Kenneth Gergen verwirft sogar die radikalkonstruktivistischen Perspektiven als Solipsismus und grenzt sich durch seinen Konstruktionismus deutlich ab (vgl. Walter-Busch 1996, S. 275; Portele 1994, S. 127). Auch Bourdieu argumentiert mit seinen Distinktionen auf der gesellschaftlichen Ebene der Akzeptanz und analysiert nicht die individuellen Strukturen (vgl. Portele 1994, S. 133). Da jedoch der Einzelne erst durch seine Konstruktion (z.B. die Akzeptanz einer beschriebenen Beobachtung ohne eigene Überprüfung) und die daraus entstehende Handlung die Gesellschaft mit kreiert, ist im Rahmen dieser Arbeit die soziale Perspektive konstruktivistischer Literatur zur Beantwortung der leitenden Fragestellung über individuelle Pfade nicht nützlich. Arbeiten mit einer individuellen Perspektive in konstruktivistischer Literatur eignen sich dagegen anscheinend sehr gut, um individuelle Pfade zu analysieren. Einige Autoren werden auch direkt dem ‚Kognitionstheoretischen Konstruktivismus’ zugeordnet. Unterstützt wird diese Annahme zudem durch die Zuordnung einiger Arbeiten zu der ‚Tradition von Piaget’. Piaget selbst war ein Entwicklungspsychologe mit Professuren in der Schweiz und Frankreich62. Er hat sich insbesondere mit der Konstruktionsleistung des Kindes auseinandergesetzt. Diese Verbindung von Psychologie und Konstruktion hat ihn zu grundlegenden epistemologischen Gegenpositionen gegenüber dem Behaviorismus geführt. Eine Beschäftigung mit den Arbeiten dieser Gruppe scheint daher äußerst gewinnbringend.
Als nächster Schritt wurden die Autoren ohne Mehrfachnennungen untersucht, inwiefern diese einen weiteren Beitrag zur Beantwortung der leitenden Fragestellung individueller Pfade liefern könnten. Eine Reihe von Autoren mit Einfachnennung konnten dabei relativ zügig aussortiert werden, da sie eindeutig in die für diese Arbeit nicht relevante, soziale Perspektive eingeordnet werden können. Dazu gehören Geertz, Handel, Heritage, Lynch und Traweek mit Beiträgen zum empirischen Programm des Konstruktivismus. Dieses empirische Programm war bereits bei Knorr-Cetina als soziale Perspektive bezeichnet worden. Ebenso konnten Kitsuse und Spector der sozialen Perspektive zugeordnet werden, da ihre Perspektive als ‚sozialer Konstruktionismus’ bezeichnet wurde. Auch Derrida und Lyotard zählten mit der Bezeichnung ihrer Perspektive als ‚Sozialkonstruktivismus’ dazu. Husserl und Fleck lieferten beide Beiträge zur 62
Weiter Informationen zur Personen finden sich bei der Jean Piaget Gesellschaft, einer Gesellschaft für Studien über Wissen und Entwicklung: http://www.piaget.org/aboutPiaget.html.
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(Wissens-) Soziologie und werden daher auch zur Gruppe der sozialen Perspektive konstruktivistischer Literatur zugerechnet. Die Kommunikationstheorie von Watzlawick, sowie der Siegener Konstruktivismus von Hejl - den er mit Schmidt zusammen entwickelte - zählen ebenfalls zur sozialen Perspektive mit einem Fokus auf die Interaktion. Eine weitere Anzahl von Autoren mit Einfachnennung in den Zusammenfassungen konstruktivistischer Perspektiven konnte ebenfalls aussortiert werden, obwohl deren Bezeichnung zunächst auf eine individuelle Perspektive hindeutete. Die Arbeiten von Baecker mit seiner ‚Unterscheidungskybernetik’ brachte Weber (1996) mit von Foerster’s radikaler Perspektive in Verbindung. Als Schüler von Niklas Luhmann können die Beiträge von Baecker jedoch hauptsächlich dem operativen Konstruktivismus mit einem Fokus auf die Systemtheorie zugerechnet werden. Daher werden seine Arbeiten ebenfalls zur sozialen Perspektive konstruktivistischer Literatur zugerechnet. Zwei weitere Perspektiven wurden bei Knorr-Cetina mit dem ‚kognitionstheoretischem Konstruktivismus’ von Piaget, Maturana und Varela in Verbindung gebracht. Diese zwei Arbeiten von Peirce und Wittgenstein beschäftigen sich jedoch vor allem mit der Logik. Pierce formulierte in seiner erkenntnistheoretischen Position, dass das ‚wir’ im Mittelpunkt steht (CP 5.402). Daher kann auch er eher als ‚Sozialkonstruktivist’ bezeichnet werden. Wittgenstein wird durch von Foerster zwar einige Male zitiert, Wittgenstein’s Position ist aber zwischen Konstruktivismus und Quietismus angesiedelt (vgl. Blackburn 2005). Seine Position kann damit eher in einigen wenigen Punkten als Vorläufer konstruktivistischer Perspektiven angesehen werden, so dass sein Werk bei der Analyse nur dort berücksichtigt wird, wo von Foerster seine philosophische Position explizit einbindet. Aus den verbleibenden Arbeiten können insbesondere vier wesentliche Beiträge extrahiert werden, welche die Gruppe der individuellen Perspektive konstruktivistischer Literatur ergänzen. Dazu gehört erstens die Theorie persönlicher Konstrukte von George Kelly. Er publizierte zeitlich vor den meisten radikalen Konstruktivisten wie Ernst von Glasersfeld oder Heinz von Foerster und nach Jean Piaget. Da er als Psychologe arbeitete und seine Theorie ‚persönliche Konstrukte’ adressierte, wird von einem Beitrag seiner Arbeit für die leitende Fragestellung ausgegangen. Zu diesen ergänzenden Beiträgen können auch die beiden Arbeiten von Klaus-Jürgen Bruder - selbst Psychologe - und seinem Schüler Hoyoung Choe gezählt werden. Bruder hat ausgehend von Alfred Adler einen psychoanalytischen Konstruktivismus entwickelt, welchen Choe zu einer gemäßigten Perspektive ausgebaut hat. Beide Arbeiten können wahrscheinlich durch die Verbindung von Psychologie und Konstruktivismus einen Beitrag zur Beantwortung der leitenden Fragestellung individueller Pfade liefern und werden da80
her in die Gruppe der zu berücksichtigenden Arbeiten einsortiert. Als vierte Arbeit sind die Werke von Immanuel Kant zu der individuellen Perspektive konstruktivistischer Literatur hinzuzurechnen. Er beschäftigte sich vor allem mit Fragen zur Aufklärung und entwickelte in seiner Philosophie bedeutende Beiträge zur Vorstellung von Raum, Zeit und den Gesetzen, so dass ebenfalls von einem Beitrag zur leitenden Fragestellung auszugehen ist.
Als letzter Schritt der Auswahl konstruktivistischer Literatur erfolgte die Ergänzung der Gruppe mit einer individuellen Perspektive um die Arbeiten, welche häufig von diesen Autoren zitiert werden. Eine Analyse der Zitationen von Ernst von Glasersfeld und Heinz von Foerster zeigt, dass einige griechische Werke (Xenophanes und Demokrit) sowie Texte von Immanuel Kant, Ludwig Wittgenstein, Giambattista Vico, Henri Poincaré und Gregory Bateson ebenfalls erste Ansätze für radikalkonstruktivistische Perspektiven geliefert haben. Obwohl diese Zitationen aus verschiedenen Fachgebieten stammen, beschäftigten sich die Autoren zumindest in Teilen ihrer Arbeiten mit dem Menschenbild bzw. dem Weg der Erkenntnis. Humberto Maturana und Francisco Varela – ebenfalls Vertreter aus dem Bereich radikalkonstruktivistischer Perspektiven – können dagegen nicht auf weitere Autoren bezogen werden. Da Kant und Wittgenstein bereits bei der Eingruppierung berücksichtigt wurden, wird die Gruppe der individuellen Perspektive um die hier noch zusätzlich aufgeführten Quellen ergänzt.
In der folgenden Liste ist eine detaillierte Zusammenfassung der obigen Diskussion zur Auswahl geeigneter konstruktivistischer Literatur gegeben, welche für die Beantwortung der leitenden Fragestellung verwendet werden sollen. Die Auflistung erfolgt dabei aus einer historischen Perspektive, bei der die ältesten Ansätze zuerst aufgeführt werden. Anhand dieser Auflistung werden die folgenden drei Kapitel aufgebaut, bei denen diese Autoren im Hinblick auf deren Beiträge zu einem Modell individueller Konstruktion, der Selbstverstärkung sowie dem intra-individuellen Lock-In aus konstruktivistischer Perspektive untersucht werden. x
Die Anfänge konstruktivistischen Denkens (Griechische Wurzeln, Immanuel Kant, Giambattista Vico, Henri Poincaré, Gregory Bateson, Jean Piaget),
x
Theorie persönlicher Konstrukte (George Kelly),
x
Radikaler Konstruktivismus (Humberto Maturana, Francisco Varela, Heinz von Foerster, Ernst von Glasersfeld),
x
Gemäßigter Konstruktivismus (Klaus-Jürgen Bruder, Hoyoung Choe). 81
IV.2 Individuelle Konstruktion und Non-Ergodizität Im vorherigen Kapitel wurde nach der Wahl einer konstruktivistischen Epistemologie und der Auseinandersetzung mit der Kritik an dieser die eigene Position gegenüber der Kritik aufgeführt. Anschließend wurde die Auswirkung dieser epistemologischen Position auf die theoretische Forschung diskutiert. Im letzten Unterkapitel konnte dann konstruktivistische Literatur mit einer individuellen Perspektive extrahiert werden, um die Bearbeitung der leitenden Forschungsfrage durchzuführen.
Ziel dieses Kapitels ist es nun, die Beiträge aus den konstruktivistischen Perspektiven mit individuellem Fokus in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung zu diskutieren. Begonnen wird die Analyse bei den Anfängen konstruktivistischen Denkens (IV.2.1). Es folgt die Analyse der Theorie persönlicher Konstrukte (IV.2.2) sowie die Analyse radikaler Perspektiven (IV.2.3). Abschließend wird auf die gemäßigten Perspektiven eingegangen (IV.2.4). Alle Arbeiten werden dabei hinsichtlich ihrer Beiträge analysiert und welche davon als Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) in ein Modell individueller Pfade zu übertragen sind. Zum Abschluss jedes Unterkapitels erfolgt eine Zusammenfassung der Beiträge als Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) für das Modell. Das Ergebnis der Literaturdiskussion wird dann abschließend zusammengefasst und als vorläufiges Modell dargestellt (IV.2.5). Auf dieser Grundlage soll das erste Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades veranschaulicht werden: Es existieren multiple Konstruktionsmöglichkeiten der Welt für jeden Beobachter und das Ergebnis ist nicht vorhersehbar. Der Aufbau von Konstruktionen selbst funktioniert dabei nach einem gemeinsamen, spezifischen Schema.
IV.2.1
Die Anfänge konstruktivistischer Forschungsperspektiven
Die Analyse der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven in Bezug auf deren Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung ist der erste Schritt dieser umfassenden Diskussion. Die relevanten Arbeiten für dieses Unterkapitel wurden im vorherigen Kapitel durch eine Analyse der Zitationen der wesentlichen Autoren radikalkonstruktivistischer Perspektiven ermittelt. Hierzu zählten Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Humberto Maturana und Francisco Varela. Diese hatte gezeigt, dass neben dem Lebenswerk von Jean Piaget auch wenige griechische Werke, sowie Textstellen von Immanuel Kant, Giambattista Vico, Henri Poincaré und 82
Gregory Bateson für konstruktivistische Forschungsperspektiven von Bedeutung sind. Die Arbeiten dieser Autoren werden hier im Folgenden, nach ihrem zeitlichen Erscheinen sortiert, untersucht.
IV.2.1.1
Subjektivität, Quantität und Wahrheit – Griechische Wurzeln
Auf die alte griechische Literatur wird heute nur in geringem Maße durch radikale Konstruktivisten zurückgegriffen (vgl. z.B. von Glasersfeld 1995a, S. 1; von Foerster 1994, S. 136). Sie spielen zumeist keine zentrale Rolle. Vielmehr werden sie dazu verwendet, die Tradition konstruktivistischer Perspektiven aufzuzeigen. Zu den wesentlichen Quellen gehört Demokrit als Vorsokratiker sowie Xenophanes als Skeptiker.
Die ersten und ältesten zu nennende Quellen, welche Autoren mit konstruktivistischer Perspektive als Ursprung konstruktivistischen Denkens bezeichnen, sind wohl die griechischen Vorsokratiker– allen voran Demokrit (vgl. Schmidt 1999, S. 307; von Glasersfeld 1995a, S. 1). Wenn auch dort erst geringe Anzeichen zu erkennen waren, so sind seine Argumente doch wiederkehrende Elemente in den Begründungen heutiger konstruktivistischer Perspektiven. Demokrit benutzte in seiner Argumentation die Subjektivität der Sinneswahrnehmung von zum Beispiel Farbe und Geschmack (vgl. Hirschberger 1980, S. 43). Sinnesorgane übersetzen die Natur in ihre eigene Sprache. Anders dagegen sah Demokrit jedoch die Größe oder das Gewicht als direkt zugängliche Größen an. Diese quantitativen, messbaren Unterschiede werden nach ihm naturgetreu von den Sinnen übersetzt (vgl. Hirschberger 1980, S. 43). Zum Teil kann aber die Aussage Demokrits in Bezug auf Subjektivität auch mit Form und Größe in Verbindung gebracht werden, welche er zumeist als naturgetreu zugänglich beschreibt. In einem überlieferten Fragment formuliert er zur Subjektivität, „daß wir nicht erkennen können, wie in Wirklichkeit ein jedes Ding beschaffen oder nicht beschaffen ist“ (von Glasersfeld 1995a, S. 1 zitiert aus Wilhelm 1953, S. 437; und leicht anders bei Diels 1957, S. 101). Aus diesem Grunde können die ‚Subjektivität der Wahrnehmung’ und auch die ‚Sinneswahrnehmung’ als zentrale Beiträge von Demokrit zur individuellen Konstruktionsbildung übernommen werden.
Auch die Skeptiker unter Xenophanes und spätere Vertreter dieser Gruppe leisteten nach Ansicht heutiger konstruktivistischer Arbeiten einen Beitrag zu konstruktivistischem Denken (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 1). Sie stellten das damalige Konzept von ‚Wahrheit’ in Frage: 83
„even if someone succeeded in describing exactly how the world really is, he or she would have no way of knowing that it was the ‘true’ description“ (von Glasersfeld 1990, S. 20 nach Übersetzungen von Diels 1957). Allerdings gingen die Skeptiker nicht darauf ein, dass trotz der Unmöglichkeit einer Aussage über Wahrheit, Erfahrung dennoch brauchbares Wissen liefern kann (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 21). Andere Autoren stimmen der Einordnung von Xenophanes als Ideengeber für konstruktivistische Perspektiven nicht zu. Dieselben Zitate werden zum Teil auch als Gegenargument verwendet (vgl. Unger 2003, S. 32). Ursache dafür ist die Berufung auf verschiedene Übersetzungen63. Sieht man von dem Streit einer historisch ‚korrekten’ Einordnung der Arbeiten von Xenophanes ab und verwendet die Übersetzung, welche in konstruktivistischen Perspektiven auch als Grundlage für deren Denkweise herangezogen wird, dann kann das ‚Nicht-Wissen von Wahrheit’ als Beitrag von Xenophanes zur individuellen Konstruktionsbildung in das Modell individueller Pfade übernommen werden.
Weitere Ansätze finden sich auch bei Alkmaion und Heraklit (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 1). Ihre Auswirkungen werden aber in anderen radikalkonstruktivistischen Perspektiven nicht weiter verwendet. Daher wird auf deren Betrachtung hier ebenfalls verzichtet.
Die alte griechische Literatur liefert drei Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung. Zwei davon beschreiben Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen und werden als Faktoren in das Modell übernommen. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
Subjektivität der Wahrnehmung,
x
Nicht-Wissen von Wahrheit.
Nur der von Demokrit eingeführte Beitrag der ‚Sinneswahrnehmung’ beschreibt bereits die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen und wird daher zu den Relationen sortiert (Zusammenhang von Sinnen und Konstruktionen). Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
63
84
Sinneswahrnehmung.
Insbesondere die Übersetzungen des Fragments Nr. 10 (vgl. Diels 1957, S. 20 und Heitsch 1994, S. 21) ist durch eine andere Formulierung als Für und Wider der Arbeiten Xenophanes als konstruktivistische Perspektive verwendet worden.
IV.2.1.2
A Priori und erfundene Gesetze – Philosophische Einflüsse
Historisch gesehen folgt nach den griechischen Philosophen lange kein Beitrag zu konstruktivistischem Denken. Erst der deutsche Philosoph Immanuel Kant steuerte mit seinem Werk zur Aufklärung als Lösung von der selbstverschuldeten Unmündigkeit auch einige Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung zu konstruktivistischen Perspektiven bei. Dazu zählen insbesondere seine Beschäftigung mit der Erschaffung von Naturgesetzen sowie die Abhängigkeit von Raum und Zeit.
In Bezug auf Naturgesetze schloss Kant aus seinen Überlegungen, dass diese nicht von der Natur abgeleitet werden. Individuen ‚zwingen’ der Natur Regeln auf, die deren Verständnis von der Natur entsprechen (vgl. von Glasersfeld 1984 referenziert auf Kant 1783, S. 294). Das Verständnis der Natur wird über sinnliche Eindrücke erzeugt, wobei die Sinne den Rohstoff für den Verstand liefern (vgl. Kant 1787, S. 27). Der Verstand erarbeitet aus diesen Sinneseindrücken Erkenntnis über Gegenstände, welche er als Erfahrung bezeichnet (vgl. Kant 1787, S. 27 hier anlehnend an von Glasersfeld 1981, S. 28). Damit können Individuen nichts über die Natur der Sache aussagen, sondern nur über ihre Verstandsleistung (vgl. Kant 1783, S. 295 hier nach von Glasersfeld 1981, S. 5). Allerdings, denn Kant beharrte in diesem Punkt auf der Position von Sokrates, kann nur etwas wahrgenommen werden wo etwas ist. Damit sind die Sinneswahrnehmungen der Individuen auch Wahrnehmungen einer tatsächlich existierenden Welt. Zeit und Raum als Dimensionen dieser Welt waren für Kant ebenfalls nicht ein Gesetz der Natur. Allerdings sah er in ihnen notwendige Rahmenbedingungen, um Erfahrung überhaupt machen zu können (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 20; von Glasersfeld 1995a, S. 3). So führte er Zeit und Raum als a priori Relationen ein (vgl. dazu Kant 1787, S. 57 (Zeit), 53 (Raum)). Zeit und Raum sind zwar außerhalb des Erfahrungshorizontes des Menschen nicht denkbar, ohne diese kann der Mensch aber auch keine Erfahrungen erzeugen. Sie sind also an die menschliche Wahrnehmung gebunden. Kant liefert damit einige Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung. Zwei davon beschreiben Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen und werden als Faktoren in das Modell übernommen. Nach Kant sind Naturgesetze nur erschaffen und damit ein Bestandteil von Konstrukten. Zeit und Raum sind nach ihm a priori Gegebenheiten für das Individuum und gelten damit als Eigenschaft von Konstruktionen. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: 85
x
Naturgesetz ist Erschaffen,
x
Zeit und Raum sind a priori Relationen.
Auch in Bezug auf die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen sind einige Beiträge in Kant’s Arbeiten erkennbar, welche den Relationen zugeordnet werden. Im Rahmen der Diskussion von Naturgesetzen führte Kant neben den Sinnen als Rohstofflieferant für den Verstand die Verstandstätigkeit selbst an. Außerdem spielt nach ihm die Erfahrung eine Rolle für den Verstand. Zudem führte Kant bei den Konstrukten von Zeit und Raum deren Relation zu anderen Konstrukten an. Diese Beiträge ergeben folgende Zusammenstellung für die Art und Weise der Konstruktionsbildung: x
Sinneswahrnehmung liefert Rohstoff für Verstand,
x
Verstand erarbeitet Erkenntnis,
x
Erfahrung ist Sammlung von erschaffenen Erkenntnissen,
x
Zeit und Raum mit Konstrukten verbunden.
IV.2.1.3
Gemachte Fakten – Rhetorische Einflüsse
Etwa 100 Jahre nach Kant greift Giambattista Vico, Jurist und Professor für Rhetoriker, die Konstruktion von Erfahrung und Naturgesetzen von Kant wieder auf. Er formulierte in seiner Arbeit zu Erkenntnismethoden den Satz, dass Fakten durch Handlung erschaffen werden: „Verum Ipsum Factum“ (Vico 1858, S. 5f. nach von Glasersfeld 1984). Nach ihm ist also Erkenntnis eine „konstruktive und nicht abbildende“ (von Glasersfeld 1995a, S. 18) Tätigkeit. Wissenschaft versteht er daher als die Frage nach der Art und Weise wie Erfahrung oder Dinge erzeugt werden (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 26). Insbesondere beschäftigte sich Vico neben seinen fachspezifischen Fragen auch mit der Analyse von Zeit und Raum. Die Stabilität der Welt in Bezug auf Zeit und Raum versteht Vico als These, da bereits von deren Konstanz ausgegangen wird, bevor darüber nachgedacht wird. Konsequent stellt er die a priori Relationen von Zeit und Raum von Kant in Frage. Somit folgert er, dass Zeit und Raum nicht notwendigerweise für den Menschen gegeben sein müssen, sondern der Mensch seine Erfahrung eben nur in diese Relationen einordnet. Damit sind nach ihm Zeit und Raum nicht a priori gegebene Relationen, sondern nur Konstrukte menschlichen Denkens (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 21 in Anlehnung an Vico 1858).
86
Aus der kurzen Diskussion der Arbeit von Vico sind drei zentrale Beiträge in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung zu extrahieren. Erstens entgegnete er den a priori Relationen von Kant, dass auch Raum und Zeit nur Konstrukte sind. Dies ergibt folgende Zusammenfassung für die Faktoren als Eigenschaften oder Inhalte der Konstruktionen: x
Zeit und Raum als Konstrukte.
Zweitens formulierte Vico, dass Fakten durch Handlung gemacht werden. Dies beschreibt die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen und wird daher den Relationen zugeordnet. Drittens nannte Vico, dass trotz der Konstruktion von Zeit und Raum Konstruktionen mit diesen Dimensionen in Bezug gesetzt werden, so dass dieser Aspekt hier ebenfalls den Relationen zugeordnet werden kann. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
Erkenntnis durch Handlung erschaffen.
IV.2.1.4
Sensomotorik – Denkanstöße eines Mathematikers
Noch im selben Jahrhundert wie Giambattista Vico beginnt auch der Mathematiker und Philosoph Henri Poincaré an dem Thema der Erkenntnistheorie zu arbeiten. Primär ist seine Forschungstätigkeit auf das n-Körperproblem, Chaos und Relativität konzentriert, aber dennoch beschäftigt ihn die Frage des Erkennens. In einem seiner Werke ‚Wissenschaft und Hypothese’ (1928) formuliert er, dass zum Beispiel die Geometrie nicht ‚wahr’ im Sinne eines Naturgesetzes ist, sondern Vorteilhaft für Analysen sei. Ein Vorgriff auf das durch von Glasersfeld eingeführte Kriterium von Viabilität (dazu mehr in IV.2.3.3).
Neben dem Aspekt der ‚Vorteilhaftigkeit’ von Erfindungen wird Poincaré insbesondere mit dem Verständnis der sensomotorischen Konstruktion in Verbindung gebracht. Er ist damit einer der Autoren, mit dessen Arbeiten die biologische Anbindung konstruktivistischer Perspektiven erfolgte. Er zeigt dabei in Abhängigkeit von der Biologie des menschlichen Körpers die Entstehung des Raumes. Nach ihm gilt, dass das „>>Motorium<< durch willkürliche Bewegungen Veränderungen im >>Sensorium<< erzeugt, deren Bezugsetzung zu den Aktionen des Motoriums die >>Errechnung<< eines Raumes gestattet“ (von Foerster 1994, S. 140; auch von Foerster 1995a, S. 49 in Anlehnung an Poincaré 1895). Beide Augen sowie deren Bewegung sind demnach notwendig, um einen Raum zu erschaffen. Größe und Umfang, als zwei Eigenschaften von Körpern in der Welt, hängen damit von unseren sensorischen Bedingungen ab (vgl. Poincaré 1895, S. 633). 87
Die Veränderung von Eigenschaften beobachteter Objekte, also Größe, Form und Position, lässt nach Poincaré Bewegung und damit Zeit entstehen (vgl. Poincaré 1895, S. 636). Sie ist damit – wie schon bei Vico – ein Konstrukt des Individuums oder seiner Sensomotorik. Allerdings erreicht Poincaré mit seinen Beschreibungen weit mehr als Kant und Vico, nach seinen Äußerungen kann er nun erklären, wie das Individuum Raum und Zeit konstruiert. Die von Poincaré gelieferten Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung beziehen sich zum Teil auf die Eigenschaften der Konstruktionen. Die bei Kant als relationalen Konstrukte eingeführte Zeit und der Raum entstehen nach Poincaré auf Grund der sensomotorischen Beschaffenheit des Individuums und sind nur Konstrukte. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
Zeit und Raum als Konstrukt (durch Sensomotorik).
Zudem beschreibt Poincaré als erster, wie die Konstruktion von Raum, Zeit und Erfahrungen entstehen. Durch Bewegung (Motorik) treffen Veränderungen auf die Sensorik, so dass Erfahrung entsteht. Diese Beschreibung der Art und Weise wie Konstruktionen entstehen wird den Relationen zugeordnet, woraus folgende Zusammenstellung entsteht. x
Wahrnehmung sind durch Motorium erzeugte Veränderungen im Sensorium.
IV.2.1.5
Die Erfindung von Erklärung – Anthropologische Einflüsse
Gregory Bateson ist der vorletzte Autor aus den Reihen der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven. Als Anthropologe untersuchte er die Grundlagen des menschlichen Erkennens intensiver, als es von den bisher zitierten Autoren der Fachdisziplinen von Mathematik, Rhetorik oder Philosophie erwartet werden kann. Von großer Bedeutung sind neben der Subjektivität und Konstruktion auch das Lernen 0, I, II, III. Diese Lernstufen werden jedoch erst im Rahmen der Diskussion zur Selbstverstärkung (vgl. IV.3.1.1) und zum intra-individuellen Lock-In thematisiert (vgl. IV.4.1.1).
Seine Beiträge zu einer konstruktivistischen Perspektive werden einerseits in seinen Meta-Logen deutlich, deren Art an die dialogischen Schriften von Sokrates und Platon erinnern. In diesen Gesprächen zwischen Personen geht es zum Beispiel über die Subjektivität von Ordnung (vgl. Bateson 1996, 32 ff.). Ein Vater erklärt dazu seinem Kind, dass jeder Mensch ein eigenes Verständnis von Ordnung über Dinge in seinem Wirkungsbereich habe. So würde die Einordnung eines Objektes im Kinderzimmer durch den Vater nicht zwangsläufig auf eine 88
Akzeptanz bei Kind führen, welches möglicherweise eine grundsätzlich andere Ordnung bevorzugen würde. Auch lässt Bateson in den Meta-Logen Personen über die Erfindung von Erklärungsprinzipien diskutieren (vgl. dazu von Foerster 1994, S. 143). Unter Erklärungsprinzipien oder Gesetzen versteht Bateson - in Anlehnung an die subjektive Ordnung im vorherigen Beispiel - einen ‚Common Sense’. Erklärungsprinzipien sind das, was alle wollen und eben nicht das, was keiner will (vgl. von Foerster 1995a, S. 32). Somit ist Ordnung nach Bateson eine subjektive Konstruktion, aus der Gesetze durch einen Common Sense entstehen. Zu guter Letzt lässt Bateson noch Personen über die Unkalkulierbarkeit von Individuen diskutieren, wonach ein Prognose z.B. der subjektiven Ordnung Unmöglich ist (vgl. Bateson 1996, S. 60ff). Somit setzen sich Individuen über den Common Sense oft hinweg und folgen ihrer eigenen Ordnung. Unsicherheit wird zu einem entscheidenden Merkmal des Individuums. Aus diesem Grundverständnis von Subjektivität (Ordnung), Erschaffung (Erklärungsprinzipien) und Unsicherheit (Unkalkulierbarkeit) entwickelte Bateson in seiner späteren Arbeit über Form und Substanz die Konstruktion der Wirklichkeit. Dort schreibt er: „daß der Geist die Bilder schafft, die >>wir<< dann sehen“ (Bateson 1996, S. 595). Sinn der Bilder und auch Inhalte werden nach Bateson damit auf Basis einer inneren Verarbeitung erst erschaffen und nicht nur ‚wahrgenommen’. Hieraus folgerte von Foerster: „Gregory Bateson ist in Konstruktivist“ (von Foerster 1995a, S. 33). Allerdings spitzt Bateson die Konstruktionsleistung des Individuums noch weiter zu, indem er ihr ein Gewohnheitsverhalten unterstellt. Sprache, Kunst, Technologie und auch andere Medien sind durch eingefahrene Wege von Wahrnehmungsgewohnheiten strukturiert (vgl. Bateson 1996, S. 233). Dieser Gewohnheitsaspekt wird später noch einmal bei der Diskussion der Selbstverstärkung aufgegriffen. Ein für die individuelle Konstruktion ebenfalls wichtiger Beitrag stammt aus den Arbeiten über die ‚double binds’ oder Doppelbindungen zwischen Individuen. Der ‚double bind’ entspricht einer Beziehung zwischen zwei Personen die durch Widersprüchlichkeit geprägt ist (vgl. Bateson 1996, S. 391). So kann in einer Beziehung zwischen Mutter und Tochter die Muter zwar das Ausgehen verbal erlauben, aber nonverbal – z.B. durch Mimik und Stimmlage – ihren Missmut darüber äußern (vgl. Howe & von Foerster 1975, S. 2). Hier liegt eine paradoxe, in sich widersprüchliche Kommunikation in der Beziehung zwischen zwei Personen vor (vgl. Bateson et al. 1956). In diesen Doppelbindungen (als paradoxe Kommunikation) sieht Bateson den Ursprung für pathogene Strukturen. Deren Lösung erfolgt nach Bateson, indem die Perspektiven der Kommunikation von den Beteiligten nebeneinander gestellt werden (vgl. dazu Penn 1982, S. 198) – Bateson kann also als ein Kernautor der systemischen Thera89
pie angesehen werden. Für die individuelle Konstruktion ist aus dem ‚double bind’ zu entnehmen, dass die Kommunikation verbal sowie nonverbal erfolgt und sich Anteile der Kommunikation widersprechen können.
Zusammenfassend können aus den Meta-Logen von Bateson drei Beiträge über die individuelle Konstruktionsbildung als Faktoren und damit Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen übernommen werden. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
Subjektivität,
x
Erschaffung von Erklärungen,
x
Unkalkulierbarkeit von Individuen.
Aus den weiteren Arbeiten von Bateson können jedoch auch zwei wesentliche Beiträge über die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen extrahiert werden. Dazu zählt erstens seine Erklärung, dass nicht ‚Wahrnehmung’ erfolgt, sondern der ‚Geist’ an der Konstruktion dessen was wahrgenommen wird beteiligt ist. Zweitens zählt dazu das Paradoxon von Kommunikation, dass verbal und nonverbal anderes kommuniziert werden kann. Dies ergibt folgende Zusammenstellung: x
Nicht Wahrnehmung, sondern Geist erschafft Bilder aus Sensorik,
x
Paradoxe Kommunikation zwischen verbal und nonverbal.
IV.2.1.6
Konstruktion und Gegenstand – Die Entwicklungspsychologie
Als letzte Arbeit im Bereich der Anfänge konstruktivistischen Denkens werden die zentralen Begriffe von dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget analysiert. Seine weitreichenden Grundlagen sind viel zitiert worden von den Autoren radikalkonstruktivistischer Perspektive. Dies hatte bei einigen der oben zitierten Zusammenfassungen zum Kategorisierung der ‚Tradition von Piaget’ geführt. Vertreter konstruktivistischer Perspektiven wie von Glasersfeld (1984, 1994, 1995) oder Raskin (2002) stellen seine Arbeiten als fundamentale Beiträge über konstruktivistische Lernprozesse dar. Interessant ist, dass die Einordnung von Jean Piaget zu konstruktivistischen Perspektiven nicht ohne Widerspruch erfolgt. In einigen Arbeiten mit einer kritischen Haltung gegenüber konstruktivistischen Perspektiven wird Piaget selbst als Realist eingestuft und seine Ergebnisse vor diesem Hintergrund verwendet (vgl. Anderson et al. 1998). Seine Arbeiten würden eine
90
Nähe zum Informationsverarbeitungsparadigma aufweisen und beschäftigen sich mit kognitiven Lernprozessen. Andere Autoren sehen in seiner Haltung weder eine realistische, noch eine radikalkonstruktivistische Perspektive. Gerade durch die zeitweise Nähe zum realistischen Paradigma der Informationsverarbeitung (durch sein Vokabular der Adaptivität von Erfahrung) bei gleichzeitiger Einführung von konstruktivistischem Vokabular wird sein Ansatz von anderen Autoren daher als ‚konstruktivistische Perspektive’ beschrieben - ohne den Zusatz ‚radikal’ zu verwenden (vgl. Seiler 1994, S. 82, 90). Abgesehen von einer historisch ‚korrekten’ Einordnung der Arbeiten von Jean Piaget sind die Einflüsse auf radikalkonstruktivistische Perspektiven und deren Beiträge zum Thema der individuellen Konstruktion nicht bestreitbar. Ernst von Glasersfeld widmet Piaget sogar ein eigenes Kapitel in einem seiner zentralen Werke. Daher erfolgt auch hier eine kurze Analyse seiner wichtigsten Beiträge zum Begriff der Konstruktion und den Begriffspaaren Gegenstand und Identität, Paradoxie und Ordnung sowie Zeit und Raum. Die Prozessbeschreibungen von Assimilation, Akkommodation und Äquilibration werden erst später im Rahmen der Diskussion zur Selbstverstärkung (vgl. IV.3.1.1) und zum intra-individuellen Lock-In thematisiert (vgl. IV.4.1.1). Seine Stadientheorie ist für die konstruktivistischen Perspektiven nicht von Bedeutung.
Piaget knüpfte im Kern bei Kant daran an, dass „Wissen […] durch die Art des Wahrnehmens und Denkens des Wissenden bestimmt ist“ (von Glasersfeld 1994, S. 19). Intelligenz organisiert demnach die Welt, in dem es sich selbst organisiert (vgl. von Glasersfeld 1984). Piaget untersuchte zur Gewinnung dieser Perspektive vor allem Kinder. Die Kreation des Weltbildes von Kindern entsteht durch wiederholte Wechselwirkung zwischen Sehen, Tasten und Fühlen sowie motorischen Aktivitäten zur Bewegung. Die motorischen Aktivitäten (Augenbewegung, Verschiebung von Gegenständen usf.) erzeugen Veränderungen in der Sensorik (Sehen), was zur Bildung von Konstruktionen führt (vgl. von Foerster 1994, S. 141). Dies entspricht der sensomotorischen Konstruktion, wie sie bereits durch Poincaré eingeführt wurde. Das Kind konstruiert durch seine Aktivität also langsam die Welt (vgl. Piaget 2003b, S. 155). Die Wechselwirkung zwischen Sehen, Tasten und Fühlen bezeichnet dabei, dass nicht nur Bilder (Sehen) die Grundlage für Konstruktionen sind, sondern z.B. auch das Gefühl (Tasten) eine zusätzliche Quelle für den Input darstellt. Konstruktionen hängen damit also von Bildern, Gefühl und Tasten ab – Geschmack und Geruch werden in diesem Zusammenhang von Piaget nicht erwähnt. 91
Ergebnisse der kindlichen, sensomotorischen Konstruktion sind Unterscheidungen und Koordination im Wahrnehmungsfeld (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 23 aus Piaget 2003b). Unterscheidungen sind kognitive Objekte, die eine gewählte Handhabung erlauben: „se laisse faire“ (Piaget 1970, S. 35). Über die wahre Beschaffenheit ist daher keine Aussage möglich, sondern nur über die Möglichkeit. Diese Objekte werden auch als Gegenstand bezeichnet, was Piaget als sensomotorische ‚Konstruktionsanleitung’ definiert. Alle Gegenstände sind durch den Beobachter re-präsentierbar. Sie können imaginär vorgestellt und durch die Sensomotorik bestätigt werden (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 23). Diese Gegenstände müssen jedoch - um Gegenstände sein zu können - eine gewisse Konstanz aufweisen. Sie müssen also erstens im Wahrnehmungsfeld wieder auftauchen können und zweitens muss eine Erinnerung an diese Gegenstände zur Identifizierung möglich sein. Dies nennt Piaget die ‚individuelle Identität’ von Gegenständen. Sie wird kreiert aus der Reflexion „über
Verschiedenheit
und
Gleichheit
durch
Vergleich
zwischen
aktuellen
Erfahrungen/Wahrnehmungen und Vorstellungen von Gegenständen“ (von Glasersfeld 1994, S. 25).
Insbesondere das Denken in Bildern der individuellen Identität – kombiniert mit entwickelten, „motorischen Schemata“ (Piaget 2003b, S. 37) – führt dazu, dass Kinder „teilweise empfundene, teilweise formulierte, viel mehr angedeutete als herausgearbeitete Verbindungen“ (Piaget 2003b, S. 37) zwischen Konstruktionen haben. Kinder gehen bei ihrer Konstruktion also nicht systematisch und deduktiv vor. Sie versuchen nicht Widersprüche oder Paradoxien zu vermeiden, sondern lassen diese nebeneinander stehen und begnügen sich mit ‚motorischen Schemata’ in Bezug auf deren Umgang (vgl. Piaget 2003b, S. 36). Die Frage nach der Widerspruchsfreiheit einer Logik entwickelt sich nach Piaget erst später im Erwachsenenalter. So schließt Piaget zusammenfassend, dass die kindliche Haltung durch „Handlung und das Träumen geprägt ist“ (Piaget 2003b, S. 36). Die Ordnungsbildung innerhalb der paradoxen Konstruktionen wird nach Piaget durch die Sprache angeregt. Die Trennung zwischen Subjekt, Verb und Prädikat führt das Denken dazu, dem Subjekt eine Eigenaktivität und unterscheidende Eigenschaft zuzusprechen. Dies führt zu der Illusion „als ob das Subjekt etwas anderes als die Summe seiner Aktionen und die Summe seiner Eigenschaften wäre“ (Piaget 2003b, S. 223). Im Erwachsenenalter sind die Konstruktionen dann geordnet als Summe kausaler Konnexionen, die durch die eigene Sensomotorik und die Übernahme von Ideen anderer erzeugt wurden (Piaget 2003b, S. 148). 92
Auch Piaget geht in seinen Arbeiten auf die zwei grundlegenden Konstruktionen von Raum und Zeit separat ein. Die von Kant eingeführte und als a priori gültige Zeit verstand Piaget wie Vico nur als Konstruktion (vgl. von Glasersfeld 1996a). Piaget entwickelte diesbezüglich die Vorstellung, dass Zeit weder eine a priori gültige (im Universum festgelegt) noch eine angeborene, relationale Struktur des Beobachters ist (vgl. von Glasersfeld 1996a, S. 2). Sie entsteht durch den ‚Reifungsprozess’ selbst, was Piaget als ‚dynamischen Kantianismus’ bezeichnete (vgl. Fatke 2003, S. 14). Zeit und auch Raum und Kausalität sind damit in den ersten Kindesjahren entwickelte Konstrukte (vgl. Piaget 2003c, S. 47), die in der Jugend und im Erwachsenenalter den weiteren Konstrukten ‚aufgezwungen’ werden.
Die Analyse der von Piaget eingeführten Begriffe oder Begriffspaare führt zu einer Reihe von Beiträgen über Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen. Als erster bezeichnete er dabei ein Verständnis, was individuelle Konstruktionen überhaupt sind – oder beinhalten. Aus seinen Beiträgen kann folgende Zusammenstellung zu den Faktoren gebildet werden, die im Konstruktionsprozess ein Bedeutung haben: x
Unterscheidungen im Sensorischen Feld sind kognitive Objekte,
x
Kognitive Objekte sind imaginär vorstellbar,
x
Kognitive Objekte haben individuelle Identität (Konstanz/Erinnerung),
x
Veränderung durch Vergleiche festgestellt,
x
Paradoxie zwischen Konstruktionen ist natürlich,
x
Logik ist Konstrukt (entsteht durch Sprache und Kausalität im Reifeprozess),
x
Kausalität, Zeit und Raum sind Konstrukte (entstehen im Reifeprozess).
Insbesondere das von Piaget eingeführte Verständnis von Zeit, Raum und Kausalität als Konstruktionen hat jedoch auch Auswirkungen auf die Art und Weise wie Konstruktionen mit Bezug auf die oben genannten Faktoren gebildet werden. Daher werden diese Begriffe auch in der Zusammenstellung zu den Relationen aufgeführt. Mit seiner detaillierten Beschreibung der Konstruktionsleistung des Kindes über die reine Sensomotorik hinaus, kann folgende Zusammenstellung seiner Beiträge angeführt werden: x
Konstruktionen geprägt durch Wahrnehmen und Denken,
x
Konstruktionen durch Sensomotorik hergestellt,
x
Wechselwirkung von Sehen, Tasten und Fühlen, 93
x
Vergleich von Wahrnehmung/Erfahrung und Sensorik,
x
Durch Sprache können Konstruktionen von anderen übernommen werden,
x
Kausalität, Zeit und Raum werden auf vorhandene Konstruktionen angewendet.
IV.2.2
Prägungen aus der Theorie persönlicher Konstrukte
Im vorhergehenden Unterkapitel wurden die Anfänge des Denkens in konstruktivistischen Perspektiven analysiert. Neben den frühen griechischen Prägungen lieferten Autoren aus vielen verschiedenen Fachdisziplinen ihre Beiträge zu einem konstruktivistischen Menschenbild. Darunter waren Philosophie, Mathematik, Anthropologie und die Psychologie. Erst rund 30 Jahre nach Jean Piaget wird die Entwicklung eines konstruktivistischen Menschenbildes fortgeführt. Obgleich der Autor George Kelly – Mathematiker und Physiker, später Soziologe – in seinen Arbeiten nicht auf die genannten Anfänge konstruktivistischen Denkens eingeht, liefert er doch einen großen Beitrag über die Art und Weise wie Konstruktionen gebildet werden64. Die Einordnung von George Kelly’s Theorie der persönlichen Konstrukte zu den konstruktivistischen Perspektiven wird in einigen Arbeiten nicht gerne gesehen. Seine Theorie prägte er selbst besonders durch seine Metapher65: „man-the-scientist” (Kelly 1991, S. 4, im Original abweichend formatiert). Auf Grund dieser Metapher wird Kelly auch als Vertreter einer kognitivistischen Perspektive angesehen, mit der er dem Informationsverarbeitungsparadigma zugeordnet wird. Zulässig erscheint diese Zuordnung vor allem dann, wenn in Anlehnung an Kelly’s Metapher Wissenschaft vor dem Hintergrund eines realistischen Paradigmas verstanden wird (vgl. Raskin 2002). Kelly unterstützt diese Zuordnung auch weiter, wenn er in einigen Kapitel seines zentralen Werkes die ‚Welt’ beschreibt. Für ihn gilt sie als Ereignisstrom (vgl. Kelly 1991, S. 3) und es können ‚Dinge’ in ihr betrachtet werden (vgl. Kelly 1991, S. 4). Bei beiden Aussagen geht Kelly anscheinend von einer Präsenz der Welt aus, die betrachtet werden kann – dies sind nach Ansicht dieser Arbeit auch eher realistische oder relativistische Positionen (vgl. dazu auch Kelly 1991, S. 6, 16f.). 64
65
94
Seine Perspektive hat in der Wirtschaftswissenschaft eine strittige Diskussion über die Wirkung von Konstrukten in der Wahrnehmung des Wettbewerbsumfeldes ausgelöst (vgl. hierzu Porac et al. 1989; Daniels et al. 1994; Hodgkinson & Johnson 1994; Hodgkinson et al. 1996; Daniels et al. 2002; Hodgkinson 2002). Hauptunterschiede in den Untersuchungen bildet der Fokus auf die Konstruktion des organisationalen Feldes (vgl. DiMaggio & Powell 1983) gegenüber der intra-organisationalen Replikation. Die primäre Analyse erfolgte zumeist auf Basis der ‚repertory grid analysis’ (vgl. Daniels et al. 1994). Diese Metapher ist in rezitierender Literatur auch geschlechts-unspezifisch zu finden als ‚person-as-scientist’ (vgl. Raskin 2002).
Das ‚Handbook of Cognitive-Behavioral Therapies’ (vgl. Neimeyer & Raskin 2001) bestätigt trotz vereinzelter Widerstände66 eine Eingliederung zum Konstruktivismus. Begründet wird dies durch die Gefangenheit der Person in ihrem eigenen ideosynkratischen Netz der persönlichen Meinungen (vgl. Raskin 2002). Hierbei wird Soziales nicht negiert, in der Bedeutung aber geschmälert. Zu erkennen ist eine konstruktivistische Position auch in Bezug auf weitere Ausführungen von Kelly über die Handlung des Individuums. Diese sei eine Reaktion auf die eigene Repräsentation der Welt und nicht eine Reaktion auf die Welt selbst (vgl. Kelly 1991, S. 8). Das Individuum kann diese Repräsentationen der Welt mit alternativen Konstruktionen austauschen und dysfunktionale Konstruktionen verändern (vgl. Kelly 1991, S. 8). Radikalkonstruktivistische Perspektiven greifen insbesondere auf diese Äußerungen über ein konstruierendes System zurück (vgl. z.B. von Glasersfeld 1990). Auf die zentralen Beiträge in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung, wird nun eingegangen. Zu diesen zählen neben der Einführung eines konstruierenden Systems – mit Interpretation, Erwartung und Wiederholung – auch die Zirkularität, Veränderbarkeit und das Selbst-Bild.
Der Kern der Theorie persönlicher Konstrukte - und als philosophische Position die Grundlage des ‚constructive alternativism’ (vgl. Kelly 1991, S. 14) – liegt in der Unendlichkeit der Möglichkeiten wahrgenommene Umstände zu konstruieren (vgl. Kelly 1991, S. 14). Dies geschieht durch das Individuum als ein konstruierendes System, welches persönliche ‚Konstrukte’ abspeichert (vgl. Kelly 1991, S. 8f.). Unter ‚Konstrukt’ versteht Kelly folgendes: „a representation of the universe […] erected by a living creature and then tested against the reality of that universe“ (Kelly 1991, S. 12). Konstrukte sind also eine Repräsentation, die durch ein Individuum aufgestellt und an der ‚Realität’ getestet wurde. Dieses ‚Ausprobieren’ erzeugt ein Ergebnis, welches dann interpretiert werden muss. Genau diese Interpretation der Ereignisse eines ausprobierten Konstruktes ist dann für jede Person verschieden (vgl. Kelly 1991, S. 55, 12). Jede Person verknüpft ihre Interpretationen anders (vgl. Kelly 1991, S. 56), woraus ein System von einer endlichen Zahl von dichotomen oder kontrastierenden Konstrukten je Individuum entsteht (vgl. Kelly 1991, S. 59). Die Konstrukte werden miteinander verknüpft, was zumeist in hierarchischen konstruierten Dimensionen erfolgt, welche sich auch widersprechen können (vgl. Kelly 1991, S. 83). Wichtig ist, dass das Individuum zwar vielerlei dichotome Konstrukte kennen kann, jedoch die Wahl hat, auf welchen es seine Handlung aufbaut (vgl. 66
Widerstand gegen die Einordnung von Kelly’s Arbeiten zu konstruktivistischen Perspektiven gab es insbesondere von der Vorsitzenden des Centers für Personal Construct Psychology (vgl. Fransella 1995).
95
Kelly 1991, S. 64). Intersubjektivität entsteht, wenn sehr ähnliche Konstrukte von Erfahrungen bei zwei Individuen vorliegen und diese sich darauf basierend ähnlich verhalten (vgl. Kelly 1991, S. 90). Die durch das Individuum abgespeicherten Konstrukte verwendet es zur Bildung von Erwartungen (vgl. Kelly 1991, S. 46). Das Individuum handelt demnach nicht im Sinne einer Reaktion auf die Welt, sondern es reagiert auf seine eigene Repräsentation der Welt (vgl. Kelly 1991, S. 8). Diese Erwartungen oder Vorhersagen sind in ihrer Reichweite aber beschränkt (vgl. Kelly 1991, S. 68). Erwartungen bilden jedoch die Grundlage um Handlungen durchzuführen. Eine Bestätigung der Konstrukte und der daraus getroffenen Erwartungen wird durch erzeugt, dass neue Erfahrungen als Wiederholungen der Konstrukte interpretiert werden (vgl. Kelly 1991, S. 50). Die Wiederholungen müssen dabei nicht exakt sein, sondern nur als Wiederholung interpretiert werden – die von Kelly bezeichneten ‚replicative aspects’ (vgl. Kelly 1991, S. 53). Die Wiederholungen führen dazu, dass die Person immer neue, aber begrenzte Interpretationen abspeichert (vgl. Kelly 1991, S. 72, 77).
Konstrukte werden also dazu verwendet Geschehen zu interpretieren, aber auch um Vorherzusagen zu treffen, welche die Handlung beeinflussen. Aus diesen Handlungen entsteht Geschehen, welches wiederum interpretiert wird (vgl. Kelly 1991, S. 13). Eine Zirkularität wird hierin erkennbar, die Kelly jedoch nur in einem Beispiel aufgreift und daraus keine weiteren Folgerungen ableitet. Dieses Beispiel lautet wie folgt: Ein Nachbar bewirft seines Nachbarn Hundes mit Steinen. Das sieht der Besitzer und blufft den Steinewerfer an, der aus diesem Ereignis eine Feindseligkeit des Hundebesitzers ihm gegenüber interpretiert. Als der Steinewerfer am nächsten Morgen freundlich den Hundebesitzer begrüßt und dieser mit Erinnerung an die Wurfgeschosse auf sein liebstes Tier nicht auf den Gruß reagiert, sieht der Steinewerfer die Feindseligkeit des Hundebesitzer ihm gegenüber bestätigt. Mit diesem Beispiel mach Kelly deutlich, dass Konstrukte (Abneigung gegen Hunde) verwendet werden, um Handlung (Wurfgeschosse) durch Vorhersagen (Wurfgeschoss ärgert Hund) zu beeinflussen und um Erfahrenes (Bluff des Nachbarn) zu interpretieren (Abneigung des Nachbars). Das ganze Leben ist nach Kelly ein Prozess (vgl. Kelly 1991, S. 52), der durch stetiges Verhalten (also Handlungen) gekennzeichnet ist (vgl. Kelly 1991, S. 48).
96
Neben dem konstruierenden System, mit seiner die Handlung und Interpretation beeinflussenden Erwartungsbildung, geht Kelly auch auf die Veränderbarkeit und Stabilität von Konstruktionen ein. Durch die Wiederholungen von Ereignissen und die immer anstehende Interpretation dieser deutet Kelly bereits die Korrekturfähigkeit von Konstruktionen an. Die Veränderung jedes angelegten Konstruktes oder dessen Verknüpfung zu anderen Konstrukten wird durch die kontinuierliche Gegenüberstellung mit den wahrgenommenen Umständen erreicht (vgl. Kelly 1991, S. 9). Je öfter ein Konstrukt verwendet wird, desto öfter besteht die Möglichkeit zur Revidierung. Dagegen unterliegen Konstrukte, die selten benutzt werden, weniger häufig der Möglichkeit einer Revision (vgl. Kelly 1991, S. 13). Kelly geht davon aus, dass es ‚bessere’ Konstrukte gibt als andere, die der Realität also eher entsprechen (vgl. Kelly 1991, S. 15). Für Kelly ist die Veränderung von Konstruktionen eine kreative und freie Leistung, die das Individuum durchführen kann: „all of our present interpretations of the universe [are] subject to revision or replacement“ (Kelly 1991, S. 15; im Original ohne Einfügung). Auch sein Ansatz zur Überwindung der Konstrukte – die ‚fixed role therapy’ – arbeitet mit dieser kreativen Freiheit67. Prinzipiell gilt für Kelly diese kreative Freiheit zur Veränderung von Konstrukten für alle Konstrukte. Einen Unterschied trifft er jedoch zwischen Konstruktionen und zwar grenzt er allgemeine Konstruktionen von Konstrukten über das ‚Selbst’ ab. Bei diesen Konstrukten über das ‚Selbst’ geht er davon aus, dass das Selbst-Bild - trotz eigentlicher Selbst-Konstruktion – vom Individuum als ‚ungefilterte Wahrheit’ akzeptiert wird (vgl. Raskin 2002, S. 4). Hieraus entsteht eine Zwanghaftigkeit. Allerdings kann das Individuum auch diese Zwanghaftigkeit lösen, wenn es sich aus seinen selbst auferlegten Fesseln befreit und sein Leben rekonstruiert (vgl. Kelly 1991, S. 21).
In den Arbeiten von Kelly sind einige Beiträge in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung zu extrahieren. Ähnlich wie Piaget ging Kelly in seinen Studien detailliert auf den Inhalt von Konstruktionen ein, welche das konstruierende System aus der Umwelt erschafft. Folgende Zusammenstellung kann daher für die Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) erstellt werden: x 67
Konstrukte beschreiben durch Handlung getestete Möglichkeiten,
Bei seinem Ansatz zur Überwindung der Konstrukte berücksichtigt Kelly weder die von ihm angedeutete Rekursivität, noch das von ihm selbst als ungefilterte Wahrheit beschriebene Selbst-Bild. Eine kurze Diskussion erfolgt bei dem Aspekt des Wandels von Konstruktionen (vgl. IV.4.1.2).
97
x
Konstrukte sind hierarchisch verknüpft, in erfundenen Dimensionen sortiert und können sich widersprechen,
x
Individuum reagiert auf Konstrukte nicht auf Welt,
x
Freie, kreative Korrektur von Konstruktionen möglich,
x
Individuum sieht sein Selbst-Konstruktion als ‚ungefilterte Wahrheit’ an.
Der weitaus größere Beitrag, welchen Kelly mit seinen Arbeiten in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung geliefert hat, liegt in der Beschreibung der Art und Weise wie Konstruktionen entstehen. Er führte Handlung, Interpretation und Erwartungen ein. Dies werden sich als wesentliche Merkmale im Prozess der Entstehung individueller Pfade herausstellen. x
Individuum speichert persönliche Konstrukte,
x
Konstrukte durch Handlung getestete Möglichkeiten,
x
Interpretation von Erlebtem,
x
Aus abgespeicherten Konstrukten werden Erwartungen gebildet – Individuum reagiert auf Konstrukte nicht auf Welt,
x
Erwartungen sind Grundlage für Handlungen,
x
Nicht exakte Ereignisse, die als Wiederholung interpretiert werden, bestätigen Konstrukte,
x IV.2.3
Zirkularität von Konstrukten auf Handlung und Interpretation.
Zentrale Elemente radikalkonstruktivistischer Perspektiven
In dem vorherigen Unterkapitel über George Kelly, den frühen Mathematiker und Physiker, sowie späteren Soziologen, wurden bereits wichtige Beiträge im Hinblick auf die Beschreibung der Art und Weise von Konstruktionen extrahiert. Handlung, Interpretation und Erwartung sind in seiner Herangehensweise zentrale Aspekte im Konstruktionsprozess. Das nun beginnende Unterkapitel beschäftigt sich mit den Basisbegriffen der Perspektiven, die oft als ‚radikalkonstruktivistisch’ bezeichnet werden. Sie greifen die bisher genannten Aspekte der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven zum Großteil auf und entwickelten darauf basierend eine epistemologische Position. Ihre Beiträge beziehen sich daher in besonderem Maße auf die Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und zum Teil weniger auf die Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) des zu entwickelnden Modells individueller Pfade. Wie in der obigen Analyse über 98
die Zusammenstellung geeigneter Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive dargestellt, wird in diesem Unterkapitel auf die Autoren Humberto Maturana und Francisco Varela sowie Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld eingegangen. Da Humberto Maturana und Francisco Varela einen zentralen Begriff der radikalkonstruktivistischen Perspektiven gemeinsam geprägt haben, werden sie auch in einem Kapitel zu Beginn diskutiert. Heinz von Foerster begann nach der Publikation von Maturana verstärkt mit seinen Beiträgen zum Konstruktivismus und daher werden seine Arbeiten im Anschluss analysiert. Beendet wird dieses Unterkapitel mit der Diskussion der Arbeiten von Ernst von Glasersfeld. Auch seine Publikationen veröffentlichte er hauptsächlich nach den Veröffentlichungen von Maturana und Varela.
IV.2.3.1
Der Beobachter und das Re-Entry – Biologische Impulse
Humberto Maturana, ein chilenischer Neurobiologe und Philosoph, hat zum Teil gemeinsam mit Francisco Varela, einem chilenischen Biologen, zentrale Gedanken radikalkonstruktivistischer Perspektiven erschaffen. Gerne werden sie auch als „die Begründer des radikalen Konstruktivismus“ (Walter-Busch 1996, S. 274) bezeichnet. Ausgangspunkt für ihre Arbeiten war immer die Zurückweisung des Repräsentationalismus bzw. der Abbildtheorie68 aber auch des Solipsismus69 (vgl. Maturana & Varela 1992, S. 133f.; Maturana & Varela 1987, S. 259). So schließen sie aus beiden Extremen auf einen Mittelweg: „the truths one ‘discovers’ vary in accordance with the positioning of the observer, which is always a matter of preference“ (Raskin 2002, S. 9). Da sie jedoch im Prinzip biologische Erkenntnisse für eine konstruktivistische Perspektive verarbeiten, werden ihre Arbeiten von Kritikern gerne als in sich unschlüssig bezeichnet70. Wie jedoch bereits in der eigenen Position einer konstruktivistischen Epistemologie für diese Arbeit begründet wurde, werden die Ergebnisse der Naturwissenschaft als durch unsere Wahrnehmungsfilter konstruierte Konstrukte angesehen – rekursive Konstrukte. Deren Verwendung ist unproblematisch erzeugt aber eine Vorsichtigkeit im Umgang mit den Ergebnissen. 68 69
70
Ursprünge der Abbildtheorie sind z.B. bei Thomas von Aquin zu lesen, der Wahrheit als ‚Passung’ der tatsächlichen Wirklichkeit beschreibt (vgl. Janich 1999). Zur Distanzierung konstruktivistischer Perspektiven von solipsistischen und auch realistischen Positionen wurde bereits in der Auseinandersetzung mit der Kritik an konstruktivistischen Perspektiven ausführlich argumentiert (vgl. IV.1.1). Zur Unschlüssigkeit konstruktivistischer Perspektiven durch die Verwendung naturwissenschaftlicher ‚Erkenntnisse’ wurde bereits in der Auseinandersetzung mit der Kritik an konstruktivistischen Perspektiven ausführlich argumentiert (vgl. IV.1.1).
99
Das Hauptwerk von Maturana selbst ist ‚Die Biologie der Kognition’71, wobei er die zentralen Gedanken dazu an dem 1957 durch Heinz von Foerster gegründeten ‚Biological Computing Laboratory’ (BCL) entwickelte (vgl. Riegler 2005, S. 52). Maturana entwickelte seinen Ansatz der Konstruktion auf Basis der von ihm entwickelten Begriffe wie lebende Systeme, geschlossene Systeme, Beobachter und Konstruktion, Selbst-Interaktion und Interaktion zwischen lebenden Systemen. Auf diese wird nun der Reihe nach eingegangen. Ausgangspunkt für die Analyse von Humberto Maturana ist seine Definition von lebenden Systemen. Lebende Systeme weisen nach ihm vier Eigenschaften auf (vgl. Maturana 1980, S. 9): Erstens sind sie nicht von ihrem Umfeld losgelöst zu verstehen. Zweitens sind sie gekennzeichnet durch Stoffwechsel, Wachstum und interner, molekularer Reproduktion. Drittens ist die Reproduktion ein geschlossener kausaler Kreis, bei dem ‚Evolution’ nur innerhalb dieses internen Kreislaufes wirkt und damit nicht das Fundament der internen Reproduktion verändert. Viertens bestätigt das System immer wieder durch seine Interaktion mit der Umwelt die Unterschiede und damit seine Identität. Ein lebendes System ist also ein selbstreferentielles System (vgl. Maturana 1980, S. 10). Nach Maturana können nun diese lebenden, selbstreferentiellen Systeme nicht in Interaktion treten, wenn Interaktion nicht innerhalb des Systems bereits vorgegeben ist. Maturana folgert aus diesen vier Punkten für das Individuum als lebendes System daher: „Man is a deterministic and relativistic self-referring autonomous system whose life acquires its peculiar dimension through self-consciousness“ (Maturana 1980, S. 57). Bevor Maturana den Aspekt der Bewusstheit aufgreift unterteilt er das lebende System noch einmal in eine Menge einzelner Subsysteme. Einzelne Systeme können sich nach ihm nur durch eine ‚strukturelle Kopplung’ verbinden (vgl. Maturana 1980, S. 23, 41; Maturana & Varela 1987, S. 85; Portele 1994, S. 120). Eine Einheit verschiedener Subsysteme, also das lebende System, wird daher als Einheit zweiter Ordnung bezeichnet (vgl. Raskin 2002, S. 7). Lebende Systeme weisen zum Beispiel in sich geschlossene Nervensysteme auf. Nervensysteme unterscheiden selbst nicht, ob ihre Zustände von innen oder außen angeregt werden, beides ist aber möglich (vgl. Maturana 1980, S. 23). Innerhalb des Nervensystems sind beide Quellen gleichwertig. Hieraus folgert Maturana, dass die Logik eines Systems auch nur innerhalb des jeweiligen Systems gültig ist und nicht in andere Systeme übertragen werden kann. Da Maturana Individuen als lebende Systeme bezeichnete, folgert er aus den vorhergehenden 71
Dies war der zuerst veröffentlichte Report Nr. 9 des Biological Computing Laboratory (BCL), damals unter der Leitung von Heinz von Foerster.
100
Überlegungen auf die Geschlossenheit des Individuums (vgl. Maturana 1980, S. 40; vgl. auch Maturana & Varela 1987, S. 180). Dieser Zustand wird auch als ‚operationale Geschlossenheit’ beschrieben (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 179). Die Bewusstheit ist zentrales Element des Individuums als lebendes System, so dass Maturana das lebende System als Beobachter bezeichnet. Alles Erkennen ist ein Handeln des Erkennenden (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 40) und damit Bestandteil eines kognitiven Systems. Daher folgert er, dass alles was gesagt wird auch nur von einem Beobachter gesagt werden kann (vgl. Maturana 1980, S. 8; vgl. auch Maturana & Varela 1987, S. 148). In der Interaktion72 von Beobachter und Umwelt durch sensomotorische73 Handlung (über das Nervensystem) liegt der Ursprung für die Unterscheidungsfähigkeit des Beobachters. Unterscheidung und damit Beschreibung gelten nach Maturana als die beiden Haupteigenschaften des Beobachters. Der Beobachter ist durch die Unterscheidungsfähigkeit hauptverantwortlich für die Kreation von Entitäten auf Basis von Erfahrung und Bearbeitung der Umweltreaktion auf seine Handlung (vgl. Raskin 2002, S. 7 zu Maturana). Eine Entität kann ein ‚Objekt’ aus der Umwelt, es kann aber auch ein durch den Beobachter geschaffenes Objekt ohne Bezug zur Umwelt sein. Jedes dieser Objekte beinhaltet sofort die um es herum spezifizierte Umwelt – das Milieu (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 85). Denn Objekte werden nur als Abgrenzung zur Umwelt definiert74. Ergänzend zur Perspektive des Beobachters fügt Maturana (1980, S.8) an, dass dieser jedoch im Stande ist das Milieu als separate Entität zu betrachten und mit dieser und dem Objekt separat zu interagieren. Durch die Definition des Beobachters als lebendes System handelt der Beobachter immer in Bezug auf seine eigene Reproduktion (vgl. Maturana 1980, S. 13). Daher ist der Beobachter nach Maturana ein induktiv schließendes Sys-
72
73
74
Interaktion erfolgt nach Maturana immer zwischen Systemen, bzw. einem System mit seiner Umwelt. Da Systeme operational Geschlossen sind, können sie sich nur strukturell mit anderen Systemen oder der Umwelt koppeln und durch die Kopplung angeregt werden. So werden Impulse aus der Umwelt, die mit dem Nervensystem gekoppelt ist, in Impulse innerhalb des Nervensystems durch die strukturelle Kopplung übersetzt. Zum einen spricht Maturana explizit von Interaktion: „relations given as a result of a present interaction“ (Maturana 1980, S. 24). Zudem legt er den Fokus der Konstruktion auf sensomotorische Interaktion mit der Umwelt. Zum anderen äußert er: „'visual handling' of an environment is no handling of an environment, but the establishment of a set of correlations between effector (muscular) and receptor (proprioceptor and visual) surfaces, such that a particular state in the receptor surfaces may cause a particular state in the effector surfaces that brings forth a new state in the receptor surfaces” (Maturana 1980, S. 26). Diesen Prozess beschreibt Maturana mit Varela zusammen durch dessen Nähe zum Münchhausen-Paradox, dass sich ein autopoietisches System „an seinen eigenen Schnürsenkeln emporzieht und sich mittels seiner eigenen Dynamik als unterschiedlich vom umliegenden Milieu konstruiert“ (Maturana & Varela 1987, S. 54).
101
tem, wobei der induktive Schluss durch die Vorhersage auf Basis von Erfahrungen entsteht (vgl. Maturana 1980, S. 27). Aus der Reproduktion lebender Systeme leitet Maturana für Beobachter einen weiteren Aspekt der Konstruktionsfähigkeit ab: Beobachter können mit ihren eigenen inneren Zuständen interagieren. Demnach ist nicht nur die äußere Interaktion mit der Umwelt an der Selbsterhaltung beteiligt. Durch eine rekursive Beobachtung der Interaktionen des Beobachters beginnt er auch mit seinen Konstrukten zu interagieren (vgl. Maturana 1980, S. 14). Der Beobachter wird zum Selbstbeobachter seiner Beobachtung. Hierdurch entsteht das Problem für den Beobachter, was nun durch die Interaktion mit der Umwelt neu hinzugekommen ist und was durch die innere Interaktion bestätigt wurde. Maturana beschreibt eine Chance zur Unterscheidung zwischen interner und externer Interaktion in der Unterscheidungsfähigkeit zwischen der ‚Repräsentation’ von Konstruktionen und ‚Erzeugung’ durch Anregungen des sensorischen Systems (vgl. Maturana 1980, S. 24 f.). Beide – interne und externe Interaktion – bilden nach Maturana die Identität des Beobachters (vgl. Maturana 1980, S. 45). Die Interaktion zwischen kognitiven Systemen (als Teil des Beobachters / lebenden Systems) sieht Maturana durch die Sprache als möglich an. Sie ist der Orientierungsrahmen innerhalb der kognitiven Domäne. Sie kann jedoch nicht benutzt werden um Informationen auszutauschen. Vielmehr dient Sprache dazu, als gemeinsamer Rahmen eine ‚kooperative Domäne’ für kognitive Systeme oder Beobachter zu bilden (vgl. Maturana 1980, S. 57). Bei der Interaktion von kognitiven Systemen (über Sprache) hängt das Verhalten rekursiv vom Verhalten des anderen ab (vgl. Maturana 1980, S. 27). Durch die strukturelle Kopplung der kognitiven Systeme entsteht zwar eine parallele Konstruktion beim hörenden, kognitiven System, diese Konstruktion ist aber vom ersten lebenden System unabhängig, denn sie wurde durch das hörende, kognitive System kreiert (vgl. Maturana 1980, S. 28). Auf Grundlage dieser Interaktion durch Sprache zwischen kognitiven Systemen bezeichnet Maturana auch später den Beobachter als „languaging living system“ (Maturana 2000, S. 149).
Neben diesen hier eingeführten Begriffen, welche Maturana alleine entwickelt hatte, ist der Begriff der Autopoiesis eine Gemeinschaftsleistung von ihm und Francisco Varela. Die Autopoiesis75 wird als ein wesentliches Konzept konstruktivistischer Perspektiven gesehen (vgl. Choe 2005, S. 23). Autopoietische Organisationsformen weisen nach Varela zwei Charakte75
Das Wort stammt aus dem Lateinischen und setzt sich zusammen aus ‚autos’=selbst und ‚poiein’=machen (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 50f.; Choe 2005, S. 23).
102
ristika auf (Varela et al. 1974, S. 188): Erstens handelt es sich um eine rekursive Beteiligung im selben Netzwerk, welches die Komponenten des Systems erschaffen hatte. Zweitens gilt das erschaffende Netzwerk als Einheit in dem Raum der Komponenten. Demnach sind lebende Systeme also selbst-erzeugende / selbst-kreierende / selbst-erhaltende Systeme (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 50; Raskin 2002, S. 7; von Foerster 1994, S. 146). Maturana und Varela begrenzten jedoch die Gültigkeit des Begriffes der Autopoiesis auf bestimmte Systeme. Nach Ihnen ist dieser Begriff auf lebende Systeme zu beschränken und kann nicht auf die Ebene sozialer Systeme übertragen werden (wie dies Luhmann vornahm). In der sozialen Ebene können nur autopoietische Systeme interagieren (vgl. Varela et al. 1974, S. 188, 192; Maturana & Varela 1987, S. 50).
Francisco Varela lieferte neben der gemeinsamen Arbeit mit Humberto Maturana einen wesentlichen Beitrag, indem er das Formenkalkül von Spencer-Brown erweiterte76. Noch vor der Arbeit von Maturana hatte Spencer-Brown ohne biologische Anbindung seine Perspektive formuliert, dass die Erkenntnis des Individuums auf Unterscheidungen zurückgeführt werden können (vgl. Spencer-Brown 1969; zusammenfassend bei Howe & von Foerster 1975). Nach Varela verwendet Spencer-Brown in seinem Formenkalkül die Sprache der Logik, um Sprache zu analysieren (vgl. Varela 1975, S. 6, 20). Spencer-Brown führte die markierten (oder ‚indicated’ / ‚’) und unmarkierten (oder ‚void’ / ‚ ’) Zustände einer Unterscheidung ein. Die Unterscheidung entspricht der Bezeichnung eines (abstrakten) Gegenstandes und beinhaltet dessen Umwelt – dies hatte Maturana ebenfalls aufgegriffen. Francisco Varela erweiterte dieses Formenkalkül, indem er die Autopoiesis als Selbstreferenz einführte (vgl. Varela 1975, S. 5)77. Nach ihm war dies der dritte Zustand im Formenkalkül neben den Zuständen ‚indicated’ und ‚void’. Varela nannte diese Selbstreferenz von Unterscheidungen das autonom entstehende „self-cross“ (Varela 1975, S. 7, oder ‚re-entry’, S. 6) durch ‚self-indication’ (vgl. Varela
76
77
Varela ‚bewunderte’ das Formenkalkül von Spencer Brown als: „deeper than truth“ (Varela 1975, S. 6). Nach ihm ist dort die Logik und Struktur eines jeden Universums enthalten (vgl. Varela 1975, S. 6). Die Grundregeln des Formenkalküls übertrug vor Varela bereits Heinz von Foerster in seine konstruktivistische Position (vgl. von Foerster 1998, im Original 1969; und auch Fußnote 83). Öfters wiederholend beschreibt Varela in dem Artikeln den Kern der Selbstreferenz als „an expression is allowed to re-enter its own indicative space“ (Varela 1975, S. 6 und auch S. 16, 20). Die Idee der Wiedereinführung wurde kurz zuvor im Rahmen der kybernetischen Debatte um ‚Realität als Beschreibung von Beschreibung’ produziert, aber nicht im Kalkül formuliert (vgl. Weston & von Foerster 1973, S. 358).
103
1975, S. 7)78. Als Symbol wählt er ein links oben geöffnetes Viereck ()79. Der ‚re-entry’ bedeutet, dass bei der Grenzziehung der Unterscheidung zwischen Gegenstand und Umwelt die Umwelt in der Grenzziehung enthalten ist. Beobachter und Beobachtetes fallen so nun wieder ineinander. Neben den formalen Beweisen der Gültigkeit seiner Erweiterung in der Sprache des Formenkalküls liefert Varela noch einige Beispiele, worin er die Selbst-Referenz der Unterscheidung deutlich macht. Eines davon ist das System einer einfachen Zelle, die auf der einen Seite Produzent und auf der anderen Seite Produziertes von sich selbst ist (vgl. Varela 1975, S. 20). Der ‚re-entry’ ist nach Varela der Urkern des ‚Henne-Ei-Problems’, welchen er damit auflöst, dass wir diese Selbstreferenzialität eben nicht erfassen können. Das Individuum trennt die Selbstreferenz in eine Sequenz von Handlungen auf (vgl. Varela 1975, S. 20). Mit dieser Veranschaulichung der Zirkularität von Prozessen, die wir als Sequenz in einem Zeitraum betrachten, schließt er auf die autonome Entstehung von Zeit durch die Unterscheidung selbst. Unterscheidungen mit dem ‚re-entry’ bedingen die Entstehung von Zeit (vgl. Varela 1975, S. 20 f.). Durch die Zeit und die gleichzeitige Integration der Unendlichkeit erreicht Varela wieder den Ursprung der selbstbezüglichen Unterscheidung als Natur der Sache. Was hier Varela mit der Unendlichkeit der Rekursion andeutet und als zwei gegenüberliegende Spiegel bezeichnet (vgl. Varela 1975, S. 22), löst Heinz von Foerster (1994) im folgenden Kapitel mit der Einführung von Eigenwerten. Varela schließt seine Formendiskussion mit dem Hinweis, dass gerade die Natur des ‚re-entry’ die unendliche Rekursion von geschlossenen Systemen ist (vgl. Varela 1975, S. 21).
Die hier dargestellten Beiträge von Maturana und Varela führen zu einer weiteren Spezifizierung der Beschreibung Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) in dem zu entwickelnden Modell individueller Pfade. Insbesondere die Unterscheidungen und deren gleichzeitige Integration von Umwelt ergeben neue Implikationen durch Maturana und Varela, aber auch die Einführung des Beobachters als kognitives System. Daher kann folgende Zusammenstellung gegeben werden:
78
79
x
Individuum ist bewusster Beobachter / lebendes, reproduzierendes System,
x
Nervensystem mit kognitivem System nur strukturell gekoppelt,
In dem Werk von Spencer-Brown (1969) ist dies zwar angedeutet, aber – wie er selbst formuliert – nicht weit ausgereift. Dies bildet den Anknüpfungspunkt für Varela. Dies bringen Howe & von Foerster (1975, S. 3) durch ein Beispiel von Varela zur Selbstreferenz mit einer Schlange in Verbindung, die ihren eigenen Schwanz frisst. Im ethischen Sinne ist dies auch als „Calculus of Responsibility“ (Howe & von Foerster 1975, S. 3) zu sehen.
104
x
Nervensystem von innen und außen anzuregen,
x
Nervensystem und kognitives System operational geschlossen,
x
Logik des Systems gilt nur im System selbst / strukturelle Kopplung,
x
Kreiert Entitäten / Unterscheidungen,
x
Entität beinhaltet Umwelt / Milieu / Re-Entry,
x
Individuum kann Umwelt / Milieu als Entität betrachten,
x
Individuum kann unterscheiden zwischen interner und externer Anregung des Nervensystems,
x
Sprache bildet Raum für Interaktion,
x
Zeit entsteht durch die Bildung von selbstbezüglichen Unterscheidungen autonom / Unendlichkeit des Re-Entry.
Bezüglich der Art und Weise wie Konstruktionen entstehen lieferten die beiden Autoren aber auch Impulse. Neben der schon eingeführten sensomotorischen Konstruktion verwenden sie, wie schon Kelly, die Vorhersagefähigkeit als Erwartung, Die Möglichkeit der selbstreferentiellen, internen Verarbeitung von Konstrukten bestärken die Autoren zudem. Eine Liste der Beiträge fasst die obige Diskussion zusammen: x
Erkennen ist Handeln,
x
Sensomotorische Handlung,
x
Kreierte Entitäten entstehen auf Basis von Erfahrung und Umweltreaktion auf Handlung / Selbstbezüglichkeit,
x
Individuum ist induktiv schließend und trifft Vorhersagen,
x
Verhalten hängt von Verhalten der anderen rekursiv ab.
IV.2.3.2
Kodierung und Trivialität – Kybernetik zweiter Ordnung
Im Rahmen der Analyse der Arbeiten von Maturana und Varela konnten einige Beiträge extrahiert werden. Varela lieferte mit der formalen Erklärung des ‚re-entry’ oder eben der Selbstbezüglichkeit von Systemen eine Vorlage für die Diskussionen von Heinz von Foerster. Aber auch Maturana bezog von Foerster in seiner Diskussion mit ein, denn von Maturana übernahm von Foerster das Verständnis des Beobachters als lebendes System. Heinz von Foerster war als Bio-Physiker auf dem Gebiet der Kybernetik aktiv und damals Leiter des von ihm selbst gegründeten BCL. Trotz seiner Vielzahl von Publikationen ist er 105
nicht so einfach in konstruktivistische Perspektiven einzugliedern. Er hat zum Beispiel das Wort ‚Konstruktivismus’ oder andere Derivate kaum verwendet. Ausnahmen bilden ein Vortrag von 1972 mit dem Titel ‚On constructing a reality’ (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 42) und ein Einführungsvortrag von 1995. Bei diesem sprach er über die Selbstbezüglichkeit einer Epistemologie (vgl. von Foerster 1995a, S. 29). Und auch die Zuordnung zur ‚Kybernetik’ fällt schwer, da sich Heinz von Foerster nicht gerne an der Bildung einer allgemein akzeptierten Definition von ‚Kybernetik’ beteiligt (vgl. Pörksen 1998). Für ihn selbst gilt nur: „ich bin ein Wiener, das ist die einzige Zuschreibung und Bestimmung meiner Person, die ich akzeptieren muß“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 43). Aber er summiert selbst zu den vielen verschiedenen Definitionen über den Inhalt der ‚Kybernetik’, dass sich alle Autoren mit einem fundamentalen Grundprinzip beschäftigen – mit Zirkularität (vgl. von Foerster 1995b, S. 3; vgl. auch von Foerster & Pörksen 2001, S. 106). Und da dieses Prinzip der Zirkularität unter dem von ihm bezeichneten selbstreferentiellen Operator auch den Kern seiner Arbeit bildet (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 40; ähnlich von Foerster 1999a, S. 235), wird er in dieser Arbeit als ‚Kybernetiker’ bezeichnet. Seine Beiträge über die Nicht-Existenz von ‚Wahrheit’ oder die Schrecklichkeit der Ontologie80 unterstützen dann zudem die Einordnung seiner Arbeiten als konstruktivistische Perspektive (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 29, 25). In seinem Forschungsprogramm tauchen im Zusammenhang mit der Zirkularität immer wieder die folgenden Begrifflichkeiten auf, die hinsichtlich der konstruktivistischen Perspektive einer näheren Klärung bedürfen: Das Prinzip der undifferenzierten Kodierung in Verbindung mit Sensomotorik, der Beobachter, das Prinzip der zweiten Ordnung, das Paradoxon, die nicht-triviale Maschine in Verbindung mit Kausalität und die Schließung von Systemen. Besonders die Schließung von Systemen macht dabei seine Auffassung einer konstruktivistischen Perspektive deutlich und schließt an sein Verständnis der undifferenzierten Kodierung an.
Die erste Begrifflichkeiten auf der obigen Liste ist das „Prinzip der undifferenzierten Codierung“ (von Foerster 1981, S. 43 ursprünglich aus von Foerster 1973, S. 214f; auch bei von Foerster 1994, S. 138; von Foerster 1995a, S. 41). Dies ist wesentlicher Bestandteil der Theorie von Heinz von Foerster und Ausgangspunkt aller Konstruktion. Es wurde sogar als der
80
Lehre vom wirklich Vorhandenen.
106
Ausgangpunkt für eine kopernikanische Wende81 in der Kognitionsforschung beschrieben (vgl. Riegler 2005, S. 56). Hierin liegt der oben diskutierte Kritikpunkt begründet, dass konstruktivistische Perspektiven durch ‚Erkenntnisse’ aus der Biologie entwickelt wurden. Werden diese jedoch, wie schon bei Maturana und auch bei der epistemologischen Diskussion erwähnt, nur als durch Filter konstruierte Konstrukte verstanden, ist deren Verwendung möglich. Das Prinzip der undifferenzierten Kodierung besagt, dass Informationen aus der Umwelt zum Nervensystem nur durch quantitative Impulse oder „So-und-so viel“ (von Foerster 1994, S. 138; vgl. auch Wiener 1963, S. 176) übertragen werden. In Anlehnung an den Physiologen Johannes Müller und sein ‚Prinzip der spezifischen Nervenenergie’ (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 15) formulierte von Foerster die energetische Differenz – das Potential – zwischen dem Nervensystem und der Umwelt. Durch das Potential von 1/10V setzen sich Anregungen von Nerven als elektrischer Impuls entlang der Nervenfasern fort (vgl. von Foerster 1994, S. 138; so auch von Foerster 1995a, S. 40). Wichtig dabei ist, dass weder die Wellenlänge des Impulses, noch dessen Amplitude moduliert wird. Somit kann nur der ortsabhängige Impuls übertragen werden (vgl. von Foerster 1995a, S. 40). Obwohl damit eine Übertragung qualitativer Informationen aus der Umwelt über das Nervensystem ausgeschlossen ist82, kann das Individuum als Beobachter Aussagen über den Ursprung des Impulses treffen. Dies heißt in anderen Worten, dass der ortsabhängige Impuls im Nervensystem über die Nervenfasern beschreibt, wo er herstammt – von den Augen, den Händen, der Nase oder den Ohren. Das Prinzip der undifferenzierten aber ortsabhängigen Kodierung ergänzt von Foerster mit der Sensomotorik. Der Bewegungsapparat mit seinen ausgestatteten Sinnen erzeugt ununterbrochen eine Wechselwirkung zwischen den Sinnen sowie der Handlung und den Sinnen (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 19). Heinz von Foerster greift bei diesem Verständnis auf die oben eingeführten Arbeiten von Poincaré und Piaget zurück. Die genannte Wechselwirkung liefert Impulse als Basis für die Konstruktionen durch den Beobachter. Sie entsteht entweder durch die Selbstbewegung des Beobachteten, die motorischen Aktionen des Beobach81
82
Die ‚Kopernikanische Wende’ bezeichnet in der Physik den Wechsel vom geozentrischen (Aristotelisch-Ptolemäisch) zum heliozentrischen Kreis-System (Kopernikus) durch die Unterstützung von Galilei (Fernrohrbeobachtungen der Monde um Jupiter) und Keppler (elliptische Umlaufbahnen statt der Kreise von Kopernikus) (vgl. Hawking 1996, S. 16 f.). Als Beispiele nennt er die Akustik, bei der Töne durch den Beobachter berechnet werden - da im Ohr Luftmolekühle aufprallen - und die Farbwahrnehmung, welche in der Retina entsteht (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 16). Das Prinzip wird auch aus der kognitiven Neurobiologie unterstützt, nach der die Farben nicht durch ihre passenden Zapfen im Auge ‚wahrgenommen werden’, sondern deren Wellenlänge nur die Wahrscheinlichkeit der Absorption erhöht (vgl. Roth 1992, S. 287). Damit ist selbst das Farbbild nur eine Errechnung und Hypothesenbildung in einer stark fluktuierenden ‚Welt’ (vgl. Roth 1994, S. 249).
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ters oder die kognitive Vorstellung einer Bewegung. Eine Kombination von zwei oder drei der Varianten ist ebenfalls möglich (vgl. von Foerster 1994, S. 140). Von Foerster greift hiermit auf die imaginäre Bearbeitung – die Identität bei Piaget – zurück. Dasselbe Objekt könne durch die Wechselwirkung nie zweimal wahrgenommen werden. Gleichheit wird nur durch die Sprache erschaffen (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 121). Hierin sieht er die Ursache für die Einzigartigkeit jeder ‚Wahrnehmung’. Im Ergebnis folgert Heinz von Foerster, dass wer durch die „Senso-Motorik >>sieht<<, >>versteht<<, >>begreift<<; das, was entgegenstand […] zum (ent-)Gegenstand“ (von Foerster 1994, S. 154) wird.
Als zweiter Punkt der obigen Begriffsliste wurde das Verständnis des ‚Beobachters’ angeführt. Wie schon durch Maturana beschrieben gilt für ihn, dass ein lebendes System selbstständig und organisatorisch geschlossen ist (vgl. von Foerster 1995a, S. 28). Heinz von Foerster ergänzt in seinen Arbeiten die Beschreibung des Beobachters von Maturana um das dort nicht genannte Formenkalkül der Unterscheidung von George Spencer Brown: „Draw a distinction and a universe comes into being“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 78)83. Er folgert dann für den Beobachter weiter, dass ohne dessen Grundfunktion der Beobachtung nichts mehr existieren würde (vgl. von Foerster 1995b, S. 3). Eine ‚objektive’ Beobachtung ohne den Einfluss des Beobachters gibt es demnach nicht. Fakten84 entsteht durch die Trennung und Benennung von Dingen als Ergebnis der sensomotorischen Konstruktion – Fakten werden daher konstruiert. In den Fragen, welche wir an unser Umfeld richten, sind die Antwortmöglichkeiten durch das ‚re-entry’ bereits enthalten (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 115). Aussagen dagegen bezeugen nur das innere Weltbild: „if we show Mr. X a painting and he calls it obscene, we know a lot about Mr. X but very little about the painting“ (von Foerster 1979, S. 7). Auf Grundlage des Beobachters und dessen Konstruktivität spricht von Foerster also eher von Erfinden als von Erkennen (vgl. von Foerster 1995a, S. 31). Für von Foerster 83
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Neben dieser bei Spencer Brown oft wiederholten Aufforderung, eine Unterscheidung zu treffen (vgl. Simon 1998), extrahiert Heinz von Foerster die beiden elementaren Axiome aus dem Formenkalkül: „The law of calling [… and] The law of crossing“ (von Foerster 1998 , S. 10; Howe & von Foerster 1975, S. 2). Das erste meint, dass eine doppelte Nennung einer Unterscheidung im Wert gleichrangig ist zu einer einfachen Unterscheidung: „to recall is to call“ (von Foerster 1998, S. 10; als Beispiel ist ‚Topf Topf’ nur ein ‚Topf’ im Wert). Mit dem zweiten wird beschrieben, dass eine erneute Unterscheidung einer Unterscheidung nicht zur gleichen Unterscheidung führt, sondern die erste auflöst „to recross is not to cross“ (von Foerster 1998, S. 10). Der Beobachter trifft also Unterscheidungen mit denen er Objekte schafft. Es sei hier erwähnt, dass von Foerster schon in dem Wort ‚Fakt’ an sich der Konstruktivismus deutlich hervortritt, denn Fakt stammt von lateinischen ‚facere’ „und das heißt >>machen<<„ (von Foerster 1994, S. 142).
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gelten daher auch Zahlen, Axiome oder Theoreme ebenso wie philosophische Sätze nur als Erfindungen, was er oft durch die logische Umkehrung von Axiomen und Aussagen diskutiert (vgl. von Foerster 1999a, S. 217 ff.). In seiner Forschung adressiert er daher den Prozess des Konstruierens und möchte sich von der ‚Versachlichung’ der Erkenntnis lösen (vgl. von Foerster 1999a, S. 230). Als direkte Erweiterung zu dem bekannten Satz von Maturana, dass alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird, liefert Heinz von Foerster seine Schlussfolgerung: Alles was gesagt wird, wird zu einem Beobachter gesagt (vgl. von Foerster 1979, S. 5; auch von Foerster 1999a). Dieser Beobachter kann der Beobachter entweder selbst oder ein anderer Beobachter sein, womit sich der Vorwurf des Solipsismus auflöst. Im Wesentlichen erkennt von Foerster in seiner Schlussfolgerung zwei wesentliche zusätzliche Punkte zu dem Satz von Maturana (vgl. von Foerster 1979, S. 5): Erstens ist die Sprache ein wesentlicher Bestandteil zur Bildung von Beobachtungen. Zweitens bilden zwei Beobachter den Nukleus für eine Gesellschaft. Hieraus liest von Foerster, dass aus Sprache Gesellschaft entsteht (vgl. von Foerster 1979, S. 5f.) und Beobachter im Selbst- oder Zwiegespräch Unterscheidungen erschaffen.
Von diesem Beobachter ausgehend erarbeitete Heinz von Foerster das ‚Prinzip der zweiten Ordnung’ als dritter Punkt der obigen Liste: „we do not see that we have a blind spot. In other words, we do not see that we do not see. This I will call a second order deficiency“ (von Foerster 1979, S. 6; von Foerster & Pörksen 2001, S. 115; von Foerster 1995a, S. 35). Diese Beschreibung führt er mit der Rekursivität zusammen und bezeichnet dies als ‚geschlossene Kausalkreise’. Da der Beobachter durch seine eigene Rekursivität seine eigenen blinden Flecken nicht erkennt ist für ihn die Überwindung dieser geschlossenen Kausalkreise zentral: „die Kluft zwischen effektiver und finaler Ursache, zwischen Trieb und Zweck“ (von Foerster 1985b, S. 66). Diese Rekursivität sieht er besonders durch bestimmte Wortgruppen gekennzeichnet, welche er an dem Vorwort des ‚Selbst’ ausmacht85. Wird das Vorwort ‚Selbst’ durch das ihm folgende Hauptwort ersetzt, dann wird die Selbstreferenz in der Sprache noch deutlicher (vgl. von Foerster 1994, S. 135). Nach von Foerster ist dies eine Autologik, also eine Logik der Begriffe, die sich auf sich selbst anwenden lassen – eine Zirkularität oder zweite Ordnung (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 114, 116; von Foerster 1995a, S. 33). 85
Als Beispiele nennt er die Selbst-Organisation als eine Organisation die ihre „Organisation organisiert“ (von Foerster 1994, S. 135) oder das Selbst-Bewusstsein als „Bewusstsein von Bewusstsein“ (von Foerster 1994, S. 135). Ein weiterer Aspekt ist z.B. der des Lernens zu Lernen.
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Der Zusammenhang wird durch zwei Arbeiten im Wesentlichen beschrieben. Eine davon wurde oben bereits zusammengefasst als der ‚calculus of self-reference’ der im Sinne des Formenkalküls argumentiert (vgl. Varela 1975). Die zweite Arbeit beschreibt Realität als Beschreibung von Beschreibung und damit in der Ebene der ‚undifferenzierten Kodierung’ als Verarbeitungen von Verarbeitungen, was somit im ‚calculus of infinite recursions’ endet (vgl. Weston & von Foerster 1973, S. 358). Für eine Erkenntnistheorie bedeutet diese Selbstreferenz, dass diese in der Lage sein müsste, ihre eigene Herkunft zu beschreiben (vgl. von Foerster 1995a, S. 29; von Foerster 1995a), zudem verliert aber der Streit um Realität an Bedeutung (wie oben in der Kritik-Diskussion dargestellt).
Aus dieser Selbstreferenz oder Autologik entsteht eine andere Perspektive auf ein in der Philosophie der Mathematik eher randständig diskutiertes Phänomen: das ‚Paradoxon’ als vierter Punkt der obigen Liste (vgl. Howe & von Foerster 1975, S. 1; von Foerster 1995a, S. 35). So wurde es aus dem ‚Unterhaltungsbereich’ für Gebildete (vgl. Howe & von Foerster 1975, S. 1) und den Fußnoten oder Ausklammerungen mathematischer Regelwerke86 durch von Foerster in das Zentrum seiner Forschung gerückt. Das Beispiel des Lügners beschreibt ein solches logisches Paradox: Ein Lügner, der sagt ‚Ich bin ein Lügner’ stellt die Zuhörer vor die Frage, ob er ein Lügner ist oder nicht. Ist er ein Lügner, dann ist der Satz falsch und damit ist er kein Lügner mehr et vice versa (vgl. Howe & von Foerster 1975, S. 1). Nach von Foerster entsteht bei dem Versuch der Lösung dieses Paradoxon des Lügners im Rahmen der zweiwertigen Logik von Aristoteles ein logisches Problem (vgl. von Foerster 1995a, S. 35)87. Paradoxien, oder Probleme mit Selbstbezüglichkeit, sind nicht durch eine Entweder-Oder Logik wie im Falle des Lügners zu lösen. Lösung für das Problem ist zunächst die Perspektive, dass kausale und unidirektionale Probleme (Ursache Æ Wirkung) als systemisch und zirkulär angesehen werden (vgl. Howe & von Foerster 1975, S. 1). Die bisherige, zweiwertige Logik des Aristoteles als Ausgangspunkt zur Bildung von Konstruktionen ist damit zu verwerfen. Werden Paradoxien als Ausgangspunkt zur Bildung von Konstruktionen akzeptiert, dann ist in ihnen schon eine Selbstbezüglichkeit enthalten – ein ‚vicious circle’ (vgl. Howe & von Foerster 1975, S.
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Heinz von Foerster und auch Varela beziehen sich bei ihren Analysen zumeist auf die Prinzipia Mathematica von Whitehead & Russel (1925). Dafür haben konstruktivistische Perspektiven von Anhängern der binären Operationen als ‚Garant der Klugheit’ Kritik einstecken müssen (vgl. z.B. Bardmann 1994, S. 249).
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1). Die Paradoxien werden dann durch Flip-Flop’s88 zwischen ‚Wahr’ und ‚Falsch’ gelöst (vgl. von Foerster 1998, S. 11).
Nun folgt der fünfte Begriff der obigen Liste und zwar die ‚(nicht-)triviale Maschine’. An dieser Analogie verdeutlicht Heinz von Foerster die Kausalität (triviale Maschine) und auch die Wirkung der Rekursivität (nicht-triviale Maschine). Bei der trivialen Maschine muss eine Ursache eine Wirkung haben und zwischen diesen besteht eine Regel (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 47, 54; auch von Foerster 1995a, S. 43).Im Hempel-Oppenheim Modell wäre dies das Gesetz. Diese ‚triadische Struktur’ entspricht einem Kausalprinzip, nach dem zwei deskriptive Aussagen über Ereignisse verbunden werden können. Diese differenziert er nach den Untergliederungen von Aristoteles ‚Causa finalis’89 und ‚Causa efficiens’90 (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 50). Mit der trivialen Maschine kann dann jeder beliebige Input über die Transformationsregel zu einem Output geleitet werden (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 57). Umgekehrt kann eine triviale Maschine bestimmt werden, denn es genügen endlich viele Beobachtungen des Input und Output, um die Transformationsregel oder das Gesetz zu bestimmen (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 55). Sie ist also „Synthetisch determinierbar [...] Analytisch determinierbar; Vergangenheitsunabhängig [...] Voraussagbar“ (von Foerster 1995a, S. 42). Dieses Prinzip ist für ihn dass Sinnbild des Strebens nach Sicherheit und Basis wissenschaftlichen Denkens. Es hat aber den Effekt der Trivialisierung von Beobachtungen zur Folge, ohne deren Komplexität gerecht zu werden. Zudem wird nicht berücksichtigt, dass die Wirkung die Ursache beeinflusst hat. Heinz von Foerster bezeichnet insbesondere die Schule als Trivialisierungsanstalt, da diese nur Erkenntnisse kausaler Logik lehrt (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 55). Allerdings hat schon Wittgenstein den Glauben an die Kausalität als modernen Aberglauben bezeichnet (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 47). Und dies ist der Grund, warum Heinz von Foerster für die Verdeutlichung der Rekursivität die ‚nicht-triviale Maschine’ heranzieht. Die nicht-triviale Maschine lehnt er an kybernetische Systeme an (vgl. Wiener 1963, S. 166 ff.). In den nicht-trivialen Maschinen ändert sich die innere Struktur oder der innere Zustand 88 89
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Aus der Elektrotechnik und Mechanik übernommenes Bild eines bistabilen Schalters, der immer bei der Ankunft eines Signals dessen Wertigkeit ändert, ad infinitum. Unter ‚causa finalis’ versteht von Foerster, dass eine Ursache heute mittels einer Transformationsregel eine Wirkung in der Zukunft hervorruft (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 50). Unter ‚causa efficiens’ definiert von Foerster, dass ein erwünschtes Ergebnis in der Zukunft heute eine Handlung verursacht (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 50).
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permanent und damit auch die Transformationsregel oder das Gesetz (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 56)91. Das bedeutet, dass ein Input nicht mehr nur zu einem Output führt, sondern den inneren Zustand verändert. Damit führt derselbe Input bei einer nicht-trivialen Maschine immer zu einem anderen Output. Im Ergebnis ist die nicht-triviale Maschine analytisch nicht mehr durch die einfachen Input-Output Vergleiche bestimmbar - bereits bei vier möglichen Ein- und Ausgangssymbolen gibt es 2^8192 (= 10^2466) Möglichkeiten (vgl. von Foerster 1995a, S. 47). Wenn Beobachter oder die Welt also als nicht-triviale Maschine aufgefasst werden, dann ist die Bestimmung der inneren Transformationsregeln ein ‚unendlicher’ Prozess. Dass ein kognitives System als Rückkopplungsmaschine (nicht-triviale Maschine) beschrieben werden kann, verdeutlicht Wiener (1963, S. 145 ff.) an mehreren Beispielen (vgl. auch Portele 1994, S. 105). Heinz von Foerster formuliert aus seinen Analysen die Vermutung: „Die ganze Welt ist, so behaupte ich, eine nichttriviale Maschine“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 57)92. Das hat die Konsequenz zur Folge, dass Unvorhersehbarkeit zur Normalität wird (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 59).
Der letzte Punkt auf der obigen Liste zu den Arbeiten von Heinz von Foerster ist die ‚Geschlossenheit von Systemen’. Dies, so Heinz von Foerster, ist eine Basis für die Erklärung der Existenz von Dyaden, Gruppen oder Gesellschaft trotz der Charakterisierung von Beobachtern als nicht-triviale Maschinen (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 60f.). Dabei bedeutet die Schließung für ihn, dass Individuen auf sich selbst bezogen und autonom sind (vgl. von Foerster 1994, S. 144; auch von Foerster & Pörksen 2001, S. 60). Eine besondere Form der nicht-trivialen Maschine ist somit die ‚geschlossene nicht-triviale Maschine’ (vgl. von Foerster 1995a, S. 49). Bei diesem Design ist der Output des Systems für die nächste Operation der Input (vgl. Choe 2005, S. 22; von Foerster 1995a, S. 44; von Foerster 1985a). Die geschlossene nicht-triviale Maschine entspricht damit der sensomotorischen Konstruktion von Piaget und Poincaré. Mit Beispielen verweist von Foerster zum Thema der Schließung auf kleine Unterschiede. So folgert er im Rahmen einer Analogiebildung aus den Hauptsätzen der Thermodynamik, dass die Energieerhaltung und Entropie bei biologischen Systemen nicht gelten 91
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Das von Heraklit gegebene Beispiel, man könne nicht ‚zweimal in denselben Fluss steigen’, verwendet von Foerster in der geänderten Form nach Kratylus ‚man könne nicht einmal einmal in den selben Fluss steigen’, um die Dynamik dieser nicht-trivialen Maschinen zu spezifizieren (vgl. von Foerster 1995a, S. 42). Diese Behauptung schließt er an die naturwissenschaftlichen Fundamente seiner These für die Geisteswissenschaften an: Gödel’s Unvollständigkeits-Theorem, Heisenberg’s Unschärfe-Relation und Gill’s Unbestimmbarkeits-Prinzip (vgl. von Foerster 1995a, S. 47).
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können93 und diese daher im Prinzip energetisch offene Systeme sind. Aus der Algebra folgert er dann zweitens, dass Operationen an Elementen eines Systems immer wieder nur Elemente des Systems liefern (vgl. von Foerster 1994, S. 146). Und auch bei produktiven Operationen zwischen Elementen entstehen nur Elemente im System (vgl. von Foerster 1994, S. 147). Hierbei gilt, dass eben bestimmte Operationen eine Erweiterung des Systems fördern (z.B. von natürlichen Zahlen über die Subtraktion hin zu ganzen Zahlen). Diese Folgerung schließt an die Autopoiesis der lebenden Systeme an, so dass von Foerster die operationale Geschlossenheit von Denkmustern annimmt – oder organisatorische Schließung (vgl. von Foerster 1994, S. 146; von Foerster & Pörksen 2001, S. 60). Zudem entwickelt er drittens aus der Geschlossenheit von Formalismen einen Lösungsansatz für diese Phänomene, was später in der Diskussion noch einmal auftauchen wird (vgl. IV.4.1.3).
Die durch von Förster eingeführten oder erweiterten Beiträge in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung sind zahlreich. Viele bereits aufgetauchten Begriffe hat er bei seinen Arbeiten zusammengefasst und mit weiteren Erklärungen versehen, so dass der Großteil hiervon bereits bekannt ist. Dennoch soll folgende Zusammenstellung in Bezug zu möglichen Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) für das zu entwickelnde Modell individueller Pfade gegeben werden: x
Beobachter unterscheidet, wobei in Fragen durch den ‚re-entry’ die Antwort enthalten ist,
x
Sprache schafft Unterscheidungen,
x
Das Prinzip der zweiten Ordnung als Rekursivität oder geschlossener Kausalkreis,
x
Paradox als systemisches Problem ist notwendige Grundlage im Denken,
x
Kausalität oder triviale Maschine unterstützt Sicherheitsdenken und ist Basiskonzept,
x
Energetische Offenheit lebender Systeme,
x
Operationale oder organisatorische Geschlossenheit lebender Systeme.
Auch sind aus der Diskussion der Arbeiten von Heinz von Foerster in Bezug auf Beiträge zur Art und Weise wie Konstruktionen entstehen zu extrahieren. Hier sind die Rückbezüge auf Arbeiten zu Poincaré und Piaget sehr deutlich zu erkennen. Das Prinzip der undifferenzierten 93
Als Beispiel wird hier eine Katze gegeben: Lässt man die Haut z.B. als eine geschlossene Hülle wirken, so würde der Satz der Entropie (vergrößernde Unordnung) dazu führen, dass diese Katze keine Katze mehr wäre (vgl. von Foerster 1994, S. 145).
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Kodierung und der Potentialdifferenz oder Impulswahrnehmung erweitert das Verständnis jedoch erheblich. Folgende Zusammenstellung kann daher gegeben werden: x
Prinzip der undifferenzierten Kodierung: quantitative aber ortsabhängige Impulse,
x
Sensomotorik erzeugt Wechselwirkung zwischen den Sinnen sowie der Handlung,
x
Möglichkeit rein-kognitiver Wechselwirkungen,
x
Nicht-triviale Maschine mit Verarbeitung des eigenen Outputs und intern-dynamischen Zuständen ist lebendes System und Welt.
IV.2.3.3
Fit und Viabilität – Kognitionspsychologische Impulse
Die Beiträge Heinz von Foerster’s sind zahlreich und begründeten in erheblichem Maße die radikalkonstruktivistische Perspektive. Insbesondere die Sensomotorik des lebenden Systems hat Ernst von Glasersfeld in seinen Arbeiten zum Verständnis von Bewegung noch weiter ausdifferenziert. Ernst von Glasersfeld war bis zu seiner Emeritierung Professor für kognitive Psychologie und kann als Anhänger von Piaget beschrieben werden (vgl. Portele 1994, S. 107). In einer kompakten Zusammenfassung beschreibt von Glasersfeld seine Perspektive zwar mit einer großen Nähe zum Skeptizismus, versucht aber die feinen Unterschiede herauszukristallisieren (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 17; Portele 1994, S. 108). Er beginnt mit der Verneinung absoluter Wahrheit und verwirft im gleichen Atemzug das Konzept der Objektivität. Wissenschaften beschreibt er nicht als entdeckend, sondern als erfindend. Jedoch streitet er damit aber nicht ab, dass es eine äußere Realität gibt (vgl. von Glasersfeld 1992, S. 30). Aus diesen Grundpositionen folgt somit als Ziel seiner Analysen, ein Verständnis über das Konstruieren zu gewinnen, ohne in den metaphysischen Dialog über die Natur der Wahrheit zu verfallen (vgl. von Glasersfeld 1996a, S. 1). Er schließt daher über die Welt und andere Menschen: „both the world and the others are models that we ourselves construct” (von Glasersfeld 1995b, S. 137) nach Raskin 2002, S. 6). Damit formulierte er die Konstruktivität des Beobachters, welcher Meinungen erschafft die wiederum auf Erfahrungen beruhen (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 137 nach Raskin 2002, S. 7). Neben der Darstellung von Piaget als einen der ersten Autoren mit konstruktivistischer Perspektive (vgl. z.B. von Glasersfeld 1974; von Glasersfeld 1992; von Glasersfeld 1994), rückt er in seinen Beiträgen weitere Basisbegriffe in den Mittelpunkt. Dazu gehören der Fit, die Viabilität, die Konstruktion von Veränderung oder Bewegung und damit Zeit sowie das soziale System.
