Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 82
Ernst Vlcek
Jagd der Amazonen ERNST VLCEK x 9 Der Autor zählt seit zwei Jahrz...
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Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 82
Ernst Vlcek
Jagd der Amazonen ERNST VLCEK x 9 Der Autor zählt seit zwei Jahrzehnten zu den namhaften Persönlichkeiten der deutschen SF-Szene. Ernst Vlcek erlebte seinen Durchbruch bei TERRA und fungiert heute als einer der Hauptautoren von PERRY RHODAN. Der vorliegende Band enthält zumeist Erzählungen aus dem frühen Schaffen des Autors. Sie finden darin die Story von der Welt ohne Männer – die Story von der Zeitmaschine – die Story vom 13. Adam – die Story von der Safari zu den Sternen – die Story der kosmischen Freibeuter – die Story von der Blütezeit – die Story von den Lykanthropen des Sirius – die Story des geduldigen Ehemanns – und die Story von der Jagd der Amazonen. Ein weiterer Story-Band des Autors ist in Vorbereitung und erscheint in Kürze in der Reihe der UTOPIA CLASSICSTaschenbücher.
Ernst Vlcek
Jagd der Amazonen Utopia-Classics Band 82
Scan by Tigerliebe K&L: tigger Mai 2004 Kein Verkauf!
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT
UTOPIA CLASSICS-Taschenbuch im Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright © 1964, 1968 und 1971 by Ernst Vlcek Copyright © 1985 by Verlag Arthur Moewig GmbH Erstmals als Taschenbuch Titelbild: Jim Burns Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany Oktober 1985 ISBN 3-8118-5028-8
Vorwort Die erste und die letzte Geschichte haben ein und dasselbe Thema zur Grundlage, aber sonst nichts gemeinsam. Es geht darin um Frauen, die aus unterschiedlichen Gründen ohne Männer auskommen müssen, um das Sittenbild auf einer feministischen Erde, wenn man so will. »Lockruf der Amazonen« ist noch nie veröffentlicht worden, weder in irgendeinem Fanzine, noch professionell. Sie wurde anfangs der 60er Jahre auf einer vorsintflutlichen Adler geschrieben und landete danach aus irgendwelchen Gründen in einer Ablagemappe, die mir erst während meines letzten Umzugs Ende 1984 wieder in die Hände fiel. »Es kommt eine kleine Überraschung« stammt aus demselben Fundus, und diese kurze, harmlose Story wurde bislang ebenfalls noch von keinem fremden Auge gesehen. Diese zweite Geschichte datiert sogar noch früher als die erste und wurde noch mit der Hand geschrieben. Vielleicht ist an dieser Stelle eine Klarstellung angebracht, denn es könnte der Eindruck entstehen, daß ich ein überaus ordentlicher Mensch bin, der alle seine Unterlagen fein säuberlich archiviert. Dem ist jedoch ganz und gar nicht so! Zwar drücke ich eine Zahnpastatube immer vom Ende her aus, aber beim Arbeiten brauche ich ein gewisses Maß an Chaos, und die Suche nach Unterlagen ist für mich der zeitraubendere, aber auch der dringend benötigte kreativere Teil meiner Arbeit. Nun bin ich aber auch ein Sammler-Typ, der alles und jedes aufhebt und es einfach nicht übers Herz bringt, auch nur eine einzige beschriebene Seite wegzuwerfen. Solche geistigen Ergüsse landen in irgendeiner Schublade und kommen – wie im vorliegenden Fall – irgendwann zu Tage. Ob dies ein Segen oder Unglück für die Leserschaft ist, das zu beurteilen überlasse ich derselben. 5
Die folgenden vier Stories »Der 13. Adam«, »Safari zu den Sternen«, »Die kosmischen Freibeuter« und »Blütezeit« waren die ersten, die ich solo veröffentlicht habe, nachdem die Zusammenarbeit mit Helmut W. Mommers in die Brüche ging. Diese Zusammenarbeit war auch insofern sehr fruchtbar, weil wir uns gegenseitig halfen, den inneren Schweinehund zu überwinden und den Schritt zur professionellen Veröffentlichung zu wagen. Das war 1964, in einer Zeit also, wo es gar nicht so einfach war, mit SF-Stories unterzukommen. Wir schafften es bei TERRA-Sonderband, der Vorläufer-Reihe der TERRA-Taschenbücher, dank Günter M. Schelwokat. »Der 13. Adam« hätte genauso gut ein 8., 9. oder 24. Adam sein können, aber die Dreizehn ist eben eine magische Zahl; das vorerst einmal soviel dazu, wie Titel entstehen können. Diese Story schrieb ich ein wenig unter dem Einfluß von A. E. van Vogt, den ich seinerzeit förmlich verschlungen habe. Unter ganz anderem Einfluß ist dagegen »Safari zu den Sternen« entstanden, nämlich zu einer Zeit, da ich mich von SF ein wenig distanzierte und Hemingway entdeckte. Vor allem seine »55 Stories« hatten es mir angetan, und ich vermag nicht mehr zu sagen, wie oft ich manche von ihnen gelesen habe. Das Produkt dieses Studiums ist die vorliegende Geschichte. Einige Jahre nach dieser ersten Solo-Veröffentlichung trat Thomas Landfinder an mich heran und bot mir an, »Die kosmischen Freibeuter« ein wenig umzuschreiben (vor allem den Schluß), damit er sie in eine SF-Sammlung für Jugendliche aufnehmen könne. Dagegen verwehrte ich mich jedoch, denn ich war der Ansicht, daß diese Geschichte ohne Vorbehalt Jugendlichen jeder Altersstufe zumutbar sei. Und so ist diese Geschichte nie in der genannten Anthologie erschienen. Zu »Blütezeit« gibt es eigentlich nichts zu sagen, außer daß ich sie persönlich für die beste dieses Vierer-Pakets halte. Es scheint aber, daß ich mit dieser Meinung ziemlich allein dastehe. 6