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Der erste Begriff auf der Liste von Ernst von Glasersfeld Beiträgen ist der des ‚fit’. Dieses Konzept von ihm stammt aus seinen Untersuchungen über Wissen. Wissen definiert er als „Art und Weise, wie wir unsere Erfahrungswelt organisieren“ (von Glasersfeld 1992, S. 30). Er analysiert Wissen hinsichtlich der Unterscheidung zwischen ‚match’ und ‚fit’ oder später bezogen auf ‚adaption’ und ‚adequation’94. Hieran anlehnend beschreibt er sein Verständnis konstruktivistischer Perspektiven über das ‚Zusammenpassen’ von Handlung und Welt entgegen dem ‚Übereinstimmen’ (vgl. z.B. von Glasersfeld 1995a). Informationen über eine tatsächliche Umwelt können nach von Glasersfeld nicht erhalten werden, wodurch er an die vorher genannten geschlossenen Systeme erinnert (vgl. Raskin 2002, S. 8). Wissen versteht von Glasersfeld daher nur als die Erfahrung des Individuums mit der Welt (von Glasersfeld 1981, S. 30), wobei sich diese Erfahrung in Bezug auf einen Zweck als funktionsfähig erweist. Unser Wissen gilt für ihn daher nur als eine Beschreibung (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 51) 95. Zur Veranschaulichung verwendet er die Metapher des Schlüssels: „The fit describes a capacity of the key, not of the lock“ (von Glasersfeld 1984). Wenn ein Schloss zum Beispiel mit einem Dietrich aufgeschlossen wird, dann kann nur eine Aussage über die Funktionsfähigkeit des Dietrichs getroffen werden, nicht aber über das Schloss selbst. Hiermit wird jedes Objekt und selbst Zeit und Raum nur ein Phänomen der Konstruktion96. Im Unterschied zur Evolutionstheorie grenzt von Glasersfeld seinen Begriff des ‘fit’ gegenüber einer möglichen Objektivität oder Nährung an eine absolute Realität ab. Diese wird häufig aus den Darwin’schen Werken wie ‚Survival of the fittest’ durch die Wortsteigerung ‚fit-fitter-fittest’ extrahiert97, aber bei ihm handelt es sich immer nur um Möglichkeiten.
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Die beiden letzteren Konzepte führte er später ein und schreibt dazu: „adaptation does not mean adequation to an external world of things existing-in-themselves, but rather improving the organism’s equilibrium, i.e., its fit, relative to experienced constraints” (von Glasersfeld 1995b, S. 63 nach Raskin 2002, S. 6). Auch Naturgesetze als angebliche Form des Wissens beschreibt von Glasersfeld als „one viable way to a goal that we have chosen under specific circumstances in our experiential world“ (von Glasersfeld 1984). Ebenso sieht er in der Mathematik das Kernzentrum des Spiels der Rationalität, als Sprache verstanden hat sie nicht mehr Aussagekraft als andere Worte über viable Beobachtungen (vgl. von Glasersfeld 1990, S. 24). Wie Ernst von Glasersfeld hier schmunzelnd gegen einige Naturwissenschaftler – insbesondere Physiker – formuliert: „experiencing consciousness creates structure in the flow of its experience” (von Glasersfeld 1984). Daraus wird für diese auf einmal Folgendes unklar: „whether they are discovering laws of nature or whether it is not rather their sophisticated preparation of experimental observations that forces nature into the preconceived hypothesis” (von Glasersfeld 1984). Auf die oben erwähnten kritischen Auseinandersetzungen mit Darwin’s Werk (vgl. Fußnote 55) geht von Glasersfeld leider nicht ein und so kann ihm der Vorwurf einer zu geringen Literaturrecherche gemacht werden. Dieses mindert jedoch nicht die von ihm hier bestätigte Perspektive einer kritischen Evolutionstheorie mit dem Konzept der Homologie.
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Wenn Konstruktionen sich einmal als erfolgreiche Möglichkeit zur Handlung in der Welt herausgestellt haben, dann neigt das Individuum zur Wiederholung. Da Handeln zumeist zielorientiert ist, führt eine einmalige Zielerreichung dazu, dass die Handlung im nächsten Versuch erneut ausprobiert wird. Regelmäßigkeit entsteht dabei durch den Vergleich zweier Umweltzustände als Reaktion auf bestimmte Handlung, die als ‚Gleich’ beurteilt werden, obwohl sie vielleicht nur ‚das Selbe’ widerspiegeln. Erst wenn die Umwelt eine gegenteilige Reaktion aufweist, also sich eine Handlung als nicht funktional erweist, dann wird ein anderer Umgang versucht.
Das zweite Konzept bei von Glasersfeld ist das der ‘Viabilität’, welches er der ‚Validität’ gegenüberstellt (vgl. Raskin 2002, S. 6). Dieses beschreibt er neben dem ‚fit’ dadurch, dass eben unpassende oder nicht funktionale Handlungen und Konstrukte durch die Umwelt ausgegrenzt werden: „the viability of an action shows no more than that the ‘real’ world leaves us room to act in that way“ (von Glasersfeld 1990, S 6; von Glasersfeld 1984). Dies bedeutet, dass ein blinder Wanderer, der durch einen Wald gelangt kein Bild vom Wald hat, sondern von einer praktikablen Möglichkeit hindurchzugelangen (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 9). Viabilität bezeichnet damit eine Brauchbarkeit oder Funktionalität (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 12; von Glasersfeld 1981, S. 21). Auch dieses Prinzip ist nach Ernst von Glasersfeld bereits in der Evolutionstheorie enthalten, jedoch wurde es dort genau wie der Ausdruck ‘fit’ bisher nur anders verstanden. Ausgehend von den drei Mechanismen der Variation, der natürlichen Auslese und der Anpassung, ist das Prinzip der Auslese bisher im Sinne von künstlicher Zuchtwahl (im Sinne der Verbesserung ausgewählter Eigenschaften) verstanden worden (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 14). Im Rahmen seiner Interpretation schließt Viabilität als Auslesemechanismus niemals die Überlegenheit ein, sondern lässt die Möglichkeit zu – eine Begründung der Artenvielfalt. In der biologischen Evolution existiert daher kein aussortierender Druck der ‚Welt’ im Sinne der Bestleistung, sondern hinsichtlich einer Möglichkeit des Überlebens (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 14). Bei von Glasersfeld liest die ‚Evolution’ „nicht im positiven Sinn das Widerstandsfähigste, Tüchtigste, Beste oder Wahrste aus, sondern funktioniert negativ, indem sie all das, was der Prüfung nicht standhält, eben untergehen läßt” (von Glasersfeld 1981, S. 21, 20; auch von Glasersfeld 1995a, S. 15). Um den Bogen zum Wissen zu schließen, greift von Glasersfeld auf Piaget (1926) zurück, nach dem sich die ‚Intelligenz’ ihre Welt selbst organisiert und da-
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bei nach dem Prinzip der Funktionalität oder Viabilität funktioniert (vgl. von Glasersfeld 1990).
Das dritte Konzept der obigen Liste zu von Glasersfeld umfasst die Beschreibung der Konstruktion von Veränderung oder Bewegung, aus der eine eigene Zeit konstruiert wird. Ausgangspunkt ist dabei die Speicherung von ‚Frames’98, wobei ein Frame mit sehr kurzer Belichtungsdauer keine Veränderung und damit auch keine Bewegung darstellen kann (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 80). Für die Konstruktion von Veränderung benötigt der Beobachter zwei ‚Frames’, in denen er mindestens ein Charakteristikum des beobachteten ‚Objekts’ als veränderlich anerkennt (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 80) – also Farbe, Größe, Ort oder anderes. Den Rest der möglichen Charakteristika hält der Beobachter im Sinne der ‚object permanence’99 konstant (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 85). Den zweiten ‚Frame’, den der Beobachter nun konstruiert, kontrastiert dieser mit dem ersten, repräsentierten ‚Frame’ und stellt Veränderung fest, oder nicht. Bewegung kommt in diesem Bild jedoch nicht zustande, wenn nur der Ort gewechselt hat, also z.B. der Hintergrund eines Objektes. Bewegung entsteht dann, wenn in einem dritten ‚Frame’ ein beliebig entferntes Ziel konstruiert wird, wohin sich das Objekt bewegen soll (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 83). Durch Erwartung und zulässige Veränderung entsteht also Bewegung. Zudem entsteht durch die Erwartung einer gewissen ‚object permanence’ oder Gleichheit und gleichzeitiger Erlaubnis von Veränderung die Möglichkeit, dass sich etwas als stabil angenommenes verändert - Perturbation (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 86). Das Raum- und Zeit-Konzept, welches von Glasersfeld über die Bewegung entwickelt, kann an die Aussagen von Vico geknüpft werden. Von Glasersfeld definiert Raum und Zeit als konstruierte, aber relative Begriffe des Beobachters, in denen dieser alle ‚Arrangements’ einordnet (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 114; von Glasersfeld 1990, S. 20). Wie diese Zeit konstruiert wird, unterscheidet er aber gegenüber dem Ansatz von Vico und Piaget, denn sie entstehen nach ihm nicht automatisch durch die Wahrnehmung von Bewegung oder Veränderung. Er erklärt den direkten Bezug zwischen Zeit und Bewegung als irreführend. Er erinnert dabei an die Geschwindigkeit von Filmprojektoren, welche zwar zwischen 24 und 30 Bildern 98 99
Frames entsprechen Standbildern und sind aus der Videobearbeitung übertragen. Die Standhaftigkeit von Objekten wird an die Beobachtungen der „continuity of a tracking movement“ (von Glasersfeld 1995b, S. 85) angelehnt, bei der Kinder ein hinter einer Blende verschwundenes Objekt an der anderen Seite wider erwarten.
117
pro Sekunde zeigen, die flüssige Bewegung aber nur durch die Langsamkeit des Nervensystems bzw. der Augen entsteht. Zeit entsteht nach von Glasersfeld daher über sensomotorische Erfahrung und mentalen Operationen (vgl. von Glasersfeld 1996a, S. 4). Beispielhaft führt er auch einen Versuch mit Kindern an, bei dem diese eine Objektbewegung bis zu einem Schirm verfolgten und erwarteten, dass das Objekt wieder hervortrat. Er sieht dieses Beispiel der Erwartungsbildung als den deutlichen Beleg für eine sensomotorische Kontinuität ohne ‚reale’ Existenz von Zeit. Von Glasersfeld entwickelt in diesem Zusammenhang den Begriff der ‚kognitiven Konstanz’ von Objekten (bei Piaget war es die kognitive Identität). Nach von Glasersfeld liegen die in den obigen ‚Frames’ beobachteten Objekte in einem künstlichen ‚ProtoRaum’ und werden über die ‚Proto-Zeit’ als unveränderlich mitgeführt (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 26). Die ‚Proto-Zeit’ markiert die Mitführung von Ereignissen oder Objekten in einem künstlichen ‚Proto-Raum’ über die Zeitpunkte des eigenen Erlebens. Die ‚Proto-Zeit’ läuft also parallel zum Erleben. In dem Moment, in dem die konstruierte Kontinuität im ‚Proto-Raum’ an die aktuelle Erfahrung gebunden wird, entsteht reale Zeit durch den Einbezug von gespeicherter Erfahrung.
Abschließend als viertes Konzept der obigen Liste behandelt von Glasersfeld auch das soziale System. In diesem ist die Sprache der Weg, soziale Realität zu konstruieren. Das Selbst des Anderen wird dadurch konstruiert, dass die eigene Erfahrung auf das Gegenüber übertragen wird und zum Teil Anpassungen bei der Übertragung erfolgen (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 22). Dabei können die einzelnen Beobachter durch ihre Geschlossenheit die anderen jeweils nur stören oder perturbieren und dadurch ermöglichen, dass der andere selbst „den Unterschied, der einen Unterschied macht [...], herstellt“ (Portele 1994, S. 114). Jeder erschafft dabei eigene Bedeutungen für Worte aus Elementen der eigenen Erfahrung, welche durch soziale Interaktion jedoch ähnlich sein (vgl. von Glasersfeld 1996b, S. 357) und verändert werden kann (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 137). Geteilte Erfahrungen gibt es nach ihm nicht, sondern nur kompatible (vgl. Portele 1994, S. 115). Von Glasersfeld geht davon aus, dass Kommunikation dabei nicht perfekt stattfindet (vgl. Raskin 2002, S. 8). Da in der Sprache Gleichzeitigkeit nur als Sequenz dargestellt werden kann, unterliegt Sprache selbst schon Restriktionen (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 35).
Von Glasersfeld hat insbesondere Beiträge in Bezug auf die individuelle Konstruktionsbildung durch weitere Aspekte hinsichtlich der Beschreibung über die Eigenschaften des Indivi118
duums oder seiner Konstrukte (Faktoren) geliefert. Die Funktionalität als Auswahlkriterium und das Verständnis von Zeit durch die Verbindung zum Erlebten, erweitern das bisherige Verständnis der Konstruktionen. Auf Grundlage der obigen Diskussion kann folgende Zusammenstellung gegeben werden: x
Fit : Konstruktionen passen zur Welt als Möglichkeit,
x
Viabilität: Konstrukte sind Brauchbarkeit oder nicht,
x
Proto-Zeit und Proto-Raum als konstruierte Kontinuität parallel zum Erleben,
x
Zeit entsteht durch Verbindung von Proto-Zeit und Proto-Raum mit Erleben,
x
Sprache als Basis für soziale Konstruktion.
Einige der Aussagen bei von Glasersfeld liefern aber auch wesentliche Beiträge zur Beschreibung der Art und Weise wie Konstruktionen entstehen. Dazu zählt zum Beispiel die Erwartungsbildung zur Feststellung von Bewegung, aber auch die Repräsentation von Konstrukten. Für seine Beiträge zu den möglichen Relationen im Modell individueller Pfade kann folgende Zusammenstellung gegeben werden: x
Wiederholung desselben führt zur Beurteilung von ‚Gleichheit’,
x
Konstanz oder Veränderung durch Vergleich von Konstrukten und deren Charakteristika,
x
Mentale Repräsentation von Konstrukten,
x
Bewegung durch Erwartung von Ziel und Veränderung von Charakteristika,
x
Lebende Systeme sind geschlossen und können sich gegenseitig nur perturbieren.
IV.2.4
Gemäßigte, konstruktivistische Perspektiven
Das vorherige Unterkapitel wurde mit der Diskussion der Beiträge durch Erst von Glasersfeld beendet. Zum Teil integrierte Ernst von Glasersfeld Begriffe aus vorhergehenden Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive und zum Teil führte er neue Begriffe, wie das der Viabilität, ein. Insbesondere die Diskussion um den Zeitbegriff sticht dabei heraus, wenn die Arbeiten von Kant, Vico, Piaget und von Glasersfeld verglichen werden. In diesem letzten Unterkapitel der Analyse von zentralen Beiträgen in Bezug auf die Konstruktionsbildung von Individuen folgt nun eine Darstellung der gemäßigten Perspektiven. Auch diese werden hinsichtlich ihrer Beiträge zu Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktio119
nen entstehen) für das zu entwickelnde Modell individueller Pfade analysiert. Der Beitrag dieser Arbeiten wird besonders daran deutlich, dass eine Übertragung des in der Psychologie bekannten Konstruktes des ‚Unbewussten’ in konstruktivistische Perspektiven erfolgt. Zunächst wird eine Darstellung des psychoanalytischen Konstruktivismus von Klaus-Jürgen Bruder gegeben, welcher aus Ausgangspunkt für die gemäßigte Perspektive seines Schülers Choe angesehen werden kann. Dessen zentrale Beiträge werden dann als gemäßigte Perspektive anschließend eingeführt.
IV.2.4.1
Das Unbewusstsein – Ansätze aus der Psychoanalyse
Klaus-Jürgen Bruder, ein Tiefenpsychologe mit psychoanalytischem Schwerpunkt, kann als einer der deutschen Hauptvertreter des psychoanalytischen Konstruktivismus gesehen werden. Er sieht die Ursprünge für seine Denkweise in der Psychologie von Alfred Adler (vgl. Bruder 2004a; Bruder 1996). Dieser hatte sich von der Freud’schen Lehre der Psychoanalyse distanziert (vgl. Asendorpf 1999, S. 15). Grund dafür war insbesondere die Wertigkeit des Minderwertigkeitsgefühls gegenüber dem Trieb. Neben dieser Distanz vom Freud’schen Triebbegriff integrierte Klaus-Jürgen Bruder stärker konstruktivistische Elemente unter Beibehaltung zentraler Konzepte. Er argumentierte insbesondere gegen die essentialistischen Fundamente in der Psychoanalyse (vgl. Choe 2005, S. 41). Vertreter dieser essentialistischen Perspektive gehen davon aus, dass die im Rahmen der Psychoanalyse ‚identifizierten’ Persönlichkeitsanteile ‚wahr’ sind und daran kein Zweifel besteht. Da nach Bruder alle Aussagen des psychologischen Diskurses über die Psyche aber nur durch die Forschung ‚konstituiert’ werden (vgl. Bruder 1993, S. 7), sieht er die Freud’schen Begriffe vom Unbewussten, Über-Ich, ÖdipusKomplex, Introjektion usw. nur als Konstruktion und nicht als ‚Wahrheit’ (vgl. Choe 2005, S. 41 aus Bruder 2003, S. 2484). Zentrale Beiträgen für konstruktivistische Perspektiven sind von ihm seine Arbeiten zum Unbewussten, zum Aspekt der Macht und zum Sprechen.
Klaus-Jürgen Bruder verwendet anerkannte Begriffe aus der Psychologie, versteht diese aber als Beschreibung von Konstrukten und nicht von ‚realen’ und fixen Persönlichkeitseigenschaften. Damit stellt er nicht die Funktionalität der Verwendung solcher Begriffe in Frage, sondern er bezweifelt z.B. die ‚Existenz’ eines ‚real vorhandenen Über-Ichs’. Insbesondere der Begriff des Unbewussten ist für ihn der Hauptkritikpunkt an Fundamenten der heutigen Humanwissenschaften (vgl. Bruder 2003, S. 2503 ff.). Er sieht in dem Unbewussten einen Begriff der funktional ist zur Beschreibung einer nicht bewussten Konstruktion oder Handlung. 120
Er schloss sich in seinen Argumentationen daher Alfred Adler an, der auch schon von dem Freud’schen Verständnis der Psychoanalyse abstand nahm (Bruder 2003, S. 2483). Adler verstand unter einem Neurotiker, dass dieser nicht aus seinen Fiktionen entweichen kann, da er durch seine eigenen Konstruktionen gefesselt ist (vgl. Choe 2005, S. 42). Für die Psychoanalyse folgerte Adler daher, ihre Aufgabe sei es dem Neurotiker die ‚Fesseln von seinen Konstruktionen’ zu lösen (vgl. Bruder 2003, S. 2495). Nach ihm sei es dagegen nicht das Ziel, einen Neurotiker auf Grund von Konstruktionen besser klassifizieren zu können. Das Unbewusste ist nach Adler damit ein Teil des sonst bewussten Beobachters, welcher nicht von ihm beobachtet wird. Dennoch kann der unbewusste Teil des Beobachters beobachtet werden und wird damit bewusst. Die Einführung des Unbewusstseins in konstruktivistische Perspektiven wird auch als eine ‚Kränkung’ bisheriger konstruktivistischer Perspektiven bezeichnet (vgl. Reich 1998, S. 358 ff.). Macht und damit Ungleichheit spielen im Rahmen der konstruktivistischen Perspektive von Adler eine sehr große Rolle. Das Individuum führt im Rahmen von Gesellschaft stetig Vergleiche mit anderen durch und erzeugt damit in sich das Konstrukt der Ungleichheit (vgl. Bruder 2004a, S. 115). Das durch Adler hauptsächlich angesprochene Minderwertigkeitsgefühl wird durch Machtpositionen versucht vom Individuum auszugleichen. Dadurch wirkt die Freud’sche Aussage der Beherrschung von Aggressivität durch Macht als zivilisatorische Aufgabe genau kontraproduktiv: Aggressivität (durch den Ausgleich der Minderwertigkeit durch Machtpositionen) wird geschürt (vgl. Choe 2005, S. 44 nach Bruder 2004b, S. 170, 182). Das Sprechen gilt nach Bruder als das Hauptmedium in der Psychoanalyse, welches nach seiner Ansicht zweideutig ist. Auf der einen Seite steht die Aussage, mit der Psychoanalytiker arbeiten müssen. Auf der anderen Seite ist das Sprechen durch die Begegnung mit anderen Individuen – dem Psychoanalytiker oder auch im sozialen Umfeld – durch Selbsttäuschung, Selbstschutz und Irrtum zu charakterisieren (vgl. Bruder 2003, S. 2490). Diese drei Aspekte von Selbsttäuschung, Selbstschutz und Irrtum können auch als Treiber für Verhalten angesehen werden.
Die drei Begriffe, welche Bruder in seinen Arbeiten diskutiert, liefern vier wichtige Beiträge als Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) in dem zu entwickelnden Modell individueller Pfad. Beiträge zu der Art und Weise wie Konstruktio-
121
nen entstehen, können aus den diskutierten Arbeiten nicht entnommen werden. Folgende Zusammenstellung kann daher zu Bruder gegeben werden: x
Unbewusstsein,
x
Minderwertigkeitsüberwindung durch Machtstreben als Treiber von Verhalten,
x
Sprechen als Medium,
x
Verhalten wegen Begegnung mit Anderen von Selbsttäuschung, Selbstschutz und Irrtum getrieben.
IV.2.4.2
Erkennen und Erschaffen – Eine gemäßigte Perspektive
Hoyoung Choe ist ein Schüler von Bruder und hat im Rahmen seiner Dissertation (2005) eine gemäßigte, konstruktivistische Perspektive entworfen. Ein zentraler Punkt der Kritik von Choe an Arbeiten mit einer radikalkonstruktivistischen Perspektive ist, dass diese die Entwicklung eines nicht-metaphysischen Realismus nicht unterstützt haben (vgl. Choe 2005, S. 57). Choe selbst beschreitet aber genau diesen Weg und erarbeitet eine Verbindung zwischen der Konstruktivität von Wissen und der Objektivität. Er sieht Erfinden neben Entdecken (vgl. Choe 2005, S. 58). Choe weist in seiner Dissertation darauf hin, dass er jedoch nur diesen Punkt der möglichen Verbindung von Konstruktivität und Objektivität herausstellen möchte und keine neue epistemologische Position entwickelt hat (vgl. Choe 2005, S. 58). Daher wird auch hier nur auf seine zentralen Beiträge eingegangen, an denen Choe den Unterschied seiner Perspektive zu den radikalen Perspektiven aufzeigt. Er beschäftigte sich vor allem mit der Existenz von Entitäten, dem Entdecken neben dem Erfinden, der Verwerfung von Viabilität und Autopoiesis sowie mit der Nicht-Steuerbarkeit.
Ein erster zentraler Aspekt von Choe’s Arbeit ist seine Diskussion über die ‚Existenz’ von Entitäten. Insbesondere von Foerster hatte mit seiner radikalkonstruktivistischen Perspektiven eine Beantwortung dieser Frage auf Grund ihres metaphysischen Charakters ausgeschlossen. Choe strebte jedoch eine Beantwortung dieser Frage an und knüpfte seine Antwort zur ‚Existenz’ von Entitäten bei Carnap (1950, S. 73) an. Dieser gliederte eine ähnliche Frage in zwei Aspekte: Erstens die interne Frage innerhalb eines sprachlichen Rahmens über die interne Existenz der Entität und zweitens die Frage über die externe Existenz der Entität, außerhalb des sprachlichen Rahmens (vgl. Choe 2005, S. 59). Durch diese Differenzierung kann Choe über systeminterne und systemexterne Existenz sprechen. Als Folge dieser Unterscheidung er-
122
gibt sich für Choe, dass Fragen über interne Realität oder Existenz durchaus mit wissenschaftlichen Methoden (im Wissenschaftssystem) oder Alltagswissen (im All-Tag System) beantwortet werden können. Die Frage über externe ‚Existenz’ von Entitäten ist jedoch auch für ihn metaphysischer Natur. Realität heißt für Choe daher nur: „to be an element of the system“ (Choe 2005, S. 59, aus Carnap 1975, S. 73). Choe verschiebt durch diese Differenzierung den Realitätsbegriff nicht wie von Foerster in ein metaphysisches Vokabular, sondern lässt ihn als Teil des systeminternen Diskurses bestehen. Auf Grund der Existenz mehrerer Bezugssysteme sind die Realität und auch ‚Wahrheit’ für ihn relative Begriffe. Die Übertragbarkeit von Aussagen – welche innerhalb eines Systems gelten – auf die externe Welt, ist nach Choe möglich. Nach ihm entspricht jede ‚wahre’ Aussage innerhalb eines Systems einem „Weltteil oder -zustand“ (Choe 2005, S. 65). Es können also systeminterne Wahrheiten auf das externe System gespiegelt werden, gelten aber nur als Teilbeschreibung eines Zustandes. Mit dieser Grundlage der Relativität grenzt Choe sich gegenüber den anderen konstruktivistischen Perspektiven ab. Er argumentiert, dass jedes System seinen eigenen Ursprung für die Entstehung von Wissen definiert und daher jede genannte Determinante eine der Möglichkeitsbedingungen für die Entstehung von Wissen ist. Er zählt dazu folgende Systeme auf: Nervensysteme, unsere Sprache (narrative oder metaphorische Aspekte), Diskurs, Diskursarten und -regeln, soziale Konventionen, soziale Verhandlungen (vgl. Choe 2005, S. 81f.). Auf der Basis der Relativität von ‚Realität’ und ‚Wahrheit’ führt Choe die folgende Parallelität ein: Für ihn ist der oben eingeführte Satz des ‚Erfindens neben dem Entdecken’ eine notwendige Konsequenz seiner relativistischen Position (vgl. Choe 2005, S. 58). Er definiert diesen Umstand wie folgt: „wir die Bedingungen erfinden, unter denen wir Realität entdecken“ (Choe 2005, S. 84). Die Konstruktivität der Bedingung wird somit akzeptiert, während dann innerhalb dieses Systems Wissen entdeckt und als eine Variante übertragen werden kann. Durch diese Relativität ist es möglich, die Abkehr von allem ‚Wissen’ aus den radikalkonstruktivistischen Perspektiven zu revidieren und Wissen an dessen Bezugssystem zu binden. Damit wird Deskription und auch Erklärung innerhalb des Rahmenwerkes möglich (vgl. Choe 2005, S. 96).
Die logische Folgerung aus diesem differenzierten Verständnis von Relativität des Wissens müsste eigentlich das Konzept der Viabilität als funktionale Beschreibung von Möglichkeiten in der externen Welt unterstützen. Choe grenzt sich jedoch von diesem ab. Zwar ist die Viabilität ebenfalls ein Versuch, eine durch die Umwelt erlaubte Variante des Verhaltens als eine 123
Möglichkeit in der Realität anzuerkennen. Jedoch ist die Übertragung des Begriffes auf empirische Forschung für ihn nur schwer möglich (vgl. Choe 2005, S. 101). Er führt einen Verweis auf die ‚phänomenale Wirklichkeit’ aus dem psychologischen Diskurs an. Hierbei gelten Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung (wie die Sinne) nur als Ergebnis eines spezifischen Weltbildes. In diesem sind sie real. Physikalische Ergebnisse über elektromagnetische Felder beschreiben andere Realitäten innerhalb der Physik, die jedoch selbst wiederum auf Basis von Konstruktionen entstanden sind und unseren Sinnen entgleiten. Dennoch, so der Diskurs, hat die Betrachtung der Landschaft (also Sinne und Physik) einen höheren Wirklichkeitsgrad als die Betrachtung des Bildes. Ergebnisse der sinnlichen Wahrnehmung und physikalische Ergebnisse weisen damit auf die Landschaft hin, während jedes Ergebnis einzeln nur ein Bild davon ist. Mit dieser Position arbeitet Choe dann ohne Begründung des eingeführten ‚Wirklichkeitsgrades’ weiter. Jedoch wurde durch den Begriff der Viabilität bei von Glasersfeld eben diese Annäherung an ‚Wirklichkeit’ - nach Choe entspräche dies einer Annäherung an die systemexternen Entitäten - bezweifelt. Auch die eigene Differenzierung von Choe zwischen systeminterner Realität und systemexterner Realität, wobei Choe letztere als metaphysisch Frage einordnet, unterstützt gerade nicht die Möglichkeit einer Annäherung. Aus diesem Grund kann Choe’s Kritik an der Viabilität nur als ein Versuch gewertet werden, an einer ‚Erkenntnismöglichkeit’ der systemexternen Realität festzuhalten. Für diese Arbeit ist die metaphysische Position gegenüber dieser Frage jedoch in ihrer Argumentation schlüssiger. Neben einer Ablehnung der Viabilität verfolgt Choe auch die Ablehnung des zentralen Konzeptes der Autopoiesis von Maturana. Dieser hatte in seinen Arbeiten mit Varela – wie oben dargestellt – erklärt, dass Lebewesen als autopoietische Systeme zu verstehen sind (vgl. Choe 2005, S. 111). Das Erklärungsverfahren, auf dem das Konstrukt der Autopoiesis aufbaut, ist nach Choe aber eine naturwissenschaftliche Herangehensweise (vgl. Choe 2005, S. 109), wobei durch Beobachtungen das Phänomen entsteht (vgl. Choe 2005, S. 111). Entgegen der Haltung eines Kritischen Realismus müsste die Bezeichnung von Maturana und Varela jedoch nur ein Name für ein Verhalten sein und keine Gesetzmäßigkeit darstellen, wie diese es jedoch formulieren. Die Autoren gebrauchen ihren Begriff als ‚Eigenschaft’ nach Choe mit ‚Interaktion’ synonym und gehen gar von einem Determinismus in diesem Zusammenhang aus (vgl. Choe 2005, S.113). Wird nach Choe der Begriff ‚Eigenschaft’ im Sinne der Disposition durch Eigenschaft auf Basis von Struktur verstanden, dann ist die Eigenschaft zwar die Ursache für das Verhalten, es wird aber keine Aussage über die ‚Wahrheit’ des Systems getroffen
124
(vgl. Choe 2005, S. 117). Die Autonomie, welche bei Maturana auf vier verschiedene Weisen100 mit der Autopoiesis zusammenhängt (vgl. Choe 2005, S. 150), sieht der Autor ähnlich ungeklärt, wie Varela es später selbst beschreibt (vgl. Choe 2005, S. 153). Interessanterweise grenzt hier Choe selbst die Autopoiesis als Konstrukt ab und erkennt die Gesetzmäßigkeit nicht an, sieht aber in der Viabilität, die nur Mögliches erfasst, ein Problem und tauscht es gegen Wirklichkeitsgrade aus. Bei einer stringenten Argumentation wäre sein Ergebnis zur Autopoiesis auch auf seinen eigenen ‚Wirklichkeitsgrad’ als Begriff übertragbar und damit keine Gesetzmäßigkeit.
Als letzten Begriff der Abgrenzung von Choe’s Arbeit gegenüber radikalkonstruktivistischen Perspektiven ist die Nicht-Steuerbarkeit zu erwähnen. Nach Maturana galten strukturdeterminierte Systeme als nicht steuerbar (vgl. Choe 2005, S. 142). Nach Choe’s Interpretation kann aber von Steuerbarkeit gesprochen werden, sofern nichts darüber gesagt wird, was innerhalb des Systems passiert (vgl. Choe 2005, S.143). Wenn jedoch nicht gesagt werden kann, was innerhalb eines Systems passiert, dann kann auch das Ziel des Systems nicht bestimmt werden. Wie Choe es vorschlägt, dennoch von einer Steuerbarkeit zu sprechen, ist in dem Zusammenhang der wahrscheinlichen Zielabweichung problematisch. Es könnte von einer Beeinflussbarkeit gesprochen werden, aber genau hierum geht es Maturana ja, wenn er die Nicht-Steuerbarkeit anführt. Aus diesem Grund wird der Kritikpunkt im Rahmen dieser Arbeit nicht übernommen.
Die von Choe diskutierten Begriffe liefern eine Reihe von zusätzlichen Informationen über das Individuum als Beobachter und seine Konstrukte. Außer den beiden Punkten zur Viabilität und zur Nicht-Steuerbarkeit sind alle seine Anregungen in der folgenden Liste für mögliche Faktoren im Modell individueller Pfade übernommen worden: x
Relativität: Systeminterne (z.B. Sprache) Realität und systemexterne Zustandsbeschreibung,
x
Systeminternes Wissen kann durch Nervensysteme, Sprache, Diskurs, Diskursarten und -regeln, soziale Konventionen und soziale Verhandlungen entstehen,
x 100
Erfinden von Systemen um Realitäten zu entdecken,
Nach Choe schreibt Maturana davon, dass 1) sich Autonomie aus der autopoietischen Organisation ergibt, 2) Autopoiesis eine Bedingung für Autonomie ist, 3) Autopoiesis Lebewesen zu autonomen Systemen macht und 4) Autopoiesis Lebewesen als autonom kennzeichnet (vgl. Choe 2005, S. 150f.).
125
x IV.2.5
Autopoiesis ist keine Gesetzmäßigkeit sondern nur systeminternes Merkmal.
Grafische Modellentwicklung in Anlehnung an die Literaturdiskussion
In den vorherigen vier Unterkapiteln (vgl. IV.2.1 – IV.2.4) wurden die Anfänge konstruktivistischer Perspektiven, die Theorie der persönlichen Konstrukte, die radikalkonstruktivistischen Perspektiven sowie die gemäßigten Perspektiven analysiert. Alle Beiträge wurden dabei als mögliche Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) für das zu entwickelnde Modell individueller Pfade zusammengestellt. Zu jeder diskutierten Perspektive wurden für die möglichen Faktoren und Relationen Listen gebildet, welche die zentralen Punkte zusammenfassen. Um aus diesen verschiedenen Nennungen ein grafisches Modell individueller Pfade erstellen zu können, werden nun zunächst aus den Nennungen zu den Eigenschaften des Individuums oder den Eigenschaften von Konstruktionen (Faktoren) die wesentlichen Punkte zusammengefasst. Aus dieser Zusammenfassung können dann Elemente des Modells beschrieben werden, welche anschließend auf Basis der Nennungen über die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen verbunden werden. Das somit angefertigte, vorläufige Modell individueller Pfade dient dann dazu die Aspekte von Selbstverstärkung und intra-individuellem Lock-In in den beiden nächsten Kapiteln in dieses Modell zu integrieren.
Die gesamte Liste der genannten Eigenschaften des Individuums oder der Eigenschaften von Konstruktionen (Faktoren) ist relativ lang. Ingesamt wurden 52 Aspekte durch die analysierten Arbeiten extrahiert, welche das Individuum oder die Konstrukte näher beschreiben. Nach einer Analyse der Gemeinsamkeiten der genannten Aspekte wurde diese Liste auf 17 Oberbegriffe reduziert (vgl. Anhang 1). Diese zentralen Aspekte werden nun der Reihe nach noch einmal kurz beschrieben und hinsichtlich ihrer Darstellungsmöglichkeit in einem grafischen Modell individueller Pfade untersucht (vgl. dazu Abbildung 08). Deren Interdependenz erschwert die sequenzielle Gliederung, so dass Querverweise unumgänglich sind. Ausgehend von biologischen Bezügen (Maturana, von Foerster), die hier als rekursive Konstruktionen verstanden werden, kann das Individuum als System aus verschiedenen Subsystemen beschrieben werden. Diese Subsysteme sind ein Nervensystem und ein bewusster Beobachter oder auch ein kognitives System. Diese beiden Systeme sind strukturell gekoppelt, wobei Impulse am Nervensystem auf das kognitive System übertragen werden. Sie sind nach ihrer Herkunft (Ursprung der Anregung am Nervensystem) nur vom kognitiven System identifi126
zierbar – nicht vom Nervensystem selbst. Grafisch kann dieses Systemverständnis mit einem grob gestrichelten Kasten für das Individuum als System (– – –) gestaltet werden, innerhalb dessen ein feiner gestrichelter Kasten für das kognitive System (- - -) eingeführt werden kann. Auf einem der Ränder (hier der Übersichtlichkeit wegen oben) des grob gestrichelten Kastens für das Individuum kann das Nervensystem als Bindeglied zur externen Welt als linierter Kasten () eingezeichnet werden. Das Nervensystem ist nach den obigen Autoren mit dem kognitiven System nur strukturell gekoppelt. Daher wird für die grafische Darstellung das kognitive System (- - -) mit dem Nervensystem () durch eine Verbindung verknüpft, die am Ende Rauten aufweist (–). Dem folgend kann die Subjektivität eingeführt werden. Sie beschreibt, dass jedes Individuum seine eigene Wahrnehmung hat und nur auf Basis seiner Wahrnehmung von dem Geschehen handelt. Grafisch kann damit die Wahrnehmung unter der Bedingung von Subjektivität des Individuums mit einem Pfeil vom Nervensystem ausgehend in die unbestimmbare Welt () dargestellt werden. Über diese Wahrnehmung erzeugt das kognitive System Konstruktionen, wobei einige Möglichkeiten in der Literatur benannt werden: das Selbst (Kelly, Bruder) oder Objekte (Piaget). Allgemein können Konstruktionen aber als Unterscheidung bezeichnet werden (Maturana, Varela, von Foerster). Bei der Wahrnehmung werden Unterscheidungen getroffen, was besonders durch die Konstruktion von Wissen in der obigen Analyse deutlich wurde (von Xenophanes bis Choe). Unterscheidungen von Beobachtungen oder von abstrakten Inhalten lassen sich durch das Formenkalkül grafisch vereinfacht darstellen ( ). Eine Unterscheidung bezeichnet etwas und grenzt es gleichzeitig von der Umwelt ab. So beinhaltet eine Unterscheidung die Umwelt, welche auch als separate Unterscheidung vom kognitiven System gegenüber der bezeichneten Sache gesehen wird – es findet dann eine Umkehrung von Bezeichnetem und Umwelt statt. Da jede Unterscheidung von einer Frage geprägt ist und auch bereits die Antwort beinhaltet, ist der ‚re-entry’ über jede Unterscheidung einzuführen ( ). Der Begriff der Wahrnehmung kann nun grafisch als ein Kasten innerhalb des kognitiven Systems eingezeichnet werden, in dem die allgemeine Darstellung der selbstbezüglichen Unterscheidungen den Konstruktinhalt zusammenfasst ( ). Diese Unterscheidungen können vom kognitiven System erinnert werden, so dass die grafische Veranschaulichung der Unterscheidungen auch als Erinnerungsvermögen verstanden werden kann.
127
Allerdings trifft das kognitive System die Unterscheidungen nicht alle bewusst. Auch unbewusste Unterscheidungen werden durchgeführt und erinnert (Bruder). Ebenso liegt unbewusste sensomotorische Aktivität vor. Diese Differenz von Bewusstsein zum Unbewusstsein kann grafisch als Schatten dargestellt werden. Dieser Schatten gilt für den gesamten Prozess und alle Faktoren und wird als gepunktete Linie dargestellt (…). Die Unterscheidungen, welche bewusst und unbewusst getroffen werden, können in Bezug auf die Erinnerung imaginiert oder auch visualisiert werden. Insbesondere Bilder (bei Piaget) und die Wahrnehmung von Veränderungen (bei von Glasersfeld) bedurften dieser Fähigkeit. Die Imagination bezeichnet dabei die interne Verarbeitungsfähigkeit gegenüber der externen Verarbeitung, für die Erinnerung ebenso von Bedeutung ist. Diese Imagination kann grafisch als rekursiver Pfeil (Å) von dem Kasten der Unterscheidung eben zum Kasten der Unterscheidung gezeichnet werden (der Übersichtlichkeit halber wird er von rechts nach links angeordnet). Diese Unterscheidungen, welche als Konstrukte abgelegt werden, weisen bestimmte Charakteristika auf. Sie können zunächst untereinander verknüpft werden und zwar in beliebiger Art und Weise (z.B. hierarchisch, Kelly). Durch eine Verknüpfung von Konstruktionen kann es aber geschehen, dass die Konstruktionen oder Unterscheidungen zueinander paradox sind. Dieses wird im Kindesalter ohne Probleme akzeptiert (Piaget). Erst im Reifeprozess werden sie durch Logik oder Kausalität und den Wunsch nach Widerspruchsfreiheit weiter bearbeitet (Piaget). Grafisch kann die logische (hier kausale) Verbindung zwischen Konstruktionen innerhalb des Konstruktkastens durch einen Pfeil zwischen zwei Unterscheidungen (
Æ
) abgebildet werden. Die Paradoxie zwischen zwei Konstruktionen kann grafisch
auch innerhalb des Konstruktkastens durch einen Pfeil mit zwei Enden und einem störenden Blitz zwischen den beiden Unterscheidungen (
Å!Æ
) dargestellt werden.
Des Weiteren konnten bei vielen Autoren Beiträge zu dem Zeit- und Raum-Begriff extrahiert werden. Ausgangspunkt war zunächst die a priori Gegebenheit (Kant) von Zeit und Raum. In späteren Arbeiten wurde die Gegebenheit in eine Relationalität (Vico) überführt und in den jüngsten Arbeiten zu dieser Diskussion werden Zeit und Raum als Ergebnis des Konstruierens verstanden (von Glasersfeld). Zeit ist nach von Glasersfeld ein Konstrukt, welches durch die Verbindung von Erinnerung (als Proto-Raum und Proto-Zeit) mit dem aktuellen Erlebniszeitpunkt entsteht. Proto-Raum und Proto-Zeit bezeichnen Dimensionen der Unterscheidungen. Proto-Raum steht für die Ausmaße und Proto-Zeit für die Mitführung von der Konstanz nicht wahrgenommener Unterscheidungen in der Erinnerung. Alle Unterscheidungen werden an die 128
Proto-Zeit geknüpft und die räumlichen Dimensionen auch an den Proto-Raum, so dass ProtoRaum und Proto-Zeit als relationale Konstrukte angesehen werden. Grafisch kann daher in dem Konstruktkasten der Proto-Raum und die Proto-Zeit als vierdimensionale Proto-RaumZeit (pt, x, y, z) eingefügt werden101, an die Konstrukte relational geknüpft werden können. Neben Paradoxie und dem Proto-Raum sowie der Proto-Zeit wurden insbesondere die Ebenen der Konstruktionen beschrieben. Genannt wurden dabei Bild (Piaget) und Sprache (z.B. Maturana, von Foerster, Choe). Diese Ebenen der Konstrukte können als zwei Bilder (Auge, Mund) auf dem Rand des Konstruktkastens dargestellt werden. Der Begriff der energetischen Offenheit ist in dem Modell durch die Möglichkeit der Weiterleitung von Impulsen durch das Nervensystem zu berücksichtigen. Allerdings beschrieb von Foerster bei der undifferenzierten Kodierung, dass lebende Systeme nach ihm nicht energetisch offen sind sondern ein Potential zwischen ihrem Inneren und Äußeren aufrechterhalten. Diese Potentialdifferenz wird nach ihm von Außen angeregt und diese Anregung über das Nervensystem als Impuls übertragen. Damit besteht für das Nervensystem keine energetische Offenheit. Innerhalb einer grafischen Darstellung reicht die bereits eingeführte Darstellung der strukturellen Kopplung zwischen dem Nervensystem und dem kognitiven System durch eine Verbindung mit Rauten am Ende (–). Die Selbsterhaltung und -erschaffung (oder Autopoiesis) als eine Eigenschaft von Systemen wurde von Choe kritisiert, da er sie nur als ein Konstrukt auffasst. Wird der Konstruktivität gefolgt, dann kann die Autopoiesis als ein Konstrukt verstanden werden, welches einige, aber nicht unbedingt alle kognitiven Systeme verwenden. Dieses Konstrukt moderiert die Verwendung von Konstruktionen und wird daher grafisch als große Raute neben dem Konstruktkasten () dargestellt. Zusätzlich zur Selbsterschaffung und -erhaltung können dann auch Machtstreben und Selbstschutz durch Selbsttäuschung (Bruder) oder Sicherheitsdenken (von Foerster) als weitere Moderatoren der Verwendung von Konstruktionen angesehen werden.
101
Die Idee des vierdimensionalen Raumes wird an die Verbindung von Proto-Zeit und Proto-Raum zur ProtoRaum-Zeit angelehnt. Bereits Einstein fasste Zeit als einen Hilfsbegriff auf, mit dem eben Ereignisse in Beziehung gesetzt werden können (vgl. Einstein 1905, S. 892). Zeit selbst ist aber „ausschließlich für den Ort, an welchem sich die Uhr eben befindet“ (Einstein 1905, S. 893) gültig. Gleichzeitigkeit existiert daher auch nur aus einer spezifischen Betrachtungsposition (vgl. Einstein 1905, S. 896), wobei Betrachtungen immer an Raum und Zeit orientiert werden: die Raum-Zeit. Veränderungen in der Argumentation ergeben sich daraus für die Physik, durch die Verwendung der subjektiven Proto-Zeit – in dieser Arbeit ist die Subjektivität bereits enthalten. Die Verbindung dient damit nur einer einfacheren grafischen Darstellung.
129
In einem nächsten Schritt sollen nun die Verknüpfungen zwischen den extrahierten Faktoren weiter ausdifferenziert werden. Durch die Analyse der Nennungen zu möglichen Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) in einem Modell individueller Pfade können zudem auch einige Faktoren ausdifferenziert werden. Auch hierbei wurde zunächst eine Liste mit allen 36 Aspekten aus der obigen Analyse erstellt, um diese dann durch die Einführung von Oberbegriffen für gleichartige Bezeichnungen auf 11 Aspekte zu reduzierten (vgl. Anhang 1). Diese zentralen Aspekte werden nun der Reihe nach noch einmal kurz beschrieben und hinsichtlich ihrer Darstellungsmöglichkeit in einem grafischen Modell individueller Pfade untersucht (vgl. dazu Abbildung 08). Zunächst kann das oben beschriebene Nervensystem, welches dort schon unter dem Begriff der strukturellen Kopplung mit dem kognitiven System verknüpft wurde, in zwei Bereiche aufgegliedert werden. Dies ist einerseits das motorische System für die Handlung und das sensorische System für die Wahrnehmung (u.a. Poincaré, von Foerster). Beide Subsysteme können grafisch wieder auf dem Rand des Kastens für das Individuum als System (– – –) eingezeichnet werden und sind ebenso wieder strukturell mit dem kognitiven System, durch die Verbindung mit den Rauten am Ende, verbunden (–). Diese beiden Subsysteme, welche im Folgenden das Nervensystem von oben ersetzen, weisen eine Besonderheit auf. Es besteht zwischen dem motorischen System und dem sensorischen System eine Wechselwirkung. Piaget nannte dazu das Sehen, Tasten und Fühlen, welche ja durch das kognitive System unterscheidbare Signale im Nervensystem in Bezug auf deren Herkunft sind – nicht aber in der Qualität (von Foerster). Allerdings ist nicht sehr deutlich geworden, warum Piaget oder von Foerster die drei Begriffe von Sehen, Tasten und Fühlen nicht in Bezug zu den aus der Biologie bekannten Sinnen setzten. Das ist insbesondere auch deshalb merkwürdig, weil z.B. von Foerster andere Begriffe aus der Biologie in seine konstruktivistische Perspektive überträgt. Daher scheint es für die vorliegende Arbeit sinnvoll, die hier genannten Bereiche (Sehen, Tasten, Fühlen) und die oben bereits eingeführten Bereiche (Sprache, Bild) in allgemeine Bezeichnungen zu überführen. Konstrukte oder Unterscheidungen können hier, in Anlehnung an die selbstbezüglichen Konstrukte der Biologie, auf Basis von Sehen, Riechen, Fühlen, Schmecken und Hören (hier gehört das Sprechen zu) getroffen werden. Grafisch kann dies über fünf kleine Bildchen für die Sinne (Auge, Nase, Hand, Mund, Ohr) auf dem Rand des Konstruktkastens dargestellt werden, welche für die Sensorik und Motorik gelten.
130
Zudem ist aber die von Piaget bezeichnete Wechselwirkung des Sehens, Tastens und Fühlens deutlicher zu berücksichtigen. Um sehen, riechen, tasten, schmecken und hören zu können, muss das sensorische System motorisch gesteuert werden - Sensomotorik erzeugt eine aktive Wahrnehmung. Diese Fokussierung wird gesteuert durch die Relevanz von Konstrukten für die Handlung und Interpretation (Kelly und auch Maturana & Varela), aber eben auch in der von Piaget beschriebenen Wechselwirkung zwischen Handlung und Sensorik. Damit kann für eine grafische Darstellung zunächst gefolgert werden, dass von den Konstrukten Pfeile (Æ) auf die Motorik (als Handlung) und auch auf die Sensorik (als Fokussierung) gezeichnet werden müssen. Diese stellen den Einfluss des aktiven Prozesses dar. Der Einfluss der Konstrukte auf die Interpretation greift wiederum dem folgenden Aspekt ein Stück weit voraus. Oben wurde bereits deutlich gemacht, dass Individuen Konstrukte oder Unterscheidungen imaginär visualisieren können. Dabei wurde vorgeschlagen dies über einen rekursiven Pfeil von dem Konstruktkasten zum Konstruktkasten zurück zu visualisieren. Diese Visualisierung wird nun modifiziert, denn nach den untersuchten Arbeiten ist der Aspekt der Interpretation im kognitiven System für die Verarbeitung der sensorischen wie auch der imaginierten Erfahrungen zuständig (Piaget, Maturana & Varela). Aus diesem Grund wird für die grafische Darstellung des Modells erstens ein Kasten innerhalb des kognitiven Systems für die Interpretation eingefügt. Zweitens wird dieser Kasten nun mit den Unterscheidungen (dem Konstruktkasten) durch einen Pfeil (Æ) verbunden, wobei dieser Vorgang als Imagination bezeichnet wird. Drittens führt von der Interpretation auch ein Pfeil (Æ) zu dem Konstruktkasten zurück, da die interpretierten Unterscheidungen erinnert werden können. Viertens wird die strukturelle Kopplung zwischen dem sensorischen System und dem kognitiven System mit einem Pfeil (Æ) zur Interpretation verlängert, da nicht nur imaginierte, sondern auch Impulse aus dem sensorischen System verarbeitet werden können. Insbesondere Bewegung und Veränderung kann durch die Interpretation und die Imagination festgestellt werden (von Glasersfeld). Ebenfalls wurde in der obigen Debatte zum Inhalt von Konstrukten bereits die Paradoxie als mögliche Verbindung zwischen zwei Konstruktionen besprochen. Bei der Handlung wurde in Bezug zum ‚double bind’ (Bateson) diskutiert, dass sich die motorischen Aktivitäten (Sprache vs. Mimik) widersprechen können. Eine grafische Übertragung von diesem Widerspruch zwischen einzelnen Elementen des motorischen Systems ist nicht nötig, da dieses Modell nur die Entwicklung individueller Lock-In’s erklärt und die Interaktion durch die Forschungsfrage eine untergeordnete Rolle einnimmt - die paradoxen Zusammenhänge zwischen Konstruktionen gelten aber weiterhin. 131
Ein weiteres Element ist noch im Rahmen des Modells individueller Pfade zu berücksichtigen und zwar das der Erwartung. Kelly sowie Maturana und Varela sprachen von der Vorhersagefähigkeit und Erwartungsbildung. Kelly spezifizierte dazu, dass eben die Erwartungsbildung Grundlage für Handlung sei, da der Mensch subjektiv, zielorientiert handeln würde. Auch von Glasersfeld betonte die Wichtigkeit der Erwartung, insbesondere um Bewegung feststellen zu können. Oben wurde bereits der Moderator ‚Verhaltenstreiber’ in das Modell eingeführt, an dessen Stelle nun die Erwartung als Moderator tritt. In diesen Moderator ‚Erwartung’ können die obigen Begriffe zum ‚Verhaltenstreiber’ überführt werden. Grafisch kann dieser Moderator ‚Erwartung’ an stelle des obigen Verhaltenstreibers mit einer großen Raute () dargestellt werden. Diese Raute wird auf den Ausgangspfeil (Æ) von dem Konstruktkasten gezeichnet (der zur Interpretation und Motorik verweist), da die Erwartung sowohl die Handlung als auch die Interpretation beeinflusst (Kelly). Das letzte Element, welches noch in das Modell übertragen werden müsste, ist ein Ergebnis von Piaget. Nach diesem können durch Sprache (also hier über das Hören) Konstrukte von anderen lebenden Systemen übernommen werden. Dies ist ebenfalls ein Konstruktionsprozess aus Handlung und Sensorik sowie Interpretation, er schließt aber das eigene Durchleben des Gesprochenen aus. Für das Modell individueller Pfade wird daher nach der Interpretation noch ein Moderator der Akzeptanz als große Raute () eingeführt. Dieser fasst die Übernahme abstrakter, nicht selbst erlebter Unterscheidungen zusammen.
Das grafische Ergebnis dieser zusammenführenden Diskussion ist in der folgenden Abbildung dargestellt. Die Hinweise in Klammern aus dem obigen Text verweisen auf die jeweiligen Kästen und Pfeile. Im Rahmen dieses Kapitels wurden die Beiträge aus der Literaturdiskussion durch eine Bildung von Oberbegriffen reduziert und für eine grafische Darstellung aufbereitet. Die Zusammenführung der einzelnen Elemente wurde dann in Abbildung 08 dargestellt. Zur Beendigung dieses Kapitels soll nun anhand der grafischen Darstellung verdeutlicht werden, dass das erste Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades bereits dadurch erfüllt wird: Die Existenz multipler Konstruktionsmöglichkeiten der Welt für jeden Beobachter – und dass, obwohl die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen durch ein übergreifendes Schema beschrieben wird. Die Darstellung in Abbildung 08 verdeutlicht, dass Individuen, betrachtet als lebendes System, alle einem Schema der Bildung von neuen und Verwendung von alten Konstruktionen 132
folgen. Dennoch sind nach Bateson Individuen unkalkulierbar und, nach von Foerster’s Analogie der nicht trivialen Maschine, undeterminierbar. Insbesondere die Subjektivität der Wahrnehmung durch die Fokussierung des sensorischen Systems und die subjektive Erinnerung von Unterscheidungen führt dazu, dass multiple Ergebnismöglichkeiten über die Bildung von Unterscheidungen bestehen. Zu Beginn einer Unterscheidungsbildung durch ein lebendes System ist es auf Grund des Prozesses der Verwendung dieser subjektiven Unterscheidungen und der subjektiven Wahrnehmung daher nicht möglich, dass Ergebnis vorherzusehen. Das erste Element aus der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades - die Existenz multipler Konstruktionsmöglichkeiten der Welt für jeden Beobachter - wird daher bei der ersten, vorläufigen grafischen Darstellung des Modells bereits berücksichtigt.
Abbildung 08 – Erste, vorläufige grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades
In dieser der ersten, vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades (vgl. Abbildung 08) hängen die neuen Konstruktionen von den bereits getroffenen Unterscheidungen ab. Einmal hinsichtlich der imaginativen Interpretation, aber auch über die Moto-
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rik und die Sensorik. Diese Rekursion wird im folgenden Abschnitt näher betrachtet und im Rahmen einer Diskussion in das Konstrukt der Selbstverstärkung überführt. Dabei werden die Konstruktionen von Proto-Raum und Proto-Zeit noch einmal aufgegriffen. Durch diesen Schritt kann dann eine Modifikation der vorläufigen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades erfolgen, so dass auch das zweite Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades berücksichtigt werden kann.
IV.3 Individuelle Konstruktion und Selbst-Verstärkung In dem vorherigen Kapitel wurde eine vorläufige grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades aus der Literaturdiskussion entwickelt. Im Zentrum standen dabei die Anfänge konstruktivistischer Literatur von Xenophanes bis Piaget, die Theorie persönlicher Konstrukte von Kelly, aber auch radikalkonstruktivistische und gemäßigte Perspektiven. Sie wurden alle im Hinblick auf mögliche Faktoren (Eigenschaften des Individuums oder Eigenschaften von Konstruktionen) und Relationen (die Art und Weise wie Konstruktionen entstehen) untersucht.
Im folgenden Kapitel wird, wie oben angekündigt, die Rekursion in den konstruktivistischen Perspektiven detaillierter untersucht. Die Rekursion ist in der vorläufigen grafischen Darstellung bereits deutlich zwischen alten und neuen Konstrukten skizziert worden, wird aber nun weiter spezifiziert. Sie soll insbesondere durch eine Analyse der Prozessperspektiven in der schon verwendeten Literatur konstruktivistischer Perspektiven erweitert werden (IV.3.1). Da eine Prozessperspektive in der analysierten Literatur nicht sehr oft diskutiert wird, ist die hier durchgeführte Analyse auf weniger Ansätze als im vorherigen Kapitel zu reduzieren. Es werden aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven nur Bateson und Piaget berücksichtigt, die Theorie persönlicher Konstrukte von Kelly sowie die radikalkonstruktivistischen Perspektiven gehen zudem mit in die Analyse ein. Neben den Einflüssen aus den konstruktivistischen Perspektiven soll aber auch die Pfadforschung integriert werden (IV.3.2). Durch die dortige Aufschlüsselung der Selbstverstärkung in verschiedene Facetten sind diese mit der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades in Verbindung zu bringen. Abschließend werden die Ergebnisse der Diskussion zur Rekursion aus konstruktivistischen Perspektiven und zur Selbstverstärkung aus der Pfadforschung in die vorläufige grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades integriert. Dadurch entsteht eine erste Er134
weiterung der vorläufigen grafischen Darstellung (IV.3.3). Anhand dieser Erweiterung wird dann zum Ende des Unterkapitels noch einmal deutlich erklärt, wie sich individuelle Konstruktionen selbst verstärken. Diese erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung bildet die Grundlage für die daran anknüpfende Diskussion zum Thema des intra-individuellen Lock-In.
IV.3.1
Selbstverstärkung in konstruktivistischen Ansätzen
In diesem Unterkapitel wird auf die Analyse der Rekursion und Selbstverstärkung bei konstruktivistischen Perspektiven eingegangen. Wie bereits in Kapitel IV.2 durchgeführt, werden die aus den Zusammenfassungen ermittelten und als wichtig erachteten, konstruktivistischen Perspektiven dabei untersucht. Im Gegensatz zum vorherigen Kapitel wird nun aber der Aspekt der Rekursion besonders berücksichtigt, um diesen in die Selbstverstärkung der Pfadforschung überführen zu können. Wesentlich dabei ist die Beschreibung, wie Konstruktionen rekursiv in einem Prozess wirken und welche Rolle die Zeit dabei spielt. Die Ergebnisse dieses rekursiven Prozesses werden im nächsten Kapitel zum intra-individuellen Lock-In analysiert. Im Rahmen der Literaturrecherche wurde deutlich, dass sich nicht alle der im vorherigen Kapitel diskutierten Ansätze mit Rekursivität oder einer Prozessperspektive beschäftigten. Im Rahmen der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven entwickelten insbesondere Bateson und Piaget einige Ideen zum Thema Rekursivität. Oben wurde bereits der Verlauf dieses Prozesses mit dem Lernverständnis der beiden Autoren angedeutet, dieser wird jetzt thematisiert. Auch Kelly entwickelte in seiner Theorie persönlicher Konstrukte ein Verständnis über die Rekursivität des Charakters. Bei den radikalkonstruktivistischen Perspektiven konnten mehrere Ansätze der Rekursion extrahiert werden, welche alle in die Analyse mit eingehen. Innerhalb der gemäßigten Perspektiven dagegen wurden keine Beiträge ausgemacht. Alle hier aufgelisteten Ansätze werden hinsichtlich ihrer Beiträge zu einem Prozessverständnis von Rekursion oder Selbstverstärkung analysiert. Die jeweiligen Ergebnisse werden in Listen zu den einzelnen Gruppierungen zusammengestellt und können nach der Diskussion der Einflüsse der Pfadforschung für die Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades verwendet werden.
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IV.3.1.1
Beiträge aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven
Die Arbeiten von Demokrit, Xenophanes, Vico und Kant lieferten zur Rekursivität der Konstruktion und zu eventuellen Zusammenhängen zur Selbstverstärkung keine wesentlichen Beiträge. Bateson und Piaget dagegen beschäftigten sich mit rekursiven Lernprozessen, welche oben bereits erwähnt wurden und auf die im Folgenden im Detail eingegangen wird. Bateson geht auf rekursive Aspekte in der Konstruktion tiefer ein und zwar einerseits in Erweiterung zu seinem ‚double bind’ zwischen zwei Individuen und andererseits in Bezug auf den Konstruktionsprozess im Individuum auf Basis von Lernprozessen. Der ‚double bind’ entsprach einer widersprüchlichen Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen zwischen zwei Individuen. Konflikte entstehen aus diesem ‚double bind’ besonders verstärkt, wenn zudem die rekursive Schismogenese eintritt. Schismogenese bezeichnet eine potentiell pathologische Entwicklung, welche auf ungedämpften oder unkorrigierten, positiven Rückkopplungen beruht (vgl. Bateson 1996, S. 418). Diese positiven Rückkopplungen sind nach seiner Ansicht komplementär oder symmetrisch (vgl. Bateson 1996, S. 418). Symmetrie herrscht vor, wenn bei einer Steigerung der Aggression von A auch eine Steigerung der Aggression von B erfolgt. Komplementär ist die Rückkopplung, wenn eine Steigerung der Aggression von A zu einem größeren Rückzug von B führt. Als Beispiele nennt er dazu den Rüstungswettlauf, Unterstützungs-Abhängigkeit oder auch Eltern-Kind-Beziehungen. Aus der Schismogenese kann die Erwartung als Moderator im Rahmen eines Modells individueller Pfade bestärkt werden. Wenn die Person A ihre Aggression steigert, dann nimmt Person B dies wahr und bewertet das Verhalten. Je nach der eigenen Zielgröße (Vermeidung vs. Selbstschutz), gekoppelt mit einer Erwartung über die Reaktion von A, reagiert B mit Rückzug oder Aggression. Das weitere Verhalten von A führt dann zu einer weiteren Verringerung oder Erhöhung unter der Annahme (Erwartung), dass es letztes Mal noch zu viel oder zu wenig war. Hier wird deutlich, dass Bateson seine Schismogenese in Abhängigkeit vom Zeitverlauf entwickelt hat. Erinnerungen vorangegangener Unterscheidungen bezüglich der Handlung von A werden zum Vergleich später herangezogen. Dazu ist aber die Konstanz der alten Unterscheidungen notwendig, welche nach von Glasersfeld durch den relationalen Proto-Raum und die Proto-Zeit hergestellt wurde. Die Schismogenese kann also im Rahmen des oben grafisch dargestellten Modells eines individuellen Pfades durch Wahrnehmung, gefolgt von Interpretation, Erwartung und Handlung sowie einer daran anschließenden Wahrnehmung ohne Veränderung verstanden werden. Eine Explizierung der implizit gedachten Zeit als gespeicherte Erinnerungen in der Proto-Zeit ermöglicht eine präzisere Darstellung und die Erzeugung von zeit136
abhängigen Handlungsabläufen. Für die obige vorläufige grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades folgt aus der Schismogenese die Erweiterung, dass jeder Prozessschritt (Wahrnehmung, Interpretation, Erwartung und Handlung) mit einem Zeitpunkt (t) bezeichnet wird. In Bezug auf die rekursive Konstruktion im Individuum formulierte Bateson für sich die Frage der Art und Weise der Gewohnheitsbildung (vgl. Bateson 1996, S. 224) – Gewohnheit als Begriff ist sein Beitrag zum intra-individuellen Lock-In, auf dessen Auswirkungen und Auflösung im nächsten Kapitel erst eingegangen wird. Er erweiterte das bisher gültige Lernverständnis in Anlehnung an den Pawlow’schen Hund oder die Skinner’sche Ratte (vgl. Bateson 1996, S. 223). Denn neben diesem regulären Lernen, „in den passenden Momenten Speichel abzusondern“ (Bateson 1996, S. 228), lernt das Individuum eben auch zu lernen (vgl. Bateson 1996, S. 228). Daraus folgert Bateson, dass das Lernen in Klassen zu gliedern sei (vgl. Bateson 1996, S. 229). Anlehnend an die Typenlehre102 von Whitehead und Russel (vgl. Bateson 1996, S. 362) schließt Bateson aus seinen Untersuchungen auf vier verschiedene Lerntypen: Lernen 0, I, II, III. Die erste Form kennzeichnet den Aufbau von Konstrukten durch die Feststellung minimaler Veränderungen zwischen Erinnerungen von Konstrukten sowie neuer sensorischer Wahrnehmung durch Handlung (vgl. Bateson 1996, S. 367). Diesem Lernen sind alle Akte zugeordnet, die nicht durch Versuch und Irrtum gekennzeichnet sind. Bateson führt trotz der Erinnerung nicht den Aspekt der Zeit oder Proto-Zeit (nach von Glasersfeld) ein, sondern geht implizit von vergangenen Unterscheidungen aus. Im Rahmen des oben grafisch dargestellten Modells eines individuellen Pfades ist dieses Lernen bereits integriert, jedoch statisch und rekursiv. Werden nun explizite Zeitpunkte für Unterscheidungsbildung, Motorik und Sensorik in das Modell eingeführt, ist eine Erklärung von zeitversetzter Erinnerung möglich. Früher getroffene Unterscheidungen (zur Zeit t) werden im Proto-Raum und der Proto-Zeit abgelegt und konstant gehalten, so dass sie zu einem späteren Zeitpunkt (t+n) im Rahmen der Interpretation imaginiert werden können – dies unterstützt die bei der Schismogenese geforderte Einführung von Zeitpunkten. Bei der Interpretation werden nach Lernen I Vergleiche zwischen Imaginiertem und Wahrgenommenen durchgeführt, wobei das imaginierte (als Erinnerung) minimal an102
Nach der Typenlehre von Whitehead und Russel gelten vier Aspekte. Erstens kann eine Menge der formalen Logik nicht Element ihrer selbst sein, zweitens kann eine Menge von Mengen nicht eine der Mengen sein, die ihre Elemente sind. Drittens kann ein Name nicht die bezeichnete Sache sein und viertens ist eine Menge nicht eine jener Einheiten, die als ihre ‚Nichtelemente’ bezeichnet wurden (vgl. Bateson 1996, S. 363). Ausgehend von diesen vier Aspekten entwarf er sein Verständnis der vier Typen von Lernen.
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gepasst wird. Der Prozess der Interpretation ist also in dem oben grafisch dargestellten Modell eines individuellen Pfades durch Vergleichsarbeit (zur Identifikation der Ungleichheit) und Anpassung der Unterscheidungen zu kennzeichnen. Zur grafischen Veranschaulichung könnte die Vergleichsarbeit schriftlich bei der vorläufigen Abbildung in dem Kasten der Interpretation notiert werden. Interessant ist bei dem Lernen 0, dass es zwar eine Rekursion bezeichnet, aber im Prinzip Veränderungen durch permanente Anpassung ermöglicht. Es liegt also noch keine Selbstverstärkung vor. Die Erweiterung dessen, auch ‚Lernen I’ oder ‚Proto-Lernen’ genannt (vgl. Bateson 1996, S. 229), beschreibt das Phänomen der Gewöhnung (vgl. Bateson 1996, S. 372). Gewöhnung erzeugt eine gewisse Vorhersagemöglichkeit über individuelles Verhalten, welche Gewohnheit eintritt ist jedoch unkalkulierbar. Wichtig bei Lernen I ist, dass die bei Lernen 0 evaluierte und in das Konstrukt überführte Veränderung nun nicht mehr gesehen wird. Es werden Veränderungen als ‚gleich’ interpretiert (vgl. vgl. Bateson 1996, S. 372; wie bereits oben bei von Glasersfeld erwähnt), so dass das Individuum von einer ‚Bestätigung’ der ‚Richtigkeit’ seiner bisher getroffenen Unterscheidung ausgeht. Die Erinnerung einer zu einem früheren Zeitpunkt (t) getroffenen Unterscheidung wird im Rahmen der Interpretation zu einem späteren Zeitpunkt (t+n) als ‚richtig’ bewertet, also bestätigt, und wieder abgespeichert. Dies führt über die Bestätigung zu einer wiederholten Anwendung – erneut ein rekursives Element103. Bei dem Prozess der Interpretation ist die oben eingeführte Vergleichsarbeit im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades um das Ergebnis der Gleichheit (neben der Ungleichheit) zu ergänzen. Auch dies könnte im Rahmen der grafischen Veranschaulichung schriftlich bei der vorläufigen Abbildung des Modells eines individuellen Pfades im Kasten der Interpretation notiert werden. Eine Veränderung eben dieser Gewohnheiten aus Lernen I, auch als ‚Lernen II’ oder ‚Deutero-Lernen’ bezeichnet (vgl. Bateson 1996, S. 230, 378), wird durch die Korrektur der möglichen Alternativen erreicht. Damit wird die gewisse Vorhersagemöglichkeit über individuelles Verhalten wieder erschwert. Die vorher ‚eingefahrene’ und immer wieder bestätigte Position kann um eine alternative Handlungsoption erweitert werden (vgl. Bateson 1996, S. 379). Das kann eine Wahl unter herausgebildeten Gewohnheiten, aber auch zwischen bestehenden und einer neuen Gewohnheit (durch Lernen 0 und Lernen I zunächst aufgebaut), bedeuten. Dieses 103
Bateson beschrieb, dass das Lernen nach Pawlow und auch das mechanische Lernen in Psychologielaboratorien aus einem gekoppelten, rekursiven Prozess von Lernen 0 und Lernen I besteht. Nach einem einmaligen Korrekturprozess einer bisher gelernten Unterscheidung (Lernen 0) erfolgt nach ihm nur noch die rekursive Bestätigung der korrigierten Unterscheidung (Lernen I) (vgl. Bateson 1996, S. 379).
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Lernen bezeichnet demnach die Wahlfähigkeit zwischen dem Lernen 0 und verschiedener Lernen I-Schleifen, was Bateson als ‚Reflexion’ zusammenfasst. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades ist also die Interpretation (mit Vergleichsarbeit und Anpassung) um die Reflexion zu erweitern, welche die Rekursion als solche unterbrechen kann. Grafisch wäre dieses auch bei der vorläufigen Abbildung des Modells eines individuellen Pfades im Kasten der Interpretation schriftlich zu notieren. Das Problem dieses Alternativenaufbaus ist, dass auch hier eine Reflexionsgewohnheit entstehen kann (vgl. Bateson 1996, S. 379). Damit stabilisiert sich also die Art des Lernens II, was die Vorhersagemöglichkeit über individuelles Verhalten wiederum erhöht. Prinzipiell kann ein Individuum sich aber durch Reflexion aus einer selbstverschuldeten Gewohnheit befreien. Konsequent schließt Bateson daran die vierte und letzte Lernebene an, die er als ‚Lernen III’ bezeichnet. Hier geht es um eine Korrektur in der Menge der Alternativen (vgl. Bateson 1996, S. 379). Dies ist ein schwieriger und daher auch selten anzutreffender Prozess. Bateson verortet ihn „in der Psychotherapie, in religiöser Bekehrung oder in anderen Sequenzen […], in denen eine tiefgreifende Umstrukturierung des Charakters stattfindet“ (Bateson 1996, S. 390)104. Da nun der Charakter oder die Gewohnheit genau das ist „was uns prognostizierbar macht“ (Portele 1989, S. 18), entspricht das herkömmliche Charakterverständnis bei Bateson der Gewohnheitsbildung im Lernen I und II. Eine Lösung dieser Gewohnheiten und Reflexionsgewohnheiten ist also nur durch die vierte Form des Lernens zu vollziehen. Auf Basis der Änderung des Bezugssystems wurde Lernen III auch als ‚spirituelles Lernen’ bezeichnet (vgl. Edlund 1998, S. 127; zur Spiritualitätsdebatte vgl. z.B. Roedenbeck 2006; Roedenbeck 2007). Für das Modell eines individuellen Pfades bedeutet dies zum einen, dass neben der Vergleichsarbeit, der Anpassung und der Reflexion bei der Interpretation auch der Fundamentalwandel einzuordnen ist. Dieser bearbeitet die Glaubensbeschränkung bezüglich möglicher Alternativen. Daher ist im Modell eines individuellen Pfades der Aspekt des Glaubens an bestimmte Grenzen von Möglichkeiten oder Unterscheidungen (hier der Charakter) einzufügen. Grafisch ist der Fundamentalwandel bei der vorläufigen Abbildung des Modells eines individuellen Pfades im Kasten der Interpretation wieder schriftlich zu notieren, der Glaube kann als Moderator in Form einer Raute neben dem Kasten der Unterscheidungen eingezeichnet werden. 104
Als ein Beispiel sieht Bateson hier die ‚Anonymen Alkoholiker’, welche durch die Anonymität innerhalb der Runde den Freiraum für Vertrauen schaffen und durch die gemeinsamen ‚Gebete’ in Demut einen Fundamentalwandel herbeiführen können – dies jedoch nur, wenn nicht unbewusst gegen das Gebet gearbeitet wird, also das Gebet nicht ehrlich gemeint ist (vgl. Bateson 1996, S. 430 ff.).
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Auch Piaget beschäftigte sich wie Bateson mit den Lernprozessen, dessen Ergebnisse von den radikalen Perspektiven aufgegriffen wurden. Den Lernprozess sieht Piaget (2003, S. 38) schon zu Anbeginn des Lebens wirksam, beeinflusst durch die schrittweise Sozialisierung oder soziale Adaption, gegen die sich das Kind sträubt. Damit ist neben der selbstständigen, sensomotorischen Konstruktion auch der akzeptierte Einfluss von Erwachsenen von Bedeutung (vgl. Piaget 2003b, S. 38); dieser Aspekt bestätigt den oben bereits eingeführten Punkt der Akzeptanz von anderen. Zentral in seinem Verständnis von rekursivem Lernen sind dabei die Begriffe der Assimilation, Akkommodation und der Äquilibration. Assimilation bedeutet genau das Gegenteil dessen, was von Bateson als Lernen 0, II und III verstanden wird. Es erweitert aber auch das Verständnis von Bateson in Bezug zu Lernen I, denn es erfolgt nicht nur eine Bestätigung von erinnerten Unterscheidungen. Piaget beschreibt Assimilation als Anpassung des Äußeren an das Innere (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 29). Das Individuum korrigiert also das Ergebnis der Interpretation so, dass es an die erinnerten Unterscheidungen anschließt und kein Widerspruch vorliegt. Sobald also eine Interpretation auf eine Unterscheidung stößt und dieser widerspricht, bleibt es „mangels einer besseren Lösung bei der [… schon vorhandenen …] Erklärung“ (Piaget 2003b, S. 175, im Original ohne Einfügung; auch Piaget 1976, S. 71) bleiben. In der mathematischen Sprache beschreibt Piaget dies als ‚Struktur + zu integrierende Substanz Æ a*Struktur + nicht integrierte Anteile’ (vgl. Piaget 2003a, S. 53). Dies ist die ‚Assimilierung’ von Worten oder Erfahrungen, bei der das Kind – um sie zu begreifen – diese „nach seiner eigenen geistigen Struktur verformt“ (Piaget 2003b, S. 40; und auch S. 41, 143, 211). Als Beispiel gibt Ernst von Glasersfeld (1984) die Situation, dass z.B. alle ‚abc’ Facetten eines Objektes als wichtig erachtet werden und dabei auch alle ‚abc-x’ / ‚abc-vz’ (usw.) Objekte mit Berücksichtigung finden. Da aber nur auf ‚abc’ geachtet wird, unterschlägt das Kind bestimmte Informationen. Das heißt als Ergebnis, dass nur das wahrgenommen wird, was assimiliert werden kann (vgl. von Glasersfeld 1994). Für das Modell eines individuellen Pfades ist damit nachfolgend zur Interpretation der Umgang mit dem Ergebnis durch die Assimilation zu berücksichtigen. Grafisch darstellbar wäre dies bei der vorläufigen Abbildung des Modells eines individuellen Pfades, in dem der Pfeil zwischen Interpretation und der Unterscheidung schriftlich mit der Assimilation betitelt wird. Akkommodation als Lernen bedeutet die Änderung von bekannten Unterscheidungen zur Anpassung an die neuen sensorischen Wahrnehmungen (vgl. Piaget 2003b, S. 211). Dies entspricht dem Lernen 0, II und III von Bateson. Akkommodation entsteht dann, wenn die Assi140
milierung eines Objektes, einiger Elemente eines Objektes oder einer Erfahrung nicht gelingt und somit eine Störung oder Perturbation105 wahrgenommen wird (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 32). Nur auf Grund der Störungsintensität wird die ursprüngliche Spirale der Assimilation durchbrochen und die Reflexion wird eben nicht untergraben (vgl. Piaget 2003b, S. 175). Dies bildet die Grundlage um Fortschritt zu erzielen, da sonst per Assimilation nur Kontinuität von Strukturen gewährleistet wird (vgl. Piaget 2003a, S. 55)106. Beide Strategien sind daher „Element der Koordination zwischen Neuem und Alten“ (Piaget 1996, S. 53), wobei Piaget von einem stabilen Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation ausgeht (vgl. Piaget 2003a, S. 57). Es kann sogar eine Gleichzeitigkeit von Akkommodation und Assimilation bei neuen ‚Assoziationsprozessen’ existieren, da Veränderung sehr oft mit einer Strukturanpassung gekoppelt ist (vgl. Piaget 2003a, S. 57). Sprache und das Sprechen mit anderen wird als die häufigste Ursache von Akkommodation dargestellt (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 33). Für das Modell eines individuellen Pfades ist damit nachfolgend zur Interpretation der Umgang mit dem Ergebnis durch die Akkommodation zu berücksichtigen. In der grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades ist daher neben der Assimilation als Umgang mit dem Ergebnis der Interpretation ein zweiter Pfeil für die Akkommodation einzufügen. Das dritte Konzept nach Piaget war die Äquilibration. Unter diesem Begriff versteht Piaget eine Akkommodation eines bisherigen Assimilationsprozesses, welche eine Kettenreaktion von Akkommodationen in Bezug auf bisherige Assimilationen auslöst. So werden andere Assimilationsprozesse ebenso in Zweifel gezogen und korrigiert. Diese Erweiterung des Wirkungsbereiches einer akzeptierten Störung wird als „erweiternde Äquilibration“ (von Glasersfeld 1994, S. 34) beschrieben und entspricht einer ‚größeren’ kognitiven Entwicklung (vgl. Seiler 1994, S. 68). Auch hier wird die Äquilibration als Kettenreaktion mit einem impliziten Zeitverständnis als Aneinanderreihung von Veränderungen beschrieben. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades bedeutet die Äquilibration mit der bei Bateson geforderten Einführung der Zeitpunkte die Auslösung einer Akkommodation zum Zeitpunkt t z.B. durch eine neue Unterscheidung. Durch diese wird eine Imagination einer anderen Unterscheidung in t+1 verursacht, welche interpretiert und ebenfalls verändert wird. Daraus wird die nächste Unterscheidung in t+2 imaginiert und verändert, bis die Kette der Verbindungen zwischen 105 106
Zum Begriff der Perturbation als Störung vgl. auch von Glasersfeld 1984; Portele 1994, S. 112f. Diese Art des Fortschrittes durch eigene ständige Akkommodation auf Basis von Perturbation wurde insbesondere in den Mathematikunterricht übertragen, wird aber von Kognitionspsychologen auf Grund fehlender Evidenz verworfen (vgl. Anderson et al. 1998, S. 240 ff.).
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Unterscheidungen durchlaufen ist (z.B. alle kausalen oder paradoxen Verknüpfungen zu der ersten Unterscheidung). Der zeitabhängige Entwicklungsprozess kommt durch das Erinnern der Unterscheidungen aus der Proto-Zeit und dem Proto-Raum zustande (so oben nach von Glasersfeld). Änderungen in der grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades müssen nicht vorgenommen werden, da Äquilibration durch die Möglichkeit des mehrfachen Durchlaufes des rekursiven Modells bereits dargestellt ist.
Zusammenfassend aus den rekursiven Prozessverständnissen von Lernen – der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven – sind daher folgende Elemente von Bedeutung. Diese werden alle in der anschließenden Liste zusammengestellt, um sie am Ende dieses Kapitels in die in der grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades übertragen zu können. x
Einführung von Zeitpunkten (t) je Prozessschritt,
x
Interpretation: Vergleichsarbeit (Ungleichheit, Gleichheit),
x
Interpretation: Anpassung,
x
Interpretation: Reflexion,
x
Gewohnheit von Unterscheidung bedeutet nicht Gewohnheit des Individuums, sondern nur eines Teiles,
x
Interpretation: Fundamentalwandel,
x
Glauben neben Proto-Raum und Proto-Zeit als Moderator,
x
Nach der Interpretation: Anpassung der neuen an die alte Unterscheidung (Assimilation),
x
Nach der Interpretation: Anpassung der alten an die neue Unterscheidung (Akkommodation),
x
Gleichgewicht von Assimilation und Akkommodation.
IV.3.1.2
Beiträge aus der Theorie persönlicher Konstrukte
Die Diskussion der rekursiven Lernprozesse von Bateson und Piaget aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven bot eine Reihe von Beiträgen in Bezug auf die Analyse der Rekursivität des Konstruktionsprozesses. Zentral für das Modell eines individuellen Pfades sind die Einführung der Zeitpunkte je Prozessschritt der Konstruktionsbildung sowie die Erweite-
142
rung des Verständnisses der Interpretation durch die verschiedenen Lerntypen von Bateson und dem Ergebnisumgang durch Piaget.
Die Analyse der Theorie persönlicher Konstrukte ist der nächste Schritt zur Verbindung von Rekursion und Selbstverstärkung, wobei das Verständnis von Rekursion in den Beiträgen von Kelly bereits oben erkennbar wurde. Im Rahmen der Diskussion des vorherigen Kapitels über die Grundzüge des Modells wurde durch Kelly bereits vermerkt, dass ein Erleben von ‚Wiederholung’ dadurch entsteht, dass Individuen Erlebtes als Gleich zu bereits getroffenen Unterscheidungen interpretieren. Dadurch speichert die Person immer neue und begrenzte Interpretationen ab (vgl. Kelly 1991, S. 72, 77). Die Bewertung der Gleichheit und erstmalige Unterscheidung wird von Kelly zwar in Abhängigkeit einer implizit, ablaufenden Zeit gesehen, jedoch geht er von binären Operationen der Entscheidung und Speicherung aus. In seinem Beitrag ist zwar damit die Rekursion zu erkennen, aber eine Verstärkung oder inkrementelle Veränderung von Unterscheidungen sind nicht beschrieben worden.
Für die Integration des Beitrages von Kelly in das Modell eines individuellen Pfades ist die Interpretation in der folgenden Liste aufgeführt: x
Interpretation: Vergleichsarbeit (Gleichheit).
IV.3.1.3
Beiträge aus radikalkonstruktivistischen Perspektiven
Die Anfänge konstruktivistischer Perspektiven wie auch die Theorie der persönlichen Konstrukte wurden nun in Bezug auf deren Beiträge zur Rekursion und Selbstverstärkung untersucht. Es verbleibt die dritte Gruppe der radikalkonstruktivistischen Perspektiven, da die gemäßigten zu dieser Thematik keine Äußerungen gemacht hatten. Wie bereits einleitend erläutert, werden hier Maturana und Varela, Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld einer Analyse in Bezug auf Rekursion und Selbstverstärkung unterzogen.
In den gemeinsamen Arbeiten von Maturana und Varela, wie auch in den Publikationen von Maturana alleine, wird die Rekursivität als eine Abhängigkeit von der selbst erzeugten Geschichte angesehen. Durch jede Anpassung einer vergangenen Unterscheidung, welche in Bezug zur Imagination, Handlung oder Wahrnehmung stand, durch eine neue Unterscheidung entsteht ein historischer Prozess (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 64). Erinnerungen werden in Bezug zu aktuellen Wahrnehmungen gesetzt (vgl. Maturana 1980, S. 24). Das Verhalten 143
und dabei auch das Lernen können als historische Funktionen beschrieben werden (vgl. Maturana 1980, S. 35). Diese Geschichtsabhängigkeit bezeichnet Maturana sogar als ‚Determinismus’ (vgl. Maturana 1980, S. 27), denn in jeder Handlung sind vergangene Unterscheidungen von Relevanz. Bei dem Modell eines individuellen Pfades liegt die Rekursion bereits in dem Zusammenhang von Unterscheidungen, Handlung, Sensorik und Interpretation vor. Durch die Einführung der Zeit über die Terminologie der Geschichtlichkeit – welche Maturana und Varela jedoch im Rahmen der Beschreibung des Konstruktionsprozesses nicht weiter verwenden – wird der Einsatz von Zeitpunkten (t) bezogen auf die Prozessschritte der Konstruktionsbildung zumindest indirekt auch von Maturana und Varela gefordert. Somit führt eine Unterscheidung in t zu einer Handlung in t+1 und beeinflusst die Wahrnehmung in t+2. Zudem wird in t+3 die Interpretation durch den Vergleich zwischen alter und neuer Unterscheidungen noch einmal geschichtlich beeinflusst, so dass in t+4 eine Veränderung in Abhängigkeit von der alten Unterscheidung abgelegt wird. Diese Zeitpunkte sind in der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades zu übernehmen. Die Historizität wird von Maturana und Varela einerseits in Bezug auf die eigene Geschichte des Individuums gesehen und andererseits wirkt aber auch die Geschichte der gesamten Spezies auf das Individuum ein (vgl. Maturana 1980, S. 24; ähnlich Maturana & Varela 1992, S. 242 nach Raskin 2002, S. 8) 107. Die Lokalisierung dieser Einflüsse im Individuum nehmen sie nicht direkt vor, sondern verorten die Präsenz der Geschichte oder vergangener Unterscheidungen in der aktuellen Struktur (vgl. Maturana & Varela 1992, S. 96 nach Raskin 2002, S. 7). Also ähnlich wie bei dem durch von Glasersfeld eingeführten Proto-Raum und der Proto-Zeit ist Geschichte demnach im Jetzt permanent existent. Dieser Zusammenhang ist bereits über die Erinnerung der getroffenen Unterscheidungen oben aufgegriffen worden, allerdings war deren Herkunft auf Selbsterschaffung oder Akzeptanz von abstrakten Konstrukten anderer beschränkt. Einwirkungen von vor der eigenen Lebensphase, welche Maturana und Varela hier ansprechen, sind nicht explizit lokalisiert worden. In Anlehnung an das Unbewusste nach Bruder könnten diese über ein ‚kollektives Unbewusstes’ einwirken. Da jedoch zu wenig Erklärung zu diesem Punkt gegeben wird, soll er im Rahmen des Modells individueller Pfade nicht weiter berücksichtigt werden. Durch die rekursive Imagination von Unterscheidungen und gleichzeitige Generierung neuer Eindrücke entstehen durch deren gemeinsame Interpretation Verbindungen zwischen alten 107
Bezüge zum kollektiven Unbewussten und den Archetypen von C.G. Jung liegen hier nahe. Ebenso aber auch Bezüge zur Epigenetik.
144
und neuen Unterscheidungen (vgl. Maturana 1980, S. 14). Der fortwährend rekursive Prozess weist nun allerdings einen ‚drift’ bei den Individuen auf (vgl. Maturana & Varela 1987, S. 103). Individuen bilden auf Basis bekannter Unterscheidungen Erwartungen (was oben auch als ‚induktives Vorgehen’ bezeichnet wurde) und durch ihre eher konservative Orientierung tendieren sie dazu, das Erlebte an bereits Erfahrenes zu knüpfen (vgl. Maturana 1980, S. 27). Dadurch, dass vergangene Unterscheidungen verwendet werden, welche in der nächsten Periode nur ein geringeres Möglichkeitsfeld für Anknüpfungspunkte aufweisen, bedeutet der ‚drift’ von Unterscheidungen deren Einengung für zukünftige Veränderungen (vgl. Maturana 1980, S. 27). Aus dieser Thematik ergibt sich eine Änderung im Modell eines individuellen Pfades. Der drift bezeichnet eine Verringerung der Veränderungsmöglichkeiten und damit eine Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit. Diese beiden Aspekte sind im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung zu berücksichtigen. Außerdem liegt durch die ‚konservative Orientierung’ eine Tendenz zum wiederholten Erleben von bereits Erlebtem vor, was das bisherige Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation beeinflusst. Auch dieser Zusammenhang ist in der vorläufigen grafischen Darstellung zu berücksichtigen.
Heinz von Foerster greift im Rahmen seiner Arbeiten auch auf ein rekursives Verständnis zurück. Bereits bei seinem von Poincaré abgeleiteten Begriff der sensomotorischen Konstruktion geht er auf die rekursive Wirkung vergangener Unterscheidungen ein. Die Wechselwirkung zwischen Sinnen und Handlung ist die Grundlage eines rekursiven Konstruktionsprozesses (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 19). Ob Aussagen (in Form von Sprache) oder Handlungen von einem Individuum, diese beruhen nach von Foerster auf inneren konstruierten Unterscheidungen (vgl. von Foerster 1979, S. 7). Diese wirken wiederum im Rahmen seiner Metapher der nicht-trivialen Maschine auf die Verarbeitung neuer Wahrnehmungen ein, so dass das Individuum ständig mit seiner Vergangenheit arbeitet. Wie bereits bei der Schismogenese von Bateson kann auch hieraus die implizite Verwendung von Zeit für das Modell eines individuellen Pfades expliziert werden. Verschiedene Entscheidungszeitpunkte liefern zum Beispiel eine Unterscheidung in t, aus der eine Handlung in t+1 erzeugt wird. Bei der Interpretation zu t+2 wirkt die alte Unterscheidung erneut und führt zu einem verarbeiteten Konstrukt in t+3. Die grafische Einarbeitung in die vorläufige Darstellung des Modells individueller Pfade erfolgt durch die schriftliche Notierung der Zeitpunkte an den Prozessschritten.
145
Auch Ernst von Glasersfeld erwähnte den Einfluss vergangener Entscheidungen bei der Interpretation von Veränderung und Bewegung. Durch die von ihm eingeführten Begriffe des Proto-Raumes und der Proto-Zeit, was Maturana und Varela als Strukturdeterminismus beschrieben, kann das Individuum alte Unterscheidungen als Struktur weiterführen (vgl. auch von Glasersfeld 1995b, S. 63 nach Raskin 2002, S. 6). Jede Handlung und jede Interpretation ist damit ein geschichtsabhängiger, rekursiver Prozess – von Glasersfeld beschreibt ihn auch als ‚stimulus’ mit einer ‚reinforced response’ (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 180). Bei der Interpretation ist von Bedeutung, wie stark die Erwartung aus der alten Unterscheidung ist und damit das Ergebnis bestimmt (vgl. von Glasersfeld 1984). Diese Erwartungsbildung hängt nach von Glasersfeld von dem Glauben des Individuums an Kausalität und Wiederholung ab (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 152). Durch den Glauben an die Wiederholung werden neue Erfahrungen auf bereits existierende Erfahrungen (durch sensomotorische Aktionen) reduziert, ohne die Sensibilität für die neue Situation zu besitzen (vgl. Raskin 2002, S. 6). Dieser Glaube an Wiederholung durch Individuen bestärkt diese darin, getroffene Unterscheidungen im Proto-Raum über der Proto-Zeit konstant mitzuführen. Tauchen dann ähnlich Unterscheidungen im Erleben wieder auf, dann entsteht durch die Erinnerung der Vergangenheit ein abstrahierter Ereignisfluss (vgl. von Glasersfeld 1996a, S. 6). Nur durch diese Erinnerung an getroffene Unterscheidungen (z.B. welche Taste gerade auf der Tastatur gedrückt wurde) entsteht die Vorstellung von einem Prozess (z.B. des Tippens von Tasten auf der Tastatur). Die Wirkung des Prozesses ist, dass die Wahrscheinlichkeit der Wiederverwendung steigt und die Veränderungswahrscheinlichkeit damit sinkt (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 180). Im Rahmen des Modells individueller Pfade ist die Erinnerung durch von Glasersfeld in Bezug auf die ProtoZeit und den Proto-Raum sowie der Glaube von Bedeutung. Die auch von ihm implizit angesprochenen Zeitpunkte der Einwirkungsmöglichkeit vergangener Erfahrungen können wieder explizit als Zeit eingeführt werden. Jedoch bezeichnen diese Zeitpunkte nur erinnerbare Handlungsmöglichkeiten aus der Perspektive des Individuums, sie sind nicht in Bezug auf eine externe und objektive Zeit zu sehen. Für die grafische Darstellung des Modells individueller Pfade müssten daher die einzufügenden Zeitpunkte (t) als Zeitpunkte in der Proto-Zeit (tp) visualisiert werden und der Glaube wirkt als Moderator in Form einer Raute auf die Unterscheidungen ein.
Im Rahmen der Diskussion radikalkonstruktivistischer Perspektiven und deren Vorstellung von Rekursion oder Selbstverstärkung konnten einige weitere Beiträge das Modell eines indi146
viduellen Pfades und der Überarbeitung der vorläufigen grafischen Darstellung extrahiert werden. Diese sind in der folgenden Liste zusammengestellt. x
Einführung von Zeitpunkten je Beobachtungsschritt,
x
‚drift’ als Verringerung der Veränderungsmöglichkeiten von Unterscheidungen oder als Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit,
x
Konservative Orientierung führt eher zur Wiederholung von Erlebtem
x
Zeitpunkte sind aus der Perspektive der Proto-Zeit (pt) erinnerbare Ereigniszeitpunkte und nicht objektiv an einem Zeitstrahl (t) orientiert,
x IV.3.2
Glaube an Wiederholung moderiert Erinnerung von Konstrukten.
Selbstverstärkung aus der Perspektive der Pfadforschung
Die Diskussion im letzten Unterkapitel zeigte deutlich, dass insbesondere von Piaget und Bateson Erweiterungen für das Modell eines individuellen Pfades angeregt wurden. Bei den radikalkonstruktivistischen Perspektiven wurde zwar weniger zum Interpretationsprozess diskutiert, dafür aber in Bezug auf die Entwicklung der Konstruktionen über der Proto-Zeit. In der nun folgenden Diskussion soll das Modell eines individuellen Pfades nun entsprechend der Diskussion bei der Pfadforschung mit den Facetten der Selbstverstärkung in Verbindung gebracht werden. Im Rahmen der eigenen Definition des Begriffs eines individuellen Pfades wurden diese Facetten der Selbstverstärkung aus der Pfadforschung zur Verbindung mit dem individuellen Einfluss bereits zusammengestellt (vgl. III.4). Zu den dort genannten Facetten zählten die ökonomische (das Nutzenkahlkühl, Ressourcen und dabei besonders monetäre Kosten, Skalenerträge), die emotionale, die kognitive (also Erwartungen, Erwartungserwartungen, Lerneffekte, Wahrnehmung) und die soziale Facette (wie Macht, Legitimität, Funktionalität, Komplementarität, Koordinationseffekte, Netzwerkeffekte, Konformität). Auf diese vier Facetten wird nun im Folgenden einzeln eingegangen, um deren Bezüge auf die individuelle Ebene zu verdeutlichen und Auswirkungen auf das Modell eines individuellen Pfades zu verdeutlichen. Beginnend mit der ökonomischen Facette gehörten zu dieser das Nutzenkalkül, Ressourcen und dabei insbesondere monetäre Kosten sowie Skalenerträge als Größenvorteile (Economies of Scale) oder Verbundvorteile (Economies of Scope). Alle diese Begriffe gelten jedoch nur innerhalb einer bestimmten Sprachlogik. Mit der Verwendung des Maximierungsprinzips der Betriebswirtschaftslehre ist die Ausnutzung von Skalenerträgen selbstverständlich. Aus einer
147
humanistischen Perspektive ist die Akzeptanz spezifischer Kosten zu Steigerung des individuellen Wohlbefindens (z.B. Arbeitszufriedenheit) auch ohne direkte Kostenvorteile sinnvoll. Skalenerträge, welche zum Beispiel zu Lasten der Arbeitsqualität gehen – durch eine Erhöhung der Arbeitszeit und der pro Kopf Produktion –, werden aus humanistischer Perspektive nicht angestrebt. Auch die versunkenen Kosten als Ressourcenabhängigkeit sind eine relative Größe. Ein Unternehmen mit Barmitteln oder einem Working Capital von 50 Mio. € gegenüber einem Unternehmen mit 1 Mio. € wird eine Investitionssumme von 900.000 € schneller als Verlustgeschäft abschreiben. Das Unternehmen mit dem geringeren Working Capital wird versuchen die Investition zu retten und mehr Geld investieren. Für die Wirkung von Skaleneffekten wie auch für Ressourceneffekte ist also die individuelle Unterscheidung über die Zielgröße und Erwartung sowie die daraus entstehende Handlung entscheidend und nicht der Effekten selbst. Wenn Individuen als Manager sich nur einer Kapitalorientierung zuwenden werden sie anders entscheiden, als solche mit einer Humanorientierung. Wesentlicher Faktor ist dabei, wie sie die an sie herangetragenen Anforderungen (z.B. durch Leistungslöhne oder Vertragsvorgaben für Geschäftsführer) interpretieren und eventuell akzeptieren. Je nach Kulturkreis, also der eigenen Erfahrung der Individuen, werden sie sich anders entscheiden108. Das Nutzenkalkül, die Skaleneffekte wie auch die Ressourcenabhängigkeit können in dem Modell individueller Pfade auf die bereits enthaltenen Faktoren der Unterscheidung, Erwartungsbildung in Bezug auf Zielgrößen und die Interpretation zurückgeführt werden. Aus der Diskussion zu der ökonomischen Facette der Selbstverstärkung sind somit keine Änderungen im Modell und auch nicht in der vorläufigen grafischen Darstellung notwendig. Gleichzeitig relativiert diese Diskussion aus der Perspektive eines individuellen Pfades die Analyse von Skaleneffekten oder versunkenen Kosten als Ursache für soziale Pfade, wenn diese nicht als Entscheidungsgrundlage durch Individuen berücksichtigt wurden.
Die nächste Facette der Selbstverstärkung entsprach der Emotion ohne weitere Untergliederungen. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades fehlt Emotion bisher und könnte als Ebene der Unterscheidung bezüglich bestimmter Wahrnehmungen aufgefasst werden. Diese Emotionen stellen dabei neben den bisherigen Sinnen die sechste Ebene dar und können auf die Erwartungsbildung ebenso einwirken. Die vorläufige grafische Darstellung des Mo-
108
Ein Verweis auf die hier nicht zu führende Debatte der protestantischen Ethik (vgl. Weber 2000) wie auch dem hinduistischen Konzept von ‚Artha’ (vgl. Sharma 2001; Roedenbeck 2006) soll genügen.
148
dells eines individuellen Pfades ist daher um ein Bild zur Emotion als Ebene neben den Sinnen zu erweitern.
Als dritte Facette wurde die kognitive oben aufgeführt. Dazu zählten zunächst Erwartungen und Erwartungen über Erwartungen – auch Erwartungserwartungen. In dem Modell individueller Pfade sind bereits Erwartungen mit deren Einwirkungen auf die Handlung, Sensorik und Interpretation als Moderator enthalten, die Erwartungserwartungen sind aber neu. Da aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit nicht nur Erwartungen über Ergebnisse durch das Individuum, sondern auch Erwartungen über die Erwartungen von anderen an das Individuum gebildet werden, sind die Erwartungserwartungen als weiterer Moderator im Modell zu berücksichtigen. Um die vorläufige grafische Darstellung nicht unnötig zu verkomplizieren, bietet es sich an, die Erwartungen und die Erwartungserwartungen zusammenzufassen und als einen Moderator der Erwartungen n-ter Ordnung zu bezeichnen. Lerneffekte sind in dem Modell eines individuellen Pfades bereits aufbauend auf der Diskussion der Arbeiten von Bateson und Piaget enthalten und müssen nicht separat berücksichtigt werden. Die Wahrnehmung selbst ist schon ein Faktor im Modell, welcher auch schon in der vorläufigen grafischen Darstellung enthalten ist. Auf der Grundlage dieser Zuordnungen und Modifikationen ist für das Modell eines individuellen Pfades auf Basis der kognitiven Facette der Selbstverstärkung nur die Veränderung des Moderators der Erwartung zum Moderator der Erwartungen n-ter Ordnung von Bedeutung. Grafisch kann der bisherige Moderator der Erwartung in der vorläufigen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades mit einer neuen Bezeichnung versehen werden. Die vierte und letzte Facette aus der Pfadforschung zur Selbstverstärkung war die soziale. Hierbei wurden Macht, Legitimität, Funktionalität, Komplementarität, Koordination, Netzwerke und Konformität genannt. Macht, Komplementarität und Konformität sind drei Aspekte, welche zwischen Individuen entstehen und wirken. Je nach der individuellen Erwartungshaltung und Interpretation der Handlungen des anderen kann eine Abhängigkeit entstehen. Die Unterscheidung, von dem anderen abhängig zu sein, erzeugt bewusst oder unbewusst ein Unterwerfungs-Macht-Verhältnis. Die Unterscheidung, den anderen für etwas gebrauchen zu können, erzeugt eine Komplementarität. Die Unterscheidung, dass der andere mehr Wissen hat oder einen höheren Staus hat als das Individuum selbst, erzeugt eine Konformität. Alle Prinzipien beruhen dabei auf Unterscheidungen und der Akzeptanz bestimmter Abhängigkeiten. Komplementarität auf der ebene von Konstruktionen kann auch so verstanden werden, dass vorhandene Unterscheidungen mit weiteren Unterscheidungen verknüpft werden und da149
mit kaum nicht-anknüpfungsfähige Unterscheidungen Berücksichtigung finden (vgl. Ackermann 2003, S. 239 ff. in Verbindung mit Bower & Hilgard 1981, S. 424; Coombs & Hull 1998). Die Legitimität als weiterer Punkt im Rahmen der sozialen Facette kann auf die Akzeptanz bestimmter Abhängigkeiten bei Macht oder Konformität zurückgeführt werden. Aus der Perspektive dieser Arbeit bedeutet ‚Legitimation’ Unterscheidungen, die von außen an das Individuum herangetragen werden, zu akzeptieren. Auf Grundlage dieses Verständnisses ist für Macht, Komplementarität, Konformität und auch Legitimität der im Modell individueller Pfade bereits vorhandene Moderator der ‚Akzeptanz’ der wesentliche Bezugspunkt. Dieser wirkt auf den Prozess der Interpretation bei dem Individuum ein. Im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung ist durch die obige Berücksichtigung keine Veränderung nötig. Die Koordination und Netzwerke ist aus der individuellen Perspektive ebenso als Akzeptanz spezifisch erwarteter Nutzenvorteile zu sehen. Individuen treffen z.B. Unterscheidungen bezüglich des Besitzes von Musik. Wenn ihre Zielfunktion die Maximierung ist und sie in Tauschnetzwerken einen erwarteten Nutzen bestätigt sehen, dann werden sie sich an Tauschbörsen beteiligen. Dies steigert für andere Individuen die Attraktivität der Tauschbörsen. Je höher also die Erwartung und je besser sie zur Unterscheidung der eigenen Ziele passt, desto eher wird sich das Individuum daran beteiligen. Die Handlung eines Individuums ist von anderen Individuen beobachtbar (als angemeldeter Nutzer) und daher beziehen sie diese in ihre Unterscheidung in Bezug auf die Wertigkeit eines Netzwerkes mit ein. Unterscheidungen, Erwartung und Wahrnehmung spielen in dem Prozess der Netzeffekte aus der Perspektive eines Modells individueller Pfade die zentralen Rollen. Auch der letzte verbleibende Aspekt der Funktionalität kann in das Verständnis von Erwartung, Handlung, Sensorik und Interpretation eingruppiert werden. Von Glasersfeld bezeichnete die Funktionalität bereits als ein subjektives Kriterium. So kann die Verwendung von Tauschbörsen auf Grund des Netzwerkeffektes als eine funktionale Handlungsweise zur Beschaffung von Musik interpretiert werden, obwohl das Herunterladen von Musik aus diesen Netzwerken mittlerweile strafbar ist. Als ebenso funktionale Herangehensweise kann die Beschaffung von Musik durch den Kauf einer CD interpretiert werden, die aber auf Grund von Geldmangel durch das ein oder andere Individuum als weniger funktional eingestuft wird. Funktionalität wird also durch Wahrnehmung (Tauschnetzwerke vs. CD-Geschäft), Handlung (Datentausch vs. Kauf) und Interpretation (Möglichkeit vs. Illegalität) bestimmt. Das Modell individueller Pfade ist also auch in diesem Punkt nicht zu erweitern, da bereits mit den vorhandenen Faktoren Funktionalität erfasst werden kann. 150
Aus der Diskussion der sozialen Facette der Selbstverstärkung ist somit ergänzend zu den bereits vorhandenen Faktoren im Modell nur der Beitrag zu extrahieren, dass bei der Komplementarität auf der Ebene der Konstruktionen vorhandene kognitive Strukturen bei neuen Situationen verwendet werden.
Im Rahmen der Diskussion der Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung wurden alle beinhalteten Aspekte auf die individuelle Ebene zurückgeführt und mit dem Modell eines individuellen Pfades verknüpft. Zur Erweiterung des Modells sind jedoch auch Ergänzungen extrahiert worden. Die folgende Liste stellt eine Übersicht dar und wird dann im folgenden Kapitel für die grafische Umsetzung als Basis dienen. x
Emotion als Ebene der Unterscheidung,
x
Erwartungen werden zur Erwartung n-ter Ordnung,
x
Neue Situationen verwenden alte kognitive Strukturen.
IV.3.3
Erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung
In den beiden vorherigen Unterkapiteln wurde das Verständnis von Rekursion und impliziter Zeit bei den konstruktivistischen Perspektiven diskutiert, um deren Anschlussfähigkeit an die Selbstverstärkung zu verdeutlichen. Zudem wurden dabei die Facetten der Selbstverstärkung aus der Pfadforschung diskutiert, um die oft als sozial beschriebenen Facetten an die individuelle Analyseebene anzuknüpfen.
Beide Schritte ergaben einige Änderungen für das Modell und damit auch Änderungen an dessen vorläufiger grafischer Darstellung. 19 Einzelnennungen wurden dabei wieder durch die Bildung von Oberbegriffen für die Bezeichnung von Gleichem auf neun reduziert (vgl. Anhang 1). Diese neun Änderungen werden nun der Reihe nach in Bezug zu dem zu entwickelnden Modell eines individuellen Pfades diskutiert, um Möglichkeiten deren grafischer Darstellung in der obigen vorläufigen Darstellung aufzuzeigen (vgl. dazu Abbildung 09). Als zentrale Erweiterung in das Modell eines individuellen Pfades sind die Proto-Zeitpunkte zu überführen. An mehreren Stellen (z.B. Bateson, Maturana, von Foerster) konnte die implizite Zeitverwendung gezeigt werden, welche nun explizit berücksichtigt wird. Da jedoch von Glasersfeld bereits Zeit als emergente Größe durch die Verbindung von Erinnerungen und Handlungszeitpunkt darstellte, können die Zeitpunkte nicht im Sinne eines ‚objektiven’ Zeitstrahls angeordnet werden. Die Zeitpunkte der einzelnen Prozessschritte entsprechen in dem 151
Modell eines individuellen Pfades Proto-Zeitpunkten. Diese Proto-Zeitpunkte sind aus der Perspektive des Individuums möglicherweise erinnerbare Entscheidungszeitpunkte (Erwartungsbildung, Handlung, Fokussierung, Interpretation), so dass ein Prozess der Konstruktionsbildung im Individuum entsteht. Jeder dieser Aspekt in der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells erhält also jetzt einen Proto-Zeitpunkt (pti). Durch die Rekursivität des Individuums spielt es keine Rolle, wo mit der Zählung der Indizes der Proto-Zeit begonnen wird, die Abstände zwischen den einzelnen Proto-Zeitpunkten müssen dabei trotz eines fortlaufenden Indexes (i = 1,2, …, n) nicht identisch sein. Der Einfachheit halber entspricht die Unterscheidung dem Anfang und Endpunkt eines Prozesses. Die bisherige Interpretation in dem Modell eines individuellen Pfades wird auf Grundlage der obigen Diskussion erweitert. Bisher war unter Interpretation die angenommene Gleichheit oder allgemeine Interpretation verstanden worden. Bateson und Piaget verdeutlichten aber, dass insbesondere durch Interpretationen der Ungleichheit und nachfolgender Anpassung der Prozess eine Verstärkung erfährt. Die Lerntypen nach Bateson können mit den Lerntypen von Piaget verknüpft werden, so dass nun Assimilation (Lernen I, Gleichheit, Reflexionsgewohnheit) und Akkommodation (Lernen 0 als inkrementeller Wandel, Lernen II als Reflexion und Lernen III als Fundamentalwandel) in das Modell eines individuellen Pfades übernommen werden. Der von Bateson ausdifferenzierte Wandlungsprozess in Reflexion und Fundamentalwandel spielt keine besondere Rolle mehr, da Bateson selbst unter ‚Fundamentalwandel’ nur die Veränderung von Unterscheidungen versteht, die Grenzen für andere Unterscheidungen darstellen. Die Assimilation und Akkommodation werden im Rahmen des Modells nun als Ergebnis der Interpretation verstanden. Im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades kann daher der Pfeil zwischen Interpretation und Unterscheidung nun mit zwei parallelen Pfeilen () und den Bezeichnungen Assimilation und Akkommodation ersetzt werden. Anlehnend an den Fundamentalwandel bei Bateson wurde im Rahmen der obigen Diskussion dabei der Glaube an bestimmte Unterscheidungen, die die Grenzen für weitere Unterscheidungen darstellen, extrahiert. Diese Unterscheidungen können auch als ‚Grenz-Unterscheidungen’ bezeichnet werden und stellten für Maturana die endgültige Grenzen für eine Struktur dar (vgl. Maturana 1980, S. 57). Diese Grenz-Unterscheidungen werden dann im Fundamentalwandel verändert. Der Glaube an diese Grenz-Unterscheidungen moderiert für die daran anknüpfbaren anderen Unterscheidungen z.B. den Zusammenhang zwischen verschiedenen Unterscheidungen als kausale oder paradoxe Verknüpfung. Diese Grenz-Unterscheidungen 152
sind z.B. die Antworten auf metaphysische Fragen (vgl. von Foerster 1993a, S. 73). Für das Modell eines individuellen Pfades wird also der Glaube als Moderator für Unterscheidungen berücksichtigt, wobei die vorläufige grafische Darstellung des Modells um den Moderator des Glaubens als große Raute () unter den Kasten der Unterscheidungen erweitert werden kann. In Rückgriff auf die im Modell nun schon eingeführte Assimilation und Akkommodation war im Rahmen der Diskussion noch unklar, in welchem Verhältnis diese nun stehen. Während Piaget von einem Gleichgewicht beider ausging wurde in den radikalen Perspektiven formuliert, dass die konservative Orientierung des Individuums eher zum Erleben des bisher bekannten führt. Auf Basis dieser Aussage könnte davon ausgegangen werden, dass eine Assimilation der Akkommodation bevorzugt wird. Diese Frage wird im anschließenden Kapitel zum Thema des subjektiv individuellen Lock-Ins noch einmal aufgegriffen. Bei Bateson und Piaget wurde angemerkt, dass die Gewohnheitsbildung oder Lernprozesse nur für einzelne Unterscheidungen und nicht für das ganze Individuum gelten. Damit kann also eine Gewohnheitsbildung für spezifische Unterscheidungen vorliegen, andere sind jedoch noch flexibel. Zur Verdeutlichung dieses Zusammenhangs ist in dem Modell eines individuellen Pfades der allgemeine Unterscheidungsoperator mit seinem ‚re-entry’ um den Index i zu ergänzen ( i). Mit der Einführung der Proto-Zeitpunkte (pt) wurde die Erinnerungsfähigkeit verdeutlicht. Allerdings ist das Verständnis der meisten Perspektiven davon eine binäre Logik des Aufbaus (ja/nein) oder der Veränderung (ja/nein). Insbesondere durch die radikalkonstruktivistischen Perspektiven wurden die Erinnerungszeitpunkte miteinander verglichen und von einer inkrementellen Veränderung der Unterscheidungen gesprochen – oder ‚drift’. Der ‚drift’ von Unterscheidungen bedeutet dabei die Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit und die Verringerung der Veränderungsmöglichkeiten auf Basis vielfacher positiver oder negativer Erfahrungen. Insbesondere durch den ‚drift’ in Kombination mit der Proto-Zeit wird die bisher implizite Selbstverstärkung nun explizit deutlich. Der ‚drift’ wird in dem Modell eines individuellen Pfades als Ereignis für den allgemeinen Unterscheidungsoperator ( ) in Abhängigkeit von der Proto-Zeit (pt) eingetragen (Æ pt). Dessen Einfluss entspricht der Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit (Pmod( )). Dieser Zusammenhang kann in die vorläufige grafische Darstellung innerhalb des Kastens für die Unterscheidungen notiert werden. Die Emotion wurde als weitere Ebene neben den fünf Sinnen angesehen und kann so auch im Modell eines individuellen Pfades berücksichtigt werden. Im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung kann also die Emotion neben den Sinnen eingezeichnet werden. Da die bis153
herige grafische Darstellung des Modells auf Bilder der Sinne zurückgreift, wird die Emotion als Herz ( ) daneben eingereiht. Als letztes kann die Erweiterung der Erwartung, welche bisher als Moderator im Modell des individuellen Pfades enthalten war, als Erwartung höherer Ordnung (oder n-ter Ordnung) in das Modell eines individuellen Pfades übernommen werden. Der Moderator der Erwartung ist also mit dem Moderator der Erwartung n-ter Ordnung zu ersetzen. Im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades braucht dabei nur die Bezeichnung des Moderators ‚Erwartung’ ersetzt zu werden. Alle diese Änderungen können in der folgenden modifizierten Abbildung der ersten, vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades wieder gefunden werden (vgl. Abbildung 09).
Abbildung 09 – Erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades
Diese Abbildung veranschaulicht nun nicht nur das rekursive Individuum, sondern durch die Proto-Zeit ein Individuum, welches seine eigenen Konstrukte selbst verstärkt.
154
Im Rahmen dieses Kapitels konnte auf Basis der Literaturdiskussion das Modell eines individuellen Pfades erweitert und die Erweiterungen in die vorläufige grafische Darstellung des Modells integriert werden. Durch die verschiedenen Erinnerungszeitpunkte der Proto-Zeit (pt) und die Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit und auch -möglichkeit von Unterscheidungen wurde ein ‚drift’ der Unterscheidungen deutlich. Dieser ‚drift’ kann dabei für unterschiedliche Unterscheidungen bereits unterschiedlich weit fortgeschritten sein. Durch die dreifache Auswirkung einmal getroffener Unterscheidungen – moderiert durch die Erwartungen – auf die Handlung, die Fokussierung und die Interpretation werden über den ‚drift’ die Verwendung der Unterscheidung bestärkt und ihre Form sowie die Grenzen stabilisiert. Hiermit ist das zweite Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades auf der Ebene individueller Konstruktionen darstellbar, wobei in Anlehnung an die Abbildung von Monge (1995) die Verstärkung von der Unterscheidung über die drei Wege der Handlung, Fokussierung und Interpretation zurück zu den Unterscheidungen erfolgt. In Abgrenzung zu dem Prozess der Selbstverstärkung ist in Anlehnung an Piaget zu formulieren, dass solange Akkommodation und Assimilation in einem Gleichgewicht liegen, die Selbstverstärkung in Grenzen gehalten wird. Fundamentale Wandlungen (Bateson Lernen III) oder Reflexion (Bateson Lernen II) sind ebenso möglich wie inkrementelle Veränderung (Lernen 0). Sobald jedoch ein ‚drift’ die Assimilation begünstigen würde, würde die Verstärkungswirkung wahrscheinlich zu einer Stabilisierung führen. Und eben diese Stabilisierung ist das letzte, noch zu diskutierende, dritte Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades: das Ergebnis des Prozesses als intra-individueller Lock-In. Die Beiträge der konstruktivistischen Perspektiven im Hinblick auf diesen Punkt und in Bezug auf dessen Destabilisierung werden im nun folgenden Kapitel diskutiert.
IV.4 Individuelle Konstruktion, Lock-In und dessen Überwindung In dem vorherigen Kapitel wurde auf Basis der Literaturdiskussion das Modell eines individuellen Pfades erweitert und die Erweiterungen in die vorläufige grafische Darstellung integriert – und zwar im Hinblick auf die Selbstverstärkung und die implizite Zeit. Auf Grund der eher weniger häufig anzutreffenden Analyse des Prozesses der Konstruktion wurde bei der Diskussion nur Bateson und Piaget, die Theorie persönlicher Konstrukte und radikalkonstruktivistische Perspektiven analysiert. Zudem wurde der Beitrag der Pfadforschung für diesen Punkt noch einmal verstärkt untersucht, um die Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung an die individuelle Analyseebene zu knüpfen. Das Ergebnis ist die erste Erweiterung der vorläu155
figen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades. Offen blieb bei dem Kapitel die Diskussion über die Stabilisierung der Konstruktionsbildung in Anknüpfung an den ‚drift’, so dass genau dieser Punkt im Folgenden diskutiert wird.
Entsprechend der Einleitung zu diesem Abschnitt werden die Beschreibungen der Stabilität von Prozessen in den konstruktivistischen Perspektiven detaillierter untersucht. Der ‚drift’ von Unterscheidungen wurde bereits im vorherigen Kapitel in das Modell integriert, wobei nun das Ergebnis des ‚drift’ analysiert wird. Auch hier erfolgt zunächst eine Analyse der konstruktivistischen Perspektiven, diesmal aber bezogen auf das Ergebnis eines Prozesses der Konstruktionsbildung (IV.4.1). Wie bereits im vorherigen Kapitel werden nur die Arbeiten analysiert, welche auch schon einen Beitrag zum Prozessverständnis der Konstruktionsbildung beigetragen haben. Somit fließen nur drei der gruppierten Perspektiven ein. Die Analyse umfasst die Anfänge konstruktivistischer Perspektiven (Bateson und Piaget), die Theorie persönlicher Konstrukte (Kelly) sowie die radikalkonstruktivistischen Perspektiven. Neben diesen Beiträgen wird auch hier die Pfadforschung noch einmal adressiert, um die Interpretation des intra-individuellen Lock-Ins und die Destabilisierung an die individuelle Analyseebene zu binden (IV.4.2). Diese Ergebnisse werden dann zusammengestellt und als zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades in eine dritte Abbildung übertragen (IV.4.3). Hieran soll dann das dritte Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades verdeutlicht werden. Diese zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades dient dann als Grundlage zur Diskussion der theoretischen Annahmen und auch zur Aufstellung empirischer Annahmen für die durchzuführende explorative Vorstudie.
IV.4.1
Lock-In und dessen Überwindung in konstruktivistischen Perspektiven
Dieses Kapitel ist auf die Analyse des intra-individuellen Lock-Ins bei konstruktivistischen Perspektiven ausgerichtet. Wie bereits in Kapitel IV.2 durchgeführt, werden die aus den Zusammenfassungen ermittelten und als wichtig erachteten, konstruktivistischen Perspektiven dabei untersucht. Allerdings wurde einleitend die Anzahl der zu berücksichtigenden Autoren reduziert, da nur wenige ein Prozessverständnis über die Bildung von Konstruktionen behandelten. Der Fokus dieses Kapitels liegt auf dem Prozessergebnis.
156
Im Rahmen der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven entwickelten Bateson und Piaget Prozessverständnisse, so dass deren Ergebnisbetrachtungen in die Analyse einfließen können. Ebenso entwickelte Kelly in seiner Theorie persönlicher Konstrukte Ideen über die Stabilität des Charakters, welche hier Beachtung finden werden. Die radikalkonstruktivistischen Perspektiven weisen mehrere Ansätze eines Prozessverständnisses auf, so dass diese alle in die Analyse mit eingehen. Innerhalb der gemäßigten Perspektiven wurden oben keine Beiträge ausgemacht, so dass diese auch hier nicht berücksichtigt werden. Alle aufgelisteten Ansätze werden fokussiert auf deren Beitrag zu dem Prozessergebnis von Konstruktionen analysiert. Die jeweiligen Ergebnisse werden in Listen zu den einzelnen Gruppierungen zusammengestellt. Diese werden nach der Diskussion des intra-individuellen Lock-Ins aus der Perspektive der Pfadforschung in eine zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades übertragen.
IV.4.1.1
Beiträge aus den Anfängen konstruktivistischer Perspektiven
Wie bereits bei der Diskussion zur Rekursion und Selbstverstärkung sind – im Rahmen der Anfänge konstruktivistischer Perspektiven – insbesondere die Beiträge von Bateson und Piaget zu einem Prozessergebnis von Konstruktionsbildung zu untersuchen. Somit wird hier zunächst noch einmal auf die im vorherigen Kapitel schon erwähnte Gewohnheitsbildung von Bateson sowie auf das Gleichgewicht von Assimilation und Akkommodation nach Piaget eingegangen.
Bei Bateson ist zu lesen, dass er von Möglichkeit gewisser Problemen (als Strukturgebilde) ausgeht (vgl. Bateson 1996, S. 31). Diese Probleme bezeichnet er als Pathologien (vgl. Bateson 1996, S. 418). Insbesondere eingefahrene Wege von Wahrnehmungsgewohnheiten (vgl. Bateson 1996, S. 233) spiegeln für Bateson diese Probleme. So entsteht nach ihm auf der Basis vorhandener Konstrukte eine Wahrnehmungsgewohnheit durch Lernen I und II, wodurch Verhaltensstabilität erzeugt wird. Die Veränderung ist durch Lernen 0 und III möglich, welche durch Minimalkorrekturen (Lernen 0) oder fundamentalen Wandel (Lernen III) erreicht wird. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades führt also das Lernen I und Lernen II zu Gewohnheiten und nur Lernen 0 und III zu einem Wandel. Im Rahmen der grafischen Darstellung kann zur Verdeutlichung der Gewohnheitsbildung dienen, wenn das Verhältnis von Lernen 0 und III zu Lernen I und II über die Entscheidungszeitpunkte (pt) abgetragen wird – je mehr Lernen I und Lernen II erfolgt, desto stabiler wird das Individuum. 157
Ansätze zur Veränderung (als Lernen 0 und Lernen III) sieht Bateson in der Kommunikation (also durch Sprache), wodurch das Individuum A ihm bekannte Alternativen dem stabilisierten Individuum B vorstellt. Auch das Aufzeigen von Paradoxien zwischen verwendeten Unterscheidungen oder die Übertreibung von Erfahrungen können zur Veränderung führen (vgl. Bateson 1996, S. 391, 395). Mit diesen Methoden, so Bateson, könnte die paradoxe Doppelbindung (widersprüchliche verbale und nonverbale Kommunikation) durch den Therapeuten im Sinne des ‚therapeutischen double bind’ genutzt werden (vgl. Bateson 1996, S. 270, S. 423). Allerdings muss eine Änderung im Individuum auch durch das aufzeigen von Alternativen oder Paradoxien nicht zwangsläufig erfolgen (vgl. Bateson 1996, S. 426): „Schismogenese ist immer mächtiger als die daran beteiligten“ (Bateson 1996, S. 430). Daher gibt es nach Bateson keine Sicherheit für den Ausbruch aus den Gewohnheiten des Lernen I oder II (vgl. Bateson 1996, S. 395). Für das Modell eines individuellen Pfades kann der Kommunikationsprozess in der Therapie durch die Sensorik und Motorik sowie die Akzeptanz bei der Interpretation dargestellt werden. Auch die Bewusstmachung von verwendeten Paradoxien zwischen Unterscheidungen ist im Modell bereits enthalten. Somit ergeben sich keine Änderungen für das Modell und auch nicht für die grafische Darstellung.
Auch Piaget erkennt das Problem der Stabilität und zwar in seinen Begriffen durch zu häufige Assimilation. Während er Assimilation im Normalfall im Gleichgewicht zur Akkommodation sieht, könnte nach ihm eine zu häufige Assimilation eine weitere Akkommodation verhindern – das Gleichgewicht ist gestört. Begünstigt wird die häufigere Assimilation durch spezifische Einstellungen des Individuums wie ein fehlendes Ich-Bewusstsein, die Übertragung von Unterscheidungen des Denkens auf äußere, zwangsläufige Dinge und die Übertragung der Reziproken Unterscheidung auf äußere Dinge (vgl. Piaget 2003b, S. 45). Nur durch vielfache Wiederholung und Training von Akkommodation kann ein Individuum dann zurück zu dem Gleichgewicht von Assimilation und Akkommodation gelangen. Sollten die abweichenden Ereignisse aber als ‚Ausnahme zur Betätigung der Regel’ angesehen werden, erfolgt keine Veränderung. Für das Modell eines individuellen Pfades kann aus dieser Perspektive von Piaget geschlossen werden, dass erstens das Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation nicht vorliegen muss und zweitens, dass die Lösung bei zu häufiger Assimilation nur durch ein Training der Akkommodation erzielt werden kann. Im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung ist nur der erste Punkt zu integrieren, da der zweite bereits im Modell berücksichtigt wird. Die Darstellung der Entwicklung eines Ungleichgewichtes zwischen As158
similation und Akkommodation kann als deren Verhältnis über einzelne Entscheidungszeitpunkte als Grafik zwischen den beiden Pfeilen nach der Interpretation dargestellt werden.
Die beiden bei Piaget und Bateson extrahierten Beiträge zur Entwicklung des intra-individuellen Lock-Ins können in der folgenden Liste zusammengestellt werden: x
Entwicklung des Verhältnis von Lernen 0 und III zu Lernen I und II über Entscheidungszeitpunkte zur Gewohnheitsbildung bei Lernen I und II,
x
Entwicklung des Verhältnisses von Assimilation und Akkommodation über Entscheidungszeitpunkt von Gleichgewicht zur Stabilität als Grafik.
IV.4.1.2
Beiträge aus der Theorie persönlicher Konstrukte
Bei Bateson und Piaget konnte das Ergebnis des rekursiven Lernprozesses als Gewohnheitsbildung oder Stabilität beschrieben werden, sofern die Anpassung des Erlebten an die innere Struktur (Assimilation) die Veränderung der inneren Struktur (Akkommodation) überwog. Kelly hatte seine Beschreibung eines rekursiven Lernprozesses – durch Erinnerung von und als gleich interpretierte Unterscheidungen – auf der Bestätigung oder Veränderung der inneren Struktur aufgebaut. Bezüglich dem Ergebnis von wiederkehrender Bestätigung wird über Kelly geschrieben, dass dieser Individuen als ‚Gefangene’ ihrer Unterscheidungen ansah: „more or less locked within their own personal meaning systems“ (Raskin 2002, S. 6 zu Kelly). Dieser Zustand der Gefangenheit entsteht nach Kelly allerdings nicht in Bezug auf alle Unterscheidungen (Kelly 1991, S. 15), sondern nur in Bezug auf das ‚Selbst’ oder Sinnfragen – dieser Punkt wurde oben schon als Wahrheit der Selbst-Konstruktion genannt. Ähnlich wie Piaget beschreibt Kelly den Prozess des Umlernens über das Selbst-Bild als langen Weg (vgl. dazu als Zusammenfassung Raskin 2002, S. 4 über Kelly). Andere Unterscheidungen betrachtet Kelly dagegen als viel leichter veränderlich. In das Modell eines individuellen Pfades muss auf dieser Grundlage von Kelly nichts übernommen werden, da er die Bildung von Stabilität nur an spezifische Unterscheidungen bindet und nicht an den Konstruktionsprozess. Es ist auf der Grundlage der Darstellung von Kelly davon auszugehen, dass der Moderator der ‚Emotion’ sowie der Moderator des ‚Glaubens’ bei den Unterscheidungen über das ‚Selbst’ eine starke Rolle spielen. Für die vorläufige grafische Darstellung ergeben sich keine Veränderungen. Eine Lösung aus den Unterscheidungen über das ‚Selbst’, in denen das Individuum nach Kelly gefangen ist, kann über die Rollenverschreibung erfolgen. Nach einer umfassenden Analyse des Selbstbildes mit verschiedenen Verfahren (vgl. dazu (vgl. Kelly 1991, S. 219 ff.; Kelly 159
1991, S. 368 f.) wird dem Klienten ein neues Verhalten ‚verschrieben’ bei dem er neue Perspektiven leben und damit erlernen kann (vgl. Kelly 1991, S. 362; Kelly 1991, S.374f.)109. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades kann die Rollenverschreibung durch eine Kommunikation (bei der Sensorik und Motorik involviert sind) und anschließende Akzeptanz der ‚verschriebenen’, neuen Unterscheidungen bereits dargestellt werden. Änderungen für die vorläufige grafische Darstellung ergeben sich hierdurch ebenfalls nicht.
IV.4.1.3
Beiträge aus radikalkonstruktivistischen Perspektiven
Bei der Diskussion im letzten Kapitel wurden die Beiträge der Theorie persönlicher Konstrukte in Bezug auf den intra-individuellen Lock-In analysiert. Für das Modell eines individuellen Pfades und dessen grafische Darstellung ergaben sich keine Veränderungen. In der nun folgenden Analyse der radikalkonstruktivistischen Perspektiven werden die Beiträge von Maturana und Varela, Heinz von Foerster und Ernst von Glasersfeld in Bezug auf den intra-individuellen Lock-In untersucht. In den Arbeiten von Maturana und Varela wurde in Bezug auf die Selbstverstärkung von dem ‚drift’ gesprochen. Dieser entstand auf Basis der rekursiven Verwendung vergangener Unterscheidungen, welche in der jetzigen Situation geringere Möglichkeiten der Modifikation erlaubten. Auf Grund dieses ‚drift’ können Individuen nicht bestimmen, wann sie sich verändern und wann nicht (vgl. Maturana 1980, S. 35). Vielmehr ist Veränderung nach Maturana ein ‚kumulativer Effekt’ gleichgerichteter Interaktionen (vgl. Maturana 1980, S. 36). Damit verlangsamt der ‚drift’ Veränderungen und weist eine gewisse Nähe zum intra-individuellen Lock-In der Pfadterminologie auf. In Bezug auf das Modell eines individuellen Pfades kann anlehnend an diesen Beitrag der ‚drift’ als Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit durch die Verringerung der Veränderungsmöglichkeiten verstanden werden. Dieses müsste im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells berücksichtig werden. Neben der langsamen Veränderung durch den ‚kumulativen Effekt’ kann jedoch auch ein externer Schock, welcher die Selbsterhaltung des kognitiven Systems stört, radikale Änderungen hervorrufen (vgl. Raskin 2002, S. 7 zu Maturana). Das System ist dann durch den Schock dazu gezwungen, sich neu zu orientieren. Danach ‚driftet’ es aber wieder innerhalb der neuen 109
Kelly verweist auf die Wichtigkeit, dass die Rolle nicht als Bedrohung angesehen werden darf (vgl. Kelly 1991, S. 382). Damit sollte sie nicht in zu hohem Maße von dem eigentlichen Verhalten abweichen, sondern nur einige Facetten zur Bearbeitung eröffnen. Je mehr die Rolle als Teil des betroffenen Individuums von ihm selbst anerkannt wird, desto größer der Effekt (vgl. Kelly 1991, S. 380). Dabei setzte Kelly insbesondere auf die Mitarbeit der Klienten bei der Entwicklung der alternativen Rollen (vgl. Kelly 1991, S. 387).
160
Unterscheidungen zu einer Stabilität. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades kann der externe Schock an den Fundamentalwandel von Bateson geknüpft werden. Dieser wurde bereits berücksichtigt, so dass im Rahmen der vorläufigen grafischen Darstellung keine Veränderungen notwendig sind.
Ähnlich wie die Wirkung des soeben beschriebenen ‚drift’ sieht auch von Foerster bei der Rekursivität die Möglichkeit der Bildung von Stabilität. Durch die Verwendung der Analogie einer nicht-trivialen Maschine zur Veranschaulichung der Rekursivität von Individuen (vgl. dazu IV.2.3.2) berücksichtigt von Foerster bei seiner Erklärung von Stabilitäten immer nur den aktuellen Zustand der nicht-trivialen Maschine. Dies verdeutlicht er durch das Beispiel des Wurzeloperators als Zustandsfunktion in der nicht-trivialen Maschine. Bei dem Wurzeloperator (n-te x) mit x größer oder gleich 1 gilt für dessen Grenzwert (Limes mit n gegen Unendlich) das Ergebnis 1, wobei der Operator immer auf das letzte Ergebnis wieder angewendet wird (vgl. von Foerster 1994, S. 150 ff.). Das Ergebnis entspricht nun dem ‚Eigenwert’ des Wurzeloperators – das stabile Ergebnis. Dieses Ergebnis bezieht von Foerster wiederum als Analogie auf das Individuum und folgert, dass dessen Eigenoperationen zu einem Eigenverhalten führen (vgl. von Foerster 1994, S. 154). Verhalten stabilisiert sich, wobei Synonyme stabile ‚Eigenwerte’, ‚Eigenoperatoren’, ‚Eigenalgorithmen’, ‚Eigenprozess’ oder ‚Eigenverhalten’ sind (vgl. Portele 1994, S. 117; von Foerster 1995a, S. 55; von Foerster 1999b, S. 82). Hieraus folgert von Foerster weiter, dass Interaktionen mit anderen Individuen nur auf Basis dieser ‚Eigenwerte’ stattfinden und daher das, was ein Individuum in der Welt wahrnimmt, nur die Reaktionen der Umwelt auf das ‚Eigenverhalten’ des Individuums ist (vgl. von Foerster 1994, S. 155; von Foerster & Pörksen 2001, S. 60). Das Individuum erlebt sich damit nur ‚selbst’, wobei andere Individuen dabei ebenfalls auf das ‚Eigenverhalten’ reagieren – nach von Foerster werden Individuen damit zu ‚Verhaltenskomponenten’ des Gegenübers (vgl. dazu von Foerster 1994, S. 155). Für das Modell eines individuellen Pfades kann aus dieser Diskussion entnommen werden, dass der ‚drift’ am Ende zu einem Eigenwert führt. In Anlehnung an die Formelsprache zum Grenzwert des Wurzeloperators könnte für die vorläufige grafische Darstellung die Grenzwertbildung einer Unterscheidung mit dem Ergebnis des Eigenwertes dieser Unterscheidung skizziert werden. Für das Individuum liegt das Problem dieses Eigenwertes darin begründet, dass es seinen eigenen Eigenwert nicht sieht (vgl. von Foerster 1979, S. 6; dort ‚second order deficiency’), obwohl dieser als Grund des eigenen Handelns in ihm selbst liegt (vgl. von Foerster 1994, S. 161
147). Um diese Blindheit zu überwinden, sind nach von Foerster ‚therapies of second order’ notwendig (vgl. von Foerster 1979, S. 7). Diese fußen auf der radikalkonstruktivistischen Perspektive der Subjektivität, so dass das Individuum für sich selbst autonom einstehen muss (vgl. von Foerster 1994, S. 136; von Foerster 1979, S. 7). Veränderung ist demnach über die Selbst-Erkenntnis und das Selbst-Bewusstsein möglich und kann nur durch die Selbst-Verantwortung erreicht werden110. Dabei ist einer der wesentlichen Schritte seine Rekursivität zu erkennen, also dass Individuen keine trivialen, sondern eben nicht-triviale Maschinen sind. Eine Enttrivialisierung hin zur Wahrnehmung der eigenen Nicht-Trivialität sieht von Foerster als Ziel der Pädagogik wie auch der Psychotherapie (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 67). Durch den Glauben an die Trivialität der Individuen (vgl. von Foerster 1995b) wird dagegen die Verantwortungsabgabe111 begünstigt. Um diese Enttrivialisierung zu erreichen, schlägt von Foerster paradoxe Handlungsaufforderung (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 80) und zirkuläre Fragen (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 80) vor. Während die erste Methode den ‚double bind’ im Sinne des ‚therapeutischen double bind’ zur Verwirrung ausnutzt, werden bei der zweiten Methode innerhalb eines Systems die verschiedenen Sichtweisen ausgetauscht (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 80). Für das Modell eines individuellen Pfades kann aus dieser Diskussion entnommen werden, dass Individuen sich nicht über die Eigenwertbildung oder das Eigenverhalten bewusst sein müssen. Eine Lösung aus diesen Eigenwerten erfolgt nach von Foerster durch die Selbsterkenntnis und die Übernahme der Selbstverantwortung zur Lösung. Auf dieser Basis wird deutlich, dass auch hier entweder die Akzeptanz einer durch den ‚therapeutischen double bind’ ausgelösten Paradoxie erfolgten oder der innere Weg der Selbstveränderung als Training. Für die vorläufige grafische Darstellung des Mo-
110
111
Diesen Aspekt der Selbst-Verantwortung beschreibt von Foerster in seiner konstruktivistischen Ethik (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 161; von Foerster 1995a, S. 29; von Foerster 1994, S. 155) und der Aspekt greift das Paradoxon des Barons von Münchhausen auf. Nach von Foerster ist Ethik nicht aussprechbar (anlehnend an Wittgensteins Sätze 6421 und 6422), denn sobald dies geschieht handelt es sich um externalisierte Moral (vgl. von Foerster 1999a, S. 242; von Foerster 1995b). Ethik bedeutet dagegen selbst zu Handeln und seine Aussagen auf sich selbst zu beziehen (vgl. von Foerster 1997b, S. 74). Und daher ist in jedem gesprochenen und gedachten Wort bereits Ethik impliziert (vgl. von Foerster 1995b). So formuliert er innerhalb seiner eigenen Ethik als seinen ethischen Imperativ: „Heinz, handle stets so, daß die Anzahl der Möglichkeiten wächst“ (von Foerster & Pörksen 2001, S. 36). In jedem anderen Verständnis sieht er dagegen „ein beliebtes Gesellschaftsspiel, sich der Verantwortung zu entziehen“ (von Foerster 1995a, S. 29; von Foerster 1999b, S. 44). Diese Abgabe der Verantwortung ist nach Heinz von Foerster insbesondere durch folgende Sätze zu erkennen: ‚Mir wurde gesagt das zu tun’, oder ‚Ich hatte keine Wahl außer das zu tun’ (vgl. von Foerster 1995b). Besonders häufig werden diese Aussagen in hierarchischen Systemen getroffen und daher sind hierarchische Systeme auch die beste Form den Trivialitätsglauben aufrecht zu erhalten – Institutionen schützen damit vor der oder behindern eben die Übernahme der Selbst-Verantwortung (vgl. von Foerster 1995b).
162
dells ergeben sich keine Änderungen, da die Akzeptanz als Moderator und das Training der Selbstveränderung bereits durch die bewusste Akkommodation ermöglicht wird.
Von Glasersfeld beschäftigte sich nur wenig mit der Möglichkeit einer Stabilisierung als vielmehr mit den Prinzipien der Assimilation, Akkommodation und Äquilibration. In einer Quelle über von Glasersfeld wird seine Perspektive einer unausgewogenen Assimilation wie folgt zusammengefasst: „people are locked inside their own subjective experiences“ (Raskin 2002, S. 7 zu von Glasersfeld). Da Individuen im Sinne der Assimilation selbst bei starker Störung das wählen, was die Erfahrung der Störung eliminiert oder reduziert (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 152), kann eine Vermeidungsstrategie ohne Veränderung entstehen. Akkommodation als Veränderung der Unterscheidungen des Individuums entspricht nach von Glasersfeld und seinen Begriffen von ‚fit’ und ‚Viabilität’ nur einer Anpassung der Unterscheidungen und den sich daraus ergebenden Erwartungen (vgl. von Glasersfeld 1995b, S. 66). Wie schon von Foerster im Rahmen seiner konstruktivistischen Ethik formulierte, sieht auch von Glasersfeld die Ursache für eine Wandlung in dem Individuum selbst (vgl. von Glasersfeld 1981, S. 17; vgl. auch von Glasersfeld 1984). Für das Modell eines individuellen Pfades sind aus dieser Diskussion keine weiteren Änderungen zu übernehmen, auch die vorläufige grafische Darstellung muss daher nicht angepasst werden. Das Zitat über von Glasersfeld unterstützt die Wortwahl des intra-individuellen Lock-Ins durch den Ausdruck ‚locked inside their own’.
Bei der Diskussion der radikalkonstruktivistischen Perspektiven in Bezug auf den intra-individuellen Lock-In wurden einige wenige Beiträge extrahiert, welche in der folgenden Liste zusammenfasst sind. x
‚drift’ verlangsamt Veränderung da er die Veränderungsmöglichkeit verringert,
x
‚drift’ führt zu Eigenwert oder Eigenverhalten
x
Eigenwert ist oft unbekannt, kann aber selbst reflektiert (durch Erkennung der NichtTrivialität) und verändert (durch Selbstverantwortung) werden
IV.4.2
Lock-In und Brechung aus der Perspektive der Pfadforschung
Bei der Diskussion über den intra-individuellen Lock-In aus konstruktivistischen Perspektiven wurden besonders Beiträge aus den radikalen Perspektiven für das Modell eines individuellen Pfades ermittelt. Bevor die vorläufige grafische Darstellung des Modells zum zweiten Mal er-
163
weitert wird, sind nun noch Anregungen aus der Pfadforschung mit in die Debatte aufzunehmen.
In der Pfadforschung gab es verschiedene Vorstellungen bezüglich des Lock-Ins, welche in Bezug auf die Übertragung auf die individuelle Ebene diskutiert wurden. Im Ergebnis wurde das Verständnis verwendet, dass der intra-individuelle Lock-In der sinkenden ‚Rückkehrwahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfreiheit’ über der Zeit entspricht. Der intra-individuelle Lock-In ist damit ein graduelles Phänomen, welcher im Verlauf des Prozesses steigt, da die Rückkehrwahrscheinlichkeit sinkt. Ineffizienz als Kriterium wurde nach dem Pangloss-Argument nicht berücksichtigt, sondern gegen die wahrgenommene individuelle Stabilität ausgetauscht. Die Bewertung des intra-individuellen Lock-Ins als positiver oder negativer Zustand ist durch das Individuum durchzuführen, wenn es z.B. an der Norm der Umwelt zu verzweifeln droht. Für das Modell eines individuellen Pfades ist damit die Bildung eines Lock-Ins mit der sinkenden Rückkehrwahrscheinlichkeit in Verbindung zu bringen. Zudem ist die subjektive Bewertung des Zustandes einzuführen, damit das Individuum dessen Positivität oder Negativität feststellen kann. Bei der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells ist diese Entwicklung der Rückkehrwahrscheinlichkeit mit dem Verhältnis von Assimilation und Akkommodation in Verbindung zu bringen. Die Reflexion über den intra-individuellen Lock-In und dessen Bewertung mit der Darstellung der Stabilität (also dem Eigenwert) mit einem Plus und Minus verknüpft werden. Für die Brechung des Lock-Ins wurde aus der Diskussion der Pfadforschung entnommen, dass diese durch permanente Entgegenwirkung zur aktiven Selbstverstärkung (Ausbremsung) oder durch ein abruptes Unterbrechen dieser (Auflösung) erfolgt. Beide Varianten, also die Auflösung und die Unterbrechung, werden für das Modell eines individuellen Pfades übernommen. Bei der Ausbremsung muss das Individuum gegen die Selbstverstärkung arbeiten, welche sich nach dem vorherigen Kapitel durch die Wirkung einer Unterscheidung auf die Erwartung, Handlung, Fokussierung und Interpretation ergab. Bei der Auflösung muss dass Individuum in Anlehnung an die Äquilibration eine Grenz-Unterscheidung (die mit dem Glauben stark verknüpft ist) verändern (durch Erfahrung oder Reflexion), wodurch auf der rein imaginativen Ebene eine Veränderung (Akkommodation) der damit verketteten Unterscheidungen erfolgt. Beide Varianten erzeugen jedoch keine Veränderungen in der vorläufigen grafischen Darstellung, da sie jeweils an Faktoren oder Relationen ansetzen, die schon im Modell enthalten sind.
164
Folgende Zusammenstellung der Beiträge aus der Diskussion zum intra-individuellen Lock-In aus der Pfadforschung kann damit entwickelt werden. x
Stabilität als Verringerung der Rückkehrwahrscheinlichkeit,
x
Bewertung der Stabilität als positiv und negativ,
x
Ausbremsung wirkt entgegen der Selbstverstärkung / Auflösung verändert Grenz-Unterscheidung.
IV.4.3
Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung
Die beiden vorherigen Unterkapitel waren auf die Analyse des intra-individuellen Lock-In in konstruktivistischen Perspektiven und der Pfadforschung ausgerichtet. Wichtige Ergänzungen stammen dabei insbesondere aus den radikalkonstruktivistischen Perspektiven. Hierbei kann die Entstehung eines Eigenwertes oder Eigenverhaltens als wichtigster Beitrag für den intraindividuellen Lock-In gesehen werden. Die acht Nennungen im Rahmen der Literaturdiskussion konnten durch die Bildung von Oberbegriffen für gleiche Inhalte auf fünf Beiträge reduziert wurden (vgl. Anhang 1). Diese Änderungen werden nun der Reihe nach in Bezug auf das Modell eines individuellen Pfades und in Bezug auf deren Auswirkungen auf die erste Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung diskutiert (vgl. dazu Abbildung 10). Der erste Beitrag ist die Bestätigung der Entwicklung eines intra-individuellen Lock-Ins von Unterscheidungen. Gewohnheiten, Stabilitäten oder Eigenwerte werden dazu als Ergebnis des ‚drift’ von Unterscheidungen in der Literaturdiskussion genannt. Von Foerster beschrieb als einziger, durch die Verwendung der Analogie des Wurzeloperators, wie ein solcher Eigenwert von Unterscheidungen entstehen kann. Für das Modell eines individuellen Pfades wurde in der Diskussion oben vorgeschlagen, die Grenzwertbildung einer Unterscheidung einzuführen. In dem Modell eines individuellen Pfades mit den ersten Erweiterungen war bisher für den ‚drift’ die Schreibweise gewählt worden, dass für den allgemeinen Unterscheidungsoperator in Abhängigkeit von der Proto-Zeit (pt) eine Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit (Pmod( )) eintritt. Diese Schreibweise kann jetzt damit ersetzt werden, dass der Grenzwert (als Limes, Æ) über der Proto-Zeit (pt) für einen Unterscheidungsoperator ( i) zu einem Eigenwert dieses Operators führt (EW( i)). Der Index ‚i’ entspricht dabei der i-ten Unterscheidung, wobei sich parallel zur Eigenwertbildung die Veränderungswahrscheinlichkeit verringert (Pmod( i)). Im Rahmen der ersten Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades ist in dem Kasten für die Unterscheidungen die 165
Schreibweise der Verringerung der Veränderungswahrscheinlichkeit mit der Schreibweise der Grenzwertbildung und dem Ergebnis von Eigenwerten je Unterscheidung zu ersetzen. Ergänzend zu diesem Punkt wurde in der obigen Literaturdiskussion zum intra-individuellen Lock-In erwähnt, dass bei dem ‚drift’ nicht nur die Veränderungswahrscheinlichkeit von Unterscheidungen abnimmt, sondern dass die Rückkehrwahrscheinlichkeit zur Entscheidungsfreiheit in Bezug auf eine Unterscheidung ebenso abnimmt. Für das Modell eines individuellen Pfades wurde oben vorgeschlagen, die Entwicklung der Rückkehrwahrscheinlichkeit oder der Veränderungswahrscheinlichkeit mit dem Verhältnis von Assimilation und Akkommodation in Verbindung zu bringen. Piaget ging davon aus, dass regulär bei Individuen ein Gleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation besteht. Wenn nun die Rückkehrwahrscheinlichkeit durch den ‚drift’ sinkt, dann müsste das Verhältnis von Assimilation und Akkommodation sich zu Gunsten der Assimilation verschieben. Für das Modell eines individuellen Pfades wird also davon ausgegangen, dass der Lock-In durch die Veränderung des Verhältnisses von Akkommodation und Assimilation zu Gunsten der Assimilation gekennzeichnet ist. Im Rahmen der ersten Erweiterung der grafischen Darstellung des Modells wird daher zwischen die beiden Pfeile unter dem Kasten der Interpretation ein Graph eingezeichnet, der das Verhältnis der beiden Wege zueinander über der Proto-Zeit darstellt. Der Ausgangspunkt des Graphen ist ein Verhältnis von 50% zu 50%, welches sich im Verlauf der Proto-Zeit zu einem Ungleichgewicht zwischen den beiden Wegen zu Gunsten der Assimilation entwickelt (hier als umgekehrte Parabel veranschaulicht). Die Eigenwertbildung war jedoch nach der obigen Literaturdiskussion nicht immer als negativ zu bewerten. Im Rahmen der Diskussion zum intra-individuellen Lock-In aus der Perspektive der Pfadforschung wurde deutlich, dass Stabilität aus der individuellen Perspektive erst negativ bewertet werden muss – dies führte zur Bezeichnung des intra-individuellen Lock-Ins. Diese Bewertung des Eigenwertes wird in das Modell eines individuellen Pfades übernommen und im Rahmen dessen grafischer Darstellung durch ein Plus und ein Minus (+/-) nach dem Eigenwert verdeutlicht. Für die Selbstbrechung der Eigenwertbildung einer Unterscheidung gibt es nach der obigen Literaturdiskussion zwei mögliche Wege, welche die beiden letzten Beiträge darstellen. Kelly beschrieb die Lösung als Übung mit seiner ‚fixed role therapy’, Bateson sah dagegen auch die Möglichkeit, die selbst erstellten Grenz-Unterscheidungen (Glaubensabhängig) durch einen Fundamentalwandel zu verändern. Diese entsprechen der Auflösung und der Ausbremsung der Selbstverstärkung auf der individuellen Analyseebene. Da beide Aspekte ‚nur’ eine Ak166
kommodation von Unterscheidungen beschreiben, ergeben sich für das Modell eines individuellen Pfades und auch dessen grafischer Darstellung keine Änderungen. Es sind dennoch die beiden möglichen Strategie der Einübung (inkrementelle Akkommodation bei Erwartung, Handlung Fokussierung und Interpretation, um das Verhältnis zur Assimilation aufzuwiegen) sowie des Fundamentalwandels (Akkommodation einer Grenz-Unterscheidung mit anschließender Äquilibration) zu berücksichtigen.
Das Ergebnis dieser Diskussion kann nun als zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades veranschaulicht werden.
Abbildung 10 – Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades
Im Rahmen dieses Kapitels konnte auf Basis der Literaturdiskussion das erweiterte Modell eines individuellen Pfades nochmals ergänzt werden. Auch diese Änderungen wurden in die vorläufige grafische Darstellung mit den ersten Erweiterungen des Modells integriert. Zentral bei dieser zweiten Überarbeitung des Modells waren einerseits die Integration der Eigenwert-
167
bildung im Verlauf der Proto-Zeit in Bezug auf einzelne Unterscheidungen, die Bewertung eben der entstandenen Eigenwerte sowie die Verbindung der sinkenden Rückkehrwahrscheinlichkeit mit dem sich ändernden Verhältnis von Assimilation zur Akkommodation. Hiermit konnte das dritte Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades auf der Ebene individueller Konstruktionen in das Modell integriert und anschließend auch dargestellt werden: die Entstehung eines intra-individuellen Lock-Ins und dessen negative Bewertung auf Basis der Grenzwertbildung von Eigenwerten. Andererseits wurde auch die Brechung durch die zwei Wege der Auflösung und der Ausbremsung der Selbstverstärkung in dem Modell berücksichtig. Die Ausbremsung entspricht dabei einer bewussten Akkommodation, bis das Gleichgewicht von Assimilation und Akkommodation in Bezug auf die Unterscheidung wieder hergestellt ist. Die Auflösung entspricht dabei der Akkommodation einer stark glaubensabhängigen Grenz-Unterscheidung, aus der eine Äquilibration (als Kettenreaktion von Akkommodationen in Bezug auf bisherige Assimilationen) folgt. Hierdurch konnte das vierte Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades auf der Ebene individueller Konstruktionen auch in das Modell integriert und anschließend ebenfalls dargestellt werden: Die Pfadbrechung durch Auflösung oder Ausbremsung. Inwieweit das nun zweifach erweiterte Modell eines individuellen Pfades mit dessen ebenfalls zweifach überarbeiteten, vorläufigen grafischen Darstellung nun die theoretischen Annahmen des vorherigen Teils der Arbeit erfüllt, wird im letzten Kapitel dieses Teils überprüft.
IV.5 Kontrolle der theoretischen und neue empirische Annahmen Die letzte grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades (vgl. Abbildung 10) visualisiert die Ergebnisse aus der Literaturdiskussion zur Verbindung konstruktivistischer Perspektiven und der Pfadforschung. Im Verlauf der Diskussion konnten alle vier Elemente der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades (vgl. III.4) in dem entwickelten Modell berücksichtigt und anschließend visualisiert werden Non-Ergodizität entsteht über die Subjektivität der Unterscheidungen, wobei mit der Rekursivität selbst getroffener Unterscheidungen eine Divergenz zwischen den Individuen entsteht. Selbstverstärkung entsteht über die Proto-Zeit als Erinnerungszustände von Entscheidungspunkten, wobei Unterscheidungen über die Erwartungsbildung auf die Handlung, Fokussierung und Interpretation einwirken. Der intra-individuelle Lock-In ergibt sich darüber, dass die Unterscheidungen jeweils durch ihre Selbstbezüglichkeit zu einem Eigenwert führen, bei dem 168
das Verhältnis der Assimilation und Akkommodation zu Gunsten der Assimilation verschoben ist. Die Brechung ist dabei durch inkrementelle Akkommodation als Training oder durch einen Fundamentwandel als Akkommodation einer Grenz-Unterscheidung mit anschließender Äquilibration zu erreichen.
Zunächst werden die oben aufgestellten theoretischen Annahmen nun anhand der zweiten Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades und dessen vorläufiger grafischer Darstellung überprüft. Dem anschließend werden auf Basis der vorläufigen grafischen Darstellung empirische Annahmen entwickelt, welche dann im nächsten Abschnitt dieser Arbeit diskutiert werden können.
IV.5.1
Zu den theoretischen Annahmen
Die theoretischen Annahmen entsprachen der Vereinbarkeitsannahme, der Veränderungsannahme sowie der Aufwandsannahme. Diese drei werden nun einzeln in Bezug auf deren Erfüllung durch das entwickelte Modell eines individuellen Pfades und dessen vorläufiger grafischer Darstellung untersucht.
Die Vereinbarkeitsannahme (AT1) besagte, dass die Rekursion in Verbindung mit der Homöostasis aus Arbeiten mit konstruktivistischer Perspektive mit der zeitabhängigen Selbstverstärkung aus der Pfadforschung ersetzt werden kann. Wobei dadurch das Ziel erfüllt werden sollte, die bisher nicht erklärbare Entstehung einer Stabilität in konstruktivistischen Perspektiven durch das Modell eines individuellen Pfades im Sinne des Lock-Ins zu erklären. Zunächst ist damit die Frage aufzuwerfen, ob das Ergebnis aus der Literaturdiskussion als Modell verstanden werden kann. Ein Modell wurde oben (vgl. II.2) bereits definiert als Abbildung und dabei Abstraktion natürlicher Originale, welches anhand der Relevanz verkürzt wurde und diese Kürzung sich am Pragmatismus des Nützlichen orientiert (vgl. Stachowiak 1973, S. 128 ff.). Die Bestandteile des abstrakten Modells sind dabei Faktoren, Relationen und Erklärungen über deren Zusammenhänge sowie Hypothesen und Modellgrenzen. Für das entwickelte Modell eines individuellen Pfades in seiner zweiten Überarbeitung in Verbindung mit dessen zweiter Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung kann ohne Zweifel von einem Modell gesprochen werden. Das entwickelte Modell ist eine abstrakte Abbildung des Individuums, welches in Bezug auf die Erklärung individueller Lock-Ins verkürz wurde und die Zusammenstellung wesentlicher Faktoren und Relationen an der Pfadforschung orien169
tiert wurde. Damit sind auch bereits zwei Bestandteile in dem Modell enthalten, wobei die Erklärungen für die Zusammenhänge der berücksichtigten Faktoren bei der Literaturdiskussion und den Zusammenfassungen gegeben wurden. Die Grenzen des Modells sind durch den Pragmatismus der Reduktion des Modells eines Individuums in Bezug auf individuelle Pfade gegeben, der Prozess der Interaktion kann damit nicht erklärt werden. Die Aufstellung von Hypothesen (zum Testen) oder Propositionen (Hypothesen mit theoretischen Inhalten) wäre auf Basis dieses Modells möglich. Damit ist ein zentraler Bestandteil der Vereinbarkeitsannahme erfüllt. Zudem ist die Frage über die bisher nicht erklärbare Entstehung einer Stabilität in konstruktivistischen Perspektiven durch das entwickelte Modell eines individuellen Pfades im Sinne des Lock-Ins zu diskutieren. Bisher wurde in konstruktivistischen Perspektiven ein Verständnis von Rekursion verwendet, bei dem nach der Homöostasis immer nur der aktuelle innere Zustand eine Rolle bei dem Verhalten spielt und nicht die zeitliche Entwicklung. Zeit wurde nicht berücksichtigt und so konnte die Bildung von Stabilität nicht hinreichend erklärt werden. Es wurde zwar von der Existenz von Stabilität ausgegangen, der Weg dorthin wurde jedoch nur bei von Foerster durch die Verwendung der Analogie eines Wurzeloperators beschreiben. Eine explizite Übertragung auf die individuelle Ebene und eine präzise Erklärung der Entstehung von Stabilität konnte im Rahmen der Literaturdiskussion nicht identifiziert werden. Jedoch wurde es möglich, durch die Verbindung verschiedener konstruktivistischer Perspektiven mit der Pfadforschung ein Modell zu entwickeln, bei dem nun die Rekursion (als einfache Abhängigkeit der Unterscheidungen von sich selbst) durch die Selbstverstärkung (als Wirkung der im Proto-Raum erinnerten Unterscheidung auf Erwartung, Handlung, Fokussierung und Interpretation) ersetzt wurde. Im Zeitverlauf kann es dann zu einem Ungleichgewicht zwischen der Assimilation und der Akkommodation zu Gunsten der Assimilation führen, so dass sich ein Eigenwert von Unterscheidungen bildet. Da mit der Eigenwertbildung die Assimilation immer stärker in den Vordergrund tritt, wird die Abkehr von dem Eigenwert durch die im Proto-Raum erinnerte Geschichte der Assimilation immer Unwahrscheinlicher. Die Vereinbarkeitsannahme kann damit als erfüllt angesehen werden, da die Entstehung der individuellen Stabilität durch das Modell individueller Pfade erklärbar ist. Auf Basis dieses Modells sind Stabilitäten in sozialen Systemen (also z.B. auf der Meso- oder Makroebene) der Ausdruck von individuellen Eigenwerten. Die Verbindung der Eigenwerte in einer interaktionistischen Perspektive wird im Ausblick noch einmal aufgegriffen.
170
Die Veränderungsannahme (AT2) bezeichnete die Möglichkeit der Veränderung sich selbst verstärkender Konstruktionen trotz eines intra-individuellen Lock-Ins bei sinkender Rückkehrwahrscheinlichkeit. Im Rahmen der Literaturdiskussion konnte gezeigt werden, dass die Veränderung von Unterscheidungen ein Kernaspekt ist. Durch die Eigenwertbildung nimmt jedoch die Assimilation gegenüber der Akkommodation zu, so dass die Veränderung immer unwahrscheinlicher wird. Eine Veränderung der Eigenwerte kann auf Basis des entwickelten Modells erfolgen, in dem die Selbstverstärkung ausgebremst wird. Dies entspräche der Veränderung der Erwartungsbildung, der Handlung, Fokussierung und Interpretation, um das Ungleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation durch häufige Akkommodation langsam wieder ins Gleichgewicht zu bringen – ein Training. Der zweite Weg zur Veränderung der Eigenwerte kann auf Basis des entwickelten Modells erfolgen, in dem eine Auflösung der Selbstverstärkung erfolgt. Dies entspräche der Auflösung einer Unterscheidung, die sehr stark von dem Glaubensmoderator beeinflusst ist, wobei daran anknüpfende Unterscheidungen dann im Rahmen einer Äquilibration (Kette von Akkommodationen) ebenfalls zu verändern sind. Die Veränderungsannahme kann daher als erfüllt angesehen werden, da die Veränderung durch Auflösung oder Ausbremsung der Selbstverstärkung erfolgen kann.
Die Veränderungsannahme wurde durch die Aufwandsannahme (AT3) ergänzt. Hierbei ging es darum, dass die Stärke der Stabilität des intra-individuellen Lock-Ins durch unterschiedliche Dekonstruktionsleistungen (in Form von Zeit oder kognitiver Leistung) charakterisiert werden kann. Auf Basis des Modells eines individuellen Pfades war der Lock-In dadurch charakterisiert, dass die Rückkehrwahrscheinlichkeit und auch die Veränderungswahrscheinlichkeit sanken. Dies wurde darüber dargestellt, dass die Assimilation im Verhältnis zur Akkommodation überwog und ein Eigenwert entstand, welcher die Akkommodation verhindert. Wird nun die Veränderung adressiert, kann entweder die Ausbremsung der Selbstverstärkung erfolgen (als Akkommodation der Erwartung, Handlung, Fokussierung und Interpretation). Dann liegt ein langer Weg vor, bei dem das Individuum die Akkommodation trainieren muss. Wird dagegen die Auflösung der Selbstverstärkung verfolgt (als Akkommodation einer Grenz-Unterscheidung mit anschließender Äquilibration) ist der Aufwand als geringer einzustufen, da die Äquilibration rein kognitiv erfolgt und kein Training erforderlich ist. Durch die zwei Möglichkei-
171
ten der Veränderung wird deutlich, dass die Aufwandsannahme mit unterschiedlichen Dekonstruktionsleistungen ebenfalls als erfüllt angesehen werden kann.
Zusammenfassend kann insbesondere durch die Bestätigung der Vereinbarkeitsannahme geschlossen werden, dass die theoretische Herangehensweise – Pfadforschung und konstruktivistische Perspektiven miteinander zu verbinden, um die Entstehung von individuellen Stabilitäten zu beschreiben – von Erfolg gekennzeichnet ist. Das Modell eines individuellen Pfades mit der vorläufigen grafischen Darstellung entspricht damit der Antwort auf die erste, theoretische Subforschungsfrage. Die zweite Subforschungsfrage war als empirische Frage formuliert worden. Ziel dabei war es im Rahmen einer explorativen Vorstudie den Erfahrungsreichtum von Experten und Expertinnen zu verwenden, um deren Beurteilung des entwickelten Modells im Hinblick auf die Relevanz der integrierten Faktoren und Relationen zur Bearbeitung des intra-individuellen LockIns zu erheben. Dadurch sollen Streichungen oder Ergänzungen vorgenommen werden, um das Modell lösungsorientiert anzupassen. Zur Beantwortung dieser empirischen Frage werden nun empirische Annahmen ermittelt.
IV.5.2
Entwicklung empirischer Annahmen
Die Bestätigung aller theoretischen Annahmen auf Basis des Modells eines individuellen Pfades mit der zweiten Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung erlaubt nun die Formulierung einzelner, empirischer Annahmen (AE). In der zweiten Subforschungsfrage wurde im Rahmen einer explorativen Vorstudie die Beurteilung des entwickelten Modells im Hinblick auf die Relevanz der integrierten Faktoren und Relationen zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins durch Experten und Expertinnen adressiert. Hierzu kann auf Basis der theoretischen Diskussion die These aufgestellt werden, dass alle Aspekte in dem Modell von Bedeutung sind – die Modellannahme (AE1): AE1: Die Experten und Expertinnen beurteilen alle Faktoren und Relationen des Modells als relevante Elemente zur Beschreibung und Lösung des intra-individuellen Lock-Ins.
Darüber hinaus umfasste die zweite Subforschungsfrage die Nennung von Lösungsmethoden zur Bearbeitung der individuellen Stabilität – oder des intra-individuellen Lock-In. Als These kann formuliert werden, dass die jeweiligen Experten und Expertinnen auf Basis ihres jeweili172
gen Hintergrundes zu allen Faktoren und Relationen Lösungsansätze anführen werden. Dies ist in der folgenden Methodenannahme (AE2) zusammengefasst: AE2: Die Experten und Expertinnen nennen zu allen Faktoren und Relationen des Modells eine Reihe von Methoden aus ihrem jeweiligen Beratungshintergrund.
Zur empirischen Überprüfung der Modellannahme (AE1) sind jedoch weitere und vor allem detailliertere Annahmen notwendig. Diese sollten sinnvoller Weise jeweils einzelne Faktor oder deren Relation aus der zweiten Erweiterung des Modells (und dessen grafischer Darstellung nach Abbildung 10) umfassen. Begonnen werden kann dabei mit der Konstruktionsannahme (AE1.1). Diese adressiert, dass der Mensch seine Welt durch Sensomotorik konstruiert und diese nicht einfach nur wahrnimmt: AE1.1: Die Experten und Expertinnen beurteilen Handlung und Wahrnehmung zur Erschaffung der individuellen Welt als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Als nächstes folgt die Virtualitätsannahme (AE1.2). Diese bezeichnet die Möglichkeit, dass Individuen neben dem Erleben von sensorischen Impulsen Erinnerungen imaginieren und interpretieren können ohne Erfahrungen in der Sensorik zu machen, um diese anschließend wieder als veränderte oder bestätigte Unterscheidung ablegen zu können. Umgangssprachlich kann diese reine Imagination als „Kopfkino“ oder „Gedankenschleife“ bezeichnet werden: AE1.2: Die Experten und Expertinnen beurteilen das sensorische Erleben wie auch die Imagination zur Erschaffung der individuellen Welt als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Die Unbewusstheitsannahme (AE1.3) adressiert die Möglichkeit, dass Individuen ihre Welt nicht nur bewusst, sondern auch unbewusst konstruieren können. Insbesondere in Verbindung mit der Virtualitätsannahme sind so Entwicklungen von Individuen möglich, die für externe Beobachter und auch das Individuum selbst zum Teil nicht nachvollziehbar scheinen: AE1.3: Die Experten und Expertinnen beurteilen die bewusste und die unbewusste Ebene als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
173
Es folgt der Aspekt der Akzeptanz von externen, an den Menschen herangetragenen Unterscheidungen anderer Beobachter. Im Rahmen der Akzeptanzannahme (AE1.4) wird davon ausgegangen, dass insbesondere die Akzeptanz von Macht oder Vorteilen in Netzwerken Individuen in eine selbst erzeugte Zwangslage versetzen kann. Diese Zwangslage entsteht, wenn sich Individuen an die von ihnen akzeptierte Unterscheidung halten und diese Unterscheidung nicht mehr verändern. Die Lösung wird erschwert und die Assimilation begünstigt: AE1.4: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Akzeptanz externer Aspekte als einen relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Im Rahmen der Erfahrungsannahme (AE1.5) wird davon ausgegangen, dass die Vergangenheit auf die heutige Handlung einen hohen Einfluss ausübt. Daher ist auch für die Loslösung aus dem intra-individuellen Lock-In die Bearbeitung und Berücksichtigung der Vergangenheit ein wichtiger Aspekt: AE1.5: Die Experten und Expertinnen beurteilen den Zusammenhang, dass Erfahrungen die Handlung beeinflussen als relevante Relation zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Hauptverknüpfung zwischen der Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven ist die Selbstverstärkung von Konstruktionen über Erwartung mit den Auswirkungen auf die Handlung, Fokussierung und Interpretation. Dieser zentrale Zusammenhang wird in der 3fachSelbstverstärkungsannahme (AE1.6): AE1.6: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Berücksichtigung der Auswirkung von Erwartung, Handlung, Wahrnehmung und Interpretation als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Eine Erweiterung der einfachen Erwartung wurde durch die Literatur zu den Pfaden hinsichtlich der adaptiven Erwartung oder Erwartungs-Erwartungen gegeben. In einer eigenen Erwartungsannahme (AE1.7) wird dies adressiert: AE1.7: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Erwartungen höherer Ordnung als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. 174
Bestärkt wird die 3fach-Selbstverstärkungsannahme durch die Additivitätsannahme (AE1.8). Hierbei wird zusammengefasst, dass der Mensch seine Erfahrungen addiert und für neues Verhalten einsetzt. Dies entspricht einer Erinnerung an die vorher getroffenen Unterscheidungen auch nach deren Veränderung: AE1.8: Die Experten und Expertinnen beurteilen die additive Stabilisierung als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Mit der 3fach-Selbstverstärkungsannahme wird bereits die Relevanz der Proto-Zeit angedeutet, welche im Rahmen einer eigenen Annahme spezifisch diskutiert werden soll. Diese Zeitannahme (AE1.9) benennt die Relevanz der bewussten Beschäftigung mit der individuellen Proto-Zeit Zeit im Rahmen der Bearbeitung eines intra-individuellen Lock-Ins: AE1.9: Die Experten und Expertinnen beurteilen die individuelle ProtoZeit als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Das Modell eines individuellen Pfades beinhaltete auch den Glauben als Moderator. Die Glaubensannahme (AE1.10) umfasst zur Überprüfung dessen Relevanz bei der Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins das explizit genannte Beispiel des Glaubens an Kausalität: AE1.10: Die Experten und Expertinnen beurteilen den Glauben an Kausalität als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Die nun folgenden Annahmen adressieren nicht mehr den Entstehungsprozess, sondern übertragen einige Aspekte hinsichtlich dessen Lösung. Die Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11) erweitert dabei die Erfahrungsannahme in der Hinsicht, dass nun auch die Lösung von der Vergangenheit abhängt: AE1.11: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Abhängigkeit der Lösung von der Historie der Verstärkung als relevante Relation zur Bearbeitung eines intra-individuellen Lock-Ins.
175
Neben der Relevanz der Historie für die Lösung, kann auch die Glaubensannahme hinsichtlich der Lösung erweitert werden. Bei der Lösungsglaubensannahme (AE1.12) wird davon ausgegangen, dass nur durch die Existenz eines Glaubens an eine Lösung auch eine Veränderung erfolgreich durchgeführt werden kann: AE1.12: Die Experten und Expertinnen beurteilen den Glauben an eine Lösung als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Die Subjektivität von Unterscheidungen und die Notwendigkeit der Selbstlösung aus den selbst erzeugten Unterscheidungen führen zu dem Problem der Erkenntnis. So kann nur die Selbst-Erkenntnis der eigenen Rekursivität nach von Foerster zur Selbstbearbeitung führen, was im Rahmen dieser Arbeit in der Lösungswillensannahme (AE1.13) zusammengefasst wird: AE1.13: Die Experten und Expertinnen beurteilen den Willen zur Lösung als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Ohne Glauben an und Willen zur Lösung ist diese nach den aufgestellten Annahmen nicht möglich. Die Externalitätsannahme (AE1.14) spitzt die Lösungsmöglichkeit der Art zu, dass nur das Individuum sich selbst aus seiner Welt und seinen Unterscheidungen befreien kann. Dies adressiert die operationale Geschlossenheit der Systeme. Externe Versuche dagegen, das Individuum zur Veränderung zu bewegen, können demnach nur scheitern: AE1.14: Die Experten und Expertinnen beurteilen die innere Selbstlösung als relevanten und die externen Heilung als nicht relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Abschließend wird die Lösungs-Historizitätsannahme im Hinblick auf die Anwendung von Methoden erweitert. Nach Kelly war insbesondere die Übung der zentrale Weg neben dem Fundamentalwandel von Bateson. Es wird davon ausgegangen, dass die Experten und Expertinnen auf Basis ihrer Erfahrung der Stabilität von Individuen mit Methodenwiederholungen das Training nach Kelly adressieren. Diese Wiederholungsannahme (AE1.15) lautet daher wie folgt: AE1.15: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Methodenwiederholung als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. 176
Diese empirischen Annahmen können auch in der zweiten Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades eingezeichnet werden. Jede Annahme wurde dabei in der folgenden Abbildung an ihrem Ansatzpunkt als Kreis verdeutlicht.
Abbildung 11 – Zweite Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades mit den empirischen Annahmen
Zusätzlich zu den empirischen Annahmen in Anlehnung an die Subforschungsfrage können noch zwei weitere Annahmen mit Bezug auf die Theoriedebatte aufgestellt werden. Dort war erkennbar, dass im Rahmen konstruktivistischer Perspektiven einerseits nur von Rekursivität ausgegangen wird und Veränderung durch den Fundamentalwandel (als Auflösung der Rekursion) erfolgen kann. Andererseits wurde aber von einem Training neuer Verhaltensweisen gesprochen. Die Wiederholungsannahme wird nun dahingehend erweitert, dass nicht nur die Methoden sondern auch die Beratungen an sich Mehrfach durchgeführt werden müssen. Daraus folgt die Mehrmaligkeitsannahme (AE3): AE3: Die Experten und Expertinnen beurteilen - entgegnen der inadäquaten theoretischen Vorstellung einer zeitlosen Rekursion - die
177
Durchführung mehrmaliger Beratungsgespräche als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Und dem entgegen kann wiederum mit der Homöostasisannahme (AE4) formuliert werden, dass die Experten und Expertinnen trotz Rückfrage die Genese und zeitliche Entwicklung von Problemen nicht interessiert, da dies in der theoretischen Debatte häufig entsprechend formuliert wurde: AE4: Die Experten und Expertinnen beurteilen die Homöostasis (Irrelevanz der Genese von Problemen) als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins.
Mit den hier vorliegenden, empirischen Annahmen kann nun die explorative Vorstudie zur Analyse der Beurteilung des entwickelten Modells im Hinblick auf die Relevanz der integrierten Faktoren und Relationen zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins erfolgen. Nach einer Anbindung der gewählten epistemologischen Position (vgl. IV.1.1 und IV.1.2) an empirische Forschung, erfolgen die Methodenwahl zur Adressierung der Experten und Expertinnen, die Auswahl der geeigneten Experten und Expertinnen im Rahmen des Sampling sowie die Operationalisierung. Abgeschlossen wird der nun folgende Teil der vorliegenden Arbeit mit der Auswertung der empirischen Ergebnisse in Bezug auf die formulierten Annahmen.
178
V
Empirische Viabilität des Modells eines individuellen Pfades
Im Rahmen des vorhergehenden, theoretischen Teils dieser Arbeit wurde ein Modell eines individuellen Pfades entwickelt, mit dem die Entwicklung individueller Lock-Ins erklärt werden kann. Dabei wurde die Pfadforschung mit konstruktivistischen Perspektiven verbunden. Auf Basis dieses Modells wurden empirische Annahmen entwickelt, die für die Beantwortung der zweiten Teilfrage der leitenden Fragestellung herangezogen werden. Ziel dieser empirischen Teilfrage ist die Diskussion mit Experten und Expertinnen über deren Beurteilung der Relevanz aller Faktoren und Relationen des Modells zur erfolgreichen Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. Die Gruppe der Experten und Expertinnen wurde dabei auf aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen eingeschränkt, da diesen die epistemologische Grundlage vertraut ist. Als Ergebnis wird erwartet, dass die befragten Experten und Expertinnen zu den einzelnen Faktoren und Relationen Stellung beziehen: Auf Basis ihrer Erfahrung werden diese die Relevanz einzelner oder aller Faktoren und Relationen für die von ihnen begleiteten Lösungsprozesse bewerten. Zustimmung zu den Faktoren und Relationen sowie begleitende Erfahrungsbeispiele werden als Bestätigung der Relevanz interpretiert. Faktoren und Relationen, welche in der Erfahrung der Experten und Expertinnen noch keine Rolle gespielt haben, werden als mögliche Ansatzpunkt diskutiert. Die Analyse der Ergebnisse aus dem Diskurs mit verschiedenen Experten und Expertinnen wird zeigen, dass jeweils Unterschiede in der Relevanz der einzelnen Faktoren und Relationen gesehen werden und damit auch unterschiedliche Methodenschwerpunkte gesetzt wurden. Die genannten Methoden der Experten und Expertinnen können dann als Grundlage für weitere unmittelbare und mittelbare Aktionsforschung verwendet werden. In dem nun vorliegenden Teil V wird umfassend auf die empirische Einordnung dieser Arbeit eingegangen. Dazu zählen insbesondere die Diskussion möglicher Probleme empirischer Forschung vor dem Hintergrund der gewählten, konstruktivistischen Epistemologie.
Zunächst wird daher die Möglichkeit konstruktivistischer, empirischer Forschung diskutiert (V.1). Im Mittelpunkt stehen dabei die Beschreibung empirischer Forschung aus einer konstruktivistischen Perspektive und die Darstellung der dabei verwendeten konstruktivistischen Terminologie. In diese Terminologie wird dann die empirische Subforschungsfrage dieser Arbeit darin kategorisiert. Zudem wird anschließend der Prozess der empirischen Forschung auf
179
Basis der konstruktivistischen Perspektive dargestellt. Die in dem vorherigen Teil dieser Arbeit bei den Zusammenfassungen diskutierten Quellen hinsichtlich des ‚empirischen Programms des Konstruktivismus’ können bei diesem Kapitel nicht berücksichtigt werden, da sie dem ‚Sozialkonstruktivismus’ zugeschrieben wurden. An die Darstellung des Prozesses empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie können die folgenden Kapitel dieses Teils orientiert werden. So wird eine Diskussion geführt, welche auf die empirische Subforschungsfrage ausgerichtet ist und die Wahl einer Methode zum Thema hat (V.2). Dabei werden zuerst die Erhebungsmethoden diskutiert, welche nach der Einordnung dieser Arbeit in die konstruktivistische, empirische Terminologie verbleiben. Danach werden die möglichen Probleme bei der Anwendung der gewählten Methode diskutiert, um im Rahmen der Durchführung Probleme vermeiden zu können. Nach der Methodenwahl erfolgt dann die Diskussion zur Auswahl des Samples der zu befragenden Experten (V.3). Hierbei wird auf die Samplingmethode im Allgemeinen kurz eingegangen, um ein adäquates Verfahren auszuwählen. Die Datenbasis für die gewählte Samplingmethode entspricht der Grundgesamtheit aller Experten und Expertinnen aus der Beratungsbranche mit einem konstruktivistischen Hintergrund, welche anschließend aus drei Beratungsansätzen zusammengestellt wird. Im Rahmen der detaillierten Vorstellung der gewählten Ansätze wird einerseits deren Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven adressiert und andererseits werden das Selbstverständnis und ein geschichtlicher Überblick sowie Grundannahmen und die wissenschaftliche Resonanz zu dem jeweiligen Ansatz wiedergegeben. Es folgt eine kurze Analyse des konkreten Vorgehens der empirischen Erhebung (V.4). Hierbei wird auf die Leitfadengestaltung und Interviewstrategie, die Kontaktaufnahme im Feld sowie die Auswertungsstrategie eingegangen. Diese wird an dem Aufbau des Leitfadens orientiert. Am Ende dieses Teils der vorliegenden Arbeit erfolgt eine Auswertung der erhobenen Daten (V.5). Im Mittelpunkt steht dabei zunächst die Reflexion zum Verlauf der empirischen Erhebung. Es folgt daraufhin die Auswertung in Bezug auf die Faktoren und Relationen des Modells, wobei eine grafische Zusammenfassung der absoluten Zustimmungen gegeben wird. Anschließend werden die Ergänzungen ausgewertet, um dann die genannten Methoden zu den jeweiligen Faktoren und Relationen vorzustellen. Alle Ergebnisse werden abschließend im Rahmen einer dritten Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades und dessen grafischer Darstellung berücksichtigt.
180
Diese Ergebnisse können dann im letzten Teil der vorliegenden Arbeit verwendet werden, bei dem die die Beantwortung der leitenden Fragestellung erfolgt.
V.1 Zur Methodologie mit einer konstruktivistischen Perspektive Wie in der Einleitung zu diesem Teil der Arbeit erwähnt, geht es zunächst noch einmal um die theoretische Erläuterung der Möglichkeit empirischer Forschung vor mit einer konstruktivistischen Perspektive. Durch die häufige Gleichsetzung konstruktivistischer Perspektiven mit dem Solipsismus ist oft nicht klar, welchen Beitrag die empirische Forschung bei der Verwendung einer konstruktivistischen Epistemologie leistet. Hierbei wird die Terminologie für empirische Forschung mit einer konstruktivistischen Perspektive vorgestellt, mit der dann die empirische Subforschungsfrage dieser Arbeit noch einmal kategorisiert werden kann (V.1.1). Dabei ergeben sich bereits Einschränkungen für die konkrete Erhebungsmethode. Zudem wird anschließend der Prozess der empirischen Forschung mit einer konstruktivistischen Perspektive vorgestellt, um die weiteren Schritte des vorliegenden Teils der Arbeit daran zu erklären (V.1.2). Mit dieser Prozessdarstellung kann die Anordnung der folgenden Kapitel begründet werden.
V.1.1
Empirische Sozialforschung und Konstruktivismus
Zentral zur Erklärung des Zusammenhangs zwischen konstruktivistischen Perspektiven und empirischer Forschung ist die Beantwortung der Frage, wie empirische Forschung mit dem gewählten, epistemologischen Hintergrund möglich ist. Ein Verweis auf Grundlagenliteratur zu empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Perspektive kann nicht gegeben werden, da es derartige Werke zurzeit noch nicht gibt. Die oben genannten Quellen zum ‚empirischen Programm des Konstruktivismus’ wurden als zum ‚Sozialkonstruktivismus’ zugehörig eingestuft und können bei dieser auf das Individuum zentrierten Perspektive nicht verwendet werden. Auch die analysierten Arbeiten der Autoren mit konstruktivistischer Perspektive liefern keine homogene Grundlage112. Sie stammten aus verschiedensten Disziplinen und haben keine homogene Struktur für die Generierung wissenschaftlicher ‚Erkenntnisse’ vorgelegt. Da keiner der angeführten Autoren einen methodologisch-wissenschaftstheoretischen Hintergrund hat, sind auch nur vereinzelt Überlegungen zur empirischen Vorgehensweise und der Ergebnisbewertung vorhanden. Aus diesem Grunde werden in dem Unterkapitel die Ansätze 112
Zu nennen sind hier insbesondere die empirischen Arbeiten aus der Medien- und Literaturwissenschaft (vgl. für eine Zusammenstellung Hejl & Schmidt 1987).
181
aus den einzelnen Arbeiten zusammengestellt, um auf dieser Grundlage ein konsequentes Vorgehen für die empirische Forschung zu entwickeln. Wenn eine konstruktivistische Epistemologie verwendet wird, folgt aber von kritischen Autoren oft die Bemerkung, dass bei empirischer Forschung und konstruktivistischen Perspektiven ein Paradoxon zu Tage tritt. Das Paradoxon ergibt sich, wenn Empirie Fakten erheben soll, aber eigentlich per Definition ‚alles nur konstruiert ist’. So wird bei der Anführung dieses Paradoxons nach der Leistung empirischer Forschung für konstruktivistische Perspektiven gefragt. Die Aussage, dass der Beobachter alles um ihn herum (Fakten, Erfahrungen) und sich selbst nur konstruiert, entspricht dem Solipsismus-Argument (vgl. Unger 2003). Gegenüber diesem wurden konstruktivistische Perspektiven jedoch deutlich abgegrenzt (vgl. z.B. von Foerster 1981). Bereits in der obigen Diskussion der theoretischen Perspektive wurde diese Grenze verdeutlicht, so dass diese Kritik hier nicht noch einmal beachtet werden muss. Fraglich ist dagegen vielmehr, wie mit der Konstruktion von Fakten umgegangen werden kann.
Fakten werden in konstruktivistischen Perspektiven nicht wahrgenommen, sondern gemacht (vgl. von Foerster 1994, S. 142). Das ‚Machen’ bezieht sich dabei auf eine sensomotorische oder kognitive Interaktion. Dadurch sind Erfahrungen (durch sensomotorische Interaktion) wie auch Ergebnisse kognitiver Prozesse (kognitive Interaktion zwischen Unterscheidungen) Fakten und damit Konstrukte. Die Ergebnisse kognitiver Prozesse wurden oben, im Rahmen der Auswirkungen der epistemologischen Position auf die theoretische Forschung, bereits als Setzungen (oder Voraus-Setzungen für folgende Setzungen) im Hempel-Oppenheim Modell deklariert (vgl. IV.1.2). Aus den Erfahrungen als sensomotorische Interaktion kann gefolgert werden, dass auch empirische Beobachtungen mit wissenschaftlichen Methoden Erfahrungen auf Basis von sensomotorischer Interaktion sind. Damit sind die empirischen Erfahrungen Fakten, welche jedoch gemacht wurden und damit Konstrukte sind. Dennoch ist empirische Forschung vor diesem Hintergrund möglich. Empirische Forschung gilt als „eine spezifische Art und Weise der Wirklichkeitskonstruktion“ (Schmidt 1998, S. 125) – insbesondere im Hinblick auf die verwendete spezifische Methodik. Allerdings können entsprechend der oben entwickelten, eigenen Position keine ‚objektiven’ Aussagen zur ‚Wahrheit’ getroffen werden und auch eine Annäherung an eine Welt erfolgt nicht. Wie die ‚Welt’ selbst beschaffen ist, bleibt eine metaphysische Frage. Der Wissensbegriff wird hierbei jedoch nicht wie im Solipsismus ad absurdum geführt, sondern ‚Wissen’, als Ansammlung von Fakten, bezeichnet eine spezifische Möglichkeit. In Bezug auf das Hempel-Oppenheim 182
Modell (vgl. IV.1.2), bei dem ja bereits die Gesetze als Setzungen (oder Voraus-Setzungen für folgende Setzungen) deklariert wurden, sind nun die beobachteten Randbedingungen und das beobachtete Explanandum Fakten und damit Setzungen über Möglichkeiten113. (Empirisches) Wissen ist Unterscheidung (Konstrukt / Setzung) über Möglichkeiten.
Das ‚Wissen’ über Möglichkeiten verursachte die Entwicklung eines anderen Gütekriteriums als die der Reliabilität (als Genauigkeitsmaß gegenüber dem Zufall) und der Validität (als Gütemaß für Messinstrumente). Instrumente, mathematische Beschreibungen oder sprachliche Modelle als wissenschaftliche Ergebnisse werden vor dem Hintergrund der Möglichkeit an ihrer Funktionalität gemessen. Dies entspricht dem Kriterium der Viabilität (vgl. von Glasersfeld 1981). Dieses Kriterium der Viabilität (als Funktionalität) beschreibt, inwiefern ein Konstrukt hinsichtlich eines bestimmten Zwecks in der empirischen Welt dient (vgl. von Glasersfeld 1996b). Der Zweck selbst wird bei der Aufstellung der Instrumente oder Modelle vorab bestimmt114 und determiniert damit auch die Prüfkriterien für die Funktionalität. Viabilität entspricht der Funktionalität von Setzungen für die Erreichung eines bestimmten Zwecks. Der Zweck enthält die Prüfkriterien, anhand derer die Funktionalität gemessen wird.
Wenn nun mehrere viable (oder funktionale) Konstrukte vorhanden sind (also z.B. das Modell zur Erklärung individueller Stabilitäten von Nooteboom (1997) und das hier entwickelte Modell eines individuellen Pfades), dann wird ein Auswahlkriterium benötigt. Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist die Viabilität zweckgebunden. Funktional zur Erreichung eines bestimmten Zwecks können daher viele Konstrukte sein. Aus diesem Grund wird als Auswahlkriterium vorgeschlagen, das auszuwählen, welches weitere, bisher unberücksichtigte Aspekte von Unterscheidungen berücksichtigt (vgl. dazu von Foerster & Pörksen 2001). 113
114
Auch vor diesem Hintergrund bleibt die Möglichkeit der Erklärung gegeben, nur das mit Fakten (Setzungen als beobachtete Randbedingungen durch sensomotorische Interaktion) und Setzungen (als Gesetze durch kognitive Interaktion von Unterscheidungen) Fakten (Setzungen als beobachtetes Explanandum durch sensomotorische Interaktion) erklärt werden. Daher sprechen konstruktivistische Positionen eher von beschreiben, was jedoch nicht nur in Bezug auf Bekanntes gilt (vgl. dazu IV.1.2). Der Zweck von Forschung und der dabei entwickelten Modellen wird primär von dem handelnden Wissenschaftler bestimmt (vgl. Art. 5 Abs. 3 GG). Dieser kann sich jedoch durch finanzielle Förderungen oder politische Vorgaben auch externen Zwängen unterordnen und die Forschung und Modelle an diesen Zweck orientieren.
183
Wenn also „weitere Erlebnisse, die ich zuerst nicht in Betracht gezogen habe, auch in diesen Rahmen eingepaßt werden können“ (von Glasersfeld 1996b, S. 359), dann wird das mit der größeren Vielfalt gewählt. Die Zahl der bisher unberücksichtigten Aspekte kann dabei variieren. Ebenso ist es möglich, dass zwei Setzungen eine Sache erklären, beide aber jeweils andere, weitere unberücksichtigte Aspekte der anderen Setzung erklären (z.B. Wellen- vs. Teilchenmodell). Dann bleiben beide bestehen. Dienen mehrere Konstrukte einem Zweck wird das als funktionaler herausgesucht, welches mehr (oder auch detaillierter) Erlebnisse oder Unterscheidungen beschreibt.
Vor diesem Hintergrund des Wissens als Möglichkeit, der Viabilität als Funktionalität und der Vergrößerung der Beschreibungsvielfalt ist fraglich, ob soziale Prozesse analysierbar sind. Da Wissen als mögliche Setzungen interpretiert wird, ist auch die empirische Beobachtung des sozialen die Setzung durch einen Beobachter. Damit kann entweder auf genau diese Setzungen von Beobachtern innerhalb eines sozialen Prozesses zurückgegriffen werden, oder das Verhalten innerhalb dieses sozialen Prozesses wird beobachtet. Daher ist auch die Analyse von sozialen und gesellschaftlicher Prozesse sinnvoll (vgl. von Glasersfeld 1996b, S. 361). Empirische Sozialforschung mit konstruktivistischer Perspektive analysiert individuelle Konstruktionen über und individuelles Verhalten in gesellschaftlichen Prozessen.
Diese Beschreibung empirischer Sozialforschung mit einer konstruktivistischen Perspektive kann nun aus der Perspektive dieser Arbeit in die zwei Komponenten getrennt werden: Die Erforschung von Verhalten und die Erforschung von Konstruktionen. In beiden Fällen geht es um die Funktionalität von Konstruktionen nur in Bezug auf andere Ebenen. Sofern Verhalten beobachtet wird, um ein Verhaltensmodell auf dessen Funktionalität hin zu untersuchen, handelt es sich nach der Perspektive dieser Arbeit bei den empirischen Ergebnissen um eine sensomotorische Konstruktion von Unterscheidungen. Diese ist abhängig von den Eigenschaften der Beobachter oder Beobachterinnen, wie bereits in der kritischen Diskussion zum epistemologischen Hintergrund dargestellt. Vor dem Hintergrund eines entwickelten Modells könnten Individuen beobachtet werden, wobei die Beobachtung auf spezifische, beobachtbare Faktoren (z.B. Entscheidungen) gerichtet ist. Dies kann in Bezug auf das Verhaltensmodell als Funktionalitätsprüfung erster Ordnung verstanden werden. 184
Bei der empirischen Sozialforschung als Funktionalitätsprüfung erster Ordnung beobachten Beobachter (Forscher) andere Beobachter (in sozialen Prozessen) in einem konstruktiven Vorgang.
Werden dagegen Konstruktionen untersucht, um ein Modell über soziale oder individuelle Prozesse auf dessen Funktionalität hin zu untersuchen, handelt es sich nach der Perspektive dieser Arbeit um einen doppelt-konstruktiven Prozess. Dabei kommunizieren Beobachter (Forscher) mit anderen Beobachtern über ihre oder deren Beobachtungen. Dies wird hier auch als Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung verstanden. Bei der empirischen Sozialforschung als Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung kommunizieren Beobachter (Forscher) mit anderen Beobachtern über deren Unterscheidungen (von sozialen oder individuellen Prozessen) in einem konstruktiven Vorgang.
Dieser doppelt-konstruktive Prozess empirischer Sozialforschung zweiter Ordnung birgt zwei Probleme: Erstens die Frage, ob die Kommunizierenden sich überhaupt verstehen. Zweitens die Frage, wie die Kommunikation zu bewerten ist; z.B. als Zustimmung oder Ablehnung. Diese zwei Probleme entstehen vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Epistemologie für empirische Sozialforschung und können nicht von der Methodologie als fachdisziplinäre Probleme getrennt werden. Der Zusammenhang wirkt vor dem Hempel-Oppenheim Modell wissenschaftlicher Erklärung problematisch, da die Eigenschaften des Beobachters und der Verlauf des Beobachtungsprozesses dort nicht darin enthalten sind. In dem modifizierten Hempel-Oppenheim Modell (vgl. dazu Fußnote 113), mit Gesetzen und Beobachtungen als konstruierte Setzungen, werden jedoch genau diese zwei Probleme des Verstehens von Kommunikation und der Ergebnisbewertung in die Methodologie integriert. Kommunikation wird aus der Perspektive der gewählten epistemologischen Position als Einheit von Information, Mitteilung und Verstehen gesehen (vgl. Schmidt 1992, S. 308). Verstehen ist dabei aber eine unüberprüfbare Komponente (vgl. Schmidt 1992, S. 310). Empirische Forschung ist daher vor dem Hintergrund konstruktivistischer Perspektiven nur ein Versuch, als Beobachter zu ähnlichen Konstruktionen anderer Beobachter zu gelangen, die diese z.B.
185
durch Erfahrungen konstruiert haben115. Schmidt beschreibt dies so: Verstehen ist „ein zielgerichteter Vorgang [...] die den Rezipienten umgebene Welt >>durchsichtig, intelligibel zu machen“ (Schmidt 1992, S. 295). Verstehen ist nach ihm erreicht, wenn der Hörer durch die von ihm entworfenen Unterscheidungen während der Kommunikation befriedigt wird, diese für ihn also sinnvoll sind (vgl. Schmidt 1992, S. 295). Durch die Subjektivität der Sinnhaftigkeit, abhängig von der Systemlogik lebender Systeme, versteht ein Bebachter oder eine Beobachterin also dann, wenn er oder sie für sich sinnvolle Konstruktionen aus übertragenen Signalen konstruiert116 - et vice versa. Somit ist Sinn und Bedeutung nicht etwa objektiv feststellbar, sondern Rezipienten benutzen Text oder Wort zur subjektiven Bedeutungsproduktion (vgl. Schmidt 1992, S. 296). Da nun der Interviewer aus dem Gesagten des Interviewten subjektiv Bedeutung und Sinn konstruiert ist die Frage, wie die verstandenen Antworten bewertet werden können. Zustimmung bedeutet zunächst mit einer konstruktivistischen Perspektive, dass eine kommunizierte Unterscheidung als funktional bewertet wird und diese Annahme (auf Basis von Erfahrung) als Zustimmung kommuniziert wird. Zustimmung auf Basis des dargestellten Verstehensbegriffs beinhaltet aber das Problem, dass die Signale der Zustimmung als Zustimmung zu den Unterscheidungen des fragenden Beobachters (Forscher) angesehen werden. Jedoch äußert sich der Hörer nur auf Basis seiner selbst getroffenen oder aktivierten Unterscheidungen. Der fragende Beobachter (Forscher) würde also Zustimmung bezüglich seiner Unterscheidungen verstehen, obwohl der Sprecher dies nur über seine Unterscheidungen äußern kann. Bei einer Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung wäre daher hilfreich, wenn der bisherige Hörer zum Sprecher wechselt und seine eigene Unterscheidung noch einmal dem bisherigen Sprecher (Forscher) erklärt. Hierbei kann der fragende Beobachter (Forscher) wiederum Sinn konstruieren und die Zustimmung daran ausrichten. Wichtig ist in dem kommunikativen Prozess, dass kommunizierte Fragen oder erklärende Antworten, die nicht zu den gestellten Fragen passen, dennoch als Ergebnis mitgeführt werden. Bei der Auswertung eines Interviews kann dann die eigene Handlung im Forschungsprozess reflektiert werden, um diese Geschehnisse womöglich aufzudecken (anlehnend an von Glasersfeld 1996b, S. 306). Für derartige kommu115
116
Insbesondere die Diskussion der Siegener Runde über „shared meaning“ (von Glasersfeld 1996b, S. 353; im Original abweichend formatiert) macht deutlich, dass Bedeutung und Verstehen von der Welt entsprechend einer Weinflasche gesehen werden kann: Niemand trinkt exakt den gleichen Schluck. Verstehen, eine Meinung teilen oder soziale Konstrukte haben ist immer abhängig von dem einzelnen Beobachter und wird genau dann zu einem Problem, wenn die Konstrukte in einer spezifischen Situation nicht deckungsgleich sind. Gruppen wissenschaftlicher Beobachter (Kuhn 1996) akzeptieren in dem Sinne bei dem Verstehensvorgang zum Teil nur ganz spezifische Systemlogiken oder Methoden der energetischen Beeinflussung.
186
nikationsabhängige Forschung bietet sich die Verwendung von qualitativen Methoden an, da Gegenfragen, Rückfragen und Diskussion zulässig und möglich sind (insbesondere z.B. durch ExpertInneninterviews oder diskursive Interviews). Jedoch sind auch quantitative Methoden in Bezug auf die Erhebung von Konstruktionen einzelner Beobachter möglich (wie z.B. mit Delphi-Studien oder Umfragen). Verstehen bedeutet, dass der hörende Beobachter Sinn in den von ihm während der Kommunikation erschaffenen oder aktivierten Unterscheidungen erkennt. Zustimmung bedeutet, dass die von einem Beobachter während der Kommunikation erschaffenen oder aktivierten Unterscheidungen als funktional bewertet werden (auf Basis von Erfahrung) und er dies kommuniziert.
Diese Terminologie konstruktivistischer Perspektiven in Bezug auf empirische Forschung beschreibt die Möglichkeit von empirischer Forschung vor einem konstruktivistischen Hintergrund. Allerdings gelten für diese zunächst andere Regeln. Konstruiertes Wissen im Rahmen der empirischen Forschung bedeutet aus einer konstruktivistischen Perspektive nur Unterscheidungen über Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten werden anhand ihrer Funktionalität bezüglich eines selbst definierten Zwecks bewertet. Liegen mehrere, funktionale Unterscheidungen vor, dann wird die mit einer größeren (detaillierteren) Beschreibungsvielfalt für Beobachtungen gewählt. Soziale Prozesse können analysiert werden, indem die Unterscheidungen oder das Verhalten der beteiligten Individuen untersucht werden. Hierbei ist eine Funktionalitätsprüfung erster Ordnung die Selbstbeurteilung eines Beobachters (Forscher) von seinen selbst entwickelten Konstruktionen über das beobachtete Verhalten von Individuen. Die Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung entspricht einer Fremdbeurteilung von Konstruktionen oder der Erhebung von Konstruktionen anderer durch einen Beobachter (Forscher) mittels Kommunikation. Kommunikation aus konstruktivistischer Perspektive bedeutet jedoch die Neukonstruktion von Unterscheidungen durch den Hörer. Zustimmung nach Verstehen bedeutet eine Bewertung der Funktionalität der Neukonstruktionen. Empirische Forschung, insbesondere als Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung, ist damit ein schwieriger Prozess, der vor allem auf Basis qualitativer, diskursiver Methoden besser gestaltet werden kann.
187
Vor diesem Hintergrund erfolgt die Einordnung der empirischen Subforschungsfrage als Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung. Diese Frage adressierte die Beurteilung der Relevanz einzelner Faktoren und Relationen des Modells eines individuellen Pfades durch aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen (als Experten und Expertinnen der Beratungsbranche mit konstruktivistischem Hintergrund) zur erfolgreichen Bearbeitung individueller Stabilität. Das Modell eines individuellen Pfades stellt damit eine Möglichkeit der Beschreibung von individuellem Verhalten dar, welches sich über der Zeit stabilisiert. Die Funktionalität dieses Modells ist aber nur hinsichtlich eines spezifischen Zwecks zu bewerten. Dieser Zweck war in der zweiten Subforschungsfrage angegeben als Relevanz zur erfolgreichen Bearbeitung individueller Stabilität. Da das Modell eines individuellen Pfades mehr Faktoren und Relationen zusammenfasst als bisherige Verständnisse von Rekursion mit Homöostasis und den gesamten Prozess der Entstehung von individuellen Stabilitäten damit detaillierter erklärt, kann es bei einer positiven Bewertung der Rekursion vorgezogen werden. Diese Bewertung erfolgt im Rahmen der Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung durch die Beurteilung von aktiven Konstruktivisten und Konstruktivistinnen. Dabei werden die Experten und Expertinnen nicht das gesamte Modell, sondern nur einzelne Faktoren und Relationen bewerten. Zustimmung zu Faktoren und Relationen des Modells, und nicht nur zu den eigenen Neukonstruktionen von Unterscheidungen durch die Hörer (Experten und Expertinnen), kann durch qualitative Forschung begünstigt werden. Die Ergebnisse sind auf Basis der zweiten Ordnung allerdings im Sinne der Exploration vorsichtig zu behandeln. Da die Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung durch das Verstehen beeinträchtigt wird, ist diese Wahl der explorativen Studie eines Interviews mit Experten und Expertinnen als erster, vorsichtiger Schritt zu verstehen. Eine Funktionalitätsprüfung erster Ordnung (Anwendung des Modells zur Identifikation individueller Pfade und Anwendung von eigenen oder empfohlenen Methoden zu Lösung) wäre als weiterer Schritt anzustreben. Dies müsste dann, wie oben bereits beschrieben (vgl. II.2), im Rahmen der unmittelbaren (durch den Autor) und mittelbaren (mit den Experten und Expertinnen zusammen) Aktionsforschung erfolgen.
V.1.2
Der Prozess empirischer Forschung und Konstruktivismus
In dem vorherigen Unterkapitel wurde dargelegt, wie vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Epistemologie empirische Sozialforschung möglich ist. Dabei wurde eine Terminologie aus vereinzelten Arbeiten konstruktivistischer Perspektiven extrahiert. Anhand dieser Terminologie wurde die zweite, empirische Subforschungsfrage als Funktionalitätsprüfung 188
zweiter Ordnung eingestuft. Es erfolgte bereits ein Verweis zur Bevorzugung einer qualitativen Erhebungsmethode in Bezug auf die Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung. Auf Basis dieser Terminologie ist nun von Interesse, wie das konkrete Vorgehen für ein empirisches Projekt aus einer konstruktivistischen Perspektive auszusehen hat. Dies wurde schon in der Siegener Gesprächsrunde117 über den ‚Konstruktivismus’ als Frage formuliert: „Besteht […] ein Bedarf an konstruktivistischer Methodologie?“ (von Glasersfeld 1996b, S. 358).
Die Frage nach einer neuen Methodologie (als Forschungsprozess mit Methoden) für konstruktivistische Perspektiven ist durch die Siegener Runde mit einem ‚Nein’ beantwortet worden. Forschung mit konstruktivistischer Perspektive wird vor allem durch ein lineares Design beschrieben (vgl. dazu von Glasersfeld 1996b, S. 358 ff. und parallel Flick 2002, S. 68). Dieses Design wird im Folgenden vorgestellt, die dabei erwähnten Ziffern beziehen sich auf die dazugehörige und folgende Abbildung (vgl. Abbildung 12). Zunächst ist durch den Beobachter (Forscher) eine Theorie oder ein Modell anzufertigen (1.)118. Dieses Modell entspricht einer Setzung, welche z.B. durch Reflexion oder auch auf irrationalem Wege erstellt werden kann119. Mit dieser erstellten Theorie legt der Beobachter seine Unterscheidungen für die Funktionalitätsprüfung erster und zweiter Ordnung offen und kann auf dieser Basis seine eigenen Fokussierungen reflektieren. In Anlehnung an die obige Terminologie sollte die Theorie oder das Modell andere oder mehr (detaillierter) Aspekte beschreiben, als bisher bekannte Modell und sie sollte auf einen spezifischen Zweck ausgerichtet sein. Aus dieser Theorie oder dem Modell leitet der Beobachter (Forscher) dann Hypothesen oder Annahmen über seine Erwartungen ab (2.)120. Dies ist eine Beschreibung über Handlungszusammenhänge der Welt, wenn seine Theorie zutreffen würde. Diese Hypothesen kön117
118
119
120
Insbesondere zu diesem Themenfeld der Empirie ist die LUMIS-Runde mit Siegfried J. Schmidt, Gebhard Rusch und Ernst von Glasersfeld zu nennen, so wie die NIKOL-Runde ebenfalls mit Siegfried J. Schmidt, Ernst von Glasersfeld und weiteren prominenten Vertretern konstruktivistischer Perspektiven. Wie bereits in der Einleitung der vorliegenden Arbeit in Bezug auf die Allgemeinen Modelltheorie formuliert (vgl. dazu Stachowiak 1973,), werden in einigen Arbeiten ‚Theorien’ und ‚Modelle’ gleichgesetzt (vgl. Dubin 1978; Whetten 1989). Auch wenn von Glasersfeld den Modellbegriff nicht weiter ausdifferenziert konnte hier in Anlehnung an die Allgemeine Modelltheorie ein Modellbegriff verwendet werden, der vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Epistemologie verwendet werden kann (vgl. dazu II.2). Dieses vorgehen entspricht dem Entdeckungszusammenhang des Kritischen Rationalismus (vgl. Popper 1982) Annahmen werden hier im Sinne von Propositionen verstanden, wobei der Unterschied zu Hypothesen über den Inhalt der Sätze bestimmbar ist. Hypothesen sind Sätze, welche direkt für empirische Tests (Beobachtungen) verwendet werden können, während Propositionen Hypothesen mit Theoriebestandteilen sind (vgl. Whetten 1989).
189
nen entsprechend dem Hempel-Oppenheim Modell wie kausale Gesetze formuliert sein, jedoch sind auch Hypothesen über rekursive oder zirkuläre Zusammenhänge möglich. Auch hiermit verdeutlicht der Beobachter seine Fokussierung. Anschließend kann gefragt werden, inwieweit diese Theorie in dem vorab spezifizierten Feld funktional ist (3.). Dazu generiert der Beobachter empirische Daten durch sensomotorische Interaktion (dazu zählt Kommunikation ebenso wie die Suche nach Zahlenreihen aus Paneldaten). Abschließend wird vom Beobachter bewertet, wie die Befunde des Handlungsprozesses in die Theorie passen (4.). Er entscheidet dabei, ob die Theorie verändert werden muss oder ob sie, so wie sie ist, funktional ist – also seine Erwartungen erfüllt. Abweichend von dem vorgestellten Design empirischer Forschung mit einem konstruktivistischen Hintergrund bietet es sich an, die Generierung empirischer Daten (hier als Methode, 3.) noch weiter auszudifferenzieren. Egal ob die Funktionalitätsprüfung erster oder zweiter Ordnung erfolgt, es muss eine konkrete Erhebungsmethode gewählt (3.1) und das Sampling (3.2) sowie die Operationalisierung (3.3) seiner Theorie durchgeführt werden. Insbesondere bei dem Sampling, als Auswahl der zu beobachtenden oder zu befragenden Individuen, handelt es sich wiederum um eine zu begründende Unterscheidung durch den Beobachter (Forscher).
Abbildung 12 – Der Prozess empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie
190
Bei dieser grafischen Veranschaulichung wird schnell deutlich, dass dieser Prozess empirischer Forschung vor dem Hintergrund einer konstruktivistischen Epistemologie kein neues Design gegenüber der empirischen Forschung aus einer Perspektive des Kritischen Rationalismus ist. Dennoch ist zu beachten, dass die Theorie als Setzung interpretiert wird, die Anwendung einer Methode von den Eigenschaften des Beobachters, der Kommunikation und daher dem Verstehen abhängt und das Ergebnis nur als funktionale Möglichkeit bewertet wird.
Eine Einordnung der vorliegenden Arbeit in diesen Forschungsprozess zeigt, dass dieser Teil der vorliegenden Arbeit (V) dem Punkt drei und vier des Prozesses empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie entspricht. Diese Verschiebung entsteht dadurch, dass die Problemstellung als Ausgangspunkt in Teil II verdeutlicht wurde. Zudem wurde der erste Theoriestrang der Pfadforschung in Teil III und der zweite Theoriestrang konstruktivistischer Perspektiven in Teil IV eingeführt. So werden auch die empirischen Annahmen erst in Teil IV eingeführt, woraus zwangsläufig die Diskussion der Methode erst in Teil V folgen kann. Eine Reorganisation der Arbeit wurde nicht vorgenommen, da der Detailgrad die gewählte Struktur begünstigt. Als nächster Schritt in diesem Teil ergibt sich aus Punkt drei des Prozesses empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie die Auswahl der konkreten Erhebungsmethode (3.1).
V.2 Über die Methodenwahl Im vorherigen Kapitel wurde die Terminologie für empirische Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie vorgestellt. Daran anknüpfend konnte der Prozess empirischer Forschung aus dieser Perspektive dargestellt werden. Der nächste Schritt im Rahmen der empirischen Forschung ist demzufolge die Diskussion einer geeigneten Erhebungsmethode (V.2.1). Das Feld der Methoden wäre eigentlich relativ groß, jedoch konnte bei der Diskussion im vorherigen Kapitel bereits eine weitere Einschränkung vorgenommen werden: Auf Grund der Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung erfolgt eine Kommunikation mit Beobachtern, bei der einerseits Verstehen und andererseits die Bewertung der Kommunikation eine bedeutende Rolle einnehmen. Vor diesem Hintergrund wurde dort die Bevorzugung der qualitativen, diskursiven Methoden angesprochen, so dass hier auch nur qualitative Verfahren diskutiert werden.
191
Dem Ergebnis der Diskussion qualitativer Methoden folgend, werden dann die möglichen Probleme bei der Anwendung der gewählten Methode reflektiert (V.2.2). Einerseits kann das Ergebnis dann für den nächsten Schritt nach dem Prozess empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie verwendet werden – dem Sampling. Andererseits fließen die ermittelten Probleme in die Operationalisierung ein, um deren Entstehung damit frühzeitig zu verhindern.
V.2.1
Auswahl einer qualitativen Erhebungsmethodik
Die qualitativen Erhebungsmethoden in der empirischen Sozialforschung sind zahlreich, wobei die empirische Subforschungsfrage dieser Arbeit ein Reduktionspotential der möglichen Methoden bietet. In dieser Subforschungsfrage geht es um die Befragung von Experten und Expertinnen hinsichtlich spezifischer Faktoren und Relationen eines Modells. Dies verweist einerseits auf die Methode des problemzentrierten Interviews mit teilweise standardisiertem Leitfaden (vgl. Lamnek 1989, S. 35 ff.), denn es eignet sich „hervorragend für eine theoriegeleitete Forschung“ (Mayring 2002, S 70). Andererseits könnten aber auch die Experten und Expertinnen in den Mittelpunkt gerückt werden. Dazu gibt es in der Methodenliteratur unter dem Stichwort der ‚Expertenbefragung’ oder des ‚ExpertInneninterviews’ (vgl. Meuser & Nagel 1991) eine eigenständige Methodik121. In der Literatur über die empirische Sozialforschung besteht zu dem Vergleich dieser beiden Methoden eine rege Debatte. Diese orientiert sich an der Abgrenzung des Experten- und Expertinneninterviews als eigenständige Methode gegenüber dem leitfadengestützten, problemzentrierten Interview. Jene Debatte wird im Folgenden aufgegriffen, wobei mit einer Erläuterung über das Verständnis des Experten- bzw. Expertinneninterviews begonnen wird. Anschließend wird die Kernkritik an diesem formuliert, um sich damit im Detail auseinanderzusetzen. Je nach Ergebnis dieser Diskussion der Kritik wird entweder das Experten- und Expertinneninterview oder das problemzentrierte Interview als Methode gewählt. Diese Wahl wird auf das Experten- bzw. Expertinneninterview für diese Arbeit fallen, da der Kritik in entscheidenden Punkten nicht gefolgt wird.
121
In der angelsächsischen Literatur werden eher ‚Key Informant Interviews’ verwendet (vgl. Gilrichst 1999). Der Versuch einer Kritik dieser Interviewform im deutschsprachigen Raum hat jedoch die parallele Debatte um die Experten- bzw. Expertinneninterviews nicht angeschnitten (vgl. Hurrle & Kieser 2005).