»Rückkehr vom Sirius« wäre beinahe nicht geschrieben worden und hat ihre Existenz einem seltsamen Zufall zu verdanken. Es war im Jahre 1968, daß G. M. Schelwokat für eine Heyne-Anthologie Werwolfstories benötigte. Eine Geschichte hatte ich bereits beigesteuert, doch da GMS noch Material fehlte, bat er mich, noch eine Story zu verfassen und stellte auch gleich die Idee zur Verfügung. Da ich das Projekt meines Förderers nicht platzen lassen konnte, schrieb ich diese Geschichte, die eine Mischung aus Weird und Science Fiction ist. »Der geduldige Buchhalter« ist eigentlich weder Weird noch Science Fiction, trägt aber doch in gewisser Weise Spuren von beidem. Diese Geschichte war nie zur Veröffentlichung gedacht. Sie trägt insofern autobiographische Züge, da ich sie in einer melancholischen Stimmung schrieb, als ich mich von aller Welt verraten und gedemütigt fühlte, kurzum, ich hatte Seelenschmerz. Als Jahre später Uwe Vöhl mich bat, eine Geschichte für eine von ihm zusammengestellte Horror-Antho beizutragen, fand ich, daß mein Jammer nach dreizehn Jahren verjährt sei und schickte ihm vorliegende Story. Die letzte Story dieser Sammlung soll auch dazu dienen, Anschauungsunterricht zur Frage »Wie entstehen Titel« zu geben. Als mich Thomas Landfinder 1971 einlud, für seine Hardcover-Antho »Liebe 1002 – erotic science fiction« einen Beitrag zu leisten, da schickte ich ihm diese Geschichte unter dem Titel »Frauen ohne Männer« (noch immer unter Hemingways Einfluß und als Gegenstück zu dessen »Männer ohne Frauen« gedacht). Der Anthologist titelte die Story aber um, so daß sie als »Das unbekannte Wesen« veröffentlich wurde; mich erinnerte das damals sehr an Oswald Kolle, und das mag auch beabsichtigt gewesen sein, ich fand das jedoch nicht so originell. Fast zehn Jahre später erschien die Geschichte in Frankreich, in der von Daniel Walther zusammengestellten Anthologie »Science Fiction allemande« unter dem Titel »La belle et la bête«, was ich mir, trotz meiner geringen Französischkenntnis7
se, mit »Die Schöne und die Bestie« zu übersetzen getraue. (Apropos Fremdsprachenkenntnisse: Die meinen sind sehr gering, und selbst mein Englisch ist erbärmlich. Als ich mal mit den Meinen in London war und als Familienoberhaupt verpflichtet wurde, die Bustickets zu kaufen, da war das jedesmal ein halbes Drama. Aber zurück zum Thema:) Daniel Walther hat sich für seine Anthologie der Deutschen SF sehr viel Mühe gegeben, zu jeder Geschichte eine lange Einleitung und über jeden vertretenen Autor einiges Wissenswerte geschrieben. Da ich natürlich wissen wollte, was er über mich zu berichten wußte, habe ich mich Wort für Wort durch das Französisch gequält. Man kennt das, eine Fremdsprache kann gar nicht so fremd sein, sofern sie in lateinischen Buchstaben gehalten ist, daß man nicht ein paar Brocken versteht. Andererseits ist es auch so, daß man manches, aus dem Zusammenhang gerissen, auch fehlinterpretieren kann. Und genau das passierte mir. Als ich, unter anderem las »… VLCEK soit un grand styliste …«, da fühlte ich mich doch überaus geschmeichelt. Da ich es aber genau wissen wollte, ließ ich mir besagten Text übersetzen und war doch einigermaßen ernüchtert, als ich erfuhr was wirklich dort stand. Der vollständige Satz lautete nämlich: »On ne peut pas dire que VLCEK soit un grand styliste ni que ses textes soient d’une fulgurante originalité, mais ils se lisent souvent fort bien«. Was auf gut deutsch soviel heißt wie: Man kann weder sagen, daß VLCEK ein großer Stilist ist, noch daß seine Texte von blinkender Originalität sind, aber sie lesen sich immer recht gut. Nun, von dieser Enttäuschung habe ich mich recht bald erholt, denn was kann sich ein Schriftsteller eigentlich Schöneres wünschen, als daß seine Sachen gut zu lesen sind. Ob er das als »grand styliste« erreicht oder als braver Geschichtenschreiber ist gar nicht so von Belang. Wenn ich mit diesen Geschichten und Geschichtchen die Leser unterhalten kann, dann bin ich’s 8
zufrieden. Ach ja, es bleibt noch zu erklären, warum diese Geschichte nunmehr unter dem Titel »Jagd der Amazonen« erscheint. Das ist ganz einfach: Eine Kurzgeschichtensammlung sollte doch einen knalligen, vielleicht sogar etwas reißerischen Aufhänger haben, oder? Ernst Vlcek Brunn am Gebirge, März 1985
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Lockruf der Amazonen Haben Sie schon mal mit dem Gedanken gespielt, Ihre Frau umzubringen? Das fällt gar nicht mal schwer, meine ich, solche Gedanken bis zur letzten Konsequenz auszuspinnen. Schwierigkeiten ergeben sich höchstens in der Praxis, zumindest wenn das Opfer vom Schlage meiner Emma ist. Sie ist einfach nicht zur Strecke zu bringen. Und was ich nicht schon alles versucht habe! Es gibt vermutlich kein Gift, das ich nicht schon an ihr ausprobiert hätte. Von Arsen bis Zyankali, ich habe ihr alles eingeflößt, gewirkt hat nichts. Sie blüht und gedeiht und nimmt weiter zu, weil manche dieser Gifte auf sie sogar noch appetitanregend wirken. Emma ist eine Hexe, das steht für mich außer Frage. Als ich sie kennenlernte, besser gesagt, als sie mich aufgabelte, da war sie rank und schlank und leidlich hübsch. Inzwischen wiegt sie an die dreihundert Kilo und kommt kaum mehr aus dem Bett hoch. Aber glauben Sie nicht, daß sie mich darum nicht an der Kandare halten kann – im Gegenteil, sie hält die Zügel nach wie vor straff. Und sie beherrscht noch immer einige ihrer Tricks, mit denen sie mich eingefangen hat. Einen davon, den »Knüppel-aus-dem-Sack«-Trick, läßt sie mich immer noch mehrmals am Tage spüren, wenn ich nicht spure. Aber zumeist bin ich ohnehin sehr dienstbeflissen, denn ich lese ihr sozusagen die Wünsche von den Augen ab, und unter ihrem gestrengen Blick fühle ich mich wie das Kaninchen unter dem hypnotischen Blick der Schlange. Ihr Mundwerk ist auch noch so intakt wie am ersten Tag. Sie hat nur einen Wortschatz von höchstens tausend Vokabeln, aber das hindert sie nicht, dauernd an mir herumzunörgeln und über ihr Los zu klagen. Sie zerfleischt sich förmlich vor Mitleid, weil sie, wie sie es nennt, einen Waschlappen wie ich geangelt hat. Jetzt, so resümiert sie verdrossen, nachdem sie die 10