192
Zunächst jedoch zu der Erläuterung was unter dem Experten- bzw. Expertinneninterview122 verstanden wird. Dieses wird entweder im Rahmen eines Mix aus verschiedenen Methoden oder als eigenständiges Verfahren verwendet (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 441). Nach den Entwicklern dieser Interviewform sind Experten- bzw. Expertinneninterviews „offene Interviews, um die Situationsdefinition des Experten [um] seine Strukturierung des Gegenstandes und seine Bewertung zu erfassen“ (Dexter 1970, S. 5 ff nach Meuser & Nagel 1991, S. 442; im Original ohne Einfügung). Dabei wird vornehmlich das Erfahrungs- und Deutungswissen von Experten und Expertinnen über die Forschungsfrage angesprochen (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 446). Dieses Erfahrungs- oder Deutungswissen kann dann entweder in das Zentrum der empirischen Erhebung gestellt werden oder ist nur ein Aspekt neben anderen. Steht die Interviewform im Zentrum der Erhebung, kann der Forscher seine Behauptungen bestätigen oder falsifizieren und die Ergebnisse dazu verwenden, theoretisch zu generalisieren (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 447). Neben der Falsifizierung und Generalisierung ist es auch möglich, eine Systematisierung von Experten- und Expertinnenwissen anzustreben (vgl. Bogner & Menz 2002a, S. 37) und das Interview im Sinne der Grounded Theory zu verwenden. Ist das Experten- bzw. Expertinneninterview dagegen eine zusätzliche Methode, die z.B. eher zu Beginn einer Forschung angewendet wird123, dient es lediglich zur Orientierung in einem Forschungsfeld (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 447). An dieser Stelle wird es nur noch als informatorisches (vgl. Bogner & Menz 2002b, S 18) oder exploratives Interview (vgl. Bogner & Menz 2002a, S. 37) gesehen.
Der Versuch „ExpertInneninterviews als eigenständige Methode zu untermauern“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 95, im Original kursiv) wird kritisiert. Insbesondere werden dabei zwei Kritiklinien diskutiert (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 96). Erstens können die kritischen Autoren „keine Vorschläge zur Interviewgestaltung oder -auswertung auffinden, die nicht gleichzeitig auf qualitative Interviews überhaupt zuträfen“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 95). Zweitens ist für sie maßgeblich, dass die „Forschungsinteressen und theoreti122
123
Das bedeutende und viel-zitierte Werk von Meuser und Nagel (1991) ist in einem Buch zu Experteninterviews noch einmal unverändert abgedruckt worden (vgl. Bogner & Menz 2002b, S. 22; Meuser & Nagel 2002). Wird das Experten- bzw. Expertinneninterview als zusätzliche Methode angewendet, ist insbesondere die Kombination mit der Delphibefragung sinnvoll (vgl. dazu die Empfehlung in der Einleitung). Das Expertenbzw. Expertinneninterview dient dann in einer ersten Stufe zur Exploration des Feldes und die Ergebnisse werden im Rahmen einer zweiten Stufe als Thesen bewertet (zur mehrstufigen Anwendung von Expertenbzw. Expertinneninterviews vgl. Köhler 1992, S. 328).
193
schen Konstrukte zur allgemeinen Richtschnur“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 95f.) gemacht werden. Und diese Richtschnur fokussiert eben der Forscher oder die Forscherin selbst, wenn er Experten und Expertinnen befragt. Letzteres Argument wird von Kassner und Wassermann pointiert, in dem sie Behaupten, „dass genau dies unter der Hand geschieht“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 96). Sie schließen ihre Diskussion mit dem Ergebnis, dass Experteninterviews als „Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster von ExpertInnen mittels leitfadengestützter qualitativer Interviews“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 104) gesehen werden sollten. Das ‚ExpertInneninterview’ ist demnach ein komplettes Forschungsdesign und nicht nur eine Methode (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 103).
Das erste Argument der kritischen Autoren (1.) besteht aus zwei Teilen: der Gestaltung und der Auswertung. Zunächst soll auf die Gestaltung (1.1) der Interviews eingegangen werden, welche wiederum aufgetrennt wurden in den Untersuchungsgegenstand (also der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen124; 1.1.1) und die Verfahrensweise (also Gesprächsplanung und -führung; 1.1.2) (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 103 ff.). Bezüglich der Gesprächspartner und Gesprächspartnerinnen (zu 1.1.1) erläutern die kritischen Autoren, dass es sich hier um „handlungs- und definitionsmächtige Angehörige einer Funktionselite innerhalb organisationaler oder institutioneller Kontexte“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 102) handelt125. Der Expertenbegriff ist nach den kritischen Autoren an „Wissen und Macht im Sinne privilegierter Durchsetzungschancen“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 102) gebunden. Das Erkenntnisinteresse bei diesen ‚mächtigen’ Experten bzw. Expertinnen bezieht sich auf das Betriebswissen und das Deutungswissen (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 447 nach Kassner & Wassermann 2002, S. 102). Durch dieses machtabhängige Verständnis von Experten und Expertinnen mit Kontext- und Betriebswissen liegt nach den Kritikern eine gegenstandsbezogene Perspektive vor. Diese Einengung auf eine gegenstandsbezogene Perspektive ist aber bei Meuser und Nagel gar nicht zu finden. Dort unterscheiden die Autoren klar zwischen dem Wissensbegriff und dem Expertenbegriff. Bezüglich des Wissens argumentieren sie, dass sowohl Betriebswissen (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 446), welches auf Erfahrun124
125
Gesprächspartner und -partnerinnen sind im Rahmen der Methodenwahl zunächst nur Adressaten. Es handelt sich hierbei noch nicht um die Diskussion einer Samplingmethode. Dies folgt erst in einem späteren Kapitel (V.3). Es wird erkennbar, dass die Autoren ihren Schwerpunkt auf eine ältere Diskussion über den Zusammenhang von Eliten und Experten legen. Dort wurde deren Angehörigenstatus über soziale Reputation, Entscheidungsgewalt, repräsentative Position, Bandenführung oder soziale Vernetztheit ermittelt (vgl. Drewe 1974, S. 162 ff.) und ist nicht über eine reine Gruppenzugehörigkeit bestimmbar.
194
gen beruht, als auch Kontextwissen, also spezifisches Deutungswissen, analysiert werden können. Der Definitionsspielraum in dem Expertenbegriff ist dort auch weitaus größer. So heißt es im Original, dass Experten und Expertinnen ein relationaler Status ist, der vom Forscher verliehen wird (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 443)126. Die von den Kritikern angeführte Einengung auf ‚mächtige’ Experten und Expertinnen ist in der Originalquelle nur ein Beispiel127. Dieser ‚relationale Status’ von Experten und Expertinnen ermöglicht eine Abgrenzung zum regulären Leitfadeninterview. Denn nicht die Gesamtperson bildet den Gegenstand der Analyse (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 442), sondern „klar definierte Wirklichkeitsausschnitte“ (Meuser & Nagel 1991, S. 444) der Experten und Expertinnen. Die Kritik an dem verwendeten Expertenbegriff kann daher verworfen werden. Bei der Gesprächsplanung und -führung (zu 1.1.2.) nennen die kritischen Autoren als mögliche Alternativen das „narrative Interview sozusagen als Grundkonzept erzählgenerierender Interviews einerseits [und] das problemzentrierte Interview als prominenter Entwurf eines stärker leitfadenbasierten Konzeptes andererseits“ (Kassner & Wassermann 2002, S. 99, im Original ohne Einfügung). Diese stecken nach Meinung der kritischen Autoren die Bandbreite offener qualitativer Interviewformen ab128. Die Wahl, welches dieser Verfahren in der Forschung verwendet wird, ist eher auf Verfahrens- oder Design-Begründungen auszurichten (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 101). Die methodischen Änderungen des ‚ExpertInneninterviews’ gegenüber dem narrativen wie auch dem problemzentrierten Interview sehen die kritischen Autoren als zu allgemein gehalten (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 106). Eine Betrachtung der Originalliteratur zum Experten- bzw. Expertinneninterview zeigt jedoch, dass hier eine dritte Form zwischen dem narrativen und dem problemzentrierten Interview entwickelt wird. Das Experten- bzw. Expertinneninterview weist eine Struktur der „offenen Leitfäden“ (Meuser & Nagel 1991, 448) auf und ist daher ein „leitfadengestütztes offenes Interview“ (Meuser & Nagel 1997, S. 486). Ein Paradoxon in sich. Die Forderung zur Abkehr 126
127
128
Der Expertenbegriff wird durch diese relationale Definition sehr weit geöffnet, so dass die oben erwähnte Definition in Abhängigkeit von sozialen Positionen (vgl. Fußnote 125) integriert werden kann. Auf Basis der relationalen Definition können auch andere Definitionen (volontaristische, sozilogische) erfasst werden, denn sie beschreiben nur andere subjektive Expertendefinitionen durch Forscher und Forscherinnen (vgl. z.B. Bogner & Menz 2002a, S. 40; Köhler 1992, S. 319; Mieg & Brunner 2001, S. 6). Erst nach der relativistischen Definition engen die Autoren für sich den Expertenbegriff ein. Und zwar über die zwei Kriterien „wer […] Verantwortung trägt [… und] wer über einen priveligierten Zugang zu Informationen [...] verfügt“ (Meuser & Nagel 1991, S. 443). Diese Einschränkung gilt jedoch nicht im Allgemeinen. Die Kritiker beziehen sich in ihrer Argumentation bezüglich der Interviewformen auf die Basiskonzepte nach Schütze (1977, Narratives Interview) und Witzel (1989, Problemzentriertes Interview) sowie Ullrich (1999, diskursives Interview) (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 106).
195
von der ‚Leitfaden-Bürokratie’ (vgl. Hopf 1978, S. 101) ist damit ohne Einschränkungen erfüllt. Eine aktive Gesprächsführung ist Kern des Experten- bzw. Expertinneninterviews (vgl. Mieg & Brunner 2001). Allerdings kann so ein qualitativer Grundsatz für Interviews „nach Offenheit und Nicht-Beeinflussung des Interviewpartners“ (Bogner & Menz 2002b, S. 20) nicht erfüllt werden. Die Enge der unbeeinflussten Problemzentrierung weicht also der Gegenstandsbezogenheit der Experten bzw. Expertinnen, welchen ein geleiteter Redefreiraum gewährt wird. Standardisierung und Strukturierung sind so lange zurückgestellt, bis sie sich selbst ergeben (vgl. Köhler 1992, S. 321). Die Autoren verweisen selbst auf die Schwierigkeit, diese Form nur als „halboffenes oder fokussiertes Interview“ (Meuser & Nagel 1991, S. 448) zu beschreiben. Andere Quellen verweisen daher auf die Nähe zu Tiefeninterviews mit Leitfäden (vgl. Bogner & Menz 2002b, S. 17). Wenn auch diese dritte Position nicht einer Entweder-Oder Logik folgt, so wird damit versucht dem Sonderstatus von Experten und Expertinnen gerecht zu werden. Die angeführte Kritik an der Gesprächsführung wird daher zurückgewiesen und damit auch die Distanz zum problemzentrierten Interview deutlich. Für die vorliegende Arbeit ist anhand der zweiten Subforschungsfrage eine klare Orientierung auf das Experten- bzw. Expertinneninterview gegeben. Der zweite Teil des ersten Argumentes (1.2.) bezog sich auf die fehlende Unterscheidung der Hinweise zur Auswertung des Expertinneninterviews gegenüber allen anderen Interviewformen (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 106). In der Originalliteratur wird eine Auswertungsstrategie vorgestellt (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 451 ff.), welche mit der Zielrichtung der Verallgemeinerbarkeit begründet wird. Vorgehen dieser Auswertungsstrategie ist die Paraphrasierung, Kategorienbildung und Generalisierung. Da diese Schritte jedoch nicht von anderen Inhaltsanalysen unterschieden werden können, wird der Kritik in diesem Punkt gefolgt. An dieser Stelle wurde der Bogen der Besonderheit zu weit gespannt und eine Orientierung an herkömmlichen Auswertungsverfahren (vgl. z.B. Strauss 1987; Strauss & Corbin 1990; Mayring 2000) scheint gewinnbringender. Denn letztere sind wesentlich detailreicher aufgeschlüsselt, als es in den Quellen zum Experten- bzw. Expertinneninterview der Fall ist. Es ist jedoch anzumerken, dass diese Einschränkung nicht die Wahl des Experten bzw. Expertinneninterviews als Form der Gesprächsführung in Abhängigkeit von dem Gegenstandsbereich für diese Arbeit ausschließt.
Das zweite Argument der kritischen Autoren des Experten- bzw. Expertinneninterviews adressierte die selektive Wahl von Experten bzw. Expertinnen zur Erzeugung (oder Unterstüt196
zung) eines spezifischen Ergebnisses – diesen Umstand nenne die Kritiker ‚Ausnutzung’ (vgl. Kassner & Wassermann 2002, S. 96). Allerdings weisen die Autoren des Experten- bzw. Expertinneninterviews selbst auf ein ähnliches Risiko hin. Ein Interview, bei dem der Experte nur ein Referat oder einen Vortrag hält (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 451), bringt nicht die gewünschte Diskussion zwischen dem Forscher und der Praxis zustande. Umgekehrt reflektieren Meuser und Nagel auch, dass die Experten und Expertinnen den Interviewer ausnutzen können, in dem sie diesen zu einem Mitwisser machen und fragwürdige Interna über Verstrickungen zuspielen (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 449 f.). Der Vorwurf der Ausnutzung kann daher nicht bestätigt werden. Vielmehr wird dies in der Originalliteratur als Hinweis gegeben, dass die Experten und Expertinnen nicht zur Erzeugung eines Ergebnisses sondern zur Eröffnung eines Diskurses kontaktiert werden sollten. Somit ist darauf zu achten, dass die gewählten Experten und Expertinnen einem Thema sowohl positiv als auch negativ gegenüber stehen können und kritische Positionen in der Analyse zu berücksichtigen und nicht zu verwerfen sind. Eine transparente Auswertung schützt dabei vor einer Instrumentalisierung. Werden die Experten und Expertinnen auf Grund ihrer Erfahrung (Betriebswissen) konsultiert, die dem Forscher per Prinzip selbst nicht zur Verfügung steht, besteht die Gefahr der Ausnutzung zur Förderung eines spezifischen Ergebnisses kaum.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das Experten- bzw. Expertinneninterview aus der Perspektive dieser Arbeit den Gegenstandsbereich des Deutungs- und Erfahrungswissen adressiert. Wer als Experte oder Expertin zu bezeichnen ist, kann relational zur Problemstellung definiert werden. Ausgehend von diesem Gegenstandsbereich gibt es eine Auswirkung auf die Gesprächsführung, da Experten und Expertinnen eine gelenkte Redefreiheit gewährt und die Erhebung deren Deutungs- und Erfahrungswissen vor die Einhaltung des Leitfadens gestellt wird. Die Auswertung ist nach der Perspektive dieser Arbeit jedoch nicht an den Vorgaben des Experten- bzw. Expertinneninterviews anzulehnen, sondern an allgemeine Literatur zur Inhaltsanalyse anzugliedern. Somit stellen Experten- bzw. Expertinneninterviews kein generelles Forschungsdesign mehr dar, wie die Kritiker dies formulierten. Das Risiko der Unterstützung des eigenen Interesses wird durch die Berücksichtigung kritischer Meinungen und einer transparenten Auswertung offen angegangen. Anschließend an den Hinweis, dass bei Experten- bzw. Expertinneninterviews auch Risiken bei der Durchführung der Interviews auftreten können, soll nun auf weitere Probleme kurz eingegangen werden. 197
V.2.2
Mögliche Probleme bei der Anwendung
Nachdem nun das Experten- bzw. Expertinneninterview als Methode für die vorliegende Arbeit ausgewählt wurde, wird auf drei Gruppen kritischer Punkte eingegangen, welche zur besseren Vorbereitung des Gespräches, zur Operationalisierung, wie auch zur Reflexion der Auswertung verwendet werden können. Die erste Gruppe bilden allgemeine Fehlinterpretationen bezüglich des Experten- bzw. Expertinneninterviews. Die zweite Gruppe bildet eine Typisierung der Sicht des Interviewers durch Experten und Expertinnen, welche im Rahmen des Interviews wechseln kann. Die dritte Gruppe, welche zum Teil durch die Typisierung erfasst wird, adressiert Risiken im Gesprächsverlauf.
Als erste Gruppe von Risiken waren allgemeine Fehlinterpretationen des Experten- bzw. Expertinneninterviews genannt (vgl. Bogner & Menz 2002b, S. 7 ff.). Es wird oft davon ausgegangen, dass Experten- bzw. Expertinneninterviews 1.) in der Explorationsphase lange Wege ersparen. Zudem wird angenommen, dass 2.) eine Abkürzung aufwendiger Beobachtungsprozesse erreicht wird und 3.) institutionalisiertes Expertentum (Sekretäre, Pressestellen) einen unproblematischen Feldzugang verspricht. Auch wird häufig von einem 4.) geheimen Erfolgsversprechen ausgegangen, dass Experten oder Expertinnen automatisch sichere und gute Interviews liefern. Zudem wird bei Experten und Expertinnen 5.) von einer besonders unproblematischen Form der Befragung durch größere sprachliche Kompetenz ausgegangen. Alle fünf Irrtümer liegen aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit nicht vor. Es wird weder davon Ausgegangen, dass lange Wege erspart bleiben, denn die sind abhängig von den zusagenden Experten und Expertinnen bei einer deutschlandweiten Befragung. Noch werden durch die Methode Beobachtungsprozesse reduziert oder verkürzt, denn es handelt sich um eine komplexe Kommunikation. Auch von einem unproblematischen Feldzugang wird nicht ausgegangen, da mit einer Beteiligung entsprechend herkömmlicher Rücklaufquoten von rd. 30% der angeschriebenen Experten und Expertinnen gerechnet wird. Von einem sicheren Ergebnis der Interviews wird ebenso nicht ausgegangen, vielmehr wird versucht, die Sprache der theoretischen Ergebnisse in die umgangssprachliche Beratungspraxis umzusetzen. Damit wird das Problem des Verstehens wie auch der Zustimmung aus konstruktivistischer Perspektive adressiert und mit größter Vorsicht interagiert.
198
In der zweiten Gruppe ist die Typisierung der Sicht des Interviewers durch Experten oder Expertinnen zusammengestellt (vgl. Bogner & Menz 2002a, S. 62 f.) – also „Interaktionseffekt[e … als] Pathologie der Kommunikation“ (Bogner & Menz 2002a, S. 48). Es existieren demnach sechs Perspektiven, die Experten und Expertinnen auf den Interviewer haben können und wodurch das Interview beeinflusst wird. Der Interviewer wird angesehen als 1) Co-Experte, 2) Experte einer anderen Wissenskultur, 3) Laie, 4) Autorität, 5) Komplize und 6) potenzieller Kritiker129. Diese sechs Perspektiven werden über sieben Dimensionen bewertet und Unterschiede herausgestellt. Dazu zählen die Facetten der Typisierung, Situationsindizien, Voraussetzungen auf Seiten des Interviewers, Interviewstil, Vor- und Nachteile sowie der primäre Anwendungsbereich. Zweck der Durchführung des Experten- bzw. Expertinneninterviews ist mit Rahmen der vorliegenden Arbeit die Beurteilung von Faktoren und Relationen des im vorherigen Teil der Arbeit aufgestellten Modells eines individuellen Pfades. Da das Modell im Wesentlichen aktuelle theoretische Perspektiven neu verbindet – wobei davon ausgegangen wird, dass die Experten und Expertinnen dieses zum Teil kennen – ist einerseits von einem Co-Expertentum und andererseits von einer anderen Wissenskultur auszugehen. Nach dieser Einordnung ergeben sich folgende Anregungen: Die Position des Co-Experten gilt nur in Bezug auf die konstruktivistischen Hintergründe (und nicht auf die Praxis), wobei im Rahmen des Interviews die Sprache in Bezug auf die neuen Faktoren und Relationen des Modells an die der Experten und Expertinnen anzupassen ist. Durch die angestrebte, gleichwertige Sprachkompetenz entsteht eine symmetrische Interaktion, bei der mit schnellen Fragen und Antworten ein großer Faktenreichtum erzielt wird130. Bedingung dazu ist die Beherrschung der Fachterminologie durch den Interviewer und das Risiko des Scheiterns liegt in der Wahrnehmung des Interviewers als Laie (insbesondere in Bezug auf die Praxis). Sofern dies geschieht, können Forscher und Forscherinnen als Interviewer das Interview nicht mehr steuern und die Verwendung ist möglicherweise nicht mehr gewährleistet. Auch die Überbetonung der Neuheit birgt eine Gefahr, wodurch der Interviewer als Kritiker wahrgenommen wird und ein Gesprächsabbruch mög-
129
130
Wesentlich unstrukturierter, aber in Ansätzen auch erkennbar, ist die grobe Skizzierung nach Wissen, Interessen, persönlichen Problemen und Machtverhältnissen im Interview (vgl. Mieg & Brunner 2001, S. 4). Auch weist Mieg (2001) darauf hin, dass der Experte sich fragt „mit wem er es als Fragesteller zu tun hat“ und daraus ableitet, ob er „diesem erst einmal die Grundbegriffe des Faches […] vermittel[t]“ (Mieg & Brunner 2001, S. 5; im Original ohne Einfügung) – auch Köhler (1992) schließt sich dem an. Die Beherrschung des Fachvokabulars sowie die nahezu auswendige Verfügung über den Leitfaden unterstützen diese Art der Gesprächsführung (vgl. u.a. Mieg & Brunner 2001, S. 17).
199
lich ist. In diesem Sinne stellt das Experten- bzw. Expertinneninterview eine hohe Anforderung an den Interviewer.
Auch im Rahmen der dritten Gruppe wurden Risiken im Gesprächsverlauf diskutiert. Neben dem oben besprochenen Wechsel der Einschätzung des Interviewers als Kritiker oder Laie, sind die Blockierung und der Rollentausch zu beachtende Risiken (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 449f.). Bei der Blockierung wurde der Interviewpartner „entweder fälschlich als Experte angesprochen […], kennt sich im Thema nicht oder nicht mehr aus, oder er zieht sich auf eine formalistische Behandlung des Themas zurück“ (Meuser & Nagel 1991, S. 449). Als Ausweichmöglichkeit existiert nach den Autoren nur der Abbruch des Gespräches oder die Oberflächlichkeit muss bis zum Ende durchgezogen werden. Diese Anmerkung ist aufzunehmen und während des Interviews zu berücksichtigen. Bei dem Rollentausch findet ein Ebenenwechsel des Experten oder der Expertin zwischen dem Expertinnenstatus (zumeist das Berufsleben) und dem Privaten statt. Dabei erhalten Forscher und Forscherinnen jedoch keine Informationen über das Thema und die Erfahrung als Experte bzw. Expertin (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 450). Auch hier ist entweder ein Gesprächsabbruch zu vollziehen oder die entsprechenden Stellen sind hinterher aus dem Interview zu entfernen.
In Bezug auf die diskutierten, möglichen Probleme bei Experten- bzw. Expertinneninterviews kann zusammenfassend festgehalten werden, dass bei der Vorbereitung und Gesprächsführung auf die Fachterminologie der Experten und Expertinnen zu achten ist. Zur Verdeutlichung des Co-Expertentums ist die Diskussion über Faktoren und Relationen des Modells bereits im Rahmen der Kontaktierung zu erwähnen, wobei das Co-Expertentum im Gespräch nicht zu sehr betont werden soll. Das Risiko einer Entgleitung oder eines Abbruchs besteht, sofern die Gesprächsführung aus der Hand gegeben oder zu kritisch nachgefragt wird. Sollte zu Beginn eine Blockierung des Gespräches durch die Experten und Expertinnen erfolgen, ist ein Abbruch vorzuziehen. Bei einem häufigen Ebenenwechsel zwischen Privatem und Expertentum sind nur die entsprechenden Informationen zu extrahieren. Protokollierung per Tonband und Zusicherung der Anonymisierung zur Veröffentlichung der Daten entsprechen dem Standard empirischer Forschung (vgl. z.B. Mieg & Brunner 2001). Nach der Wahl der Methode und der Reflexion kritischer Aspekte kann im anschließenden Kapitel auf die Wahl der Experten und Expertinnen (als aktive Konstruktivisten und Kon200
struktivistinnen) eingegangen werden. Dies folgt der Definition des Expertenbegriffs im Experten- bzw. Expertinneninterview.
V.3 Über die Grundgesamtheit und das Sampling Im Rahmen des vorherigen Kapitels wurde der erste Schritt der Methode des Prozesses empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie vorgestellt (3.1). Dabei wurde als Erhebungsmethode das Experten- bzw. Expertinneninterview gewählt. Ebenfalls wurden Risiken dieser Interviewform diskutiert, wodurch Auswirkungen auf die Operationalisierung und Auswertung der Interviews festgehalten werden konnten.
Im Rahmen dieses Kapitels folgt der zweite Schritt der Methode des Prozesses empirischer Forschung mit einer konstruktivistischen Epistemologie (3.2). Dabei wird auf die Wahl der Experten und Expertinnen eingegangen. Zunächst folgt die Vorstellung einer geeigneten Samplingmethode, welche auf einen Datenpool (z.B. Grundgesamtheit) angewendet wird (V.3.1). Diese entspricht dem theoretischen Sampling. Dem nachgeordnet folgt die Eingrenzung des Datenpools von Experten und Expertinnen für diese Arbeit, aus denen dann mit der gewählten Methode das Sample gebildet wird (V.3.2). Auf Grund des theoretischen Samplings wird nur die Entwicklung von Adresslisten aktiver Konstruktivisten und Konstruktivistinnen beschrieben. Anschließend werden die drei gebildeten Gruppen der systemischen Beratung (V.3.3), NLP (V.3.4) und Huna (V.3.5) anhand ihrer Entstehungsgeschichte und deren Selbstverständnis, ihrer Grundannahmen sowie der wissenschaftlichen Resonanz vorgestellt. Wichtigster Punkt ist dabei die Anbindung der Perspektive an konstruktivistische Grundpositionen.
V.3.1
Bestimmung einer geeigneten Samplingmethode
Wie einleitend erwähnt, wird als erstes nun aus den vorhandenen Samplingmethoden ein passendes Verfahren ausgewählt. Eine ‚Totalerhebung’ aller Experten und Expertinnen, welche in der Einleitung als aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen bezeichnet wurden, ist unmöglich. Deren Zahl ist unbekannt und wie sich herausstellen wird, sind spezifische Teilmengen davon bereits über 1000 Personen. Qualitative Experten bzw. Expertinneninterviews sind bei dieser Zahl im Rahmen einer Dissertation nicht möglich.
201
Auf Basis dieser Einschränkung ist die Art der Stichprobenziehung (Samplingmethode) das nun anstehende Problem. Die Zusammenstellung des Handbuchs ‚Qualitative Forschung’ beginnt mit dem statistischen Sampling (vgl. Flick 2002, S. 105). Bei diesem wird auf die Verfahren der Wahrscheinlichkeitsauswahl, Quotenauswahl und der Randomisierung (oder Zufallsstichprobe) zurückgegriffen (vgl. Diekmann 2004). Eine andere Gruppe von Verfahren wird als gezieltes (purposive) Sampling debattiert (vgl. Flick 2002, S. 108), bei dem auf Grund von extremen, typischen, variablen, kritischen oder sensiblen Fällen ausgewählt wird. Wiederum andere Arten bilden die Fallwahl nach der Zugänglichkeit (convenience) zum Feld (vgl. Flick 2002, S. 111) oder nach der Bewertung des ‚Charakters’ der zu Befragenden (judgement) (vgl. Gilrichst 1999, S. 36). Auch das Schneeball-System (snowball), bei dem eine Empfehlung (gatekeeper) zu weiteren Kontakten führt und diese wiederum zu anderen usw., spiegelt eine andere Möglichkeit wider (vgl. Fink & Kosecoff 1998, S. 45; Meuser & Nagel 1991, S. 444). Abschließend verbleibt die Methode des ‚theoretischen Samplings’ (vgl. Glaser & Strauss 1998 hier nach Flick 2002, S. 105). Dabei sind weder die Größe der Stichprobe noch deren Merkmale bekannt. Eine Erweiterung des bereits gezogenen Samples wird durch eine erneute Ziehung mit neue Kriterien eben dann vollführt, wenn noch keine theoretische Sättigung vorliegt – also zusätzliche Daten gefunden werden können. Im Wesentlichen entscheidet der Forscher oder die Forscherin „welche Daten als nächste erhoben werden sollen“ (Glaser & Strauss 1998, S. 53 aus Flick 2002, S. 102).
Diese Vielzahl von möglichen Samplingmethoden kann auf eine relevante reduziert werden. Das statistische Sampling grenzt sich durch die Festlegung aus, dass die Grundgesamtheit bekannt sein muss (vgl. Flick 2002, S. 105). Wie bereits bei der Totalerhebung erwähnt, sind nirgendwo alle aktiven Konstruktivisten und Konstruktivistinnen in einem Verzeichnis aufgeführt, auf welches zurückgegriffen werden kann. Es bleiben also nur die verschiedenen Mischformen zu Auswahl. Die Zugänglichkeit verschiedener Experten und Expertinnen entscheidet prinzipiell über deren Teilnahme an dieser Arbeit, so dass hierbei nicht unbedingt von einer gezielten Methode ausgegangen wird – bzw. dies nicht forciert werden soll. Ebenfalls wird in der Beurteilung des Charakters eher ein Hindernis gesehen, da die Fachkompetenz im Vordergrund steht und die zugänglichen Experten und Expertinnen nicht nach deren Persönlichkeit bewertet werden sollen. Ein Schneeballsystem ist für diese Arbeit nicht notwendig, da eine Reihe von Datenbanken für aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen zumindest im deutschen Raum existieren. Aus diesen können Adressen entnommen werden, 202
da sie zumeist frei im Internet zugänglich sind. Was bleibt ist in diesem Sinne die Verwendung des theoretischen Samplings. Demnach ist mit allen vorhandenen Beratungsvarianten zu arbeiten, die sich durch deren Primärliteratur dem Konstruktivismus zuweisen lassen. Innerhalb dieser Varianten sind Adressdatenbanken als Quelle zu verwenden, welche nicht einer Grundgesamtheit entsprechen müssen. Die Ziehung aus den Adresslisten erfolgt zufällig, um eine Anzahl von Interviewpartner und -partnerinnen pro Variante zu gewinnen. Je nachdem, ob die erhobenen Daten ausreichen oder nicht, werden weitere Quellen erschlossen. Im Sinne der Forschungsökonomie einer Dissertation kann nur eine geringe Anzahl von Interviews geführt werden. Es wird aber davon ausgegangen, dass trotz der Anzahl von fünf bis zehn Experten und Expertinnen pro Gruppe bereits die theoretische Sättigung erreicht sein wird. Dieser womöglich frühzeitige Abbruch ist im Rahmen der Reflexion noch einmal aufzugreifen. Im nächsten Unterkapitel kann auf die Bestimmung spezifischer Quellen für die Adressenlisten aktiver Konstruktivisten und Konstruktivistinnen eingegangen werden.
V.3.2
Entwicklung eines Datenpools
Nachdem nun die Samplingmethode im vorherigen Kapitel als theoretisches Sampling bestimmt wurde, kann ein Datenpool von Adresslisten für diese Arbeit entwickelt werden. Wie bereits in der Diskussion um die Samplingmethode deutlich gemacht wurde, liegen keine Informationen über die Grundgesamtheit aller aktiven Konstruktivisten und Konstruktivistinnen vor. Daher entspricht der im Folgenden skizzierte Datenpool einer umfangreichen Namensliste für das theoretische Sampling. Quellen bilden, anlehnend an die Literatur zum Expertenbzw. Expertinneninterview, vor allem Autoren in Fachzeitschriften, Mitgliederverzeichnisse von Berufsorganisationen sowie Personal- und Vorlesungsverzeichnisse (vgl. Köhler 1992, S. 320). Nach der empirischen Subforschungsfrage geht es um die Beurteilung durch aktive Konstruktivisten und Konstruktivistinnen, welche Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bei subjektiven Problemsituationen beraten. Entsprechend der Eingrenzung zur Samplingmethode sind alle Beratungsvarianten zu ermitteln, die auf Basis der Primärliteratur zu konstruktivistischen Perspektiven zugeordnet werden können.
Ausgehend von einer Literaturrecherche kann die Anzahl der Ansätze konstruktivistischer Perspektiven in der Beratung auf vier Strömungen eingegrenzt werden: Systemische Bera203
tung, neuro-linguistische Programmierung (NLP), Huna und der integrale Ansatz. Die Nähe der Ansätze zu konstruktivistischen Perspektiven werden im Folgenden durch den Bezug zur ‚Konstruktion der Welt’ kurz vorgestellt. Jeder der gewählten Ansätze wird in den folgenden Unterkapiteln dann noch einmal intensiv analysiert. Bei der traditionsreichen systemischen Beratung (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003) finden einerseits Einzelberatungen lebender Systeme statt (vgl. z.B. Watzlawick 1992b; Watzlawick & Coyne 1992). Es werden aber andererseits auch Gruppen (vgl. z.B. von Schlippe & Schweitzer 2003) und ganze Organisationen mit systemischen Werkzeugen beraten (vgl. z.B. Selvini Palazzoli et al. 1999; Selvini Palazzoli et al. 1995). Bei der neuro-linguistischen Programmierung sprechen die Entwickler von einer Selbst-Programmierung kybernetischer Systeme (vgl. Hücker 2006; Bandler & Grinder 1985). Es ist also zumeist auf Einzelpersonen fokussiert. Auch Huna weist eine Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven auf. Hier ist die erste Grundregel, dass die Welt das ist, wofür sie der jeweilige hält, ein besonders guter Indikator (vgl. Roedenbeck 2006; Ulmer-Janes 2000). Auf diese wird später noch mal eingegangen. Auch in diesem Ansatz werden hauptsächlich Individuen beraten. Der vierte Ansatz ist der integrale Ansatz nach Ken Wilber. Dieser integriert alle wesentlichen Erkenntnisse aller Forschungszweige (vgl. Cacioppe 2000, S. 51 ff.) und so ist auch hier von einer Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven auszugehen. Die Bedeutung dieser Ansätze für die Organisations- und Managementberatung kann zum einen durch die Anführung einiger erwerbstätiger Organisationsberatungen verdeutlicht werden. Dazu zählen z.B. ‚WSFB-Beratergruppe Wiesbaden’ (mit einem systemischen Ansatz), ‚PSM - Partner für Strategie- und Managemententwicklung’ (mit NLP als Ansatz), ‚ HUNAVITA Gesellschaft für Lebensberatung und Bewußtseinstraining mbH’ (mit Huna als Ansatz) und ‚Evolution Management - Organisationsberatung, Training & Coaching’ (mit einem integralen Ansatz). Zum anderen können aber auch Artikel in den internationalen und nationalen betriebswirtschaftlichen Journalen zur Verdeutlichung deren Einflusses auf die Organisationsund Managementberatung angeführt werden: z.B. ‚The Leadership & Organizational Development Journal’ (vgl. Cacioppe 2000, Integraler Ansatz), ‚Journal of Organizational Change Management’ (vgl. Frost & Egri 1994, Huna), ‚Organisationsentwicklung’ / ‚Die Betriebswirtschaft’ (vgl. Königswieser et al. 1995; Exner et al. 1987, Systemischer Ansatz) und ‚Journal of Counseling Psychology’ (vgl. Einspruch & Foreman 1985, NLP).
204
Auf Basis dieser Auswahl der vier Experten- und Expertinnengruppen wurde eine Recherche über Adressenlisten in Google.de durchgeführt. Spezifische Recherchen zeigten, dass eine hohe Anzahl von systemischen Experten und Expertinnen entweder durch die DGSF131 oder SG132 zertifiziert waren. Bei der DGSF handelt es sich um die ‚Deutsche Gesellschaft für systemische Familientherapie und Beratung’ mit etwa 1416 Mitgliedern133. Dieser Verein entstand aus den beiden großen Verbänden ‚Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Familientherapie’ (DAF) und ‚Dachverband für Familientherapie und systemisches Arbeiten’ (DFS) (vgl. DGSF.org 2005). Der zweite heutige Großverband ist die ‚Systemische Gesellschaft’ (SG) mit etwa 748 Mitgliedern134. Durch diese beiden Verbände werden viele – aber nicht alle – systemischen Experten und Expertinnen in Deutschland erfasst. Diese generierten Namenslisten aus den Mitgliederverzeichnissen werden für das theoretische Sampling daher nur als umfangreiche Namensliste und nicht als Grundgesamtheit verwendet. Bezüglich der zweiten Gruppe von Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wurde ermittelt, dass eine große Zahl von diesen durch die DVNLP135 zertifiziert wird. Hinter dem Kürzel DVNLP steht der ‚Deutsche Verband für Neuro-Linguistisches Programmieren’ mit etwa 1054 Mitgliedern136. Dieser Verein entstand aus der Vereinigung der älteren Gruppen ‚German Association for Neuro-Linguistic Programming’ (GANLP) und der ‚Deutschen Gesellschaft für NLP’ (DGNLP) (vgl. Hücker 2003). Durch den neuen Dachverband werden viele, jedoch nicht alle Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund erfasst. Die aus den Mitgliederverzeichnissen generierten Namenslisten werden für das theoretische Sampling daher nur als umfangreiche Namensliste und nicht als Grundgesamtheit verwendet. Recherchen bezüglich Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund verwiesen zumeist auf das Netzwerk Aloha-International (vgl. King 1997, S. 14). Dies beinhaltet eine Zahl von etwa 144 Trainern in Deutschland (vgl. Aloha-International 2005)137. Diese sind alle bei dem Entwickler Serge King zur Ausbildung gewesen und können daher als relevante Gruppe von 131 132 133 134
135 136 137
www.dgsf.org. www.systemische-gesellschaft.de. Nach eigenen Recherchen in der Mitgliederdatenbank im freien Onlinezugriff (www.dgsf.org). Nach eigenen Recherchen in der Mitgliederdatenbank im freien Onlinezugriff (www.systemische-gesellschaft.de). www.dvnlp.de. Nach eigenen Recherchen in der Mitgliederdatenbank im freien Onlinezugriff (www.dvnlp.de). www.huna.org.
205
Experten und Expertinnen aufgefasst werden. Auch hier gilt, dass dieses Netzwerk viele, aber dennoch nicht alle Experten und Expertinnen zusammenfasst. Die aus dem Mitgliederverzeichnis generierte Namensliste wird für das theoretische Sampling daher nur als umfangreiche Namensliste und nicht als Grundgesamtheit verwendet. Eine nähere Analyse der deutschen Vertreter zeigte jedoch, dass die meisten Anwender von Huna sich auf Körperarbeit (Massage und Tanz) ausgerichtet haben: Lomi-Lomi-Nui, Kino Mana und Hula. Somit reduzierte sich die Gruppe der möglichen Experten und Expertinnen mit Bezug auf die Bearbeitung individueller Konstruktionen auf nur noch 16 in Deutschland. Die vierte Gruppe des integralen Ansatzes ist auf Basis der Recherchen aus der Analyse auszugrenzen. Hierfür existieren keine Adressdatenbank und keine Zertifizierungsstelle. Rund 12 Interessenten an diesem Ansatz haben sich in dem ‚Arbeitskreis Ken Wilber’ (AKKW) formiert138. Obwohl der integrale Ansatz wissenschaftlich reflektiert wird, ist die Anzahl der Organisations- und Managementberater und -beraterinnen (noch) sehr gering (AKKW: 4). Da auch in der gesichteten Literatur konkrete Methodenvorschläge fehlen, ist die Relevanz dieses Ansatzes für die aktuelle Diskussion der empirischen Annahmen derzeitig noch fraglich. Im Rahmen dieser Arbeit wird daher auf eine Analyse des Ansatzes verzichtet. Eine Beschäftigung in weiteren Studien ist jedoch zumindest nach Sichtung der theoretischen Grundlagen empfehlenswert. Diese recherchierten Adressdatenbanken der nunmehr verbleibenden drei Verbände oder Dachorganisationen sind auf Basis deren Funktion als Zertifizierungsstelle für den deutschen Raum gut zu verwenden. Die Mitglieder (sofern auch oder nur in der Wirtschaft aktiv) werden als ‚typische’ Vertreter (vgl. Flick 2002, S. 109; Meuser & Nagel 1991, S. 452) der ‚reinen Lehre’ des jeweiligen Ansatzes betrachtet139. Aus ihnen können so lange Personen adressiert werden, bis eine Sättigung der Informationen erreicht ist (vgl. Flick 2002, S. 105). Mit der Wahl der Samplingmethode im vorherigen Kapitel sowie der Eingrenzung des Datenpools durch Adresslisten in diesem Kapitel, kann im Anschluss auf diese drei Perspektiven eingegangen werden. Eine Analyse der Perspektiven wird hinsichtlich deren Geschichte und des Selbstverständnisses, deren Grundannahmen sowie deren wissenschaftlicher Resonanz und Abgrenzung zueinander geführt. Zentral dabei ist, die Beziehung zu konstruktivistischen Perspektiven zu verdeutlichen und die Grundzüge der Ansätze vorzustellen. Dabei sollen auch Besonderheiten in der Sprache für die Operationalisierung identifiziert werden. 138 139
Nach eigenen Recherchen in der Mitgliederdatenbank im freien Onlinezugriff (www.huna.org). Eine Kontrollfrage im Interview ist hier von großer Wichtigkeit.
206
V.3.3
Systemische Beratung – Ein Überblick
Im folgenden Abschnitt soll nun ein kurzer Überblick über die systemische Beratung im Allgemeinen und die dazugehörigen Methoden gegeben werden. Die Bezüge zum Konstruktivismus sind sehr prägnant, da die systemische Beratung bereits mit einer konstruktivistischen Perspektive entwickelt wurde. Bezüge und Erläuterungen fallen daher relativ kurz aus. Durch die Existenz verschiedener anerkannter Lehrbücher (vgl. z.B. von Schlippe & Schweitzer 2003) wird in weiten Teilen auch auf deren Darstellung zurückgegriffen. Dieses Unterkapitel beginnt mit einem kurzen historischen Überblick über die Entstehungsgeschichte der systemischen Beratung. Danach folgt eine Darstellung des Selbstverständnisses der systemischen Beratung (V.3.3.1). Als zweites wird eine Darstellung wesentlicher Grundannahmen gegeben, welche direkt auf die oben bereits verwendete, konstruktivistische Literatur bezogen werden können (V.3.3.2). In diesem Kapitel wird auch auf das systemische Pathologie- und Zielverständnis von Beratung eingegangen. Abschließend folgt eine Skizze der wissenschaftlichen Resonanz in Bezug auf die systemische Beratung (V.3.3.3), welche auf Grund der weiträumigen Erforschung nur angedeutet wird. Als Exkurs ist im Anhang eine kompakte Darstellung aller wichtigen Methoden angeführt (vgl. Anhang 2). Diese dient vor allem der Vorbereitung für das Interview, als Basis der Nachfrage sowie für die Auswertung als Bezugsrahmen.
V.3.3.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses
Eine kurze Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte systemischer Therapie und Beratung ist problematischer als es zu Beginn scheint. Diese entstand nicht durch einen ‚Theoriestreich’, sondern es waren eine ganze Reihe von Persönlichkeiten zu unterschiedlichen Zeiten an der Entwicklung beteiligt gewesen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 19). Einige Rekonstruktionen beginnen 1890 mit Zilpa Smith und integrieren Jacob Moreno und Alfred Adler (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 18; Hanswille 2000, S. 230f.). Andere beginnen dagegen erst 1940 mit der Systemlehre von Karl Ludwig von Bertalanffy (vgl. Spitczok von Brisinski 2006). Die wichtigsten von vielen genannten Arbeiten sind zumeist die Theoretischen Grundlagen des ‚double bind’ (vgl. Bateson et al. 1956), gefolgt von der Homöostasis (vgl. Jackson 1957), der Familientherapie (vgl. Satir 1964) und der Kommunikationstheorie (vgl. Watzlawick et al. 2000). Erst später fließen erkenntnistheoretische Überlegungen in die Therapie ein. Insbeson-
207
dere wird öfters die Konferenz ‚The Construction of Therapeutic Realities’ (1984, Calgary, Kanada) mit von Foerster, Maturana und Varela140 angeführt. Systemische Berater für Familien und Organisationen141 (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1995) verstehen sich selbst als Beobachter, die „Informationen in die Gewohnheitswirklichkeit des Klientensystems“ (Schmid 1987, S. 23) einspeisen142 – dies aber zielgerichtet (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 53; Willke 1987, S. 333). Diese Einspeisung von Informationen oder Intervention systemischer Berater und Beraterinnen erfolgt aus deren Perspektive permanent, da für sie das Axiom gilt: „Man kann nicht nicht intervenieren“ (Mingers 1996, S. 177). Ausgangspunkt für eine derartige Betrachtungsweise ist das Klientensystem / System (vgl. Exner et al. 1987, S. 268; Wimmer 1995, S. 274), welches gemeinsam mit dem Beratersystem das ‚intermediäre’ Beratungssystem erzeugt (vgl. Kühl 2005; Mingers 1996; Königswieser et al. 1995; Holtmann 2003, S. 7). Damit liegt der Analyseschwerpunkt auf Beziehungen zwischen Systemelementen (vgl. Herwig-Lempp 2002a, S. 192). Diese spiegeln sich in Handlungsweisen von Personen zueinander (vgl. Exner et al. 1987, S. 267, 268) oder – in Anlehnung an die Axiome von Watzlawick – in der Kommunikation143 (vgl. Seliger 1997, S. 30; Mingers 1996, S. 129; Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 31 und dort insbesondere der Anhang zur Erweiterung der Axiome). Trotz des Fokus auf Systeme ist es für die funktionierende Beratung nicht so wichtig, ob alle Mitglieder eines Systems auch Teilnehmer der Beratung sind (vgl. Schmid 1987, S. 31; Watzlawick & Coyne 1992, S. 67), womit die systemische Beratung auch auf Individuen angewendet werden kann.
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Diese drei Autoren, von Foerster, Maturana und Varela, wurden oben als zentrale Autoren der radikalkonstruktivistischen Perspektive identifiziert, welche oben bereits diskutiert wurden. Als Unterscheidung zwischen der systemischen Familien- und Organisationsberatung wird vor allem gesehen, dass die Beziehungen innerhalb des Systems nicht lebenswichtig sind (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 25). Jedoch wird im Rahmen systemsicher Organisationsberatung auf dieselben Grundlagen und Methoden wie in der systemischen Familientherapie / -beratung zurückgegriffen (vgl. Ellebracht et al. 2003). Hier erfolgt eine deutliche Abgrenzung von klassischen Beratungsprinzipien. Dort wird versucht, die ‚bessere’ Kenntnis durch eine argumentierte, wissenschaftliche Fundierung wie im Gutachten (vgl. Exner et al. 1987, S. 276) oder den ‚Primat der Planung’ in das System ‚hineinzudrücken’ (vgl. Kühl 2005, S. 64). Das Klientensystem kauft sich mit der Beratung also die Perspektive und Philosophie des Beraters ein (vgl. Exner et al. 1987, S. 266). Die Kommunikation wird auf nonverbale und verbale Kommunikation bezogen (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 40), zwischen mehreren Personen betrachtet und über mehrere Ebenen gesehen (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 42). Personen, an die Botschaften zunächst gerichtet werden, dienen zum Teil nur als Zwischenstation für die ihnen nachgeordneten Empfänger (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 41).
208
V.3.3.2
Grundannahmen
Nachdem nun das Selbstverständnis der systemischen Beratung skizziert wurde, folgt eine Betrachtung der Grundannahmen. Im Rahmen der systemischen Beratung gelten folgende, oft getroffenen Grundannahmen, welche hier nur in Bezug auf die Auswirkung auf Beratung diskutiert werden144: 1) Die geschlossene, nicht triviale Maschine / Selbst-Änderung, 2) Rekursivität / Zirkularität / Double Bind. Mit den eingespeisten Informationen als ‚neue Unterscheidung’ soll das Klientensystem dann selbst lernen, einen anderen Unterschied zu machen, der den Unterschied macht (vgl. Schmid 1987, S. 23; Gloger 2004, S. 64; Wimmer 1995, S. 274). Denn eine Einwirkung in geschlossene, nicht-triviale Maschinen mit Eigengesetzlichkeiten ist nicht möglich (vgl. Gloger 2004, S. 62; Schmid 1987, S. 26). Nach diesem Ansatz wären Berater und Beraterinnen eher ‚Bekannte’, die andere Informationen bereitstellen – klinisch orientiert sprechen einige Organisationsberater jedoch auch von ‚kranken Systemen’ die „mit >>therapeutischen Maßnahmen<<“ (Selvini Palazzoli et al. 1995, S. 25) behandelt werden145. Alle Fragen oder Informationen werden nach dem nicht-klinischen Verständnis lediglich als ‚Samen’ oder ‚Idee’ gesehen, welche mit der Zeit entfaltet werden können (vgl. Schmid 1987, S. 25). Die Beratung ist also eher ein Experiment, um „Weichen in alternative Wirklichkeiten“ (Schmid 1987, S. 26; Königswieser et al. 1995, S. 62) aufzuzeigen. Beratungstreffen können auf Grund dieses Verständnisses auch bis zu einem Jahr auseinander liegen (vgl. Schmid 1987, S. 31). Neben den oben erwähnten Grundlagen geschlossener nicht-trivialer Maschinen mit Eigengesetzlichkeiten gilt die Rekursivität resp. Zirkularität als wichtiges Merkmal von Systemen (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 54)146: Handlungen schließen an Handlungen an, Entscheidungen an Entscheidungen. Informationen sind also auf Grund der Zirkularität von Systemen nur durch Irritationen zu übertragen. So gilt für die systemische Beratung: „Paradoxien […] sind die wirksamsten Interventionen, die wir kennen“ (Watzlawick 1992c, S. 38 in Anlehnung an Frankl 1971; Selvini Palazzoli et al. 1995; so auch Schmid 1987, S. 35; Exner et al. 1987, S. 275). Aus der Rekursivität resultiert allerdings auch die Akzeptanz des Prinzips der Ho-
144 145
146
Für eine detaillierte Analyse der Begriffe sei auf den theoretischen Teil der Arbeit (Abschnitt IV) verwiesen. Eine endgültige Trennung zwischen klinischer und nicht-klinischer Beratung ist schwer zu vollziehen, da auch die Berater und Beraterinnen mit nicht-klinischem Vokabular durch ihre ‚Paradoxität’ von Fragen zumindest die Idee von ‚besseren’ Wirklichkeiten implizieren. Schließlich erwarten sie auch Organisationen und Familien, die mit einer problematischen Konstruktion zu ihnen kommen. Weitere Quellen dazu sind: Watzlawick 1992a, S. 54f., 58; Exner et al. 1987, S. 268; Willke 1987, S. 333.
209
möostasis147, so dass die systemische Beratung nur die Frage stellt: „Was tut er heute, um […] sich am Gesundsein zu hindern?“ (Schmid 1987, S. 26f., im Original zum Teil abweichend formatiert; vgl. auch Watzlawick 1992b, S. 97 anlehnend an Ashby 1963, S. 11). Langwierige Lösungsprozesse werden ignoriert, da ‚nur’ die Regeln neu erstellt werden. Die Geschichte der Problemgenese ist nur von Bedeutung, um verfehlte Lösungsansätze zu erkennen (vgl. Schmid 1987, S. 27). Der dritte Aspekt, welcher aus der Rekursivität resultiert, ist die Bedeutung der Erwartung, denn durch sie wird der Zirkel immer wieder geschlossen (vgl. Exner et al. 1987, S. 269). Rekursivität ist auch für Interaktionsbereiche von Bedeutung und hier ist für die systemische Beratung die Doppelbindung / ‚double bind’ von erheblichem Interesse (vgl. Herwig-Lempp 2002a, S. 192; Watzlawick 1992b, S. 92 f.; Bateson 1996; Penn 1982). Dabei handelt es sich um „einmal festgelegte[n] Interaktionsmuster die Tendenz haben, sich, zufolge ihrer homöostatischen Funktion, selber aufrecht zu erhalten“ (Watzlawick & Coyne 1992, S. 67). Es macht also keinen Sinn in solchen Fällen der Doppelbindung nach der Genese zu fragen, als vielmehr den Fokus darauf zu setzen, unter welchen Konstruktionen der rekursive Prozess abläuft – also ein Rückgriff auf die Akzeptanz der Homöostasis. Als letzter Aspekt wirkt das Prinzip der Zirkularität auch in den Beratungsprozess selbst hinein: So ist das Beratersystem auf das Feedback des Klientensystems im Beratungsprozess angewiesen und muss sich darauf einlassen (hierdurch wird das Beratungssystem geformt), indem er Fragen über das Verhältnis in dem Klientensystem stellt (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1980, S. 131 hier aus Penn 1982, S. 203). Dadurch wird das Augenmerk auf die Selbstdarstellung des Klientensystems gelegt und dem Beratersystem gespiegelt.
Neben diesen Grundannahmen werden ein spezifisches Pathologieverständnis und auch ein Verständnis über das Ziel von Beratungs- oder Therapiesitzungen in der systemischen Beratung verwendet.
147
Neben der Systemstabilität (Morphostase) durch Rekursion auf aktuelle Zustände (Homöostasis) ist in der systemischen Beratung auch die Veränderungsfähigkeit der Systeme integriert (Morphogenese). Auf der Basis von Stabilität und Wandlung sind sich Autoren der systemischen Perspektive nicht einig darüber, ob nun die Geschichte der Systeme eine Rolle spielt oder nicht. So schreibt Penn: „Ziel der zirkulären Befragung ist es, den Punkt in der Geschichte des Systems festzumachen, an dem wichtige Koalitionen sich änderten und die notwendige Anpassung an diese Veränderung für die Familie zum Problem wurde“ (Penn 1982, S. 206). Genau gegen die Berücksichtigung der Geschichte wenden sich aber andere Autoren (vgl. z.B. Schmid 1987, S. 26f.), welche nur auf das Problem im Moment der Behandlung schauen. Jedoch ist Schmid als Kritiker der geschichtlichen Betrachtung dennoch der Meinung, dass die Geschichte der bisherigen Lösungsansätzen wichtig sei, da er sie als Lernquelle für nicht akzeptierte Ideen versteht (vgl. Schmid 1987, S. 26).
210
Ursache für die Notwendigkeit der Beratung sind Unterscheidungen und Grenzziehungen von Systemen, die zu Problemen führen (vgl. Exner et al. 1987, S. 270 ff.). Ein Problem ist damit prinzipiell kein Zustand, sondern ein Prozess, welcher aus Handlung und Kommunikation entsteht. Erkannt werden kann ein Problem „von jemandem […] als unerwünschter und veränderungsbedürftiger Zustand“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 103). Erkennen allerdings mehrere Beobachter den veränderungsbedürftigen Zustand (dabei kann ein Problem im System z.B. nicht von dem erkannt werden, von dem ein anderer behauptet, dieser sei die Ursache), dann können sich die Beobachter auch über die Ursache des Problems streiten (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 103). Neben dem Problemcharakter eines Problems ist jedoch jedes Problem als Symptom für das System irgendwie nützlich. Denn das Problem dient als temporäre Lösung (oder Gleichgewicht) für eine zuvor entstandene Konfliktsituation (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 108). Damit ist bei der Problembearbeitung immer der Verlust eines nützlichen Aspektes zu bedenken, der eine temporäre Lösung für das System darstellte. Ziel für den Prozessverlauf der Therapie ist es, den so genannten ‚dritten Schwan’ zu kreieren – oder Landkarten sichtbar zu machen (vgl. Seliger 1997, S. 36). Während der erste Schwan das Klientensystem darstellt, welches seine Wirklichkeit erlebt, ist der zweite Schwan das Beratungssystem, welches das erste beobachtet. Beide zusammen bilden in der Interaktion ein Meta-System aus dem sie sich „zusehen, wie sie sich dabei betrachten, wie sie sich fliegend erleben“ (Schmid 1987, S. 22). Im Ergebnis werden so neue Unterscheidungen, Handlung, Kommunikation und Erwartungen aufgebaut (vgl. Exner et al. 1987, S. 268). Die systemische Beratung oder Therapie kann daher als „experimentelle Therapie mit einem wirklichkeitskonstruktivistischen Ansatz“ (Schmid 1987, S. 23) verstanden werden148. Innerhalb dieses Ansatzes werden dann die unterschiedlichen Einflüsse der Familientherapie von Selvini Palazzoli, der naturwissenschaftlichen Systemtheorie von Maturana und Varela, sowie der soziologischen Systemtheorie149 von Luhmann genannt (vgl. Exner et al. 1987, S. 265; Königswieser et al. 1995, S. 54).
148
149
Zur expliziten Anbindung an den Konstruktivismus gibt es eine Reihe weiterführender Literatur (vgl. Gloger 2004; Herwig-Lempp 2002a; Seliger 1997; Penn 1982). Insbesondere die Verbindung zwischen Systemtheorie und systemischer Beratung wird von einigen Seiten bezweifelt. So wird dem Zitat ‚Luhmann 1984’ eine rituelle Nennung zur Abgrenzung der Steuerbarkeit von Organisationen vorgeworfen (vgl. Kühl 2005, S. 64, 67). Mit der Theorie selbst wird sich aber kaum auseinandergesetzt, da Bateson zum Beispiel durch den ‚double bind’ die notwendigen Grundlagen bereits liefert.
211
V.3.3.3
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche
Nachdem nun die Analyse der Grundannahmen die Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven verdeutlicht hat, wird auf die wissenschaftliche Resonanz eingegangen. Prinzipiell ist die Anwendung der systemischen Therapie sehr weitreichend. Spätestens seit der Anerkennung als psychotherapeutisches Verfahren (vgl. Verwaltungsgericht 2006) ist die Behandlung von Personen und Gruppen auch rechtlich gesichert. Diese rechtliche Anerkennung ist rückblickend auf die empirische Forschungsaktivität wahrscheinlich kein leichtes Unterfangen gewesen. In den Grundlagenwerken wird die gesamt-wissenschaftliche Debatte qualitativer vs. quantitativer Forschung rezitiert und auf die prinzipielle Unvereinbarkeit der Experimentalforschung mit systemischen Ansätzen hingewiesen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 277). Daher wurden zum Beleg der Wirksamkeit vielmehr Einzelfallstudien und Feldbeobachtungen herangezogen, die insbesondere narrativen Charakter haben (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 280). Dennoch gibt es einige Meta-Analysen von Experimentalstudien, wobei die Effektstärke der Wirkung spezifischer Methoden mittel (0.45) bis hoch (0.95) ist (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 284). Neuere Verfahren versuchen, die Brücke zwischen beiden zerstrittenen Wegen zu finden und verwenden dabei Inferenzstatistik oder sequenzielle Plananalyse (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 280). Vielfach steht die Prozessanalyse jedoch im Vordergrund.
Die Einsetzbarkeit des systemischen Ansatzes beschränkt sich dabei nicht nur auf Therapie, sondern ist vielseitiger. Zu dem Spektrum zählen unter anderem die folgenden Bereiche. Diese gehen zum Teil ineinander über (z.B. Organisationsberatung und Organisationsentwicklung oder Therapie und Familientherapie), jedoch beziehen sich die Autoren der jeweiligen Werke selbst mit den hier aufgeführten Oberbegriffen in ihren Veröffentlichungen. x
Unternehmens- / Organisationsberatung (vgl. z.B. Exner et al. 1987; Selvini Palazzoli et al. 1995; Wimmer 1995; Mingers 1996; Ellebracht et al. 2003; Gloger 2004; Kühl 2005),
x
Coaching (vgl. z.B. Backhausen & Thommen 2003; Tomaschek 2003; Radatz 2006; Schmid 2006),
x
Organisationsentwicklung (vgl. z.B. Tomaschek 2006),
x
Mitarbeiterführung (vgl. z.B. Steinkellner 2005),
212
x
Therapie (vgl. z.B. Schiepek 1999; Boscolo & Bertrando 1994),
x
Familientherapie (vgl. z.B. Hanswille 2000; Simon & Stierlin 1984; Minuchin 1977).
In der vorherigen Diskussion konnte gezeigt werden, dass der Ansatz der systemischen Beratung eine Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven aufweist. Damit wird das Verstehen in der empirischen Forschung in jedem Fall unterstützt. Da zudem die Methoden des systemischen Ansatzes bereits in der Organisations- und Managementberatung angewendet werden, scheint die Diskussion mit Experten und Expertinnen dieses Beratungsansatzes für die vorliegende Arbeit gewinnbringend. Im nächsten Kapitel wird die zweite Gruppe der Experten und Expertinnen aus NLP diskutiert.
V.3.4
NLP – Ein Überblick
Im vorherigen Unterkapitel wurde die systemische Beratung auf ihre Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven untersucht. Dabei wurden neben den Grundannahmen auch die Geschichte und die wissenschaftliche Resonanz diskutiert. Im folgenden Unterkapitel soll nun ein Überblick über NLP gegeben werden. Dieser fällt etwas ausführlicher aus als die Einführung zur systemischen Therapie und Beratung, da NLP nicht primär aus konstruktivistischen Perspektiven entwickelt wurde. Ein weiterer Grund ist, dass NLP im wissenschaftlichen Kontext – insbesondere in der Wirtschaftswissenschaft – einen bisher noch sehr geringen Stellenwert eingenommen hat150. Zunächst erfolgt eine Skizzierung der Entstehungsgeschichte von NLP mit einer Darstellung des Selbstverständnisses (V.3.4.1). Dieses wird dann um die Zusammenstellung der allgemeinen und spezifischen Grundannahmen, sowie der Bildung von Konstruktionen und deren Repräsentation erweitert (V.3.4.2). Ebenfalls wird auch auf das Pathologie- und Zielverständnis von NLP eingegangen. Nach einer kurzen Einordnung in die wissenschaftliche Debatte mit verschiedenen empirischen Ansichten und möglichen Anwendungsgebieten (V.3.4.3), folgt eine kurze Abgrenzung zur oben diskutierten systemischen Perspektive (V.3.4.4). Dieser Schritt ist von Bedeutung, um die Relevanz der Erhebung dieser Gruppe herauszustellen.
150
Eine eigene Recherche zeigte, dass obwohl beim deutschen ‚Hausverlag’ für NLP eine Reihe von Publikationen zu NLP in der Wirtschaft erschienen sind, kaum wirtschaftswissenschaftliche Artikel unter dem Stichwort ‚NLP’ publiziert wurden.
213
Als Exkurs ist im Anhang eine kompakte Darstellung aller wichtigen Methoden angeführt (vgl. Anhang 3). Diese dient wie bereits bei der systemischen Beratung vor allem der Vorbereitung für das Interview, als Basis der Nachfrage sowie für die Auswertung als Bezugsrahmen.
V.3.4.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses
NLP wurde in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts gegründet und zwar durch Richard Bandler (Gestaltpsychologe und Computerspezialist) sowie durch John Grinder (Linguist und Sprachwissenschaftler) (vgl. Bohlen 1995, S. 76; Reckert 1998, S. 32; Friederich 1997, S. 31; Bandler & Grinder 1985). Andere Autoren bezeichnen NLP jedoch nicht als eine Neu-Gründung oder eine neue Methode, sondern eher als eine Zusammenstellung 151 – oder als MasterModelling152 – funktionaler Methoden, mit denen besonders bedeutende Erfolge bei der Beratung erzielt werden konnten (vgl. Birkenbihl 1992, S. 9 und auch Bachmann 1990, S. 7; Motamedi 1997; Weerth 1992; Weerth 1993). NLP gilt heute als offenes oder sich ständig selbst korrigierendes Modell, in das insbesondere neue Erkenntnisse funktionaler Methoden aufgenommen werden sollen (vgl. Weerth 1992, S. 27; Bohlen 1995, S. 77, 78; Bachmann 1990, S. 18). Aus diesem Grunde ist es rund 30 Jahre nach den ersten Entwicklungen auch äußerst problematisch von nur einem NLP zu sprechen (vgl. Bohlen 1995, S. 76). Das wird insbesondere darauf zurückgeführt, dass noch keine wissenschaftliche systematische Aufarbeitung der verwendeten theoretischen Modelle durchgeführt wurde und so auch kaum konzeptionelle Klarheit herrscht. Da NLP jedoch lösungsorientiert ist, von Beratungserfolgen berichtet wird und Managementberatungen daher auf den Ansatz zurückgreifen, ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit NLP aus der Perspektive dieser Arbeit nicht nur angebracht, sondern auch notwendig. Allerdings gibt es zu NLP eine stetig wachsende, mittlerweile kaum mehr zu überschauende Menge an Buchpublikationen (vgl. Wagner 1992, S. 7; Bohlen 1995, S. 76).
151
152
Die NLP Literatur greift dabei insbesondere auf die praktische Arbeit der Familientherapeutin Virginia Satir, dem Hypnose-Therapeuten Milton Erickson und dem Gestalttherapeuten Fritz Pearls zurück (vgl. Friederich 1997, S. 31). Das Master-Modelling stammt aus dem Verkaufs-Training, wo man „analysiert […], was diese Superstars des Verkaufs besser machen als die anderen, indem man sie bei der Arbeit beobachtet“ (Birkenbihl 1992, S. 9). Daher wird NLP auch als hochprozentiger Cognac aus altem, guten Wein beschrieben (vgl. Birkenbihl 1992, S. 10), bei dem nur die funktionalen Elemente vorhandener Techniken weiterverwendet wurden (vgl. Ulsamer 1995; Reckert 1998, S. 32).
214
Definitorisch ist NLP die Abkürzung für Neuro-Linguistische Programmierung (vgl. z.B. Birkenbihl 1992, S. 10; Reckert 1998, S. 33; Birker & Birker 1997 nach Friederich 1997, S. 31f.)153. Der neurologische Begriffsanteil des Beratungsansatzes (N) soll auf die Relevanz der Gehirnleistung und der Sinne hinweisen, welche durch den sprachlichen Begriffsanteil (L) zugänglich und manipulierbar wird (Birker & Birker 1997 hier nach Friederich 1997, S. 31f.; Seitz & Cohen 1992, S. 15). Der aus der Informatik stammende letzte Begriffsanteil (P) unterstreicht die Veränderbarkeit (vgl. Seitz & Cohen 1992, S. 15) und wurde bei neueren Arbeiten durch die Begriffe des Denken und Handelns ersetzt (vgl. Beyer & Marwitz 1989 hier nach Bachmann 1990, S. 6). Als wesentliches Element von NLP stellen einige Autoren in Bezug auf die von Ihnen verwendeten Methoden heraus, dass sie nicht ein ‚Glaubensmodell’ und eine Methode verwenden, sondern das sie ihre Methoden und Modelle auf die Klienten und Klientinnen zuschneiden (vgl. Paulus 1994, S. 2). NLP als Meta-Modell (vgl. Bohlen 1995, S. 76) wird damit über das Kriterium der Nützlichkeit definiert (vgl. Bohlen 1995, S. 76 nach Reuben 1993, S. 12), das nicht alle Methoden für alle Klienten funktional sind. Die Bewertung der Methoden anhand deren Nützlichkeit entspricht im Prinzip der konstruktivistischen Perspektive über die Funktionalität von Modellen und Methoden (vgl. z.B. von Glasersfeld 1995a), wodurch die Nähe bereits aufgezeigt werden kann.
V.3.4.2
Grundannahmen, Modellbildung und Modellrepräsentation
Nach der Skizzierung der Geschichte von NLP und der Darstellung einer ersten Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven durch dessen Funktionalitätsbegriff, erfolgt nun die Analyse einiger Begrifflichkeiten. Hiermit können die Bildung von Konstruktionen und deren Repräsentation diskutiert werden, wodurch die Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven weiter verdeutlicht wird. Die bei NLP verwendeten Begrifflichkeiten können unterteilt werden in Grundannahmen über den Menschen, ein Modell über den Bildungsprozess kognitiver Inhalte sowie ein Modell über die Sinne. Auf diese Bereiche wird im Folgenden nacheinander eingegangen, um abschließend den Pathologiebegriff und das Verständnis von Problemlösung vorzustellen.
153
NLP als Beratungsansatz ist daher nicht zu verwechseln mit der in der Wissenschaft bereits eingeführten Abkürzung von NLP für die Sprachverarbeitung des ‚Natural Language Processing’ als Arbeitsgebiet der künstlichen Intelligenzforschung (vgl. Manning & Schutze 1999).
215
Für NLP gelten bestimmte allgemeine Grundannahmen, wobei einige Autoren kritisieren, dass Bandler und Grinder selbst eigentlich nur wenig auf ihre eigenen Annahmen bei der ersten Formulierung des NLP eingehen (vgl. Bachmann 1990, S. 10). Als Grundannahmen werden daher von anderen Autoren die Folgenden formuliert: Zunächst reagieren Menschen auf ihre subjektive Sicht der Welt und nicht auf eine äußere wahrnehmbare Welt, wobei eine Änderung in deren Verhalten nur durch die Änderung der kognitiven Modelle erfolgen kann (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 62)154. Als nächstes bilden Geist und Körper ein kybernetisches System mit wechselseitigem Einfluss (vgl. Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006; Friederich 1997). Für dieses kybernetische System ist es Ziel nach NLP, dass diesem viele Verhaltensmöglichkeiten155 zur Verfügung stehen. Begründet wird dies mit der Position, dass das kybernetische oder das psychophysische System vom flexibelsten Element kontrolliert wird (vgl. Weerth 1992, S. 25f.). Das flexibelste Element bedeutet für den Menschen daher immer, die beste Wahl für sein Verhalten auf Basis der ihm zu der Zeit verfügbaren Informationen zu treffen (vgl. Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006; Friederich 1997). Ein Verhalten, welches dem Mensch selbst (oder anderen) als Problem erscheint, ist damit zunächst eine Lösung für ein anderes Problem. Jedes Verhalten hat demnach einen Sinn. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung als Annahme, dass ein Mensch immer eine positive Absicht hat – abhängig von einem bestimmten Kontext. Das Problem entsteht, wenn dann ein anderer Kontext nicht erkannt wird, aber das Verhalten gleich bleibt (vgl. Bohlen 1995, S. 106)156. Eine weitere Annahme des NLP ist, dass Ergebnisse von Kommunikationsprozessen dem Feedback des Einzelnen entsprechen. Bei diesem Prozess können keine Fehler
154
155
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Diese subjektive Sicht der Welt bezieht Bandler auch auf die Methoden des NLP: „Ich weiß nicht, welches Reframing realer ist. Ich würde es auch niemals zugeben, wenn ich eines für realer hielte als das andere“ (Bandler & Grinder 1985, S. 63). Aus seiner Perspektive unterscheiden sich funktionale Methoden gegenüber andere, wenn sie nützliche Verhaltensweisen aufbauen und unnütze abbauen (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 75). Weitere Autoren, welche diese Position unterstützen, sind: Bohlen 1995, S. 99, 105; Bachmann & Flothow 1990, S. 10; Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006; Friederich 1997. In Bezug auf die vielen Verhaltensmöglichkeiten wird damit als Ziel von NLP formuliert „die Erweiterung der Wahlmöglichkeiten von Klienten, die sich in scheinbar aussichtslosen Situationen befinden“ (Reckert 1998, S. 35 oder Bandler & Grinder 1992, S. 54). Diese Äußerung kann deutlich mit der Erweiterung des Handlungsspielraumes aus konstruktivistischer Literatur in Verbindung gebracht werden (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 36). Menschen unterwerfen sich dem Diktat des ‚man’ und der Zwänge (vgl. Bachmann 1990, S. 11), die es durch die Eröffnung von oder Erweiterung der Wahlmöglichkeiten zu lösen gilt. Weitere Autoren die diese Position unterstützen sind z.B. Hücker 2006; Friederich 1997; Bohlen 1995, S. 106. Weitere Autoren, welche ebenfalls diese Position beziehen sind: Bachmann 1990, S. 13; Bachmann 1991, S. 75 f; Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006; Stahl 1990, S. 194; Friederich 1997.
216
oder Versagen auftreten (vgl. Reckert 1998, S. 36)157. Zudem zählt nicht die Absicht, sondern eben nur das Ergebnis in der Kommunikation (vgl. Friederich 1997, S. 32). Neben diesen angeführten Annahmen gilt ebenso, dass, wenn ein Mensch etwas kann, es alle anderen lernen können (vgl. Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006). Dazu haben Menschen alle Ressourcen, die sie für Veränderungsprozesse benötigen bereits in sich (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 79)158. Allerdings haben Menschen zu diesen Ressourcen ihren Zugang verloren (vgl. Blickhan & Ulsamer 1985b, S. 27 hier aus Bohlen 1995, S. 85). So bietet die Methodik von NLP die Rückführung zu den eigenen Ressourcen. Abschließend wird vereinzelt auch eine ethische Grundannahme genannt. Hiernach hat eine Person die Verantwortung dafür zu tragen, dass Kommunikation nicht die jeweiligen Partner denunziert (vgl. Reckert 1998, S. 36). Jeder Mensch ist einzigartig und eine angemessene Behandlung (die also flexibel in Ihren Methoden auf das Gegenüber eingeht) berücksichtigt dies. Demnach ist Veränderung nur dann gut, wenn sie dem Menschen als ein ganzheitliches System gerecht wird (vgl. Friederich 1997, S. 32f. so auch Birker & Birker 1997). Insbesondere die Annahmen der Subjektivität, des kybernetischen Systems sowie die Erweiterung der Verhaltensmöglichkeiten weisen eine unmittelbare Nähe zu konstruktivistischen Positionen auf. Subjektivität und kybernetische Systeme greifen sogar auf das Vokabular konstruktivistischer Perspektiven zurück. Nur die Einfachheit des Erlernens widerspricht zum Teil den konstruktivistischen Perspektiven, die kurzfristigen Fundamentalwandel und langes Training als zwei Alternativen von Veränderung beschreiben. Somit ist die Zielrichtung der Methoden des NLP daher nur auf den Fundamentalwandel bezogen.
Nun gibt es neben den Grundannahmen und Positionen im NLP auch ein Grundmodell über den Zusammenhang des psychophysischen Systems ‚Mensch’ mit seiner Außenwelt. Dies wird als ein „Modell des Modellbildungsprozesses“ (Bohlen 1995, S. 94; auch Weerth 1992, S. 24) beschrieben. Das psychophysische System ‚Mensch’ reagiert nur auf seine subjektive Sicht der Welt, die über die fünf Sinne zugänglich ist. Diese Sicht ist nur eine mögliche
157
158
Diese Grundannahme über Kommunikation wird auch auf das Axiom von Watzlawick bezogen: „Ein Mensch kann nicht nicht kommunizieren“ (Reckert 1998, S. 36). Andere Autoren hierzu äußern sich sehr ähnlich: Hücker 2006; Friederich 1997. Diese auf Ressourcen basierte Perspektive stellen viele Autoren aus der Literatur von NLP in den Vordergrund: Bandler & Grinder 1992, S. 116; Bachmann 1990, S. 12; Bachmann 1991, S. 73 f.; Bohlen 1995, S. 86, 106; Reckert 1998, S. 36; Hücker 2006.
217
‚Landkarte’ und entspricht nicht dem ‚Gebiet’, was sie bezeichnet159. Es wird also davon ausgegangen, dass der Mensch durchaus Landkarten zeichnen oder Unterscheidungen treffen kann, jedoch wird er immer nur eine Landkarte der Möglichkeiten besitzen und nie ‚wissen’, wie das Gebiet beschaffen ist. Entsprechend konstruktivistischer Perspektiven wird daraus formuliert, dass es keinen Sinn macht, mit einer Methode oder Landkarte „objektiv zu sein“ (Bohlen 1995, S. 94 anlehnend an Bandler 1990, S. 32). Die Generierung der ‚Landkarte’ erfolgt nach NLP über die fünf Sinne. Die Informationen, welche aus den fünf Sinnen aufgenommen werden, werden jedoch durch einige Prozessfilter der Wahrnehmung beeinflusst. Die Filter reduzieren sozusagen die Wahrnehmung über die fünf Sinne und können zusammengefasst werden als Glaubenssätze, Werte, Meta-Programme und Erinnerungen (vgl. Weerth 1992, S. 24). Eine Erklärung wird in der Literatur zu NLP meist nur für Meta-Programme gegeben, da Glaubenssätze, Werte und Erinnerungen entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch verwendet werden (vgl. Weerth 1992, S. 22). ‚MetaProgramm’ ist allerdings nur eine andere Bezeichnung für Persönlichkeitsmerkmale oder -eigenschaften. Anders als jedoch das Wort ‚Eigenschaft’ suggeriert, gelten diese im NLP als mehr oder weniger veränderbare Verhaltensmerkmale (vgl. Weerth 1992, S. 22). Auf Grund der Annahme der Veränderbarkeit wurden sie gegenüber der Persönlichkeitspsychologie auch umbenannt. Nachdem die Außenwelt über die fünf Sinne, verändert durch die Filter der Glaubenssätze, Werte, Erinnerungen und Meta-Programme aufgenommen wurde, werden die Informationen nochmals verändert. Zu diesen Mechanismen, welche nicht dem Mechanismusbegriff der Pfadforschung entsprechen, gehören erstens die Generalisierung als „die Verallgemeinerung von konkreten Erfahrungen“ (Bohlen 1995, S. 96). Dann zweitens die Tilgung als „die Vernachlässigung oder Unterdrückung von Wahrnehmungen“ (Bachmann 1991, S. 162 hier nach Bohlen 1995, S. 96). Würden Menschen nicht tilgen, wären sie mit mehr Informationen konfrontiert, als sie verarbeiten können (vgl. James & Woodsmall 1991, S. 15; Bohlen 1995, S. 95; Bandler & Grinder 1994, S. 36f.; Weerth 1992, S. 21). Und abschließend noch die Verzerrung, welche es Personen ermöglicht „in unserer Erfahrung sensorischer Einzelheiten eine Umgestaltung vorzunehmen“ (Bandler & Grinder 1994, S. 37 hier aus Weerth 1992, S. 21;
159
Interessanterweise bezeichnet Bohlen die Konstruktion des Klienten selbst als Landkarte, die nicht dem Gebiet entspricht, verwendet dann aber später die demgegenüber missverständliche Beschreibung des Abbildes (vgl. Bohlen 1995, S. 94 mit Verweisen zum Abbild auf James & Woodsmall 1991, S. 13).
218
Böke et al. 1987, S. 368; Bohlen 1995, S. 96). Über diese drei Prozessmechanismen steuert also die Person ihren eigenen Modellentwurf. Abschließend wird noch ein Feedback-Prozess eingeführt, der speziell auf den Prozessfilter der Erinnerungen wirkt. Dieser beschreibt die Einwirkung vorhandener interner Modelle auf die extern wahrgenommenen, so dass für eine neue Modellbildung immer interne Muster wieder verwendet werden (vgl. Bohlen 1995, S. 95). Die Physiologie sowie die Kognition führen zu neuen Modellen, die dann wiederum neues (möglicherweise problematisches) Verhalten erzeugen (vgl. James & Woodsmall 1991, S. 14). Insbesondere diese Beschreibung des Prozesses der Modellbildung in NLP sowie einige Grundannahmen verdeutlichen, dass Parallelen zwischen konstruktivistischer Literatur und NLP bestehen. Modellbildung, Subjektivität, Nützlichkeit, Feedback, Generalisierung und Tilgung des NLP entsprechen den oben dargelegten Begriffen der Konstruktion, Subjektivität, Viabilität, Rekursion, Assimilation und Akkommodation konstruktivistischer Perspektiven.
Die oben bezeichneten fünf Sinne werden nun spezifischer für bestimmte Methoden als „fünf Modalitäten der Sinneswahrnehmung (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken)“ (Bohlen 1995, S. 87) bezeichnet. Mit diesen Modalitäten repräsentiert und konstruiert der Mensch seine Sicht, was auch als VAKOG-Modell (visuell, auditiv, kinästhetisch, olfaktorisch und gustatorisch) bezeichnet wird (vgl. Bohlen 1995, S. 87)160,161. Innerhalb der fünf Modalitäten unterscheidet das System Menschen noch zwischen der Herkunft der Informationen, also ob diese erinnert (ER) oder konstruiert (KON) sind. Im NLP wird dann bei Visualisierungen über die Indizes ER und KON die jeweilige Modalität vermerkt. Die Speicherung von Ereignissen über explizite VAKOG-Sequenzen wird als ‚Synestesie’ bezeichnet (vgl. Bohlen 1995, S. 88; Rückerl 1994, S. 202 aus Boller 1998, S. 22) – z.B. gesehen-gehört-gesehen-gerochen.
160
161
Als Ursprung für das VAKOG-Modell wird hier Gregory Bateson angegeben (vgl. Bohlen 1995, S. 87), dessen Schriften bereits oben unter konstruktivistischer Literatur zusammengefasst wurde. Ein externer Zugang zu diesen Synestesien kann laut NLP durch die Augenbewegungen hergestellt werden (vgl. Blickhan & Ulsamer 1985a, S. 19). Prinzipiell besitzt jeder Mensch ein eigenes System, jedoch wurde im NLP verallgemeinert für Rechtshänder das folgende festgehalten: Oben-links (V^KON), Mitte-links (A^KON), Unten-links (K/O/G), Oben-rechts (V^ER), Mitte-rechts (A^ER), Unten-rechts (A oder Innerer Dialog) (vgl. Bandler & Grinder 1992, S. 43). Auffällig ist, dass KOG zusammengefasst werden als eine Augenposition und zudem die Visualisierung eines inneren Dialoges möglich ist: „Erläuterung für beide Abweichungen findet in der Literatur nicht statt“ (Bohlen 1995, S. 89)
219
Wichtig ist bei diesen Synestesien, dass Menschen damit nicht nur problematische Erinnerungen speichern, sondern dass diese auch Muster verwenden, Situationen durch Synestesien aufzunehmen. Probleme liegen damit oft nicht in den wahrgenommenen Problemen, sondern in den Mustern der Synestesiebildung. Laut NLP ist dies eine Strategie (vgl. Bohlen 1995, S. 91), welche aus Ziel, Informationsspektrum, Entscheidungspunkt und Kontrollmöglichkeit besteht (vgl. Bohlen 1995, S. 93). Methoden, die explizit auf die Repräsentation des psychophysischen Systems eingehen, sollen später genannt werden. Erweiternd zu den Modalitäten der Sinneswahrnehmung gibt es im NLP die Submodalitäten der Sinneswahrnehmung, welche von manchen Autoren als fundamentale Neuerung und Eigenleistung des NLP gesehen werden (vgl. Weerth 1992, S. 12; Weerth 1993, S. 8; Reckert 1998, S. 34). Submodalitäten entsprechen einer feineren Unterscheidung der Modalitäten in ihre Ausprägungen, also z.B. heller/dunkler, lauter/leiser (vgl. Weerth 1992, S. 48f.). Bereits die Veränderung der Submodalitäten bezüglich spezifischer Probleme (als Vorstellung repräsentiert durch eine spezifische Synestesie) soll zu einer Abschwächung oder Lösung führen, selbst wenn der Inhalt nicht verändert wird (vgl. Weerth 1993, S. 9).
Abschließend wird nun das im NLP verwendete spezifische Verständnis von Pathologie, sowie der prinzipielle Lösungsansatz vorgestellt. Nach NLP ist ein Problem prinzipiell ein relatives Konstrukt und existiert nicht per sé – die extern zu identifizierende Pathologie fehlt daher gänzlich (vgl. Bohlen 1995, S. 94). Probleme entstehen, wenn Menschen mit ihren Repräsentationen nicht weiterkommen. Die Grundlage ist, dass es in den Klienten und Klientinnen „einen Teil […] gibt, der Sie veranlaßt, etwas zu tun, das Sie nicht tun wollen, oder […] der Sie davon abhält, das zu tun, was Sie tun wollen“ (Bandler & Grinder 1985, S. 61). Dies wäre eine Art Schutzfunktion (Stahl 1990, S. 19 hier aus Bohlen 1995, S. 85). Dabei wird z.B. ein Problem nicht erkannt, oder die Relevanz eines Problems nicht erkannt, oder die Problemlösbarkeit ausgeblendet (vgl. Topf 2004, S. 42 ff.). Dieser ‚Teil’, welcher Handlung veranlasst oder blockiert, wird zumeist durch die ‚innere Stimme’ oder das ‚Unterbewusste’ beschrieben. Das Unbewusste will dabei immer das Beste mit ‚falschen’ Mitteln und daher können diese Hemmnisse durch das Bewusstsein wieder korrigiert werden (vgl. Topf 2004, S. 42; Bohlen 1995, S. 103; Ulsamer 1992, S. 42). Der Lösungsansatz bei NLP ist primär auf Kurz-Zeit-Therapie ausgelegt. Veränderungen seien binnen weniger Minuten zu erreichen (vgl. Bandler & Grinder 1992 hier aus Friederich 1997, S. 31). Damit trat NLP in den 70 Jahren des letzten Jahrhunderts gegen die herrschende 220
Meinung der Psychoanalyse an, welche auf langwierige Sitzungsverläufe ausgerichtet war. Zudem hat im Rahmen einer derartigen Veränderungsarbeit die Analyse des Problems oder die Problemherkunft nur einen „relativ geringen Stellenwert“ (Bohlen 1995, S. 85, 102; auch Bandler & Grinder 1992, S. 139). Es wurde im Rahmen des Pathologiebegriffes beschrieben, dass das Bewusstsein hauptsächlich diese Problemzustände lösen soll. Dabei ist wesentlich, dass der aktuelle Zustand von Problemen im Rahmen der Sitzung so sinnspezifisch wie möglich kognitiv zu repräsentieren sind (vgl. Bohlen 1995). Auch wenn die meisten Methoden darauf ausgerichtet sind, heutige Interpretationen zu verändern (vgl. Bohlen 1995, S. 85; Weerth 1992, S. 134 ff.), gelingt dies nicht bei allen Problemen. Daher gibt es in der neueren Literatur zum NLP einige wenige Ansätze, die explizit mit der Zeit als Problem arbeiten und die damit auch die Veränderungsarbeit zeitlich gesehen strecken (vgl. Reckert 1998, S. 34). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass nicht nur einige Grundannahmen Parallelen zu konstruktivistischen Perspektiven aufweisen. Auch die Modellbildungsprozesse über Lernfunktionen (Tilgung, Generalisierung) und die Ausdifferenzierung der Sinne auf die VAKOG-Ebene verdeutlichen diese Nähe. Einzig die Grundannahme über das einfache Lernen, sowie der daran anknüpfende Gedanke der Kurzzeit- oder Ultrakurzzeittherapie entsprechen nur dem Fundamentalwandel aus konstruktivistischen Perspektiven und berücksichtigen nicht das längerfristige Training. Es wird davon ausgegangen, dass von den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund insbesondere Methoden der Kurzzeittherapie zu den einzelnen Faktoren und Relationen des Modells angeführt werden.
V.3.4.3
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche
Nachdem nun die Grundannahmen, das Modell der Modellbildung, sowie das Modell der Modellrepräsentation aus dem NLP vorgestellt und in Verbindung mit konstruktivistischen Perspektiven gebracht wurde, wird nachfolgend auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung eingegangen. NLP wird bei Individuen wie auch in Gruppen oder Organisationen angewendet, obwohl über die Wirksamkeit in den verschiedenen Bereichen nur wenige – und wenn konträre – Studien veröffentlicht wurden. Die Phobiebehandlung mit NLP ist eine der wenigen Fälle, zu der wissenschaftliche Studien existieren und schon dort scheiden sich die Meinungen: Hier gibt es einige Arbeiten mit Argumenten gegen die Wirksamkeit von NLP (vgl. z.B. Einspruch & Foreman 1985; Hale 1986; Krugman et al. 1985; Sharpley 1984; Friederich 1997). Andererseits argumentieren aber auch eine Reihe von Arbeiten für die Wirksamkeit (vgl. z.B. Allen 1982; 221
Einspruch & Foreman 1988; Faist 1987; Ferguson 1987; Howard et al. 1986; Kammer et al. 1996; Libermann 1984; Muss 1991). Auf Basis dieser unterschiedlichen Einschätzung werden in Bezug auf die Wirksamkeit von NLP, vor allem aber auch in anderen Bereichen als den der Phobiebehandlung, weitere Arbeiten gefordert (vgl. Melvin 1988; Rosa 1988). Methodenspezifische Analysen zeigten auch Ergebnisse, dass mit NLP ein signifikanter Beitrag zur Lösung individueller Probleme zu erzielen ist (vgl. Reckert 1998; Weerth 1993). Gegen NLP gibt es neben der wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die Wirksamkeit auch den fundamentalen Vorwurf, dass es nicht klar abgrenzbar ist und auch nicht aus einer theoretischen Auffassung hergeleitet wurde (vgl. Bohlen 1995, S. 100; Grawe et al. 1994). Die Autoren des NLP betonen jedoch eben genau dies als ihre Stärke, da sie sich nur von der Funktionalität von Modellen und Methoden leiten lassen (vgl. Bohlen 1995, S. 76). Diesen Autoren ist dabei zumeist egal, ob von Therapie, Beratung oder Coaching gesprochen wird. Es geht ihnen immer darum „eine Störung persönlicher Art [zu] beseitigen“ (Ulsamer 1992, S. 31, im Original ohne Einfügung)162. Auf dieser Grundlage ist NLP mit seinen Modellen und Methoden trotz der Kritik auch wiederum in andere Beratungsansätzen integriert worden (vgl. Ullmann 2005). Im Rahmen der praktischen Anwendung wird losgelöst von Wirksamkeit oder theoretischer Fundierung die Angst geäußert, dass NLP ein „tool of the devil“ (Carter 2001b, S. 60) ist. Die manipulative Anwendung bietet sich nach einigen Autoren regelrecht an (vgl. Bachmann 1990, S. 7; Birkenbihl 1992, S. 11; Peschanel 1986). Dagegen wehren sich Anwender des NLP mit der Aussage, dass Menschen mit natürlicher Überzeugungskraft dazu bereits jetzt die Chance haben und durch NLP nur ein Ausgleich erfolgt. Der National Research Council in Amerika hatte bereits 1987 entgegen der formulierten Ängste festgestellt, dass NLP nicht zur Beeinflussung von anderen Menschen genutzt werden kann (vgl. Carter 2001a, S. 63). Die Angst ist demnach unbegründet. NLP wird trotz der wissenschaftlichen Differenzen über die Wirksamkeit, dem fehlenden, theoretischen Rahmen und auch trotz der Ängste von Manipulation angewendet. Im Bereich der Organisationsberatung ist NLP in der Praxis ein weit verwendeter Ansatz (vgl. Motamedi 162
Wichtig sind den Autoren des NLP zwei Aspekte zur Abgrenzung gegenüber der Psychotherapie. Erstens sollte nach ihrer Ansicht nicht von Neurose, Pathologie oder ähnlichem gesprochen werden, da dies „in eine falsche Richtung“ (Ulsamer 1992, S. 32) weist. Zweitens hat der Widerstand des Klienten hier eine andere Bedeutung. Im Rahmen der Psychoanalyse wurde er als Bestätigung der Meinung des Therapeuten gesehen – an anderer Stelle wird er dagegen als Endpunkt einer Therapie gesehen. Im NLP bezeichnet das Wort „lediglich eine Entschuldigung für Therapeuten, wenn sie nicht mehr weiter wissen. Denn es gibt keine unfähigen Klienten, wohl aber […] Therapeuten“ (Ulsamer 1992, S. 33; Reckert 1998, S. 36).
222
1997, S. 2; o.V. 1993: Esso, Rewe, BMW, Opel, Adidas und Bayer; Paulus 1994, S. 1: IBM, BMW, Sandoz). Die Anwendung ist aber nicht nur auf Organisationsentwicklung oder Therapiesitzungen konzentriert, sondern verteilt sich nach den hier aufgelisteten Stichworten in der Literatur auf die folgenden Gebiete: x
Management (vgl. Bandler & La Valle 1998; Birkenbihl 1992; Blickhan 1992; Blickhan 1998; Topf 2004; Weerth 1993; Decker 1995, S. 72),
x
Organisationsentwicklung (vgl. Decker 1995, S. 20f.; Boller 1998, S. 13),
x
Gerichtsverfahren (vgl. Carter 2001a; Carter 2001b; Lisnek & Oliver 1999),
x
Verkauf (vgl. Boller 1998; Birkenbihl 1992; Bierach 1991; Bierbaum et al. 1993; Weerth 1993),
x
Pädagogik (vgl. Birkenbihl 1992; Cleveland 1992; Weerth 1993; Decker 1995, S. 72),
x
Marketing (vgl. Birkenbihl 1992),
x
Personalmanagement (vgl. Johnson & Eaton 1999; Seitz & Cohen 1992).
Auch in dieser Diskussion konnte gezeigt werden, dass NLP eine Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven aufweist. Damit wird das Verstehen in der empirischen Forschung in jedem Fall unterstützt, wie dies schon bei den Experten und Expertinnen mit systemischem Ansatz der Fall ist. Da zudem die Methoden von NLP auch bereits in der Organisations- und Managementberatung angewendet werden, scheint die Diskussion mit Experten und Expertinnen dieses Beratungsansatzes für die vorliegende Arbeit ebenfalls gewinnbringend. Insbesondere die Fokussierung von NLP auf Ultra-Kurzzeittherapie oder Kurzzeittherapie bietet wahrscheinlich interessante Beiträge zu dem Fundamentalwandel vor dem Hintergrund des entwickelten Modells. Die wissenschaftliche Uneinigkeit über die Wirksamkeit von NLP fordert zudem eine weitere Analyse von NLP heraus, insbesondere weil NLP in der Praxis schon verwendet wird. Im nächsten Kapitel erfolgt eine Abgrenzung von NLP gegenüber der systemischen Beratung, um den Mehrwert dieser Berücksichtigung zu verdeutlichen.
V.3.4.4
Abgrenzung von NLP gegenüber der systemischen Beratung
Im Rahmen dieser kurzen Einführung wurde deutlich, dass NLP in seiner durch Bandler und Grinder propagierten Form von den Ansichtsweisen und Methoden der systemischen Bera-
223
tung divergiert163. Allerdings erwähnten diese Autoren selbst, dass NLP kein geschlossenes System ist. Es werden kontinuierlich weitere, allerdings nur funktionale Lösungsmethoden integriert (vgl. Bohlen 1995). Mit der systemischen Literatur und insbesondere deren Methodik wurde dies durch eine Reihe von Autoren versucht (vgl. Dilts & Epstein 1991; Dilts & DeLozier 2000; O’Connor & McDermott 1998)164. Außerdem kann prinzipiell die Behandlung von Klienten im NLP entsprechend der systemischen Intervention betrachtet werden, der eine sehr intensive Sammlung von Informationen vorausgeht (vgl. Bohlen 1995, S. 79). NLP-Berater und -Beraterinnen therapieren nicht ihre Klienten und Klientinnen durch ihre Grundannahme von Subjektivität und Selbst-Ressourcen, sondern lassen diese die Lösung selbst durch Fragen erarbeiten (vgl. z.B. das 6-Schritt Reframing). Auch führen sie keine Bewertung der neuen Modelle durch, sondern lassen diese durch den Klienten selbst im ‚Ökologischen Check’ bewerten (vgl. auch hier z.B. das 6-Schritt Reframing). Einige Kritiker von NLP verweisen jedoch auf die prinzipielle Unvereinbarkeit der Ansätze. Demnach wäre ein streng ‚gläubiger’ NLP-ler nicht dazu in der Lage systemische Beratung durchzuführen (vgl. Gloger 2004, S. 71); Die Gründe dazu werden neben der Glaubenshaltung kaum expliziert.
Ohne in den Streit der Abgrenzungen gegeneinander einzutreten, konnte gezeigt werden, dass im Prinzip beide Ansätze Bezüge zu konstruktivistischen Perspektiven aufweisen. Speziell in der NLP-Literatur werden auch die folgenden, eher konstruktivistischen Werke zitiert: Watzlawick et al. 2000 in Birkenbihl 1992; Bateson 1996 in Reckert 1998 und Bohlen 1995. Demnach kann nur eine weitere Analyse zeigen, inwiefern die im NLP integrierten Methoden (vgl. 3) als funktional – in Bezug auf die Lösung individueller Stabilitäten vor dem Hintergrund eines individuellen Pfades – bewertet werden können. Nun folgt die Analyse der dritten und letzten betrachteten Gruppe von Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund.
163
164
So wird auch in der Literatur eindeutig darauf verwiesen, dass NLP aus der Gestalttherapie, Familientherapie und Hypnotherapie entstand (vgl. Reckert 1998, S. 33) – nicht aber aus der systemischen Beratung. Andererseits ist eine gemeinsame Quelle Virginia Satir und ihr familientherapeutischer Ansatz – es ist jedoch die einzige direkte Schnittstelle im Rahmen der Entstehungszeit. Dieser Ansatz systemische Beratungsanteile zu integrieren wird auch als „Unified Theory des NLP“ (Reckert 1998, S. 34) oder als „Systemic Neuro-Linguistic Programming“ (Dilts & DeLozier 2000, Buchtitel) bezeichnet. Dabei werden in der Enzyklopädie zum systemischen NLP insbesondere Begriffe integriert wie: Rekursion, Selbstrekursion, Kybernetik zweiter Ordnung. Auch Selbstverstärkung wurde in dieses Verständnis integriert, als „encourages a particular behavior or response“ (Dilts & DeLozier 2000, S. 1053).
224
V.3.5
Huna – Ein Überblick
In dem vorherigen Unterkapitel wurde NLP auf dessen Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven untersucht. Dabei wurden neben den Grundbegriffe zudem auch die Geschichte, die wissenschaftliche Resonanz und die Abgrenzung zu der systemischen Beratung diskutiert. In dem jetzt folgenden Unterkapitel soll ein kurzer Überblick über Huna gegeben werden. Im Gegensatz zum systemischen Ansatz wird die Darstellung erneut etwas länger ausfallen, da Huna weder offensichtlich aus den konstruktivistischen Perspektiven entstanden, noch ein in der Wirtschaftswissenschaft breit diskutiertes Phänomen ist. Es gibt nur drei Fachartikel zum organisationalen Wandel mit Huna (vgl. Egri & Frost 1991; Frost & Egri 1994; Roedenbeck 2007). Erneut folgt zunächst eine kurze geschichtliche Darstellung zur Entwicklung des Systems Huna mit der Skizzierung des Selbstverständnisses (V.3.5.1). Daran anschließend werden die Grundpositionen von Huna im Detail erläutert, wobei das Weltbild und das Menschenbild detailliert dargestellt wird (V.3.5.2). Auch wenn es nur wenige Analysen gibt, erfolgt eine kurze Zusammenstellung der wichtigsten empirischen und theoretischen Arbeiten zu diesem Themenkomplex (V.3.5.3). Die Abgrenzung gegenüber dem systemischen Ansatz und NLP fällt auf Basis des Selbstverständnisses relativ einfach (V.3.5.4) und wird im Anschluss gegeben. Als Exkurs ist im Anhang eine kompakte Darstellung aller wichtigen Methoden angeführt (vgl. Anhang 4). Diese dient wie bereits bei der systemischen Beratung und bei NLP vor allem der Vorbereitung für das Interview, als Basis der Nachfrage sowie für die Auswertung als Bezugsrahmen.
V.3.5.1
Skizze der Entstehungsgeschichte und des Selbstverständnisses
Huna beruht der Primärliteratur zufolge auf der schamanischen Tradition der polynesischen Ureinwohner (vgl. King 1997) und wurde zunächst durch die Veröffentlichungen von Max Freedom Long bekannt (vgl. Long 2000). Dieser ‚re-generierte’ nach eigenen Angaben die alte Tradition der Hawaiianer, welche in Folge der Jahrhunderte währenden, missionarischer Unterdrückung verdrängt wurde. Seiner ‚Re-kreation’ gab er den Namen HUNA™ (vgl. Huna-Research 2004). Serge Kahili King, ein in schamanischer Tradition erzogener Amerikaner (vgl. King 1997, S. 12), kritisierte die zu westliche Interpretation von Long. King wurde nach eigenen Angaben von der traditionsbewussten Kahili-Familie adoptiert (vgl. King 1997, S. 18) und entwickelte daher die Tradition der Hawaiianer nach seinen Vorstellungen weiter. Er ergänzte die Traditionen durch seine eigenen, spirituellen Erfahrungen sowie wissenschaft225
lichen Studien und überführte sie damit in das westliche System. Seine wissenschaftlichen Studien veröffentlichte er in seiner Dissertation im Fachgebiet der Psychologie (vgl. King 1978). Die Ergebnisse seiner Arbeit fasst er unter dem Begriff ‚Huna’ zusammen (vgl. King 1997, S. 18). Mittlerweile hat King im Internet ein weltweites Netzwerk von Huna-Trainern und -Trainerinnen etabliert, welches er von Hawaii aus koordiniert (vgl. King 1997, S. 14). Hauptsächliche Ziele sind die Verbreitung der Tradition durch Seminare, Ausstellungen und lokale Gruppen. Das HUNA™ nach Long ist gegenüber der Literatur von King nach eigenen Recherchen kaum mehr zu finden, so dass im Weiteren auch nur auf Huna nach King eingegangen wird.
‚Huna’ heißt wörtlich übersetzt ‚Geheimnis’ oder ‚verborgenes Wissen’ (vgl. King 1997, S. 18; Ulmer-Janes 2000, S. 38). ‚Huna’ selbst ist wiederum zusammengesetzt aus ‚Hu’ und ‚Na’. ‚Hu’ bedeutet Chaos und Bewegung, ‚Na’ dagegen Ruhe und Struktur (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 38). King beschreibt Huna in einer jüngeren Online-Veröffentlichung als eine „philosophy of life [… with …] some guidelines for practicing that philosophy“ (King 2004; im Original ohne Einfügung). Im Rahmen seiner einführenden Werke bezeichnet er Huna neben einer Philosophie (vgl. King 1997, S. 18) eher als eine Form des Schamanismus, was er wiederum als eine Variante des Heilens versteht (vgl. King 1997, S. 10). Huna, also King’s Variante des Heilens, bezeichnet er auf Grundlage seiner Übertragung der hawaiianischen Tradition in das westliche System als ‚Stadt-Schamanismus’ (vgl. King 1997, S. 11). Schamanismus, ein im Rahmen der Wirtschaftswissenschaft relativ selten aufgegriffener Begriff165, bezeichnet King als ein Handwerk, welches zu Hause erlernt werden kann (vgl. King 1997, S. 12). Obgleich der Begriff des Schamanismus „gewöhnlich an ländliche Gegenden oder Wildnis denken lässt, ist seine Ausübung auch im großstädtischen Bereich sowohl natürlich als auch notwendig“ (King 1997, S. 11). Im Rahmen der Wirtschaftswissenschaft könnte der Begriff demnach als ‚Business-Schamane’ oder ‚Corporate Shaman’ spezifiziert werden (vgl. Whiteley 2002). In einer Studie zum organisationalen Wandel wurden Organisationsberater
165
Hier sei angemerkt, dass Schamanismus auch unter dem Oberthema der Spiritualität in der Organisationsund Managementforschung untersucht wird (vgl. z.B. Roedenbeck 2006; Roedenbeck 2007). Die Forschungsaktivitäten zur Spiritualität im allgemeinen wurden mit der Gründung der Interessengruppe ‚Management, Spirituality, and Religion’ (MSR) in der Academy of Management (AOM) 2001 strukturiert (vgl. Robbins 2000). Bereits vor dieser Initiierung der Interessengruppe sind bereits einige empirische Studien und theoretische Arbeiten erschienen (vgl. z.B. Conger 1994; McCormick 1994; Mirvus 1997; Cavanaugh 1999; Mitroff & Denton 1999b; Mitroff & Denton 1999a).
226
und -beraterinnen mit schamanischer Tradition als ‚shamanic consultants’ bezeichnet (vgl. Frost & Egri 1994, S. 19; Egri & Frost 1991). Eine Spezifizierung der Nähe von Huna zu konstruktivistischen Perspektiven lässt dieses Selbstverständnis als eine Form des Heilens noch nicht zu. Daher wird im Folgenden auf die Analyse der Grundannahmen ein größerer Wert gelegt.
V.3.5.2
Grundannahmen und Modellbildung
Im Rahmen von Huna werden drei verschiedene Grundkonstrukte vorgestellt, auf denen alle weiteren Methoden und Ansätze basieren. Huna konnte durch sein Selbstverständnis als Schamanismus (Form des Heilens, Handwerk) und Philosophie noch nicht hinreichend nahe an konstruktivistische Perspektiven gebunden werden. Daher wird ein größerer Wert auf die Darstellung der Basiskonzepte gelegt als in den vorangehenden Unterkapiteln zu NLP und der systemischen Beratung. Zu diesen zählen die drei Aspekte des Bewusstseins, die sieben Grundprinzipien und ihre Folgesätze sowie die vier Welten. Entsprechend den obigen Darstellungen wird auch hier im Rahmen der Grundkonzepte das Pathologie- oder Problemverständnis nach Huna extrahiert und mit dem Zielverständnis von Beratung abgeglichen.