beste Zeit ihres Lebens an mich vergeudet hätte, habe sie auch ihre Chancen vertan, es sich zu verbessern. Es ist noch nicht lange her, da versuchte ich ihr einzureden, daß sie mittels ihrer hypnotischen Fähigkeiten noch immer jeden Mann bekommen könne und ihr selbst Filmstars zu Füßen liegen würden. Aber das habe ich bald aufgegeben, weil ich damit nur ihren Zorn auf mich lenkte und dies in weiterer Folge unweigerlich dazu führte, daß sie den Knüppel aus dem Sack holte und Jagd auf mich machen ließ. Danach wirkte sie stets ausgeglichener. Und es verlangte sie nach Zärtlichkeit. Nun, ich will keine Bettgeschichten ausplaudern, aber ich bin manchmal selbst im Zweifel darüber, ob der Prügel nicht doch eine mildere Bestrafung als ihre Umarmung sei. Wenn das Temperament mit ihr durchgeht, dann erwachen auch ihre Hexenfähigkeiten, und ich werde zum hilflosen Objekt ihres Spieltriebs. Einer ihrer Lieblingsausdrücke dabei, wenn sie mit mir Leichtgewicht jongliert, ist: »Schade, daß ich schon zu schwer bin, um mich noch teleportieren zu können. Aber die Telekinese beherrsche ich immer noch recht gut. Was meinst du, Ernst?« Kunststück, ich wog ja nicht viel mehr als der Prügel, den sie gelegentlich hinter mir dreinschickte! Zurück zum Thema! So wenig es mir möglich war, Emma zu beseitigen, ebensowenig war es sinnvoll, an Flucht zu denken. Meine Versuche in dieser Richtung waren alle kläglich gescheitert, Emma hatte mich stets mit ihrem sechsten Sinn aufgestöbert und mich zu sich zurückbefohlen. Die auf meine gescheiterten Fluchtversuche folgenden Rapporte gestalteten sich zu einer solchen Tortur für mich, daß ich schließlich keine weiteren mehr unternahm, so sehr mich Emma dazu auch ermunterte, um einen Vorwand für ihre sadistischen Spielchen zu haben. Dabei genügte es ihr nicht, ihre Hexenfähigkeiten an mir zu üben, sondern sie sparte auch nicht mit Demütigungen. 11
»Dort, woher ich komme, glaubt man, daß jeder Mann auch ein richtiger Mann sei«, pflegte sie zu sagen, und: »Was war ich nur für eine Närrin, daß ich mich in den Erstbesten, der mir über den Weg lief, vergafft habe. Ich war egoistisch, wollte dich für mich alleine haben. Und das habe ich davon! Jetzt ist es zu spät, ich kann nicht mehr zurück. Unter Millionen stattlicher Männer mußte ich gerade auf dich halbe Portion treffen und mich in dich verlieben. Das Dumme dran ist, ich habe mich an dich gewöhnt und würde dich um keinen Preis mit anderen Amazonen teilen.« So sprach Emma stets, wenn sie nach einem furchtbaren Strafgericht melancholisch wurde. Ich verstand nicht viel davon, aber die Vorstellung, daß es noch mehr von Emmas Sorte geben könnte, jagte mir eisige Schauer über den Rücken. So gesehen, hatte ich es mit ihr allein vergleichsweise gut getroffen. Emma ließ mich auch wissen, wie ich einem schlimmeren Schicksal entgehen konnte, denn sie warnte mich: »Hüte dich vor dem Sirenengesang der Amazonen. Sie werden nichts unversucht lassen, mir meine Beute abzujagen.« Aber je mehr Zeit verging, desto sicherer schien sich Emma meiner zu sein, und schließlich ließ sie mich sogar in der Küche unbeaufsichtigt – unter anderem wohl auch, weil sie zu bequem war, das Bett zu verlassen. Und irgendwie machte sie die zunehmende Verfettung auch vergeßlich – so vergeßlich, daß sie nicht einmal daran dachte, welche Bedeutung der 15. April hatte. Dies war das Datum, an dem sich der Tag unseres Kennenlernens zum erstenmal jährte. Emma bezeichnete den 15. April als »Jungfrauentag«, der dort, von wo sie kam, eine ganze besondere Bedeutung hatte. Daran erinnerte ich mich und machte mich in unsere Großküche auf, um Emma zur Feier des Tages ein Überraschungsgericht zuzubereiten – natürlich tat ich es mit dem Hintergedanken, dadurch einige Vergünstigungen für mich herauszuschlagen. Ich holte die größte verfügbare Om12
lettpfanne hervor, schnitt einen ganzen Schinken auf und schlug sechs Dutzend Eier hinein. Nachdem ich die Pfanne mit dem Flaschenzug über die Herdflamme gehievt hatte, da erklang statt des brutzelnden Geräusches ein eigenartiger Singsang. Und er schien geradewegs aus der Pfanne zu kommen. Ich holte mir einen Stuhl und kletterte hinauf, um einen Blick in die Pfanne zu werfen. Und da war es um mich geschehen. Ich saß plötzlich in der Pfanne! Und vor mir befand sich eine runzelige Alte in einem Bikini. Sie war es, die den eigenartigen Singsang von sich gab. Bei meinem Anblick brach sie ab, blickte mich aus eiskalten Augen durchbohrend an und sagte mit schneidender Stimme: »Du bist ein Mann!« Während sie noch sprach, lag plötzlich wie hingezaubert ein Fächer in ihrer Hand. Sie hob ihn ruckartig in die Höhe und schlug ihn mir einige Male um die Ohren, daß mir Hören und Sehen verging. »Sag, bist du ein Mann?« forderte sie mich auf. Aber noch bevor ich die Sprache wiedergefunden hatte, fuhr sie fort: »Er soll ein Mann sein. Gott Eros, gib, daß er ein Mann ist. Er muß ein Mann sein!« Und sie schlug mir wieder den Fächer um die Ohren, diesmal so heftig, daß mir schwarz vor den Augen wurde. Zuvor hatte ich jedoch entdeckt, daß hinter der Alten eine Reihe recht knuspriger Mädchen stand. Sie summten mit geschlossenen Augen und wiegten ihre kaum verhüllten Körper. Dieser Hintergrund ließ mich meine Lage etwas leichter ertragen, und ich dachte sogar, daß ich es, was immer auch mit mir passiert war, gar nicht so schlecht getroffen hätte. Als mich die Alte nun direkt auf mein Geschlecht ansprach und fragte, ob ich wirklich ein Mann sei, sagte ich: »Aber gewiß …« »Das wird sich noch weisen!« herrschte sie mich an und schlug so hart mit dem Fächer zu, daß ich die Besinnung verlor.
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Irgend etwas preßte sich warm gegen meine Lippen, und ich öffnete mit einem wohligen Seufzer die Augen. Ein helles Oval, von Goldfäden umrahmt und mit zwei dunklen Flecken und einem purpurroten Fleck darin, entfernte sich abrupt und gewann augenblicklich an Schärfe. Die zwei dunklen Flecken waren zwei dunkle Mascara-Augen, das Rot gehörte zu den sinnlichen Lippen eines Mädchenmundes. »Oh«, machte sie verstört. »Habe ich dich erschreckt?« Ich faßte mich sofort. »Mitnichten«, antwortete ich schlagfertig. »Es ist nur so, daß mich meine Emma immer auf ganz andere Art und Weise weckt.« Und ich dachte an den telekinetischen Spezial-Prügel. Sie schien mich irgendwie zu verstehen, denn sie sagte: »Es muß schrecklich sein, dort, von wo du kommst. Im frauenlosen Nichts gefangen, ohne Liebe und Zärtlichkeit zu darben. Geplagt von Wollust und Begierde.« »Nun ja«, schränkte ich ein, »eigentlich hatte ich um zweihundert Kilo zuviel Frau. Aber Masse ist nicht Klasse. Und wenn Emma von allem auch mehr hatte als du, war es längst nicht so reizvoll.« Die Blondine, die den winzigsten Bikini trug, den man sich vorstellen kann, brach beinahe in Tränen aus. »Aber hast du nicht daran geglaubt, daß du eines Tages erlöst werden würdest?« fragte sie. »Äh, ja, sicher«, stotterte ich. »Ich wollte mich von Emma schon erlösen. Aber sie ist einfach nicht totzukriegen.« Ein hoffnungsvoller Gedanke schoß mir durch den Kopf, und ich fragte: »Habt ihr das etwa für mich besorgt?« Statt einer Antwort erklang von irgendwo aus dem Hintergrund eine angenehme, aber vor Ungeduld vibrierende Mädchenstimme, die verlangte: »Jetzt beginne endlich mit dem Ritual, Eva Lola. Schließlich steht noch eine ganze Reihe von Jungfrauen an.« Ich zuckte beim Klang der Stimme leicht zusammen, denn 14
bis jetzt hatte es so ausgesehen, daß es nichts und niemandem außer der blonden Maid, mir und dem weichen Daunenbett gäbe. Wir lagen in einem Kegel schummrigen Lichts, und dahinter herrschte Dunkelheit. »Sind wir etwa nicht allein?« erkundigte ich mich besorgt und versuchte das Dunkel mit den Blicken zu durchdringen. »Werden wir etwa beobachtet?« »Selbstverständlich«, hauchte Eva Lola. »Bei uns sind nur einige Dutzend privilegierte Jungfrauen. Aber alle zehn Milliarden Evas wollen natürlich etwas vom ersten Mann zu sehen bekommen.« Ihr Blick verschleierte sich noch mehr, und sie flüsterte kaum hörbar: »Zeigen wir es ihnen …« O Schreck! Ich verkrampfte mich, meine Libido verflüchtigte sich. Es war eben nicht jedermanns Sache, sich vor zehn Milliarden Frauen nackt zu zeigen, nur mit einer dünnen Decke als Schutz. Eva Lola nahm darauf jedoch keine Rücksicht. Sie begann zu singen: »Die Nase so edel, die Augen blicken hart, Statt glatter Wangen wächst ihm ein Bart.« Was sollte das mit dem Bart? Meinem spärlichen Haarwuchs verdankte ich zumindest einen meiner Minderwertigkeitskomplexe. »Ein kräftiger Hals, mit Muskeln übersät«, sang Eva Lola unbarmherzig weiter, »der – oh, Eros, ich danke dir – in gewaltige Schultern übergeht.« Ich gewann immer mehr die Überzeugung, daß diese Jungfer sich mit mir einen üblen Scherz erlaubte, denn bis jetzt war noch kein wahres Wort an dem, was sie sagte. Nun wurde die Situation zudem noch brenzlicher, denn Eva Lola nahm sich heraus, all jene Körperteile zu begrapschen, die sie besang. Nachdem sie mit meiner Hals- und Schulterpartie fertig war, löste sie die Decke aus meinen verkrampften Fingern und schlug sie gemächlich zurück. Ich versank fast vor 15
Scham, stellte aber mit einiger Erleichterung fest, daß man mir wenigstens die Hosen angelassen hatte. Eva Lola begann nun damit, in Reimen meine kraftvollen Arme zu loben, meinen elastischen Brustkorb, von Sport gestählt, und die steinharten Bauchmuskeln – ich konnte mich nur wundern, wo sie das alles an mir entdeckt haben wollte. Über meine Bauchmuskulatur leitete sie geschickt auf meinen Magen über. Ihre Finger, so sanft ihr Druck auch war, brachten mich gehörig ins Schwitzen, denn nun wurde es kritisch. »Doch den Mann krönte Eros in den Lenden …« »Bis hierher und nicht weiter!« rief ich und sprang aus dem Bett. Ringsum erklang enttäuschtes Gemurmel – und ich hätte nicht das Ergebnis des Infratests dieser Live-Show sehen wollen! Eva Lola bekam einen Nervenzusammenbruch. Sie sank schluchzend auf das Bett und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Ich versuchte sie zu beruhigen und auf ein andermal zu vertrösten, aber es half alles nichts. Und dazu sang der Chor der Jungfrauen: »Er ist kein Mann! Er ist kein Mann!« »Von wegen, kein Mann!« schrie ich zornig in die Dunkelheit. »Aber es ist eben nicht jedermanns Sache, bei einer PeepShow mitzumachen.« Meine Verteidigung wurde überhört. Ein Trupp bewaffneter Mädchen kam und führte mich wortlos ab; die Pfui-Rufe der enttäuschten Jungfrauen begleiteten mich. Ich rechnete natürlich mit dem Schlimmsten, dachte an Folter und Vivisektion und Fruchtbarkeitstests. Aber anstatt in ein Laboratorium oder in eine Folterkammer brachten mich meine Häscherinnen in ein luxuriös ausgestattetes Gemach – in eine Kemenate, um genau zu sein. Ich hatte nun wenigstens etwas Ruhe zum Überlegen. Der logische Schluß war natürlich, daß, wenn man mich nicht als Mann akzeptierte, man mich für eine Frau halten mußte. Dar16