Die drei Aspekte des Bewusstseins spiegeln für King nur eine der vielen Möglichkeiten, „das komplexe Wesen des Menschen bequem in drei Teile zu gliedern“ (vgl. King 1997, S. 31). Diese Teile sind im Sinne einer Erklärungsmöglichkeit funktional getrennt, nicht aber an sich (vgl. King 1997, S. 32). Im Rahmen der neueren Veröffentlichung von King hat er seine ältere Betrachtungsweise (im Original 1983) von drei Aspekten des Bewusstseins mit einer engen Wechselbeziehung zu dem Körper ‚KINO’ aufgegeben (vgl. King 1996a, S. 88) und den Körperaspekt im Wesentlichen in die erste Bewusstseinsstufe integriert. King arbeiten derzeit mit den folgenden hawaiianischen Konzepten: KU, LONO und KANE. Ähnlichkeiten des Konzeptes mit den drei Facetten von Sigmund Freud (Ich, Es, Über-Ich) sind nur auf den ersten Blick gegeben (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 138), was die detaillierte Darstellung zeigen wird. Der erste Aspekt ist dabei KU, welcher im Kern den Körper oder das Herz widerspiegelt. Seine Hauptfunktion ist das Gedächtnis, mit dem nicht nur die Integrität des Körpers an sich, sondern auch die kontinuierliche (und damit zeitliche) Identität von Dingen bewahrt wird (vgl. King 1997, S. 32). Das Erlernte und die Vergangenheit allgemein (Erfahrenes, Erlebtes) werden als „Schwingungs- oder Bewegungsmuster“ (King 1997, S. 32) im Körper gespeichert und von dort aus abgerufen. Diese Bewegungsmuster oder Schwingungsmuster entsprechen 227
dabei z.B. Muskelkrämpfen, Schmerzen oder Verspannungen. Ausgelöst werden diese Erinnerungen durch einen entsprechenden Reiz. Dieses Körper-Gedächtnis entspricht nun aber auch einem genetischen Gedächtnis an sich. Es sind also nicht nur die eigenen Erfahrungen darin gespeichert, sondern auch die Erfahrungen und das Erlebte der Vorfahren (vgl. King 1997, S. 32). Dabei geht es jedoch nicht nur um die anatomische ‚Speicherung’ (in Anlehnung an die Phylogenese), sondern um das ‚Erleben’ der Vorfahren (z.B. Ausgrenzung, Leid, Erfolg). Während das eigene Lern-Gedächtnis in spezifischem Muskelgewebe verankert ist, liegt das Erb-Gedächtnis in jeder Zelle (vgl. King 1997, S. 33). Abschließend ist noch bedeutend, dass KU nicht unterscheidet, ob ein Erlebnis im Jetzt oder in der Vergangenheit vorliegt. Es entscheidet über die Realität lediglich nach der Intensität des Erlebten (vgl. King 1997, S.37). Das Hauptmotiv zum eigenständigen Handeln von KU ist die Lust im Sinne von Freude oder Wohlbefinden (vgl. King 1997, S. 38). In Bezug zu KU können drei Punkte aus der konstruktivistischen Literatur angeführt werden, welche eine Verbindung der beiden Perspektiven ermöglichen. Erstens die zeitliche Identität konstruktivistischer Perspektiven, welche in Verbindung zur kontinuierlichen Identität von Dingen gesetzt werde kann (vgl. von Glasersfeld 1994, S. 25). Zweitens die Speicherung der Geschichte einer Spezies in lebenden Systemen, welche in Verbindung zu dem Erb-Gedächtnis der Zellen gesetzt werden kann (vgl. Maturana 1980, S. 24). Und drittens die strukturelle Kopplung, welche mit der Irrelevanz der Herkunft von Informationen (Erfahrung, Erleben) für KU in Verbindung gebracht werden kann. Alle drei Punkte verweisen auf eine Nähe von Huna zu konstruktivistischen Perspektiven, obgleich einerseits die Wortwahl in Huna nicht identisch zu konstruktivistischen Perspektiven ist und andererseits die Tiefe der Verbindung noch fragwürdig erscheint. Der zweite Aspekt ist LONO, welcher die Bindung zwischen der inneren und der äußeren Welt repräsentiert (vgl. King 1997, S. 40). Er hat nicht nur den Zugriff auf alle möglichen jetzigen Informationen (über die Sinneskanäle), sondern kann auch Erinnerungen von KU abgreifen. Prinzipiell ist die Funktion von LONO die Entscheidungsfähigkeit, mit der er die Informationen selektiv filtert und damit die Handlungsfähigkeit erhöht (vgl. King 1997, S. 41). Also erzeugt die selektive Entscheidung über Wichtigkeit und Unwichtigkeit, dass die Aufmerksamkeit gelenkt wird. Wichtig ist, dass die Entscheidung darüber, was wichtig ist und was nicht, durch Informationen oder Kriterien aus dem KU – also der Erinnerung – entsteht (vgl. King 1997, S. 41). Abschließend wird das Ergebnis einer Handlung von LONO auch bewertet und da diese Interpretation „eine Entscheidung über den Sinn oder die Gültigkeit des Erlebens“ (King 1997, S. 44) fällt, ist sie für emotionale Verknüpfungen mit dem Erlebten in 228
KU wesentlich (vgl. King 1997, S. 44). Das Hauptmotiv von LONO ist die Ordnung im Sinne von subjektiven Regeln und Kategorien. LONO kann mit konstruktivistischen Perspektiven insbesondere über die Rekursivität in Verbindung mit der Sensomotorik gebracht werden. Jedoch ist hier noch fraglich, ob die Verbindung mit der Sensomotorik die noch fragwürdige Tiefe der Verbindung von Huna und konstruktivistischen Perspektiven tatsächlich ausbaut. Der dritte Aspekt (zu 3) ist KANE als „rein geistige Essenz“ (King 1997, S. 45). KANE projiziert erst das physische Bild, also KU, ist selbst aber frei davon beweglich. Es wird auch als ‚Höheres Selbst’ bezeichnet. Die Hauptfunktionen von KANE sind Kreativität und Intuition, wobei es die Überwachung des Lebensweges hinsichtlich eines höheren Planes übernimmt (vgl. King 1997, S. 45f.). Sobald die Bedrohung vorhanden ist, dass von dem Weg abgewichen werden kann, schaltet sich KANE offensichtlich oder subtil in die Handlung ein 166 und ändert Geschehnisse (vgl. King 1997, S. 46). Die Motivation von KANE ist Harmonie in und zwischen allem. Bereits auf Basis dieser drei Grundprinzipien wird deutlich, das Huna zumindest mit konstruktivistischen Perspektiven in Verbindung zu bringen ist. Die Tiefe dieser Verbindung kann jedoch erst dargestellt werden, wenn die sieben Grundprinzipien berücksichtigt werden.
Mit den drei Aspekten des menschlichen Bewusstseins kann nach Huna der Mensch verstanden werden. Zudem ist nach Huna die Kommunikation mit diesen drei Aspekten (also die direkte kognitive Ansprache) möglich. Dies wird in einigen Methoden besonders berücksichtigt (vgl. 4). Durch die sieben Grundprinzipien wird in Huna beschrieben, wie Verhalten in der Welt möglich ist. Diese Grundprinzipien wurden, wie schon die drei Aspekte des Bewusstseins, im Laufe der Zeit von King verändert und von zunächst vier (vgl. King 1996a, S. 43 [Original 1983]) auf später sieben aufgestockt. Alle sieben sind wie schon die drei Aspekte des Bewusstseins mit hawaiianischen Worten bezeichnet: 1) IKE, 2) KALA, 3) MAKIA, 4) MANAWA, 5) MANA, 6) ALOHA, 7) PONO. Sie werden in der Literatur zumeist definiert und mit zwei Folgesätzen verbunden. Das erste Prinzip IKE beginnt zugleich mit einer fundamentalen Perspektive: „Die Welt ist, wofür Sie sie halten“ (vgl. King 1997, S. 50). Das bedeutet nach Huna, dass die Materie (die Welt) dem Geist folgt oder erst durch ihn erschaffen wird (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 47). Aus diesem ersten Prinzip folgert King dann, dass erstens alles nur ein Traum ist – bzw. Träume 166
Diese Einmischung geschieht durch die Unterbrechung von Gedanken, dem Anstoßen von Gegenständen oder auch mal dem ungeschickten Verhalten.
229
ebenso real sind. Und zweitens, dass jedes System der Ordnung oder des Sinns willkürlich ist (vgl. King 1997, S. 51f.). Huna als „System mit seinen sieben Prinzipien ist anerkanntermaßen ebenso willkürlich und erfunden“ (King 1997, S. 54). Es bietet aber in seiner Willkür praktikable Sichtweisen, um zum Beispiel mit dem Traum zu experimentieren. Eine Anbindung dieses ersten Prinzips an konstruktivistische Perspektiven ist über die Subjektivität möglich. Von Glasersfeld formulierte dazu: Die Dinge sind für uns so „wie wir sie haben möchten“ (von Glasersfeld 1995a, S. 18) und werden von einem Beobachter in eine Ordnung gebracht (vgl. Maturana 1980, S. 8; von Foerster 1995b, S. 3). Das zweite Prinzip KALA unterstützt die Perspektive der Konstruktion durch die Aussage, dass es prinzipiell keine Grenzen gibt (King 1997, S. 55). Die Begrenzungen in der Welt entstehen durch „schöpferische und gefilterte“ (King 1997, S. 56) Grenzen. Die gefilterten Grenzen entstehen z.B. durch einengende Gedanken – also „Ideen, Überzeugungen und Glaubensinhalten“ (King 1997, S. 57). Die schöpferischen Grenzen entsprechen zumeist physischen Schranken, um Erfahrung zu ermöglichen (vgl. King 1997, S. 56). Als Folge schließt King hieraus, dass alles mit allem verbunden ist (vgl. King 1997, S. 57) – zumeist in Gegensatzpaaren (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 57). Damit argumentiert er, dass eine Kritik durch einen Menschen gegenüber etwas Externem auf diesen selbst zu beziehen ist (vgl. King 1997, S. 70). Trennungen können nun willkürlich eingeführt werden, insbesondere aber wenn sie für Erfahrungen nützlich sind (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 65). Die Konsequenzen bei der Aufkündigung von Grenzen entstehen durch die sozialen Verbindungen. Insbesondere das Konzept der Nützlichkeit willkürlicher Grenzen ist mit konstruktivistischen Perspektiven und dem Konzept der Viabilität (vgl. von Glasersfeld 1995a, S. 12) vereinbar. Die Grenzen als solche entsprechen der Unterscheidungsbildung nach dem Formenkalkül von Spencer-Brown. Das dritte Prinzip heißt MAKIA: „Energie folgt der Aufmerksamkeit“ (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 68). Das bedeutet, dass die Ausrichtung auf ein bestimmtes Ziel zu dessen Realisierung führt. Zu den Formen der Konzentration von Aufmerksamkeit gehören auch Meditation und Hypnose (vgl. King 1997, S. 60). Wichtig ist hierbei, dass Taten, Gefühle, Gedanken oder Worte keinen prinzipiellen Unterschied bezüglich ihrer Wirksamkeit besitzen (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 69). Als Folgesatz wurde für dieses Prinzip abgeleitet, dass ebenso der Umkehrschluss funktioniert – Aufmerksamkeit folgt demnach der Energie (vgl. King 1997, S. 61). Diesen beiden Aspekten liegt offensichtlich die Position zu Grunde, dass alles Energie ist (vgl. King 1997, S. 62). Das energetische Verständnis ist im Rahmen konstruktivistischer Per-
230
spektiven neu und kann nur mit der energetischen Offenheit von lebenden Systemen in Verbindung gebracht werden. Mit dem vierten Prinzip MANAWA wird die Zeit adressiert, wonach das Jetzt der Augenblick der Macht ist (vgl. King 1997, S. 63; Ulmer-Janes 2000, S. 78). Macht ist in dem Sinne der Veränderung aber auch in Bezug auf Stabilität zu sehen. Denn „nicht die Vergangenheit hat Ihnen gegeben, was Sie heute besitzen, und sie hat Sie auch nicht zu dem gemacht, was Sie heute sind. Vielmehr sind es ihre Überzeugungen, Entscheidungen und Aktionen von heute in Bezug auf Sie selbst“ (King 1997, S. 64). Mit diesem Folgesatz der Relativität kann diese Position an das Rekursionsprinzip (vgl. Varela 1975, S. 23) und das Zeitverständnis (vgl. von Glasersfeld 1995b) konstruktivistischer Perspektiven geknüpft werden. Die Strukturdeterminiertheit von Maturana gleicht diesem Verständnis sogar. Ein weiterer Folgesatz dieses Prinzips besagt, dass die Macht des Augenblickes abnimmt, je weniger aufmerksam ein Beobachter wird – insbesondere was die sensorische Aktivität betrifft. Das fünfte ALOHA Prinzip gehört, wie auch die folgenden, zu den Prinzipien der neueren Generation. Das Wort ‚Aloha’ ist zum Teil schon umgangssprachlich bekannt und bedeutet genau genommen ‚Liebe’ (vgl. King 1997, S. 68). Die Wortstämme ‚Alo’ und ‚Oha’ geben diesem Wort allerdings eine spezifische Bedeutung. Der erste Teil bedeutet ‚Zusammensein’ oder ‚ein Erlebnis teilen’, während der zweite Teil ‚Freude’ bedeutet (vgl. King 1997, S. 68). Demnach meint ALOHA: „glücklich sein mit“ (Ulmer-Janes 2000, S. 91). Damit ist jedoch nicht nur die individuelle Freude gemeint, sondern das Glücklich-Sein aller Beteiligten. In der Folge heißt es dann, dass dieses Glücklichsein zunimmt, je weniger Urteile gefällt werden (vgl. King 1997, S. 68). Damit ist eine Harmonie oder die Liebe (nach der obigen Definition) innerhalb einer Gruppe dann besonders hoch, wenn alle offen miteinander umgehen und das Gefühl des Glücks nicht durch Angst, Wut und Zweifel überlagert wird (vgl. King 1997, S. 68; Ulmer-Janes 2000, S. 93). Den zweiten Folgesatz zu ALOHA richtet King auf die soziale Perspektive, nach dem er alles als lebendig ansieht (also neben Tieren und Menschen auch Steine usw.). Somit kann alles auf den Zustand der Harmonie einwirken und Harmonie kann zwischen allem hergestellt werden (vgl. King 1997, S. 69)167. In konstruktivistischen Perspektiven ist Emotion oder Gefühl (wie Harmonie) nicht berücksichtigt, wurde aber im Rahmen der Erweiterung durch die Pfadforschung integriert. Der Beitrag von Huna Beratern und Bera-
167
Im Rahmen eines wissenschaftlichen Dialogs wurde an dieser Stelle auf Querverbindungsmöglichkeiten zur Actor-Network-Theory verwiesen, welches im Detail zu prüfen wäre.
231
terinnen zu diesem Aspekt kann als besonders neu für konstruktivistische Perspektiven eingestuft werden. Das sechste Prinzip ist MANA und bedeutet: „Alle Macht kommt von Innen“ (King 1997, S. 72). Hiermit wird Huna von vielen Perspektiven abgegrenzt, die sich auf einen höheren Einfluss berufen. Natürlich bleibt der Einfluss des höheren Selbst (KANE), aber dieser kommt eben auch von innen. Eine wichtige Erweiterung dieses ersten Satzes wird jedoch von King gegeben, so dass nicht die ‚All-Macht-Phantasie’ als Schlussfolgerung hieraus gezogen wird: diese innere Macht besitzt jeder (vgl. King 1997, S. 73). Je mehr demnach eine Macht nach Außen abgegeben wird (was ein machtvoller Akt ist, für den eine Entscheidung gefallen ist), desto autoritärer kann das Außen werden. Die Mächtigkeit und Unabhängigkeit des Menschen ist insbesondere anschlussfähig an die Ethik der Selbstverantwortung bei von Foerster (von Foerster & Pörksen 2001, S. 36). Abschließend kann das siebte Prinzip PONO genannt werden. Auch hier ist eine Anbindung an konstruktivistische Perspektiven möglich, denn es heißt: „Wirksamkeit ist das Maß der Wahrheit“ (King 1997, S. 75). Das bedeutet, dass Wahrheit an der Wirksamkeit ausgerichtet wird. Wahrheit ist nach King nur als Funktionalität oder Wirksamkeit im Sinne der Pragmatik zu beschreiben und kann für jedes einzelne Individuum anders sein (vgl. King 1997, S. 76). Der Umkehrschluss, dass ein Zweck somit die Mittel heilige ist jedoch hiermit genau umgekehrt gültig: „das Mittel bestimmt den Zweck“ (King 1997, S. 75). Somit werden gewaltsame Methoden auch zu gewaltsamen Reaktionen führen. Zudem gilt nach King der Folgesatz zu PONO, dass es immer einen anderen Weg gibt, das gesetzte Ziel zu erreichen. Dieses Verständnis von Wirksamkeit als siebtes Grundprinzip von Huna entspricht der Viabilität im Sinne der Funktionalität hinsichtlich eines bestimmten Zwecks (vgl. von Glasersfeld 1981; von Glasersfeld 1996b). Die Diskussion der sieben Prinzipien von Huna hat gezeigt, dass Huna auf deren Basis eng an konstruktivistische Perspektiven gekoppelt werden kann. Dies wird hierbei viel deutlicher als es auf Basis des Selbstverständnisses als schamanische Philosophie oder auf Basis der drei Bewusstseinsaspekte gemacht werden konnte. Insbesondere das Prinzip zur Konstruktion der Welt (IKE), die subjektive Grenzziehung (KALA), die Mächtigkeit des Einzelnen (MANA) und die Wirksamkeit als Wahrheitsmaß (PONO) verdeutlichen die Verbindungsmöglichkeit im Detail.
232
Neben den drei Aspekten des Bewusstseins und den sieben Prinzipien spezifiziert King verschiedene Handlungswelten oder Bewusstseinszustände des Individuums (vgl. King 1996a, S. 65; King 1996b; Frost & Egri 1994). Innerhalb dieser Welten kann ein Berater oder eine Beraterin nach Huna ‚wandern’, um z.B. Ursachen für Probleme zu finden und Verhalten zu beobachten. Diese ‚Wanderung’ erfolgt durch Beobachtung oder mental. Diese Einteilung ist entsprechend dem ersten Prinzip IKE selbst nur eine willkürliche, die sich jedoch als funktional erwiesen hat (vgl. King 1996a, S. 66). Die erste Ebene ist die physische Welt. Sie entspricht der westlichen Vorstellung einer grobstofflichen, erfahrbaren und objektiven Welt, welche mit den Sinnen arbeitet (vgl. King 1996a, S. 66). Im Rahmen dieser Ebene erfolgt alles unabhängig voneinander, es wird gegessen und es werden Objekte erschaffen. Auf der zweiten Ebene liegt die psychische Erfahrung (vgl. King 1996a, S. 66). Subjektivität ist hier wichtiger als in der vermeintlich objektiven Welt und mentale Techniken können genutzt werden, um Veränderung zu erzeugen. Die dritte Ebene ist die der Verbindung oder Relativität (vgl. King 1996a, S. 66). Alle Bestandteile der ersten und zweiten Welt wirken hier aufeinander ein und stehen im wechselseitigen Bezug. Insbesondere hier kann das Wesen von Problemen ergründet werden, um in den ersten beiden Ebenen eine Heilung zu erreichen (vgl. King 1996a, S. 67). Abschließend folgt die mystische Ebene, bei der die Verbundenheit zum Gesamten erlebt werden kann. Diese Ebene ist jedoch ein „rein subjektiver Zustand, der nicht auf irgendeine >>praktische<< Weise angewandt werden kann“ (King 1996a, S. 67) – eine weitere Analyse ist daher unerheblich.
Die drei Aspekte des Bewusstseins, die sieben Prinzipien sowie die vier Welten entsprechen den allgemeinen Grundlagen von Huna. Neben den Grundlagen ist noch auf das spezifische 1) Pathologie- und 2) Zielverständnis von Beratung auf Basis von Huna einzugehen. Nach dem fünften Prinzip ALOHA, geht es prinzipiell um das „Glücksein“ und damit ist jeder Zustand des Unglücklichseins ein Problem. In einer Kapitelüberschrift heißt es dazu auch: „Harmonie im Körper erzeugen“ (King 1997, S. 80). Krankheit wird demnach gleichgesetzt mit „Krieg und Konflikt“ (King 1997, S. 80). Der Ausgangspunkt aller Krankheit „gilt als selbsterzeugt, als eine Auswirkung von Streß“ (King 1997, S. 81). Damit besteht Krankheit oder ein Problem aus zwei Elementen: der Selbsterzeugung und dem Stress. Die Erzeugung entsteht dabei durch Glaubensmuster, welche die Wurzel aller Krankheiten sind (vgl. King 233
1996a, S. 117). Glaubensmuster oder Komplexe168 werden problematisch, sofern sie das Verhalten beherrschen oder beeinflussen (vgl. King 1996a, S. 102) und Veränderungen blockieren oder unwirksam169 sind. Ansonsten sind sie zunächst eine Hilfe, das Leben zu meistern. Dabei spielen drei Arten von Glaubensmustern eine Rolle, welche zu einem Glaubenskomplex (HILINA’A) verbunden sein können (vgl. King 1996a, S. 109): Erstens die Meinung oder MANA’O. Diese ist relativ leicht veränderbar und kaum mit Emotion gekoppelt. Sie führt zumeist alleine betrachtet zu keinem Problem. Einstellungen (KUANA) als zweite Form dagegen entsprechen flüssigen Mustern und sind bereits emotional gekoppelt. Daher erzeugen diese Glaubensmuster auf der emotionalen Ebene Stress, sofern sie verändert werden sollen (vgl. King 1996a, S. 103). Sind Glaubenskomplexe also eine Verbindung von Meinung und Einstellung, kann es bereits zu Konflikten und Stress führen. Vermutungen 170 (PAULELE) sind die dritte Form und entsprechen kristallisierten Mustern, die auf das tägliche Leben wirken und Sicherheit bieten. Sie sind der Rahmen, an dem Erfahrungen durch LONO geprüft und bewertet werden (vgl. King 1996a, S. 104). Diese sind prinzipiell immer reaktivierbar und auch veränderbar, jedoch werden sie zumeist aus dem Bewusstsein ‚vergessen’ und eine bewusste Prüfung würde die bisherige Sicherheit gefährden – Stress auf allen Ebenen kann die Folge sein. Insbesondere die Verbindung einzelner Vermutungen und Einstellungen zu Glaubenskomplexen bildet ein hohes Konflikt- und Stresspotential. Allerdings ist auch deren gleichzeitige Präsenz unter gegenseitiger Widersprüchlichkeit eine Ursache von Konflikten und damit Stress (vgl. King 1996a, S. 110). Dort, wo sich der Stress konzentriert (der zweite Teil von Problemen), manifestiert er sich physisch in Symptomen. Diese Symptome verstecken jedoch nur die dahinter liegende Emotion in Anbindung and Glaubensmuster (vgl. King 1996a, S. 117). Viren und Bakterien profitieren nur von derartigen Situationen im Körper (vgl. King 1997, S. 81). Die Ursachen von Stress wiederum und damit verantwortlich für die Erzeugung von Problemen, ist der Widerstand auf Basis von Glaubensmustern auf den vier Bewusstseinsebenen. Dieser kann also erstens auf der körperlichen Ebene entstehen, indem sich der Körper gegen bestimmte Dinge wehrt: Schläge, Feuer etc. Hawaiianische Feuerläufer 168
169
170
Den Begriff ‚Komplex’ verwendet King hier nicht nach dem Verständnis der Psychologie, sondern als Alternative zu ‚Glaubensmustern’. Die Unwirksamkeit von Glaubenskomplexen bedeutet, dass die komplexen Netze von Einstellungen und Vermutungen „vom Standpunkt des Individuums aus seine Lebensprobleme nicht ausreichend lösen und die mit anderen Überzeugungen in Konflikt“ (King 1996a, S. 110) sind. Die Bezeichnung von Glaubensmustern als Vermutungen, bestärkt die Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven, dass Menschen kein Wissen, sondern lediglich Konstrukte über die Welt besitzen.
234
verwenden mentale Methoden, um die Aufmerksamkeit von dem Feuer abzuziehen und dem KU keinen Grund für einen Widerstand zu bieten (Gottesglaube, Trance, Zielverlangen, Auslöschen von Zweifeln; King 1997, S. 86). Auch ist es möglich, dass der Stress auf emotionaler Ebene entsteht. Hierbei wird Angst, Wut oder Hass durch unnatürliche mentale Wiederholung von negativen Ereignissen gestärkt und erzeugt Blockaden (vgl. King 1997, S. 89). Dinge werden hierbei insbesondere für schlecht gehalten, wenn sie im Vergleich zu den eigenen Glaubensmustern diesen nicht entsprechen. Mentaler Widerstand ist die dritte Ursache und entsteht dadurch, dass etwas auf Basis der Glaubensmuster für falsch gehalten wird (vgl. King 1997, S. 91). Diese mentale Einstellung ‚nagt’ innerlich an Vertrauen und Selbstwert, was insbesondere noch durch Kritik von außen gestärkt wird171. Spiritueller Widerstand auf der vierten Ebene entsteht durch die Entfremdung von Ort, Gruppen oder der Welt. Diese Entfremdung wird durch ein ‚nicht angenommen fühlen’, aber auch durch ein ‚woanders zugehörig fühlen’ verursacht (vgl. King 1997, S. 93). Durch Glaubensmuster oder Komplexe (also die komplexe Beziehung von Meinung, Einstellung und Vermutung) wird also Stress auf den vier Ebenen erzeugt, was als negative Emotion und damit als Problem wahrgenommen wird. Huna wurde im Rahmen der Darstellung des Selbstverständnisses bereits als Form des ‚Schamanismus’ und damit als eine Variante des Heilens bezeichnet. Die Zielsetzung ist damit, den Problemzustand als Konflikt oder Stress zum Positiven hin zu verändern (vgl. King 1997, S. 45). Diese Heilung bezieht sich im Wesentlichen auf Beziehungen (vgl. King 1997, S. 9f.). Darunter werden intra-individuelle Beziehungen zwischen Körper und Geist oder auch zwischen Glaubensmustern, aber auch Beziehungen zwischen Menschen oder dem Mensch und der Natur gesehen. Für eine erfolgreiche Heilung ist es nicht wichtig, das Problem erst zu verstehen und zu wissen, warum Dinge so sind wie sie sind (vgl. King 1997, S. 45). Eine Heilung kann auch ohne dieses Wissen erfolgen. Generell ist der Heilungsansatz ein strategischer172, bei dem für jeden Klienten ein eigener Ansatz entwickelt wird. Nach Huna bedeutet dies, insbesondere „immer innerhalb des Glaubenssystems des Patienten“ (King 1996a, S. 118) zu arbeiten.
171
172
Um eine Kritiklosigkeit zu vermeiden in der Literatur zu Huna empfohlen, die Kritik-Technik ‚Lob-Tadel’ in ‚Tadel-Lob’ umzukehren oder es gleich wie ein ‚Sandwich’ als ‚Lob-Tadel-Lob’ zu verpacken (vgl. King 1997, S. 93). Die letzte Art und Weise kann auch also positive Kritik bezeichnet werden (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 94), wobei das Lob nur funktioniert wenn es ernst gemeint ist. Das Unbewusste des Senders wie auch das des Empfängers lässt sich nach Huna nicht ‚beschummeln’. Diese Anlehnung an Erikson und Haley zeigt deutliche Bezüge von Huna zu NLP auf. Denn bei NLP wird Milton Erickson ebenso als Wegbereiter angesehen.
235
Die Analyse der Grundannahmen und Folgesätze nach Huna haben bereits die eindeutige Nähe und zum Teil sogar die Kongruenz zu konstruktivistischen Perspektiven aufgezeigt. Auch das Verständnis der ‚Krankheit’ als selbst erzeugter Stress durch Veränderungen von Glaubensmustern oder Meinungen steht in enger Verbindung zur subjektiv erkannten, kognitiven Stabilität (vgl. von Foerster & Pörksen 2001, S. 77). Eine Analyse von Beratern mit Huna als Hintergrund scheint daher für diese Arbeit sehr gewinnbringend, denn Spannungs- und Impulspotential liegt insbesondere in dem energetischen Verständnis und den verschiedenen Welten. Es folgt nun eine Darstellung wissenschaftlicher Studien, um die Relevanz des Beitrages von Huna hier einzuordnen.
V.3.5.3
Wissenschaftliche Resonanz und Anwendungsbereiche
Die wissenschaftliche Untersuchung von Huna und dessen Wirksamkeit hat bereits in drei Fachrichtungen begonnen. Einen ersten Ansatz bilden Studien über die medizinischen und psychologischen Facetten in Huna (vgl. Handy et al. 1934; Handy 1965; Larson 1944; King 1978; Snyder 1979; Paltin 1986; Foltz 1987; Köck 2005). Die zweite Gruppe von Studien beschäftigt sich dagegen mit der sozio-kulturgeschichtlichen Beschreibung (vgl. Rodman 1979; Foltz 1985; Foltz 1988; Foltz 1994). Direkte Übertragungen in die Sozialwissenschaften und Diskussionen über die Anwendung von Huna auch im Rahmen von Organisationen können in der dritten Gruppe zusammengestellt werden (vgl. Frost & Egri 1994; Yardley 1999; Cech 2002; Netzer 2002; Roedenbeck 2006; Roedenbeck 2007). Problematisch ist in fast allen Ansätzen die Vermischung der zwei Entwicklungsstränge von Long (HUNA™) und King (Huna) zumeist zu ‚dem System Huna’. Analysen im Sinne von Fallstudien oder Experimenten gibt es derzeit noch nicht.
Die Anwendungsbereiche von Huna sind ebenso vielfältig wie die von NLP oder dem systemischen Ansatz. Anwendungsmöglichkeiten in Unternehmen werden durch Seminar-Referenzen angegeben (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 22; z.B. General Motors, AT&T, Bank of Bosten und McKinsey & Co). Da die Analysen bezüglich Mitarbeitermotivation noch nicht sehr weit fortgeschritten sind (vgl. Netzer 2002), ist eine praktische Empfehlungsgrundlage kaum ausgebaut. Psychotherapeutische Ansätze sind ebenso denkbar (vgl. Paltin 1986; Köck 2005), jedoch fehlt auch hier jede empirische Grundlage. Weiterführende empirische Studien wären daher nötig und wurden schon an anderer Stelle gefordert (vgl. Roedenbeck 2007). Einige we236
nige Unternehmensberatungen arbeiten aber bereits schon mit Huna (vgl. z.B. Ventoa 2004; Huna-Vita 2004). Die Berücksichtigung von Huna im Rahmen dieser Arbeit scheint, insbesondere durch die Möglichkeit der Verknüpfung einiger Prinzipien (IKE, KALA, MANA, PONO) mit konstruktivistischen Perspektiven, sehr gewinnbringend. Da jedoch kaum andere detaillierte Studien über die empirische Funktionalität der Methoden von Huna vorliegen, ist die Beschäftigung mit Huna hier als explorativer Schritt einzustufen. Es folgt die Abgrenzung von Huna zu NLP und dem systemischen Ansatz, um die Relevanz zur Integration dieses etwas anderen Ansatzes aufzuzeigen.
V.3.5.4
Abgrenzung von Huna zur systemischen Beratung und NLP
Huna bietet Anschlusspunkte zu NLP wie auch zur systemischen Beratung. Neben dem übergreifenden Konzept der Funktionalität (hier PONO), ist auch die Selbstkonstruktion von Problemen zentral (hier IKE). Einige Methoden sind dabei auf Systeme (Gruppen) fokussiert, während andere eher individuell ausgerichtet sind. Insbesondere ist bei den Methoden z.B. eine Art der systemischen ‚Aufstellung’ auch in Huna enthalten und das ‚Traumweben’ aus Huna ähnelt wiederum dem ‚Reframing’ aus NLP (vgl. zum Methodenüberblick Anhang 4). An einigen Stellen in der Literatur zu Huna bezieht sich King sogar explizit auf NLP (vgl. z.B. King 2001, S. 110).
Huna kann aber auch von NLP und dem systemischen Ansatz abgegrenzt werden. Durch die philosophische oder schamanische Grundposition wurden vier Ebenen der wahrnehmbaren Welt eingeführt, welche von den Darstellungen der herkömmlichen psychologischen oder kybernetischen Beschreibungen abweichen. Eine Ebene der Relativität und Verbundenheit, sowie die Ebene der mystischen Welt sind dabei z.B. gänzlich neu. Ein besonderer Unterschied zwischen Huna und NLP oder der systemischen Beratung ist, dass bei Huna die theoretischen Annahmen durch die Berater und Beraterinnen, aber auch durch die Klienten und Klientinnen überprüft werden können. Für jedes der sieben Grundprinzipien hat King eine Methode mit geringem Umfang entwickelt, so dass deren Anwender die Praktikabilität der Annahmen erfahren können. Diese Entwicklung von Methoden in Bezug auf die Grundannahmen durch King, was er auch als „Politik der offenen Tür“ (King 1997, S. 15) bezeichnet, lässt die Philosophie zu einer gelebten Spiritualität werden. Neben diesen Methoden ist ein weiterer Abgrenzungspunkt von Huna gegenüber NLP und der systemischen Beratung, dass die von King 237
vorgestellten Methoden in der schwer zu überprüfenden, mentalen Ebene und der Ebene der Relativität wirken. Diese Grenzwertigkeit entspricht damit der größtmöglichen Angriffsfläche für Wissenschaft und Wirtschaft. Berater und Beraterinnen mit Huna als Hintergrund eignen sich dennoch auf Grund der Nähe von den Grundannahmen von Huna zu konstruktivistischen Perspektiven als Gesprächspartner zur Diskussion über die Funktionalität des Modells eines individuellen Pfades. Einige Ihrer Grundannahmen sind in dem Modell durch die konstruktivistischen Positionen bereits enthalten und damit ist eine Beurteilung der Faktoren und Relationen des Modells möglich. Andere Grundannahmen oder die vier Welten könnten dagegen als Erweiterung des Modells dienen, sofern die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund dies für die Entwicklung eines individuellen Pfades relevant halten.
Diese Darstellung der Grundbegriffe von Huna und der wissenschaftlichen Resonanz rundet das Kapitel zur Grundgesamtheit ab. Alle drei Gruppen weisen eine Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven auf und bieten ein breites Methodenarsenal, so dass eine Diskussion mit den Experten und Expertinnen aus den drei Gruppen als lohnenswert eingestuft wird. Im anschließenden Kapitel kann nun die Diskussion im Hinblick auf die Operationalisierung fortgeführt werden. Dabei geht es um die Übertragung der empirischen Annahmen in einen für das Experten- bzw. Expertinneninterview verwendbaren Leitfaden.
V.4 Operationalisierung, Feldzugang und Auswertungsverfahren In dem vorhergehenden Kapitel wurde die Samplingmethode bestimmt, die Grundgesamtheit in Bezug auf drei gewählte Beratungsansätzen eingegrenzt und Datenpools entwickelt. Jeder der drei Ansätze wurde dann im Detail eingeführt, um insbesondere die Nähe zu konstruktivistischer Literatur darzustellen. Im Rahmen dieses Kapitels folgt nun der letzte Schritt der Operationalisierung im Prozess der empirischen Forschung mit einem konstruktivistischen Hintergrund. Die Operationalisierung greift das Ergebnis der Wahl einer Erhebungsmethode auf, denn hierbei wird nun ein Leitfaden für Interviews erstellt. Neben der Operationalisierung wird zudem kurz auf den Feldzugang, also die Kontaktaufnahme mit Experten und Expertinnen aus den drei selektierten Gruppen, sowie auf das Verfahren bei der Auswertung eingegangen. Dieses Verfahren wird an der Operationalisierung angelehnt.
238
Zunächst wird in diesem Kapitel daher beschrieben, wie aus den empirischen Annahmen ein Leitfaden in der Sprache der Experten und Expertinnen erstellt werden kann (V.4.1). Die detaillierte Entwicklung der Fragen ist dabei im Anhang einzusehen (vgl. Anhang 5). Anschließend erfolgt eine Reflexion des Feldzuganges in Form von schriftlichen Terminanfragen, bei der auch das Anschreiben und dessen Überarbeitung diskutiert werden (V.4.2). Das Originalanschreiben kann ebenfalls im Anhang eingesehen werden (vgl. Anhang 6). Zum Abschluss dieses Kapitels wird anhand des Leitfadens und der empirischen Annahmen eine Strategie vorgestellt, mit der die Auswertung zielgerichtet erfolgen kann (V.4.3). Der letzte Schritt geschieht, wie vorher eingehend argumentiert (vgl. dazu V.2.1), abweichend zur gewählten Methodik des Experten- bzw. Expertinneninterviews. An diese Diskussion kann dann im nächsten Kapitel die konkrete Auswertung der empirischen Erhebung anknüpfen.
V.4.1
Leitfadenerstellung
In der Einleitung zu diesem Teil der vorliegenden Arbeit wurde bereits erwähnt, dass die empirischen Annahmen für die Formulierung des Leitfadens herangezogen werden. Zur besseren Gliederung des Interviews, und um den Gesprächspartnern vorab einen Überblick über die Themen geben zu können, wurden die empirischen Annahmen zunächst in folgende Problembereiche gruppiert: Wahrnehmung, Rekursion, Selbstverstärkung sowie Lock-In und Lösung. Bezüglich jeder empirischen Annahme wurde zunächst eine jeweilige Erstfassung der Interviewfrage erstellt. Diese wurden dann in einer wissenschaftlichen Diskussionsgruppe (mit den Betreuern der Arbeit) in Anbetracht ihrer Verständlichkeit und Präzision diskutiert. Die überarbeiteten Fragen wurden dann in einem Probeinterview getestet, um die Frageformulierungen weiter an die Sprache der Experten und Expertinnen anpassen zu können. Hieraus wurde die Version der jeweiligen Fragen für die empirische Erhebung ermittelt. Im Anhang wird diese Endfassung der Interviewfragen der jeweiligen Erstfassung gegenübergestellt, um den Entwicklungsprozess zu verdeutlichen (vgl. Anhang 5). Die Sprachwahl der Fragenformulierungen erfolgte hauptsächlich auf Basis der geforderten Offenheit. Zudem wurde die Sprachwahl an das Sprachrepertoire der Experten und Expertinnen angepasst (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 448f.). Zu einigen Fragen werden mögliche Alternativformulierungen in Umgangssprache als Ergänzung notiert. Bei Nachfragen durch die Experten und Expertinnen kann hierauf zurückgegriffen werden. Adressiert werden bei den Fragen eine direkte Meinung (direkte Frage), Detailwissen zu pauschalen Perspektiven (spezi239
fizierende Frage), Evidenz für Detailwissen als Tauglichkeitsprüfung (Nachprüffrage), sowie indirekte Urteile (indirekte Frage) zu problematischen Themen (vgl. Mieg & Brunner 2001, S. 14) – tiefenpsychologische Fragen über die private Selbsterfahrung werden dabei vermieden (vgl. Mieg & Brunner 2001, S. 14). Um das Interview nicht unmittelbar mit der Diskussion zur Wahrnehmung beginnen zu lassen, wurden vor den vier thematischen Problembereichen noch Einstiegsfragen als zusätzlicher fünfter Block formuliert. Damit wird die fünfzehnminütige ‚Aufwärmphase’ berücksichtigt (vgl. Mieg & Brunner 2001, S. 15). Zudem werden im Rahmen der Aufwärmphase Kontrollfragen eingebaut, um die Zugehörigkeit der Experten und Expertinnen zu der jeweiligen Gruppe noch einmal zu bestätigen.
Nach der Entwicklung des Leitfadens kann die Kontaktierung der Experten und Expertinnen erfolgen, deren Verlauf im nächsten Unterkapitel beschrieben wird.
V.4.2
Kontaktierung und Auswahl der Experten und Expertinnen
Nachdem die Leitfadenerstellung im vorherigen Unterkapitel vorgestellt wurde, folgt nun eine kurze Diskussion des Vorgehens zur Kontaktierung der Experten und Expertinnen, bevor die Auswertungsstrategie skizziert wird. Aus der Literatur zum Experten- bzw. Expertinneninterview ist als Ratschlag zu entnehmen, dass die Kontaktierung 1. per Anschreiben (Email oder Brief) und 2. durch ein kurzes, darauf folgendes Telefongespräch erfolgen soll. Während bei dem Telefongespräch auf Fachfragen zu verzichten sei, sollte bereits in dem ersten Anschreiben eine Kurzbeschreibung der Arbeit (etwa eine Seite) vorgelegt werden. Zu beachten sei auch, dass oft Experten und Expertinnen schon am Telefon wissen möchten, „wer zu den Mitinterviewten gehört“ (Köhler 1992, S. 328). Der Inhalt des Anschreibens sollte sich daher entsprechend der Literatur auf folgende Fragen beziehen: Um was geht es und wie wird es erhoben (vgl. Hermanns 2005, S. 367). Die erste Version des Anschreibens umfasste drei Bereiche: Zunächst eine kurze Vorstellung des Autors in Verbindung mit dem Sinn des Anschreibens, dann eine Erläuterung der Frage ‚um was es geht’, gefolgt von einer Beschreibung wie das Interview abläuft. Abschließend ist zur weiteren Information noch die Person des Autors kurz beschrieben, um Informationen zur persönlichen Einschätzung zu liefern. Auf Grund einiger sprachlicher Überarbeitungen ist eine zweite Version entstanden. Diese weist aber keine Unterschiede im Aufbau auf. Geändert wurde insbesondere die unpersönli240
che Ansprache und durch eine direkte Ansprache ersetzt. Zudem wurde die zu direkt angesetzte Anfrage einer Beteiligung etwas nach hinten verschoben. Im Mittelteil des Anschreibens wurde bereits zu viel von dem Modell eines individuellen Pfades berichtet, so dass hier eine kürzere Vorstellung zur ‚was’-Frage zu wählen war. Der Abschluss des Briefes enthielt eine zu persönlich formulierte Ansicht, die durch etwas sachlichere Formulierungen ersetzt wurde (vgl. Anhang 6). Ein Überblick über die Datenbanken ergab, dass eine Vielzahl der Berater und Beraterinnen aller Gruppen über eine Email-Adresse im Internet verfügen. So wurde im Sinne der Forschungsökonomik ein Kurzanschreiben erstellt und als Email mit dem Betreff ‚Experteninterview für mein Dissertationsprojekt’ versendet (vgl. Anhang 6). Als Anhang war das komplette Anschreiben mit dem Logo der Freien Universität Berlin als PDF-File enthalten. Entsprechend der obigen Erläuterung zur Kontaktierung der Experten und Expertinnen sollten diese noch einmal telefonisch kontaktiert werden, nachdem der Email-Versand erfolgte. Für die dort gestellten Nachfragen wurden mögliche Antworten vorbereitet, um relativ homogen reagieren zu können und nicht durch unterschiedliche Erklärungen unterschiedliche Zustimmung zu erhalten. Die beiden einzigen Fragen, mit denen gerechnet wurde, waren einmal eine Nachfrage zum Inhalt der Arbeit sowie eine Nachfrage zur Auswahl der Experten und Expertinnen (vgl. Anhang 7).
Mit dieser Vorbereitung der Nachfragen sowie dem Entwurf der Kontaktierungen und der Fertigstellung des Leitfadens, wurden 54 Experten und Expertinnen angeschrieben. Bei einer geschätzten Rücklaufquote von etwa 30% müsste die Anzahl der fünf bis zehn Experten und Expertinnen je Gruppe erreicht werden (vgl. V.3.1). Die genaue Verteilung der Anschreiben über die drei Gruppen ist in der folgenden Tabelle 02 zusammengestellt.
Übersicht zu den Interviews Zustand Systemisch Kontaktiert 18
NLP 20
Huna 16
Gesamt 54
Tabelle 02 – Kontaktierung von Experten und Expertinnen
Auf die genauen Rücklaufquoten wird bei der Auswertung noch eingegangen. Es erfolgt nun abschließend noch die Entwicklung einer Auswertungsstrategie und zwar anlehnend an die
241
oben aufgeführte Operationalisierung der empirischen Annahmen in den fünf Problembereichen des Leitfadens.
V.4.3
Über das Vorgehen bei der Datenauswertung
Nachdem nun die Leitfadenentwicklung sowie die Kontaktierung der Experten und Expertinnen vorgestellt wurde, verbleibt noch die Vorgabe für das Verfahren der Auswertung. Wie bereits oben geschildert, liefert die hier verwendete Methode des Experten- bzw. Expertinneninterviews kein neues, standardisiertes Verfahren zur Auswertung der geführten Interviews. Einige der Vorschläge von Meuser und Nagel (1991) sind deckungsgleich mit allgemeineren Verfahren zur Auswertung qualitativer Daten, so dass auf diese allgemeinen Verfahren auch zurückgegriffen wird.
Zunächst gilt es, das Ziel der Auswertung zu bestimmen. Das Ziel bei der Auswertung ist ein Vergleich der Zustimmungen oder Ablehnungen der befragten Experten und Expertinnen zu den empirischen Annahmen. Hiermit kann das Überindividuelle und Gemeinsame der verschiedenen Beiträge ermittelt werden (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 452). Die Auswertung erfolgt dabei anhand einer vergleichenden, interpretativen Auswertungsstrategie (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 452)173. Durch eine Lockerung der regulären Auswertungskriterien von Interviews wird nicht die Sequenzialität von Aussagen das entscheidende Faktum, sondern es erfolgt eine Orientierung an den thematischen Einheiten. Inhaltlich werden also zusammengehörige, aber über das Interview verstreute Passagen zusammen ausgewertet (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 453). Der Rahmen für die Interpretation wird durch den Leitfaden gebildet, der die thematischen Schwerpunkte vorgab (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 454).
Bevor jedoch das Übergreifende im Hinblick auf die empirischen Annahmen untersucht wird, sind die audio-dokumentierten Interviews in eine geeignete Form dafür zu bringen. Dazu erfolgt zunächst eine relativ vollständige Transkription174. Dabei werden keine Notationssyste-
173
174
Meuser und Nagel verbinden bei Ihrer Variante der Auswertung die Methoden der dokumentarischen Interpretation nach Bohnsack (1989), die Auswertung bei narrativen Interviews von Schütz (1981) und die Methode der objektiven Hermeneutik von Oevermann (1979). Es wird darauf verwiesen, dass es bei offenen, leitfadenorientierten Interviews auf die inhaltliche Vollständigkeit ankommt: „Pausen, Stimmlagen, sowie sonstige nonverbale und parasprachliche Elemente werden nicht zum Gegenstand der Interpretation gemacht“ (Meuser & Nagel 1991, S. 455).
242
me verwendet, da es um den Inhalt und nicht um die Art der Kommunikation geht (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 455). Mit dem Ziel einer computergestützten Auswertung erfolgt keine Paraphrasierung175. Durch eine umfassende Kodierung von Textpassagen können die Gemeinsamkeiten heute per Knopfdruck ermittelt werden. Zum Zeitpunkt der Entwicklung des Experten- bzw. Expertinneninterviews musste die Materialverdichtung dagegen noch per Hand erfolgen, um eine Übersichtlichkeit herzustellen (vgl. dazu Meuser & Nagel 1991, S. 459). Die zu erstellenden Kodes oder Kategorien beschreiben dann „typische Erfahrungen, Beobachtungen, Interpretationen und Konstruktionen, Verfahrensregeln und Normen [...], Werthaltungen und Positionen, Handlungsmaxime und Konzepte“ (Meuser & Nagel 1991, S. 460). Sie entsprechen der Überschriftenbildung mit der Folge des Aufbruchs der Sequenzialität des Textes innerhalb von Passagen (vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 458). Im Rahmen der Kodierung ist als Hilfestellung der Leitfaden zu verwenden. Die Kodes werden dabei anhand des Leitfadens entwickelt (als deduktives Vorgehen; vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 451 ff.) und Antworten zu diesen Fragen im Text kodiert. Alternativ zum Leitfaden wird jedoch auch empfohlen, die Kodes aus dem Text entstehen zu lassen (als induktives Vorgehen; vgl. Meuser & Nagel 1991, S. 451 ff.; Kuckartz 2005, S. 63). Insbesondere die induktiven Kodes helfen dabei, den Fehler der ‚reinen Unterstützung der eigenen Forschung’ zu vermeiden (vgl. dazu oben V.2.1). Die induktiven Kodes dienen aber bei dieser Arbeit insbesondere dazu, die Methodennennungen zu den jeweiligen empirischen Annahmen zu sammeln. Die entsprechenden Textpassagen werden dabei doppelt kodiert: Einerseits deduktiv bezüglich der empirischen Annahmen und den dazu gestellten Fragen. Und andererseits induktiv je nach Methodenvorschlag. Für die Vergabe von Kodes stehen im Wesentlichen die Programme Atlas.ti und MAXqda zur Verfügung176 sowie eine Open Source Variante WeftQDA. Da letztere relativ unflexibel bei der Kategorienbildung und Bearbeitung ist und kaum grafisch gestützte Auswertungsmethoden bereit stellt, wird aus den beiden gängigen Varianten Atlas.ti und MAXqda das nach einer eingehenden Analyse persönlich handhabbarere gewählt – Atlas.ti.
175
176
Eine Paraphrasierung bedeutet die textgetreue Widergabe in den Worten von Forschern und Forscherinnen, sortiert nach den Kategorien von Meinung, Urteil, Beobachtung und Deutungen (vgl. Meuser & Nagel 1991¸ S. 456). Eine umfassende Darstellung zu Auswertungssoftware und deren Anwendung ist bereits in die Methodenliteratur eingegangen (vgl. Alexa & Zuell 1999; Kuckartz 2005).
243
Die transkribierten und elektronisch induktiv und deduktiv kodierten Daten werden nun mit Atlas.ti ausgewertet, um das Übergreifende innerhalb der Interviews zu extrahieren. Im ersten Schritt werden die Kodes, welche entlang des Leitfadens zu den einzelnen empirischen Annahmen vergeben wurden, mit allen Zitationen aus den drei Gruppen der Experten und Expertinnen in Listen ausgegeben. Anschließend wird an den Zitationen zu den Kodes die Zustimmung der einzelnen Experten und Expertinnen zu den jeweiligen Annahmen abgelesen und in einer Auswertungsmatrix notiert (vgl. dazu Anhang 8, Teil I). Die Notation erfolgt dabei als ‚ja’, ‚nein’ und ‚keine Angabe’ getrennt über die drei Gruppen der Experten und Expertinnen. Während die Auszählung der einzelnen Zustimmungen als Unterstützung der empirischen Annahmen verwendet wird, werden typische inhaltliche Zitationen für eine Zustimmung oder Ablehnung gesammelt, um diese zu vergleichen. Insbesondere durch die Reflexion von kritischen Positionen wäre das Modell an entscheidenden Stellen zu erweitern. Da nur eine geringe Anzahl von Experten und Expertinnen befragt werden kann, ist deren Zustimmung nur im explorativen Sinn als ‚Richtung’ zu verstehen. Es handelt sich bei der empirischen Untersuchung ja auch um eine explorative Vorstudie als Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung. Die Funktionalität erster Ordnung der Aspekte wäre dann, wie oben eingehend beschrieben (vgl. V.1), z.B. über mittelbare oder unmittelbare Aktionsforschung zu prüfen. Der zweite Schritt umfasst die Sammlung der Zusatznennungen. Die induktiven Kodes, welche aus dem Text entstanden sind, werden ebenfalls in Listen ausgegeben und mit Oberbegriffen versehen. Diese Oberbegriffe werden in einer weiteren Auswertungsmatrix gesammelt (vgl. dazu Anhang 8, Teil II), um durch die Anzahl der Nennungen auf eine Relevanz des Begriffes zu schließen. Die Auflistung erfolgt dabei zu jedem Oberbegriff, unterschieden zwischen den drei Gruppen der Experten und Expertinnen. Doppelnennungen bei Experten und Expertinnen werden bei der Auflistung ausgeschlossen. Der dritte Schritt im Rahmen der Auswertung ist ebenfalls auf die induktiven Kodes ausgerichtet, und zwar auf die verbleibenden Kodes zu den verwendeten Methoden je empirischer Annahme. Die entsprechenden Textstellen waren wie oben erwähnt doppelt kodiert. So können mit Atlas.ti wieder Listen zu den einzelnen empirischen Annahmen ausgegeben werden, um die jeweiligen Methoden hierbei zu selektieren. Die Methoden werden als zusätzliche Spalte in der Auswertungsmatrix zu den empirischen Annahmen notiert (vgl. dazu Anhang 8, Teil I), deren Bezeichnung erfolgt auf Basis der Methodenexkurse zu den drei Gruppen von Experten und Expertinnen (vgl. dazu Anhang 2, 3 und 4). Für die Beantwortung der empiri-
244
schen Annahme können die aufgelisteten Methoden je Annahme diskutiert und untereinander verglichen werden.
Die Ergebnisse dieser Auswertungsstrategie können nun unter dem Ziel, das Überindividuelle zu veranschaulichen, schriftlich zusammengefasst werden. Dies erfolgt im nächsten Kapitel in Anlehnung an die drei dargestellten Schritte.
Dabei wird noch einmal deutlich an den explorativen Charakter dieser Arbeit erinnert, so dass die Zustimmungen zu den Annahmen mit größter Vorsicht zu bewerten sind. Das Ergebnis kann eine Richtung der Anwendbarkeit für einzelne Faktoren und Relationen des Modells aufzeigen und eine Reihe von anwendbaren Methoden dazu darstellen. Das Ergebnis beinhaltet jedoch keine Aussage über die Wirksamkeit der jeweiligen Methoden in Bezug auf die Faktoren und Relationen, sondern es sind Empfehlungen für praktische Versuche und theoretische Experimente.
V.5 Ergebnisdarstellung Im Rahmen der obigen Diskussion wurden alle notwendigen Schritte zur Gewinnung, Aufbereitung und Auswertung der Daten auf Basis von Experten- bzw. Expertinneninterviews erläutert. Auch wurden vorher die Experten und Expertinnen in ihrer Grundgesamtheit bestimmt und deren Nähe zu konstruktivistischen Perspektiven analysiert. Auf Basis des zu Beginn dieses Teils vorgestellten Prozesses empirischer Forschung mit einem konstruktivistischen Hintergrund, erfolgt als letzter Punkt die Auswertung der empirischen Erhebung. Vor der Extraktion des Überindividuellen wird eine allgemeine Reflexion über die empirische Erhebung und mögliche, entstandene Probleme gegeben. Dabei wird insbesondere auf die Verwendbarkeit der Interviews eingegangen (V.5.1). Danach wird auf die Auswertung der Ergebnisse bezüglich jeder empirischen Annahme eingegangen, wobei die Gruppen untereinander verglichen werden (V.5.2). Jeder der fünf Problembereiche des Leitfadens (Einführung, Wahrnehmung, Rekursion, Selbstverstärkung, Lock-In & Lösung) wird der Übersichtlichkeit halber mit den dazugehörigen empirischen Annahmen in jeweils einem Unterkapitel diskutiert. Dabei wird die Anzahl der Zustimmungen und Ablehnungen zu der jeweiligen empirischen Annahme pro Gruppe aus der Auswertungsmatrix angeführt und mit gesammelten, stellvertretenden Zitationen für die Zustimmung und Ablehnung unterlegt. Die Zitierung im Fließtext erfolgt mit der Kennung „I10_N02, A. 100“, 245
also hier das zehnte Interview (I10), das zweite innerhalb NLP (N02; S für Systemisch; H für Huna) mit Absatz177 100 als Zitat. Bei Annahmen, zu denen mehrere Unterfragen entworfen wurden, wird bei deutlicher Zustimmung für die Unterfragen auch von einer Zustimmung zu der empirischen Annahme ausgegangen. Insbesondere auf Unterschiede zwischen den Gruppen bezüglich der Zustimmungen wird bei einer grafischen Zusammenstellung der Auswertungsergebnisse eingegangen. Dem folgend werden die Zusatznennungen ausgewertet, welche durch die induktive Kodierung gesammelt wurden (V.5.3). Aus der zweiten Auswertungsmatrix werden die Zusatznennungen nach Häufigkeit sortiert und der Reihe nach vorgestellt. Es werden dabei aber nur die Nennungen berücksichtigt, welche mindestens dreimal genannt wurden178. Änderungen für die empirischen Annahmen sind dabei auch zu diskutieren. Danach werden die Methodennennungen zusammengefasst, welche ebenfalls induktiv, jedoch auf Basis der Exkurse im Anhang, kodiert wurden (V.5.4). Jeder der fünf Problembereiche des Leitfadens (Einführung, Wahrnehmung, Rekursion, Selbstverstärkung, Lock-In & Lösung) wird, wie schon bei den empirischen Annahmen, der Übersichtlichkeit halber jeweils separat in einem Unterunterkapitel diskutiert. Methoden, welche nicht in den Methodenglossaren der jeweiligen Ansätze enthalten sind, werden bei der Auswertung beschrieben; bekannte Methoden werden nur aufgelistet. Als Ergebnis der empirischen Auswertung werden die Zusatznennungen sowie die Ablehnungen bezüglich der Annahmen in die zweite Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades übertragen. Daraus entsteht eine dritte Überarbeitung mit einer grafischen Darstellung, die als Ergebnis dieser Arbeit angesehen werden kann und als ‚Modell eines individuellen Pfades’ bezeichnet wird (V.5.5).
Alle Antworten zu den empirischen, wie auch zu den theoretischen Annahmen werden dann im Rahmen der zusammenführenden Diskussion über die leitende Fragestellung im letzten Teil dieser Arbeit (vgl. dazu VI) verbunden. 177
178
Wegen Atlas.ti kann nicht die Zeilennummer für ein Zitat, sondern nur der Absatz angegeben werden. Zum Teil erstrecken sich diese zwar über mehr als eine Seite, aber es gibt keine Einstellung im Programm, um präzisere Angaben durchzuführen. Die Einführung mehrerer Absätze, z.B. für jeden Satz eine, hätte die Lesbarkeit erheblich beeinträchtigt. Ziel war es dabei, die Zusatznennungen zu identifizieren, welche von mehr als einem der Experten und Expertinnen genannt wurden (Stichwort: Über-Individuelles). Die Zusätze mit nur zwei Nennungen (Ursache der Beratung ist oft nur Symptom, Multiple Ursachen für Symptome, Philosophie eines Ansatzes vs. Methoden) erweiterten die Faktoren und Relationen des Modells aber nicht und wurden daher weggelassen. Damit werden nur die mit mindestens drei Nennungen berücksichtigt.
246
V.5.1
Reflexion zum Ablauf der Interviews
Insgesamt konnte eine rege Resonanz zu diesem Thema unter den aktiven Konstruktivisten und Konstruktivistinnen festgestellt werden, was die Arbeit sehr erleichterte. Eine Vorstellung der Rücklaufquoten wird im Anschluss gegeben. Im Rahmen der Kontaktierung gab es nur bei den Anwendern von Huna Schwierigkeiten. Auch bei dem Gesprächsverlauf waren hauptsächlich die Interviews mit Anwendern von Huna nicht unproblematisch. Im Hinblick auf die oben angesprochenen Probleme bei Experten- bzw. Expertinneninterviews (vgl. V.2.2) soll dies anschließend analysiert werden. Die recht offen gestaltete Transkription (vgl. V.4.3) wurde bei allen Experten und Expertinnen um eine notwendige Transkriptionsregel ergänzt, deren Vorstellung dem folgt. Abschließend sind nur einige Randbemerkungen zu der Kodierung notwendig.
Die Kontaktierung der Berater und Beraterinnen mit dem gestalteten Anschreiben (vgl. V.4.2) schien zunächst problemlos und erfolgte von November 2006 bis Ende Juni 2007 nacheinander für alle drei Gruppen. Auf die erste Email reagierten bei den Anwendern und Anwenderinnen der systemischen Beratung 44% positiv, so dass hier genügend Experten und Expertinnen zur Verfügung standen. Bei den Anwendern und Anwenderinnen von NLP reagierten insgesamt 35% positiv, allerdings zumeist erst nach der Formulierung eines zweiten Anschreibens mit der Betreffzeile „Rückfrage wg. Experteninterview“. Dies weicht von der obigen Darstellung zur Kontaktierung der Experten und Expertinnen ab – mit der Rückfragemail wurde auf die zunächst schlechte Quote reagiert. Inhaltlich wurde in der Mail noch einmal das Interesse bekundet und zur Führung der Statistik höflich um eine Absage gebeten: „Wenn bei Ihnen kein Interesse oder einfach Zeitmangel besteht, dann wäre ich für eine kurze Absage sehr dankbar“. Bei den Anwendern von Huna reagierten nur 13% auf das erste Anschreiben. Bei der zweiten Nachfrage wurde der Betreff abweichend zur vorher dargestellten Version wie folgt geändert: „Nachfrage zum Experteninterview über Huna“. Es wurde angenommen, dass die Anwender von Huna diese Arbeit durch den Betreff der ersten Email für sich als nicht relevant eingestuft hatten. Diese Vermutung traf anscheinend zu, denn es konnte eine Quote von 50% mit dem zweiten Anschreiben erzielt werden. Von allen Gruppen standen demnach etwa gleich viele Experten und Expertinnen zur Verfügung (7 oder 8), was zudem im Rahmen der geschätzten Anzahl von fünf bis zehn Interviews lag. Entgegen den dargestellten Risiken bei der Verwendung von Experten- bzw. Expertinneninterviews (vgl. V.2.2) lag durch die Nachfragen kein ‚einfacher’ Feldzugang vor, sondern dieser wurde durch Nach247
fragen erst eröffnet. Selbst die Institutionalisierung der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund garantierte keine Teilnahme. Eine Übersicht über die Kontaktierungen gibt die folgende Tabelle:
Übersicht zu den Interviews Zustand
Systemisch
NLP
Huna
Gesamt
Kontaktiert
18
20
16
54
10
13
8
31
8 44%
7 35%
8 50%
23 43%
Keine Antwort / Abgelehnt Durchgeführt Rücklauf-Quote
Tabelle 03 – Rücklaufquoten
Der Gesprächsverlauf war zumeist reibungslos. Jedoch ist die Annahme, prinzipiell von einem guten Verlauf von Experten- bzw. Expertinneninterviews auszugehen, in der Tat höchst risikoreich (vgl. V.2.2). Die gesamten Interviews begannen mit einem etwas ‚holperigen’ Einstieg, da versucht wurde, recht oft den Leitfaden ins ‚Auge zu fassen’. Durch die kontinuierliche Beschäftigung mit dem Leitfaden und dem Erfahrungszuwachs verliefen die Gespräche zum Ende hin viel ‚flüssiger’. Allerdings hatte der Erfahrungszuwachs auch zur Folge, dass die Reihenfolge der Fragen je nach Gesprächssituation stärker angepasst wurde. Dies führte dazu, dass manchmal nicht alle Fragen direkt formuliert wurden, jedoch indirekt schon bei Antworten zu anderen Fragen – oder durch kurze Nachfragen – fielen. Problematisch ist dies keinesfalls, sondern es ergibt sich nur eine etwas mühsamere Kodierung. Insbesondere deshalb, da nicht zwangsläufig die Gesprächslogik der Stringenz des Leitfadens gehorcht. Prinzipiell ist aber genau das der Vorteil von offenen und dennoch strukturierten Experten- bzw. Expertinneninterviews. Die Anwendung der Expertensprache hat in den Interviews in Gänze zu guter Resonanz geführt: „Sie kennen sich schon ganz gut aus!“ (I10_N02, A. 492). Die Gespräche liefen auf hohem fachlichem Niveau und es wurden einige Beispielfälle im Detail beschrieben. Die Zielrichtung des Co-Expertentums mit Sprachkenntnissen der befragten Experten und Expertinnen hatte wie gewünscht einen Faktenreichtum zur Folge, bei dem auch Methoden im Detail diskutiert wurden. Für die Gruppe der systemischen Experten und Expertinnen sowie für die mit NLP als Hintergrund reichten die durchgeführten Interviews daher aus, um eine theoreti248
sche Sättigung zu erreichen. Dies äußerte sich durch hohe Zustimmung, seltene Kritik und wenige Ergänzungen über die geführten Interviews hinweg. Allerdings sind insbesondere die ersten Interviews mit Experten und Expertinnen von Huna nicht sehr erfolgreich verlaufen (vgl. V.2.2). Zwar wurde der Interviewer - und Autor dieser Arbeit - dort nicht als Kritiker, aber dafür als Laie wahrgenommen. Entsprechend den obigen Warnungen zu dem Laien-Status bei Experten- bzw. Expertinneninterviews verliefen die ersten Interviews mit Anwendern von Huna mühsam und sehr unstrukturiert. Obwohl einige kurze Eingangsfragen das Gespräch eröffnen sollten, kippte dieses zumeist in narrative Sequenzen zu vielfältigen Themen. Die Steuerbarkeit schien verloren zu sein und auch Nachfragen, um wieder zu dem Gesamtthema zurückzuführen, erzielten nicht den erwünschten Effekt auf Dauer. Ursächlich für diese Entwicklung könnte die Altersdifferenz zu einigen der Experten und Expertinnen von 30 bis 40 Jahren gewesen sein. Ebenso wäre die Selbstwahrnehmung der Experten und Expertinnen oder die missglückte Co-Expertendarstellung eine mögliche Erläuterung. Obwohl die Interviews mit Anwendern von Huna als letzte Gruppe erfolgten, konnte erst durch weitere Übung bei den letzten Interviews mit Anwendern von Huna eine sehr reiche Informationsbasis hinsichtlich des Leitfadens generiert werden. Blockierungen oder Rollentausch als Risiko bei Experten- und Expertinneninterviews (vgl. V.2.2) gab es nicht. Für die Interviews mit den Experten und Expertinnen von Huna folgt daraus einerseits, dass die Verwendung hinsichtlich der empirischen Annahmen nicht mehr für alle Faktoren und Relationen gegeben ist. Andererseits ist für einige Fragen eine Informationsflut entstanden, weshalb diese wahrscheinlich als Erweiterungen in das Modell übernommen werden können. Eine Erweiterung der Datenbasis im Sinne der theoretischen Sättigung konnte leider nicht erzielt werden, da bereits alle 16 Experten und Expertinnen mit einem Beratungsbezug zur Bearbeitung individueller Konstruktionen angeschrieben wurden (vgl. zur Anzahl V.3.2). Die weitere Verwendung kann daher nur mit gebotener Vorsicht erfolgen.
Bei der Transkription der ersten Interviews wurde deutlich, dass häufige Abbrüche der Sätze erfolgten. Zumeist geschah dies an Stellen, wo zwischen Beispielen und Generalisierungen gewechselt wurde oder bei dem Ringen um das ‚richtige’ Wort. Auf Basis dieser Interviews wurde die Transkriptionsregel der Überflüssigkeit von Notationssystemen aufgeweicht und für den Satzabbruch die besondere Symbolik ‚/’ eingeführt (in Anlehnung an Glinka 2003). Hierdurch waren die Transkripte wesentlich besser lesbar und konnten einfacher kodiert werden. 249
Bei der Kodierung wurde entsprechend der Vorstellung zur Auswertung (vgl. V.4.3) zum einen anhand des Leitfadens deduktiv und zum anderen induktiv kodiert. Bei der induktiven Kodierung wurden aber nicht nur für Methodennennungen (Y) sowie die Zusatzinformationen (X) Kodebereiche erstellt und fortlaufend nummeriert (z.B. „X-Zusatz010-Emotion“). Auch einige Fragen wurden beispielsweise mit zusätzlichen Kodes versehen. Bei dem deduktiven Kode zur zweiten Frage „B-Einstieg2-Zertifizierung“ wurden induktiv die beiden Kodes „BEinstieg21-Zertifizierung ja/nein“ und „B-Einstieg22-Zertifizierung welche“ ergänzt. Problematisch waren zum Teil die Nennungen der Methoden, da diese nicht zwangsläufig an den Bezeichnungen der Lehrbücher orientiert waren. Vielmehr wurden sie bei den Interviews in Form von Beispielen eingebracht, so dass die Zuordnung nur unter Zuhilfenahme der vorab vorgestellten Methoden möglich war. Nicht eindeutig zuzuordnende Angaben wurden nicht mit in die Auswertung übernommen.
Wenn auch einige kleinere Anpassungen während der Durchführung erfolgt sind, so konnten die Auswirkungen auf die Auswertung doch minimal gehalten werden. Eine detaillierte Präsentation der Ergebnisse schließt daher im nachfolgenden Unterkapitel an.
V.5.2
Ergebnisdarstellung in Bezug auf die Annahmen im Modell
Nachdem nun eine allgemeine Reflexion der empirischen Arbeit erfolgte, bei der die Verwendung aller Interviews befürwortet wurde, erfolgt nun die Darstellung der Auswertungsergebnisse. Jeder der fünf Problembereiche des Leitfadens wird der Übersichtlichkeit halber mit den dazugehörigen empirischen Annahmen in jeweils einem Unterunterkapitel diskutiert. Die Nennungen der Experten und Expertinnen der unterschiedlichen Gruppen werden dabei verglichen, wobei die Ordnung an der Darstellung der Ansätze angepasst wurde (Systemisch, NLP, Huna). Begonnen wird mit der Darstellung der Ergebnisse zu den Einführungsfragen (V.5.2.1), woraufhin die Ergebnisse zur Wahrnehmung (V.5.2.2) folgen. Nachgeordnet wird die Vorstellung der Ergebnisse zur Rekursion (V.5.2.3), sowie zur Selbstverstärkung (V.5.2.4). Den Abschluss der Auswertung zu jeder empirischen Annahme bildet die Darstellung der Ergebnisse zum Lock-In und der Lösung (V.5.2.5). Abgerundet wird dieses Kapitel mit einer grafischen Übersicht zu den absoluten Nennungen (V.5.2.6), wobei dann auch die Unterschiede in Bezug auf die Zustimmungen diskutiert werden.
250
V.5.2.1
Einleitende Kontrollfragen
Bei dem ersten Frageblock ging es um Einstiegsfragen zur Aufwärmung beider Gesprächspartner. Diese Fragen wurden mit Kontrollen zum jeweiligen Hintergrund verbunden, um frühzeitig mögliche Experten und Expertinnen auszugliedern, welche sich nicht in die entsprechende Gruppen einordnen ließen.
Die erste Frage war darauf ausgerichtet zu kontrollieren, wie sich die Experten und Expertinnen jeweils selbst bezeichnen. Hieraus sollten Rückschlüsse auf die Verwertbarkeit der Interviews gezogen werden. Alle acht befragten Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund bezeichneten ihren Ansatz selbst auch als systemisch: „ja, systemisch“ (I01_S01, A. 48), „Das ist ein systemischer Ansatz“ (I07_S07, A. 29). Einer oder eine gab an, sich nur mit dem Systemischen zu beschäftigen: „Eindeutig systemisch und nur systemisch“ (I08_S08, A. 30), um gleich danach den Ansatz doch zu erweitern. Insgesamt verwenden fünf der acht Experten und Expertinnen auch mindestens eine andere Richtung. Dies kann an den folgenden Aussagen verdeutlicht werden: 1) „ich glaube nicht, dass ich rein systemisch arbeite. […] Und wenn Sie mir jetzt […] ne tolle Idee erzählen […] dann würde ich die ohne weiteres einbauen“ (I01_S01, A. 48). 2) „ich bin auch Gestalttherapeutin […] in Bezug auf […] mein Klientel, mache ich beides in einem Prozess“ (I02_S02, A. 20-30). 3) „Also Systemtheorie und Verhaltens-/ Therapie“ (I04_S04, A. 35). 4) „Controlling im Groben“ (I06_S06, A. 13). Und 5) „Also diese systemische Beratung auf Arbeitspsychologie“ (I08_S08, A. 30). Alle angeführten Zitate weisen darauf hin, dass nach Einschätzung dieser Experten und Expertinnen eine reine Fokussierung für sie nicht tragfähig war. Für die Auswertung wird darin kein Problem gesehen, da die Experten und Expertinnen zusätzlich auf andere Ansätze zurückgegriffen haben und nicht den systemischen Ansatz verwarfen. Nach diesen Ergebnissen können alle Interviews der systemischen Experten und Expertinnen verwendet werden. Die sieben Befragten mit NLP als Hintergrund gaben an, auch alle mit dem NLP zu arbeiten. So ist die Verwertbarkeit der Interviews gewährleistet. Allerdings sind nicht alle Experten und Expertinnen mit dem NLP im Gesamten einverstanden (z.B. I11_N03, A. 59). Zwei der Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund verwenden auch systemisches Wissen: „der wichtigste Rahmen oben drüber ist/ das ist einfach der systemische Ansatz“ (I09_N01, A. 33) oder „ich arbeite systemisch, ja, zum einen und zum anderen auf der Basis von NLP“ (I10_N02, A. 30). Auch Abwandlungen des systemischen Ansatzes werden als weitere Alter251
nativen eingebracht: „hypnosystemische Konzepte“ (I12_N04, A. 40). Darüber hinaus werden bei vier von sieben der Experten und Expertinnen gänzlich andere Richtungen eingebunden: Das EFT179 (vgl. I09_N01, A. 35), C. G. Jung und die transpersonale Psychologie (vgl. I11_N03, A. 61), „Rogers, klientenzentrierte Ansätze […] viel psychoanalytischen also dynamischen Kram“ (I13_N05, A. 38), sowie Gestalttherapie (vgl. I15_N07, A. 36). Die Ergebnisse zeigen, dass auch bei den befragten Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund eine Fokussierung nur auf diesen Ansatz zumindest bei einigen nicht als adäquat empfunden wurde. Da drei von sieben auf den systemischen Ansatz zurückgegriffen haben, scheint es, als würden sich diese Ansätze gut ergänzen. Hiermit wird also im Nachhinein die Beschäftigung mit NLP als eine gute Entscheidung bestätigt. Allerdings scheint auch diese Kombination noch einige Schwachstellen zu besitzen, da sonst die Berater und Beraterinnen nicht auf weitere, zusätzliche Ansätze zurückgegriffen hätten. Nach dieser Diskussion können aber alle Interviews für die weitere Auswertung verwendet werden. Bei den acht Befragten Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurde diese Frage von einigen der Interviewten nur indirekt beantwortet. So folgte beispielsweise der Aussage: „Ich bin ein gegenüber als Mensch, als Mitmensch. Das ist mein Ansatz“ (I16_H01, A. 47) die Spezifizierung „Ich habe ja dort gelebt und er [Serge Kahili King] hat mir auch viel bei meinem Wachstum geholfen“ (I16_H01, A. 67; im Original ohne Einfügung). Andere erwähnten ihren Bezug direkter, wie z.B. „Teil meines Weges war auch Serge King“ (I17_H02, A. 50) oder „ein Verdienst von dem Serge Kahili King. Also mein Huna-Lehrer“ (I18_H04, A. 21). Insgesamt aber konnte bei allen acht Interviews der Bezug zu Huna hergestellt werden. Somit können auch diese acht Interviews für die weiterführende Auswertung verwendet werden.
Zur Spezifizierung der Beratungsrichtung wurde in der zweiten Eröffnungsfrage nach Zertifikaten gefragt. Hiermit sollte die Zugehörigkeit weiter gestützt werden. Bei den acht systemischen Experten und Expertinnen wäre diese Frage hinfällig gewesen, da die Adressen über die Datenbanken der großen Verbände SG und DGSF gewonnen wurden. Zur Aufwärmung war diese Frage aber sehr wohl geeignet. Neben den systemischen Zertifi-
179
‚EFT’ bedeutet ‚emotional freedom technique’ und versteht Probleme als Indikator für emotionale Anspannungen, die durch eine Klopftechnik abgebaut werden können. Hinter dem Konzept von EFT steht Gerry Craig. Weitere Informationen dazu gibt es auf: http://www.emofree.com. Auch ein europäischer Dachverband mit Ausbildungsrichtlinien wurde kürzlich gegründet (vgl. http://www.eft-dach.org).
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katen lagen zusätzlich bei zwei Experten bzw. Expertinnen Zertifikate der DGSV180 vor und eine weitere war als Gestalttherapeutin zertifiziert. Die weitere Verwendung aller acht Interviews der systemischen Experten und Expertinnen wurde durch diese Antworten nicht eingeschränkt. Auch bei den sieben Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wäre diese Frage hinfällig gewesen, da auch ihre Adressen über die Datenbank des großen Verbandes DGNLP aufgestellt wurden. Innerhalb der NLP-Zertifikate wird nach den Experten und Expertinnen allerdings noch unterschieden in Practitioneer (Selbstanwender), Master (Meister), Lehrtrainer und Lehrcoach (vgl. z.B. I09_N01, A. 76). Fünf der sieben Experten und Expertinnen waren Lehrtrainer oder Lehrcoach, einer oder eine der Befragten hatte einen Master. Nur einer oder eine erwähnte den Abschluss ihrer Ausbildung nicht, betonte aber eine Ausbildung gemacht zu haben (vgl. I15_N07, A. 50). Ein abweichendes Zertifikat lag einmal für WingWave vor (I11_N03, A. 75), andere Inhalte wurden durch Wochenendkurse oder das Selbststudium ohne Abschluss erworben. Nach den Ergebnissen zur Zertifizierung in NLP musste demnach kein Interview aussortiert werden. Bei den acht Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund stellte sich trotz der Adressermittlung über Aloha International die Frage als äußerst relevant heraus. Bezüglich der Zertifizierungen gab es bei dieser Gruppe von Experten und Expertinnen einige Differenzen. Prinzipiell können bei Huna nach Serge Kahili King Zertifikate nur auf Hawaii erworben werden (vgl. I20_H05, A. 75). Mit dem Zertifikat werden die Personen Alaka’i oder Lehrer (vgl. I21_H06, A. 72, 80) bzw. ein Dynamind-Praktiker (vgl. I21_H06, A. 98). Anwender, die Seminare in Deutschland besuchen, erhalten nur eine Teilnahmebestätigung. Weitere Lernmöglichkeiten sind Workshops von Serge Kahili King auf CD und Video oder seine Bücher (vgl. I21_H06, A. 68). Von den acht interviewten Experten bzw. Expertinnen waren sechs entweder auf Hawaii oder haben seine Seminare in Deutschland besucht. Einer der acht Experten und Expertinnen wird aber aus der Analyse aussortiert, da dieser nur einige Bücher zu dem Thema im privaten Bereich gelesen hatte: „nur mit dem Studium der Huna Bücher bin ich nicht weiter gekommen“ (I17_H02, A. 55). Dieser fokussierte seine Arbeit nach der Lektüre der Bücher über Huna auf AVATAR®181 (vgl. I17_H02, A. 57) und Soul, Mind, Body Medi180 181
Die DGSV ist die Deutsche Gesellschaft für Supervision e.V. mit der Website www.dgsv.de. Hinter dem Konzept von AVATAR® steht Harry Palmer mit der Organisation Star’s Edge Inc. AVATAR® wird als gradliniger Selbstentfaltungskurs ohne Glaubensgrundsätze oder Sektenmitgliedschaften verstanden. Weitere Informationen gibt es auf: http://www.avatarepc.de.
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cine182 (vgl. I17_H02, A. 50). Da sich das ganze Interview um diese neuen Varianten drehte, muss eine Ausgrenzung erfolgen. Ein weiterer Experte bzw. eine weitere Expertin gab keine eindeutige Auskunft über eine Zertifizierung. Allerdings wurde ein deutlicher Bezug der selbstständigen Arbeit zu Huna und im Speziellen zu Serge Kahili King hergestellt. Im Rahmen einer Nachfrage wurde Huna nach King als Methodenbasis und HUNA™ nach Max Freedom Long als Nachschlagewerk angesehen: „Serge gibt einen Haufen Dinge, die entweder funktionieren oder nicht funktionieren. Wenn es aber nicht funktioniert, hat Max Freedom Long die Antworten auf das ‚Warum es nicht funktioniert und was ich tun kann, damit es funktioniert’“ (I18_H03, A. 297). Dies wird als Zusatzinformation mitgeführt und der Experte oder die Expertin verbleibt mit dem deutlichen Methodenbezug zu Serge King in der Gruppe. Zusammenfassend können von den acht Interviewten mit Huna als Hintergrund also sieben weiter berücksichtig werden.
Die dritte Frage der Aufwärmphase umfasst die Kontrolle des Beratungsaufkommens. Dieses variiert zwischen den Experten und Expertinnen zum Teil erheblich, wobei keine Rückschlüsse auf die Qualität der Aussagen gezogen werden konnten. Bei den acht systemischen Experten und Expertinnen ist die Beratungstätigkeit nicht der einzige Job. Daher reichte das Antwortspektrum zu dieser Frage auch von „ein Tag im Monat“ (I01_S01, A. 60) über Halbtagstätigkeit (vgl. I04_S04, A. 85) bis zur 40 Stunden Woche (vgl. I02_S02, A. 28). Insgesamt sind fünf der acht Berater und Beraterinnen hauptberuflich dabei. Auch wenn bei einem der angeführten Interviews nur von einem Tag Erfahrung pro Monat im Sinne der Nebentätigkeit gesprochen wurde, ist durch die langjährige Erfahrung dennoch von qualitativ hochwertigen Aussagen auszugehen. Einschränkungen der Interviews ergeben sich also über die Beratungstätigkeit nicht. Alle sieben Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund hatten regelmäßige Erfahrungen, jedoch variierte auch deren Anwendung stark. Dies begann bei einigen wenigen Einzelstunden seit Abschluss der noch ‚frischen’ Ausbildung (vgl. I12_N04, A. 62) und steigerte sich über 2 Coachings pro Monat (vgl. I14_N06, A. 49). Aber auch ein hohes Aufkommen bei regulärer Arbeitszeit wurde genannt: „gerade jetzt, 35% Coaching“ (I10_N02, A. 99) oder „Hauptbeschäftigung und mein Haupteinkommen“ (I11_N03, A. 99). Problematisch könnte 182
Hinter dem Konzept von Soul, Mind, Body Medicine steht Dr. Zhi Gang Sha. Zentral bei diesem Ansatz ist die ‚Seelensprache’ bzw. die Ansprache der menschlichen ‚Seele’ zur Heilung des Körpers und auch des Geistes. Auch hierzu gibt es weitere Informationen im Internet auf: http://www.drsha.com.
254
im Prinzip nur die erste Nennung der Bandbreite sein, da hier nur wenige Coachings vorlagen. Jedoch wurden mehrfach im Monat Trainings mit mehreren Personen durchgeführt (vgl. I12_N04, A. 61-62), wobei neben sachlichen Informationen NLP zum Einsatz kam: „Ja, wende ich auch NLP an. Nicht nur, das geht nicht. […] Aber viel NLP“ (I12_N04, A. 76). Daher werden die Interviews der sieben Befragten Experten und Expertinnen mit NLP nicht reduziert. Bei den verbleibenden sieben Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurde nur bei dreien eine Aussage zur Häufigkeit der Beratung generiert. Bei den anderen konnte diese Frage auf Basis der bereits reflektierten, entglittenen Gesprächsführung nicht platziert werden. Die drei Aussagen bezüglich der Häufigkeit von Beratungen waren zudem nur indirekt gegeben. Darin enthalten war eine regelmäßige Lehr- und Coaching-Tätigkeit (vgl. I18_H04, A. 11) aber auch eine hauptberufliche Anwendung (vgl. I21_H06, A. 20). Ein Grund zur weiteren Aussortierung konnte nicht ermittelt werden und so verblieben alle, nun auf sieben reduzierten Experten und Expertinnen, in der Gruppe der Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund.
Als letzte Einstiegsfrage wurde formuliert, ob die Methoden nur für Systeme (also Gruppen) oder auch für lebende Systeme (also Individuen) angewendet werden. Hiermit sollte insbesondere bei den systemischen Experten und Expertinnen deren Fokussierung überprüft werden. Alle acht systemischen Experten und Expertinnen verwenden die Methoden bei Einzelnen, Paaren oder Gruppen. Stellvertretend für die Gesamtmeinung können die Statements „ich mach das mit Einzelnen, mit Gruppen, egal“ (I01_S01, A. 62) oder „sowohl als auch“ (I05_S05, A. 31) angesehen werden. Bei den befragten Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund gilt zudem: „Wenn man da ein Element aus dem System verändert, dann verändert sich das gesamte System“ (I07_S07, A. 39). Damit kann also schon durch die Beratung des Einzelnen eine Gruppe verändert werden. Es wird aber auch herausgestellt, dass Organisationen zumeist eine Gruppenmethode anfragen und „daraus sich manchmal ein Einzel-Coaching entwickelt“ (I02_S02, A. 28). Nur bei kleinen Organisationen, oft Familienunternehmen des Mittelstandes, wird direkt in der Managementebene ein Coaching durchgeführt (vgl. I06_S06, A. 29). Diese Ergebnisse unterstützen die oben aus der Literatur extrahierte Position, dass systemische Methoden auch direkt für einzelne Individuen anwendbar sind. Dies ermöglicht auch die weitere Beschäftigung mit allen interviewten Experten und Expertinnen.
255
Bei den sieben Befragten mit NLP als Hintergrund herrscht Einigkeit über das Verwendungsspektrum, was das folgende Statement zusammenfassend beschreibt: „einerseits die Organisation oder die Gruppe […] und natürlich aber auch den Menschen selber“ (I09_N01, A. 33). Von einem Experten oder einer Expertin, die beide Herangehensweisen des Einzel- und Gruppentrainings als notwendig erachtete, wurde folgendes angefügt: „Aber beides hat seine Grenzen. Und ich halte eine Kombination für ganz geeignet. Ich habe es oft schon erlebt, dass es in mancher Gruppe nicht weiter ging nach einem Training und ich dann eher als Einzelperson als/ zum Einzelgespräch gefragt wurde. Und dann auf einmal ging der Gruppenprozess weiter“ (I15_N07, A. 70). Diese Anmerkung wird als Zusatzinformation in die Endauswertung eingebracht, wobei weiterhin alle sieben Interviews verwendet werden können. Bei den verbleibenden sieben Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurden vier Antworten in einer gemeinsamen Richtung gegeben. Nach den Experten und Expertinnen ist „eine Gruppe zwangsläufig immer oberflächlicher als eine einzige Sache“ (I20_H05, A. 426). Es gibt nach den befragten Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund Methoden, die speziell für Gruppen ausgerichtet sind „The Kupono Process For Groups“ (I21_H06, A. 88)183. Die Experten und Expertinnen arbeiten mit Gruppen aber mehr in Bezug auf die Vermittlung der theoretischen Basis von Huna (vgl. I20_H05, A. 155) als in Bezug auf die die Anwendung gruppenspezifischer Methoden. Allerdings sahen die befragten Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund eine ähnliche Ausstrahlungswirkung durch Coaching, wie die systemischen Experten und Expertinnen: Das Einzel-Coaching „würde die ganze Firma beeinflussen“ (I22_H07, A. 64). Auf dieser Basis können alle verbleibenden sieben Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund weiter berücksichtigt werden.
Auf Grund der Antworten zu den Einführungsfragen in der Aufwärmphase können alle acht systemischen Interviews und auch alle sieben Interviews mit Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund für die weitere Auswertung verwendet werden. Eines der acht Interviews mit Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund musste auf Basis der Antworten zu den Einführungsfragen aber ausgegliedert werden. Nun folgt die Ergebnisdarstellung des zweiten Frageblocks zur Wahrnehmung.
183
Dieser Kupono-Prozess wurde nicht weiter vorgestellt und auch nicht erfragt, da es primär um das Individuum und den intra-individuellen Lock-In ging.
256
V.5.2.2
Annahmen zur Wahrnehmung
Nach der obigen Diskussion der Antworten im Rahmen der Einführungsfragen in der Aufwärmphase werden im Folgenden die Ergebnisse der Fragen zur Wahrnehmung vorgestellt werden.
Bei der Konstruktionsannahme (AE1.1) wurde die Beurteilung der Faktoren ‚Handlung’ und ‚Wahrnehmung’ zur Erschaffung der individuellen Welt im Rahmen der Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins adressiert. Diese wurde über vier einzelne Fragen mit den befragten Experten und Expertinnen diskutiert. Das Ergebnis der acht Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zeigt folgendes Bild. Die Antworten zur ersten Frage, über die Konstruktion der Welt, kann mit dem folgenden Statement zusammengefasst werden: „Das ist für mich die Grundlage auf der ich arbeite“ (I02_S02, A. 42). Diese Position vertraten alle. Nur ein Experte grenzte sich noch einmal deutlich von der solipsistischen Argumentation ab, vermischt dies aber mit einer radikalkonstruktivistischen Perspektive (vgl. I04_S04, A. 87). Als Nachprüfung wurde die Wertigkeit im Sinne einer Lebensphilosophie oder eines Handwerkszeugs adressiert. Auch hier ist die Haltung aller acht beteiligten Experten bzw. Expertinnen mit systemischem Hintergrund positiv im Hinblick auf die Lebensphilosophie. Als Beispiel kann folgendes Zitat gelten: „Ich denke es ist inzwischen eine weltanschauliche Grundhaltung bei mir“ (I03_S03, A. 38). Im Privaten funktioniert diese Lebensphilosophie nach den Aussagen der Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zwar nur eingeschränkt, obwohl eine gänzlich andere Überzeugung nach ihnen nicht vorstellbar wäre: „Man tut sich sehr schwer, wenn man beratend tätig ist und in Beratungszusammenhängen anderes/ andere Überzeugungen hat als privat“ (I02_S02, A. 52). Im Privaten ist es manchmal nur die fehlende Präsenz der Idee von Konstruktion in einer Problemsituation (vgl. I01_S01, A. 72), es ist aber auch die Selbst-Beteiligung am Problem (vgl. I02_S02, A. 56; I08_S08, A. 62), welche Schwierigkeiten hervorbringen. Nur einer oder eine der Befragten wies auf die Unkonstruierbarkeit einzelner Parameter im privaten Leben hin, was der vollständigen Integration der Perspektive widerspricht (vgl. I07_S0, A. 43: Miete, Krankenversicherung). Zur Frage der Reichweite auch im privaten Bereich ist auf Grund der großen Anzahl positiver Nennungen von einer hohen Zustimmung auszugehen. Aus den kritischen Argumenten wird geschlossen, dass eine persönliche Involvierung in ein Problem das Bewusstsein über die Konstruktivität durchaus beeinflussen kann. Dieser Aspekt wird als Zusatzinformation notiert. Die letzte Unterfrage zur Konstruktionsan257
nahme adressierte die Offenlegung dieser Sichtweise als Teil des Beratungsprozesses, so dass die Philosophie an den Klienten weitergegeben wird. Im Prinzip ist der Grundtenor: „es kommt darauf an“ (I08_S08, A. 64). Sechs der acht Experten bzw. Expertinnen reagieren auf die Klienten und Klientinnen und sprechen z.B. davon, dass jeder eine „eigene Welt“ (I03_S03, A. 36) hat. Sie verwenden also leicht angepasste Worte in der Beratung. Manchmal versuchen sie es aber eher implizit durch eine Aufweichung der Konstruktion mit abweichenden Fragen (vgl. I01_S01, A. 78; I06_S06, A. 43). Nur zwei schlossen diese Verwendung mit der folgenden Begründung aus: „das ist zu wissenschaftlich“ (I04_S04, A. 103). Zudem verstößt diese rationale Argumentation gegen die Achtung vor dem Individuum mit anderer Meinung (vgl. I07_S07, A. 53). Aus den Ergebnissen zu den vier Teilfragen kann hinsichtlich der Konstruktionsannahme (AE1.1) geschlossen werden, dass die subjektive Konstruktion eine Grundlage für den Beratungsprozess bildet und diese je nach Klientel direkt oder implizit zur Problembearbeitung verwendet wird. Schwierigkeiten gibt es nur im privaten Bereich diese Perspektive vollständig umzusetzen (3. Teilfrage). Für die Konstruktionsannahme (AE1.1) wurde bei den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund Zustimmung erzielt. Alle sieben Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund gaben zur Frage über die Konstruktion von Wirklichkeit ebenso eine klare Antwort. Diese kann mit dem folgenden Statement zusammengefasst werden: „Eine Grundannahme, die sich immer wieder bestätigt. Das heißt, ich konstruiere meine Realität, meine Wahrnehmung und andere“ (I15_N07, A. 83). Bei der zweiten Frage, welche die Reichweite dieser Grundposition als Lebenseinstellung überprüfen sollte, ergab sich, dass sechs der sieben Experten und Expertinnen diese Perspektive als ihre Lebenssicht interpretieren: z.B. „Ja, für mich ist das Alltag. Wollen sie ein Beispiel?“ (I12_N04, A. 116), „Uneingeschränkt“ (I11_N03, A. 113) oder „weil das auch wie eine Lebenseinstellung ist“ (I14_N06, A. 99). Nur einer oder eine der Befragten gab keine Antwort dazu. Auch durch die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund erfolgte wieder eine Einschränkung der Verwendbarkeit im privaten Bereich – die dritte Teilfrage. Ähnlich wie bei den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund benannte einer oder eine der Befragten mit NLP als Hintergrund den Grund für das Scheitern im Privaten: „Das ist schon auch irgendwo klar. Nur ist es schwer, das zu einer gefühlten Erkenntnis zu machen im privaten Bereich, wenn Emotionen beteiligt sind.“ (I10_N02, A. 117). Diese emotionale Selbst-Beteiligung im Privaten wird daher auch als Zusatzinformation in die Endauswertung eingebracht. Die zweite Einschränkung gab es zu der Frage in der Hinsicht, als für die eigene Veränderung der Auftrag selbst gegeben werden kann – im Freundeskreis ist dieser 258
Auftrag aber nicht gegeben: „von meinen Freunden habe ich keinen Auftrag“ (I15_N07, A. 129). Die vierte und letzte Frage zur Konstruktionsannahme (AE1.1) adressierte die Offenlegung dieser Sichtweise als Teil des Beratungsprozesses. Auch wenn im Prinzip alle sieben Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund eine Offenlegung dieser Gedanken verfolgen und dies auch für nützlich halten, verwenden fünf dazu andere Worte: „Jeder Mensch hat seine eigene Landkarte“ (I14_N06, A. 93) oder Beispiele (vgl. I12_N04, A. 90). Zwei reagieren immer auf die jeweilige Situation und versuchen sich dem Sprachvermögen der Klienten und Klientinnen anzupassen (vgl. I12_N04, A. 98; I13_N05, A. 96). Zusammenfassend werden also alle Teilfragen zur Konstruktionsannahme (AE1.1) zustimmend beantwortet. Die Einschränkungen beziehen sich nur auf die methodische Anwendung, sowie die Schwierigkeiten bei der privaten Verwendung. Die Antworten der sieben Experten bzw. Expertinnen mit Huna als Hintergrund sind – wie zu erwarten war – an das erste Prinzip aus Huna angelehnt. Manchmal wurde dies direkt geäußert: „Die Welt ist, was du glaubst, das sie ist“ (I18_H03, A. 54). Zum Teil aber auch ein wenig umschrieben: „Und jeder Vogel in diesen Wald, der Erde von mir aus, soll singen. Er soll sein Lied singen. Manche Lieder sind ähnlich“ (I16_H01, A. 51). Jeder traf dazu eine ähnliche Aussage. Die zweite Frage war darauf ausgerichtet, die Reichweite von Huna im eigenen Leben in Erfahrung zu bringen. Sechs der sieben Experten und Expertinnen sprechen von einem persönlichen Lebenswandel, nachdem sie mit Huna in Kontakt gekommen sind (vgl. I16_H01, A. 47; I18_H04, A. 63; I20_H05, A. 47; I21_H06, A. 146; I22_H07, A. 18; I23_H08, A. 43). Sie haben auf ihr Leben einen neuen Blick erhalten und diese Perspektive integriert. Da niemand Huna als reines Handwerkszeug verwendet, kann von der Akzeptanz einer hohen Reichweite ausgegangen werden. Bei der dritten Frage zur Präsenz dieser Perspektive im privaten Leben sind nur zwei Antworten gefallen, die beide auf Schwierigkeiten hinweisen. Gründe wurden aber nicht genannt: „Und trotzdem habe ich meine menschlichen, drolligen 5 Minuten“ (I16_H01, A. 51) und „Also, ich versuche danach zu leben“ (I18_H04, A. 63). Die abschließende Frage adressierte die Offenlegung dieser Perspektive und dazu gab es nur drei Antworten. Einer oder eine der Befragten erklärte direkt: „bringe ich denen ziemlich schnell die sieben Prinzipien bei“ (I20_H05, A. 155). Einer oder eine andere der Befragten reagiert auf die Bereitschaft ihrer Klienten und Klientinnen, es indirekt oder direkt durchzuführen (vgl. I21_H06, A. 23). Im dritten Interview wird nur auf die Verwendung von Symbolen verwiesen: „Und da muss ich noch nicht mal sagen: Das ist jetzt HUNA oder das ist schamanisches Denken, sondern ich arbeite mit den Symbolen“ (I23_H08, A. 43). Zusam259
mengefasst kann also gesagt werden, dass bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund auch von einer Zustimmung zur Konstruktionsannahme (AE1.1) auszugehen ist. Genau wie bei den vorherigen beiden Gruppen gibt es aber unterschiedliche Ansätze bezüglich der offenen Verwendung dieser Perspektive als Methode. Im privaten Bereich kann durch die wenigen Antworten keine Aussage getroffen werden.
Bei der Virtualitätsannahme (AE1.2) wurde erfragt, ob die Experten und Expertinnen das sensorische Erleben wie auch die Imagination zur Erschaffung der individuellen Welt als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins verwenden. Sechs der acht Experten bzw. Expertinnen sehen die Möglichkeit dieser inneren Konstruktion als Imagination, wobei drei Korrekturen angeboten werden. Einerseits geschehe derartige virtuelle Konstruktion dadurch, dass „es Träume gibt, vorbewusste Erfahrungen gibt“ (I02_S02, A. 80). Damit wurde die Verortung der virtuellen Konstruktion in die Traumebene gesetzt. Einer oder eine der Experten bzw. Expertinnen bezeichnete Denkschleifen am Beispiel von Watzlawicks Hammer184 als „eine Wirklichkeit“ (I07_S07, A. 71) und nicht als virtuell. In diesem Sinne wird zwar die Möglichkeit unterstützt, aber für die Beratung die Nutzlosigkeit dieses Konzeptes propagiert. Dem schloss sich auch ein Experte oder eine Expertin an, denn es wäre nach ihm oder ihr prinzipiell egal, wo die Konstruktion herkommt. Der Ursprung hat keine Relevanz für die Problemexistenz und damit die Beratung (vgl. I03_S03, A. 46). Da zwei der acht Befragten die Differenzierung also als nicht sinnvoll erachteten und bei den beiden verbleibenden Experten bzw. Expertinnen keine Antwort vorliegt, wird hier nicht von einer Zustimmung zur Virtualitätsannahme (AE1.2) durch systemische Experten und Expertinnen ausgegangen. Alle sieben Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund bejahen die Möglichkeit dieser inneren Konstruktion. Als Erweiterungen wurde einmal der Grund dafür genannt: „Das ist im Prinzip, dass Leute aufgrund bestimmter Erwartungen handeln aber nicht unbedingt auf dessen, was/ aufgrund dessen, was eben wirklich in ihrer Umgebung passiert.“ (I09_N01, A. 118). Dazu wurde schon wie bei den systemischen Experten und Expertinnen ebenfalls das Hammerbeispiel von Watzlawick erwähnt (vgl. I12_N04, A. 140). Eine letzte Erweiterung schließt an die der systemischen Experten und Expertinnen an, denn auch durch die Experten 184
Das Beispiel des Hammers, bei dem sich ein Klient vom Nachbarn einen Hammer borgt und in eine Denkschleife verfällt um den Hammer anschließend ungenutzt zurück zu geben wird von vier der acht Experten und Expertinnen direkt verwendet (vgl. I04_S04, 310, 312; I06_S06, A. 89; I07_S07, A. 131; I08_S08, A. 176).
260
und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wird die Unterscheidung zwischen ‚real’ und ‚virtuell’ als irrelevant für die Problemexistenz angesehen: „Also es läuft ja eh auf’s Selbe drauf hinaus“ (I14_N06, A. 121). Da aber nur eine von den sieben Antworten von dieser Irrelevanz überzeugt ist, wird bei den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund von einer Zustimmung zur Virtualitätsannahme (AE1.2) ausgegangen. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund gehen vier der Befragten nicht nur davon aus, dass Individuen in einer virtuellen Traumebene etwas konstruieren können; sondern Sie gehen auch von der Lösung von Problemen in dieser Ebene aus: „wer gut ist, kann sich selber in die Traumreise begeben. Da ist man aber im Endeffekt im Wachzustand und kann/ steuert von Vornherein die Traumreise“ (I22_H07, A. 369). Als Beispiel wurde während dem Interview auch einmal die Vorstellung einer Zitrone imaginiert, die aufgeschnitten und imaginativ gegessen werden kann. Damit erhöhte sich der Speichelfluss (vgl. I23_H08, A. 155 ff.). Auf dieser Basis ist von der Zustimmung zur Virtualitätsannahme (AE1.2) nicht nur auszugehen, sondern auch die Möglichkeit der imaginativen Bearbeitung von Mustern als Zusatzinformation mitzuführen.
Die Unbewusstheitsannahme (AE1.3) adressierte die Beurteilung der Trennung in die bewusste sowie die unbewusste Ebene als relevante Faktoren zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins im Rahmen der Beratung. Hier war die Meinung der Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund sehr homogen. Unter dem Statement „Ja klar! Also unsere Wirklichkeit wird nicht nur bewusst gebildet!“ (I01_S01, A. 80) können sieben der acht Experten und Expertinnen zusammengefasst werden. Davon erwähnte einer oder eine Schwierigkeiten mit dem Begriff des Unbewussten und verwendet daher die Wortkombination von ‚nicht bewusst’ (vgl. I07_S07, A. 81). Lediglich als Einschränkung wurde angemerkt, das es nicht immer Beachtung findet in der Beratung: „Wie gesagt, es ist nicht immer Thema, es ist nicht immer eine/ spielt es die vordergründige Rolle“ (I06_S06, A. 69). Einer der Experten oder eine der Expertinnen, der oder die bereits die Unterscheidung zur Virtualität abgelehnt hatte, sah auch in dieser Unterscheidung keinen Sinn: „Eigentlich ist mir das Schnurz wo die Prozesse ablaufen, die die Konstruktionen bestimmen.“ (I03_S03, A. 50). Jedoch kann durch die dargestellten Aussagen von einer breiten Zustimmung zur Unbewusstheitsannahme (AE1.3) durch die systemischen Experten und Expertinnen ausgegangen werden.
261
Alle sieben Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund sind von der Differenzierung zwischen diesen beiden Ebenen überzeugt. Sie sehen es sogar als ihre Aufgabe an, das nicht bewusste Regelverhalten zunächst sichtbar zu machen (vgl. I09_N01, A. 483). Der Großteil des menschlichen Verhaltens und der Probleme käme aus dem Unbewussten: „Im Normalfall würde ich sagen 80% kommt aus dem Unbewussten und 20% können die Leute noch reflektieren in ihrem Verhalten“ (I10_N02, A. 167). Das Verhalten manifestiert sich im Unbewussten (vgl. I13_N05, A. 133). Und somit sei die Bewusstwerdung bereits „die halbe Miete“ (I11_N03, A. 187). Wenn Muster und Regelverhalten geändert wurden, dann ist es sogar das Ziel, es wieder in das Unbewusste absinken zu lassen, um die Handlungsfähigkeit des Individuums beizubehalten (I10_N02, A. 179). Bezogen auf die Unbewusstheitsannahme (AE1.3) kann also von einer Zustimmung durch die Gruppe der befragten Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund ausgegangen werden. Von allen Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wird bestätigt, dass KU als das Unbewusste für die Speicherung der Muster zuständig ist (vgl. dazu I16_H01, A. 190; I18_H04, A. 122; I20_H05, A. 165, 213; I21_H06, A. 168; I22_H07, A. 284; I23_H08, A. 123). Insbesondere durch unbewusste Wahrnehmungsfilter wird das Individuum in der Unbewusstheit gehalten: „die Filter, die wir haben, […] die sind so stark, dass wir immer wieder in Unbewusstheit zurückfallen. Also in unbewusste Muster“ (I18_H04, A. 73; I20_H05, A. 43). Auch bei dieser Gruppe von befragten Experten und Expertinnen kann von einer Zustimmung zur Unbewusstheitsannahme (AE1.3) ausgegangen werden.
Als letzte Frage im Wahrnehmungsbereich wurde bei der Akzeptanzannahme (AE1.4) erfragt, ob die individuelle Akzeptanz externer Aspekte (wie Gruppendruck oder Macht), ein relevanter Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins ist. Alle Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund bestätigen zunächst, dass Druck zu Problemen führt. Über die Herkunft des Drucks, im Sinne der Akzeptanz, waren sich ebenfalls alle acht Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund einig: „Je nachdem, wie er selber dann eben mit solchen Drucksituationen umgeht oder wie weit er das an sich herankommen lässt. Das wäre eine Frage der Persönlichkeit eines Mitarbeiters“ (I06_S06, A. 71). In der beispielhaften Antwort sind die Elemente der externen Druckerzeugung sowie der internen Konstruktion enthalten. Für die Beratung sei es daher wichtig, den eigenen Anteil an der Konstruktion von Druck zu bearbeiten: z.B. „Und wenn jemand sagt: ‚Ich verspüre da Druck, der andere macht Druck’ und ich habe aber den anderen nicht zur Hand, 262
dann würde ich mit demjenigen da dran arbeiten wie er damit umgeht. Und ob er sich das auch anders konstruieren kann, oder ob er anders darauf reagieren kann“ (I01_S01, A. 98) oder ähnlich: „Und ich kann auch noch einmal gucken: ‚Können Sie Ihre Wahrnehmung da noch einmal verändern’“ (I03_S03, A. 62). Ursachen, welche in diesem Zusammenhang zur Disposition stehen, sind innere Vorentscheidungen. Beispiele dieser Vorentscheidungen waren Haus, Kinder, Lebensqualität und Partner (vgl. I02_S02, A. 98; I05_S05, A. 85; I07_S07, A. 45), jedoch auch die innere Akzeptanz von Macht oder Hierarchie (vgl. I03_S03, A. 66; I04_S04, A. 133, 149; I06_S06, A. 75). Als weitere Vorentscheidungen wurden die Akzeptanz von Zeitdruck durch Wettbewerb (vgl. I04_S04, A. 133), die innere Emotion Angst (vgl. I04_S04, A. 137), der innerer Glaube, keine Alternative zu haben (vgl. I05_S05, A. 85), Gruppendynamik (vgl. I06_S06, A. 75) und auch Erfahrung genannt (vgl. I07_S07, A. 123; I08_S08, A. 128). Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass Akzeptanz externer Informationen zu Problemen führt, deren Bearbeitung über den Eigenanteil möglich ist. Die Akzeptanzannahme (AE1.4) wird daher von den systemischen Experten und Expertinnen mit deren Zustimmung unterstützt. Bei den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund herrschte Einigkeit, dass die Auswirkung externer Aspekte wie wahrgenommener Druck immer durch einen eigenen Anteil gesteuert wird: z.B.: „hat reale Komponenten auf der einen Seite und gleichzeitig aber ist es auch so, dass es sicherlich auch stark von der Person abhängt“ (I09_N01, A. 190). Die Intensität der Auswirkung werde gesteuert über das Ausmaß mit dem Menschen über die „externe Referenz leben“ (I15_N07, A. 241). Hauptsächliche Beispiele, bei denen die innere Akzeptanz zumeist zu Problemen führt, sind erstens die innere Akzeptanz von Zeitengpässen (vgl. I09_N01, A. 192; I10_N02, A. 232). Zweitens aber auch die innere Akzeptanz von Macht (vgl. I09_N01, A. 192; I10_N02, A. 232; I12_N04, A. 174; I13_N05, A. 179; I14_N06, A. 165; I15_N07, A. 245) und drittens das eigene Verständnis von Ethik (vgl. I09_N01, A. 192). Darüber hinaus sind es aber zudem eigene Emotionen wie z.B. Angst (vgl. I09_N01, A. 200; I11_N03; A. 185) und fünftens auch Gruppendynamik oder Kultur (vgl. I13_N05, A. 88). Der Akzeptanzannahme (AE1.4) wird also ohne Einschränkungen durch alle Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund zugestimmt. Für sechs der sieben Experten bzw. Expertinnen mit Huna als Hintergrund ist die externe Akzeptanz von Bedeutung, wobei es von dem oder der Verbleibenden keine Information zu dieser Frage gab. Zusammengefasst werden kann die Position dieser Experten und Expertinnen in einem der Prinzipien von Huna: „Das sechste Prinzip heißt ja: ‚Alle Macht kommt von in263
nen’. Und dieses Prinzip hängt wieder mit dem zweiten Prinzip zusammen: ‚Es gibt keine Grenzen’“ (I21_H06, A. 242; oder I18_H04, A. 134). Auch wenn Beeinflussung auf der sprachlichen und gedanklichen Ebene nach diesen Experten und Expertinnen möglich ist, sei es die Akzeptanz, welche darüber entscheidet. Die häufigsten Ursachen für Probleme durch interne Akzeptanz externer Aspekte sind nach Ansicht dieser Experten und Expertinnen Macht (vgl. I16_H01, A. 82). Aber auch geringe Selbstwertigkeit (vgl. I18_H04, A. 134; I21_H06, A. 248) oder die innere Akzeptanz von Zeitengpässen (vgl. I18_H04, A. 142; I20_H05, A. 459). Darüber hinaus auch Emotionen wie z.B. Angst (vgl. I18_H04, A. 142; I20_H05, A. 280) und innere Bewusstlosigkeit ohne einen klaren Fokus zu sein (vgl. I21_H06, A. 246). Auf dieser Basis an Informationen wird von einer Zustimmung zur Akzeptanzannahme (AE1.4) durch die Experten und Expertinnen dieser Gruppe ausgegangen.