um die Kemenate. Nach einiger Zeit kam eine korpulente, hochnäsige Alte mit Frauenkleidern und warf sie mir verächtlich zu. Ich stieß sie ebenso verächtlich von mir. »Anziehen!« sagte sie in einem Befehlston, der mir nicht ganz fremd war und mir Schreckensvisionen von Emma bescherte. Also fügte ich mich ins Unvermeidliche. Allerdings begannen die Schwierigkeiten schon bei den Unterkleidern, aber da ich den verblendeten Damen den Spaß nicht verderben wollte, streifte ich auch den BH über. Der elastische Slip und die schwarz verbrämten Straps waren zwar recht neckische Dessous, aber ich hätte sie lieber an Eva Lola als an mir gesehen. Die Alte wachte jedoch darüber, daß ich weder Pettycoat noch Seidenstrümpfe vergaß und tat dabei gerade so, als handele es sich um Gefangenenkleidung. Ich wehrte mich nicht einmal mehr gegen zwei Lagen Taftröcke und ein Brokatkleid, hängte mir ein Cape um und setzte mir zu guter Letzt auch noch die Haube wie von einem Dienstmädchen auf. Als ich glaubte, endlich mit der Toilette fertig zu sein, entdeckte die alte Schraube das vergessene Mieder – und somit begann die ganze Tortur von neuem. Die folgende Zeit war ein Martyrium für mich, und fast sehnte ich mich zu Emma zurück. Daß man mich behandelte wie eine Frau, war an sich erniedrigend genug, aber ich hatte den heimlichen Verdacht, daß es sich bei allem, was man mit mir anstellte, nur um Vorbereitungen für eine Hinrichtung handelte. Es kamen Diätspezialistinnen, die sich darüber stritten, wie ich aufzupäppeln sei, um an den richtigen Stellen Rundungen zu bekommen. Eine Masseuse rückte meinem Bierbauch zuleibe, und eine Gynäkologin und Hormonspezialistin setzte es sich partout in den Kopf, eine Existenzberechtigung für den Büstenhalter zu schaffen. Friseusen stürzten sich gnadenlos auf mich und schwitzten Blut dabei, mein spärliches Haupthaar 17
effektvoll zu ondulieren – ich wurde manikürt und pedikürt, am ganzen Körper und im Gesicht mit Haarentferner behandelt, bekam jede Menge Gesichtspackungen, wurde geschminkt, an den Augenbrauen gerupft, und so weiter und so fort. Einmal wurde ich renitent, und es kam zu einer handfesten Keilerei, als man meinen ganzen Stolz, nämlich die 33 Brusthaare, ausrotten wollte. Natürlich unterlag ich der Übermacht. Wenn die wilde Horde der Schönmacherinnen dann abzog, konnte ich jedoch nicht verschnaufen. Sie hinterließen mir eine ellenlange Liste, wie ich in Eigenregie an meinem Aussehen zu feilen hätte. Wenn ich mal für ein paar Minuten ausspannte, dann stürzten sich sofort die wachhabenden Amazonen auf mich und rieben mir den Schönheitsplan unter die Nase. Bei einer solchen Gelegenheit fiel eine Bemerkung, die meinen Verdacht bestätigte, daß es sich bei dem mir gestatteten Verschönerungsprozeß tatsächlich um eine letzte Begünstigung für eine Delinquentin handelte. »Putz dich nur heraus, häßliches Täubchen«, giftete eine feiste Amazone. »Damit du bei deinem Prozeß wenigstens einigermaßen nach was aussiehst.« Also wollte man mir den Prozeß machen. Eigentlich konnte ich darüber nur froh sein, denn dabei würde sich für mich die Gelegenheit bieten zu beweisen, daß ich ein Mann war. Und allem Anschein nach war ich der einzige Mann in einer Welt von Frauen. Zehn Milliarden Frauen! Daraus sollte ein einigermaßen cleverer Mann doch einige Vorteile ziehen können. Und darum sah ich dem Prozeß eigentlich gar nicht ängstlich, sondern eher erwartungsvoll entgegen. Ich mußte den Amazonen nur klarmachen, daß ich keiner von der Sorte war, der sich für Peep-Shows hergab. Während ich in diese Überlegungen vertieft war, vor meinem Lieblingsspiegel sitzend und geduldig nach einem verlorenen Haar meiner gerupften linken Augenbraue fischend, da war ein Klopfen an der Tür. Ich brummte ein »Herein«, und sogleich 18
ging die Tür auf, und herein kam die Alte, die mich mittels der Omelettpfanne aus Emmas Fängen hierher geholt hatte. »Ich bin gekommen, um dich auf die Verhandlung vorzubereiten, Schlampe«, sagte sie in abweisendem Tonfall. »Der Gang zu dir ist mir nicht leichtgefallen. Ich verachte dich dafür, was du mir angetan hast.« »Dir macht man doch nicht etwa auch den Prozeß?« fragte ich voller Schadenfreude. Aber als ich ihr dann ins Gesicht blickte, tat sie mir irgendwie sogar leid. »Nimm’s leicht, alte Vettel. Du darfst Ernestine zu mir sagen.« »Vettel, so heiße ich wirklich«, staunte sie. In geschäftsmäßigem Tonfall fuhr sie fort: »Man hat mir Gelegenheit gegeben, mich mit dir abzusprechen. Da wir wegen ein und desselben Vergehens angeklagt sind, ist es uns erlaubt, unsere Verteidigung aufeinander abzustimmen.« »Ich habe mich schon festgelegt«, sagte ich und machte einen Schmollmund. »Ich bleibe dabei, daß ich ein Mann bin.« »Das ist gut«, sagte sie grinsend und rieb sich die knochigen Hände. »Das ist sogar sehr gut. Genau das wollte ich nämlich von dir hören. Und nun paß auf, Ernestine.« Sie begann zu erzählen. Es gab nun schon seit einigen Jahrhunderten keine Männer mehr. Sie waren laut der Heiligen Emanzipationsschrift von den Frauen in die Graue Einsamkeit verbannt worden. Die Weiblein, nun auf sich alleingestellt, glaubten, durch ihr Wissen über künstliche Befruchtung und den Fundus aus den Samenbänken, sich allein fortpflanzen zu können. Das klappte auch vorzüglich, doch wurden nur Mädchen geboren. Was zuerst als Gesetz verankert worden war, entwickelte sich aber nach Lockerung dieses Gesetzes zum Fluch, denn es wurden auch später, als man es gar nicht mehr wollte, ausschließlich weibliche Babys geboren. Es wurden alle möglichen Versuche unternommen, Männer – oder wenigstens ein einziges Exemplar – aus der Grauen Ein19
samkeit zu holen. Aber alle diese Versuche scheiterten, bis man auf die Idee kam, mittels Zeitreise Männer aus der Vergangenheit zu holen. »Zeitreise – gibt’s die?« staunte ich. »Für Frauen ist nichts unmöglich«, erklärte Vettel. »Wir sind das starke Geschlecht. Jedenfalls haben Experimente gezeigt, daß es möglich ist, bis in die patriarchalischen Zeiten des 20. Jahrhunderts vorzudringen. Als die Zeitmaschine so weit ausgereift war, um auch Personen in die Vergangenheit zu schikken, wurde eine Erste Jungfrau bestimmt. Sie erhielt den Auftrag, einen Mann aus der Vergangenheit in unsere Zeit zu holen. So geschehen auf den Tag genau ein Jahr vor deinem Auftauchen. Irgend etwas muß damals schiefgelaufen sein, denn die ausgeschickte Eva kam nicht zurück. Darum wiederholten wir das Experiment am darauffolgenden Jungfrauentag. Nur wollten wir diesmal keine Jungfrau opfern, sondern versuchten aufs Geratewohl, einen Mann zu angeln. Der zweite Versuch schien zu gelingen… Aber anstatt eines richtigen Mannes, anstatt eines Stieres, wie es in den Emanzipationsschriften heißt, bekam ich dich Betrügerin an die Angel.« »In die Pfanne!« berichtigte ich. Mir fiel es auf einmal wie Schuppen von den Augen. Jetzt war mir alles klar, Emma, vor einem Jahr noch schlank und rank und zum Anbeißen süß, war jene Erste Jungfrau, die man auf die Zeitreise geschickt hatte, um einen Mann in die Welt der Frauen zu holen. Und ich war der erste, der ihr über den Weg lief. Aber anstatt mich mit auf die Zeitreise zu nehmen und mich mit den anderen zehn Milliarden Amazonen zu teilen, nahm sie mich für sich allein und ließ sich von mir verwöhnen. Nun war mir auch klar, wie es kam, daß sie sich mir nicht hatte unterordnen wollen. »Alles klar«, sagte ich. »Ich werde bei meiner Verteidigung bleiben und auf meiner Männlichkeit beharren. Mir mißfällt nur eines. Du hast vorhin so getan, als hätte die Sache einen Haken. Was kann mir blühen?« 20
»Nur daß du als unzurechnungsfähig eingestuft und in ein Irrenhaus eingeliefert wirst«, erklärte Vettel leichthin. »Und die Alternative?« »Wenn man dir Betrugsabsicht nachweist«, erklärte sie mit unheilschwangerer Stimme, »droht dir Deportation zu den Lesben auf den Mond.« »Da gelte ich schon lieber als verrückt«, sagte ich. Und dann gestattete ich mir ein mephistophelisches Grinsen und sagte: »Aber was, wenn ich doch einen Dreh finde, um zu beweisen, daß ich ein Mann bin? Nur gesetzt den Fall, daß ich eine weibliche Person, die sich auskennt, davon überzeugen kann.« »Ich kenne mich da aus«, sagte Vettel. »Nein, vergiß es, das klappt nicht«, sagte ich schnell. »Aber es wird doch unter den zehn Milliarden eine mutige Jungfrau geben, die es mit mir versucht. Das könnte uns beide retten, Vettel.« Sie dachte nach. Schließlich sagte sie: »Ich bin nicht abergläubisch, nein, wirklich nicht. Aber wenn du zu Eros betest, daß er dein Geschlecht umwandelt … Ich dachte schon vom ersten Augenblick an, daß du eine gehörige Portion männlicher Hormone mit dir herumschleppst… Willst du nicht doch mich die Beschwörung machen lassen? Ich schaffe es vielleicht, dir zur nötigen Potenz zu verhelfen …« »Schlag dir das ein für allemal aus dem Kopf!« fiel ich ihr ins Wort. »Also gut«, gab sie klein bei. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« Es schien eine Ewigkeit vergangen zu sein, als mich ein leises Geräusch aus meinem Halbschlummer schreckte. Ich knipste die indirekte Beleuchtung meines Himmelbetts an – und da sah ich sie vor mir stehen. Sie war barfuß an mein Bett getreten, aber was sage ich, sie war nicht nur barfüßig. Und um mit Mike Hammer zu reden, sie war wirklich eine Blondine. 21