Bei der Auswertung zu den Fragen bezüglich der Wahrnehmung konnte ein differenziertes Bild der einzelnen Gruppen entwickelt werden. Es folgt die Ergebnisdarstellung im Hinblick auf die Fragen zur Rekursion.
V.5.2.3
Annahmen zur Rekursion
Während in der vorhergehenden Diskussion die Auswertung zu den Fragen zum Thema der Wahrnehmung dargestellt wurde, kann nun auf die Ergebnisse zur Rekursion eingegangen werden. Dieser dritte Fragenblock umfasste zwei der oben aufgestellten empirischen Annahmen, die nun wieder nacheinander und für jede Gruppe von Experten und Expertinnen analysiert werden.
Als erste Frage in diesem Block wurde die Erfahrungsannahme (AE1.5) diskutiert. Die Frage zielte dabei auf die Beurteilung des Zusammenhangs, dass Erfahrungen die heutige Handlung beeinflusst. Die acht Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund reagierten darauf alle mit Zustimmung. Von einem oder einer der Befragten wurde ergänzend angemerkt, dass die Überraschung (z.B. durch Paradoxien) helfen kann, diese Abhängigkeit zu lösen (vgl. I07_S07, A. 135). Die Reichweite dieser These, welche als Unterfrage zu dieser Annahme in Bezug auf Kultur gestellt war, wurde ebenso fast einstimmig unterstützt – mit nur einer ‚Enthaltung’. Es gab dabei aber noch zwei Einschränkungen bei den Zustimmungen. Zum Ersten, dass der Begriff des kollektiven Unbewussten nicht passend sei, weil der Begriff zu starr ist 264
(vgl. I01_S01, A. 116). Und zum Zweiten, dass betriebskulturelle (vgl. I03_S03, A. 88) oder gesamtkulturelle Aspekte durch die breite Präsenz als kollektives, geteiltes Muster oft sehr schwer zu überwinden seien (vgl. I02_S02, A. 141). Diese zwei Einschränkungen beeinträchtigen die breite Zustimmung zur Erfahrungsannahme (AE1.5) nicht. Auch bei den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund erhielt diese empirische Annahme eine durchgehende Zustimmung: z.B. „Ist eindeutig so. Völlig klar“ (I12_N04, A. 238) oder „Ohne Ende. Ich will jetzt nicht behaupten, 100% aber nahe dran“ (I14_N06, A. 189). Einschränkungen sind nur auf die Lösung aus solchen Mustern gezogen worden, so dass von einer breiten Zustimmung für die Erfahrungsannahme (AE1.5) ausgegangen werden kann. Die Reichweite dieser Muster, welche als Zusatzfrage in Bezug auf Kultur gestellt wurde, ist von vier der sieben Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund auch bestätigt worden. Bei den verbleibenden dreien gab es keine spezifischen Antworten zu der Frage. Die Auswirkung wurde insbesondere auch hinsichtlich der Unternehmen dargestellt und greift das Ergebnis zur Akzeptanz externer Aspekte auf: z.B. „in jeder Organisation so was wie so ein kollektives Erbe, was da drin steckt und auch eben das, was dann als Kultur erkannt wird, was immer als Norm und von daher auch normativer Richtwert ge/ gelebt und gesehen wird. Und dem passen sich Individuen natürlich an“ (I13_N05, A. 88). Die Zustimmung zur Erfahrungsannahme (AE1.5) bleibt also unberührt. Für diese Annahme konnte auch bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund eine breite Zustimmung erhoben werden. Die Perspektive der Einwirkung von Erfahrung ist bei Huna schon durch das Konstrukt von KU gefasst. Alle Experten und Expertinnen verwenden dieses auch, was folgende beispielhafte Aussagen belegen: „Ansonsten, KU reproduziert solange, bis es den Impuls kriegt, es nicht weiter zu tun“ (I20_H05, A. 340). Eine ähnliche Aussage war: „Und das KU ist der Teil in uns, der funktioniert wie ein Computer und der einfach entsprechend seiner Programme läuft“ (I21_H06, A. 166). Wenn die Muster in KU durch LONO erkannt werden folgt: „da sind wir wieder bei IKE, bei bewusst werden, dann kann ich das Muster verändern“ (I18_H04, A. 134), denn die Welt ist ja nach Huna das, wofür man sie hält. Auch bei diesen Experten und Expertinnen wurde eine Zustimmung zur Erfahrungsannahme (AE1.5) ermittelt. Die angenommene Reichweite dieser Muster wurde, wie oben schon erwähnt, mit einer Nachfrage zur Kultur überprüft. Hier gab es von vier der sieben Experten und Expertinnen eine Antwort. Diejenigen, welche zu der Frage eine Aussage trafen, waren von der Wirkung der Kultur als Muster überzeugt (vgl. z.B. I18_H04, A. 73; I21_H06, A.
265
451). Vorsichtig formuliert ergeben sich durch die fehlenden Antworten keine negativen Auswirkungen auf die Zustimmung zur Erfahrungsannahme (AE1.5).
Anschließend wurde die Homöostasisannahme (AE4) diskutiert. Hierbei ging es um die Beurteilung der Homöostasis (als Irrelevanz der Genese von Problemen) als relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. Dazu wurden vier Unterfragen aufgestellt und die Antworten jeder Gruppe wird nun bezüglich aller vier Fragen vorgestellt. Die erste Frage adressierte dabei die Wichtigkeit der Entstehungsursache von Problemen für die Klienten und Klientinnen, wodurch diese der Verwendung der Homöostasis widersprechen würden. Anschließend folgte die Frage über die Wichtigkeit der Ursache von Problemen185 für die Experten und Expertinnen selber. Bei den systemischen Experten und Expertinnen gestalteten sich die Antworten zu diesen beiden Fragen sehr differenziert. Zwei der Experten bzw. Expertinnen reagierten offen: „Für mich ist natürlich nur wichtig, was für den Klienten wichtig ist“ (I08_S08, A. 192) oder „Das ist wirklich unterschiedlich“ (I07_S07, A. 139). Zwei machten keine Angabe über die Klienten und Klientinnen mit dem Verweis: „ob die das jetzt möchten oder nicht, dass ist jetzt außer Frage, aber es deckt einfach auf“ (I02_S02, A. 120) – also stimmten die Experten bzw. Expertinnen für die Analyse der Ursache. Dieser Haltung folgten zwei weitere, sagten aber auch, dass es die Klienten nicht interessiert: „Die befassen sich nicht damit“ (I06_S06, A. 95). Die beiden verbleibenden sind genau vom Gegenteil überzeugt, dass es zwar die Klienten und Klientinnen interessiert aber nicht sie als Experten bzw. Expertinnen: „Ich werde immer ein bisschen unwirsch, wenn Leute anfangen mit/ mit/ auf die Ebene zu gehen“ (I03_S03, A. 82). In diesem Sinne kann nur festgehalten werden, dass zwei explizit gegen die Analysierung der Ursachen sind und damit der Homöostasis folgen, dagegen aber vier der acht Experten und Expertinnen selber davon überzeugt sind die Ursache zu analysieren und damit auch positive Erfahrungen gemacht haben: „es deckt einfach auf“ (I02_S02, A. 120). Demnach scheint das Verständnis von Homöostasis bereits aufgeweicht zu sein. Die zwei weiteren Fragen durchleuchteten diesen Aspekt weiter und behandelten daher die Wichtigkeit, auf den Prozessverlauf der Musterentstehung bei der Beratung einzugehen. Auch diese Fragen wurden wieder für Klienten und Klientinnen sowie Experten und Expertinnen separat formuliert. Erneut antworteten zwei der Befragten offen 185
Einer oder eine der Befragten machte darauf aufmerksam, dass es wichtig ist zwischen der Ursache als Auslöser und der Ursache als Grund nachzuforschen (vgl. I08_S08, A. 194). Es wurde im Verlauf der weiteren Gespräche darauf hingewiesen, den Grund zu hinterfragen und nicht den Auslöser.
266
und sagten aus, dass sie auf die Klienten und Klientinnen eingehen würden. Auch waren wieder zwei von der Wichtigkeit überzeugt, hatten aber zumeist für die Prozesse keinen Auftrag: „das bezahlt ja kein Kunde“ (I05_S05, A. 99). Die beiden, welche schon auf die Ursachenfrage negativ reagierten, waren hier ebenfalls nicht davon überzeugt. Sie trafen aber keine Aussage über die Reaktionen der Klienten bzw. Klientinnen. Von den beiden, welche oben selbst zugestimmt hatten und dort für die Klienten und Klientinnen keine Angabe machten, stimmte für diese Frage nur noch eine oder einer der Experten bzw. Expertinnen zu. Für die Prozessorientierung bei der Beratung ergibt sich also ein ähnliches Bild der Verwerfung: Drei der Experten und Expertinnen waren definitiv dafür, zwei diplomatisch und wieder zwei explizit dagegen, bei einer Enthaltung. Eine Zustimmung zur Homöostasisannahme (AE4) konnte damit nicht erzielt werden. Die Experten und Expertinnen reagieren damit wahrscheinlich auf die inadäquate oder unpraktikable, theoretische Vorstellung der Homöostasis, wodurch die Grundthese dieser Arbeit durch die systemischen Experten und Expertinnen untermauert wird. Bei den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund konnten bezüglich der Wichtigkeit der Entstehungsursache für ihre Klienten und Klientinnen als erste Frage zur Homöostasisannahme (AE4) drei der Experten und Expertinnen nicht befragt werden. Einer oder eine der verbleibenden Befragten sagte dazu, dass einige ihrer Klienten bzw. Klientinnen das Bedürfnis hätten, andere aber nicht: „es gibt Leute, die kommen her und/ wo es irgendwie ganz klar ist, die haben ein Weltbild: ‚Ich muss eigentlich erstmal verstehen, wo es herkommt, damit ich es verändern kann’“ (I09_N01, A. 295). Die restlichen drei der sieben Experten bzw. Expertinnen hatten einheitlich von dem Interesse ihrer Klienten und Klientinnen an dieser Frage berichtet. Bei der zweiten Frage über die Haltung der Experten und Expertinnen gegenüber der Ursachenforschung ist das Ergebnis jedoch anders. Vier sehen ein Potential darin: „Wenn man wirklich, ich sag mal, an die/ die Ursachen geht und quasi die da noch mal mit berücksichtigt, dass sich dann das neue Verhalten leichter über verschiedene Kontexte generalisiert für den“ (I09_N01, A. 297). Die drei anderen sehen eher die Gefahr einer Suche nach Schuld und damit der Reduktion von Veränderungspotential: „Wie genau? Wo genau? Wann genau? Wie/ wie/ auf welche Weise genau kommen Sie dazu? Aber wenn die Warum-Frage gestellt wird […] in so einen Rechtfertigungs-/ ist jetzt eine Schuldzuweisung“ (I11_N03, A. 223; auch I15_N07, A. 323). Auch die Erfahrung sagt: „Also das ist, habe ich erfahren, gar nicht unbedingt so notwendig: ‚Wann hat das angefangen?’“ (I15_N07, A. 307). Im Rahmen dieser Zusammenstellung ist bereits eine Lösung von dem Konzept der Homöostasis zu erkennen, da die Relevanz der Geschichte zu einem Potential in der Beratung wird. Eine vollständige Um267
setzung ist aber nicht zu erkennen, da ja drei der sieben Experten bzw. Expertinnen diese Ansicht nicht teilen. Bei den beiden verbleibenden Fragen über die Analyse des Entstehungsprozesses im Rahmen der Beratung, konnte dagegen eine deutlichere Zustimmung erhoben werden. Bei der Frage zur Haltung der Klienten und Klientinnen machten fünf Experten bzw. Expertinnen keine Angabe. Nur zwei stellten die Relevanz für diese heraus. Bei der Meinung der Experten und Expertinnen zur Relevanz der Problementstehung für die Behebung wurde gesagt, dass die Betrachtung vergangener Erfahrungen in dem Entstehungsprozess des Musters für eine „emotionale Betriebstemperatur“ (I10_N02, A. 276; so auch I12_N04, A. 250) sorgt. Des Weiteren werden so Verhaltensweisen oder Faktoren (vgl. I15_N07, A. 305) ermittelt, die die Aufrechterhaltung des Problems heute fördern. Obgleich ist eine Analyse der gesamten Geschichte nicht zwangsläufig notwendig: „ich gehe immer nur so weit zurück wie ich muss, damit er das mit/ mit auf die Zielschiene geht“ (I12_N04, A. 244; so auch I13_N05, A. 203; I14_N06, A. 215). Auf Basis dieser Zustimmungen ist nach Ansicht dieser Arbeit von der Abkehr der Homöostasis als Verwerfung der Entstehungsgeschichte von Problemen bei der Beratung auszugehen. Daher ist die Homöostasisannahme (AE4) bei den Beratern und Beraterinnen mit NLP als Hintergrund auch abzulehnen. Das Ergebnis der Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund ist bezogen auf diese empirische Annahme bescheiden ausgefallen. Ergebnisse bezogen auf Aussagen über die Meinung der Klienten und Klientinnen zu beiden Aspekten (die erste und dritte Unterfrage) können gar nicht vorgestellt werden, da nur einer oder eine der Befragten antwortete. Diese Antwort umfasst die Verschiedenheit der Einstellung von Klienten und Klientinnen: „Manchmal ist es so, dass Menschen einfach glauben, sie müssten es wissen, sonst wird es nicht helfen“ (I21_H06, A. 404). Auch bei der Meinung der Experten und Expertinnen zu den beiden Punkten (die zweite und vierte Unterfrage) ist die Reihe der Antworten nicht lang ausgefallen. Drei der sieben Befragten haben sich zu dem Komplex nicht geäußert. Bezüglich der Ursache sind alle verbleibenden vier Experten und Expertinnen von der Irrelevanz im Beratungsprozess überzeugt: „Das ist nicht notwendig, jetzt genau herauszufinden, wie eine solche Regel entstanden ist“ (I21_H06, A. 362). Nur bei der Relevanz des Entstehungsprozesses ist einer oder eine der Experten und Expertinnen davon überzeugt, dass die Relevanz durch den Klienten gegeben ist: „Es ist wichtig, dass jemand das Gefühl hat: ‚Ich habe es jetzt gepackt’ Und das ist der Punkt, wo ich dann aufhöre“ (I20_H05, A. 310). Eine Aussage über die Zustimmung zur Homöostasisannahme (AE4) bei den Experten und Expertinnen mit Huna kann also nicht wirklich getroffen werden. 268
Die Zustimmungen zur Bedeutung der Rekursion und zur Abkehr von der Homöostasis durch die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund und NLP unterstützen den theoretischen Beitrag dieser Arbeit, die Rekursion in Verbindung mit der Homöostasis durch ein anderes Konstrukt zu ersetzen. Im folgenden Kapitel wird nun auf die Erweiterung der Theorie auf Basis der Selbstverstärkung eingegangen.
V.5.2.4
Annahmen zur Selbstverstärkung
Die Erweiterungsbedürftigkeit der Homöostasis im Hinblick auf die Relevanz der Bearbeitung von Erfahrungen wurde im Rahmen der vorhergehenden Diskussion durch die Experten und Expertinnen bestätigt. In dem nun zu diskutierenden, vorletzten Frageblock wurden die Erweiterungen der Homöostasis durch Selbstverstärkungsaspekte adressiert.
Im Rahmen der 3fach-Selbstverstärkungsannahme (AE1.6) ist die Bedeutung der Konstruktionen, in Verbindung mit der Erwartung und deren Auswirkungen auf Handlung, Fokussierung und Interpretation als eine These diskutiert worden. Dieser These haben alle Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zugestimmt: „Ja. Es funktioniert letztlich so, wie Sie das aufgeschrieben haben“ (I07_S07, A. 165). Es gab jedoch hier einige Wortdiskussionen z.B. bei der Erwartung von Ergebnissen auch von Intention zu sprechen (vgl. I03_S03, A. 96). Ebenso wurde beispielhaft für Fokussierungsstrategien von zwei Grundtypen der Fokussierung aus der Psychologie gesprochen: „Handlungs- und Lageorientierung ist ja so ein kognitives Konzept“ (I03_S03, A. 100). Dieses half bereits einem oder einer der Experten bzw. Expertinnen sich mit Fragen auf zumindest diese zwei Fokussierungsstrategien zu konzentrieren. Als Zusatzinformation wurde bei der Debatte angemerkt, dass dieser Prozess nicht nur defizitorientiert verstanden werden darf, sondern auch alle Konstruktionen, die nicht direkt Probleme verursachen, würden auf diese Art und Weise entstehen (vgl. I08_S08, A. 215). Der 3fach-Selbstverstärkungsannahme (AE1.6) wird also durch die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zugestimmt. Fast alle Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund stimmten der These zu: „Da ist wahrscheinlich so der Hund begraben, letztendlich. Dass dann da danach viele Probleme entstehen“ (I10_N02, A. 304). Nur einer oder eine distanzierte sich von einer Modellvorstellung im Kopf, um damit nicht einen Beratungsprozess zu sehr zu steuern: „dass ich wirklich ver269
such, mich da ganz leer und frei zu machen und ganz real nur zuzuhören, was sagt der“ (I14_N06, A. 259). Verstärkt wurde die These mit der Anmerkung einer hohen Relevanz von Erwartung und Fokussierung im Prozess der Problementstehung und -lösung: „dass Leute aufgrund bestimmter Erwartungen handeln aber nicht unbedingt auf dessen, was/ aufgrund dessen, was eben wirklich in ihrer Umgebung passiert.“ (I09_N01, A. 118). Ergänzungen gab es zu der Fokussierung um die fünf Sinneskanäle, die zwar im Modell enthalten sind, aber nicht direkt abgefragt wurden: „Und dann wird das/ das nennt man VAKOG (visuell, auditiv, kinästhetisch, gustatorisch, olfaktorisch)/ wird das abgefragt“ (I10_N02, A. 55). Eine letzte Ergänzung gab es hinsichtlich der Relevanz von Emotionen in dem Kontext, da Interpretationen oft an solche gekoppelt sind: „Gedanken rufen Gefühle hervor“ (I11_N03, A. 327), insbesondere dann, wenn die eigene Identität der Klienten und Klientinnen daran hängt (vgl. I15_N07, A. 374). Da durch die Erweiterungen die Zustimmung zur 3fach-Selbstverstärkungsannehm (AE1.6) nicht zurückgenommen wurde, kann von einer Zustimmung durch die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund ausgegangen werden. Im Ergebnis hat sich bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund keiner oder keine zu allen vier Aspekten geäußert. Einer oder eine der Befragten meinte zu der Thesen der Beeinflussung der Erfahrung von Handlung, Fokussierung und Interpretation: „Ja, aber das ist ja jetzt ein Zustand von einer gewissen Bewusstlosigkeit, was Sie jetzt beschreiben“ (I20_H05, A. 358). Damit unterstützte der Experte oder die Expertin implizit diese Aspekte hinsichtlich einer Problementstehung. Bei den anderen Experten und Expertinnen wurden nur einige Aspekte benannt, denn zwei der Prinzipien bei Huna umfassen Fokussierung und Interpretation. Daher brachten die Experten und Expertinnen die Prinzipien auch als wesentlichen Bestandteil ein. Das erste Prinzip erwähnten sechs der sieben Experten bzw. Expertinnen: „Die Welt ist, wie Du sie siehst“ (I16_H01, A. 124; z.B.: auch I21_H06, A. 112). Dies adressiert beide genannten Aspekte. Eine Abwandlung richtet sich auf die Fokussierung und sehr implizit auf die Erwartung als Filter und wurde einmal genannt: „Also, meine Definition dieses Satzes ist auch: ‚Ich nehme die Welt durch meine Filter wahr’“ (I18_H04, A. 63). Auch das dritte Prinzip zielt auf die Fokussierung „bei MAKIA, Energie folgt der Aufmerksamkeit. Und das hat auf der einen Seite zu tun mit Fokus“ (I18_H04, A 186; auch I16_H01, A. 102). Bei einer oder einem der Befragten wurde die Erwartung als relevante Größe der Problementstehung ohne Bezug zu den Prinzipien aufgeführt (insb. auch zwischenmenschlich, vgl. I18_H03, A. 70). Eine Bewertung dieses Ergebnisses ist schwierig, da im Prinzip nur der Fokus und die Interpretation eine klare Bestätigung erhielten. Zur 3fach-Selbstverstärkungsan270
nahme (AE1.6) kann daher auf Basis der Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund keine Aussage getroffen werden.
Bei der folgenden Erwartungsannahme (AE1.7) ging es um die Beurteilung der Relevanz der Erwartungen höherer Ordnung als relevanter Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. Die systemischen Experten und Expertinnen stimmten alle für die überaus hohe Relevanz dieser Ebene: „Wir denken immer auch mit, was andere von uns erwarten“ (I01_S01, A. 134) oder „Also wir agieren sehr häufig und sehr viel auf dieser Ebene, dass wir denken, wir könnten jemandem einen Gefallen tun, und deswegen handeln wir so“ (I07_S07, A. 73). Eine Nachfrage zu der Erwartungsannahme adressierte die Möglichkeit der Verantwortungsabgabe auf Basis von Erwartungen höherer Ordnung. Dieser Frage stimmten vier der Experten bzw. Expertinnen zu und beschrieben dies mit der Einnahme der Opferperspektive durch die Klienten und Klientinnen (vgl. I02_S02, A. 165). Die Experten und Expertinnen erweiterten die Verantwortungsabgabe jedoch von den Erwartungen, hin zu Erfahrungen allgemein (vgl. I03_S03, A. 80). Die anderen Experten bzw. Expertinnen hatten zu dieser Nachfrage keine Antwort gegeben. Durch die einstimmige Zustimmung zu den Erwartungserwartungen ist die Erwartungsannahme (AE1.7) also bestätigt worden – allerdings waren die höheren Ordnungen nicht auf Erwartungs-Erwartungserwartungen ausgedehnt worden. Auch von den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund gab es eine breite Zustimmung. Fünf der sieben Experten und Expertinnen äußerten sich positiv, z.B.: „Ja, ja, klar, da werfe ich ja schon gleich irgendwie eine Projektion auf den anderen“ (I10_N02, A. 334). Die anderen zwei machten dazu keine Aussage. Ebenfalls wurde die hohe Relevanz dieser Erwartungserwartungen aufgezeigt „Das ist eine Facette die eine große Rolle spielt“ (I11_N03, A. 393), so dass eine Zustimmung zur Erwartungsannahme (AE1.7) vorliegt. Die Nachfrage bezüglich einer möglichen Verantwortungsabgabe an dieser Stelle wurde von vier der Experten und Expertinnen mit einer positiven Antwort versehen: „Super. Super Rechtfertigung. Ja“ (I14_N06, A. 305). Da keine Auswirkung auf die Erwartungsannahme (A E1.7) gegeben ist, bleibt auch deren Zustimmung durch die Experten und Expertinnen dieser Gruppe unberührt. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund konnte nur einer oder eine der sieben Experten und Expertinnen befragt werden, wobei eine Zustimmung geäußert wurde: „Ja ja! Ich sage dann immer nur, dass stimmt nicht! Das ist nur so, weil du das glaubst“ (I20_H05, A. 394). Von einer allgemeinen Zustimmung aller Befragten dieses Ansatzes zur 271
Erwartungsannahme (AE1.7) kann aber nicht gesprochen werden, denn die Datenbasis lässt kein Urteil zu. Zur Nachfrage über die Verantwortungsabgabe konnten die Experten und Expertinnen ebenfalls keine Aussage generieren, da diese zumeist ihren Standpunkt der vollsten Eigenverantwortung untermalten „Ich habe immer die Verantwortung für mich“ (I20_H05, A. 477). Eine Aussage über deren Erfahrung konnte nicht eingeholt werden.
Die Additivitätsannahme (AE1.8) adressierte den zeitlichen Verlauf derartiger Konstruktionsprozesse in Form von vier Thesen. Die erste These umfasste eine rekursive Betrachtung als Stabilisierung, die zweite umfasste die vier Aspekte von Erwartung, Handlung, Fokussierung und Interpretation mit dem zeitlichen Resultat der Verstärkung. Die dritte These adressierte die einschränkende Entwicklung des Erwartungshorizontes und die vierte These die Verringerung des Handlungsspielraumes. Die Antworten zu allen vier Thesen werden nun für jeden Ansatz einzeln analysiert. Bei den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund gaben sieben der acht ihre Zustimmung zur ersten These, der rekursiven Stabilisierung, einer oder eine konnte durch den Interviewverlauf zu den Thesen nicht befragt werden. Auch die zweite These wurde von sieben der acht Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund bestätigt. Eine Anmerkung erwähnte jedoch die gleichzeitige Relevanz für die Entwicklung zunächst positiver Muster (I07_S07, A. 217-222). Bei der dritten These wurde die einschränkende Entwicklung des Erwartungshorizontes diskutiert, zu der fünf der Experten bzw. Expertinnen zustimmten. Den verbleibenden drei konnte die Frage durch den Interviewverlauf nicht vorgelegt werden. Der vierten These über die Verringerung des Handlungsspielraumes stimmten sieben der acht Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zu. Insgesamt wurde also für die additive Spezialisierung im Rahmen der Additivitätsannahme (AE1.8) von Seiten der systemischen Experten und Expertinnen eine hohe Zustimmung erzielt. Der ersten These über die stabilisierende Auswirkung von Konstruktionen stimmten alle sieben Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund zu. Auch bei der zweiten These über die verstärkende Wirkung des detaillierten Konstruktionsprozesses gab es eine Zustimmung aller: z.B. „Ja, mit Gewissheit“ (I14_N06, A. 351). Die dritte These zur Verringerung des Erwartungshorizontes wurde auch von allen Experten und Expertinnen bestätigt. Eine Erweiterung gab es hinsichtlich eines höheren Ziels, mit dem rekursive Schleifen durchbrochen werden könnten: „Wenn ich keine darüber hinaus gehenden Ziele habe. Ja“ (I15_N07, A. 460). Auch die vierte und letzte These über die Reduzierung von Handlungsspielraum wurde ein272
heitlich bestätigt. Es gab wieder eine Erweiterung, die das Positive der verstärkenden Konstruktionen herausstellte: „Wenn ich gute Verhaltensmuster habe und auf die aufbauen kann, dann können das ja auch welche sein, die mich durchaus auch wieder zu neuen Perspektiven bringen“ (I13_N05, A. 335). In diesem Sinne wird als Zusatzinformation aufgegriffen, dass das Konstruktionsverhalten zwar einschränkende aber auch erweiternde Möglichkeiten birgt. Der Additivitätsannahme (AE1.8), operationalisiert über die vier Thesen, wurde also von allen Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund zugestimmt. Über den additiven Charakter des Konstruktionsprozesses im Rahmen der Additivitätsannahme (AE1.8) konnte mit den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund nicht gesprochen werden. Ursache war der bereits reflektierte abweichende Gesprächsverlauf vom Leitfaden. Somit ist keine Aussage zu dieser empirischen Annahme möglich.
Es folgte die Diskussion zu der Zeitannahme (AE1.9) über die Relevanz der individuellen (Proto-)Zeit als relevanter Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins. Bei den systemischen Experten und Expertinnen ist die individuelle Zeit sehr relevant. Zur Arbeit mit der individuellen Zeit achten die Experten und Expertinnen des systemischen Ansatzes vor allem auf die von den Klienten und Klientinnen gebrauchte Wortwahl: „So. Dann wäre das erste, worauf ich aufhören würde, wäre das 'immer'. Und da würde ich als erstes einhaken und würde sie fragen: ‚Wann ist es anders?’“ (I01_S01, A. 108). Nach Ansicht der Experten und Expertinnen leiten die Klienten bzw. Klientinnen aus der Erfahrung eine Verallgemeinerung in Abhängigkeit von der Zeit her (Æ immer), die zu einem Problem der Festschreibung führt. Sofern diese Festschreibung geäußert wird, können Berater nach Unterschieden im Erleben fragen (Æ Wann ist es anders). Für die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund ist somit nicht die Chronologie von Bedeutung, sondern die Anhäufung und Bestätigung verschiedener Aspekte des Erlebens (vgl. I08_S08, A. 286). Eine große Gefahr in diesem Problementstehungsprozess ist daher die Perspektive von Klienten und Klientinnen, dass Zeit ein Problem lösen wird: „Zeit heilt alle Wunden“ (I03_S03, A. 143). Sofern ein Problem nicht bearbeitet wird, taucht es auch wieder irgendwann auf. Als Resultat gilt es daher klar zu machen „dass ich jetzt entscheide. Heute“ (I02_S02, A. 205). Der Zeitannahme (AE1.9) über die Relevanz der Zeit für die Entstehung und Lösung von Mustern wurde von den befragten Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zugestimmt.
273
Die NLP Experten und Expertinnen hatten zu dieser Frage der Zeitrelevanz auch zumeist eine klare Meinung. Objektive Zeit existiere nicht (vgl. z.B. I15_N07, A. 490-491). In Verbindung mit der Timeline und dem Re-Imprinting (vgl. I09_N01, A. 309; I10_N02, A. 480) sehen sie die Abhängigkeit von der eigenen Zeit – im Sinne der Erfahrung – als Problemursache und dort sei auch die Lösungsmöglichkeit gegeben. Nur zwei der Experten und Expertinnen haben mit der Zeitvorstellung noch nicht gearbeitet und verwenden auch die von anderen NLP Experten und Expertinnen vorgeschlagenen Methoden nicht (vgl. I12_N04, A. 392; I14_N06, A. 413). Durch die fünffache Zustimmung wird von einer allgemeinen Zustimmung zur Zeitannahme (AE1.9) durch die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund ausgegangen. Über die Relevanz von der eigenen Zeit im Beratungsprozess hatten vier der sieben Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund etwas beizusteuern. Nach ihnen ist die eigene zeitliche Perspektive durchaus ein Problem, denn diese entstehe erst in der Erinnerung: „Was uns beeinflusst, sind unsere Erinnerungen an die Vergangenheit“ (I21_H06, A. 368). Eines der Huna-Prinzipien erfasst das Problem direkt in seiner Lösungsmöglichkeit: „Und nach dem vierten Prinzip: ‚Jetzt ist der Augenblick der Macht’ ist ganz deutlich zu sagen, die Vergangenheit hat keinen Einfluss auf uns. Es sei denn, wir glauben das“ (I21_H06, A. 364). Diese Haltung nahmen sechs Experten und Expertinnen ein. Die Ursache für das Leben in Vergangenheit und Zukunft wird in Emotionen gesehen: „Wenn ich ständig in Vergangenheit und Zukunft bin, ist das in der Regel mit Angst und mit Leid verbunden. Ich habe Angst vor etwas, ich leide, weil da was war“ (I23_H08, A. 367). Diese Erweiterung, dass Emotionen eine wichtige Rolle zugeschrieben wird, kann als Zusatzinformation notiert werden. Von einer Zustimmung zur Zeitannahme (AE1.9) kann für die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund ausgegangen werden.
Ein weiterer Aspekt war das Referenzkonstrukt der Kausalität in Verbindung mit dem Glauben an eben solche Referenzkonstrukte. Dieser Zusammenhang wurde über die Glaubensannahme (AE1.10) erfasst. Die verknüpfende Frage wurde im Rahmen der Kodierung aufgegliedert in Antworten zum Glauben allgemein und zu der Bedeutung von Kausalität. Von den systemischen Experten und Expertinnen konnte zum Glauben allgemein nur eine spezifische Antwort erhoben werden: „So funktioniert Konstruktion. Und der Glaube dann, dass ich hinterher glaube, ich wüsste jetzt wirklich wie es ist“ (I01_S01, A. 120; ähnlich I01_S01, A. 158). Diese Perspektive unterstützt zwar die Bedeutung des Glaubens, durch das Fehlen von Antworten der anderen sieben Experten und Expertinnen ist aber keine Aussage 274
über den Glauben allgemein möglich. Bei den Antworten zur Kausalität gab es wesentlich mehr Zustimmung, und zwar von sechs der acht Experten und Expertinnen. Nach ihnen ist Kausalität die Krücke des Individuums (vgl. I05_S05, A. 191), um eigenes Verhalten zu objektivieren und damit zu rechtfertigen: „Ich stelle quasi als Individuum an vielen Stellen eine Kausalität her, um es für mich selbst erklärbar zu machen, die es aber eigentlich nicht wirklich gibt.“ (I05_S05, A. 53). Wenn Individuen aber erkennen, dass „Kausalitäten eigentlich auch nur dazu dienen, um etwas zu beweisen, was aber dann auch wiederum nicht objektiv ist“ (I05_S05, A. 191), dann wären sie in der Lage, diese Krücken wegzuwerfen. Die hohe Relevanz dieses Kausalkonstruktes im Beratungsprozess wird von den Experten und Expertinnen bestätigt: z.B. „der Gedanke von Kausalität und so ein ‚Wenn-Dann’ und ‚Als das und das, war das und das’ […] spielen in/ in den Köpfen der Klienten eine große Rolle. Und häufig ist es hilfreich, das ein Stück aufzulösen“ (I03_S03, A. 145). Prinzipiell ist also die Glaubensannahme (AE1.10) bezüglich der Bedeutung der Kausalität als Referenzkonstrukt anzunehmen. Erweiterungen gab es dabei an zwei Stellen. Zunächst sei nicht jedes Kausalkonstrukt unbedingt schlecht, sofern es das Verhalten ermögliche. Auflösungen erfolgen nach Hinweis der Experten bzw. Expertinnen nur an subjektiven Problemstellen und nicht allgemein theoretisch. Dies ist durch folgende Aussage verdeutlicht worden: „Wenn ich das Gefühl habe: ‚Es schränkt sie gerade ein in ihrer Handlungsfähigkeit und es könnte sein, dass anders darauf zu gucken, ihre Handlungsfähigkeit erweitert’“ (I03_S03, A. 149) oder „Also ich würde jetzt mit Ihnen das nicht theoretisch reflektieren, sondern eher direkt“ (I04_S04, A. 306). Des Weiteren wies einer oder eine der Befragten darauf hin, dass die Erweiterung der sehr oft im Beratungsprozess erscheinenden Monokausalität durch ‚kausale Felder’ bereits Lösungen herbeiführt: „Also wir haben ein kausales Feld mit vielen Faktoren. […] wenn die so eine mono-kausale Sicht auf bestimmte Dinge haben, sag ich immer: ‚Können Sie sich noch andere Ursachen vorstellen?’“ (I04_S04, A. 290). Eine Zustimmung zur Glaubensannahme (AE1.10) in Bezug auf die Kausalität als wichtiger Aspekt zur Bearbeitung individueller Befangenheit wurde erhoben, eine Aussage über die Relevanz von Glauben allgemein ist aber nach den Antworten nicht möglich. Durch die Verwendung des Begriffs ‚Glaubenssätze’ bei NLP (vgl. I12_N04, A. 345) wurde von diesen befragten Experten und Expertinnen eine hohe Resonanz zu dem allgemeinen Konstrukt ‚Glauben’ erwartet. Jedoch äußerten sich dazu nur drei der Experten bzw. Expertinnen positiv. Einer oder eine dieser verstärkte sogar die Fundamentalität der Beobachtereigenschaft des Glaubens: „Wir können aus einem Menschen Dinge heraus glauben“ (I11_N03, A. 275
471). Diese Verallgemeinerung des Glaubensaspektes wird als Zusatzinformation mitgeführt. Bezüglich des Aspektes der Kausalität im Speziellen gab es eine breitere Zustimmung von fünf der sieben Experten und Expertinnen, zwei Antworten konnten durch einen abweichenden Gesprächsverlauf nicht erhoben werden. Kausalität wird als Generalisierung gewertet (zumeist als Wenn-Dann Verknüpfung, vgl. I09_N01, A. 273 oder I13_N05, A. 387), welche im NLP, sofern sie behindern, in Frage gestellt wird (vgl. I12_N04, A. 410): „Es ist fast immer so. Jemand kommt und hat/ hat ja so was/ Ursache-Wirkung. Das ist ja meist die Basis. Auseinander ziehen, versuchen zu trennen, tu ich das ja auch immer“ (I14_N06, A. 441). Als Erweiterung wurde angemerkt, dass eine fundamentale Auseinandersetzung mit der Kausalität allerdings nicht unbedingt zu mehr Handlungsfähigkeit führt: „Es würde mir zu weit führen. Also wenn ich grundsätzlich sagen würde: ‚Es/ ich stelle das Konzept der Kausalität als solches in Frage’, dann wäre ich beim/ bei diesem Extrem, ja, dann bin ich wieder bei diesem ganz radikalen Konstruktivismus zum Teil auch. Der war einfach zu unpraktisch“ (I12_N04, A. 422). Auf Basis dieser Aussagen liegt also eine Zustimmung der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund in Bezug auf die Bedeutung des Kausalitätskonstruktes in Beratungsprozessen vor. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund konnte bezüglich des Glaubens allgemein eine breite Zustimmung aller Experten und Expertinnen dieses Ansatzes erhoben werden. Die folgende Aussage fasst deren Position gut zusammen: „Also der Glaube ist eine ganz wichtige Funktion, also eine, wie soll ich sagen, eine Basisfunktion“ (I19_H04, A. 174). Diese Basisfunktion ist bei Veränderungen unabdingbar, wie dieses Zitat zeigt: „Wie will ich etwas verändern, wenn ich nicht daran glaube“ (I18_N04, A. 239; ähnlich I22_H07, A. 176). Kurz und prägnant fasst das anschließende Statement die Rolle des Glaubens zusammen: „Also Glaube ist ein und alles“ (I20_H05, A. 264). Und demnach gilt umgekehrt „Zweifel ist ein mentaler Widerstand, der ganz stark ist“ (I19_H04, A. 174). Als Methode kann also eine Zielrichtung vorgestellt werden und „wenn ich jetzt die Affirmation habe, dann entsteht entweder das, was ich will […] oder es kommt die ganze Negativität […] Glaubenssätze, die das beschränken“ (I18_H03, A. 284). Diese durchgehende Zustimmung zur allgemeinen Bedeutung von sechs Experten und Expertinnen wird als Zusatzinformation mitgeführt. Über die Kausalität im Spezifischen wurden dagegen weniger Antworten ermittelt. Nur zwei der Experten bzw. Expertinnen sehen hier den Kern der Problementstehung: „Diese Regel aufzustellen, dass ist die Ursache“ (I21_H06, A. 356), von den anderen Experten und Expertinnen liegen keine Aussagen vor. LONO ist der Erfinder von Regeln und KU führt sie aus (vgl. 276
I21_H06, A. 354). Das entspricht auch unserem Lernmuster der westlichen Kulturen: „Die Gedanken sind wichtig, Ratio steht über alles“ (I23_H08, A. 127), und führt damit zu den häufigsten Problemen. Durch die sehr geringe Anzahl der Antworten zur Kausalität ist keine Aussage aus Sicht der Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund möglich, über die allgemeine Bedeutung des Glaubens und damit zu der Glaubensannahme (AE1.10) wurde eine breite Zustimmung aller erhoben.
In dieser Diskussion konnten die Ergebnisse zu der Erweiterung der Rekursion hin zur Selbstverstärkung vorgestellt werden. Viele der Annahmen sind dabei auf eine breite Zustimmung gestoßen, wobei im nun die Ergebnisse zu den letzten Annahmen erläutert werden.
V.5.2.5
Annahmen zum Lock-In
Während in der vorhergehenden Diskussion die Ergebnisse zur Selbstverstärkung dargestellt wurden, waren in dem letzten Block des Leitfadens die Annahmen zum intra-individuellen Lock-In und der Lösung aus diesem enthalten. Die Ergebnisse der dazugehörigen Fragen werden im Anschluss vorgestellt.
Die erste Frage in diesem letzten Block adressierte sowohl die Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11: Lösung des intra-individuellen Lock-Ins als langer Weg durch verstärkende Muster) wie auch die Mehrmaligkeitsannahme (AE3: Durchführung mehrmaliger Beratungsgespräche als notwendige Reaktion auf den intra-individuellen Lock-In). Beide Annahmen werden gemeinsam für die drei Gruppen dargestellt. Alle Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund stimmten der Perspektive zu, dass Musterveränderungen eine längere Zeit in Anspruch nehmen: „Ich hab jetzt nicht den Größenwahn zu glauben, das man/ weiß ich/ ein jahrelang kultiviertes/ eine Jahre lang kultivierte Problemsituation durch eine Intervention auflösen kann, sondern das ist ein Prozess. Also technische Systeme brauchen Wartung, soziale Systeme brauchen eben auch Pflege.“ (I05_S05, A. 185). Die Dauer der Veränderung variiert allerdings bei den Klienten und Klientinnen. Dies wurde durch folgende Aussagen festgehalten: 1) „Manchmal reichen drei Sitzungen wirklich/ also beispielsweise mit so einer paradoxen Intervention“ (I07_S07, A. 301). 2) „Das ist ein Prozess von, was weiß ich, von, bestimmt zehn Sitzungen, bis es mehr verinnerlicht ist“ (I08_S08, A. 68). Oder 3) „also nicht nur so ne Einmalveranstaltung, oder zwei, sondern dass man eben die noch ein Stück begleitet. Vielleicht über ein, zwei Jahre“ (I04_S04, A. 277
282). Prinzipiell gilt bei den Experten und Expertinnen diese Aussage: „Wenn ich einen langen Prozess habe, lässt sich einfach auch eine/ ein anderes denken manifestieren und einführen. Eine andere Sichtweise auf die Dinge. Wenn ich, ja, wenn es nur kurze Prozesse sind, oder/ oder kurze Situationen sind, kann ich nur Impulse gegeben“ (I02_S02, A. 227). Wie lange ein Prozess dauert, entscheiden die Klienten und Klientinnen: „Und deswegen, da wieder die Frage, welche/ mit welchem Auftrag komme ich hin“ (I06_S06, A. 158). Sie tragen auch mit ihrer Haus-Arbeit der Anwendung wesentlich zum schnellen Gelingen bei: „Und das entscheidende findet, so oder so, eigentlich eher zwischen den Supervisionssitzungen oder nach den Supervisionssitzungen statt“ (I03_S03, A. 153). Als Problem in derartigen längeren Prozessen wurde genannt und zwar, dass die Wirkung der Methoden an Kraft verliert: „Also es wird immer schwieriger, eine Perturbation herbeizuführen, weil eine Perturbation schon ein bisschen was einmaliges voraussetzt“ (I03_S03, A. 165). Im Gesamten ist also der LösungsHistorizitätsannahme (AE1.11) von allen Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund zugestimmt worden. Zur Mehrmaligkeitsannahme (AE3) über die Wiederholung von Beratungen stimmten eigentlich auch alle Experten bzw. Expertinnen zu. Allerdings unter der Einschränkung, dass die Klienten bzw. Klientinnen erstens über die Dauer entscheiden und zweitens durch ihre Mitarbeit die Dauer maßgeblich beeinflussen. Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund sind der Meinung, dass eine Lösung von kognitiven Stabilitäten zumeist durch einen langen Beratungsweg erfolg. Es gab zu dieser Frage Aussagen wie: „Es geht dann auch ganz/ ganz/ ich sag mal, ganz profan darum, bestimmte Verhaltensweisen auch erstmal zu üben“ (I09_N01, A. 212). Eine andere Aussage war: „es gibt Leute, an denen ackere ich rum wie ein Pferd und nach anderthalb Stunden/ nach der siebten, achten Sitzung passiert dann da mal was“ (I10_N02, A. 61; ähnlich I10_N02, A. 520). Obwohl NLP, wie oben beschrieben, eher mit der Kurzfristigkeit geworben hat, sehen die Experten und Expertinnen hierin nur eine relative Aussage gegenüber anderen Verfahren. Genannt wurde z.B. die herkömmliche Psychoanalyse (vgl. I10_N02, A. 262, 264; I12_N04, A. 222), welche sie vom Prinzip her ablehnen: „Wenn ich dieselben Muster dann auch noch/ noch mal und noch mal und noch mal austrete, dann baue ich sozusagen im Gehirn die Autobahn für das, dass immer wieder dasselbe passiert. Eigentlich möchte ich ja Muster verändern“ (I12_N04, A. 240). Dieser ‚Bau von Autobahnen im Gehirn’ kann auch als praktische Einübung von Alternativen erfolgen: „Ich muss mich also selber hinsetzen und mich täglich trainieren“ (I11_N03, A. 193; ähnlich I12_N04, A. 396). Das Training erfolgt nicht nur praktisch, sondern auch durch mentale Übungen: z.B. „Mit dem Re-Imprint wieder gucken, wo 278
wurde die Regel gelernt“ (I09_N01, A. 493; auch I13_N05, A. 209). Und ebenfalls ist die Mitarbeit der Klienten und Klientinnen von Bedeutung, insbesondere in der Hinsicht, dass diese nicht aufgeben: „Ein Klient scheitert drei, viermal, dann fällt er sofort in das alte Verhalten zurück, weil er sich da auskennt und weil er es kann“ (I10_N02, A. 175). Interessanterweise wurde noch einmal differenziert zwischen Problemlösungen – bezogen auf ein generelles Muster – und Situationslösungen, welche durch ein generelles Muster zu einem Problem wurden. Eine Lösung des ersteren dauert meist länger und ist nachhaltiger: „Wenn es um das generelle Problem geht, dann ist das jetzt nicht unbedingt mit ein oder zwei Stunden erledigt“ (I09_N01, A. 559). Die Zielrichtung wird aber von den Klienten und Klientinnen bestimmt: „Dass ich wirklich mich auf das, was ich/ den Auftrag habe, konzentriere“ (I09_N01, A. 549). Bei Aufträgen von Unternehmen wird eine langfristige Betreuung zumeist nicht erwünscht: „Die Betreuung während des Prozesses einfach immer wieder rausfliegt aus den Aufträgen“ (I13_N05, A. 58; mit Geldgründen argumentiert vgl. I15_N07, A. 76). Nach dieser Diskussion sind mehrmalige Beratungen nach den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund sinnvoll und erwünscht, was die Mehrmaligkeitsannahme (AE3) bestätigt. Aber letztendlich entscheiden Klienten und Klientinnen über die Zielrichtung und bestimmen durch ihre Mitwirkung ebenfalls die Dauer von Lösungsprozessen. Der Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11) wurde, wie die dargestellten Aussagen verdeutlichen, auch zugestimmt. Die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund bezeichneten indirekt die Veränderung alter Muster als Kampf: „Wenn jetzt dem innere Dinge entgegenstehen, dann ist die Frage: ‚Wie besiege ich die?’“ (I18_H03, A. 24). Sie verbanden daher auch die Veränderung mit einem Übungsprozess: z.B. „Dass das mit Übung zu tun hat, ja“ (I18_H04, A. 174) oder „immer so der Weg der kleinen Schritte“ (I20_H05, A. 517) oder auch „Gewohnheiten zu verändern, braucht in der Regel etwas Zeit und auch etwas Energieaufwand“ (I21_H06, A. 163). Hinsichtlich der Länge differieren die Angaben aber erheblich von „fünf oder zehn Mal“ (I20_H05, A. 205) bis hin zu „3000 Mal muss man, glaube ich, was gemacht haben bevor so ein Automatismus einsetzt. Ich muss einfach immer wieder das neue Programm stärken. Ich muss das neue Programm mit Energie versorgen, bis es irgendwann stärker ist als das alte. Und dafür brauche ich manchmal eine Zeit der Begleitung oder in der Wirtschaft wäre es eine Zeit, wo ich gecoacht werde, wo mir das deutlich wird und irgendwann habe ich es aber. Und manchmal löst ein Kieselstein eine Lawine aus“ (I23_H08, A. 327). Demnach gehen einige der Experten und Expertinnen davon aus, dass eine Unterstützung und Beratung hilfreich ist, während andere die Selbstarbeit der Klienten und Klientinnen in den Vordergrund rücken. 279
‚Heimarbeit’ und Beharrlichkeit halten den Veränderungsprozess in Gang: „Ja, wenn ich keine Ausdauer habe, dann habe ich auch schlechte Karten“ (I20_H05, A. 406). Eine Rückkehr in alte Strukturen durch neue Bestärkung eines schon mal betretenen Pfades sei daher jederzeit möglich: „Man kann jedes Problem wieder neu erzeugen durch entsprechendes Denken“ (I21_H06, A. 51). Auf Basis der sechsfachen Zustimmung mit den restlichen Fehlangaben kann von der Zustimmung zur Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11) ausgegangen werden. Für die Mehrmaligkeitsannahme (AE3) ist mit der ebenfalls erfolgten Zustimmung auch die Zusatzinformation über die Mitwirkung der Klienten und Klientinnen aufzunehmen.
Es folgt die Lösungsglaubensannahme (AE1.12), welche wieder eine spezifische Form des Glaubens widerspiegelt. Diese war auf die Beurteilung ausgerichtet, inwiefern der Glauben an eine Lösung ein relevanter Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins ist. Probleme werden nach Ansicht eines Experten bzw. einer Expertin mit systemischem Hintergrund nicht verändert, wenn jemand nicht an Lösung glaubt: „Wenn ich das glaube, dann höre ich auch nicht auf“ (I01_S01, A. 210). Andererseits wird Lösung erzeugt, wenn an die Fehlerhaftigkeit des Verhaltens geglaubt wird: „Weil er selber nicht mehr daran glaubt, dass es so weitergeht“ (I06_S06, A. 180). Da nur diese beiden Antworten vorlagen, kann keine zusammenfassende Aussage über die Zustimmung zur Lösungsglaubensannahme (AE1.12) getroffen werden. Vier der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund waren der Überzeugung, dass ohne den Lösungsglauben eine Veränderung nicht zu erreichen ist. Dies verdeutlicht das stellvertretende Zitat: „Er denkt: ‚Ich krieg das nicht auf die Reihe und ich kann nicht alleine und ich bin Opfer der Verhältnisse’; kann ich mit ihm so viel arbeiten wie ich will an Verhaltensalternativen. Er wird es ja nie umsetzen können, weil er ja weiß, dass er ja eigentlich gar nichts bewirken kann“ (I10_N02, A. 250). Bei einem Verhältnis von vier Zustimmungen und drei fehlenden Aussagen, kann von einer mehrheitlichen Zustimmung zur Lösungsglaubensannahme (AE1.12) gesprochen werden. Die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund machten ähnliche Aussagen wie bei dem Glauben an Kausalität: „Also das ist/ Glaube versetzt Berge ist/ ist HUNA“ (I18_H04, A. 174) oder „Glaube ist ein und alles. Weil, Glaube öffnet alle Kanäle und bringt die Erwartung, dass was passiert“ (I20_H05, A. 264). Zweifel an der Lösung entsprächen einer Selbst-Sabotage (vgl. I21_H06, A. 408), der Glauben an die Lösung unterstützt den Prozess: „In dem Moment, wo ich mir das wirklich glauben kann, bin ich überhaupt nicht in der Gefahr, dass mir 280
das passiert, was hier aufgearbeitet werden soll“ (I20_H05, A. 340). Da sechs der sieben Meinungen Zustimmungen waren, kann von einer allgemeinen Zustimmung der befragten Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund zur Lösungsglaubensannahme (AE1.12) gesprochen werden.
Der Wille zur Lösung wurde in der Lösungswillensannahme (AE1.13) zusammengefasst und durch eine Frage in diesem letzten Block erhoben. Vier der befragten Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund machten dazu eine Angabe. Diese verdeutlichten, dass der Wille zentral ist: „Aber wenn da ein Widerstand besteht: ‚Wir wollen nicht’ oder da brauchte nur einer sich zu sperren, dann ist das ganz schwer das aufzulösen“ (I06_S06, A. 81). Somit ist die Frage nach expliziten Veränderungsmöglichkeiten ein guter Einstieg: „Am Anfang der/ entweder der Therapie, Supervision, oder Coaching: ‚Was darf nicht verändert werden? Was soll so bleiben wie es ist?’“ (I07_S07, A. 321). Diese verhindert, dass nicht erst spät in der Metakommunikation das Problem der Veränderungsresistenz angesprochen wird. Insbesondere die folgende Aussage greift diesen Aspekt auf: „Wenn ich das über fünf Sitzungen spüre und in der fünften Sitzung immer noch das Gefühl habe, ihm ist mehr daran gelegen, sich bestätigen zu lassen, als durch meine störenden Fragen auch mal ein Stückchen irritieren zu lassen, oder so, dann würde ich das/ würde ich das Meta-Kommunizieren“ (I08_S08, A. 343). Dass der Willen nicht vorhanden ist, liegt nach den Experten und Expertinnen einerseits an dem Desinteresse der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen an Verantwortung: „Im […] unternehmerischen Alltag ist das ganz oft so, dass die Mitarbeiter eben Mitarbeiter sein wollen und nicht Verantwortung haben wollen“ (I02_S02, A. 241). Die vierfache Zustimmung bei vier fehlenden Aussagen führt zu einer vorsichtigen Akzeptanz der Lösungswillensannahme (HE1.13). Von den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wird berichtet, dass Klienten und Klientinnen zum Teil ohne diesen Willen erscheinen und damit auch resistent gegenüber Veränderung sind: „Weil meistens ist es so, die Leute/ also, es ist so, sie klagen und wollen aber eigentlich Mitleid. Sie wollten nicht eine Veränderung“ (I09_N01, A. 361; auch I13_N05, A. 381) oder „Weil ansonsten kann ich da ja tausend Interventionen mit ihm machen/ bringt ja alles nicht viel“ (I10_N02, A. 250). Nur wo ein Wille ist, besteht auch die Möglichkeit „Wenn ich in einem Coachingprozess bin, sag ich immer nur: ‚Sag mir deine/ sag mir, was du willst’“ (I12_N04, A. 469). Allerdings ist durch die Präsenz eines Anfangswillen nicht gewährleistet, dass die Klienten und Klientinnen im längeren Lösungsprozess dabei 281
bleiben: „Ja, ich kläre das auf. Aber ich kann nichts machen, ob der bleibt oder geht“ (I11_N03, A407). Diejenigen, welche bereits zu Beginn einen Veränderungswillen haben, verlasse dann aber oft bei der Aufdeckung von Ursachen – und der damit verbundenen Veränderungsarbeit – der Mut. Dazu ein Zitat: Sie sind „engagiert und motiviert am Anfang und wenn sie dann feststellen, dass es ja, wie so ans Eingemachte geht, […] dass es da der Schritt nicht weiter geht, dann sind das oft, ja, richtig/ richtige Verletzungen, die die sich aber selber noch nicht eingestanden haben“ (I14_N06, A. 307). Zur Lösung brauche es also den kontinuierlichen Willen, der oft durch Grenzen in der Karriere oder Gesellschaft (z.B. Vorgesetzte, vgl. I15_N07, A. 380) stabilisiert wird (vgl. I13_N05, A. 357). Diese Lösungswillensannahme (AE1.13) wird also durch alle sieben der Experten und Expertinnen von NLP unterstützt. Zu der gestellten Frage äußerten sich alle sieben Expertinnen und Experten mit Huna als Hintergrund positiv. Nach diesen gilt: „Zuerst ist der Wille da, es zum Verschwinden zu bringen“ (I18_H03, A. 58; auch I23_H08, A. 329). Anders formuliert hieß es auch: „Aber, wenn jemand bereit ist, das wirklich zu tun, wird er oder sie in vielen Fällen spüren, dass sich hier etwas verbessert. Und dann ist es das, was am meisten überzeugt“ (I21_H06, A. 410). Und umgekehrt gilt bei der fehlenden Präsenz des Willens, dass eine Lösung keinen Erfolg hat: „Ich respektiere den freien Willen des anderen. Und wenn der nicht will, dann will er nicht“ (I20_H05, A. 103). Darüber hinaus führe der fehlende Änderungswille auch zu einer ‚Verödung’: „Nur die Leute, die die aufgeben, die sind nämlich nicht mehr in dem Strom angeschlossen. Die, die versumpfen wirklich. Also die sich selber aufgeben“ (I22_H07, A. 124). Abschließend für die Lösungswillensannahme (AE1.13) liegt also eine breite Zustimmung dieser Experten und Expertinnen vor.
Bei der Externalitätsannahme (AE1.14) ging es um die Beurteilung der inneren Selbstlösung als relevanten und der externen Heilung als nicht relevanten Faktor zur Bearbeitung des intra-individuellen Lock-Ins durch die Experten und Expertinnen. Diese Annahme war negativ formuliert, so dass eine Zustimmung zu dieser negativen Formulierung einer Ablehnung externer Beratung entspricht. Die Klienten und Klientinnen äußerten bei den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund öfter die Meinung: „Die Beraterin hat es uns nicht intensiv genug beigebracht“ (I02_S02, A. 237). Für die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund gilt aber die folgende Idee: „Das Einzige was Beratung leisten kann, ist Muster durcheinander zu bringen und Ideen von neuen Mustern einzuführen. Und ob die aber aufgegriffen werden oder/ 282
das ist eine andere Geschichte“ (I01_S01, A. 108; ähnlich I03_S03, A. 153). Alles andere wäre sogar „totale Selbstüberschätzung“ (I01_S01, A. 192) oder „die Rolle eines Messias“ (I03_S03, A: 155). Und eben diese Position schützt die Berater oder Beraterinnen vor der Verzweiflung: „Da könnte ich wirklich auch verzweifeln, wenn ich jetzt also möchte, dass die das machen, und sie machen es einfach nicht“ (I01_S01, A. 178). Auch wenn manches Mal die Position schwer zu ertragen scheint: „Das finde ich auch das/ das schwierige und manchmal auch das frustrierende an dieser Beratungsarbeit. Die Garantie auf Erfolg ist nicht da“ (I02_S02, A. 243). Änderung ist alleine durch positives Mutmachen zu bewirken: „Also ich muss es auch positiv formulieren. Ich muss/ ich muss ganz/ ich muss da auch positive Bilder in die Köpfe meiner Teilnehmenden setzen, damit es gelingen kann. Wenn ich dann negative Bilder einführe: ‚Oh, das ist so mühsam, der Alltag holt sie auch ein, und so weiter’, dann/ dann/ ne/ dann/ dann verhindere ich eine positive Entwicklung dadurch, dass ich am Ende da noch mal so einen Grau-Schleier über alles lege“ (I02_S02, A. 249; auch Begeisterung wird angesprochen vgl. I07_S07, A. 321). Neben einer fehlenden Antwort sind sieben der Experten bzw. Expertinnen für diese Position des Einflusses ohne Macht der Auflösung. Auch das Vorschlagen oder ‚Verschreiben’ wird in diesem Rahmen als mögliche Variante gesehen, ob es jedoch wirkt, entscheiden die Klienten und Klientinnen: „Also da würde ich nicht sagen: ‚Das systemische erlaubt mir das nicht’ […] Das würde ich vielleicht einleitend sagen: ‚Wollen Sie es hören, was ich dazu denke? Normalerweise gebe ich keine Empfehlungen oder Ratschläge, aber hier ***’“ (I08_S08, A. 374). Somit führt die Betrachtung der Aussagen dazu, dass eine Zustimmung zur Externalitätsannahme (HE1.14) durch die sieben Experten bzw. Expertinnen vorliegt. Nach den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund gebe es für erfolgreiche Beratung nur die Möglichkeit ‚offene Stellen’ bei den Klienten und Klientinnen aufzufinden, bei denen diese externen Einfluss zulassen: z.B. „Wenn man das nicht auf eine geschickte Art und Weise macht, dann hat man eigentlich kaum Möglichkeiten, da in dieses System rein zu kommen“ (I09_N01, A. 373). Beratung ohne Selbstbeteiligung der Klienten und Klientinnen funktioniert dagegen nicht: z.B. „Was selten funktioniere und deswegen komme ich von dem Beratungsansatz immer mehr weg, weil der eigentlich nur sehr schwer funktioniert, sag ich mal so. Und dann versuche ich mit dem Klienten/ also erstmal versuche ich, ihn in die Selbstverantwortung zurückzubringen, ja?“ (I10_N02, A. 248) oder „Dass ich dann die Zügel in die Hand nehme. Das führt ins/ ja, führt ins Aus“ (I15_N07, A. 420). Es geht also darum Selbstverantwortung herzustellen und dabei zu helfen, Probleme bewusst zu machen: „Ich bin nicht 283
dazu da, Probleme zu lösen sondern meine Aufgabe ist es, bewusst zu machen“ (I11_N03, A. 420; ähnlich I14_N06, A. 317). Diese Herausforderung liegt aber auf Seiten der Experten und Expertinnen, denn sie müssen flexibel die Möglichkeiten ausprobieren: „Also ich muss sagen, das finde ich, ist auch schlechter Arbeitsstil einfach. Wenn jemand, also in unserem Beruf, nicht die Flexibilität hat, da dann auch wirklich souverän mit umzugehen und eben nicht nur einen Weg oder/ oder nur einen Weg kennt und nicht einfach auch verschiedene Wege, wie man ans Ziel kommt“ (I09_N01, A. 587). Die Externalitätsannahme (AE1.14) ist also durch alle sieben Experten bzw. Expertinnen unterstützt worden. Als Ergänzung wird die Methodenvielfalt zur Mobilisierung von Veränderungsbereitschaft notiert. Die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund formulierten zu dieser Frage, dass prinzipiell jeder Mensch für sich alleine an seinen Veränderungen arbeite: „Jeder Mensch stärkt sich. Das ist glasklar“ (I16_H01, A. 102; auch I22_H07, A. 248) oder „Also ich helfe Leuten, sich selber zu heilen. Ich heile niemanden“ (I18_H04, A. 218). Diese Veränderung nach dem sechsten Prinzip ‚alle Macht kommt von Innen’ kann nach den Experten und Expertinnen in Begleitung erfolgen: „Also es geht hier um eine Art mentaler Arbeit, die ich für mich alleine oder mit einem Freund zusammen oder sonst wie machen kann“ (I18_H03, A. 50). Einwirkungen bei dem Prozess könnten allerdings nur in Form des Mutzusprechens erfolgen: „Jeder Mensch, der hierher kommt, den möchte ich ermächtigen. Den möchte ich ermutigen“ (I16_H01, A.51), als Angebot: „Also ich kann Angebote machen, also so wird es formuliert“ (I20_H05, A. 103) oder als Spiegelung „Ich verstehe mich so, dass ich bewusst mache“ (I20_H05, A. 326). Methoden sind daher auf die Selbstanwendung ausgerichtet und mit Beispielen wird versucht, den Klienten oder die Klientin die eigene Kraft zu demonstrieren: „Ich möchte den Menschen die Kraft ihrer Gedanken bewusst machen“ (I21_H06, A. 128). Und auch hier werden Klienten und Klientinnen nur spezifische Dinge zulassen (vgl. I18_H04, A. 253), selbst wenn einige Methoden von Huna zur Kraftübertragung auf andere ausgelegt sind: „Wenn ich z. B. an eine Freundin denke, die sehr krank ist, kann ich hingehen und ihr Energie senden. Ob sie das annimmt oder nicht, das ist ihre Entscheidung. Ich habe nicht die Macht, sie zur Gesundheit hin zu manipulieren“ (I23_H08, A. 143). Beratung im Sinne des Ratschlags ist bei den Experten und Expertinnen nicht hoch angesehen, was die folgende Nachfrage verdeutlicht: „Was veranlasst Sie zu glauben, dass Sie das beurteilen können?“ (I16_H01, A. 142) oder „Also ich sage nicht jemanden: ‚Also, passen Sie mal auf, was ich in Ihnen sehe ist: ***’“ (I18_H04, A. 85; ähnlich I20_H05, A. 95). Diese Art der Einwirkung gegen den Willen bezeichnet einer oder eine der Befragten auch als „schwarze Magie. Wenn 284
ich jemanden zwinge, was zu tun, was er nicht will“ (I18_H04, A. 208). Alle sieben der Experten und Expertinnen sind also gegen die externe Heilung mit den genannten Möglichkeiten der Unterstützung, so dass hier also eine Zustimmung zur negativ formulierten Externalitätsannahme (AE1.14) vorliegt.
Mit der letzten Frage wurde die Wiederholungsannahme (HE1.15) diskutiert, bei der es um die Lösungsmöglichkeit durch Methodenwiederholung ging. Die fünf gegebenen Antworten der Experten bzw. Expertinnen mit systemischem Hintergrund waren gegen eine exakte Wiederholung gerichtet, was jedoch nicht einer längeren Dauer von Beratungssitzungen widerspricht. Ursache ist dabei: „Also es wird immer schwieriger, eine Perturbation herbeizuführen, weil eine Perturbation schon ein bisschen was einmaliges voraussetzt“ (I03_S03, A. 165). Die Klienten und Klientinnen würden sich auch nicht ernst genommen fühlen, dass brachte einer oder eine der Befragten noch ein: „Da würden die sich, ich sage es mal auf deutsch, veräppelt ge/ f/ / fühlen“ (I06_S06, A. 156). Auf dieser Basis ist die Wiederholungsannahme (AE1.15) aus Sicht der systemischen Experten bzw. Expertinnen zu verwerfen. Vier der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund sagten aus, dass das Jonglieren mit Methoden besser geeignet sei, als eine Sache zu wiederholen: „Die gleiche Sache habe ich nicht noch einmal mit jemandem durchgemacht“ (I14_N06, A. 395). Insbesondere dann, wenn Klienten und Klientinnen auf bestimmte Methoden nicht (mehr) reagieren. Dies belegt folgende Aussage: „Sondern das ist eher eigentlich, dass man permanent, ich sag mal so, diese einzelnen Bausteine hat und immer wenn man merkt, man kommt weiter, dann geht man einen Schritt und wenn nicht, dann/ dann nimmt man irgendeinen anderen Baustein, stellt eine andere Frage“ (I09_N01, A. 605; auch I15_N07, A. 233). Nach den befragten Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund ist es also nicht die Wiederholung der selben Methoden, sondern die kontinuierliche Verwendung verschiedener Methoden: „Also, dass weiß ich einfach auch aus meiner eigenen Erfahrung. Ich trainiere täglich bis heute“ (I11_N03, A. 193). Da vier Ablehnungen zu Wiederholungsannahme (AE1.15) vorlagen, liegt für diese Annahme von den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund keine Zustimmung vor. Von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund gab es keine spezifischen Antworten zu dieser Frage. Es wurde lediglich einschränkend zur Anwendung von Methoden generell erwähnt, dass verschiedene Methoden für verschiedene Menschen funktional sind: „Methoden sind praktisch. Methoden sind Vehikel für mich. Davon gibt es unendlich viele 285
und je nach Glaubenssystem gefällt es einem Menschen“ (I16_H01, A. 47). Insbesondere die visualisierende oder imaginierende Arbeit bei Huna sei zum Teil schwierig: „Und ich arbeite mit/ arbeite mit Klienten sehr, sehr unterschiedlich. Manche können gar nicht gut mit inneren Bildern, ist nicht ihr Ding oder ist zu bedrohlich“ (I23_H08, A. 411). Auf Basis der unspezifischen Antworten zu der Wiederholungsannahme (AE1.15) kann hierzu keine Aussage getroffen werden.
Im Rahmen dieser Diskussion wurden nun die Ergebnisse zum intra-individuellen Lock-In analysiert, wobei die Aussagen zwischen den Ansätzen differierten. Eine grafische Übersicht wird anschließend gegeben, um die Ergebnisse noch mal zusammenzufassen und auf die Unterschiede bei den Ergebnissen einzugehen.
V.5.2.6
Grafische Zusammenfassung
Die vorher geführte Diskussion beinhaltete die Darstellung der Auswertungen zu den einzelnen Annahmen, sortiert nach den Blöcken des Interviewleitfadens. Zitate der befragten Experten und Expertinnen haben dazu gedient deren Zustimmung oder Ablehnung zu verdeutlichen. Bevor die Ergebnisse zusammenfassend grafisch dargestellt werden, ist noch einmal vorab zu erwähnen, dass die Ergebnisse nicht nur auf Basis des konstruktivistischen Verstehensbegriff vorsichtig zu bewerten sind. Durch die geringe Anzahl der befragten Experten und Expertinnen entsprechen die Aussagen nur Zustimmungen im Einzelfall (im Rahmen einer Vorstudie) und können nicht auf alle Experten und Expertinnen des jeweiligen Beratungsansatzes übertragen werden (Generalisierung). Die Zustimmungen der Experten und Expertinnen werden dahingehend verwendet, dass Modell eines individuellen Pfades als funktional zur Erklärung der Entstehung eines individuellen Lock-Ins anzusehen und dieses als Grundlage für zukünftige mittelbare und unmittelbare Aktionsforschung zu verwenden. Auf die empfohlenen Methoden wird später noch eingegangen, hier folgen nun die grafische Zusammenstellung der Ergebnisse zu den Annahmen (vgl. Abbildung 13) und eine Diskussion der Unterschiede. In der Grafik sind für jede Gruppe der Experten und Expertinnen die Zustimmungen für jede Annahme in absoluten Zahlen aufgeführt, wobei die Annahmen mit mehreren Unterfragen nur die Angaben zu den gestellten Fragen enthalten. Auf die Bildung von Mittelwerten oder die Verwendung ähnlichen Verfahren wird auf Grundlage der qualitativen Auswertung verzichtet.
286
Abbildung 13 – Zustimmungen zu den empirischen Annahmen
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Gemeinsamkeiten werden bei der folgenden Diskussion nicht noch einmal hervorgehoben, da nur Differenzen und nicht vorhandene Ablehnungen für die weitere Entwicklung der Aspekte von Bedeutung sind.
Zunächst ist in der Grafik (vgl. dazu Abbildung 13) zu erkennen, dass sowohl die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund wie auch die mit NLP als Hintergrund mit wenigen Ausnahmen mehr als vier Zustimmungen pro Annahme aufweisen. Bei acht bzw. sieben der befragten Experten und Expertinnen ist damit eine Tendenz hinsichtlich der Relevanz der diskutierten Faktoren und Relationen zu erkennen. Auf Basis der qualitativen Erhebung wird auf eine Aussage über die Zustimmung zur Modellannahme (AE1) selbst verzichtet, denn ansonsten müsste auch hier ein Mittelwert oder ähnliches gebildet werden. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wird in der grafischen Zusammenstellung noch einmal das Problem der Erhebung des abweichenden Interviewverlaufes deutlich. Da zu viele Annahmen im Prinzip über zu wenige Aussagen verfügen, kann bei einigen Annahmen weder von einer Zustimmung noch einer Ablehnung ausgegangen werden. Die gewonnenen Hinweise werden zwar dennoch unter Vorbehalt das Modell eines individuellen Pfades integriert, aber die Beziehung zwischen den Methoden und den Faktoren und Relationen sind daher mit Vorsicht zu interpretieren. Bei dem detaillierten Vergleich der Ergebnisse der einzelnen Gruppen ist zu erkennen, dass die Antworten von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund insbesondere bei für das Modell eines individuellen Pfades entscheidenden Annahmen differieren. Die deutliche Differenz bei der 3fach-Selbstverstärkungsannahme (AE1.6), der Erwartungsannahme (AE1.7) und der Additivitätsannahme (AE1.8) liegt bei der bereits reflektierten, missglückten Interviewführung. Die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund lieferten daher keine Ablehnung, sondern keine Antworten zu diesen Annahmen. Bei den Experten und Expertinnen mit NLP und systemischem Hintergrund entsprechen sich gegenseitig die Zustimmungen, allerdings sind einige wenige Unterschiede erkennbar. Auf diese wird nun eingegangen. Bei der Virtualitätsannahme (AE1.2) sehen alle Experten und Expertinnen aus dem Bereich NLP die virtuelle, also rein mentale Arbeit in Bezug auf die Lösung individueller Stabilitäten als sinnvoll und möglich an. Dagegen vertreten die systemischen Experten bzw. Expertinnen eher den theoretischen Standpunkt, dass keine Unterscheidung in virtuelle und ‚reale’ Ebene erfolgen kann. Da sie aber eine mentale Arbeit oder die mentale Problementstehung nicht ausschließen, gaben vier der acht Befragten zu diesem Aspekt ihre Zustimmung ab. Ebenso we288
nig Zustimmung gaben die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund, hier liegt jedoch der Grund in den fehlenden Aussagen. Eigentlich, sofern die Frage hätte hinreichend oft diskutiert werden können, unterstützt ihr erstes Prinzip die Perspektive der inneren Konstruktion: „Die Welt ist das wofür Du sie hältst“. Im Rahmen der Diskussion zur individuellen Zeit bei der Zeitannahme (AE1.9) liegt ebenfalls ein sehr unterschiedliches Ergebnis vor. Hier ist erkennbar, dass die befragten Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund trotz der Beinhaltung des Timeline Basiskonzepts – oder eben des darauf basierenden Re-Imprintings – nicht vollständig der Arbeit mit individuellen Zeitvorstellungen zustimmen. Zwei Aussagen positionierten sich sogar dagegen. Es ist anzunehmen, dass die systemischen Experten und Expertinnen enger an der Vorstellung der Konstruktivität arbeiten, auch im Bezug auf die Zeit. Verwunderlich bleibt dies dennoch, da einzelne Methoden aus dem NLP deutlicher mit der subjektiven Zeit arbeiten als die Fragetechniken der systemischen Experten und Expertinnen. Die Relevanz des Glaubens bei der Problementstehung und Lösung, also den Ergebnissen zur Lösungsglaubensannahme (AE1.12), wird eindeutig von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund unterstützt. Die Zustimmung der Experten und Expertinnen der beiden anderen Richtungen fällt nur gering aus, was jedoch auch an einigen fehlenden Antworten zu dieser Frage liegt. Alle die Experten und Expertinnen, welche hierauf eine Antwort gegeben haben, sind von diesem Aspekt überzeugt. Bei denen mit Huna als Hintergrund wurde durch die deutliche Zustimmung auch die Relevanz aus ihrer Position heraus bekräftigt. Den letzten deutlichen Unterschied gab es bei der Lösungswillensannahme (AE1.13). Während die Experten und Expertinnen mit Huna oder NLP als Hintergrund deutliche Zustimmung zu diesem Aspekt signalisierten, äußerten die systemischen Experten und Expertinnen dagegen nur wenig Zustimmung. Aber auch hier lag der Grund nicht an sachlichen Argumenten, sondern an fehlenden Antworten. Zusammenfassend kann also mit der gebotenen Vorsicht durch die Zustimmungen der befragten Experten und Expertinnen davon ausgegangen werden, dass alle in das Modell integrierten und diskutierten Faktoren und Relationen von Bedeutung sind und in dem Modell enthalten bleiben sollten. Anschließend werden nun die von den Experten und Expertinnen aufgeführten Ergänzungen zusammengestellt und diskutiert.
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V.5.3
Zusammenstellung der Erweiterungen auf Basis der Interviews
Im vorherigen Unterkapitel konnten die Zustimmungen der befragten Experten und Expertinnen zu den einzelnen empirischen Annahmen dargestellt werden. Vorgeschlagene Ergänzungen wurden dabei notiert, welche in der folgenden Tabelle – mit der jeweiligen Häufigkeit der Nennungen – zusammengestellt und in der Summe aufsteigend sortiert sind (vgl. Tabelle 04). In der Einleitung zu diesem Kapitel wurde schon dargestellt, dass Einzelnennungen nicht berücksichtigt werden sollten und die Doppelnennungen keinen Beitrag zu den Faktoren und Relationen des Modells lieferten. Daher ist die Tabelle auf mindestens drei Nennungen in der Summe beschränkt.
Zusatzinformationen
Summe
Systemisch
NLP
Huna
Emotion (verhindert / ermöglicht)
16
3
6
7
Interaktion (zwangsl. in Gesellsch.)
15
4
4
7
Musterbedeutung (verh./ ermögl.)
13
6
6
1
Glauben (Fundament)
11
1
3
7
Resistenz (wird verwendet)
10
4
4
2
Verengen (wird verwendet)
9
4
4
1
Verflüssigen (wird verwendet)
7
4
1
2
Beteiligung verh. private. Anwen.
4
4
0
0
Selbstwert (als Treiber)
4
0
0
4
Hierarchische Beratung im System
3
1
0
2
Tabelle 04 – Hierarchisierte Auswertung der Zusatzinformationen
Oben beginnend, ist die wichtigste Erweiterung in Bezug auf das Modell eines individuellen Pfades, die deutliche Berücksichtigung von Emotion. Diese steht mit insgesamt 16 Nennungen an oberster Stelle und wurde einerseits als Basis für erfolgreiches Coaching und andererseits als größtes Hindernis für Wandlungsprozesse an sich gesehen. Während emotionale Beteiligung als Freude und Neugier den Klienten und Klientinnen hilft an sich selbst zu arbeiten, blockiert Angst, Sicherheitsbedürfnisse und Hilflosigkeit die Aufdeckung von Ursachen. Obwohl Emotion bereits in dem Modell enthalten ist (neben den Sinnen), ist jedoch nicht deutlich genug auf die Verknüpfung von Konstruktionen mit Emotion eingegangen worden. Die von den Experten und Expertinnen herausgestellte Relevanz der Emotion legt es nahe, diesen
290
Aspekt deutlicher zu berücksichtigen als es durch die Ebene neben den Sinnen im Modell vollzogen wurde. Es folgte die Interaktion als häufig genannter Zusatzpunkt, auf die im Rahmen der Akzeptanz externer Aspekte in dem Modell eines individuellen Pfades schon eingegangen wurde. Als Zusatzinformation ist es deswegen mitgeführt worden, weil mehrfach die Wichtigkeit dieser Ebene für den Menschen als soziales Wesen genannt wurde. Eine dadurch entstehende Abhängigkeit von sozialen Aspekten macht ihn wiederum empfänglich für die Akzeptanz sozialer Konstrukte. Diese Information führt daher nur zur Verdeutlichung des Akzeptanzaspektes. Bei der dritten Position mit 13 Nennungen wurde von einer Reihe der Experten und Expertinnen betont, dass die diskutierte Musterbildung zwar für Probleme gültig wäre, jedoch zunächst einmal für unproblematische Konstruktionen genau so gilt. Erst wenn eine Situation sich verändere und mit der alten Konstruktion nicht das erwünschte Ziel erreicht werden könne, dann würde diese Konstruktion zu einem Problem werden. Die Abkehr sei dann durch die häufige positive Anwendung nur schwer möglich. Hieraus können zwei Schlüsse gezogen werden: Erstens ist das Modell eine treffende Beschreibung sowohl für die Problementstehung als auch für Konstruktionen allgemein. Dieser Aspekt wurde im Rahmen des Modells bereits durch die subjektive Problemeinstufung als intra-individueller Lock-In bearbeitet, jedoch den Experten und Expertinnen nicht explizit vorgelegt. Der zweite Aspekt ist, dass die Individuen die Additivität ihrer Erinnerung wahrscheinlich in positive und negative Erfahrungen auftrennen. Hierdurch kann also erklärt werden, warum die Individuen bei Problemen fehlerhafte oder problematische Lösungsversuche unternehmen: Ihre positiven Erfahrungen mit diesem Weg überwiegen, so dass ihnen eine Verwendung plausibel erscheint. Die Relevanz des Glaubens wurde 11-mal in den Vordergrund gestellt. Spezifisch wurde der Faktor des Glaubens bereits bei der Glaubensannahme (AE1.10) in Bezug auf die Kausalität diskutiert, sowie bei der Lösungsglaubensannahme (AE1.12) über den Glauben an eine Lösungsmöglichkeit. Die Experten und Expertinnen führten jedoch dessen grundsätzliche Bedeutung z.B. auch im Hinblick auf funktionale Muster und die Lösungsmethoden selbst (als glaubensabhängige Rituale) an, so dass er in einem Modell noch fundamentaler verankert werden sollte. Die in der Reihenfolge mit 10, neun und sieben Nennungen folgenden Aspekte der Resistenz, Verengung und Verflüssigung waren keine Zusatzinformationen in dem Sinne der Neuheit. Diese Kodes wurden eingeführt, um im Sprachgebrauch der Experten und Expertinnen Formulierungen zu entdecken, die bereits auf die Vorstellung von Selbstverstärkung und Lö291
sungsproblematik hinwiesen. Die hohen Werte zeigen noch einmal, dass die Vorstellung bereits präsent war und das Modell eines individuellen Pfades diesen Aspekt nun im konstruktivistischen Rahmen theoretisch verankert hat. Bei der Auswertung der systemischen Experten und Expertinnen wurde bereits zur Reichweite der eigenen konstruktivistischen Position eingeräumt, dass bei einer privaten Beteiligung in Problemen die Lösungsmethodik oft nicht greifbar erscheint. Dieser Aspekt ist als Zusatzinformation aufgegriffen worden, beschränkte sich aber im Rahmen der Aussagen auf die systemischen Experten und Expertinnen. Hieraus wird einerseits die Position der Emotionalität bestärkt und andererseits zeigt dies, wie schwer manche Lösung sein kann, obwohl die Klienten und Klientinnen in diesem Fall Experten und Expertinnen einer gewissen Methodik sind. Es folgt der Zusatz des Selbstwertes als ein fundamentaler Treiber zum Verhalten und auch zur Problemkonstruktion des Individuums. Dieser Aspekt ist in das Modell eines individuellen Pfades einzugliedern. Abschließend wurde oben noch die ‚hierarchische Beratung in sozialen Systemen’ empfohlen. Diese bezieht sich nicht zwangsläufig auf die Hierarchie des Organigramms, sondern auf die wahrgenommene Hierarchie. Als Beispiel wurde die folgende Geschichte erwähnt, welche die Zielrichtung der Anmerkung gut zusammenfasst: „Es gibt einen Automat und der Unter/ der kleine Affe wird trainiert mit drei, vier bestimmte Handgriffen eine Banane zu ziehen. Und kaum hat er die, kommen die anderen und grabschen sie ihm weg, weil er ist ja nur der Kleine und essen tun zuerst die anderen. Aber niemand lernt, wie der Automat geht. Wenn man den Oberaffen nimmt und man erklärt ihm als/ als Mensch, der ja hier das Sagen hat und für den Oberaffen auch die Autorität darstellt innerhalb vom Zoo. Erklärt der ihm wie er die Banane zieht. Dann zieht er die Banane, alle gucken interessiert zu, keiner nimmt sie ihm weg und lernen das selber machen“ (I18_H03, A. 84). Änderungen für das Modell eines individuellen Pfades und dessen grafischer Darstellung ergeben sich hierdurch nicht, denn dieser Aspekt sattelt auf der internen Akzeptanz von Hierarchie.
Zusammenfassend ist also zu erwähnen, dass nach den Erweiterungen die Emotion, die separierte Sammlung positiver und negativer Erfahrungen und der Selbstwert als Verhaltenstreiber zu integrieren sind. Die Aspekte der Akzeptanz und des Glauben können noch einmal deutlich herausgestellt werden, denn sie sind in der zweiten Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades und dessen grafischer Darstellung bereits enthalten. Im folgenden Unterkapitel
292
kann auf die Lösungsmethoden eingegangen werden, welche im Rahmen der einzelnen Annahmen genannt wurden.
V.5.4
Auswertung zu den Lösungsmethoden
Neben den empirischen Annahmen, zu denen direkt Fragen im Leitfaden formuliert wurden, gab es noch die Methodenannahme (AE2). In dieser wurde angenommen, dass zu allen Faktoren und Relationen des Modells eine Reihe von Methoden des jeweiligen Beratungshintergrundes der Experten und Expertinnen genannt werden. Eine Analyse der Ergebnisse in Bezug auf die genannten Methoden zeigt, dass zu fast allen diskutierten Annahmen Methoden genannt wurden. Allerdings gibt es zwei Einschränkungen in Bezug auf das Ergebnis. Erstens lagen zu unterschiedlichen Annahmen unterschiedlich viele Nennungen von Methoden vor. Diese Anzahl differierte zwischen den Ansätzen und zum Teil wurden von Experten und Expertinnen eines Ansatzes auch vereinzelt keine Methoden genannt. Daher kann auf dieser Grundlage nicht von einer Zustimmung zur Methodenannahme (AE2) durch die Experten und Expertinnen der verschiedenen Ansätze ausgegangen werden. Es zeigt sich hierbei jedoch, da alle Experten und Expertinnen zu den Faktoren und Relationen des Modells zumeist zustimmten, dass die Kombination der verschiedenen Methoden vor dem Hintergrund des entwickelten Modells ein sehr fruchtbares und zentrales Ergebnis dieser Arbeit ist, auch wenn die strenge Formulierung der Methodenannahme nicht erfüllt wurde. Zweitens wurden auch nicht zu allen der diskutierten empirischen Annahmen Methoden von den Experten und Expertinnen erwähnt. Bei der Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11), der Externalitätsannahme (AE1.14), der Wiederholungsannahme (AE1.15) und der Mehrmaligkeitsannahme (AE3) wurden keine Methoden genannt. Außer die Mehrmaligkeitsannahme, welche nicht zu der zentralen Modellannahme (AE1) über Faktoren und Relationen im Modell hinzugerechnet werden kann, wäre bei den anderen Annahmen zur Erfüllung der Methodenannahme die Nennung von Methoden von Bedeutung gewesen. Daher kann auch auf dieser Grundlage nicht von einer Zustimmung zur Methodenannahme (AE2) durch die Experten und Expertinnen ausgegangen werden. Jedoch engen diese zwei Einschränkungen das Ergebnis nur im Rahmen der Vielfalt von Methoden und in Bezug auf die strenge Formulierung der Methodenannahme ein. Die Zusammenstellung möglicher Methoden in Bezug auf die Faktoren und Relationen des Modells eines individuellen Pfades kann dennoch – mit nur wenigen Ausnahmen – erfolgen. 293
Trotz dieser zwei Einschränkungen sind die Ergebnisse der Nennungen zu den einzelnen Faktoren und Relationen des Modells sehr umfangreich und ein bedeutender Beitrag dieser Arbeit, so dass im Rahmen dieses Unterkapitels näher auf die genannten Methoden eingegangen wird. Die Ergebnisse sind für die zukünftige Forschung, insbesondere auch in empirischer Hinsicht und für die praktische Anwendung, von großer Bedeutung. Für die jeweiligen Annahmen über die Faktoren und Relationen werden die entsprechenden Methoden angeführt und innerhalb der Gruppen der jeweiligen Experten und Expertinnen verglichen. Die Aufgliederung des Unterkapitels erfolgt wieder in Anlehnung an die Blöcke des Leitfadens. Methoden, welche bereits in den Methodenglossars des jeweiligen Beratungsansatzes enthalten sind (vgl. dazu Anhang 2, 3 und 4), werden nicht noch einmal explizit beschrieben. Neue Methoden, welche nicht in diesen Glossars enthalten sind, werden dagegen erklärt. Am Ende jeder Diskussion zu einem Block des Leitfadens wird eine tabellarische Zusammenfassung der Ansätze gegeben. Alle genannten Methoden, welche in Bezug auf individuelle Pfade hier zusammengestellt werden, sind im Ergebnis als umfassendes Coaching-Repertoire (Embracive Coaching) zu bezeichnen. Begonnen wird nun mit der Darstellung einer allgemeinen Position in Bezug auf die angewendeten Methoden durch die Experten und Expertinnen, wodurch die Verbindung zum Paradoxon des Barons von Münchhausen aufgegriffen wird.
V.5.4.1
Allgemeine Anmerkung zu den Methoden
Prinzipiell verstehen alle Experten und Expertinnen ihre Methoden nur als Unterstützung zur Selbsthilfe, was die Auswertung zur Externalitätsannahme (AE1.15) bereits gezeigt hat: Die Methoden sind ein Angebot neue Einflüsse in die Wirklichkeitskonstruktion des Einzelnen einzuspeisen. Was davon umgesetzt wird, unterliegt den jeweiligen Klienten und Klientinnen. Es wurde ebenfalls durch die Aussagen von allen Experten und Expertinnen zu dieser Annahme klargestellt, dass die eigentliche Arbeit durch den Klienten oder die Klientin selbst erfolgt. Die Experten und Expertinnen verwenden damit das anfänglich eingeführte Paradoxon des Barons von Münchhausen (vgl. II.4), der sich hier zwischen den Sitzungen durch faktische und mentale Übung aus seinem selbst erschaffenen Sumpf befreit. Experten und Expertinnen als Außenstehende treten dabei als Spiegel auf und helfen, bewusst zu machen und zu irritieren. Eigentlich haben die Klienten und Klientinnen bereits die Erkenntnis über ihren intra-individuellen Lock-In gewonnen, wenn sie auf Berater und Beraterinnen zugehen. Ohne diese Erkenntnis sind sie nach Meinung der Experten und Expertinnen auch nicht für Veränderungen empfänglich. 294
Die meisten vorgestellten Methoden können nach Ansicht dieser Arbeit auch konsequent ohne die Irritation der Experten und Expertinnen durch die Klienten und Klientinnen selbst verwendet werden. Es unterliegt ihnen, ob sie Experten und Expertinnen für eine Assistenz in Anspruch nehmen. Individuen kennen aber häufig die Methoden nicht und gehen genau aus diesem Grunde zu den Experten bzw. Expertinnen. Die Experten und Expertinnen wenden die Methoden dann entweder an oder lehren diese im Rahmen von Fortbildungsveranstaltungen. Nach dieser Darstellung allgemeiner Anmerkungen zu den Methoden erfolgt nun die Analyse der genannten Methoden zu dem ersten Block aus dem Leitfaden über Wahrnehmung.
V.5.4.2
Methoden zur Wahrnehmung
Bei der Darstellung der allgemeinen Anmerkungen zu den Methoden durch die Experten und Expertinnen wurde noch einmal verdeutlicht, dass die befragten Experten und Expertinnen ihre Klienten und Klientinnen als Baron von Münchhausen im Sumpf verstehen. Die Methoden helfen dabei zu irritieren, die Arbeit der Lösung vollziehen jedoch die Klienten und Klientinnen, in dem sie sich an ihren eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Im Rahmen dieses Kapitels werden nun die Methoden genannt, welche insbesondere in Bezug auf die Annahmen zur Wahrnehmung verwendet werden können.
Bei der Konstruktionsannahme (AE1.1) über die Konstruktion der Wirklichkeit wurden einige Methoden empfohlen, welche helfen diese Perspektive in das System einzubringen. Aus systemischer Sicht zählen dazu die grundlegende Methode des Hypothetisierens, die Problemnutzenfragen sowie zirkuläre Fragen über Dritte. Darüber hinaus wurden als visualisierende Techniken das Familienbrett (Aufstellung) und die Skulpturarbeit (Aufstellung) erwähnt. Zusätzlich zu diesen Methoden wurde von den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund vorgeschlagen, ein Feedback von ihnen an die Klienten bzw. Klientinnen zu geben. Dies hat die Wirkung, dass die Äußerungen direkt gespiegelt werden können, um im Diskurs bereits Irritationen zu erzeugen. Aus dem Bereich der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wurden zur Konstruktionsannahme (AE1.1) zunächst einige der bereits vorgestellten systemischen Methoden bestätigt (das Hypothetisieren, die zirkulären Fragen über Dritte). Dies liegt daran, dass einige der Experten und Expertinnen das systemische NLP verwenden (vgl. V.5.2.1). Darüber hinaus wurden auch weitere systemische Methoden angeführt: Als-Ob-Fragen, Problempaketfragen, Verschlimmerungsfragen und die Wunderfragen. Als reine Methoden des NLP wurde dazu 295
erwähnt, dass es für eine Beratung sehr wichtig ist auf die Wirklichkeitskonstruktion des Klienten oder der Klientin einzugehen. Dazu nannten die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund vor allem das Cross-Pacing und das direkte Pacing. Als Erweiterung wurde die Methode ‚erste-zweite-dritte-Position’ mehrfach erwähnt. Diese ist bisher nicht im Methodenglossar aufgeführt und wird daher hier kurz beschrieben: Die ‚erste-zweite-dritte-Position’ ähnelt den systemischen Methoden zur zirkulären Frage über Dritte und das Selbst, wobei nicht nur die eigene und andere mögliche Perspektiven auf das individuelle Problem abgefragt werden. Bei der ‚erste-zweite-dritte-Position’ ist das Ziel, dass die Klienten und Klientinnen die Wirklichkeitskonstruktion aus einer anderen Perspektive über alle Sinneskanäle (VAKOG) erleben. Die Klienten und Klientinnen sollen sich dabei in die eigene, in eine fremde und in die Meta-Perspektive mental hineinversetzen und die Situation über alle VAKOG-Ebenen beschreiben. Mit diesem Ansatz sollen tiefere und insbesondere emotionale Einblicke in die anderen Perspektiven möglich werden, was bei der zirkulären Frage nur auf der kognitiven Ebene erfolgt. Diese Methode führt nach Aussagen der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund in der Regel zu Veränderungen im eigenen Weltbild der Klienten und Klientinnen. Wichtig ist die Einführung eines absoluten Trenners (Seperator), um den Ebenenwechsel kognitiv zu verdeutlichen. Für das Erleben der Konstruktion von Wirklichkeit werden von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund prinzipiell alle Basismethoden zu den sieben Prinzipien (Erkundung der Energie-Verbindungen, Erkundung der Macht der Autorität, Erkundung der Macht der Flexibilität, Erkundung der Macht der Liebe, Erkundung der Macht des Denkens, Erkundung des Energie-Flusses, Erkundung des gegenwärtigen Augenblickes) und den drei Dimensionen des Individuums (Erkundung der Emotion, Erkundung der Erinnerung, Erkundung der geistigen Verbundenheit, Erkundung der Gewahrsamkeit, Erkundung der Imagination) vorgeschlagen. Darüber hinaus wurden jedoch auch vier ‚kinesologische Muskeltests’ oder ‚Armtests’ vorgestellt, um vier der sieben Prinzipien noch deutlicher erfahrbar zu machen. Da diese nicht im Methodenglossar zu Huna enthalten sind, werden sie hier kurz vorgestellt. Bei allen diesen vier Armtests wird an etwas Positives oder Negatives gedacht, wobei anschließend der Berater oder die Beraterin auf Kommando den ausgestreckten Arm jeweils mit derselben Kraft herunterdrückt. Der erste ‚Muskeltest (IKE)’ läuft so ab, dass die Klienten und Klientinnen (1) zuerst mit einem ausgestreckten Arm an etwas Positives denken. Die Experten und Expertinnen sagen nun (2) ‚Halten’ und drücken gegen den ausgesteckten Arm, wobei die Klienten und Klientinnen gegen den Druck halten. Dann sollen die Klienten und Klientinnen 296
(3) an etwas Negatives von sich denken und sobald sie etwas gefunden haben dies durch das Kommando ‚Das gefällt mir nicht’ bestätigen. Daraufhin (4) drückt der Berater oder die Beraterin auf den ausgestreckten Arm mit der selben Kraft wie unter (2) und die Klienten und Klientinnen merken wie sie sich durch Gedanken schwächen, denn der Arm geht schneller und weiter runter. Anschließend denken die Klienten und Klientinnen (5) wird an etwas Positives von sich und mit dem Kommando ‚Das gefällt mir’ drückt (6) der Berater oder die Beraterin wieder den Arm mit derselben Kraft. Die Klienten und Klientinnen merken, wie sie sich durch positive Gedanken stärken. Der zweite ‚Muskeltest (KALA)’ erweitert den vorherigen Test, indem nun (1) nach erneuter Widerstandskontrolle bei ausgestrecktem Arm (2) der Berater oder die Beraterin etwas Negatives über die Klienten und Klientinnen denkt. Auf seinen (3) Ausspruch ‚Halten’ müssen die Klienten und Klientinnen ihren Arm oben halten. Je drastischer die Gedanken der Experten und Expertinnen, desto schwächer werden die Klienten und Klientinnen. Nach der Übung wird um Entschuldigung gebeten186. Der dritte ‚Muskeltest (MAKIA)’ erweitert den vorherigen Test um einen weiteren Schritt. Die Klienten und Klientinnen (1) denken selbst nun an etwas Negatives, diesmal aber in Bezug auf jemand Anderen. Auf (2) das Kommando ‚Das mag ich nicht’ wird erneut der Arm durch die Experten und Expertinnen gedrückt. Dadurch merken die Klienten und Klientinnen, dass Hass auf jemand Anderen auf sie selbst zurückfällt. Die letzte Erweiterung des Tests gibt es durch den ‚Muskeltest (MANA)’. Während Experten und Expertinnen (1) an etwas Negatives über den Klienten oder die Klientin denken, wiederholen (2) die Klienten und Klientinnen innerlich: ‚Ich kann das!’. Auf das (3) Kommando ‚Halten’ drückt der Berater oder die Beraterin wieder den ausgestreckten Arm herunter, so dass die Klienten und Klientinnen merken, dass jegliche Einwirkung des Außen nur durch ihren inneren Zustand verursacht wird. Zusätzlich zu diesen vier Muskeltests wird von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund die Verwendung von Ich-Botschaften als Methode eingeführt, welche die Konstruktivität bestärken.
Zur Virtualitätsannahme (AE1.2) über die virtuelle Konstruktion von Wirklichkeiten wurden nur wenige Vorschläge gemacht. Die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund wenden dabei vor allem die bereits im Methodenglossar vorhandenen Methoden des 186
Diese Übung werden bei Huna für die Präsentation der Mächtigkeit von Gedanken genutzt. Allerdings wird dabei wenig kritisch mit der Erklärung der Wirkmächtigkeit individueller Gedanken umgegangen. Eine alternative Erklärung wäre z.B., dass eventuell der Experte seine Kraft auf den Arm der Klienten marginal erhöht. Denn er könnte sich selbst durch sein negatives Denken bestärken. Diese Methode hatte zwar im Rahmen der Interviews bei mehreren Demonstrationen funktioniert, ist aber für die Praxis in Bezug auf Unternehmen nicht unbedingt empfehlenswert.
297
Hypothetisierens, der Metaphern und der Problemnutzenfragen an. Als Beispiel für eine Metapher nannten sie die Geschichte des ‚Hammers’ von Watzlawick. Dabei geht es um zwei Nachbarn, wobei der eine vom anderen einen Hammer ausleiht und sich über den Gesichtsausdruck und die Worte des anderen bei der Übergabe des Hammers so viele Gedanken macht, dass er am Ende ohne den Hammer zu benutzen diesen wieder zurückgibt mit den Worten ‚Deinen Hammer kannst Du behalten!’. Diese Metapher dient als Anregung dafür, dass jeder Mensch sich im Geiste seine eigene Geschichte zurechtlegt. Aus dem Kreis der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wurden keine expliziten Methoden erwähnt, die zur Bearbeitung von ‚virtuellen’ Konstruktionen verwendet werden. Nach den befragten Experten und Expertinnen setzen alle Methoden von NLP auf der mentalen Ebene an. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurde die systemische Methode der Metapher bestätigt (auch hier wurde das Beispiel des ‚Hammers’ von Watzlawick genannt). Darüber hinaus wurde das Traumweben als zentrale Methode vorgeschlagen, um in der ‚virtuellen’ Ebene der Traumbilder Probleme zu bearbeiten. Den Klienten und Klientinnen wurde dann gesagt sich vorzustellen (imaginieren), dass ihr Problem ein Traum sei und dass das Problem sich im Traum als ein Teil von ihnen darstellt. Dieser Teil kann dann im Traum nach dessen Botschaft befragt werden oder es kann mit diesem gearbeitet werden (im Sinne einer Transformation).
Zur Spiegelung des Unbewussten – also der Unbewusstheitsannahme (AE1.3) – wurde von den systemischen Experten und Expertinnen nur die Methode des Hypothetisierens genannt. Obwohl der Aspekt von ihnen als wichtig eingestuft wurde, standen ihnen nach Auskunft keine wirklichen Methoden zur Verfügung. Ganz anders dagegen bei den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund. Sie wiesen darauf hin, dass die meisten Muster und Glaubenssätze im Unbewussten manifestiert sind und schlagen daher aus der Reihe der im Methodenglossar vorhandenen Methoden das 6-Schritt Reframing und das Bodenankern vor. Als Ergänzungen fügten die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund einerseits die Wertschätzung des Unbewussten und dessen Äußerungen an. Damit soll das Unbewusste in den Klienten und Klientinnen Bestätigung erhalten, so dass die Klienten und Klientinnen mehr Botschaften aus diesem wichtigen Bereich erhalten. Andererseits wurde die systemische Technik der Als-Ob-Frage erweitert und auf die Existenz des Unbewussten orientiert. Diese Frage wurde insbesondere für Klienten und Klientinnen 298
empfohlen, welche angaben keinen Zugang zu ihrem Unbewussten zu haben oder die Existenz des Unbewussten bestritten. Die Frau lautete dann z.B. ‚Stellen Sie vor, da wäre ein Unbewusstsein, welches Sie ansprechen könnten! Was würde das zu ihnen sagen?’. Die Klienten und Klientinnen werden dann angehalten, mit diesem Unbewusstsein zu reden. Auch die Experten und Expertinnen von Huna hatten zu diesem Punkt etwas beizusteuern. Zur Integration des Unbewussten in die Beratungspraxis schlugen die Experten und Expertinnen von Huna mehrere Methoden vor, die in dem Methodenglossar bereits enthalten sind: das 3-Stein Orakel, das 7-Stein Orakel, das Präsent Sein und das Traumweben. Zwei Erweiterungen wurden von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund genannt. Erstens spezifizierte ein Experte bzw. eine Expertin als Erweiterung zum Traumweben, dass eine schmerzende Körperregion bei einem geistigen Problem (z.B. Schmerz im Knie bei Stress mit Vorgesetztem) als Äußerung des Unbewussten angesehen werden kann. Ursache dafür ist die Speicherung der relevanten Erinnerung im Körper KU. Der Lösungsansatz des Traumwebens wird dann erweitert, indem nicht der ‚innere Garten’, sondern die schmerzende Körperregion mental ‚besucht’ wird. Dort ist dann mit den entstehenden Bildern zu arbeiten. Zweitens wurde die Methodik des ‚Dynamind’ vorgestellt, bei der das Unbewusste (hier KU) direkt in den Veränderungsprozess integriert wird. KU wird dabei bestimmend angesprochen (von LONO dem Verstand), dass ein Problem verändert werden soll. Darauf hin kann das Ziel als alternatives Verhalten genannt werden oder es ist um eine Alternative zu bitten. Anschließend werden sieben Akupunkturpunkte abgeklopft187.
Die Akzeptanzannahme (AE1.4) erfasste die Akzeptanz externer Aspekte und auch hierbei wurde von den systemischen Experten und Expertinnen einige Methoden vorgeschlagen, die im Methodenglossar bereits enthalten sind: Genogramme, das Hypothetisieren, Von den NLP Experten bzw. Expertinnen wurden die systemischen Methoden ergänzt und zwar um Ausnahmefragen und um Ressourcenfragen. Aus dem NLP selbst wurden die im Methodenglossar bereits enthaltenen Methoden des Bodenankerns und des Cross-Pacings vorgeschlagen. Zur Bearbeitung der Akzeptanz von externen Aspekten wurden von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund die Mentale Nabel-Verbindung sowie das Verbrennungsritu187
Diese Technik und die Lokalisation der Akupunkturpunkte beschreibt King noch einmal ausführlich mit Gebrauchsanleitung (vgl. King 2003). Dynamind der, von einem oder einer der NLP Experten bzw. Expertinnen genannten Methode des EFT äußerst ähnlich (vgl. zu EFT Fußnote 179).
299
al vorgeschlagen. Eine Erweiterung und eine Ergänzungen zu den bekannten Methoden wurden jedoch hier genannt. Erstens wurde das Verbrennungsritual neben seiner Standardform dahingehend erweitert, dass der Inhalt des Aufzuschreibenden aus dem Fremdbezug des Problems, dem damit einhergehenden Selbstbezug und der Verzeihung für beide Seiten bestehen sollte. Zweitens wurde als Methode die Sandwich-Technik der Kommunikation ergänzt. Diese soll helfen, z.B. Hypothesen über Ursachen und Kritik an dem Verhalten aufnahmefähiger für die Klienten und Klientinnen zu gestalten. Dazu wird vor und nach der Kritik Lob geäußert, so dass diese wie ein ‚Sandwich’ übermittelt wird.
Diese Vielzahl von genannten Methoden zu den Annahmen in Bezug auf die Wahrnehmung wiesen wie dargestellt zum Teil Überschneidungen auf und ergänzten sich jedoch auch gegenseitig. Die folgende Grafik fasst alle Methoden über alle drei Gruppen der Experten und Expertinnen in Bezug auf die jeweiligen Annahmen zusammen. Neue Methoden stehen dabei unterhalb der gestrichelten Linie (- - -) pro Annahme und bekannte Methoden, welche in den Methodenglossars enthalten sind, darüber (vgl. Tabelle 05). Diese Zusammenstellung der Methoden entspricht dem ersten Teil des umfassenden Coaching-Repertoires. Nun wird auf Methoden in Bezug auf die Annahmen über die Rekursion eingegangen.