»Eva Lola«, entfuhr es mir. Sie zitterte am ganzen Körper. Ich streckte ihr die Arme entgegen, und sie ergriff sie, scheu, so als fürchte sie, etwas Sittenwidriges, bei Strafe Verbotenes zu tun. »Hab keine Angst«, sagte ich so überzeugend und einfühlsam wie möglich. »Wir fahren dort fort, wo wir begonnen haben. Aber diesmal ohne jeglichen Firlefanz. Du wirst sehen, ich bin doch ein Mann.« Sie ließ sich von mir, wenn auch noch immer leicht widerstrebend, auf das seidenbezogene Daunenlager hinunterziehen. Sie öffnete leicht den Mund und begann mit zitternden Lippen ihren Singsang: »Die Nase so edel, die Augen blicken hart …« »Ohne Hokuspokus, habe ich gesagt«, unterbrach ich sie und schloß ihr den Mund mit einem Kuß. Es war, als beiße ich auf Granit. Ich hatte schon von Anfang an den Verdacht gehabt, daß sich die Amazonen ganz falsche Vorstellungen von einem Mann machten. Ihre Heiligen Emanzipationsschriften hatten das Bild des männlichen Geschlechts völlig verfälscht und das Männliche grundsätzlich verteufelt. Vielleicht wußten einige Hohepriesterinnen wie etwa Vettel Bescheid. Aber ich war entschlossen, statt den leichten Weg den mühevolleren mit Eva Lola zu versuchen. Ich nahm einen neuerlichen Anlauf, und beim zweiten Kuß taute sie auf. Von dem Augenblick an war ich mir sicher, daß ich Eva Lola und den anderen Amazonen die abergläubischen Vorstellungen vom Mann als wilde Bestie, die mit der Peitsche gezähmt werden mußte, korrigieren und sie zu höchstem Glück führen konnte. Eva Lola war eine gelehrige Schülerin, ihr Körper taute allmählich auf, ihre Gefühle erwachten … Ich wußte, daß ich gerettet war und sah mich schon das Leben eines Paschas führen. 22
Aber dann passierten zwei Dinge, die diesen Traum zunichte machten. Der erste Zwischenfall brachte die Ernüchterung, der zweite stieß mich aus dem siebten Himmel in die tiefste Hölle. Plötzlich sang ein Jungfrauenchor: »Er ist ein Mann! Er ist ein Mann!« Damit war mir klar, daß mich Vettel reingelegt und mich für eine Live-Show mißbraucht hatte. Das brachte die Ernüchterung. Aber es kam noch schlimmer. Es folgte der tiefe Sturz. Ein Schwindel erfaßte mich, das weiche Daunenbett wurde zur metallenen Omelettpfanne. Wumm! Und da saß ich auf dem kalten Metall. Aus der Kemenate war die mir sattsam bekannte Großküche geworden, und statt nach Moschus roch es nach angebratenem Öl. Über mir war Emmas schwabbeliges, lauerndes Gesicht, ihre fettgepolsterten Augen funkelten mich böse an. »Das hast du dir wohl so gedacht!« sagte sie und lachte höhnisch. Sie rülpste. »Nackt bis du! Nach Parfüm stinkst du! Und verliebte Augen machst du auch! Na, was soll ich daraus denn schließen?« Ich muß wirklich einen jämmerlichen Anblick geboten haben, wie ich da vor Angst und Kälte zitternd in der Omelettpfanne kauerte. »Aus der Traum!« sagte Emma gehässig. »Du glaubst doch nicht, daß ich dich auch nur mit einer einzigen der Amazonen teilen möchte. Du gehörst mir allein. Ich liebe dich, Ernst!« Mein Ehrenwort, das waren ihre Worte. Aber was mir aus Eva Lolas Mund wie Sphärenklänge geklungen hätte, hörte sich aus Emmas wie ein Todesurteil an. »Was hockst du so nutzlos da«, herrschte sie mich an. »Bereite mir das Abendbrot zu. Oder soll ich dich in der Pfanne braten?« Ich sprang schnell raus, band mir eine Schürze um und machte mich in der Küche nützlich. Emma watschelte mit zufriede23
nem Gelächter davon und ließ mich wissen, daß sie ans Bett serviert haben möchte. Dieses Erlebnis liegt nun schon einige Jahre zurück. Ich brüte weiterhin über den verschiedensten Mordplänen, und seit ich weiß, daß Emma gar nicht ans Bett gefesselt ist, sondern nur zu bequem, um sich zu bewegen, da fasziniert mich der Gedanke an eine Elefantengrube. Aber ich scheue davor zurück, eine solche auszuheben. Ich begnüge mich immer mehr, davon zu träumen, wie es mir gelingt, mich von Emma zu befreien. Und ich träume von Eva Lola und von zehn Milliarden Amazonen, die vor mir Revue passieren. Und an jedem 15. April – dem Jungfrauentag – tu ich etwas, das einem unwissenden Beobachter als eindeutig verrückt erschienen wäre. An jedem 15. April klettere ich nämlich in die große Omelettpfanne und warte und warte und wandere mit meinen Gedanken in eine ferne Zukunft, in der ich der begehrteste Mann von der ganzen Welt sein könnte. Aber nichts passiert, und wenn der Morgen graut, dann steige ich ziemlich frustriert aus der Pfanne. Ich kleide mich an und beginne mein Tagwerk.