300
Tabelle 05 – Bekannte und neue Methoden zur Wahrnehmung
V.5.4.3
Methoden zur Rekursion
Bei den Annahmen zur Rekursion wurden weitere Methoden genannt, welche zum Teil in Bezug auf die Wahrnehmung noch nicht eingeführt wurden und zum Teil auch dort bereits verwendet wurden. Diese werden im Anschluss erläutert. Die Erfahrungsbasis zu adressieren – Erfahrungsannahme (AE1.5) – wurde von den systemischen Experten und Expertinnen insbesondere auf deren positive Seite hin genutzt. Zur Bear301
beitung der Erfahrung nannten sie die folgenden, bereits im Methodenglossars aufgeführten Methoden: das Hypothetisieren, Ressourcenfragen und Problempaketfragen. Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund erweiterten die Nennungen der systemischen Experten und Expertinnen um einige systemische Methoden. Insbesondere nannten sie dabei das Familienbrett (Aufstellung), Genogramme, die Metapher mit der Geschichte des ‚Hammers’ von Watzlawick als Beispiel und die Skulpturarbeit (Aufstellung). Spezifische Methoden des NLP nannten sie nicht. Die Experten und Expertinnen von Huna schlagen zur Bearbeitung einfacher Erfahrung die Erkundung der Emotion, die Erkundung der Erinnerung sowie das Traumweben vor. Als Ergänzung führten sie auch hier die neue Methode des ‚Dynamind’ ein, welche jedoch oben bereits schon einmal als Ergänzung kurz beschrieben wurde.
Im Rahmen der Homöostasisannahme (AE4) wurden zwei Fragen gestellt, einerseits zur Ursache und andererseits zum Entstehungsprozess von Problemen. Insbesondere zu diesen beiden nannten die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund eine Reihe von Methode, welche im Methodenglossar bereits enthalten sind. Aus dem Bereich der Frageformen wurden vor allem die Als-Ob-Fragen, die Ausnahmefragen, die Beschreibung des ProblemsFragen, die Erwartungsfragen, die Klassifikationsfragen, die Problemerklärungsfragen, die Problempaketfragen und die Ressourcenfragen angeführt. Aus den visualisierenden Techniken nannten die Experten und Expertinnen Genogramme und Zeit-Raum-Energie-Diagramm. Von den Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund wurden bezüglich der Ursache eines Problems auch die Problempaketfragen der systemischen Methoden genannt. Zudem führten die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund auch spezifische Methoden von NLP ein: das 6-Schritt Reframing, das Erschaffen eines neuen Teils, das Inhalts-Reframing / Kontext-Reframing, das Re-Imprinting und das Timelining. Ergänzend führten die Experten und Expertinnen dieser Gruppe noch die neue Methode ‚erste-zweite-dritte-Position’ ein, diese wurde aber oben bereits schon bei einer anderen Annahme erstmals eingeführt und dort auch kurz erläutert. Die Experten und Expertinnen von Huna führten zu den Ursachen keine spezifischen Methoden an.
Auch hier ergänzten sich die verschiedenen genannten Methoden aus den jeweiligen Gruppen der Experten und Expertinnen. Die folgende Tabelle 06 fasst erneut alle Methoden über alle 302
drei Gruppen in Bezug auf die jeweiligen Annahmen über die Rekursion zusammen. Neue Methoden stehen dabei wieder unterhalb der gestrichelten Linie (- - -) pro Annahme und bekannte Methoden, welche in den Methodenglossars enthalten sind, darüber.
Tabelle 06 – Bekannte und neue Methoden zur Rekursion
Die Methoden zur Rekursion sind im Vergleich zu den Methoden zur Selbstverstärkung noch nicht so deutlich auf die Relevanz der subjektiven Zeit ausgerichtet, entsprechen aber dem zweiten Teil des umfassenden Coaching-Repertoires. Interessante Ergänzungen zu diesen Methoden, insbesondere im Hinblick auf die Selbstverstärkung, werden im Folgenden dargestellt.
V.5.4.4
Methoden zur Selbstverstärkung
Im Rahmen der Diskussion der Aspekte Erwartungsbildung, Handlung, Fokussierung, Interpretation – bei der 3fach-Selbstverstärkungsannahme (AE1.6) – wurden von den Experten bzw. Expertinnen mit systemischem Hintergrund zunächst zwei bekannte Methoden genannt: die Problempaketfragen und die Ressourcenfragen. Zudem ergänzten die Experten und Expertinnen die Methoden mit vier Fragen in Bezug zu den zentralen Punkten der 3fach-Selbstverstärkung: 1) Erwartung Æ Intentionsfrage (z.B. ‚Was war ihre Intention oder ihr Leitsatz, warum sie das gemacht haben?’), 2) Handlung Æ Handlungsfrage (z.B. ‚Wie haben sie daraufhin ge-
303
handelt?’), 3) Interpretation Æ Interpretationsfrage (z.B. ‚Was ist ihnen durch den Kopf gegangen?’), 4) Additivität Æ Wiederholungsfrage (z.B. ‚Was wollen sie wiederholen?’). Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund ergänzten die systemischen Methoden um weitere, welche wiederum im Methodenglossar aufgeführt sind. Zunächst nannten sie allgemein die Methode der Metapher mit dem Beispiel des ‚Hammers’ von Watzlawick. Zudem ordneten Sie einige der systemischen Fragen den zentralen Punkten der 3fach-Selbstverstärkung zu: 1) Handlung Æ Verschlimmerungsfrage, 2) Fokussierung Æ Ausnahmenfragen, 3) Interpretation Æ Ausnahmenfragen und Problempaketfragen. Ergänzend führten die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund drei weitere Methoden ein. Erstens zwei zusätzliche Fragen in Bezug auf die zentralen Punkten der 3fach-Selbstverstärkung: 1) Handlung Æ Handlungsalternativenfrage (z.B. ‚Was könntest Du stattdessen machen?’) und 2) Fokussierung Æ Fokussierungsalternativenfrage (z.B. ‚Was könntest Du stattdessen anschauen?’). Zweitens schlugen sie auch hier die Methode ‚erste-zweite-dritte-Position’ vor, welche bereits oben bei einer anderen Annahme eingeführt und kurz skizziert wurde. Die Experten und Expertinnen von Huna nannten zu dieser Annahme keine Methoden.
Auch zu den Erwartungen höherer Ordnung – Erwartungsannahme (HE1.7) – nannten die Befragten Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund eine Reihe von Methoden. Alle ihre Methoden gehörten dabei zum Standardrepertoire, welches bereits im Methodenglossar zusammengestellt wurde. Aus den Fragetechniken werden Als-Ob-Fragen, Ausnahmefragen, Problempaketfragen, zirkuläre Fragen an das Selbst und zirkuläre Fragen an Dritte genannt. Aus den Visualisierungstechniken und den Basistechniken werden das Hypothetisieren, das Familienbrett / Aufstellung und die Skulpturarbeit / Aufstellung genannt. Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund nannten keine der bekannten Methoden, sondern führten als Ergänzung das ‚Meta Modell’ an. Bei dem ‚Meta-Modell’ handelt sich um ein „syntactically based language model“ (Bostic & Grinder 2001, S. 148) mit dem Satzstrukturen analysiert und Gegenfragen formuliert werden können. Es gibt dabei 12 Basisformen und, mit den Erweiterungen durch spätere Forschung, 22 Formen der Satzstruktu-
304
ren188. Insbesondere Fragen zu Ursache und Wirkung oder das ‚Mind Reading’ greifen die Erwartung auf. Von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurden ebenfalls die zwei Varianten der systemischen Aufstellung (Familienbrett und Skulpturarbeit) genannt. Neben diesen Methoden nannten sie aus dem Repertoire von Huna noch die Mentale Nabel-Verbindung.
Auch der Additivitätsannahme (AE1.8) wurde von den Experten und Expertinnen zum Großteil zugestimmt. Zur Bearbeitung der Additivität schlugen die systemischen Experten und Expertinnen zumeist Frageformen vor: Als-Ob-Fragen, Ausnahmefragen, Bewusster Rückfall-Fragen, Klassifikationsfragen, Problemerklärungsfragen, Problemnutzenfragen, Ressourcenfragen, Verschlimmerungsfragen und Wunderfragen. Darüber hinaus nannten sie auch weitere Methoden, welche auch schon im Methodenglossar enthalten sind: das Hypothetisieren, Komplimente in Bezug zu kleinen Erfolgsschritten, Metaphern, Reframing (aus dem NLP also das klassische 6-Schritt Reframing) und Verschreibung. Ergänzend wurden zu den bereits genannten ‚Bewusster Rückfall-Fragen’ die neuen ‚Beibehaltungsfragen’ eingeführt. Diese sind darauf ausgerichtet zu erfragen, was Klienten und Klientinnen zum erhalt des Problems alles tun könnten, ohne dass sie sich dessen Verschwinden vorstellen müssen (z.B. ‚Was müssten Sie tun, damit Sie ihr Problem beibehalten und nicht verlieren?’). Auch neu eingeführt wurde die ‚Konfrontation’ mit dem problematischen Verhalten. Hierbei ging es darum, die gesellschaftlichen oder systembezogenen Grenzen und die verursachten Probleme zu spiegeln. Als dritte zusätzlich Methode wurde ein ‚Ballspiel’ vorgeschlagen. Dies verdeutlicht den Kreislauf der Reduktion von Alternativen in einem System, was auch auf das Individuum übertragen werden kann. Bei diesem Spiel erhält jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerinnen eine drei oder mehrstellige Zahl (z.B. Telefonnummern). Diese müssen sich ihre und die Zahlen der anderen merken und sollen sich gegenseitig einen Ball zuwerfen. Gefangen werden darf
188
Diese 22 neueren Formen werden mit einigen Unterformen wie folgt aufgelistet: 1a) Simple Deletions of Unspecified Nouns, 1b) Simple Deletions of Unspecified Adjectives und 1c) Simple Deletions of Unspecified Relationships. 2) Comparative Deletions, 3) Unspecified Referential Index, 4) Unspecified Verbs, 5) Nominalizations. 6a) Modal Operators of Necessity, 6b) Modal Operators of Possibility, 6c) Modal Operators of Judgment und 6d) Modal Operators of Contingency. 7a) Presuppositions, 7b) Selectional Restriction Violation. 8) Universal Quantifiers, 9) Cause – Effect. 10a) Mind Reading of Others, 10b) Expected / Denied Mind Reading by Others, 10c) Mind Reading that Others don’t know or understand, 10d) Mind Reading of Unknowable Future. 11) Complex Equivalence, 12) Lost Performative, 13) Either/Or, 14) Over/Under Defined Terms, 15) Delusional Verbal Splits, 16) Multiordinality (auch 5a), 17) Static Words (auch 5b), 18) Pseudo-Words (auch 5c), 19) Identification (auch 5d), 20) Emotionalizing, 21) Personalizing, 22) Metaphors (vgl. Hoag 2007).
305
der Ball aber nur, wenn der Werfer seine Zahl und die richtige Empfängerzahl gesagt hat. Am Ende bleiben erfahrungsgemäß nur sehr wenige Spieler und Spielerinnen im Kreis stehen. Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund erwähnten ebenfalls die systemischen Methoden Hypothetisieren und Metaphern. Aus ihrem Methoden-Repertoire nannten sie das Ankern189, das Re-Imprinting, das Timelining und die Veränderung von Glaubenssätzen. Sie bestätigten die Konfrontation als Ergänzung der systemischen Experten und Expertinnen. Selbst ergänzten die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund drei Methoden, welche alle eine Erweiterung bereits bestehender Methoden darstellen. Erstens erweiterten sie die Skulpturarbeit (Aufstellung) und auch das Familienbrett (Aufstellung) um die Durchlebung der aufgestellten Situation über alle VAKOG-Kanäle. Damit, so waren sie der Meinung, wären die Erfahrungen intensiver. Neben diesen Erweiterungen der zwei Methoden erweiterten sie zweitens das 6-Schritt Reframing im Sinne der Mehrfachanwendung entlang der Timeline. Damit ist nach diesen Experten und Expertinnen insbesondere der additive Aspekt berücksichtigt. Von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurden aus den bekannten Verfahren die Affirmation, die Blanko-Vergebung, die Erkundung der Emotion, die Erkundung der Erinnerung, das Konzentrieren, das Segnen als Form des summarischen Segnens, das Traumweben und das Verbrennungsritual. Ergänzt wurden diese Methoden um die oben bereits eingeführte Methode des Dynamind. Erweitert wurde von den Experten und Expertinnen dieser Gruppe insbesondere die Standardform des Traumwebens als ‚innerer Garten’, in dem Probleme mit ‚Krafttieren’ gemeinsam bearbeitet werden. Hierzu wurden drei Alternativen eingeführt: Erstens die ‚Visualisierung des inneren Kindes’, das zu dem spezifischen Problem befragt werden kann. Zweitens die ‚lokale Imagination’, bei der am Ort der Schmerzen (z.B. Knie) frei imaginiert wird und die Bilder ‚bearbeitet’ werden. Und drittens nannten die Experten und Expertinnen das lokale ‚Lagerfeuer’ als Erweiterung der ‚lokalen Imagination’. Dabei sollte am Ort der Schmerzen (z.B. Knie) imaginativ ein Lagerfeuer angezündet werden, bei dem die Beteiligten für das Problem und das ‚jüngere Ich’ ein offenes Gespräch führen, mit dem Ziel der gegenseitigen Vergebung. Neben den drei Erweiterungen des Traumwebens wurde auch die Standardtechnik der Affirmation erweitert. Diese entsprach der Bezeichnung von Ziel-Zuständen als ‚Vorgabe’ an das Unbewusste. Die Erweiterung berücksichtigte nun 189
Von einer der Experten bzw. Expertinnen mit NLP als Hintergrund wird das Ankern als Methode mit der Methode des EFT in Verbindung gebracht und deren Wirksamkeit als äußerst hoch eingestuft (zum Hintergrund des EFT vgl. Craig 2007).
306
die nach der Affirmation auftretenden Gedanken darüber, warum die Affirmation unsinnig sei. Diese Gedanken entsprachen nach einem Experten bzw. einer Expertin genau den Ursachen für das Problem und konnten nach deren Auftauchen bearbeitet werden.
Die Zeitannahme (AE1.9) war auf die Relevanz der subjektiven Zeit ausgerichtet und auch hier schlugen die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund bekannte Methoden vor: Ausnahmefragen, Klassifikationsfragen, Metaphern, Prozentfragen und Ressourcenfragen. Die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund verwendeten die ‚Walt-Disney-Technik’ (z.B. ‚Stellen Sie sich vor Ihr Problem wäre weg, was ist dann anders in Ihrem Leben?’), welche den systemischen Wunderfragen entspricht. Aus dem Methoden-Repertoire von NLP schlugen die Experten und Expertinnen insbesondere das Re-Imprinting und das Timelining vor. Aus den bekannten Methoden des Repertoires der Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurden die Erkundung der Emotion und die Erkundung der Erinnerung vorgeschlagen. Zusätzlich ergänzten einige der Experten und Expertinnen diese bekannten Methoden um die Methode des PIKO PIKO. Diese wurde als reine Entspannungsübung nicht in das Methodenglossar aufgenommen, wird hier jedoch zur direkten Problembearbeitung verwendet. Klienten und Klientinnen denken an den problematischen Zustand (das Problem) und entspannen ihren Körper durch Kreisatmen im Jetzt. Der Kreis entsteht durch die Konzentration auf Verschiedene Punkte beim Atmen: Beim ersten Einatmen zunächst auf den Kopf, beim Ausatmen auf den Bauch, beim zweiten Einatmen auf den Beckenboden, beim Ausatmen wieder auf den Bauch und dann von Vorne. Je intensiver die Klienten und Klientinnen sich auf das Problem konzentrieren und je intensiver sie sich entspannen, desto schneller ist nach den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund das Problem beseitigt. Daher wird die Methode nun als zusätzlicher Impuls berücksichtigt.
Zur Bearbeitung des Aspektes der Kausalität – in Verbindung mit dem Glauben daran (Glaubensannahme, AE1.10) – wurden von den systemischen Experten und Expertinnen einige Methoden vorgeschlagen: Ausnahmefragen, das Hypothetisieren, Klassifikationsfragen und Problempaketfragen. Ergänzungen oder Erweiterungen nannten sie nicht. Von den NLP Experten bzw. Expertinnen wurden aus den bereits eingeführten systemischen Methoden die Ausnahmenfragen ebenfalls vorgeschlagen und zudem aus dem systemischen 307
Repertoire noch die Metapher genannt. Diesmal wurde als Beispiel jedoch nicht das Beispiel des ‚Hammers’, sondern das Beispiel des ‚Bratens’ beschreiben. Bei dieser schneidet eine Hausfrau den Rand des Bratens ab, um auf Anfrage nach dem Grund an ihre Mutter zu verweisen. Ihre Mutter verweist auf Anfrage auf ihre Mutter (die Oma der Hausfrau). Diese argumentierte dann mit der Passung des Bratens in ihrem Brattopf und nicht mit der Notwendigkeit eines Schrittes der Kochkunst. Durch die Geschichte wird Aberwitzigkeit spezifischer Konstrukte vorgeführt. Ergänzt wurden die systemischen Methoden um eine bekannten Methode des NLP: das Ankern. Zusätzlich wurde das ‚Meta Model’ auch hier eingeführt. Dies wurde bereits weiter oben bei einer anderen Annahme schon eingeführt, wobei in Bezug auf die vorliegende Annahme insbesondere Fragen zur Ursache und Wirkung (9. Cause-Effect) daraus funktional erscheinen.
Es wurde auch zu diesen Annahmen eine Reihe von Methoden von allen Experten und Expertinnen der drei Gruppen genannt, welche sich ergänzten. Die folgende Grafik fasst wieder alle Methoden über diese drei Gruppen in Bezug auf die jeweiligen Annahmen über die Selbstverstärkung zusammen. Neue Methoden stehen dabei erneut unterhalb der gestrichelten Linie (- -) pro Annahme und bekannte Methoden, welche in den Methodenglossars enthalten sind, darüber (vgl. Tabelle 07).
308
Tabelle 07 – Bekannte und neue Methoden zur Selbstverstärkung
309
Diese in der Tabelle dargestellten Methoden entsprechendem dritten Teil des umfassenden Coaching-Repertoires. Sie erweitern vor allem die Methoden zur Rekursion. Als letzter Schritt werden nun die Methoden zu den Annahmen über den Lock-In vorgestellt.
V.5.4.5
Methoden zum Lock-In
Zur Lösungsglaubensannahme (AE1.12) wurde zwar von den Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund wie auch mit NLP als Hintergrund teilweise eine positive Meinung abgegeben, jedoch führte keiner der Experten und Expertinnen spezifische Methoden an. Die Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund boten dagegen zwei spezifische Methoden, welche beide in deren Methodenglossar enthalten sind: Die Affirmation und das Segnen in der summarischen Form. Erweiterungen bekannter Methoden oder Ergänzungen mit neuen Methoden gab es hierzu nicht.
Als letztes werden Methoden zur Lösungswillensannahme (AE1.13) vorgestellt. Die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund nannten dabei als Frageformen die Erwartungsfragen, Erfolgskriterienfragen, Überweisungskontextfragen und Problemnutzenfragen. Als weitere Methode neben den Frageformen erwähnten sie die Verschreibung. Auch die Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund verwiesen bei der Diskussion auf Methoden, die im systemischen Methodenglossar zu finden sind. Sie unterstützten die Verwendung von Erwartungsfragen, Erfolgskriterienfragen und Überweisungskontextfragen. Zudem nannten diese Klassifikationsfragen und das Hypothetisieren als Methoden aus dem systemischen Kontext. Aus dem Methoden-Repertoire von NLP schlugen diese alle Methoden des Rapports vor. Dazu zählen das direkte Pacing, das Cross-Pacing, die Kalibrierung und das Leading. Neu eingeführt wurde die Methode der ‚hypnotischen Sprachmuster’ und die ‚Selbstwirksamkeitsfrage’. Die ‚hypnotischen Sprachmustern’ dienen zur Stärkung des Veränderungswunsches, nicht aber zur Erzeugung. Bei diesen Sprachmustern kommt es insbesondere auf die Stimmfrequenz an, welche die inneren Wünsche der Klienten und Klientinnen stimulieren soll, damit sich diese öffnen. Die ‚Selbstwirksamkeitsfrage’ wurde von den Experten und Expertinnen als zusätzliche Frage zur Auftragsklärung gesehen. Hiermit soll erfragt werden, wie weit die Klienten und Klientinnen selbst an sich und ihre Lösungsfähigkeit glauben. Liegt hier bereits ein Problem vor, dann ist vor allem zuerst an dieser Stelle zu arbeiten.
310
Von den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurde einerseits auf das systemische Hypothetisieren als Methode zurückgegriffen. Andererseits wurden alle ‚Basismethoden’ der sieben Prinzipien eingeführt (Erkundung der Energie-Verbindungen, Erkundung der Macht der Autorität, Erkundung der Macht der Flexibilität, Erkundung der Macht der Liebe, Erkundung der Macht des Denkens, Erkundung des Energieflusses, Erkundung des Gegenwärtigen Augenblickes) und auch von den Experten und Expertinnen selber angewendet.
Obwohl nur zu zwei Annahmen des Lock-Ins einige Methoden genannt wurden, sind dies dennoch nicht wenig verschiedene. Die folgende Tabelle 08 fasst erneut alle Methoden über die drei Gruppen der Experten und Expertinnen – in Bezug auf die jeweiligen Annahmen über den Lock-In – zusammen. Neue Methoden stehen dabei wieder unterhalb der gestrichelten Linie (- - -) pro Annahme und bekannte Methoden, welche in den Methodenglossars enthalten sind, darüber.
Tabelle 08 – Bekannte und neue Methoden zum Lock-In
Diese letzte Tabelle mit Methoden zum Lock-In entspricht dem vierten Teil des umfassenden Coaching-Repertoires. Im Rahmen der Auswertung zu den einzelnen Annahmen wurden nun alle relevanten Methoden, welche die Experten und Expertinnen vorgeschlagen hatten, zusammengestellt. Diese Zusammenstellung der einzelnen Methoden (vgl. Tabelle 05, Tabelle
311
06, Tabelle 07 und Tabelle 08) wird im Gesamten als umfassendes Coaching-Repertoire in Bezug auf individuelle Pfade verstanden.
Nun sind die Auswirkungen der Ergebnisse bezüglich der Annahmen auf die zweite Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades und auf dessen grafische Darstellung zu diskutieren. Dieses entsprach der theoretischen Basis, anhand welcher die einzelnen empirischen Annahmen entwickelt wurden. Änderungen werden nun also in einer dritten Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades und der dritten Überarbeitung dessen vorläufiger grafischer Darstellung zusammengestellt, welche dann Abschließend im Rahmen dieser Arbeit als grafisches Modell eines individuellen Pfades bezeichnet wird.
V.5.5
Dritte Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung
Die Ergebnisse zur Auswertung der befragten Experten und Expertinnen bezüglich aller vorgestellten, empirischen Annahmen zeigen, dass von den befragten Experten und Expertinnen – mit systemischem Hintergrund und denen mit NLP als Hintergrund – Zustimmung zu allen relevanten, empirischen Annahmen gegeben wurde. Demnach ergeben sich einerseits keine Überarbeitungen an der bisherigen zweiten Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades und dessen grafischer Darstellung. Andererseits ist damit die erste Hälfte der zweiten empirischen Subforschungsfrage als beantwortet anzusehen. Da beide Gruppen der Experten und Expertinnen der systemischen Beratung wie auch mit NLP als Hintergrund ebenfalls Methoden zu diskutierten Annahmen nannten (wenn auch nicht nach der formulierten strenge der Annahme alle Experten und Expertinnen zu allen Annahmen Methoden nannten), kann auch die zweite Hälfte der zweiten, empirischen Subforschungsfrage als beantwortet angesehen werden. Eine Vielzahl von Methoden zur Bearbeitung des Lock-Ins in Anlehnung an die Faktoren und Relationen des Modells konnten dazu zusammengestellt werden. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund lag durch die erhaltenen Antworten ebenfalls Zustimmung vor, allerdings war die Datenbasis auf Grund der missglückten Gesprächsführung zu einzelnen Fragen oft sehr gering oder gar nicht gegeben. Zu den diskutierten Annahmen nannten jedoch die Experten und Expertinnen aus dieser Gruppe ebenfalls einige mögliche Methoden. Mit ihrem Beitrag wird auf Grund der Lückenhaftigkeit vorsichtig, im Sinne einer Unterstützung der Zustimmungen der anderen Experten und Expertinnen umgegangen. Vor diesem Hintergrund ist festzuhalten, dass durch die gegebenen Zustimmungen zu den einzelnen Annahmen die zweite Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades und des312
sen grafische Darstellung als funktional angesehen werden kann, die Entstehung eines intraindividuellen Lock-Ins zu erklären. Das Modell hat dabei eine größere Erklärungsvielfalt als bisherige konstruktivistische Perspektiven durch die Rekursion, so dass die Überprüfung der Funktionalität zweiter Ordnung von Erfolg gekennzeichnet ist.
Von allen drei Gruppen wurden aber neben den Aussagen zu den empirischen Annahmen auch Erweiterungen in Bezug auf das Modell eines individuellen Pfades zur Erklärung intraindividueller Lock-Ins gegeben (vgl. V.5.3). Diese sieben Punkte (ohne die drei Hinweispunkte zur Verwendung einer Vorstellung von Zeit in der Beratung) sollen nun in die zweite Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades und dessen vorläufige grafische Darstellung (vgl. IV.4.3) eingearbeitet werden. Diese dritte Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades mit der dazugehörigen grafischen Darstellung (vgl. Abbildung 14) entspricht dann der Endversion des Modells eines individuellen Pfades und dient als Zusammenfassung der vorliegenden Arbeit. Als wichtigster Punkt der Erweiterungen wurde die Emotionalität genannt. Diese ist einerseits notwendig, um Veränderung zu initiieren und andererseits stellt sie die größte Barriere zur Bearbeitung von starren Mustern dar. Im Rahmen der zweiten Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades wurden Emotionen nur in der Konstruktionsebene als ‚Gefühl’ in Form eines ‚Herzens’ ( ) verarbeitet. Die Auswertung weist aber darauf hin, dass Emotion nicht neben die Sinne als Unterscheidungsebene eingeordnet werden sollte. Vielmehr ist nach den Aussagen der Experten und Expertinnen Emotion eine Art von Moderator im Konstruktionsprozess. Sie scheint dabei insbesondere auf die Ebenen der Erwartung und Interpretation mit einzuwirken. Die achte Position der genannten Erweiterungen (vgl. V.5.3) bestätigte die Relevanz der Emotion ebenfalls noch einmal deutlich, insbesondere auf der privaten Ebene. Für die grafische Darstellung des Modells eines individuellen Pfades kann bei der zweiten Überarbeitung der vorläufigen grafischen Darstellung die Konstruktionsebene des ‚Herzens’ entfernt werden, wobei die Emotion als Moderator () mit Auswirkungen auf die Erwartung und Imagination einzuzeichnen ist. Im Rahmen der Zusammenstellung weiterer Fragen ist auf anschlussfähige Literatur einzugehen, welche die Verknüpfung von Emotion und Konstruktion in Zukunft weiter erhellen könnte. Fast ebenso bedeutend wie die Berücksichtigung der Emotion wurde die Interaktion durch die Experten und Expertinnen eingestuft. Diese war im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades bereits einerseits durch den Moderator der Akzeptanz und andererseits durch den Mo313
derator der Erwartungen bzw. Erwartungen n-ter Ordnung berücksichtigt worden. Beide Moderatoren wurden auch an deren ‚Angriffspunkt’ verankert: Erwartungen beeinflussen die Handlungsbildung, Wahrnehmungsorientierung und die Interpretationsansätze. Die Akzeptanz beeinflusst maßgeblich die Assimilation neuer Wahrnehmung an bekannte Konstrukte, da diese bereits durch Akzeptanz internalisiert wurden. Und die Akkommodation wird durch Akzeptanz beeinflusst, wenn neue Konstrukte intern akzeptiert werden, ohne eine Handlungsprüfung deren Funktionalität durchzuführen. Um die Interaktion und die Auswirkungen auf diese beiden Moderatoren der Akzeptanz und Erwartung zu verdeutlichen, werden Pfeile von den Moderatoren in die Umwelt des Individuums gezeichnet (Æ). Im Rahmen der Zusammenstellung weiterer Fragen ist auf anschlussfähige Literatur einzugehen, mit der das Modell eines individuellen Pfades nun durch Interaktionstheorien erweitert werden kann. Der dritte Punkt war einerseits die gleichzeitige Speicherung von Erfolg und Misserfolg mit Konstrukten, welche dann je nach gewünschter Veränderungsrichtung beide ihre Wirkung entfalten können. Ist also oft ein Erfolg erzielt worden und die Umweltbedingungen ändern sich, ohne das eine Handlungsalternative bereits besteht, dann verursacht ein ehemals viables Konstrukt Probleme. Da aber die Umwelt an alte funktionale Strukturen assimiliert wird, besteht nicht die Möglichkeit der Veränderung. Das Konstrukt hatte bis zu diesem Zeitpunkt ‚immer’ zum Erfolg geführt und wird es dann auch in Zukunft tun. Dieses Verhalten ist aber bereits durch den allgemeinen Unterscheidungsoperator sowie die Assimilation im Modell enthalten. Auch die umgekehrte Abfolge ist in dem Modell schon integriert: Ein Verhalten hat immer zu Misserfolg geführt und veränderte Umweltbedingungen würden das Verhalten eigentlich ermöglichen. Da es aber ‚nie’ funktioniert hat, wird es nicht angewendet. Dies entspricht ebenfalls der Assimilation der Umwelt an bestehende Unterscheidungen. Die Möglichkeit der Erkenntnis der Dysfunktionalität beider Varianten ist bei dem intra-individuellen Lock-In bereits gegeben, so dass für das Modell und dessen grafischer Darstellung keine Änderungen erfolgen. Auch der Glauben hatte bei den Zusatznennungen eine deutliche Position auf den oberen Rängen eingenommen. Nicht nur der Glaube an Kausalität oder an eine Lösung, sondern auch der Glaube an Konstrukte von Lösungsmethoden oder generelle funktionale Konstrukte der Handlung wurden in den Mittelpunkt gestellt. Aus diesem Grund der Relevanzstärkung verbleibt der Glaube als Moderator für Grenzunterscheidungen in dem Modell und wird auch in dessen grafischer Darstellung weiterhin als große Raute () unterhalb des Kastens für Unterscheidungen eingezeichnet sein. 314
Die drei folgenden Aspekte dienten nur der Kontrolle eines spezifischen Vokabulars, während die achte Position bereits zur Emotion hinzugerechnet wurde. Es folgt daher der Selbstwert als ein Treiber für Verhalten. Diese Treiber wurden auch schon von Bruder als Machtbedürfnis oder Minderwertigkeit erwähnt und oben bereits als nur eine mögliche Unterscheidung gewertet, die Auswirkungen auf die Erwartungsbildung und das Verhalten hat. Eine Änderung des Modells und dessen grafischer Darstellung erfolgt daher nicht. Abschließend ist die hierarchische Organisationsberatung eingeführt worden. Diese greift auf eine Vorstellung der Relevanz einer sozialen Ebene zurück, deren Anbindung im Rahmen des Modells (wie bei der Interaktion besprochen) durch Akzeptanz und Erwartungen bzw. Erwartungen n-ter Ordnung gegeben ist. Hierarchie setzt die Akzeptanz von Macht voraus, welcher sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen damit unterwerfen. Geschieht diese Akzeptanz auch im Hinblick auf Verhaltensweisen, dann ist in Abhängigkeit von den Klienten und Klientinnen entweder diese Konstruktion zu stören oder eben entlang der Hierarchie top-down zu beraten. Eine Erweiterung des Modells erfolg hierdurch aber nicht, da die Anbindung an die soziale Ebene bereits enthalten ist. Als Impuls für Beratungsansätze sind auf die spezifischen, akzeptierten Unterscheidungen einzugehen.
Diese Änderungen an der zweiten Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades können, wie folgt, in der dritten Überarbeitung der vorläufigen grafischen Darstellung veranschaulicht werden (vgl. Abbildung 14). Die dritte Überarbeitung des Modells eines individuellen Pfades und dessen grafischer Darstellung umfasst also wieder die Trennung des Individuums (also z.B. die Klienten und Klientinnen, aber auch die Experten und Expertinnen oder Forscher und Forscherinnen) von seiner Umwelt als erste Unterscheidung (– – –). Verknüpfungspunkte bilden das in sich abgeschlossene Nervensystem der Sensorik und Motorik. Das Nervensystem ist mit dem kognitiven System (- - -) strukturell gekoppelt (–), wobei das kognitive System die Herkunft der Impulse aus dem Nervensystem zuordnen kann. Durch Motorik verursacht das kognitive System über das Nervensystem in der Umwelt Geräusche oder Bewegung (Handlung). Nach der Sinnesausrichtung (Fokussierung) können über die fünf Kanäle der Sinne (Sehen, Hören, Fühlen, Riechen, Schmecken) Klicks aufgenommen werden. Es folgt im kognitiven System die Interpretation. Diese ist geprägt von Assimilation und Akkommodation (Graph unter der Interpretation), wobei eine Abweichung vom Gleichgewicht der Assimilation und Akkommodation zur Gewohnheitsbildung oder Eigenwerten führt. 315
Abbildung 14 – Dritte Erweiterung der vorläufigen grafischen Darstellung des Modells eines individuellen Pfades : Pfade individueller Konstruktionen
Diese Eigenwert für Unterscheidungsoperatoren entsteht über die Referenz der Erinnerung (im Proto-Raum) in Abhängigkeit von der Proto-Zeit (pt). Der Grenzwert (als Limes, Æ) über der Proto-Zeit (pt) für einen Unterscheidungsoperator ( i) führt zu einem Eigenwert dieses Operators (EW( i)). Parallel dazu verringert sich die Veränderungswahrscheinlichkeit (Pmod( i
)). Ob der Eigenwert als Lock-In nun positiv oder negativ ist (+/-) unterliegt der Bewer-
tung des Individuums z.B. verursacht durch ein Scheitern mit den Eigenwerten an der sozialen Norm. Zentral sind bei der Handlungsbildung die Erwartungen n-ter Ordnung (große Raute rechts) und bei der Interpretation die Akzeptanz (große Raute links) als Moderatoren. Emotion (große Raute unten) beeinflusst insbesondere die Erwartungsbildung, prinzipiell aber den gesamten Prozess der dreifachen Selbstverstärkung von Handlung, Fokussierung und Interpretation (Æ). Glauben (große Rauten unten) als Moderator wirkt insbesondere auf die Fixierung von Grenz-Unterscheidungen (wie Annahmen) und begünstigt dadurch die Entwicklung von Eigenwerte in Bezug auf diese Grenz-Unterscheidungen. Unterscheidungen ( ) können nach dem Modell logisch zusammenhängen ( Æ
) und auch paradox zueinander (
Å!
) sein. Der gesamte Prozess kann dabei mit allen Faktoren im Unbewusstsein stattfinden,
was als Schattierung dargestellt wurde (...). 316
Æ
Das Modell eines individuellen Pfades und dessen grafische Darstellung können als funktional dafür angesehen werden, die Entstehung von intra-individuellen Lock-Ins zu erklären und zu veranschaulichen. Die Zustimmung der befragten Experten und Expertinnen zu den einzelnen Faktoren und Relationen war deutlich. Dennoch ist dieses Ergebnis der explorativen Vorstudie vor dem Hintergrund einer Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung mit Vorsicht zu beachten. Es erklärt zwar die Entstehung intra-individueller Stabilitäten im Gegensatz zu den bisherigen kybernetischen, rekursiven Modellen, dennoch wurde es bisher nicht selbst im Rahmen der Funktionalitätsprüfung erster Ordnung (durch mittelbare und unmittelbare Aktionsforschung) angewendet. Die Pfad-Brechung als Auflösung oder Ausbremsung der sich selbst verstärkenden Konstrukte (oder Unterscheidungen) kann nun entsprechend der Experten und Expertinnen mit den vorgeschlagenen Methoden erfolgen (vgl. Tabelle 05, Tabelle 06, Tabelle 07 und Tabelle 08). Diese Methoden wurden im Rahmen der Diskussion über die Faktoren und Relationen auf Basis der Erfahrungen der Experten und Expertinnen zusammengestellt und als umfassendes Coaching-Repertoire in Bezug auf individuelle Pfade bezeichnet. Die Experten und Expertinnen gaben an, das prinzipiell alle Methoden das Potential aufweisen Grenz-Unterscheidungen durch Irritation zu stören und damit eine Auflösung des Lock-Ins zu erzeugen (dies entsprach dem Fundamentalwandel durch eine Akkomodation gefolgt von Äquilibration). Häufiger tritt nach ihrer Meinung jedoch der Prozess der Ausbremsung auf, bei dem die Methoden dem Individuum dabei helfen umzulernen (vgl. die Auswertung zur Mehrmaligkeitsannahme). Dennoch sind die vorgeschlagenen Methoden als Ergebnis dieser Arbeit mit Vorsicht zu bewerten, da die konkrete Anwendung im Rahmen der Funktionalitätsprüfung erster Ordnung (z.B. durch mittelbare und unmittelbare Aktionsforschung) noch nicht durchgeführt wurde.
Diese Ergebnisse werden im folgenden Kapitel auf die übergeordnete Fragestellung zurück bezogen, um für diese eine adäquate Antwort zu bieten.
317
VI Rückbindung der Ergebnisse und weiterführende Fragen In den vorhergehenden Teilen der vorliegenden Arbeit wurde nach der Erläuterung der Problemstellung und der Anführung der leitenden Fragestellung über die Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven auf die Pfadforschung eingegangen. Im Rahmen einer Zusammenstellung zentraler Artikel erfolgten zunächst die Definition des Pfadbegriffs und die Übertragung dessen auf die individuelle Analyseebene. Dadurch wurde ein Rahmen zur Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven entwickelt. Bei der darauf folgenden Diskussion konstruktivistischer Perspektiven wurden insbesondere Arbeiten mit einem Fokus auf die individuelle Analyseebene berücksichtigt. Arbeiten, in denen eine soziale Perspektive vertreten wurde, konnten dabei ausgegrenzt werden. Die berücksichtigten Arbeiten wurden in Bezug auf deren Beiträge für Faktoren und Relationen zur Entwicklung des Modells eines individuellen Pfades analysiert. Zentral war dabei vor allem die Verbindung der Beiträge aus konstruktivistischen Arbeiten mit den Kernelementen der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades: Non-Ergodizität, Selbstverstärkung sowie Lock-In und dessen Brechung. Als Ergebnis dieser Diskussion konnte ein Modell eines individuellen Pfades mit einer vorläufigen grafischen Darstellung entwickelt werden. Aus allen berücksichtigten Faktoren und Relationen in dem Modell wurden empirische Annahmen formuliert. Diese Annahmen dienten dann als Grundlage für eine Befragung von Experten und Expertinnen der Beratungsbranche mit konstruktivistischem Hintergrund. Als Gesprächspartner wurden dabei Experten und Expertinnen aus drei Beratungsansätzen berücksichtig (Systemischer Ansatz, NLP, Huna). Bei diesen wurde angenommen, dass alle Experten und Expertinnen mit dem konstruktivistischen Vokabular vertraut waren und damit ohne sprachliche Hindernisse über die Annahmen diskutiert werden konnte. Als Ergebnis der empirischen Untersuchung lagen Zustimmungen zu allen diskutierten Faktoren und Relationen des Modells eines individuellen Pfades vor, wobei einige wenige Erweiterungen angeführt wurden. Auch konnte in der Erhebung eine Zusammenstellung von Methoden zu den jeweiligen Faktoren und Relationen erfolgen, welche als umfassendes Coaching-Repertoire zusammengestellt wurden.
In diesem Teil VI der vorliegenden Arbeit wird nun noch einmal darauf eingegangen, wie die theoretischen und empirischen Ergebnisse zur Beantwortung der leitenden Fragestellung bei-
319
tragen (VI.1). Es werden dazu einerseits die Ergebnisse in Bezug auf die individuellen Pfade zusammengeführt. Andererseits wird eine mögliche Antwort auf die bisher zurückgestellte Teilfrage über die Auswirkungen dieser rein individuellen Analyse auf die Organisation oder den Markt in Ansätzen skizziert. Dabei werden mögliche Verbindungen zu anderen Theorien aufgezeigt. Anhand dieser Zusammenfassung werden weiterführende Fragen dargestellt und als Impulse für zukünftige Forschung formuliert (VI.2). Dazu zählen Fragen über Ansätze zur weiteren theoretischen Spezifizierung des Modells sowie der Lösungsmethoden und zwar in Anlehnung an die extrahierten Erweiterungen im Rahmen der empirischen Untersuchung. Zudem wird auch auf Erweiterungen des empirischen Designs sowie auf Anregungen für die Pfadforschung eingegangen.
VI.1 Beantwortung der leitenden Forschungsfrage Wie in der Einleitung erwähnt, wird in diesem Kapitel auf die Rückbindung der Ergebnisse im Hinblick auf die Problemstellung eingegangen. Die leitende Fragestellung lautete dabei wie folgt: Kann ein Individuum selbst einem inneren Pfad folgen (der Pfade auf der Meso- und Makroebene möglicherweise erzeugt oder verstärkt), und wie könnte es sich daraus befreien?
In dem vorliegenden Kapitel wird zunächst die darin enthaltene Kernfrage über individuelle Pfade beantwortet (VI.1.1). Dazu wird auf die Definition des Begriffs eines individuellen Pfades zurückgegriffen, um deren zentrale Elemente an dem entwickelten Modell eines individuellen Pfades (der dritten Überarbeitung und der dazugehörigen grafischen Darstellung) noch einmal zu verdeutlichen. Darüber hinaus wird die Bedeutung der genannten Methoden herausgestellt und deren Zusammenhang zum Paradoxon des Barons von Münchhausen noch einmal angeführt. Die Auswirkungen individueller Pfade auf die organisatorische oder allgemeiner, auf die soziale Ebene, ist in der leitenden Fragestellung ausgeklammert und daher auch in den Subfragestellungen zurückgestellt worden. Als Abschluss dieses Kapitels wird nun skizziert, inwieweit das vorliegende Modell eines individuellen Pfades mit einer Theorie über die soziale Ebene in Verbindung gebracht werden kann (VI.1.2). Die Grundlage dafür bietet die bereits erfolgte Verknüpfung der Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung mit dem Individu320
um durch Akzeptanz und Erwartung. Beide Aspekte ermöglichen die Skizzierung von Einflüssen der sozialen Ebene auf das Individuum.
VI.1.1
Individuelle Pfade und deren Lösung
Zunächst folgt nun die Zusammenführung der Ergebnisse in Bezug auf die Möglichkeit, dass ein Individuum einem inneren Pfad folgen kann, woraus individuelle ‚Denk-Fallen’ entstehen. Dies geschieht auf Basis der theoretischen und empirischen Resultate zu den beiden Subforschungsfragen (vgl. II.2). Als Ergebnis der vorliegenden Arbeit kann bereits vorab zusammenfassend gesagt werden, dass durch die Verbindung von konstruktivistischen Perspektiven mit der Pfadforschung ein Modell entwickelt werden konnte, welches die Entstehung dieser ‚Denk-Fallen’ als intra-individueller Lock-In erklärt. Alle zentralen Elemente der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades können durch das Modell berücksichtigt und mit ihm veranschaulicht werden. Im Folgenden wird eine Zusammenstellung der Ergebnisse gegeben.
Das erste Ergebnis der ersten Subforschungsfrage, welche auf die Verbindung von Pfadforschung und konstruktivistischen Perspektiven ausgerichtet war, entsprach der Definition des Begriffs eines ‚individuellen Pfades’. Individuelle Pfade werden als non-ergodische Prozessen verstanden. Das heißt, sie weisen am Beginn ihrer Entstehung viele Ergebnismöglichkeiten auf und es kann nicht vorhergesagt werden, wohin sich der Prozess entwickelt. Der Treiber während der Entstehung, dem intra-individuellen Lock-In und auch noch während der Destabilisierung, ist als ‚Selbstverstärkung’ bezeichnet worden. Der intra-individuelle Lock-In selbst wurde als parallel zur Selbstverstärkung laufend definiert und bezeichnet die wahrgenommene oder wahrscheinliche Rückkehrmöglichkeit zur Entscheidungsfreiheit. Die Destabilisierung läuft parallel zum intra-individuellen Lock-In sowie zur Selbstverstärkung und bezeichnet die Einwirkung als Ausbremsung oder Auflösung vorhandener Aspekte der Selbstverstärkung. Wesentlich waren bei dieser Definition Veränderungen der bisherigen Ansätze aus der Pfadforschung über die Meso- und Makro-Prozesse in Organisationen und Märkten. Zu diesen Änderungen gehörten die Ausdehnung des Treibers der Selbstverstärkung auf die Entstehung und auf die Destabilisierung von individuellen Pfaden, sowie die Verwerfung einer emergenten ‚Vorphase’. Ebenso zählt die Formulierung des Lock-Ins als subjektives und damit relatives Phänomen dazu. Der Lock-In wurde daher als ‚intra-individuell’ bezeichnet und erst die 321
Selbsterkenntnis des Lock-Ins (das eine ‚Denk-Falle’ als negativ bewertet wird) ermöglicht dessen Lösung. Eine externe Bewertung einer ‚Denk-Falle’ durch andere entspricht nur einer Fremdeinschätzung. Ihr Einfluss auf den Lösungsprozess funktioniert nur dann, wenn das Individuum diese externe Bewertung intern akzeptiert. Neben der notwendigen Selbsterkenntnis des Lock-Ins wurde dieser im Modell eines individuellen Pfades nicht als Punkt, sondern als dynamische, wahrscheinliche Rückkehrmöglichkeit bezeichnet. Dessen Auflösung war in bisherigen Modellen durch Schock oder Erkenntnis möglich, was hier in Abhängigkeit von der Selbstverstärkung als deren Ausbremsung (langfristig) oder Auflösung (kurzfristig) bezeichnet wurde. Vor diesem Hintergrund der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades wurde eine Diskussion geführt, bei der verschiedene konstruktivistische Perspektiven mit der Pfadforschung verknüpft wurden (vgl. IV.5). Bei der Diskussion wurde die implizite Zeit konstruktivistischer Literatur expliziert, um sie mit der Prozessvorstellung pfadtheoretischer Literatur zu verbinden. Das entstandene Modell wurde mit Experten und Expertinnen dreier verschiedener Ansätze konstruktivistischer Perspektiven diskutiert (vgl. V.3), um Antworten über die Funktionalität der Faktoren und Relationen des Modells im Rahmen von Beratung zu erhalten. Die Ergebnisse der empirischen Experten- und Expertinnendiskussion waren in Bezug auf die diskutierten Faktoren und Relationen des Modells durchweg positiv. Die Experten und Expertinnen mit systemischem Hintergrund und mit NLP als Hintergrund äußerten sich dabei mehrheitlich zu allen Faktoren und Relationen zustimmend. Bei den Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund wurde zwar ebenfalls bei den erhobenen Antworten mit mehrheitlicher Zustimmung reagiert, jedoch fehlten einige Antworten (auf Grund abweichender Interviewverläufe). Die Ergebnisse können im Sinne einer Exploration für zukünftige Forschung als Grundlage dienen. Das Ergebnis der empirischen Untersuchung ist ein modifiziertes Modell mit einer grafischen Darstellung, welches als Modell eines individuellen Pfades bezeichnet wurde und die Definition des Begriffs eines individuellen Pfades mit einem grafischen Prozessmodell unterstützt (vgl. Abbildung 14, V.5.5). In Anlehnung an die verwendete Allgemeine Modelltheorie erfüllt das Modell alle drei Kriterien eines Modells (Nachbildung, Verkürzung, Pragmatismus) und dient hier einerseits dazu, eine Theorie darzustellen (theoretisches Modell) und andererseits als Grundlage für zukünftige Forschung z.B. zur Entwicklung von Hypothesen (Experimentalmodell). Im Folgenden wird erläutert, wie das Modell die Elemente des Begriffs eines individuellen Pfades unterstützt.
322
Das erste Element der Definition des Begriffs eines individuellen Pfades war die Non-Ergodizität. Diese bezeichnete die Existenz multipler Ergebnismöglichkeiten ohne Vorhersagbarkeit. Jedes Individuum trifft nach dem Modell Unterscheidungen, welche auf die Erwartung, Handlung, Fokussierung und die Interpretation einwirken können. Da jedes Individuum im Prinzip aber andere Unterscheidungen treffen kann, dabei andere Grenz-Unterscheidungen (ohne Möglichkeit zur Verknüpfung an vorangegangene Unterscheidungen) voraussetzt und somit andere Erwartungen für zukünftige Handlungen und Interpretationen bildet, differiert die Entwicklung eines jeden Individuums. In keiner Situation ist daher vorhersagbar, wohin sich ein Individuum entwickeln wird – also welche Unterscheidungen es treffen wird und welche Eigenwerte sich ergeben. Das zweite Element in der Definition war die Selbstverstärkung als Treiber sowohl in der Entstehungsphase von Gewohnheiten wie auch in der Lösungsphase. Im Rahmen des Modells eines individuellen Pfades entsteht die Selbstverstärkung von Unterscheidungen auf Grund der möglichen, vierfachen Anwendung von Unterscheidungen in einem Konstruktionsprozess. Unterscheidungen wirken auf den Moderator der Erwartungsbildung (auch höherer Ordnungen über die Erwartungen von Erwartungen) und diese Erwartungen haben Einfluss auf die Handlung, die Fokussierung zur Informationsaufnahme sowie die Interpretation. Diese Schritte müssen nicht erfolgen, sofern einer oder mehrere davon jedoch wirken, dann tritt die Beschleunigung der Verwendung von Unterscheidungen ein. Je öfters dieser Prozess erfolgt, desto stärker werden Veränderungen in der externen Umwelt assimiliert und an die eigenen Strukturen angepasst. Es entsteht ein Ungleichgewicht zwischen Assimilation und Akkommodation. Neben der Erwartung sind der Glauben an Grenzunterscheidungen (ohne die Möglichkeit des Rückbezuges auf andere Unterscheidungen), die Akzeptanz von externen Unterscheidungen und Zusammenhängen von Unterscheidungen (ohne die Überprüfung dieser) und die emotionale Verbindung wesentliche Moderatoren in dem Prozess der Beschleunigung. Das dritte Element war der intra-individuelle Lock-In. Dieser ist auf Basis der Selbstverstärkung von Unterscheidungen gegeben, wenn ein Individuum aus dem Eigenwert der Unterscheidung (also der Gewohnheit oder ‚Denk-Falle’) keinen Ausweg mehr als wahrscheinlich ansieht und eigentlich aber den Weg verlassen will. Ursache ist z.B. die Verzweiflung an der sozialen Norm auf Basis der eigenen Eigenwerte. Das Individuum kann zur Lösung dieses Zustandes zunächst nur auf seine eigenen beschränkten Unterscheidungen zurückgreifen und fühlt sich ‚gefangen’. Die Verwendung von alternativen Unterscheidungen zur Lösung scheint diesem unwahrscheinlich. Die Lösung aus diesem intra-individuellen Lock-In als viertes Element der Definition, wird durch das Modell anhand der Assimilation 323
und Akkommodation möglich. Durch die Eigenwertbildung hat sich ein Ungleichgewicht zwischen der Assimilation und der Akkommodation gebildet. Entweder kann durch eine Intervention eine Veränderung einer Grenz-Unterscheidung ausgelöst werden (Akkommodation) wodurch eine Kettenreaktion von Veränderungen entsteht (Äquilibration als Akkommodationskette). Dies entspricht einem Fundamentalwandel. Die Alternative ist ein permanentes und hoch reflexives Umlernen (kontinuierliche Akkommodation trotz Assimilationstendenz) des Individuums. In jeder Situation, in der die alte Unterscheidung zu Tage tritt, muss dann die Destabilisierung durch Ausführung einer alternativen Unterscheidung erfolgen.
Das langsame Umlernen der Destabilisierung wird von vielen Methoden, welche im Rahmen der empirischen Erhebung von den befragten Experten und Expertinnen genannt wurden (vgl. V.5.4), unterstützt. Die Möglichkeit der Abkehr von individuellen Pfaden wurde im Rahmen der zweiten Subforschungsfrage formuliert und ist daher bei den empirischen Annahmen berücksichtigt worden (vgl. IV.5). Die Antworten lassen den Schluss zu, dass es für Individuen möglich ist, sich selbst aus ihrem intra-individuellen Lock-In zu befreien. Auf der Grundlage ihrer Erfahrung nannten die Experten und Expertinnen für fast alle der diskutierten Faktoren und Relationen eine Reihe von Methoden. Somit konnte zwar nicht die streng formulierte Annahme erfüllt werden, dass zu allen Faktoren und Relationen Methoden genannt wurden. Das Ergebnis ist dennoch ein umfassendes Coaching-Repertoire zur Bearbeitung individueller Pfade und dient damit der Beantwortung der leitenden Fragestellung als zentraler Beitrag. Zirkuläre Fragen an Dritte aus dem systemischen Ansatz dienen zum Beispiel der Aufdeckung von Erwartungen und Erwartungen höherer Ordnung. Das ‚Re-Imprinting’ aus dem NLP kann helfen, lange bestätigte Gewohnheiten über eine gedankliche Neugestaltung des Betrachtungsrahmens aufzulösen und die Erinnerung daran zu verändern. Das Traumweben aus Huna kann dazu verwendet werden, unbewusste Inhalte – welche die Stabilität unterstützen – in Form von Bildern an das Bewusstsein zu übermitteln, um diese zu verändern. Die Zusammenstellung aller Methoden zu den jeweiligen Aspekten wurde als umfassendes Coaching-Repertoire (Embracive Coaching) beschrieben und tabellarisch zusammengestellt (vgl. Tabellen 5, 6, 7 und 8). Wichtig für die weitere Verwendung dieser Methodenzusammenstellung ist, dass Erfolg im Sinne eines ‚Allheilmittels’ nicht garantiert ist. Diese empirische Untersuchung war als explorative Studie nur darauf ausgerichtet, Impulse für weitere Forschung zu generieren, um mit den genannten Methoden nun z.B. unmittelbare (durch Forscher) oder mittelbare (mit Experten und Expertinnen gemeinsam) Aktionsforschung durchzuführen. 324
Neben der Zusammenstellung der Methoden war im Sinne der Kernfragestellung von wesentlichem Interesse, welche Rolle externe Berater und Beraterinnen in diesem Zusammenhang spielen. Alle befragten Experten und Expertinnen verstehen ihre Methoden nur als ein Angebot, um Einflüsse in die Wirklichkeitskonstruktion des Einzelnen einzuspeisen. Was davon umgesetzt wird, bestimmen Klienten und Klientinnen. Es wurde auch klargestellt, dass die eigentliche Arbeit durch den Klienten oder die Klientin selbst erfolgt. Die Experten und Expertinnen verwenden damit implizit das Paradoxon des Barons von Münchhausen (vgl. II.4). Klienten und Klientinnen ziehen sich damit zwischen den Sitzungen durch faktische und mentale Übung aus ihrem selbst erschaffenen Sumpf. Experten und Expertinnen sind als Außenstehende vielmehr ‚Spiegel’, welche helfen bewusst zu machen und zu irritieren. Eigentlich haben die Klienten und Klientinnen aber bereits die Erkenntnis ihres intra-individuellen Lock-Ins, wenn sie auf Berater und Beraterinnen zugehen. Ohne diese Erkenntnis sind sie für Veränderungen durch externe Impulse nicht empfänglich; sie können durch diese aber zur Erkenntnis ihrer Situation angeregt werden. Klienten und Klientinnen können die genannten Methoden zudem selbst anwenden, ohne die Assistenz von externen Beratern und Beraterinnen. Dazu müssen sie sich jedoch der Methoden erst bewusst werden und diese auch konsequent im Sinne der Akkommodation anwenden. Die folgende Grafik veranschaulicht den Beitrag und die Zusammensetzung des Ergebnisses der vorliegenden Arbeit noch einmal zur Übersicht.
Abbildung 15 – Beitrag der vorliegenden Arbeit als grafische Zusammenfassung
325
Die Ergebnisse zeigen, dass die leitende Fragestellung aus der Problemstellung positiv beantwortet werden kann. Es ist möglich, die Entstehung individueller ‚Denk-Fallen’ oder eben ‚individueller Stabilitäten’ durch ein ‚Modell eines individuellen Pfades’ zu erklären, welches die Pfadforschung und konstruktivistische Perspektiven beinhaltet. Auch eine Lösung dieser ‚Denk-Fallen’ oder ‚individuellen Stabilitäten’ ist dabei möglich und zwar durch ein umfassendes Coaching-Repertoire (Embracive Coaching), welches auf dem ‚Modell eines individuellen Pfades’ basiert und die Ansätze der systemischen Beratung, NLP und Huna beinhaltet. Im Folgenden wird nun auf eine Skizzierung eingegangen, wie diese Interpretation eines individuellen Pfades in Beziehung zu organisatorischen oder sozialen Prozessen gestellt werden kann.
VI.1.2
Individuelle Pfade und die Meso- und Makro-Ebene
Im vorherigen Unterkapitel wurden die zentralen Ergebnisse dieser Arbeit auf die in dieser Arbeit entwickelte Definition des Begriffs eines individuellen Pfades bezogen. Methoden zur Destabilisierung wurden dabei ebenso genannt. Ziel dieses Kapitels ist es nun, die individuelle Perspektive an die soziale Ebene zurück zu binden. Hierbei wird auf die zurück gestellte Teilfrage der leitenden Fragestellung eingegangen, ob individuelle Pfade die Pfade auf der Meso- oder Makro-Ebene möglicherweise erzeugen oder verstärken können.
Die Anschlussfähigkeit des Modells eines individuellen Pfades an Meso- und Makro-Prozesse wurde bereits durch zwei Aspekte ermöglicht. Zur Vereinfachung der Darstellung wird im Folgenden zusammenfassend von sozialen Prozessen für Meso- und Makro-Prozesse gesprochen. Zum einen ist die Anschlussfähigkeit an soziale Prozesse durch die Akzeptanz und zum anderen durch die Erwartungsbildung gegeben. Wird das oben dargestellte Modell eines individuellen Pfades wieder in die bei der Entwicklung der leitenden Fragestellung verwendete Feldtheorie von Kurt Lewin zurück gebunden (vgl. Abbildung 03)190, dann werden die beiden ‚Seiten’ der Rekursivität zwischen dem Individuum und der sozialen Ebene deutlicher. Unter 190
Die oben eingeführte Feldtheorie von Kurt Lewin (vgl. Lewin 1936) wird als Grundlage der Organisationspsychologie verwendet (vgl. Gebert & von Rosenstiel 2002). Sie beschreibt dabei die in der Organisationsforschung oder Sozialwissenschaft allgemein bekannte Idee der Rekursivität, welche durch die Gidden’schen rekursive Strukturation (vgl. Giddens 1995) oder die Luhmann’schen Entscheidungssysteme (vgl. Luhmann 1988, S. 166; Luhmann 2000, S. 215f.) ebenso erfasst wird. Es geht dabei immer um den individuellen Einfluss von Entscheidung (Luhmann) oder Handlung (Giddens) auf die soziale Ebene des Systems (Luhmann) oder der Struktur (Giddens) et vice versa. Auch in der Neuen Institutionenökonomik wurde diese Auswirkung von individueller Entscheidung auf die Bildung von Institutionen berücksichtigt (vgl. North 1990).
326
diesen beiden ‚Seiten’ der Rekursivität ist zu verstehen, dass das Individuum durch sein Verhalten (also Entscheidung / Handlung) Ereignisse in der sozialen Ebene erzeugt und selbst wiederum anderes Verhalten (also Entscheidungen / Handlungen anderer) aus der sozialen Ebene internalisiert. Damit kann individuelles Verhalten in der sozialen Ebene wirken, wodurch die soziale Ebene auf das Verhalten des Individuums zurückwirken kann. Jeder dieser beiden ‚Seiten’ der Rekursivität ist nun einzeln zu diskutieren, um in ihnen die Akzeptanz und Erwartungsbildung einzugliedern. Beginnend mit der Auswirkung von individuellem Verhalten (also Entscheidung / Handlung) auf der sozialen Ebene kann der Schluss gezogen werden, dass in der sozialen Ebene einzelnes Verhalten von Individuen zu spezifischen Themen ‚gehäuft’ auftritt. Verhalten in sozialen Systemen kann durch die Beteiligung einer Vielzahl von Individuen gleichzeitig auftreten, so dass die Häufung des Verhaltens als Abbildung über der Zeit linear, aber durchaus auch exponentiell erfolgen kann. Sofern nun das Individuum bereits einem inneren Pfad folgt und die Eigenwertbildung durch vermehrte Assimilation beschleunigt wird, treten in der sozialen Ebene gehäuft ähnliche Entscheidungen auf oder die Variation von Verhalten in Bezug auf einzelne Aspekte sinkt. Wenn das Individuum einem intra-individuellen Lock-In unterliegt, also seinen Eigenwert als negativ bezeichnet und selbst die Rückkehrwahrscheinlichkeit als gering einstuft, dann ist in der sozialen Ebene nur noch dasselbe Verhalten beobachtbar bzw. es liegt ein sehr enger Korridor von Variationen vor. Der Grund für diese gleichartige Häufung von Verhalten (als Entscheidungen / Handlungen) liegt dann in dem individuellen Pfad (oder vielen individuellen Pfaden), wobei in der sozialen Ebene nur das Verhalten beobachtbar ist. Das aus dem individuellen Verhalten auf Basis eines individuellen Pfades also Pfade in der sozialen Ebene erzeugt oder verstärkt werden können, ist durch diese Beschreibung nicht eindeutig zu beantworten. Sofern soziale Pfade vorhanden sind, dann kann das individuelle Verhalten diese möglicherweise verstärken. Ob diese existieren, war jedoch nicht Teil der hier beantworteten Fragestellung. In Bezug auf die rekursive Beeinflussung der sozialen Ebene auf das Verhalten (also Entscheidung / Handlung) des Individuums kann nach der Feldtheorie davon ausgegangen werden, dass das Individuum soziale Aspekte in sein Verhalten integriert. In Bezug auf das obige Modell eines individuellen Pfades wurde dies durch die selektive Beobachtung (Fokussierung), die Erwartungsbildung (insbesondere höherer Ordnung) und die Akzeptanz (externer Aspekte wie Druck oder Macht) möglich. Dabei kann das Individuum das Verhalten anderer selektiv beobachten und dies in seine Unterscheidungsbildung mit integrieren. Von dort aus 327
wirken die internalisierten Beobachtungen wiederum auf das eigene Verhalten. Beobachtbares Verhalten von anderen kann zudem durch das Individuum in Form von Erwartungen höherer Ordnung antizipiert werden. Diese Erwartungen versetzen das Individuum in den selbstverursachten Zwang, bestimmte Handlungen auszuführen weil andere diese möglicherweise erwarten könnten. Als vorauseilender Gehorsam folgt das Individuum damit vermeintlich Anforderungen aus der sozialen Ebene. Beobachtbares Verhalten kann neben der Antizipierung ebenso Akzeptiert werden. Druck entsteht dabei, wenn einem anderen Individuum der Besitz von etwas zugesprochen wird und das beobachtete Verhalten als ‚Anweisung’ ausgeführt wird. Dabei werden eigene Unterscheidungen zunächst verändert (Akkommodation), um dann nach den akzeptierten Fremd-Unterscheidungen zu Handeln. Auf Basis dieser Grundlage kann die Aussage getroffen werden, dass die soziale Ebene auf die individuelle Ebene einwirkt und damit individuelle Pfade unterstützt – sofern das Individuum dieses wiederum zulässt. Aussagen über die Verstärkung oder Erzeugung von Pfaden in der sozialen Ebene können aus dieser Perspektive nicht getroffen werden. Ausgehend von diesen Skizzierungen ist also keine eindeutige Aussage darüber zu treffen, ob in der sozialen Ebene ein vorliegender Pfad verstärkt werden kann oder, ob durch die Interaktion einzelner Individuen soziale Pfade entstehen können. Auf Basis der hier gewählten Theorie wirkt individuelles Verhalten auf die soziale Ebene und die soziale Ebene wirkt auf individuelles Verhalten zurück. Insofern kann die zurückgestellte Frage über die Erzeugung von Pfaden in der sozialen Ebene nicht beantwortet werde. Die Verstärkung von Pfaden in der sozialen Ebene erscheint vor dem Hintergrund der Rekursivität möglich, sofern denn das Verhalten auf einen sozialen Pfad einwirkt. Anregungen zu weiterführenden Fragen, welche aus der vorliegenden Arbeit aufgestellt werden können, sind im folgenden, letzten Kapitel gegeben.
VI.2 Weiterführende Fragen Im vorherigen Kapitel wurden die Ergebnisse bezüglich der eingangs formulierten leitenden Fragestellung zusammengeführt, wobei diese beantwortet werden konnte. Allerdings ergaben sich im Rahmen der Arbeit durch die Beantwortung der Frage weiterführende Fragen. Diese sind einerseits am Ergebnis orientiert und andererseits wurden sie bereits durch Zusatznennungen der befragten Experten und Expertinnen adressiert. Die folgende Zusammenstellung der weiterführenden Fragen ist dabei nur als Anregung für weitere Forschung zu verstehen und ist mitnichten vollständig. 328
Die Fragen werden orientiert an den vorab formulierten Erwartungen zu dieser Arbeit, zunächst in Bezug auf das Modell selbst und zudem auf weitere, zu integrierende Methoden zusammengestellt (VI.2.1). Dazu zählen insbesondere die Anknüpfung an weitere, zu berücksichtigende Theorien, auch in Verbindung mit der sozialen Ebene, sowie die Integration weiterer Lösungsmethoden. Es folgt eine Zusammenstellung weiterer Fragen in Bezug zu dem empirischen Design (VI.2.2). Die bereits im Rahmen der Arbeit genannten Variationen werden hier noch einmal zusammengefasst und vor dem Hintergrund der Ergebnisse reflektiert. Das letzte Kapitel ist auf mögliche Impulse, basierend auf dem Modell eines individuellen Pfades, in Bezug auf die Pfadforschung ausgerichtet (VI.2.3).
VI.2.1
Fragen in Bezug zu dem Modell und den Lösungsmethoden
Die in dem Modell eines individuellen Pfades enthaltenen Faktoren und Relationen wurden mit Experten und Expertinnen diskutiert und zum Teil wurden weitere von diesen eingebracht. Das resultierende Modell beinhaltet insbesondere den Aspekt der Emotionen, dessen Einbindung bisher als Moderator erfolgt ist. Ansatzmöglichkeiten für eine tiefergehende Beschreibung zur Integration von Emotion bieten vor allen Dingen zwei Modelle mit konstruktivistischen Bezügen: das kybernetische Modell der Arbeitszufriedenheit (vgl. Jiménez 2000) oder das darauf aufbauende, komplexe Modell der Arbeitszufriedenheit (vgl. Roedenbeck 2005; Roedenbeck 2008). Beide strukturieren die Entstehung von Emotion durch den Vergleich von Erwartungswerten und der wahrgenommenen Situation, so dass Emotion in dem hier entwickelten Modell wesentlich detaillierter Berücksichtig werden könnte. Dies wäre als zukünftige Forschungsfrage von Interesse, wobei ebenso andere Modelle der Emotionsforschung verwendet werden können. Neben der Diskussion von Emotionalität gibt es weiterführende Diskussionen von Autoren mit konstruktivistischer Perspektive, welche insbesondere Ergebnisse der Quantenmechanik verwenden (vgl. Reich 1998)191. Es könnte versucht werden diese Denkrichtung konsequent in das Modell eines individuellen Pfades zu integrieren und dabei auch auf andere Arbeiten zu demselben Problemfeld (Individuum und Kognition) – wie die Quantenpsychologie von Stephen Wolinsky – einzugehen. Aber auch die Ausdifferenzierung der Verbindung des Individuums mit der sozialen Ebene durch Interaktion bedarf weiterer Forschung. Nach einem zeitweiligen Wechsel vom Kon191
Bereits Paul Feyerabend entwickelte seine Wissenschaftsposition angeregt durch die Quantenmechanik (vgl. Hunt 2003, S. 179f.).
329
struktivismus zum Sozialkonstruktionismus (vgl. Schmidt 1994) vertritt zum Beispiel Siegfried J. Schmidt, als Wegbereiter des radikalen Konstruktivismus in der deutschen Literatur, heute einen Konstruktivismus im sozialen Kontext. Sein Ziel des ersten Schrittes war es, „den damals noch in erster Linie biologisch und psychologisch begründeten Konstruktivismus (auch) sozio-kulturell zu fundieren und um eine angemessene Berücksichtigung von Gefühlen zu erweitern“ (Schmidt 2003, S. 23). Die Erweiterung des Gefühlsaspektes wurde oben schon angeregt durch kybernetische Emotionsmodelle; Die Erweiterung des Modells eines individuellen Pfades durch eine sozio-kulturelle Fundierung nach Schmidt wäre eine weitere Forschungsfrage. Eine Übertragung der Sozio-Kultur von Schmidt bietet sich auf Grund der von ihm bereits durchgeführten Anbindung an konstruktivistisches Denken besonders an. Kommunikationstheorien oder die Sprachphilosophie sind weitere Ansätze, jedoch stehen diese zumeist nicht in konstruktivistischer Denktradition. Daher ist ihre Übertragung eine weitaus größere Herausforderung. Andererseits wäre die Anbindung an die durch von Foerster eingeführte partizipative Organisation und das partizipative Management als Konstruktivismus in einem sozialen Gefüge ein weiterer möglicher Weg (vgl. z.B. von Foerster 1999a, S. 234 f., 247). Organisation ist dabei das, was die pfadabhängigen Individuen entstehen lassen. Für jeden kann sich diese Organisation anders darstellen, denn es liegt an der Akzeptanz externer Entscheidungen, was in die eigenen Unterscheidungen integriert wird. Die Konkretisierung dieser Auswirkungen als Managementansatz ist ein weiterer Aspekt für zukünftige Forschung.
Auf die Methoden der Lösungsansätze bezogen wurde ja bereits durch die Experten bzw. Expertinnen eine Beschäftigung mit weiteren Ansätzen befürwortet. Genannt wurde EFT, AVATAR und Soul Mind Body Medicine (vgl. Fußnoten 179, 181 und 182). Es wäre also explizit darauf einzugehen, inwiefern die Methoden und ihr theoretischer Hintergrund das Modell bereichern können. Als Idee zur Erweiterung der hier berücksichtigten methodischen Ansätze scheint die Erweiterung z.B. bei dem ‚Re-Imprinting’ logisch konsequent zu sein, dass die Einübung nicht nur aus der Vergangenheit heraus erfolgt. Eine doppelte Übungsstruktur wäre möglich. Nach der Festlegung des neuen Verhaltens könnte auf dem mentalen Weg zur Quelle des Problems bereits das neue Verhalten an den dabei begegnenden, problematischen Stellen ausgeführt werden. Wenn die Quelle erreicht ist, dann ist auch dort das neue Verhalten zu programmieren, um anschließend wieder vorwärts alle erneut auftauchenden Stellen wiederholt oder neue erstmalig zu bearbeiten. Die Funktionalität des Ansatzes wäre empirisch zu prüfen. Auch könnte 330
analysiert werden, ob die Methode ‚erste-zweite-dritte-Position’ der Experten und Expertinnen mit NLP als Hintergrund in Verbindung mit deren VAKOG-Ansatz nicht das zirkuläre Fragen des systemischen Ansatzes erweitert und damit die systemischen Methoden ergänzen oder gar ersetzen kann. Auch hier ist die Funktionalität empirisch zu prüfen. Generell kann in Bezug auf die Bezeichnungen der Methoden auf Probleme (in der Form von Zurückhaltung) bei der Anwendung im organisationalen Kontext geschlossen werden. Auf Basis der eingeführten Relevanz von Glauben an eine Lösung und an die Lösungsmethode selber – sowie auf Basis der Diskussion des Verstehensbegriffs (vgl. V.1.1) – ist zu bedenken, dass das Modell und die vorgeschlagenen Methoden immer in Abhängigkeit von den Klienten und Klientinnen in deren Sprache zu übersetzen sind. Die Methoden des ‚Traumwebens’ oder das ‚vorgeburtliche Re-Imprinting’ könnten alleine durch ihre Sprache auf Ablehnung stoßen. Durch eine andere Bezeichnung könnten insbesondere für den organisationalen Kontext wahrscheinlich Blockaden abgebaut werden. Abschließend ist anzumerken, dass die hier vorgeschlagenen Methoden sich ausnahmslos auf die Auflösung von bereits eingeschlagenen individuellen Pfaden beziehen. Eingebettet in eine strategische Personalentwicklung könnte die Lösung der individuellen Pfade dabei helfen, dass Mitarbeiter Strategiepotentiale für das Unternehmen freisetzen (vgl. zur strategischen Personalentwicklung Meifert 2008). Als weiterführende Frage scheint es zudem sinnvoll, Methoden zu entwickeln, welche der Prävention von individuellen Pfaden dienen. Hilfreich wären neben der kontinuierlichen Fortführung von Alternativen (vgl. Dievernich 2007) insbesondere Methoden, die Manager und Managerinnen oder Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen immer wieder in die Reflexion über sich und das hier entwickelten Modell zurückführen. Literatur zur Supervision wäre zur Beantwortung dieser Frage zu analysieren. Könnte ein präventiver Ansatz auf Basis des hier entwickelten Modells und der dazu vorgeschlagenen Methoden entwickelt werden (vgl. für einen ersten Schritt Roedenbeck & Holtmann 2008), dann wäre dieser in eine strategische Personalentwicklung einzubetten (vgl. Meifert 2008). Dadurch könnten kontinuierlich potentielle Barrieren in den Individuen bei der Umsetzung der Unternehmensstrategie identifiziert und gelöst werden. Im nun folgenden Unterkapitel werden Erweiterungen in Bezug auf die empirische Methodik diskutiert, welche bei der Eingliederung dieser Arbeit ausgeschlossen wurden (vgl. dazu V.1).
331
VI.2.2
Änderungen im empirischen Design
Das vorherige Unterkapitel fasste mögliche Fragen im Hinblick auf das Modell zusammen, welche im Rahmen der empirischen Erhebung aufgetaucht waren. Da die Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung in der Meta-Ebene von Erfolg gekennzeichnet ist, können nun auch weiterführende Änderungen in Bezug auf das empirische Design formuliert werden.
Das Experten- bzw. Expertinneninterview als Methode konnte sehr erfolgreich für zwei Gruppen der Experten und Expertinnen angewendet werden. Bei der dritten Gruppe gab es einige Schwierigkeiten, welche nur eine vorsichtige Verwendung deren Ergebnisse zulassen. Ein Schritt im Sinne des gewählten, theoretischen Samplings wäre, weitere Experten und Expertinnen in die Analyse mit einzubeziehen. Das war leider für die dritte und problematische Gruppe nicht möglich, da alle in Deutschland lebenden Berater und Beraterinnen von Aloha International mit einem Fokus auf mentale Arbeit bereits angeschrieben wurden. Eine Möglichkeit wäre die Erweiterung der Gruppe von befragten Experten und Expertinnen aus Deutschland, indem Experten und Expertinnen mit Huna als Hintergrund aus dem europäischen oder internationalen Raum hinzugezogen werden. Im Sinne der Vergleichbarkeit wäre dann aber auch die Datenbasis der anderen Ansätze entsprechend zu erweitern. Prinzipiell kann
im Rahmen konstruktivistischer Forschung der vorliegende explorative
Schritt einer Funktionalitätsprüfung zweiter Ordnung nun durch unmittelbare und mittelbare Aktionsforschung fortgeführt werden. Dies entspräche dann einer Funktionalitätsprüfung erster Ordnung. Auf Basis des Modells und der vorgestellten Methoden wäre dazu ein empirisches Vorgehen zur praktischen Überprüfung der Funktionalität der Methoden in Bezug auf individuelle Pfade zu entwerfen. Neben der Aktionsforschung zur Lösung aktueller Probleme könnte auch Simulationen durchgeführt werden. Die Übertragung der vorgestellten Logik des Modells eines individuellen Pfades in dynamische Programmiersprachen wie VENSIM oder ACT-R* könnte die Wirkung individueller Pfade in sozialen Zusammenhängen verdeutlichen. Dazu müsste in einem ersten Schritt das Modell für ein Individuum übertragen werden, um es in einem zweiten Schritt zu vervielfältigen und die Interaktionsmechanismen anhand der obigen Skizze auszuformulieren. Studien zu simuliertem ökonomischem Verhalten an Märkten und in Organisationen wären dann auf Basis des vorliegenden Modells individueller Pfade möglich. Bisherige empirische Studien über Pfade in Märkten könnten mit dem in eine Simulationssprache übersetzen Modells eines individuellen Pfades zunächst reproduziert werden, um daran anknüpfend – auf 332
Basis des Modells – die Ursachen für die Entwicklungen der Märkte aufzuzeigen und eventuell Prognosen abgeben zu können. Im nun folgenden Unterkapitel werden weiterführende Fragen in Bezug auf die Pfadforschung durch das entwickelte Modell eines individuellen Pfades diskutiert.
VI.2.3
Fragen für die Pfadforschung
Nachdem nun weiterführende Fragen für das Modell eines individuellen Pfades wie auch für das empirische Design dargestellt wurden, folgt abschließend eine Zusammenstellung von möglichen Fragen mit Bezug zur Pfadforschung. Diese hatte maßgeblich zu den Erweiterungen konstruktivistischer Perspektiven geführt. Für die bisher soziologische und ökonomische Pfadforschung ist das vorliegende Ergebnis des Modells eines individuellen Pfades als Anregung zu verstehen, insbesondere die Debatte um den Mechanismus der Selbstverstärkung zu intensivieren. In dieser Arbeit konnte gezeigt werden, dass spezifische Facetten des Mechanismus auch (und vielleicht sogar nur) auf der individuellen Ebene wirken (z.B. Emotionen, Lernen, Erwartung) und andere eine spezifische Interaktion (die Akzeptanz) von Individuen in der sozialen Ebene voraussetzen (z.B. Macht, Netzwerke). Welche Facetten nur auf der sozialen Ebene ohne Entscheidungen von Individuen sich selbst verstärken oder vielleicht durch anfängliche Entscheidungen (z.B. in Bezug auf Institutionen) zu ‚Selbstläufern’ werden, war dagegen nicht Gegenstand dieser Arbeit. Für ein präziseres Verständnis der Wirkung von Selbstverstärkung sind insbesondere empirische Arbeiten denkbar, welche auf das vorliegende Modell eines individuellen Pfades dieser Arbeit zurückgreifen, Prozesse in Organisationen beschreiben und dabei differenzieren, welche Facetten des Mechanismus der Selbstverstärkung nicht durch individuelle Einflüsse wirken. Einen weiteren Ansatzpunkt liefert diese Arbeit auch in Bezug auf die wirtschaftswissenschaftliche Frage über das Management von Pfaden (vgl. z.B. für erste Ideenansätze Dievernich 2007). Hierbei ist es wesentlich, welcher Pfad gemanagt werden soll. Diese Arbeit verweist auf individuelle Pfade, welche zu Rigiditäten in der sozialen Ebene führen. Pfadmanagement aus der hier vorgestellten Perspektive bedeutet dabei das Management lebender Systeme auf Basis des umfassenden Coaching-Repertoires. Wie das Coaching-Repertoire für die Brechung von sozialen Pfaden fruchtbar transformiert werden kann, ist eine weitere offene Fragestellung. Neben dem Pfadmanagement ist auch die Prävention von Pfaden eine offene Fragestellung. Hierbei ist von Bedeutung, ob die Faktoren und Relationen des Modells eines individuellen 333
Pfades für die Entwicklung von Indikatoren verwendet werden können, um präventiv einzugreifen. Möglich wäre es, die dann entwickelten Indikatoren und das Modell im Rahmen der Management-Ausbildung zu vermitteln. Als Präventiv-Coaching könnten spezifische Methoden aus dem umfassenden Coaching-Repertoire in weiteren Arbeiten selektiert werden, um diese in praktischen Seminarübungen zu lernen. Manager und Managerinnen wie auch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen lernen auf diesem Wege die Reflexion über ihre Gewohnheiten oder Konstruktionen und sie lernen Wege der Veränderung zu beschreiten. Sie lernen aber auch, dass ihre Veränderung von ihrer ‚Übung’ abhängt.
334
Anhang Anhang 1
Auswertungsmatrizen zur Literaturdiskussion
Tabelle 09 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 1)
335
Tabelle 10 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 2)
336
Tabelle 11 – Analyse zu den Faktoren der Konstruktion (Teil 3)
337
Tabelle 12 – Analyse zu den Relationen von Konstruktion (Teil 1)
338
Tabelle 13 – Analyse zu den Relationen von Konstruktion (Teil 2)
339
Tabelle 14 – Analyse zu Rekursion und Selbstverstärkung
340
Tabelle 15 – Analyse zum Lock-In
341
Anhang 2
Methodenglossar zur systemischen Beratung
Für die Arbeit mit lebenden und sozialen Systemen wurden einige Methoden entwickelt, um die Informationen in das System durch mündliche oder schriftliche Irritation oder Intervention einzuschleusen192. Diese Methoden werden im Folgenden in Form eines Glossars kurz skizziert und dabei weder kritisiert noch bewertet. Geordnet werden die Methoden im Glossar dabei alphabetisch, wobei das Glossar als Nachschlagewerk für die Auswertung der Interviews mit Experten und Expertinnen dient. Zur Übersicht der gebildeten Kategorien von Methoden wird die folgende Grafik gegeben, welche in Anlehnung an ein Lehrbuch zur systemischen Therapie und Beratung entwickelt wurde (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 116 ff.).
Abbildung 16 – Methodenkategorisierung der systemischen Beratung
Als-Ob-Fragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungs- und Problemorientierte Fragen Die Als-Ob-Fragen dienen dazu, den bisherigen Nutzen eines Problems durch Alternativen zu ersetzen (vgl. Madanes 1980 nach von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 161). Durch die hypothetische Diskussion des ‚als-ob’ entwickeln die Klienten und Klientinnen potentielle Alternativen für Verhaltens- und Denkweisen. Dazu wird gefragt, was als Alternative getan werden kann, um dasselbe Ziel zu erreich wie durch das bisherige Problem. Es kann auch gefragt werden, woran andere erkennen würden, ob das gelöste Problem doch wieder da wäre (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 147).
192
Einen Ablaufvorschlag für eine systemische Beratungssitzung liefert unter anderen Schmid (1987).
343
Ausnahmefragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungsorientierte Fragen Klienten und Klientinnen neigen dazu, ihre Erfahrungen zu verallgemeinern. Dies ist mithin eine Hauptursachen für Probleme und so zielen Ausnahmefragen darauf, „Problem-Zeiten mit Nicht-Problem-Zeiten“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 158) zu vergleichen. Daher wird nach Ausnahmen des Problems gefragt, ‚Wie oft’ also das Problem nicht auftritt, ‚Wie lange’ das Problem nicht auftritt und ‚Wann’ es eben nicht auftritt. Mit diesen Fragen werden Ausnahmen als Regel eingeführt und Verallgemeinerungen abgebaut.
Beschreibung des Problems-Fragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Problemkontext Die Fragen zur Beschreibung des Problems werden in der systemischen Beratung dazu verwendet, über die diskutierten Probleme mehr Details zu erhalten (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 146). Schwerpunkt dieser Fragen ist die Wahrnehmung des Problems durch einen selbst und durch andere. Vor allem von ‚Wem’ das Problem und von ‚Wem’ das Problem nicht wahrgenommen wird. Dabei werden insbesondere Beziehungen und Beteiligte offen dargestellt.
Bewusster Rückfall-Frage Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungs- und Problemorientierte Fragen Die Frage nach einem bewussten Rückfall des bereits gelösten Problems sensibilisiert den Klienten oder die Klientin für die Umstände und Auswirkungen, anhand derer das Problem bisher entstanden ist. Es wird dazu gefragt, was getan werden kann, um das Problem bewusst ‚wieder einzuladen’ (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 147). Dies ist im therapeutischen Kontext ein „besonders wirksame Frage“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 161).
Erfolgskriterienfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Auftragskontext
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Die Fragen nach den Erfolgskriterien adressieren den Auftragskontext und werden daher bei der systemischen Beratung primär zu Beginn einer Beratung angewendet. Bei diesen Erfolgskriterien ist besonders wichtig zu identifizieren, was in der Beratung passieren muss, damit der Klient oder die Klientin von einem Erfolg spricht (z.B. ‚Was müsste ich tun, um ihre Erwartungen zu erfüllen’). Ziel dabei ist die Ausdifferenzierung verschiedener Kriterien, nach denen für den Klienten oder die Klientin der Erfolg spürbar wäre (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129; Schmid 1987, S. 31; Königswieser et al. 1995, S. 62). Diese Frage wird nach dem ‚Zusatzbogen des Heidelberger Instituts für systemische Forschung’ (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129) mit den Fragen zu den Erwartungen an die Beratung (Æ Erwartungsfragen) in einem Vorgespräch schriftlich notiert, um darauf in der Beratung zurückgreifen zu können.
Erwartungsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Auftragskontext Die Erwartungsfragen adressieren den Auftragskontext und werden daher bei der systemischen Beratung primär zu Beginn einer Beratung angewendet. Bei diesen Erwartungsfragen soll geklärt werden, was die Erwartung ist, welche der Klient oder die Klientin an die Beratung hat. Es kann auch gefragt werden, welche Erwartungen andere beteiligte Personen (die auch nicht anwesen sein können) an die Beratung haben (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129, 146). Diese Frage wird nach dem ‚Zusatzbogen des Heidelberger Instituts für systemische Forschung’ (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129) mit den Fragen zu Erfolgskriterien (-Æ Erfolgskriterienfragen) in einem Vorgespräch schriftlich notiert, um darauf in der Beratung zurückgreifen zu können.
Familienbrett / Aufstellung Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Realistische Techniken Das Familienbrett ist gegenüber der Skulpturarbeit (Æ Skulpturarbeit / Aufstellung) eine Beschränkung der realen Teilnehmer bei der Skulptur auf menschliche und tierische Figuren (z.B. Lego oder Playmobil) (vgl. Arnold et al. 1988 nach von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 168). Es wird daher auch als Aufstellung bezeichnet. Das Verfahren geht mitunter schnell und bedarf wesentlich weniger Teilnehmende als die Skulpturarbeit. Daher ist das Verfahren insbesondere für Einzelberatungen geeignet. 345
Genogramme Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Grafische Techniken Das Genogramm ist eine häufig verwendete Visualisierungstechnik (vgl. dazu Herwig-Lempp 2002a, S. 193; von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 130 f.). Dabei werden Männer durch Vierecke () und Frauen durch Kreise () mit dem jeweiligen Alter in der Mitte aufgezeichnet. Die Geschichte der Familie und die Beziehung der Personen zueinander werden dann anschließend durch Verbindungslinien mit Erklärungen (verheiratet, geschieden, verstorben etc.) verdeutlicht (vgl. Herwig-Lempp 2002b, S. 163). Diese grafische Techniken dient vor allem der „Initiierung bedeutsamer Gespräche über die Arbeitsbeziehungen“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 134) in der Familie.
Hypothetisieren Gruppe: Grundlegende Methoden Hypothetisieren ist bei systemischer Beratung eine Grundlagenmethode (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 127; Cecchin 1988). Es werden Hypothesen z.B. über Zusammenhänge, Ursachen und Perspektiven aufgestellt, die dabei helfen, gute Ideen von schlechten zu trennen. Hierbei geht es darum, neue Ideen in das Klientensystem einzubringen, welche einerseits als Anregungen und nicht als fixe Erkenntnis zu verstehen sind und andererseits für den Berater oder die Beraterin eine Ordnungsfunktion übernehmen (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1980 hier nach von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 117). Prinzipiell durchzieht das Hypothetisieren den ganzen Beratungsprozess, es wird aber auch empfohlen, dieses bereits anhand zu gewinnender Vorinformationen aus Face-to-Face Gesprächen oder Telefonaten einzuleiten (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 127).
Klassifikationsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Unterscheidungsfragen Bei der Klassifikationsfrage werden Klienten und Klientinnen dazu angehalten, Unterschiede in Sichtweisen und Beziehungen zu bewerten: z.B. „Wer freut sich über das Problem am meisten, wer am wenigsten“ (anlehnend an von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 143). Ziel ist es, Unterschiede durch Rangreihen zu verdeutlichen (vgl. Penn 1982, S. 209).
Komplimente Gruppe: Randmethoden 346
Bei der systemischen Beratung wird die Empfehlung formuliert, grundsätzlich jede Verhaltensweise mit einer positiven Konnotation von Beurteilungen zu versehen (vgl. Selvini Palazzoli et al. 1999 hier aus von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 175). Dies erfolgt in Form von Loben und Kopfnicken. Diese Haltung zwingt insbesondere die Berater und Beraterinnen dazu, jede Verhaltensweise als Problemlösung des Klienten oder der Klientin anzuerkennen und wertzuschätzen. Durch die Formulierung von Komplimenten für die Handlungsweisen aller Beteiligten wird zudem auch die Positionierung des Beraters oder der Beraterin innerhalb des Systems vermieden.
Metaphern Gruppe: Randmethoden Die Metapher ist eine Technik in der systemischen Beratung, die auch in der Therapie allgemein ‚populär’ ist (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 173). Mit Witzen und Geschichten, welche „scheinbar mit dem Problem nichts zu tun haben“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 173), können Probleme viel leichter diskutiert werden. Die durch den Witz der Metapher erzeugte Irritation dient dabei zusätzlich zur Anregung der Erzeugung neuer Denkweisen.
Organigramme Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Grafische Techniken Organigramme spiegeln mit einfachen Linien (-) vor allem die formale, hierarchische Struktur einer Organisation. Dabei sind alle beteiligten Personen mit einzubeziehen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 134). Bedeutsamer als das geplante Organigramm ist bei dieser Methode das informelle Organigramm, indem die wahrgenommenen Beziehungsstrukturen mit einfachen Linien (-) hierarchisch skizziert werden (vgl. Malik 1989). Insbesondere die Diskussion der Unterschiede ist ertragreich zur Generation weiterer Hypothesen.
Paradoxe Interventionen Gruppe: Grundlegende Methoden Paradoxes Handeln durch den Berater oder die Beraterin kann als eine Grundlagenmethode in der systemischen Beratung angesehen werden (vgl. z.B. Selvini Palazzoli et al. 1999). Dabei wird entgegen antizipierter Erwartung durch den Berater oder die Beraterin z.B. eine Frage gestellt (Æ Wunderfrage) oder eine Lösung verschrieben (Æ Verschreibung). Paradoxes Han347
del ist daher ein Oberbegriff für viele verschiedene Methoden, die auf paradoxes Handeln zurückgreifen. Ziel ist es, keine auf eine Veränderung drängende Position einzunehmen (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 62; Willke 1987, S. 346), sondern die Kontinuität des Problems zu stimulieren. Durch dieses für Klienten und Klientinnen merkwürdige Verhalten sollen dieses angeregt werden, eigene Lösungsideen zu erzeugen.
Problembedeutungsfrage Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Problemkontext Die Frage nach der Problembedeutung ist ähnlich der Problemnutzenfrage (Æ Problemnutzenfrage). Hierbei wird nicht nur der Nutzen adressiert, sondern insbesondere erfragt, welche Bedeutung die Klienten und Klientinnen oder nicht anwesende dem Problem zuschreiben (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 154). Dabei wird auch adressiert was passiert, wenn einzelne Beteiligte an dem Problem nicht an Ort und Stelle sind. Ziel ist es dabei, die Bedeutungen des Problems für die Beziehungen zu erfragen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 154).
Problemerklärungsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Problemkontext Die Problemerklärungsfragen adressieren insbesondere die Aufdeckung der subjektiven Ursachen für die Probleme. Die Fragen lauten dabei vor allem ‚Wie erklären Sie sich dies oder jenes’ (in Anlehnung an von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 153). Die Antworten entsprechen den subjektiven Erklärungen oder Meinungen zu der Problementstehung. Zwei Dinge sind dabei zu beachten. Erstens beschränken Erklärungen immer den Raum möglicher Problemlösungen. Somit ist durch Nachfragen zu diesen subjektiven Erklärungen zu versuchen, Alternativen zu diskutieren. Diese Alternativen dienen zur Irritation der oft festgefahrenen Meinungen. Zweitens sind aber erkannte Ursachen, die meistens den Auslöser für die Aufnahme von Beratung darstellen, oft nur Symptome für andere Probleme. Auch hier bieten sich Nachfragen an, um Alternativen Ursachen ‚auf die Spur’ zu kommen.
348
Problemnutzenfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungs- und Problemorientierte Fragen Probleme sind nicht nur negativ, sondern diese sind immer eine Lösung für ein darunter liegendes Problem. Um genau diesem darunter liegenden Nutzen ‚auf die Spur’ zu kommen, werden Fragen nach diesem Nutzen gestellt: wofür wäre es gut, das Problem noch eine Weile zu behalten oder wie würde es ihnen gehen, wenn das Problem weg wäre und warum (in Anlehnung an von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 160).
Problempaketfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Problemkontext Die Problempaketfragen (oft W-Fragen) werden in der systemischen Beratung dazu verwendet, über die diskutierten Probleme mehr Details zu erhalten (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 146). Diese Fragen adressieren vor allem ‚Wem’ sich das Problem zeigt, ‚Wo’ sich das Problem zeigt, aber auch ‚Wann’ oder ‚Wie’ es sich darstellt. Ziel dabei ist es, die verschiedenen Anknüpfungspunkte eines Problems aufzudecken: das „Problempaket aufpacken“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 146).
Prozentfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Unterscheidungsfragen Bei der Prozentfrage werden Klienten und Klientinnen dazu angehalten, ihre Perspektive über Ideen, Stimmungen oder auch Krankheitskonzepte und Meinungen zu differenzieren: „Zu wie viel Prozent halten sie dies für … und zu wieviel Prozent hingegen für …?“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 143). Ziel ist es, durch die Einschätzungen widersprüchliche Strebungen zu verdeutlichen und zwar bei Einzelnen und auch in sozialen Systemen.
Reframing Gruppe: Randmethoden Bei dem Reframing193 geht es darum, der problematischen Sichtweise einen neuen Rahmen zu geben (vgl. Bachmann 1990, S. 17; Birkenbihl 1992, S. 28; Dilts & DeLozier 2000, S. 193
Der Begriff wird hier im englischen übernommen, da in der NLP Literatur der Hinweis gegeben wird Reframing nicht nur mit ‚Umdeuten’ zu übersetzen, da es wesentlich mehr beinhaltet (vgl. Stahl 1985, S. 13).
349
1071). Dies kann dadurch erreicht werden, dass z.B. der der genau gegenteilige Rahmen dargestellt wird, vor dessen Hintergrund die Perspektive dann bewertet werden kann (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 63). Diese Methode wurde jedoch aus dem NLP entnommen und daher wird deren Anwendung im Methodenglossar von NLP im Detail beschrieben (vgl. dazu von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 179 der explizit Bandler & Grinder 1985 zitiert).
Ressourcenfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungsorientierte Fragen Probleme sind nicht immer schlecht. Probleme haben einen Nutzen (ÆProblemnutzenfrage) und es liegen besondere Ressourcen in spezifischem Verhalten. Ziel ist es mit der Ressourcenfrage, die Ressourcen von dem Problem zu trennen. Dabei werden Klienten und Klientinnen gefragt, was diese aus der gegenwärtigen Situation bewahren möchten und wie sie davon mehr erreichen können (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 158).
Skulpturarbeit / Aufstellung Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Realistische Techniken Die Skulpturarbeit oder Aufstellung ist ein viel diskutiertes Verfahren194. Ziel ist es, die Beziehung in einem System (aus der Perspektive eines Betroffenen) „in Haltung und Position darzustellen“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 164; basierend auf Duhl et al. 1973; Papp et al. 1973). Der gänzliche Verzicht auf digitale Sprache schafft ein Verständnis über die Grenzen von Sprachbarrieren und Rationalisierung hinweg. Skulpturelemente, die bereits im Laufe einer Sitzung verwendet werden, sind dabei unter anderem die Stuhldistanz und Körperhaltung (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 164). Zur detaillierteren Darstellung der Situation durch einen Betroffenen kann nach der räumlichen Anordnung (links, rechts, oben, unten), sowie nach der Gestik und Mimik gefragt werden. Nach dem Ansatz von Hellinger werden anschließend die positionierten Mitwirkenden beiderlei Geschlechts gebeten, sich in die Position einzufühlen, um diese Gefühle und Gedanken anschließend auf Anfrage des Beraters der Gruppe mitzuteilen (vgl. Kleber & Seiberth 2002). Neben der Aufstellung durch eine betroffene Person als Innenperspektive ist auch der Wechsel zur Außenperspektive (der 194
Die Diskussion ist insbesondere durch die Aufstellungsarbeit von Anton J. Hellinger gefördert worden (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 42; Hellinger 1994) und dabei vor allem mit seinen Äußerungen zu wissenden Feldern und der Ultra-Kurzzeit-Aufstellung (vgl. Kleber & Seiberth 2002; zur Kritik an Hellinger und seiner politischen Ausrichtung vgl. z.B. AGPF.de 2006).
350
Berater stellt eine Situation dar) möglich (vgl. Müller 1992). Bei der Skulpturarbeit ist darauf zu achten, dass in eine Skulptur erstens nicht zu viel hineingelegt wird und zweitens problematische Situationen nicht zu schnell aufgelöst werden (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 165).
Splitting Gruppe: Randmethoden Das Splitting ist eine Methode, bei der dem System widersprüchliche Perspektiven zwischen Klienten und Klientinnen oder Beratern und Beraterinnen offen dargestellt werden. Einerseits geschieht dies zum Schutz des oder der Beratenden vor der Positionierung in einem Konflikt (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 181). So werden nicht Ratschläge in eine Richtung erteilt, sondern der oder die Beratende gibt zwei widersprüchliche Empfehlungen oder ein Team nimmt stellvertretend zwei Meinungen ein. Andererseits wird das Splitting auch dazu verwendet, die widersprüchliche Perspektive von Aussagen des Klienten zu verdeutlichen. Dies kann entweder im Sketch geschehen (dazu auch von Foerster 1999a) oder durch einen Vortrag des Beraters oder der Beraterin (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 63). Ziel ist es, durch die Spiegelung des Widerspruchs ein nachdenken anzuregen.
Subsystem-Vergleichsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Unterscheidungsfragen Bei der Subsystem-Vergleichsfrage geht es darum Beziehungen in einem Subsystem durch Systemmitglieder beurteilen zu lassen. Dabei geht es darum zu verdeutlichen, wer es nun besser mit wem aushält (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 62; von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 144f.; Penn 1982, S. 210).
Systemzeichnungen Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Grafische Techniken Das Systemzeichnen, welches aus dem Genogramm (Æ Genogramm) entstanden ist (vgl. Minuchin 1977), kann für alle Systeme verwendet werden. Hierbei werden die Beziehungen von Personen (diese in der Symbolik des Genogramms) durch doppelt-linierte Verbindungen (=; offene Allianzen), durch fünffach-linierte Verbindungen ( ; hohes Engagement), durch geschweifte Verbindungen (}; versteckte Koalitionen), sowie durch unterbrochene Linien (- -; offene Konflikte) und unterbrochene Linien mit einem Kreis (-¤-; verdeckte Konflikte) visua351
lisiert (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 133). Diese grafische Technik dient vor allem der „Initiierung bedeutsamer Gespräche über die Arbeitsbeziehungen“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 134).
Tanz um das Problem-Fragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Problemkontext Die Fragen zum „Tanz um das Problem“ (von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 152) werden in der systemischen Beratung dazu verwendet, über die diskutierten Probleme mehr Details zu erhalten (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 146). Diese Fragen adressieren vor allem ‚Wer’ ‚Wie’ auf das Problem reagiert oder diesbezüglich agiert. Ziel dabei ist es, die Beteiligungen verschiedener Personen an dem Problem nach der Meinung des Klienten oder der Klientin aufzudecken.
Übereinstimmungsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Unterscheidungsfragen Die Übereinstimmungsfrage ist darauf ausgerichtet, einerseits Aussagen von Klienten und Klientinnen in einem sozialen System durch andere Klienten und Klientinnen beurteilen zu lassen. Andererseits können auch die Hypothesen (Æ Hypothetisieren) des Beraters mit dieser Frage zur Diskussion gestellt werden (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 144; Penn 1982, S. 210).
Überweisungskontextfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Wirklichkeitskonstruktion
Æ Auftragskontext Die Fragen zum Überweisungskontext adressieren insbesondere den Auftragskontext und werden daher bei der systemischen Beratung primär zu Beginn einer Beratung angewendet (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129). Zu dem Überweisungskontext wird gefragt, wer die Idee zur Beratung hatte und warum diese Art der Beratung gerade jetzt gewählt wurde (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 146). Darüber hinaus können diese Frage nach dem ‚Zusatzbogen des Heidelberger Instituts für systemische Forschung’ (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 129) mit Fragen zur Vergangenheit professioneller Hilfe in Bezug auf das genannte Problem kombiniert werden. 352
Verschlimmerungsfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Problemorientierte Fragen Die Verschlimmerungsfrage ist eine der Fragen, die besonders die grundlegende Methode der paradoxen Intervention berücksichtigt. Es wird dabei gefragt, was getan werden müsste, um das Problem eben zu verschlimmern oder - auf das Ziel bezogen - wie man sich so richtig unglücklich machen könnte (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 160; Schmid 1987, S. 24). Damit soll dem Klienten oder der Klientin deutlich werden, wie Probleme aktiv durch sie selbst erzeugt und aufrechterhalten werden. Hierbei ist es wichtig, den Umkehrschluss der Unerlassung dieses Verhaltens zu diskutieren.
Verschreibung Gruppe: Grundlegende Methoden Mit der Verschreibung wird bei der systemischen Beratung eher weniger gearbeitet, da diese Methode gegen die Grundlage der Selbstlösung widerspricht. Die direkte oder indirekte Suggestion mittels paradoxen Anweisungen bildet aber eine akzeptierte Ausnahme (vgl. Watzlawick 1992b, S. 93, 102; Watzlawick & Coyne 1992, S. 67). Die Methode entspricht einer ‚Symptomverschreibung, wonach „gerade das Verordnet […wird…], was als symptomatisch oder krank gilt“ (Königswieser et al. 1995, S. 63; im Original ohne Einfügung). Dieser Ansatz hat insbesondere im Falle von problematischen ‚double binds’ (also paradoxer Kommunikation zwischen zwei oder mehreren Klienten und Klientinnen) Wirkungen gezeigt. Die Verschreibung soll das Problem dabei ‚auf die Spitze’ treiben und den Wunsch zur oder die Problemlösung selbst bekräftigen.
VIP-Karte Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Grafische Techniken Die VIP-Karte spiegelt in der systemischen Beratung das Verhältnis von wichtigen Personen195 zum Selbst über deren Distanz – ein egozentrisches Netzwerk angelehnt an die Symbolik des Genogramms (vgl. Bullinger & Nowak 1998, S. 173 hier nach Herwig-Lempp 2004, S. 353 f.). Ein Koordinatensystem mit vier Quadranten ( ), dessen Ursprung (0/0) die Person darstellt, wird mit vier Bereichen verbunden (z.B. Vorgesetzte, Kollegen, Untergebene, 195
Der Bezug zu den wichtigen Personen spiegelt den Namen VIP (Very Important Persons) wieder.
353
Freunde). In diese werden dann die anderen Personen mehr oder weniger in Abstand zur Hauptperson in der Mitte eingetragen, um so über die Beziehungen ins Gespräch zu kommen. Ist die VIP-Karte problemorientiert, dann sollten problemrelevante Bereiche verwendet werden, ist sie lösungsorientiert, dann sollten eher Bereiche mit Ressourcen verwendet werden.
Wunderfragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungsorientierte Fragen Die Technik der Wunderfrage ist eine ähnlich hypothetische Frage wie die ‚Als-Ob-Frage’ (Æ Als-Ob-Frage). Bei der Wunderfrage wird gefragt, was eigentlich für eine Fragestellung anstünde, wenn sich das Problem erledigt hätte (vgl. Schmid 1987, S. 24). Ebenso wird gefragt, wer von diesem Verhalten am meisten überrascht wäre und was Klienten und Klientinnen vermissen (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 147). Beide Varianten der Wunderfragen erzeugen einerseits das Gefühl der Unverbindlichkeit - da die Klienten und Klientinnen für Wunder nichts können - und andererseits werden durch die Frage meistens ‚handfeste Tatsachen’ als Handlungsoptionen entwickelt. Die Wunderfrage kann zudem mit der Verschreibung (Æ Verschreibung) verbunden werden, so dass das Verhalten unter der Annahme des Wunders verschrieben wird (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 159).
Zeit-Raum-Energie-Diagramm Gruppe: Visualisierungstechniken Æ Grafische Techniken Das Zeit-Raum-Energie-Diagramm ähnelt einem Zeitstrahl. Die Ebenen von Raum, Zeit und Energie sind die, auf denen Systeme sich erleben können (vgl. Kantor & Lehr 1977). Um die Darstellung zu entwickeln, kann in der Zeitdimension (als Zeitstrahl) die chronologische Karte verwendet werden, in dem jedes Systemmitglied (Zeile) für jeden Zeitraum (Spalte) wichtige Ereignisse und Personen notiert (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 133). Die räumliche Repräsentation kann durch das Bild eines subjektiven Raumgrundrisses erfasst werden. Dabei skizziert jeder Beteiligte / Anwesende einen Raum in Zusammenhang mit dem Problem und Wänden, Türen, Freiräume oder die Raumgrößen bieten Möglichkeiten für Nachfragen (vgl. Hubschmid 1983 hier nach von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 134). Diese richten sich auch auf den Energieaufwand in Bezug auf spezifische Problemaspekte. Zirkuläre Frage an das Selbst Gruppe: Systemische Fragen Æ enges Verständnis Æ Zirkuläre Fragen 354
Bei der zirkulären Frage196 an das Selbst wird der Klient oder die Klientin durch Fragen zum Nachdenken aufgefordert: „Was denken sie darüber, was ihr Verhalten für B bedeutet“ (anlehnend an von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 140). Da Menschen oft darüber nachdenken, was andere über sie denken und danach ihre Kommunikation orientieren, hilft diese Frage, die zirkulären Gedanken über eben diese Erwartungen offen zu legen (vgl. Laing et al. 1973, S. 37 aus von Schlippe & Schweitzer 2003, S. 141)197.
Zirkuläre Frage an Dritte Gruppe: Systemische Fragen Æ enges Verständnis Æ Zirkuläre Fragen198 Die zirkuläre Frage über Dritte ist eine Reflexionsfrage und wird als Frage zur Anregung von „Klatsch in Anwesenheit“ (Penn 1982, S. 210; und auch Selvini Palazzoli et al. 1980; Königswieser et al. 1995, S. 62) beschrieben. Dabei wird ein Dritter 199 „aufgefordert, sich über die Beziehung zweier anderer zueinander auszulassen“ (Penn 1982, S. 210). Ziel ist es, die Zirkularität der Konstruktionsprozesse, die Beziehungen zwischen und Perspektiven der einzelnen Individuen im Klientensystem offen zu legen (vgl. Exner et al. 1987, S. 269).
Zukunfts-Zeitplan-Fragen Gruppe: Systemische Fragen Æ weites Verständnis Æ Fragen zur Möglichkeitskonstruktion
Æ Lösungs- und Problemorientierte Fragen Bei den Zukunfts-Zeitplan-Fragen geht es vor allen Dingen um die Erkundung der Chancen von Beziehungen bzw. die Erkundung der Chancen von Problemlösung in der Zukunft. Dazu werden Fragen formuliert, z.B. wie lange das Problem noch Raum im Verhalten haben soll oder wie lange der Konflikt noch bestehen soll, welche diese Chancen zu ermitteln helfen.
196 197
198
199
Vgl. auch Fußnote 198. Die zirkulären Gedanken entsprechen in etwa den Erwartungs-Erwartungen aus der oben entwickelten Synopse. Es wird bereits an dieser Stelle von einer hohen Bedeutung ausgegangen. In der Literatur wird die zirkuläre Frage zum Teil unter dem ‚engen’ Verständnis systemischer Fragen gefasst, demgegenüber auch ein ‚weites’ Verständnis allgemeiner Fragen existiert (vgl. Königswieser et al. 1995, S. 62). Bei Penn (1982) gilt z.B. diese zirkuläre Frage als siebte zirkuläre Fragetechnik, bei von Schlippe und Schweitzer (2003) ist dies die erste systemische Technik. Generell kann die Gruppe der zirkulären Fragen als die am häufigsten zitierte Methode eingeordnet werden (vgl. dazu Mingers 1996; Königswieser et al. 1995, S. 62; Wimmer 1995, S. 276; Exner et al. 1987, S. 269; Schmid 1987, S. 24; Penn 1982; Selvini Palazzoli et al. 1980). Bei Penn (1982) wird dieser Klatsch auf Familien bezogen, andere Autoren und Autorinnen sehen dies jedoch ebenso anwendbar in Organisationen und damit zwischen Mitarbeitern (vgl. z.B. Schmid 1987, S. 24).
355
Anhang 3
Methodenglossar zu NLP
Auf Grundlage der Funktionalität wurde im NLP ein vielseitiges Arsenal von Methoden für die Praxis entwickelt – oder aus anderen Bereichen übertragen. Diese Methoden werden nun in Form eines Glossars skizziert und dabei weder kritisiert noch bewertet. Die Ordnung der Methoden im Glossar erfolgt alphabetisch, wobei das Glossar als Nachschlagewerk für die Auswertung der Interviews mit Experten und Expertinnen dient. Zur Übersicht der gebildeten Kategorien von Methoden wird die folgende Grafik gegeben.
Abbildung 17 – Methodenkategorisierung von NLP
6-Schritt Reframing Gruppe: Reframing Das 6-Schritt Reframing ist sozusagen das Basismodell200 aller Reframing-Derivate und wurde auch in der systemischen Literatur referenziert. (vgl. Topf 2004, S. 43). Ziel ist es, der problematischen Sichtweise einen neuen Rahmen zu geben (vgl. Bachmann 1990, S. 17; Birkenbihl 1992, S. 28; Dilts & DeLozier 2000, S. 1071). Bei diesem Verfahren wird zunächst (1) ein Ziel für das neue Verhalten oder die Problemlösung benannt und anschließend (2) mit dem problematischen Verhalten / Teil ‚kommuniziert’ – er wird dabei direkt angesprochen. Bei der Ansprache wird (3) der Sinn des Verhaltens / dessen Absicht aufgedeckt und gewürdigt und es werden (4) drei neue Alternativen erdacht. Diese werden dem Geiste mitgeteilt, woraufhin (5) diese Alternativen geistig erprobt werden. Abschließend (6) ist zu prüfen, ob ein anderes Muster (ökologische Prüfung) etwas gegen diese neue Verhaltensweise aufbringen könnte (vgl. Bandler & Grinder 1992, S. 193; Bandler & Grinder 1985, S. 17; Topf 2004, S. 43).
Anker-Kollabierung Gruppe: Ankern 200
Das Basismodell des 6-Schritt Reframings (auch als 6-Step Reframing in der Literatur zu finden) wird auch als Prozess-Reframing bezeichnet (vgl. Topf 2004, S. 43). Zum Begriff des Reframing vgl. Fußnote 193.
357
Das absichtliche Kollabieren oder Verschmelzen zweier Anker (collapsing anchors) ist eine spezielle Form des Ankerns (Æ Ankern). Dabei werden ein positiv-besetzter und ein negativbesetzter Anker zur selben Zeit ausgelöst und dadurch verschmolzen (vgl. Friederich 1997, S. 40; Mohl 1993). Ziel dabei ist es, dass die beiden Anker eine Neutralisation der beiden Denkoder Verhaltensweisen auslösen (vgl. Bohlen 1995, S. 103). Wichtig ist „the more mutually incompatible they are, the more they reduce one another“ (Lankton 1980 hier nach Reckert 1998, S. 37). Im Zustand der Auslösung befindet sich der Klient oder die Klientin in einer Verwirrung, wodurch neue Wahlmöglichkeiten geschaffen werden (vgl. Reckert 1998, S. 37). Diese Kollabierung wird auch als „Integration von VAKOG-Quadrupeln“ (Reckert 1998, S. 37; Dilts et al. 1989)201 beschrieben. Der Ablauf wird so gestaltet (vgl. Reckert 1998, S. 37), dass zunächst (1) die Problemsituation erfasst wird. Dann wird (2) das Problem verankert, um anschließend (3) eine Ressourcensituation zu erfassen. Anschleißend (4) kann auch diese Ressource verankert werden. Danach werden (5) die beiden Anker zur gleich Zeit aktiviert, damit sich diese auflösen. Der Erfolg der Kollabierung wird über die Beobachtung von Körperhaltung, Atmung, Augenbewegungen, Tonfall usw. ermessen (vgl. Reckert 1998, S. 37). Zur Abrundung des Prozesses erfolgt (6) eine Prüfung als Validierung des Ergebnisses. Die Validierung entspricht dem ‚future pace’, wobei der Klient oder die Klientin einen Plan entwirft, wie sich das Verhalten „in der nächsten Problemsituation verändern wird“ (Reckert 1998, S. 38; Weerth 1992).
Ankern Gruppe: Ankern Das Ankern ist eine eigenständige Methode, es wird jedoch auch unterstützend zum klassischen Reframing (Æ 6-Schritt Reframing) in einer abgeänderten Variante dessen benutzt (Æ Erweitertes 6-Schritt Reframing). Ein Anker gilt im NLP als „spezifischer Stimulus, der eine bestimmte Reaktion auslöst“ (Reckert 1998, S. 37)202. So wird z.B. durch eine Berührung die Aktivierung negativer Emotion erzeugt. Das Ankern kann für problematische Muster wie auch für Lösungsmuster verwendet werden203. Wichtig in Bezug auf den Ankern ist, dass die201 202
203
Als VAKOG-Quadrupel gilt im NLP die „Repräsentation einer Situation im Visuellen (V), im Auditiven (A), im Kinästhetischen (K) und im Gustatorischen (G)“ (Reckert 1998, S. 37). Weitere Autoren dazu sind z.B. Bachmann 1990, S. 17; Bandler & Grinder 1992, S. 132f.; de Luynes 1995; Dilts & DeLozier 2000, S. 29; Friederich 1997, S. 36; James & Woodsmall 1991; Weerth 1992. Die Anwendung im Kontext einer Organisation oder eines Unternehmens wird schon in der frühen Literatur empfohlen (vgl. Bandler & Grinder 1992, S. 130).
358
ses bereits nach einer einmaligen Verbindung von Reiz und Stimulus wirkt (im Unterschied zur Pavlov’schen Konditionierung (vgl. Rosa 1988 hier aus Friederich 1997, S. 35; Birkenbihl 1992, S. 22f.). Bei dem Prozess des Ankerns wird (1) zunächst eine Ressourcensituation (positiv oder negativ) durch die Klienten und Klientinnen in allen Modalitäten repräsentiert (auch die Submodalitäten sind zu beachten)204. Die Ressource im positiven Sinne ist dabei alles, was „bei der Bewältigung einer Problemsituation weiterhelfen kann, oder diese erst ermöglicht“ (Friederich 1997, S. 35 angelehnt an Bandler & Grinder 1992). Während dieses Ereignisses der Repräsentation wird (2) der Berater oder die Beraterin den Klienten oder die Klientinnen auf eine bestimmte Art und Weise berühren, eine bestimmte Geste machen, ein bestimmtes Wort sagen und/oder ein bestimmtes Geräusch produzieren (vgl. Reckert 1998, S. 38; Weerth 1992)205. Dieser gesetzte Anker kann dann überprüft oder eingesetzt werden, indem (3) dieselbe Berührung oder Geste gemacht oder das Wort gesagt und die Reaktion beobachtet wird. Damit kann das Erlebte wieder hervorgerufen werden (vgl. Friederich 1997, S. 36). Positive Zustände können so zunächst zu Beginn geankert werden, um bei der Behandlung von Problemsituationen als Unterstützung ausgelöst zu werden. Mit diesem Prozess, so die Hauptautoren zu NLP, „ist fast alles zu erreichen“ (Bandler & Grinder 1985, S. 107).
Bodenankern Gruppe: Ankern Das Bodenankern ist eine Abwandlung des Ankerns (Æ Ankern). Im Gegensatz zu dem klassischen Ankern werden die Anker visuell und auch räumlich als (farbige) Bodenmarkierung (Kissen, Platte oder auch Stuhl) repräsentiert. Hier können die Klienten (1) im Raum eine Position z.B. auf einem Blatt Papier einnehmen, in der sie sich (2) in eine bestimmte Rolle hineinversetzen / hineingeführt werden. Dies erfolgt durch Imagination in allen Modalitäten (VAKOG) mit Nachfragen zu den Submodalitäten (vgl. Tille 2007). Auch hier ist der Test (3) möglich, in dem die Klienten oder Klientinnen sich erneut in die Position begeben.
204
205
Als Referenz für das Befinden der Klienten und Klientinnen in diesem Zustand dient der „psycho-physiologische Gesamtzustand“ (Friederich 1997, S. 36 anlehnend an Birker & Birker 1997). Dabei werden als äußere Reaktionen insbesondere Atmung, Stimmlage, Lautstärke, Gesichtsfärbung, Gesichtsausdruck, Lippenhaltung, Augenbewegungen und der Lidreflex beobachtet (Friederich 1997, S. 36). Am wirkungsvollsten sind dabei kinästhetische Anker – Berührungen (vgl. Bandler & Grinder 1992, S. 131; Mohl 1993).
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Cross-Pacing Gruppe: Basismethoden Æ Rapport Æ Pacing Das Cross-Pacing entspricht wie das direkte Pacing (Æ Direktes Pacing) einer Verhaltensangleichung206, bei der versucht wird, sich „bewußt über Körperhaltung, Stimmstärke, Lautstärke und andere Verhaltensmerkmale, verbal wie nonverbal, auf den Gesprächspartner einzustellen“ (Bohlen 1995, S. 83)207. Ziel ist es auch hierbei, den Rapport208 herzustellen (vgl. Winteler 1995, S. 232 aus Boller 1998, S. 9). Bei dem Cross-Pacing wird der Kommunikationspartner insbesondere „kreuzweise gespiegelt“ (Bohlen 1995, S. 83), was auch als ‚Mirroring’ bezeichnet wird (vgl. Boller 1998, S. 9, 40). Dieses Verfahren ist nach der Literatur zu NLP insbesondere bei reflexiven Gesprächspartnern besser zu verwenden als das zu auffällige direkte Pacing. Es wird aber auch bei anderen Kommunikationspartnern, insbesondere solchen mit problematischen Verhaltensweisen verwendet, um diese nicht unmittelbar zu reflektieren209.
Das jüngere Selbst Gruppe: Dissoziation Die Technik des jüngeren Selbst ist eine Dissoziationstechnik210 und bezieht sich im Prinzip auf traumatische Erfahrungen, bei der die visuellen von der kinästhetischen Repräsentation abgespalten werden (vgl. Reckert 1998, S. 46). Der Ablauf ist so gestaltet (vgl. Reckert 1998, S. 46f), dass die Person zunächst (1) die Anweisung erhält ‚aus ihrem Körper’ zu treten und sich selbst zu beobachten. Dann soll sie (2) sich selbst beobachten, wie sie das besagte Ereignis durchlebt und dabei (3) die Distanz zu dem Erlebten verändert. Als spezifischere Form 206 207
208 209
210
Vgl. auch Fußnote 211. Vgl. dazu auch die weitere Literatur von Bierbaum et al. 1993, S. 90 hier aus Boller 1998, S. 40; Dilts & DeLozier 2000, S. 909; Bachmann 1990, S. 15; Birkenbihl 1992, S. 17, 19. Vgl. auch Fußnote 212. Auch ein zu deutliches Cross-Pacing bei nicht problematischem Verhalten kann dazu führen, dass der Rapport abbricht. Daher sind die obersten Maxime im Pacing-Prozess „Mitgefühl, Achtung und Geduld“ (Bandler & Donner 1995, S. 41 hier aus Boller 1998, S. 52). Ein Abbruch des Rapports muss vor Weiterführung einer Sitzung erst wieder hergestellt werden (Bachmann 1994, S. 19 aus Boller 1998, S. 51). Aus der Perspektive von NLP existiert ein assoziierter Zustand in Bezug auf ein Problem, in dem der Klient oder die Klientin alles „direkt ohne kognitiven Abstand zum Geschehen wahrnimmt“ (Bohlen 1995, S. 84). Dieser oft sehr schmerzvolle Zustand wird im NLP erweitert durch die dissoziierten Zustände. In den dissoziierten Zuständen nimmt der Klient oder die Klientin „alles mit einem kognitiven Abstand zum Geschehen“ (Bohlen 1995, S. 84) wahr. Bandler beschreibt diesen dissoziierten Zustand so: „You might see it as if you were looking down from an airplane, or you might see it as if you were someone else watching a movie of yourself“ (Bandler 1985 hier aus Reckert 1998, S. 42; Bachmann 1991).
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dieser Technik wird eine doppelte Assoziation ausgeführt (vgl. Reckert 1998, S. 47), indem die Person das jüngere Selbst (1) auf eine Leinwand als Standbild projiziert (1. Dissoziation) und (2) sich selbst beobachtet, wie sie selbst das jüngere Selbst auf der Leinwand beobachtet (2. Dissoziation). Dann kann die Person (3) den Film ablaufen lassen, um ihn aus der zweiten Dissoziation nach dem Erlebnis anzuhalten. Hier kann die Person dann in die erste Dissoziation wechseln und im Kino durch die Person dem jüngeren Selbst auf der Leinwand Trost, Wertschätzung und Liebe spenden. Wenn sich das jüngere Selbst auf der Leinwand gut fühlt, können (4) die Dissoziationen aufgelöst werden.
Direktes Pacing Gruppe: Basismethoden Æ Rapport Æ Pacing Das direkte Pacing entspricht einer Verhaltensangleichung211, bei der versucht wird, sich „bewußt über Körperhaltung, Stimmstärke, Lautstärke und andere Verhaltensmerkmale, verbal wie nonverbal, auf den Gesprächspartner einzustellen“ (Bohlen 1995, S. 83; Birkenbihl 1992, S. 17, 19). Ziel dabei ist es, mit dem Pacing den Rapport212 herzustellen (vgl. Winteler 1995, S. 232 aus Boller 1998, S. 9). Bei dem direkten Pacing wird der Kommunikationspartner nur gespiegelt, so dass z.B. auf die Unsicherheit eines Gesprächspartners mit eigener Unsicherheit reagiert wird. Dies wird auch als ‚Matching’ oder eben ‚Direct-Pacing’ bezeichnet (vgl. Boller 1998, S. 9, 40).
Erschaffen eines neuen Teiles Gruppe: Reframing Das Erschaffen eines neuen Teils ist ebenfalls eine Methode des Reframing (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 75), jedoch mit mehreren Schritten als bei dem klassischen 6-Schritt Reframing (Æ 6-Schritt Reframing). Der Ausgangspunkt für diese Form des Reframings ist, dass der Klient oder die Klientin von der fehlenden Existenz eines Teils (für Verhalten oder Denkweisen) berichtet, welcher eine bestimmte Organisation übernimmt (vgl. Bandler & Grinder 211 212
Ein Spiegeln, was auch als „Tanz der Physiologien“ (Stahl 1990, S.77) bezeichnet wird. Rapport ist bei NLP ein Oberbegriff, unter dem alle Maßnahmen zusammenfasst werden, „mit denen es gelingt, eine gute Grundlage, einen guten Draht zum Anderen herzustellen“ (Bohlen 1995, S. 83 und auch Bachmann 1990, S. 14; Birkenbihl 1992, S. 13; Dilts & DeLozier 2000, S. 1051; Peschanel 1986). Er definiert damit ein Beziehungsverhältnis auf gegenseitigem Vertrauen (vgl. Bierach 1991, S. 18 hier aus Boller 1998, S. 7; Weerth 2006). Ein Widerstand von der Seite des Klienten gegenüber Methoden oder Verhaltensweisen des Therapeuten wird nicht wie z.B. in der Psychotherapie als Bestätigung der Vermutung des Therapeuten interpretiert (vgl. Greenson 1981, S. 49), sondern auf mangelndes Pacing zurückgeführt (vgl. Bohlen 1995, S. 83).
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1985, S. 76). So wird durch den Klienten oder die Klientin unter Assistenz von Beratern und Beraterinnen zunächst (1) ein gewünschtes Ziel identifiziert. Dann wird (2) ein Zugang zu allen zurückliegenden Erlebnissen verschafft, um (3) detailliert zu beschreiben, wie sich der Klient oder die Klientin mit dem neuen Teil in den Erlebnissen verhalten würde und was dieser Teil dort beeinflusst. Nach dem (4) typischen, ökologischen Check über Fremdeinwände folgt (5) eine Überprüfung aller Einwände gegen das Ziel. Nun wird (6) dem Unbewussten aufgetragen, den Teil unter Berücksichtigung aller Einwände aufzubauen. Abschließend (7) wird die die Existenz des Teils an einem Beispiel überprüft (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 126)213.
Erweitertes 6-Schritt Reframing Gruppe: Reframing Das erweiterte 6-Scchritt-Reframing baut in beträchtlichem Maße auf dem klassischen 6Schritt Reframing auf (Æ 6-Schritt Reframing). Ergänzt wird hier im Ablauf des Verfahrens, dass das Ankern (Æ Ankern) aktiv in den Prozess eingebunden wird. Daher erfolgt bei Punkt 2 (Kommunikation mit dem Teil), wie auch bei Punkt 3 (positive Absicht ermitteln) und bei Punkt 4 (Alternativen) des klassischen 6-Schritt Reframings das Ankern, um einen besseren Prozessablauf zu gewähren (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 139). Dabei soll der Klient auf seine Strategie für die Problemspeicherung aufmerksam gemacht werden, so dass er den neuen Rahmen für das Problem besser ‚setzen’ kann.
Gezielte Zukunftsbeeinflussung Gruppe: Timeline Bei der gezielten Zukunftsbeeinflussung wird die Timeline vorwärts durchlaufen. Ziel dabei ist es, einen Wunschzustand zu setzten. Diese Technik ist rein imaginativ, wobei (1) ein wünschenswerter Zustand definiert wird, (2) positive und negative Konsequenzen bestimmt werden, wobei die „realistischste und am stärksten motivierende Konsequenz“ (Weerth 1992, S. 191) ausgewählt wird. Dann wird (3) eine Konsequenz ermittelt, die bereits jetzt das Verhalten maßgeblich beeinflusst – möglichst in gleicher Ausprägung zu 2. Dann werden (4) die bei-
213
Bei dieser Methode gilt im Gegensatz zu Virginia Satir’s ‚Parts Party’, dass der neue Teil nur mit einem konkreten Ziel geschaffen wird und nicht bloß als Gegenargument zu einem bereits vorhandenen. Denn wenn kein Ziel für den neuen Teil vorliegt, kann dies zu von ihm nicht gewollten Verhaltensweisen führen (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 79).
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den Konsequenzen in ihren Submodalitäten verglichen und (5) gegenseitig angepasst. Abschließend wird (6) die Motivation imaginativ getestet.
Inhalts-Reframing / Kontext-Reframing Gruppe: Reframing Bei dem Inhalts-Reframing wird für das Problem eine neue Bedeutung oder ein neues Gefühl durch einen anderen Blickwinkel erzeugt (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 18f.; Topf 2004, S. 42). Dieses Verfahren ist dabei weniger aufwendig als das 6-Schritt Reframing (Æ 6-Schritt Reframing), hat aber die gleiche Zielrichtung. Der neue Blickwinkel wird dadurch erzeugt, dass Berater und Beraterinnen die Klienten und Klientinnen Beispiele für alternative Gefühlssituationen in Bezug auf das Problem durchleben lassen. Es kann auch versucht werden, für das Problem einen anderen, bedeutungsvollen Kontext zu ermitteln. Dazu lassen Berater und Beraterinnen die Klienten und Klientinnen nach Möglichkeiten suchen, bei denen diese das Problem als hilfreich bewerten würden (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 22). Anschließend wird dann das alte Verhalten auf die neue Situationen ‚eingeschworen’, weshalb diese Art des inhaltlichen Reframings auch als Kontext-Reframing bezeichnet wird (vgl. Topf 2004, S. 42). Insbesondere diese Form soll für Verkaufsgespräche von Bedeutung sein (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 52).
Kalibrierung Gruppe: Basismethoden Æ Rapport Die Kalibrierung ist eine Methode, um den Erfolg des direkten Pacings (Æ Direktes Pacing) oder des Cross-Pacings (ÆCross-Pacing) zu verbessern. Dabei wird die Wahrnehmungsfähigkeit des Beraters oder der Beraterin gesteigert (vgl. Bohlen 1995, 84). Diese lernen, das „genaue Beobachten kleinster Veränderungen, welche sich bei einer anderen Person innerhalb von kurzen Momenten abspielen“ (Bohlen 1995, S. 84 nach James & Woodsmall 1991, S. 302; Strikker 1994, S. 177; Boller 1998, S. 8; Bachmann 1990, S. 16). Zu der Kalibrierung gehört neben der Schulung der Wahrnehmung auch das „Erkennen des eigenen Selbstausdrucks“ (Boller 1998, S. 9 nach Sawizki 1996, S. 53) der Berater und Beraterinnen.
Kraftumdeuten Gruppe: Dissoziation Æ Submodalitäten
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Das Kraftumdeuten ist eine Steigerung der Methode zur Veränderung von Glaubenssätzen (Æ Veränderung von Glaubenssätzen). Auch diese Methode baut daher auf den sieben logischen Ebenen von Gregory Bateson’s Ökologie des Geistes auf: Spiritualität, Identität, Werte, Glaubenssätze, Fähigkeiten, Verhalten, Umwelt (vgl. Dilts 1993 hier nach Reckert 1998, S. 53), wobei hier das Wertesystems und nicht die Glaubenssätze bearbeitet werden (vgl. Topf 2004, S. 43). Insbesondere wird in diesem Falle die Veränderung der Submodalitäten in Bezug auf die Wertehierarchie adressiert, denn jeder Mensch hat nach NLP eine Submodalität anhand derer er die Werte hierarchisiert. In der Methode werden dazu (1) das wesentliche submodale Kontinuum ermittelt, (2) ein Wert zur Veränderung identifiziert, (3) die neuen vor- und nachgelagerten Werte und deren Ausprägungen ermittelt. Dann wird (4) die Submodalität des zu verändernden Wertes langsam angepasst, dass sie zwischen den neuen Ausprägungen liegt und (5) wird der Erfolg getestet (vgl. Weerth 1992, S. 184 f.).
Leading Gruppe: Basismethoden Æ Rapport Die Methode des Leading dient dazu, die Verbindung zum Klienten oder zur Klientin zu überprüfen. Dabei wird versucht, mit kleinen Verhaltensänderungen des Beraters oder der Beraterin gekreuzte oder direkt gespiegelte Reaktionen bei Klienten und Klientinnen zu erreichen (vgl. Boller 1998, S. 11 und auch Bachmann 1990, S. 15; Birkenbihl 1992, S. 21). Erst wenn die Verbindung zum Klienten oder zur Klientin hiermit überprüft wurde, können die „eigentlichen veränderungswirksamen Interventionen“ (Bohlen 1995, S. 83) stattfinden214.
Positives Denken Gruppe: Basismethoden Die wohl simpelste Methode des NLP ist die Behebung eines Problems durch die Sinnsuche „hinter den Zufälligkeiten des Lebens“ (Topf 2004, S. 42), wodurch ein verantwortungsvolles, positives Grunddenken gefördert wird. Alleine die Haltung der Sinnsuche von Ursachen führe demnach zu einer Veränderung durch Reflexion.
Quadro-Modell der Eigenmotivation Gruppe: Reframing 214
Das Leading gilt als die Wurzel der Kritik zum „manipulativen Mißbrauch des Neuro-Linguistischen-Programmierens“ (Boller 1998, S. 11).
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Das Quadro-Modell der Eigenmotivation ist eine Weiterentwicklung des klassischen 6-Schritt Reframings (vgl. zum Modell auch Topf 2004, S. 44). Es entspricht einer verkürzten Version dessen (Æ 6-Schritt Reframing), bei dem die Punkte 1 und 2 zusammengefasst, sowie die Punkte 5 und 6 durch den Schritt 3 im Quadro-Modell ersetzt wurden. Bei dem Quadro-Modell der Eigenmotivation wird daher die Problemlösung in der folgenden Form durchgeführt: (1) Erkennen des eigenen Problemanteils, (2) Ernstnehmen des Problems, (3) Lösbarkeit oder Erreichbarkeit einblenden bzw. imaginieren und (4) vorhandene Kompetenzen und Ressourcen dazu erkennen. In Abhängigkeit von dem jeweiligen Problem soll die verkürzte Form schneller funktionieren.
Re-Imprinting Gruppe: Timeline Das Re-Imprinting basiert auf den Imprints, den Prägungen von vergangenen Erfahrungen, die eine negative Auswirkung auf heutiges Verhalten haben (vgl. Dilts et al. 1991; Dilts 1993 nach Ötsch 2006 und Ötsch & Stahl 1997). Diese Prägungen wurden selbsttätig durch den Klienten oder die Klientin so geankert, dass sie relativ leicht abgerufen werden. Dieser Anker wird über eine Timeline verändert, indem zunächst (1) die Prägungs-Situation ermittelt wird. Dies geschieht durch (physisches) Rückschreiten auf der Timeline, also visuell oder imaginär (vgl. Zimmermann 2007). Alle Zustände die auf dem Weg zu dem Problem auftauchen werden nur kurz betrachtet. Ist der Ausgangspunkt erkannt, wird dieser Zustand (2) näher erkundet. Dies geschieht durch Dissoziation, Assoziation oder Reframing der Vergangenheit, wodurch ein positiver Zustand kreiert wird. Dieser positive Zustand wird (3) weiter mit Ressourcen angereichert, um diesen dann (4) mit der Gegenwart zu verknüpfen. Dabei werden alle bisherigen Muster, bei denen vorher nur kurz gehalten wurde, mit dem neuen Zustand imaginativ erlebt und dabei die Vergangenheit neu geschrieben. Eine Modifikation ist das Eltern Re-Imprinting, bei denen die übernommenen Erfahrungen der Eltern verändert werden (vgl. Andreas & Andreas 1995). Das Re-Imprinting gilt für „viele als eine[r] der wichtigsten Techniken des NLP“ (Ötsch 2006; im Original ohne Einfügung).
Rückwärts- / Kino-Technik Gruppe: Dissoziation Die Rückwärts- oder Kinotechnik ist eine ähnliche Dissoziationstechnik wie das jüngere Selbst. Hier werden auch zwei Dissoziationen erzeugt, jedoch zusätzlich noch mit der Rich365
tung und der Darstellung des ‚Filmes’ der Erfahrungen gearbeitet (vgl. Reckert 1998, S. 50). Die Person erzeugt (1) schwarz-weiße Standbilder des Anfangs und des Endes der Situation (1. Dissoziation). Dann begibt sich die Person (2) in den Vorführraum des Kinos (2. Dissoziation). Von hier schaut sie sich das belastende Ereignis in Farbe an. Dann (3) löst die Person alle Dissoziationen auf, befindet sich im Film und lässt diesen aber sehr schnell rückwärts laufen. Abschließend kann die Wirkung (4) imaginativ oder real getestet werden.
System-Reframing Gruppe: Reframing Das System-Reframing ist auch eine Variante des klassischen 6-Schritt Reframings, bei dem jedoch bei dem ökologischen Check nicht nur das Innere der Person, sondern ebenso das äußere soziale System – in dem sich das psychophysische System bewegt – beachtet wird (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 171; Bohlen 1995, S. 106 nach Weerth 1992, S. 25f.). Nach NLP können Menschen ihr Verhalten zwar ändern, aber das soziale Umfeld reagiert dann möglicherweise mit einem problematischen Verhalten. Entweder können dann die Teile bearbeitet werden, die auf die Reaktion des sozialen Systems reagieren (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 171, und dazu die obigen Ansätze des Reframing) oder es kann das Gesamtsystem bearbeitet werden. Dabei wird das 6-Schritt Reframing leicht verändert und das Augenmerk auf die Kommunikation zwischen dem Auslöser (Stimulus-Person) und dem Empfänger (ReaktionsPerson) ausgerichtet. Es beginnt mit einer (1) Identifikation der Aktions-Reaktions-Schleifen oder Stimulus-Reaktions-Schleifen. Dann wird die (2) Reaktions-Person gefragt, ob die Gefühle bei den Schleifen das Problem beschreiben. Anschließend wird die (3) Stimulus-Person gefragt, ob das Gefühl tatsächlich beabsichtigt war. Es folgt (4) erneut eine Frage an die Stimulus-Person, ob diese zu der Botschaft, welche sie übermittelt hat, steht. Es wird dann (5) die empfangene und die beabsichtigte Botschaft in Übereinstimmung gebracht, wobei die (6) Stimulus-Person am Ende gebeten wird das neue Verhalten auszuprobieren (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 176f.).
Timelining Gruppe: Timeline Das Timelining entstammt aus der Analyse von Zeitverarbeitung und Persönlichkeitsmerkmalen (Meta-Modellen) (vgl. Reckert 1998, S. 34 aus Weerth 1992, S. 12; speziell dazu James & Woodsmall 1991) sowie der Analyse kognitiver Repräsentationsformen von Vergangenheit, 366
Gegenwart und Zukunft (vgl. Reckert 1998, S. 34 aus Weerth 1992, S. 12; speziell dazu Andreas & Andreas 1993). Bei dem Timelining visualisiert der Klient oder die Klientin die eigene Zeitlinie im Raum oder auf dem Boden (vgl. Zimmermann 2007; Modifikationen bei Bausch 2002; Weddeling 2006). Auf dieser Zeitlinie können dann verschiedene andere Handlungen durchgeführt – wie z.B. das Markieren von Problemen – und Methoden des NLP verwendet werden – wie z.B. das jüngere Selbst, Ankern etc. Vornehmlich wird zur Lösung des Problemzustandes die Zeit als Submodalität zu dem Ereignis modifiziert.
Ultra-Kurzzeit-Therapie Gruppe: Dissoziation Æ Submodalitäten Im Rahmen der Ultrakurzzeit-Therapie werden die Submodalitäten des A-Kanals (auditiv) bearbeitet, um damit eine Dissoziation zu erzeugen und aus diesem dissoziierten Zustand das Problem anders betrachten zu können. Dazu wird hauptsächlich die ‚Tonspur’ des ‚Films’ der Erinnerung manipuliert. So macht der Klient oder die Klientin „den Ton lauter und leiser, die Tonspur schneller oder langsamer oder gar den Film mit völlig neuen Dialogen“ (Reckert 1998, S. 51). Nach der Literatur zum NLP wird insbesondere hierbei schnell eine Veränderung des Problemzustandes erzielt.
Umkehrtherapie Gruppe: Dissoziation Æ Submodalitäten Bei der Umkehrtherapie geht es vor allem darum, die Submodalitäten auf allen VAKOGKanälen zu bearbeiten und damit eine Dissoziation zu erzeugen bzw. aus einem dissoziierten Zustand das Problem zu betrachten. Dazu werden „die Bilder des unangenehmen Filmes [...] schneller oder langsamer rückwärts laufen [...] in ihrer Entfernung zu sich verändern, die Helligkeit verändern, sie auf den Kopf stellen“ (Reckert 1998, S. 51) etc. Die Gefühlsreaktion des Traumas soll damit verändert werden und idealer Weise entsteht ein Lachen durch die Komik der Technik, wodurch eine positive Emotion mit dem Trauma verbunden wird.
Veränderung von Glaubenssätzen Gruppe: Dissoziation Æ Submodalitäten Diese Methode der Veränderung von Glaubenssätzen baut auf den sieben logischen Ebenen von Gregory Bateson's Ökologie des Geistes auf: Spiritualität, Identität, Werte, Glaubenssätze, Fähigkeiten, Verhalten, Umwelt (vgl. Dilts 1993 hier nach Reckert 1998, S. 53). Die obe367
ren Ebenen (Spiritualität, Identität, Werte, Glaubenssätze) sind dabei die „wichtigsten Ansatzpunkte für die Veränderungsarbeit“ (Hege & Kremser 1993, S. 166 ff. hier nach Boller 1998, S. 16). Die Glaubenssätze entsprechen dabei insbesondere „Generalisierungen über Beziehungen zwischen Dingen und Ereignissen in unserer Umgebung“ (Reckert 1998, S. 52). Es geht also bei der Methode darum, dass „BELIEF SYSTEM […] zu erkennen und zu erweitern“ (Blickhan 1992, S. 59, Großschrift im Original). Die Veränderung dieser Glaubenssätze bedeutet demnach im NLP eine Veränderung dieser Generalisierungen, sofern sie zu einem Problem führen. Dies kann mit den folgenden Schritten geschehen (vgl. Reckert 1998, S. 53f.): Erstens wird (1) ein Bild in allen Submodalitäten des Problems aufgestellt. Hieraus werden (2) Submodalität(en) extrahiert, die das Problem oder den Zweifel am Glaubenssatz darstellen. Dann werden (3) Unterschiede der Submodalitäten ermittelt, um (4) einen neuen Glaubenssatz aufzustellen und diesen einem ökologischen Check215 zu unterziehen. Dann wird (5) der alte Glaubenssatz in den Submodalitäten des Zweifelsatzes vorgestellt. Es wird (6) dem alten Bild mit den neuen Modalitäten die Bedeutung des neuen Glaubenssatzes geben, um (7) das Bild mit den neuen Submodalitäten noch einmal mit dem alten Glaubenssatz betrachten. Abschließend wird (8) wird die Funktionalität des neuen Glaubenssatzes noch einmal getestet.
Zeitveränderung Gruppe: Timeline Bei der Zeitveränderung werden die Submodalitäten mit der Timeline verknüpft. Hierbei geht es um die Über- und Unterbetonung einzelner Zeiten in der Erinnerung des Klienten oder der Klientin (vgl. Weerth 1992, S. 187). Zur Lösung dieser unausgewogenen Repräsentanz werden „probeweise zahlreiche submodale Veränderungen“ (Weerth 1992, S. 188) durchgeführt. Somit werden die gesamte Struktur der Zeitlinie oder nur einzelne Abschnitte hinsichtlich Verlauf, Breite, Ausdehnung, etc. verändert (vgl. Weerth 1992, S. 188). Die Veränderungen zur Behebung einzelner Probleme auf der Zeitlinie erfolgen durch Dissoziationstechniken wie z.B. das jüngere Selbst (vgl. Weerth 1992, S. 190). Diese Methode kann mit dem Timelining verknüpft werden.
Zwei-Teile Verhandlung Gruppe: Reframing 215
Das entspricht dem ökologischen Check im Reframing, bei dem Einflüsse auf andere Muster (hier Glaubenssätze) und andere Personen – aus der systemischen Perspektive im NLP – geprüft werden.
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Kern der Zwei-Teile Verhandlung ist ein Reframing (Æ 6-Schritt Reframing), was von der Existenz zweier konkurrierender Teile im Geiste ausgeht, welche sich gegenseitig behindern. Eine Überprüfung der Präsenz eines konkurrierenden Teils wurde im Rahmen des ökologischen Checks (6. Schritt) schon bei dem 6-Schritt Reframing durchgeführt. Diese Prüfung wird nun auf den gesamten Prozess ausgedehnt, wobei die letzten drei Schritte des klassischen 6-Schritt Reframings entfallen. Bei der Zwei-Teile Verhandlung werden zunächst (1) beide Teile identifiziert, welche sich gegenseitig behindern könnten und damit das Problem erzeugen. Dann werden für beide Teile (2) deren positive Absicht gefunden, um schließlich (3) mit diesen zu verhandeln, unter welchen Bedingungen oder Kontexten sie ungestört arbeiten können (vgl. Bandler & Grinder 1985, S. 64 ff.). Alternativ können anstelle neuer Kontexte auch andere Aufgaben für die konkurrierenden Teile gefunden und zugewiesen werden.
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Anhang 4
Methodenglossar zu Huna
Serge Kahili King, als Entdecker und Entwickler von Huna, ist der Ansicht, dass neues Wissen, welches alten Überzeugungen und Einstellungen widerspricht, nur „selten eine Veränderung herbeiführen“ (King 1996a, S. 53 f.) wird. Seine Methoden sind daher darauf ausgerichtet, dass diese einerseits vor jedem Glaubenshintergrund angewendet werden können. Andererseits sind die Methoden so gestaltet, dass Klienten und Klientinnen durch ihre Erfahrungen einen anderen Blick auf die Welt entwickeln. Eine Auswahl dieser Methoden216 wird nun in Form eines Glossars skizziert und dabei weder kritisiert noch bewertet. Die Ordnung der Methoden im Glossar erfolgt alphabetisch, wobei das Glossar als Nachschlagewerk für die Auswertung der Interviews mit Experten und Expertinnen dient. Zur Übersicht der gebildeten Kategorien von Methoden wird die folgende Grafik gegeben.
Abbildung 18 – Methodenkategorisierung von Huna
3-Steine Orakel Gruppe: Management-Methoden Æ Befragung des Unbewussten 216
In der Literatur zu Huna werden sehr viele Methoden genannt, so dass selbst deren Skizzierung das Volumen eines Exkurses bei weitem überschreitet. Daher wird eine Auswahl von Methoden getroffen, bei denen eine gewisse Nähe zur Forschungsfrage individueller Pfade von Konstruktionen erahnt werden kann. Zunächst werden alle Basisübungen (vgl. King 1997) sowie einige Methoden zur Selbstheilung (vgl. King 1995; King 2001) berücksichtig. Zusätzlich werden einige der Methoden aufgegriffen, welche schon für das Management übertragen wurden (vgl. Ulmer-Janes 2000). Die nicht berücksichtigten Methoden aus diesen drei Gruppen wurden aus vier Gründen aussortiert. Erstens wurden zum Teil nur Beispiele genannt und beschreiben, wie diese Beispiele unter Rückgriff auf Basismethoden oder Methoden der Selbstheilung gelöst werden können (vgl. dazu vor allem Ulmer-Janes 2000). Zweitens sind einige Methoden für die Heilung von sozialer Interaktion bestimmt (z.B. HO’OPONOPONO, Strukturheilung, Kommunikation, Methoden zur Heilung von Beziehungen), welche im Hinblick auf die Forschungsfrage als irrelevant eingestuft wurden (vgl. King 2001, S. 171; King 2005; Ulmer-Janes 2000, S. 176 ff.). Drittens sind einige Methoden auf die Heilung durch Berührung und Massage ausgerichtet (z.B. KAHI LOA oder LOMI LOMI), welche im Hinblick auf die Forschungsfrage ebenfalls als irrelevant eingestuft wurden (vgl. King 2001, S. 130-168, S. 211-227). Viertens sind einige Methoden auf die Energetische Heilung ausgerichtet. Diese entsprechen aber Entspannungstechniken (PIKO PIKO, Technik zur Entspannung der Augen), Methoden der Vorstellung (An schöne Dinge Denken, Kraft der Liebe) oder sind sehr allgemein gehalten (Wasser, Atmung, Seltsame Wellen), so dass auch diese nicht berücksichtigt werden (vgl. King 2001, S. 143 ff.).
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Das 3-Steine Orakel ist eine verkürzte Form der Variante mit sieben Steinen (Æ 7-Steine Orakel). Dabei kommen nur drei Steine zum Einsatz (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 132) und es können vor allem Ja- / Nein-Fragen beantwortet werden. Ein Stein (1) wird wieder als der zentrale Stein definiert (IKE), und zwei weitere werden ja und nein zugeordnet. Dann werden die Steine (2) wie Würfel geworfen und der Stein, welcher am nächsten zum zentralen Stein liegt, gibt (3) die Antwort auf die Frage. Bei Zeitnot wird diese Methode reduziert auf den Wurf einer Münze, bei der Kopf oder Zahl als ja oder nein vorher definiert wird (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 134).
7-Steine Orakel Gruppe: Management-Methoden Æ Befragung des Unbewussten Das 7-Steine Orakel hilft bei der Befragung des Unbewussten und gewährt einen Einblick in die Informationen, die LONO (dem Verstandsbewusstsein) derzeit nicht zur Verfügung stehen. Zunächst werden (1) sieben Steine, Runen, Knöpfe oder andere unterscheidbare Gegenstände angefertigt, die willkürlich mit den sieben Prinzipien zu verbinden sind (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 129). Der zentrale Stein ist der, der zu IKE zugeordnet wurde. Anschließend wird (2) mental eine Frage über ein (organisatorisches) Problem formuliert, wobei dies aus einem entspannten Zustand heraus zu tun ist217. Daraufhin werden (3) die sieben Steine wie Würfel geworfen. Die Auswertung erfolgt (4) über den Stein, welcher am nächsten zu dem Stein liegt, welcher IKE repräsentiert (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 131). Die Bedeutung des jeweiligen Steines kann entsprechend der Prinzipien und mit den folgenden weiteren Ausrichtungen durchgeführt werden: KALA (Freiheit vs. Begrenzung / Stress), MAKIA (Konzentration vs. Verwirrung), MANAWA (Friede, Jetzt vs. Konflikt, Verzögerung), ALOHA (Liebe vs. Wut, Hass), MANA (Kraft, Zuversicht vs. Angst, Schwäche, Zweifel), PONO (Harmonie, Flexibilität vs. Rigidität, Methodenstarre) (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 130).
Affirmation Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte
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Zur Entspannung kann die Methode des PIKO PIKO, als eine Form der hawaiianischen Meditation, verwendet werden. Dazu wird einige Minuten lang die folgende Prozedur durchgeführt (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 131): (1) Während der Einatmung erfolgt eine Konzentration auf den Haar-Scheitel. Dann erfolgt (2) während der Ausatmung eine Konzentration auf den Bauch. Bei der (3) nächsten Einatmung wird auf den Beckenboden konzentriert und wiederum (4) während der Ausatmung auf den Bauch. Der Prozess beginnt dann wieder bei (1).
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Affirmationen sind „Feststellungen, die wie Tatsachen klingen, allerdings […] zum aktuellen Zeitpunkt zutreffen können oder auch nicht“ (King 2001, S. 88). Mit der Affirmation wird die Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Ziel fokussiert, wobei die mächtigsten Affirmationen die sind, welche vom Körper angenommen werden. Wichtig bei Affirmationen ist, dass diese daher nicht abstrakt klingen, sondern in einer für den Körper verständlichen Sprache formuliert werden. Verständlich ist eine Affirmation dann, wenn sie mit der Erinnerung (z.B. ‚Ich fühle mich so gut wie früher, als ich noch Basketball spielte’), mit einem Vergleich (z.B. ‚Mein Geist ist so still wie ein Bergsee’) oder mit einer Metapher (z.B. ‚Ich bin wie ein Baum voller Leben’) verknüpft werden. Die Affirmationen werden dann so oft wiederholt, bis eine Besserung eintritt. Sind die Affirmationen sehr kurz, dann können sie als Schnellformeln sehr oft hintereinander gesagt werden (z.B. ‚Ichfühlmichgut’. Eine radikale Form der Affirmation ist, wenn etwas in der Affirmation verneint wird. Nach King ist diese Form einerseits mutig, da sie genau das Gegenteil behauptet von dem was der aktuelle Zustand ist, und andererseits ist sie wahrscheinlich nicht ganz so funktional, da Verneinungen vom Körper oft nicht direkt verstanden werden (vgl. King 2001, S. 91).
Anweisungen Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Die Anweisung ist ähnlich der Affirmation (Æ Affirmation), wobei die Anweisung deutlicher erfolgt. Es wird bei der Anweisung keine Aussage getroffen, sondern dem Körper wird das Ziel vorgegeben, was er tun soll (vgl. King 2001, S. 92). Dies geht einerseits durch die direkte Anweisung (z.B. ‚Entspanne!’), mit der ein Ziel-Zustand beschrieben wird. Je knapper diese Anweisungen sind, desto besser (vgl. King 2001, S. 93). Andererseits gibt es auch indirekte Anweisungen (z.B. ‚Kühlender Wind’). Diese bestehen aus Wortpaaren, welche die Aufmerksamkeit des Körpers auf „Erinnerungen oder Bilder lenken und damit positive Sinneswahrnehmungen oder Gefühle hervorrufen“ (King 2001, S. 93). Der Körper assoziiert durch diese Anweisung einen Zustand, den er dann erzeugt. Im Gegensatz zu den direkten, welche fordernd ausgesprochen werden sollten, werden indirekte Anweisungen langsam und bedächtig gesagt.
Beschreibung der nackten Tatsachen Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Æ Re-Interpretation
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Die Beschreibung der nackten Tatsachen ist eine Technik der Re-Interpretation. Dabei geht es darum, „das Gute in einem vergangenen Geschehen oder in seinem gegenwärtigen Resultat“ (King 2001, S. 85) zu suchen. Mit den ‚richtigen’ Worten lassen sich nach Huna emotionale und auch körperliche Wunden heilen. Grundlage für diese Technik ist über die Basis der ReInterpretation hinaus, dass durch die Wiederholung von ‚belastenden’ Worten die Emotion verstärkt wird. Daher sollten (1) Worte gesucht werden, mit denen das vergangene Geschehen oder die gegenwärtige Realität möglichst sachlich beschrieben werden kann (vgl. King 2001, S. 86). Dies hilft insbesondere dann, wenn in den Erfahrungen nichts wirklich Gutes extrahiert werden kann.
Blanko-Vergebung Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Die Blanko-Vergebung ist eine Technik, die sowohl „Berührung als auch Worte benutzt“ (King 2001, S. 138). Daher kann sie auch den nicht berücksichtigten Methoden der Berührung zugeschrieben werden (vgl. dazu Fußnote 216). Wird nur der Anteil der Worte für nicht körperliche Probleme eingesetzt, dann besteht die Technik nur aus dem Satz „Was immer damit zusammenhängen mag, ich vergebe es voll und ganz“ (King 2001, S. 138 f.). Wird die Berührung bei der Methode berücksichtigt, dann kann die schmerzende Körperstelle mit den Händen berührt werden, um darauf den Fokus zu richten.
Erkundung der Emotion Gruppe: Basismethoden Æ Drei Dimensionen des Individuums Æ KU Ebenfalls eine Methode, um KU (den Körper, die Erinnerung) kennen zu lernen, ist die Erkundung der Emotionen. Mit dem Versuch, bei (1) vollster Entspannung (2) mental wütend zu werden, ist die körperliche Bindung von Erinnerung zu spüren. Wenn es gelingt, keinen Muskel anzuspannen, kann es auch nicht gelingen, wütend zu werden (King 1997, S. 36). Damit können negative Muster durchbrochen werden, indem eine bisher negative Situation während körperlicher Entspannungsübungen betrachtet wird (vgl. King 1997, S. 37).
Erkundung der Energie-Verbindungen Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Im Rahmen der Erkundung von Energie-Verbindungen um einen Menschen herum, wird KALA (Grenzenlosigkeit, Trennung als nützliche Illusion) erfahren. Dazu halten (1) zwei 374
Personen ihre erhobenen Handflächen gegeneinander, jedoch mit einem Abstand von etwa 10 cm. Dann konzentrieren sich beide (2) auf ihre Handflächen und spüren langsam Wärme. Wenn sie sich dann (3) langsam mit den Handflächen zueinander nähern, können ein Widerstand / Luftkissen und mehr Wärme gespürt werden (King 1997, S. 59). Dieses Luftkissen ist das Energiefeld des anderen, wobei die Sensitivität der Teilnehmenden entscheidend ist und durch Übung verbessert werden kann.
Erkundung der Erinnerung Gruppe: Basismethoden Æ Drei Dimensionen des Individuums Æ KU Um KU (den Körper, die Erinnerung) kennen zu lernen, kann die eigene Erinnerung erkundet werden. Dazu ist (1) zunächst ein angenehmes Erlebnis mental aufzurufen und der Körper ist dabei zu beobachten. Dann wird (2) an etwas Unangenehmes gedacht und der Körper wird beobachtet. Der Unterschied zwischen Entspannung, Leichtigkeit, Glück sowie Unglück, Verspanntheit und Schwere soll aufzeigen, dass die Entscheidung über eine spezifische Aktivierung von Erinnerung die Verfassung beeinflusst (vgl. King 1997, S. 35).
Erkundung der geistigen Verbundenheit Gruppe: Basismethoden Æ Drei Dimensionen des Individuums Die Ebene der geistigen Verbundenheit und deren Erkundung adressiert KANE (das höhere Selbst). Bei der Erkundung der geistigen Verbundenheit wird (1) eine schöne Situation mental erinnert. In dieser Situation soll (2) jedes Detail betrachtet werden, wobei sich dadurch (3) der Zustand der Entspannung einstellt und Kraft (Energie) spürbar wird. Das entspricht der Botschaft von KU, dass man nun mit KANE in Verbindung steht, wofür man sich bei KU und KANE bedanken soll (vgl. King 1997, S. 47).
Erkundung der Gewahrsamkeit Gruppe: Basismethoden Æ Drei Dimensionen des Individuums Mit der Erkundung der Gewahrsamkeit kann LONO (als Verstand) erfahren werden, der eine Selektivität der Aufmerksamkeit erzeugt. Dazu wird (1) die Aufmerksamkeit auf einen kleinen Gegenstand in einiger Entfernung gerichtet. Dann werden (2), unter Festhalten des Fokus, andere Gegenstände im Umfeld mit beachtet. Abschließend wird (3) die Aufmerksamkeit auf ein Detail des ersten Gegenstandes noch weiter fokussiert. Hierbei wird die Variabilität der Aufmerksamkeit deutlich, womit auch gezeigt werden soll, dass das Denken oder Fokussieren 375
nach einer Entscheidung der Blickrichtung die Zukunft beeinflusst, nicht aber die Entscheidung selber (vgl. King 1997, S. 41).
Erkundung der Imagination Gruppe: Basismethoden Æ Drei Dimensionen des Individuums Æ KU Auch die Erkundung der Imagination ist eine Methode, um KU (den Körper, die Erinnerung) kennen zu lernen. Zunächst ist (1) eine Urlaubsszene so intensiv wie möglich zu imaginieren und zu betrachten, wobei auf die Gefühle geachtet werden soll. Dann soll (2) eine Buchszene so intensiv wie möglich imaginiert werden, wobei ebenfalls auf die Gefühle zu achten ist. Abschließend (3) erfolgt der mentale Vergleich beider Erlebnisse, wobei prinzipiell kaum ein Unterschied festgestellt werden kann. Dies verdeutlicht die Irrelevanz der Frage nach Realität und Imagination (vgl. King 1997, S. 38).
Erkundung der Macht der Autorität Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Die Erkundung der Macht der Autorität ist eine Methode, bei der Klienten und Klientinnen lernen, dass sie wie im sechsten Prinzip MANA (alle Macht kommt von Innen) selbst die Kraft haben Änderungen zu erzeugen. Dazu erden (1) Bäume, Blumen oder generell Objekte angewiesen, an dem Platz auf dem sie sind zu bleiben und ihre Aufgabe zu erfüllen (wachsen, sein, etc.). Damit wird ein „Zustand zuversichtlicher Autorität“ (King 1997, S. 75) entwickelt. Mit dieser Autorität ist das Bewusstsein über die innere Macht stärker ausgereift, wodurch dann in das eigene Leben eingegriffen werden kann.
Erkundung der Macht der Flexibilität Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Die Erkundung der Macht von Flexibilität adressiert das siebte Prinzip PONO (Wirksamkeit ist das Maß der Wahrheit). Diese Flexibilität zu erlernen, ist ein geistiges Training, wobei zunächst (1) eine Stadt vorzustellen ist. Diese Stadt ist dann (2) imaginativ von einer Mauer zu umgeben und (3) in der Mitte der Stadt soll eine Schatztruhe imaginiert werde, die ein wichtiges Lebensziel enthält. Jeder erdenkbare Weg, in diese Stadt zu kommen, ist nun (4) imaginativ durchzuführen, womit Kreativität und Vielseitig gefördert werden (vgl. King 1997, S. 77).
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Erkundung der Macht der Liebe Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Bei der Erkundung der Macht der Liebe wird ALOHA (Liebe heißt glücklich sein mit) erfahren, was insbesondere durch Loben oder Wertschätzen erfolgt. Dazu wird (1) mit geschlossenen Augen etwa eine Minute lang jede Eigenschaft und jede Verhaltensweise von einem Selbst gelobt. Es können (2) auch Menschen oder Gegenstände (wie ein PC) in der Situation um einen herum gelobt werden. Während kritische Gedanken ignoriert werden und der Fokus auf den liebevollen Gedanken liegt entsteht (3) ein inneres Gefühl von Glück (vgl. King 1997, S. 71).
Erkundung der Macht des Denkens Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Im Rahmen der Erkundung der Macht des Denkens wird IKE (die Welt das ist, wofür man sie hält) erfahren. Dazu erfolgt (1) eine maximale Kopfdrehung nach links (bei gerader Körperhaltung). Nun wird (2) ein Punkt / ein Objekt im Sichtfeld gesucht, was den Markierungspunkt dieser Drehung darstellt. Es erfolgt (3) die Kopfdrehung zurück zur Mitte (bei gerader Körperhaltung). Jetzt werden (4) die Augen geschlossen und die Drehung wird langsam mental wiederholt. Dabei wird auch über den Markierungspunkt hinausgeblickt. Es wird (5) langsam mental der Kopf wieder nach vorne gedreht und die Augen geöffnet. Abschließend erfolgt (6) die faktische Kopfdrehung nach links (bei gerader Körperhaltung), wobei nun ein größerer Winkel erreicht wird. Diese Übung demonstriert, dass Gedanken Körperleistungen ändern können (vgl. King 1997, S. 55).
Erkundung des Energie-Flusses Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Bei der Übung zur Erkundung des Energie-Flusses wird MAKIA (Energie folgt der Aufmerksamkeit) dadurch erfahren, dass physikalische Energie durch Gedanken oder Aufmerksamkeit beeinflusst werden kann. Dazu wird (1) ein Stuhl an einer Sitzfläche angehoben, um dessen Gewicht zu spüren. Der Stuhl wird (2) anschließend wieder abgesetzt. Nun erfolgt (3) die mentale Konzentration auf den höchsten Punkt (Rückenlehne) des Stuhls oder 30 cm über diesem Punkt. Abschließend wird (4) der Stuhl wieder angehoben und er wird bei dem zweiten Anhebungsversuch leichter erscheinen (vgl. King 1997, S. 62).
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Erkundung des gegenwärtigen Augenblickes Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Grundprinzipien Bei der Erkundung des gegenwärtigen Augenblicks wird durch eine Konzentrationsübung MANAWA (Augenblick der Macht ist jetzt) erfahren. Dazu ist (1) die Aufmerksamkeit zunächst auf Farben, dann (2) auf geometrische Formen, später (3) auf Klänge. Dann wird der Fokus auf den Körper gerichtet, wobei (4) die Stellung der Hände und Füße erspürt werden soll, anschließend (5) das Gefühl der Kleidung und dessen, was durch den Körper berührt wird und (6) der Atem sowie die Energie um den Körper herum. Es könne auch weitere Sinne hinzugenommen werden, so dass (7) Geschmack und (8) Geruch im Augenblick erspürt werden kann. Durch diese Übung wird die Fülle des Augenblicks an Informationen erfasst (vgl. King 1997, S. 67). Durch die bewusste Lenkung wird die Mächtigkeit von LONO noch einmal herausgestellt (Æ Erkundung der Gewahrsamkeit).
Ermächtigen Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente Das Ermächtigen ist eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das Ermächtigen ist an MANA (alle Macht kommt von Innen) angelehnt und bedeutet, die Möglichkeit der Vergabe und des Entzuges von externer Macht auszunutzen (vgl. King 1997, S. 79). Dazu kann Gedanklich zum Beispiel von einem Chef die Macht über die eigene Person imaginativ reduziert werden. Zur Unterstützung dieser Arbeit können Gegenstände auch personifiziert oder unerwünschte Aspekte bei Menschen depersonifiziert werden, um gedanklich mit diesen besser arbeiten zu können. Durch die Personifizierung werden Objekte ansprechbar, um mit ihnen zu kommunizieren; durch die Depersonifizierung können Menschen besser in Distanz zum Selbst gebracht werden.
Farbige Wolken Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Vorstellung Bei der farbigen Wolke handelt es sich um eine Technik der Vorstellung (vgl. King 2001, S. 123), die auch unter dem Begriff LA’A KEA (Liebeslicht) oder ‚Das weiße Licht des Schutzes’ in Huna beschrieben wird (vgl. King 1997, S. 114 ff.). Dabei handelt es sich um die mentale Vorstellung der Erzeugung einer Wolke oder einer Schutzhülle oder eines strahlenden Lichtes, welches den Körper umgibt. Die Farbe kann in Abhängigkeit vom eigenen Farbsys378
tem bestimmt werden, wobei strahlende Farben deutlich anregender wirken (vgl. King 2001, S. 124).
Gesunde Phantasie Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Vorstellung Unter der gesunden Phantasie fasst King die mentale Vorstellung von unterstützenden Bildern zur Beschleunigung eines Heilungsprozesses. Er gibt dafür drei Beispiele an, welche Phantasien für ihn hilfreich sind. Zunächst die Phantasie der ‚großartigen Massage’, bei der er sich eine Teil- oder Vollmassage im Detail vorstellt um zur Entspannung zu gelangen. Bei der ‚Techno-Phantasie’ geht es darum, sich die Präsenz und Wirkung technischer Geräte vorzustellen, welche das Problem beheben können. Bei der ‚magischen Phantasie’ geht es darum, sich magische Fähigkeiten zuzuschreiben und das Problem durch einen Zauberspruch oder Zaubertrank auflöst. Bei der letzten von King vorgeschlagenen Phantasie der ‚symbolischen Repräsentation’ wird für das Problem ein Symbol oder Bild mental vorgestellt (z.B. ‚volle Bücherkiste’) und dann dieses Symbol so verändert (z.B. ‚Wegtragen’), dass das Symbol kein Problem mehr darstellt. Zentral bei diesen Phantasien ist es, dass man sein Tun achtet und nicht zweifelt (vgl. King 2001, S. 120).
Klären Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente Das Klären ist auch eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das Klären ist an KALA (Grenzenlosigkeit, Trennung als Illusion) angelehnt und bedeutet, das Mittel zu suchen, welches das Problem am besten löst und sich dabei nicht von künstlichen Grenzen beeinträchtigen zu lassen (vgl. King 1997, S. 77). Dazu zählt auch, das Mittel zu wählen, welches dem umgebenden Universum gerecht ist, wobei Stress und körperliche Spannung (durch innere Zwänge) nicht erzeugt werden sollten.
Konzentrieren Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente Das Konzentrieren ist eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das Konzentrieren ist an MAKIA (Energie folgt der Aufmerksamkeit) angelehnt und 379
bedeutet, dass in einem Heilungsprozess auf die Absichten konzentriert werden soll. Fertigkeiten und Zielsetzungen sind imaginativ präsent zu halten und durch die Besinnung auf die Motivation hinter dem Tun wird eine höhere Effizienz erreicht (vgl. King 1997, S. 78).
Kreative Interpretation Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Æ Re-Interpretation Auch die kreative Interpretation ist eine Technik der Re-Interpretation. Es geht darum, „das Gute in einem vergangenen Geschehen oder in seinem gegenwärtigen Resultat“ (King 2001, S. 85) zu suchen. Diese Variante der Re-Interpretation basiert auf IKE (die Welt ist das, wofür man sie hält). Die vergangenen Ereignisse oder gegenwärtigen Resultate werden (1) einfach so uminterpretiert, dass sie der eigenen Gesundung helfen und damit Symptome darstellen. Danach empfiehlt es sich nach King, (2) die Symptome auf inneren Stress in den vier Ebenen körperlich, emotional, mental und spirituell zu beziehen (vgl. King 2001, S. 88). Anschließend sind (3) alle Methoden auszuführen, die der inneren Entspannung dienen.
KULIKE Gruppe: Management-Methoden Æ Konfliktlösung KULIKE ist eine Technik der Heilung von Konflikten, insbesondere in den Situationen, wo alle Beteiligten nicht anwesend sind (also entgegen HO’OPONOPONO, bei dem es notwendig ist, vgl. dazu Ulmer-Janes 2000, S. 176 ff.). Bei KULIKE218 kann eine Verbindung vom eigenen zum anderen KU erbeten werden, um diesem Anerkennung zu zollen und sich in dessen Situation einzufühlen. Durch eine ehrliche Verbindung und Achtung kann nach Ulmer-Janes auch auf diese Distanz der Konflikt einseitig bereinigt werden (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 193). Der Prozess läuft dabei wie folgt ab (vgl. King 1997, S. 151): Zunächst werden (1) die Augen geschlossen. Dann soll (2) innerlich Energie aufgebaut werden, um sich anschließend (3) mental mit dem Konfliktpartner achtungsvoll zu identifizieren. Dann soll (4) man sich mental in den Konfliktpartner intensiv mit Anerkennung hineinfühlen und (5) prüfen, ob das eigene Verhalten diesem gegenüber angebracht ist. Darauf aufbauend kann (6) ein neues Verhalten geplant werden, so dass man anschließend wieder mental die eigene Person wird.
218
Die Technik KULIKE wird bei King als zentrales Werkzeug in Huna vorgestellt und ist mit zahlreichen Übungen näher beschrieben. Als Synonym nennt er für KULIKE auch Groken (vgl. King 1997, S. 149 ff.).
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KUPONO Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte KUPONO ist eine Technik der Worte die wie KULIKE und HO’OPONOPONO auch zur Lösung von Konflikten verwendet werden kann. Bei KUPONO bedarf es neben einem Betroffenen zusätzlich einen Leiter, welcher die Person führt. Bei HO’OPONOPONO ist dagegen die Präsenz aller Beteiligten notwendig (vgl. dazu Ulmer-Janes 2000, S. 176 ff.; King 2001, S. 171 ff.), während die Anwendung von KULIKE (Æ KULIKE) ganz alleine erfolgen kann. KUPONO ist ein relativ komplexes Verfahren bei dem sieben Regeln und sieben Voraussetzungen erfüllt sein müssen, im Sinne des Exkurses werden hier nur die sieben Schritte der Methodik vorgestellt (vgl. dazu King 2001, S. 173 ff.). Werden die Regeln beachtet und sind die Voraussetzungen erfüllt, dann kann (1) die Eröffnung erfolgen, in dem der Leiter das Verfahren durch einen Spruch oder ein Gebet beginnt. Dann erfolgt (2) die Vorbereitung, bei der der Leiter den Ablauf des Verfahrens erklärt und eine Entspannung des Klienten begünstigt219. Anschließend kann (3) ein Plan aufgestellt werden, welche Probleme alle bearbeitet werden sollen. Dieser Plan ist (4) vom Leiter durchzuarbeiten, wobei der Klient – unterstützt durch Fragen und Kommentare vom Leiter – über das jeweilige Problem der Liste spricht und die Dinge deutlicher beschreibt. Ist der Klient zu einer Lösung des Problems bereit, erfolgt (5) die Versöhnung, wobei der Leiter Techniken des Huna und spezifische Techniken des KUPONO-Verfahrens zu deren Lösung anwendet. Dabei geht es sehr häufig um das Segnen (Æ Segnen). Der nächste Schritt entspricht (6) einer Ermächtigung des Körpers zur Veränderung des bisherigen Verhaltens durch ein symbolisches Ritual oder einer mentalen Wiederholung, wobei das Kommando ‚Schluss!’ des Leiters die Versöhnung des Punktes bedeutet. KUPONO wird dann, wenn alle Punkte der Liste durchgearbeitet wurden, (7) durch Ritual (z.B. Tanz, Lied, Gebet) vom Leiter beendet.
Mentale Nabel-Verbindung Gruppe: Management-Methoden Æ Konfliktlösung Die mentale Nabel-Verbindung ist eine spezifische Form der mentalen Arbeit zur Lösung von einem Konflikt. Ähnlich wie bei KULIKE (Æ KULIKE) müssen die Beteiligten des Konfliktes nicht anwesen sein. Zunächst wird (1) mental eine Verbindung in der relativen Welt zwischen den Bauchnabeln der Beteiligten imaginiert. Das Aussehen wird durch das KU vorge219
vgl. dazu Fußnote 217.
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geben (rostige Kette, verknotete Schnurr) und man sollte das erste spontane Bild verwenden. Diese imaginierte Verbindung dient (2) als Grundlage zur mentalen Transformation dieser ins Positive (Rost entfernen, anstreichen, entknoten, fetten usw.) (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 182). Zusätzlich kann (3) mental eine ‚8’ aus Licht um beide Personen gezogen (und häufig nachgezogen) werden, die mit einer wohltuenden Farbe angereichert, die nun positive Bindung verstärkt (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 183).
Neugestaltung Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Vorstellung Die Methode der Neugestaltung bezieht King explizit auf Richard Bandler und dessen NLP. Er beschreibt sie als Heilungsmethode, bei der „verschiedene Aspekte wie Klarheit, Farbe, Größe, Lautstärke etc.“ (King 2001, S. 110) modifiziert werden, ohne den Inhalt der Erinnerung zu verändern. Dies erinnert vor allem an die Modifikation der Submodalitäten (Æ NLP: Umkehrtherapie), wobei die drei von King entwickelten Varianten sich eher auf das Reframing allgemein (Æ NLP: 6-Schritt Reframing) beziehen. Zuerst beschreibt er das Zirkusdekor, bei dem eine negative Erinnerung aktiviert und mental Clowns und Zirkusmusik hinzugefügt werden. Als zweites nennt er den Szenenwechsel, bei dem eine negative Erinnerung aktiviert und mental in einen anderen Ort versetzt wird, der sich so weit wie möglich vom ursprünglichen Hintergrund unterscheidet. Als drittes beschreibt er das Schockgefrieren, bei dem eine negative Erinnerung aktiviert und mental mit einer dünnen Eisschicht eingefroren wird, so dass dieser Eisblock mental mit einem Hammer zerstört werden kann.
Positive Formulierung Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Æ Re-Interpretation Die positive Formulierung ist eine Technik der Re-Interpretation, bei der „das Gute in einem vergangenen Geschehen oder in seinem gegenwärtigen Resultat“ (King 2001, S. 85) zu suchen ist. Dadurch lassen sich nach Huna emotionale und auch körperliche Wunden heilen, sofern man „die richtigen Worte“ (King 2001, S. 85) findet. Die Technik funktioniert so, dass (1) diese Suche nach dem Guten in vergangenen Ereignissen und gegenwärtigen Resultaten durchgeführt wird. Anschließend kann (2) durch deren Aussprache die Aufmerksamkeit auf das Gute gelenkt werden.
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Präsent Sein Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente Das präsent Sein ist auch eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das präsent Sein ist an MANAWA (Jetzt ist der Augenblick der Macht) angelehnt und bedeutet, den Fokus der Aufmerksamkeit ins Jetzt zu holen und abschweifende Gedanken über die Vergangenheit und die Zukunft loszulassen. Je höher die Präsenz im Augenblick, desto größer ist die Macht zum Wandel (vgl. King 1997, S. 78).
Radikale Erinnerung Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Vorstellung Die radikale Erinnerung ist ein Verfahren, bei dem ein negatives Erlebnis in der Erinnerung – welches auch körperliche Blessuren verursacht hat (z.B. Verbrennung, Schnittwunden o.Ä.) – so überschrieben wird, dass es ohne negative Folgen stattgefunden hat (vgl. King 2001, S. 112 ff.). Dazu wird (1) das Ereignis zunächst mental bis kurz vor dem Punkt, als die negative Folge eintrat, erinnert. Dann wird (2) das Ereignis umgeschrieben, so dass durch das eigene Verhalten keine negative Folge eintreten konnte. Dann wird (3) diese neue Erinnerung sehr oft (in einem Beispiel nennt er 40x) mental durchlaufen, bis diese sicher ‚sitzt’. Innerhalb der nächsten Tage sollte (4) eine Besserung eintreten, sofern nicht Misstrauen auftritt und das Ereignis mental wieder korrigiert wird.
Segnen Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente UND Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Das Segnen ist ebenfalls eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das Segnen ist an ALOHA (Liebe heißt glücklich sein mit) angelehnt und bedeutet, „Gutes durch Wort, Bild und Tat zu bekräftigen“ (King 1997, S. 78). Das Segnen ist eine Methode, bei der „die eigene Aufmerksamkeit oder Absicht“ (King 2001, S. 94) verstärkt wird. Im Gegensatz zur Affirmation (Æ Affirmation) oder Anweisung (Æ Anweisungen) werden nicht Ziele fokussiert sondern Komplimente ausgesprochen (vgl. King 2001, S. 94). Diese Komplimente können auf drei Arten erfolgen. Erstens gibt es das ‚affirmative Segnen’, bei dem ein Lob in Bezug auf eine Handlung oder Denkweise ausgesprochen wird. Dieses 383
Lob möchte der Körper wieder erhalten und wird ähnliches wiederholen (z.B. ‚Dankeschön!’ oder ‚Sehr gut gemacht!’). Zweitens kann das ‚summarische Segnen’ als häufig angewendete Form des affirmativen Segnens verstanden werden. Man lobt „ohne Unterbrechung und so lange man es aushält“ (vgl. King 2001, S. 95) alles Gute an sich selbst oder an einem anderen. Drittens kann das Segnen mit Anweisungen zusammen verwendet werden, wobei eine Aussage in der Form „Mach dies …, so dass …“ (King 2001, S. 96) zu treffen ist.
Sehen Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente Das Sehen ist eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und deren Heilung einzuleiten. Das Sehen ist an IKE (die Welt ist das, wofür man sie hält) angelehnt und bedeutet, auf der ersten Weltebene der physikalischen Trennung mit anderen (die oft nur dort operieren) zu kommunizieren. Jedoch werden die Probleme oder Situationen gleichzeitig aus der zweiten Weltebene der Huna-Prinzipien betrachtet (vgl. King 1997, S. 77). Es wird also über Probleme diskutiert, welche nach IKA, KALA, MAKIA, MANAWA, ALOHA, MANA, PONO analysiert werden.
Selbst-Hypnose Gruppe: Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Worte Die Selbst-Hypnose benötigt einen hypnotischen Zustand. Unter dem hypnotischen Zustand von ‚tiefer Trance’ versteht King einen Zustand, in dem „die Aufmerksamkeit eng fokussiert, die Vorstellung aufs intensivste gesammelt und der Körper sehr, sehr entspannt ist“ (King 2001, S. 98). Fremd-Hypnose kann in diesem Zustand der Trance nach ihm nur dann erfolg haben, wenn der Körper desjenigen zudem das Verlangen hat, „dem Gruppenleiter oder dem Rudelführer zu Willen zu sein“ (King 2001, S. 98). Sofern das Kommando eines Anderen in dem hypnotischen Zustand gegen den eigenen Willen verstößt, wird es nach King nicht durchgeführt. Bei der Selbst-Hypnose ist man dagegen nicht auf andere angewiesen und nutzt den Trancezustand, um sich selbst Suggestionen oder Kommandos zu geben (vgl. dazu King 2001, S. 101 ff.). Dazu wird (1) der Körper im Sitzen entspannt, um (2) anschließend die Augen zu schließen. Die Aufmerksamkeit wird (3) dann auf eine mentale Tätigkeit gerichtet (z.B. Rückwärtszählen oder Treppensteigen), um anschließend (4) jede noch so kleine Verspannung zu lösen. Dann können (5) Suggestionen imaginiert werden (Bilder, Worte) und es 384
kann (6) eine posthypnotische Suggestion als Gedankenstütze imaginiert werden. Durch das (7) öffnen der Augen kann der Trancezustand aufgelöst werden.
Traumweben Gruppe: Basismethoden Æ Sieben Talente UND Methoden der Selbstheilung Æ Kraft der Vorstellung Das Traumweben ist auch eines der sieben Talente des Schamanen (als Berater oder Beraterinnen und Manager oder Managerin), welches hilft Probleme zu lokalisieren und diese zu bearbeiten. Das Traumweben ist an PONO (Wirksamkeit ist das Maß der Wahrheit) angelehnt und bedeutet, dass Träume oder wahrgenommenen Welten mental und physisch bearbeitet werden können (vgl. King 1997, S. 79). Hierzu existiert eine komplexe Technik der schamanischen Reise, bei der neben anderen Vorgehensweisen z.B. durch das mentale Gehen in den eigenen inneren Garten die auftauchenden Aspekte befragt und verarbeitet werden220. Zur Unterstützung können innere Helfer in Form von Tiergestalten (Krafttiere) oder anderen Wesenheiten erschaffen werden.
Umprogrammierung des Unbewussten (Halbschlaf) Gruppe: Management-Methoden Æ Befragung des Unbewussten Inspirationen oder Ideen zur Bearbeitung von Situationen können nach Huna insbesondere dadurch gewonnen werden, dass das Unbewusste im Halbschlaf umprogrammiert wird. Dazu wird (1) eine Idee formuliert und (2) vor dem Schlafen ein halbes Glas Wasser getrunken – mit den Worten „Alles, was ist tun muß, um einen Hinweis zu bekommen, ist, dieses Glas Wasser zu trinken“ (Ulmer-Janes 2000, S. 135). Danach wird (3) geschlafen und beim Aufwachen wird (4) mit demselben Spruch der Rest des Wassers ausgetrunken. Das KU wird dann im laufe der Tage sich an die Programmierung gewöhnen und sich „allerlei Tricks einfallen“ (Ulmer-Janes 2000, S. 135) lassen, um Informationen zu bieten.
Umprogrammierung des Unbewussten (wach) Gruppe: Management-Methoden Æ Befragung des Unbewussten 220
Das Traumweben (oder auch das schamanische Reisen) ist sehr eng an das katathyme Bilderleben (KB) als randständige Methode der Psychotherapie angelehnt. Nur werden die bei dem Traumweben erscheinenden Bilder, ausgehend vom inneren Garten, freier bearbeitet. Im Rahmen eines Seminars von Serge Kahili King führte er jedoch die Grundübung des katathymen Bilderlebens (Garten, Wald, Berg) durch. Für eine detaillierte Darstellung des Traumwebens / der schamanischen Reise vgl. King 1997, S. 122 ff. oder King 2001, S. 107 ff., 193 ff. und für eine Einführung in das katathyme Bilderleben vgl. Leuner 1989.
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Bei dem Orakeln (Æ 7-Steine Orakel, Æ 3-Steine Orakel) kann ein Ergebnis geworfen werden, dass dem Wunsch des Bewusstseins (LONO) widerspricht. Da nach Huna das Ergebnis des Orakelns nur aktuelle Glaubensmuster oder Komplexe verdeutlicht, kann dieses auch verändert werden. Dazu werden (1) die Steine so ausgetauscht, dass es dem Wunsch entspricht (z.B. wird beim 3-Stein Orakel der zentrale Stein näher an den Stein der gewünschten Antwort geschoben). Währenddessen (2) wird dem Unbewussten (KU) das neue Ergebnis als richtige Lösung laut gesagt: „Sie programmieren sich selbst quasi neu, richten sich auf ein positives Ergebnis […] aus“ (Ulmer-Janes 2000, S. 131, S. 133).
Verbrennungsritual Gruppe: Management-Methoden Æ Vergangenheit und Zukunft beeinflussen Die Beeinflussung von Vergangenheit und Zukunft wird insbesondere durch das Verbrennungsritual möglich. Dabei werden als untauglich identifizierte Denkmuster durch ein kleines Ritual aus KU (dem Körperbewusstsein als Speicher der Vergangenheit) entfernt. Dazu wird zunächst (1) das als untauglich definierte Denkmuster oder die Verhaltensweise auf ein Papier geschrieben. Dieses wird dann in einem kleinen Ritual (2) verbrannt (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 145). Der Körper soll durch dieses emotionale Ereignis ‚beeindruckt’ werden, wobei die durch das Feuer freigesetzte Energie in die Entscheidung für ein neues Muster gelenkt werden kann (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 145). Damit ist das Ausprobieren neuer Lösungen oder das Ausrichten auf einen „mühsamen, langdauernden Prozeß“ (Ulmer-Janes 2000, S. 145) gar nicht notwendig. Nach der Verbrennung ist es nach Ulmer-Janes sehr wichtig, (3) die Auflösung des alten Musters (die freie Energie) mit einem neuen Muster auszugleichen, denn sonst entsteht ein „Vakuum, ein Loch im Netz Ihrer Gedanken“ (Ulmer-Janes 2000, S. 146). Dieses Loch füllt dann KU mit dem „wohlbekannten geistigen Sperrmüll“ (Ulmer-Janes 2000, S. 146). Durch dieses neue Muster wird die Zukunft gestaltet. Zur Stärkung des neuen Musters soll (4) möglichst viel an das gedacht werden, was einem mit diesem neuen Muster gefällt221, was gemocht und geschätzt wird und andersherum wenig an das, was einem nicht gefällt. Wenn bei der Zukunftsvision allerdings eine Vision gegen sich selbst (z.B. Workaholic) oder gegen andere entwickelt wird, dann wird KU auf kurz oder lang weitere Signale senden (vgl. Ulmer-Janes 2000, S. 150). 221
Im Sinne des wirtschaftlichen Erfolges wird der Tipp formuliert, nicht an Konten mit viel Geld in Zahlen zu denken, da KU mit derartig abstrakten Dingen nichts anzufangen weiß. Gedanken an Erfolg und Entspannung durch eine belohnende Reise oder ein Fest für die Belegschaft würde KU eher motivieren (vgl. UlmerJanes 2000, S. 149).
386
Anhang 5
Leitfadendiskussion
Der Leitfaden wurde oben in fünf Bereiche untergliedert: Die Einführung, Wahrnehmung, Rekursion, Selbstverstärkung und Lock-In mit Lösung. Die Entwicklung des Leitfadens erfolgte zunächst in Orientierung an die empirischen Annahmen, zu denen jeweils Fragen und eventuelle auch Unterfragen oder Nachfragen entwickelt wurden. Diese wurden in einer wissenschaftlichen Diskussionsgruppe (die Betreuer dieser Arbeit) diskutiert und dann im Rahmen eines Probeinterviews getestet, um die Formulierungen möglichst verständlich zu gestalten. Zunächst werden die Fragen im Rahmen des einleitenden Abschnittes des Interviews (der Aufwärmphase) diskutiert. Hierbei wird es als funktional für das Gespräch angesehen die Einordnung der jeweiligen Experten und Expertinnen in die Beratungsgruppe durch Nachprüffragen zu kontrollieren. Eröffnet wird das Interview daher mit der Frage: „Welchen Namen würden Sie ihrem Beratungsansatz geben?“. Da hier jedoch die Möglichkeit eines Missverstehens der Namensgebung vorliegt, wurde als bessere Formulierung die folgende Aufforderung formuliert. Sie wurde um die Nachfrage weiterer Schwerpunkte in der Beratungsmethodik ergänzt: Bitte benennen Sie ihren Beratungsansatz! Beziehen Sie noch weitere mit ein oder haben Sie Schwerpunkte?
Zur weiteren Überprüfung der Geeignetheit und um über die jeweilige Methode sprechen zu können, wurde nach dem theoretischen Hintergrund gefragt: „Welchen spezifischen, theoretischen Hintergrund haben Sie für Ihren Beratungsansatz?“. Im Rahmen des Vorinterviews wurde die Schwierigkeit der Frage nach einer Theorie deutlich, wodurch die wissenschaftliche Diskussionsrunde eine Frage nach einer Art der Zertifizierung präferierte. Da die jeweiligen Methoden durch die Dachverbände zertifiziert wurden, konnte die Frage umgestellt werden auf: Haben Sie für Ihre Ansätze eine Ausbildung mit Zertifizierung durchlaufen?
Um eine Klassifizierung der Erfahrung der befragten Experten und Expertinnen durchführen zu können, ist eine Frage bezüglich der Anzahl der Beratungen pro Monat eingeführt worden. Hiermit sollte die Hauptberuflichkeit festgestellt werden und die Frequenz der Beratungen als Gewichtungsfaktor der Aussage dienen. Diese Frage ist in ihrer ersten Fassung beibehalten worden: 387
Wie viele Beratungen führen Sie so etwa im Monat durch oder wie viele Zeitstunden verbringen Sie mit der Beratung?
Als abschließende Einstiegsfrage wurde eine weitere Kontrollfrage eingebaut. Hiermit sollte das Beratungsverständnis bezüglich einer Einzel- oder Gruppenberatung erhoben werden und gleichzeitig der eigene Fokus ermittelt werden. Insbesondere bei der systemischen Beratung zielte diese Frage darauf ab, Experten und Expertinnen mit einer Perspektive auch auf Individuen zu finden. Die Frage wurde ebenfalls aus ihrer Erstfassung nicht verändert und ist zunächst auf den eigenen Beratungsschwerpunkt und dann per Nachfrage auf die Anwendung bezüglich Individuen ausgerichtet: Liegt Ihr Fokus auf Einzel- oder Gruppenberatung? Können nach Ihrer Meinung Gruppen durch die Beratung von Einzelnen verändert werden oder geht das nur mit der Gruppe?
Nach diesen Einstiegsfragen im Rahmen der Aufwärmphase soll der Fragenblock zur Wahrnehmung folgen. In diesen wurden Fragen zu den empirischen Annahmen AE1.1 bis AE1.4 gruppiert. Die Konstruktionsannahme (AE1.1) adressierte die Erschaffung der Welt oder eben deren Konstruktion. Eine erste Version wurde recht eng an der Theorie angelehnt und lautete „Was verstehen Sie unter Konstruktion von Wirklichkeit?“. Problematisch wurde von der wissenschaftlichen Diskussionsrunde die Verwendung des Konstruktionsbegriffes eingestuft. Somit wurde hierfür eine Alternativformulierung in Alltagssprache entworfen. Als wesentlich schwieriger stellte sich im Rahmen des Probeinterviews ein zu großes philosophisches Antwortspektrum heraus. Für die Folgeinterviews wurde daher die Frage spezifischer auf die Anwendung fokussiert und als These formuliert. Als These formuliert: „Individuen konstruieren / erschaffen sich ihre eigene Wirklichkeit“ – Ist das eine Beratungsgrundlage für Sie oder eher eine philosophische Position?
Da eine hohe Zustimmung zu dieser Frage erwartet wurde, damit aber nicht zwangsläufig von einer tatsächlichen Anwendung dieser Perspektive ausgegangen werden kann, sind zwei Nachfragen auf den Gebrauch ausgerichtet. Die eine adressiert die Gültigkeit, eine weitere die Präsenz im Denken. Da im Rahmen des dritten Ansatzes (Huna) sehr offen mit der Aussage „die Welt als Selbstentwurf“ umgegangen wird, erscheint der Umgang im Vergleich mit den 388
anderen Ansätzen von Interesse. Insbesondere auch im Hinblick auf die nachhaltige Veränderung wurden also die folgenden drei Nachfragen gebildet: Ist diese Position für Sie immer gültig oder verwenden Sie die nur in Ihrer Beratung? Ist das für Sie auch immer präsent, wenn Sie selbst in Problemsituationen geraten? Arbeiten Sie mit dieser Ansicht offen und teilen Sie dies ihren Klienten und Klientinnen mit oder gehen daraus nur Ihre Methoden hervor?
Bei der Virtualitätsannahme (AE1.2) ging es um die Unterscheidung zwischen Erleben und Erdenken der eigenen Welt. Eine zunächst etwas umständliche Formulierung wurde von der wissenschaftlichen Diskussionsrunde, wie auch durch das Probeinterview, kritisiert: „Würden Sie unterstützen, dass ein Ergebnis auf individuelle Handlung auch individuell vom Individuum interpretiert werden kann oder denken Sie, dass das Handlungsergebnis immer zur identischen Beurteilung führt?“. Eine präzisere Formulierung wurde durch die wissenschaftliche Diskussionsrunde vorgeschlagen und auch im Rahmen der Interviews verwendet: Können Konstruktionen nur mit dem Erleben in der Welt entstehen oder auch virtuell in Klienten und Klientinnen, z.B. durch Träume, die als Realität empfunden werden?
Die Unbewusstheitsannahme (AE1.3) erfasste die Trennung zwischen bewusster und unbewusster Erschaffung der eigenen Welt. Mit der gut verständlichen Frage wurde das Probeinterview positiv durchgeführt, so dass keine Änderungen erfolgten: Verwenden Sie eine Unterscheidung zwischen bewusstem und unbewusstem Erleben?
Als letzte Frage im Rahmen des Wahrnehmungsprozesses wurde die Akzeptanzannahme (AE1.4) übertragen. Zunächst lautete die Frage: „Wenn Individuen bei Ihnen über Druck von außen sprechen, was hat das für Sie für eine Relevanz zur Behebung des Problems?“. In der wissenschaftlichen Diskussionsrunde wurde aber bemängelt, dass nur die Relevanz zur Behebung adressiert wurde und nicht die Bedeutung für die Entstehung subjektiver Probleme. Eine breitere Formulierung sollte dieses Problem auffangen:
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Individuen reden von Druck im Sinne von ‚Ich kann ja nicht anders’, ‚Ich muss’. Denken Sie, solche externen Einflüsse werden auf die Individuen ausgeübt oder konstruieren diese sich selber die innere Abhängigkeit?
Der dritte Fragenblock nach den Einstiegsfragen und den Fragen zur Wahrnehmung ist durch Fragen zur Rekursion charakterisiert. Hierzu kann zunächst die Erfahrungsannahme (AE1.5) zugeordnet werden, welche noch einmal das bisherige Rekursions-Verständnis adressiert. Die zunächst aufgestellte Frage wurde für die Interviews so belassen, da es hierbei keine Verständnisschwierigkeiten gab. Da im Rahmen des Probeinterviews eine Wiederholung der Frage gewünscht wurde, ist als Hilfestellung eine Visualisierung der selbsterfüllenden Prophezeiung (vgl. dazu das Bild bei Aronson et al. 2004, S. 71) in den Folgeinterviews mitgeführt worden. Als These formuliert: „Der Einfluss von Mustern oder Schemata vergangener Erfahrung hat Einfluss auf die heutige Handlung“, wie ist Ihre Position dazu?
Um die Reichweite dieser These im Rahmen des Verständnisses der befragten Experten und Expertinnen zu erheben, wurde eine Nachfrage bezüglich der Gültigkeit von Schemata für Kultur entwickelt. Maturana nannte dies die Auswirkung der Geschichte einer Spezies (vgl. dazu oben die theoretische Diskussion), welche ebenfalls in die Frage integriert wurde. Allerdings verursachte der Begriff ‚Geschichte einer Spezies’ Probleme im Probeinterview und löste zu viele Nachfragen aus. Damit wurde die Frage nur noch bezüglich der Kultur gestellt. Gilt das Verständnis von subjektiven Mustern, die die heutige Handlung beeinflussen, auch für die als sozial bezeichnete Kultur?
Neben der Erfahrungsannahme kann auch die Homöostasisannahme (AE4) zu dem Frageblock der Rekursion zugeordnet werden. Bei der Homöostasis wurde die Verwendung Genese von Problemen verneint. Obwohl zur Beantwortung der empirischen Annahmen nur die Position der befragten Experten und Expertinnen benötigt wird, ist zu dessen Kontrastierung auch der Wunsch der Klienten und Klientinnen zu erheben. Dabei soll diskutiert werden, ob sich die Experten und Expertinnen eventuell dem Bedürfnis ihrer Klienten und Klientinnen widersetzen (weil die Experten und Expertinnen die Geschichte des Problems nicht interessiert, die 390
Klienten und Klientinnen aber schon) oder ob sie diesem vielleicht nur im Sinne der Höflichkeit folgen. Aus dieser Gegenüberstellung werden detailliertere Meinungsbilder erwartet. Um nicht bereits die theoretische Position der befragten Experten und Expertinnen zu unterstützen, wurden die Fragen dazu entgegen dem Vorzeichen der Annahme aufgestellt. Eine Zustimmung zu diesen Fragen würde der Homöostasisannahme widersprechen: Ist die Entstehungsursache eines Problems für Ihre Klienten und Klientinnen wichtig? Ist die Entstehungsursache eines Problems für Sie wichtig? Ist der Verlauf oder der Entwicklungsprozess eines Problems für Ihre Klienten und Klientinnen wichtig? Ist der Verlauf oder der Entwicklungsprozess eines Problems für Sie wichtig?
Als vierter Fragenblock folgt nach der Rekursion nun der Problembereich zur Selbstverstärkung. Hierzu kann zunächst aus der 3fach-Selbstverstärkungsannahme (AE1.6) eine Frage formuliert werden. Diese adressierte die Aufschlüsselung des Modells in Erwartung, Handlung, Wahrnehmung und Interpretation. Bei der ersten Frageversion wurde im Anschluss an die oben dargestellte Frage zur Erfahrungsannahme folgendes gefragt: „Gehen Sie daher nicht von einer selektiven Informationssuche und Wahrnehmung des Individuums aus, wenn es neue oder alte Probleme bearbeitet?“. Diese eher tendenziöse Nachfrage berücksichtigte einerseits nicht alle Aspekte der empirischen Annahme und war zudem nach Meinung der wissenschaftlichen Diskussionsrunde negativ formuliert. Sie wurde daher mit einer detaillierteren, eigenständigen Frage inklusive eines unterstützenden Bildes ersetzt: Eine Betrachtung des Konstruktionsprozesses im Detail könnte das folgende Bild liefern: „Individuen bilden Erwartungen und daraus entsteht Handlung, selektive Wahrnehmung und selektive Interpretation von Ergebnissen“ – benutzen Sie diese Aufschlüsselung zur Lösung individueller Probleme?
Ein wesentlicher Treiber der 3-fachen Selbstverstärkung vorhandener Konstrukte wurde als Erwartung und Erwartung höherer Ordnung im theoretischen Modell ermittelt. In Anlehnung an die Erwartungsannahme (AE1.7) lautete die erste Formulierung einer spezifischen Frage wie folgt: „Wie kommentieren Sie die Aussage, dass Individuen sich durch ihre vorgefertigten Er391
wartungen schon in bestimmte Richtungen steuern?“. Von der wissenschaftlichen Diskussionsrunde wurde klargestellt, dass die gewünschte Adressierung höherer Ebenen vergessen wurde und beispielhaft der Einfluss von Erwartungen erster und zweiter Ordnung erfragt werden sollte. Dieses resultierte in folgender Formulierung: Individuen bilden Erwartungen aus sich heraus, aber auch Erwartungen darüber, was andere von ihnen erwarten. Ist das ein Aspekt, den Sie in der Beratung bearbeiten?
Eine Nachfrage zu den Erwartungen höherer Ordnung berücksichtigt eine mit den Erwartungen möglicherweise verbundene Abgabe von Verantwortung für die eigene Handlung. Damit wird im Anschluss an die Externalitätsannahme (AE1.14) auch die Meinung zur Möglichkeit externer Heilung erfragt: Entspricht es Ihrer Erfahrung, dass Individuen durch die Äußerungen solcher Erwartungen von anderen die Verantwortung für ihr eigenes Verhalten abwälzen?
Die Additivitätsannahme (AE1.8) fasst den zeitlichen Aspekt der 3fachen Selbstverstärkung im Rahmen der detaillierten Beschreibung individueller Konstruktionen. Zunächst wurden dazu vier eigenständige Fragen vorgelegt und im Probeinterview verwendet: 1) „Sehen Sie die Problemvorstellung Ihrer Klienten und Klientinnen als festes Ergebnis einmaliger Handlung oder könnte man sagen, diese wachsen über lockere Muster zu festen Vorstellungen?“. 2) „Würden Sie durch Ihre Erfahrung die Behauptung unterstützen, dass Probleme durch eine fokussierte Wahrnehmung auf Aspekte des Problems verstärkt werden?“. 3) „Wie kommentieren Sie die Ansicht, dass bereits existierende Muster nach jeder erneuten Handlung immer kleinere Erwartungshorizonte für Ergebnisse offen lassen?“. Und 4) „Könnte auch gesagt werden, dass durch den Bezug auf bekannte Verhaltensmuster immer kleiner werdende Spielräume durch die Klienten und Klientinnen wahrgenommen werden?“. Von der wissenschaftlichen Diskussionsrunde wurde jedoch gerade für diesen wichtigen Aspekt des Modells eine prägnantere Formulierung als zu beurteilende These gefordert. Mit einer Verkürzten und präziseren Wortwahl ergaben sich die vier folgenden Thesen. Im Rahmen der Folgeinterviews wurde zudem ein Bild zur visuellen Unterstützung der 3fach-Selbstverstärkung mitgeführt. Ich füge jetzt in der Grafik das additive Verhalten von Individuen ein. Was sagen Sie zu den folgenden Thesen: 392
Wiederholung von Erfahrung stabilisiert! Erfahrung erzeugt und verstärkt durch selektive Erwartung, selektive Handlung, selektive Wahrnehmung und selektive Interpretation ein Problem! Existierende Muster lassen nach jeder erneuten Handlung immer kleinere Erwartungshorizonte offen! Durch den Bezug auf bekannte Verhaltensmuster stehen immer kleinere Handlungsspielräume zur Verfügung.
Zur weiteren Verdeutlichung der Relevanz von Zeit auch im Hinblick auf die Lösung individueller Befangenheit wurde in der Zeitannahme (AE1.9) das Zeitkonstrukt erfasst. Die erste Frageversion dazu lautete: „Welche Auswirkung hat das Verständnis von Zeit auf Ihre Fragen zur Problemlösung?“. Hierbei wurde bemängelt, und so stellte es sich auch im Probeinterview heraus, dass mit dem Wort „Verständnis“ die Frage nicht eng genug adressiert wurde. Mit einem kleinen Vorsatz versehen konnte die Frage ebenfalls als These formuliert werden: Zeit könnten wir streng genommen auch nur als Konstrukt ansehen. Was sagen Sie zu der These: „Der Einfluss von Zeit existiert nur, da Individuen über die Erinnerung alte Muster aufrechterhalten!“?
Entsprechend dem Zeitkonstrukt wurde auch für den Glauben allgemein eine Glaubensannahme (AE1.10) formuliert. Diese verknüpfte die Frage von der Relevanz des Glaubens mit dem Beispiel der Kausalität. Im Rahmen des Probeinterviews und auch durch die wissenschaftliche Diskussionsrunde gab es keine Veränderungsnotwendigkeit hinsichtlich der dazu aufgestellten Frage: Welche Rolle spielt Ihrer Erfahrung nach der Glaube z.B. an Kausalität bei der Entstehung von Problemen?
Der letzte Problembereich stellt Fragen zum Lock-In und der Lösung von diesem zusammen. Die Lösungs-Historizitätsannahme (AE1.11) adressiert die Relevanz der historischen Verstärkung im Hinblick auf die Lösung. Dazu wurden zwei Fragen entworfen: 1) „Ist die Dauer einer gelebten Wiederholung von Mustern für die Schwere der Lösung verantwortlich?“ und 2) „Kann eine Lösung daher zumindest in Teilen als harter und langer Weg beschrieben werden?“. Nach dem Probeinterview wurden die Fragen auf Basis einer Nachfrage zur Ähn393
lichkeit dieser zusammengelegt. Im Rahmen der Auswertung können die Antworten zu dieser Frage ebenso für die Mehrmaligkeitsannahme (HE3) herangezogen werden. Diese zielte auf das Verhalten der befragten Experten und Expertinnen gegenüber der inadäquaten Homöostasis ab und stellte als Reaktion die Mehrmaligkeit von Beratung als Lösung des individuellen Lock-Ins zur Debatte. In diesem Sinne würden lange Entstehungswege auch eine lange Begleitung erfordern: Ist die Dauer einer gelebten Wiederholung von Mustern für die Schwere der Lösung verantwortlich und kann der Lösungsprozess daher zumindest in Teilen als harter und langer Weg beschrieben werden?
Um die Erfassung der Bedeutung des Glaubens an eine Lösung aus der Lösungsglaubensannahme (AE1.12) konnte in eine Frage übertragen werden, bei der es keiner Veränderung bedurfte: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Glaube an eine Lösung durch den Klienten oder die Klientin für den tatsächlichen Lösungsprozess?
Entsprechend dem Glauben wurde auch der Wille zur Lösung in einer Lösungswillensannahme (AE1.13) erfasst. Und auch bei dieser Formulierung gab es keine Schwierigkeiten im Probeinterview oder bei der wissenschaftlichen Diskussionsrunde: Welche Rolle spielt Ihrer Meinung nach der Willen zur Lösung durch den Klienten für den tatsächlichen Lösungsprozess?
Anknüpfend an den Willen zur Lösung entstand im Sinne der ethischen Position in konstruktivistischen Perspektiven die Externalitätsannahme (AE1.14). Diese adressierte die Beeinflussbarkeit der Klienten und Klientinnen durch die Berater und Beraterinnen. Die erste Formulierung der Frage: „Was genau ist Ihre Rolle bei einem Veränderungsprozess?“ war jedoch zu unspezifisch und lud im Probeinterview zu ausufernden Erklärungen ein. So wurde eine Präzisierung auf die Rolle des Beraters gewählt, wobei eine Ablehnung zu dieser Frage eine Zustimmung zur Annahme zur Folge hat: In welchem Umfang ist externe Heilung durch Sie möglich?
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Als letzte Frage in diesem Bereich kann aus der Widerholungsannahme (AE1.15) noch eine Frage gestellt werden, welche den historischen Prozess der Entstehung auf die Lösung überträgt. Demnach ist auch dieser ein zeitabhängiger Prozess. Eine Veränderung an der ersten Formulierung dieser Frage wurde nicht vorgenommen, da weder die wissenschaftliche Diskussionsrunde noch das Probeinterview zu einem Problem führten: Haben Sie die Erfahrung, dass eine Wiederholung spezifischer Methoden den Lösungsweg unterstützt?
Für die in Anlehnung an die empirische Subforschungsfrage formulierte Methodenannahme (AE2) wurden keine spezifischen Fragen entworfen. Vielmehr sollte einleitend um die Nennung von Lösungsansätzen zu den diskutierten Aspekten gebeten werden. Durch einen Rückbezug oder einer Nachfrage an den jeweiligen Stellen werden die Experten und Expertinnen zur Nennung von Methoden erneut angehalten. Eine Auswertung dieser Nennungen wird im Rahmen der Auswertung für die Zustimmung oder Ablehnung dieser Annahme verwendet.
Mit den hier vorgestellten Fragen kann die empirische Experten- und Expertinnenbefragung dann in Verbindung mit der vorgestellten Samplingmethode durchgeführt werden.
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Anhang 6
Anschreiben
Detailliertes Anschreiben für den PDF-File: Sehr geehrter Herr / geehrte Frau
,
mein Name ist Marc Roedenbeck und ich bin Doktorand in einem Graduiertenkolleg am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der Freien Universität Berlin. Sehr gerne würde ich Sie als erfahrenen Experten / erfahrene Expertin für mein Dissertationsprojekt gewinnen! Kern meines Projektes ist der Entwurf eines neuen Modells über die psychische Verfestigung von Mustern und Problemen – und dies insbesondere im Kontext der Organisation. Das Modell beschreibt auch die Schwierigkeiten von Veränderungsprozessen und könnte für die Entwicklung neuer Lösungsansätze dienen. Auf Basis Ihrer weitreichenden Beratungs- und Therapieerfahrung würde ich sehr gerne mit Ihnen über dieses neue Modell diskutieren. Dazu bitte ich Sie um 2 Stunden Ihrer wertvollen Zeit für ein Interview. Einen Termin können wir gerne flexibel gestalten – über eine Rückmeldung würde ich mich daher sehr freuen! Sie erreichen mich per Email, Telefon, Fax oder auf dem Postweg unter den oben genannten Kontaktdaten. Abschließend noch kurz zu meiner Person: Ich bin studierter Wirtschaftsingenieur, zurzeit Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und habe den Schwerpunkt meines Studiums auf Personalpsychologie und Physik gelegt. So beschäftigte ich mich in meiner Diplomarbeit mit einer neuen Methode zur Messung von Arbeitszufriedenheit und fokussierte mein Promotionsthema in der Personal- und Organisationsentwicklung.
Mit freundlichem Gruß Marc Roedenbeck
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Kurzes Anschreiben für die E-Mail: Sehr geehrter Herr / geehrte Frau
,
mein Name ist Marc Roedenbeck und ich bin Doktorand in einem Graduiertenkolleg am Fachbereich Wirtschaftswissenschaft der FU Berlin. Sehr gerne würde ich Sie als erfahrenen Experten / erfahrene Expertin für mein Dissertationsprojekt gewinnen!
Im Anhang erhalten Sie ein kurzes Anschreiben über das Projekt und bei Interesse Ihrerseits würde ich mich sehr über eine Rückmeldung freuen.
Mit freundlichem Gruß Marc Roedenbeck
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Anhang 7
Rückrufnotizen
1. Kurze Schilderung worum es geht: Ich beschäftige mich mit der psychischen Verfestigung von Mustern insbesondere im Organisatorischen- und dem Managementkontext. Ich frage mich, wie diese individuellen Verfestigungen gelöst werden können. Die Befragung richtet sich dabei an Experten und Expertinnen mit praktischer Beratungserfahrung auf Grundlage verschiedener neuerer Ansätze. Der systemische / NLP / Huna ist einer davon.
2. Kurze Schilderung zur Wahl der Experten und Expertinnen: Also ich habe mein Modell auf der Basis verschiedener Perspektiven zusammengestellt und mich dabei mit dem systemischen Ansatz / NLP / Huna beschäftigt. Im Internet konnte ich die DGSF / DVNLP / AI finden und habe mir alle Berater und Beraterinnen auf deren Internetseiten angesehen. Sie habe ich ausgewählt, weil Sie Beratungserfahrung vorweisen können und mit spezifischen Methoden arbeiten.
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Anhang 8
Roh-Auswertungsmatrizen
Tabelle 16 – Roh-Auswertungsmatrix für die empirischen Annahmen
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Tabelle 17 – Roh-Auswertungsmatrix für die Erweiterungen
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Anhang 9
Kurzer Lebenslauf
Der Autor Marc R.H. Roedenbeck wurde 1980 in Mettmann geboren und hat in Wülfrath von 1986 bis 1999 die Grundschule sowie das Gymnasium besucht. Von 1999 bis 2004 studierte er an den Technischen Universitäten Braunschweig und Berlin den Studiengang Wirtschaftsingenieurwesen. Seine Studienschwerpunkte lagen im Bereich Organisation, Personalwesen und Führungslehre bei Prof. Dr. Gebert sowie Photovoltaische Energiesysteme und Halbleitertechnik bei Prof. Dr. Hanitsch und Prof. Dr. Wagemann. In seiner Diplomarbeit entwickelte er ein komplexes Modell der Arbeitszufriedenheit, sowie ein dynamisches Online-Erhebungsinstrument. Diese Ergebnisse wurden von Prof. Dr. Gebert betreut und im Rahmen des Personal-Nachwuchspreises 2005 von der DGFP geehrt. Die Diplomarbeit des Autors galt als eine der 10 besten, deutschen Diplomarbeiten im Jahr 2004. Von 2005 bis 2008 war er Promotionsstudent an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Graduiertenkollegs „Pfade organisatorischer Prozesse“ und Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seine Betreuer der Dissertation waren PD Dr. M. Haase, Prof. Dr. A. Söllner und Prof. Dr. G. Krell. Neben seiner Ausbildung war der Autor Marc R.H. Roedenbeck Praktikant in zahlreichen Unternehmen. Zu seinen Stationen in Deutschland gehören Industrie- und Forschungsbetriebe wie Savoye-Schulz im Bereich Förderanlagenbau und NEC Europe für F&E im Bereich Automotion. Aber auch im Ausland hat er bei Unternehmen gearbeitet und war als Praktikant bei Bodycote Materials Testing, Kanada in der National Solar Test Facility. Darüber hinaus arbeitete Marc R.H. Roedenbeck als selbstständiger Management- und IT Berater bei Projekten im deutschen Mittelstand. Nach seiner Dissertation wechselte er in die Landesbank Berlin AG in den Bereich Personal.
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