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Es kommt eine kleine Überraschung »Ihr Experiment ist von Anfang zum Scheitern verurteilt, werter Kollege!« Das Pferdegesicht von Professor Brown drückte Unglauben und leichte Verachtung aus. Um seine faltigen Augen war ein verräterisches Zucken, das Kenner seiner Person als äußeres Zeichen seiner Ungeduld zu werten wußten. In einer Stunde, um halb sechs, hatte er eine Vorlesung, und dieser Ferrer stahl ihm mit seinen verrückten Ideen die Zeit. »Wenn ich Ihnen nun aber sage, daß die Zeitmaschine schon fix und fertig ist und nur auf ihren Einsatz wartet?« meinte der kleine Ferrer mit pfiffigem Gesicht. Für einen Moment schien Brown überrumpelt. Aber gleich darauf stahl sich ein dünnes Lächeln auf seine Lippen, und er sagte fast mitleidig: »Werter Kollege, ich hoffe, daß Sie es mir nicht übelnehmen, aber das ist doch wirklich zu lächerlich …« »Sie wollen einen Beweis? Bitte, dann folgen Sie mir.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sich der kaum eineinhalb Meter große Ferrer um und entfernte sich mit raschen, trippelnden Schritten. Brown sah auf die Uhr: zwanzig vor fünf. Widerwillig folgte er seinem Kollegen. Dieser Gnom wollte eine Zeitmaschine erfunden haben? Einfach lächerlich! Aber wenn er darauf bestand, sich zu blamieren, wollte ihm Brown den Gefallen tun. Sie kamen zu einer Stahltür, die durch drei Vorhängeschlösser gesichert war. Ferrer stellte sich alles andere als geschickt an, und es verging eine Ewigkeit, bis er die Tür aufbekam. Sie quietschte in den Angeln, als sie aufschwang. Brown rümpfte die Nase, als ihm der Modergeruch entgegenschlug. Hinter der Tür lag ein kleines, kaltfeuchtes Kellergewölbe, und darin stand eine seltsame Konstruktion. Sie sah aus wie ein engma25
schiger Gitterkäfig mit einigen Hebern und einem drehbaren Feldstecher. »Ist sie das?« erkundigte sich Brown, und als Ferrer, offenbar sprachlos vor Stolz, nickte, erkundigte er sich angriffslustig: »Haben Sie sie schon ausprobiert? Nein? Woher wollen Sie dann wissen, daß sie funktioniert?« »Weil alle Gleichungen aufgegangen sind und ich die Berechnungen mehrfach überprüft habe. Sie sind fehlerfrei.« »Was soll man gegen eine solche Logik noch sagen«, meinte Brown sarkastisch. »Und Sie wollen auf diese Weise tatsächlich verstorbene Personen aus der Vergangenheit in die Gegenwart holen und quasi wiedererwecken?« »Ich nenne es Chronoportieren«, berichtigte Ferrer und nickte bekräftigend. »Allerdings will ich das. Aber nicht nur das! Es ist mir sogar möglich, noch lebende Personen in die Gegenwart zu holen und sie mit ihrem älteren Ich zu konfrontieren.« »Das ist doch blanker Unsinn«, regte sich Brown auf, dem die Spinnerei seines Kollegen allmählich auf die Nerven ging. »Sie wissen so gut wie ich, daß solche Zeitparadoxa unmöglich sind. Wenn Sie etwa mich aus einer zehn Jahre zurückliegenden Vergangenheit in unsere Gegenwart holen, dann hätten sie mich quasi meiner Existenzgrundlage beraubt. Sie hätten damit die Zeitlinie unterbrochen, und ich würde zu existieren aufhören. Wenn Sie also mein jüngeres Ich – ich sage wenn, wohlgemerkt – in die Gegenwart holen könnten, dann würde es mich ablösen. Eine Körperverdopplung gibt es dagegen nicht.« »Nach meiner Theorie aber schon«, erklärte Ferrer. »Ich gehe nämlich davon aus, daß jede Zeiteinheit, jede Sekunde oder noch weniger, ein eigenes Universum gebiert. Wenn ich eine Handbewegung oder einen Schritt mache, dann wird diese Bewegung, etwa wie bei einem Film, in Einzelbilder aufgelöst. Und jedes dieser Einzelbilder ist eine Welt für sich, mitsamt allen Geschehnissen überall in der Welt und im Universum, die 26
zum selben Zeitpunkt passieren. Die nächste Zeiteinheit, das nächste Einzelbild, ist aber schon wieder ein ganz anderes Universum. Zwischen diesen Chrono-Prints, den chronologisch aneinandergereihten Einzelbildern, liegt jene verbindende und regulierende Kraft, die wir Zeit nennen. Man muß diese Barriere überwinden, um an frühere Chrono-Prints zu gelangen. Das ist natürlich nicht ohne entsprechende technische Vorrichtung möglich. Mit meiner Zeitmaschine aber schon. Ich kann damit auf jedes zurückliegende Sekunden-Universum zurückgreifen und Gegenstände oder Personen daraus zu mir herüberholen, in die Zeit, aus der ich operiere. So logisch sich das anhört, so würden es leere Worte sein, könnte ich meine Theorie nicht beweisen. Wollen Sie einen Beweis sehen, Brown?« Brown gab sich seufzend geschlagen. Er blickte auf die Uhr: drei Minuten vor 17 Uhr 30. Die Vorlesung war ohnehin schon geplatzt, denn wenn er jetzt noch aufbrach, würde er vermutlich nur noch eine reichlich dezimierte Hörerschaft antreffen. Er würde den versäumten Stoff morgen nachholen. Und morgen würde das Heute schon 86 400 Universen in der Vergangenheit liegen. Eigenartige Zeitrechnung! »Führen Sie also schon Ihr Dingsda …, ihre Zeitmaschine vor.« Brown machte es sich auf einem altersschwachen, wackeligen Sessel bequem. Er fragte anzüglich: »Wie wollen Sie Ihr Experiment anlegen? Ich meine, haben Sie eine bestimmte Person im Auge? Eine bevorzugte Zeit?« Ferrer rüttelte an dem Gitterkäfig, offenbar um seine Festigkeit zu prüfen, und justierte dann den eigenartigen Feldstecher. »Sie haben Ihr um zehn Jahre jüngeres Ich erwähnt«, sagte Ferrer, ohne seine Geschäftigkeit an der Zeitmaschine zu unterbrechen. »Wie wäre es damit?« »Eine gute Idee«, rief Brown mit falscher Begeisterung aus. »Konfrontieren Sie mich mit meiner um zehn Jahre jüngeren Wenigkeit.« »Schon geschehen«, sagte Ferrer und legte einen Hebel um. 27
Während er durch den Feldstecher blickte, hob er mahnend den Zeigefinger der Rechten. »Ich muß natürlich zu einem Trick greifen, damit Ihr jüngeres Abbild länger als ein Universum lang von Bestand ist. Sie verstehen, Brown? Darum werde ich sozusagen eine chronologische Kettenreaktion auslösen.« »Genial!« sagte Brown hohntriefend. Er setzte sich im Geist bereits einen Text auf, mit dem er nach dem mißlungenen Experiment seine Schadenfreude ausdrücken würde. Ferrer ließ einen Zeiger an einer Skala einrasten, drückte einen Knopf und rief: »Jetzt!« Im selben Augenblick stand ein Double von Brown im Raum, das sich nur durch eine andere Kleidung und eine kaum merkliche Spur von Jugendlichkeit vom Original-Brown unterschied. »Das gibt es nicht!« rief Brown und verlagerte sein Gewicht auf dem wackligen Sessel so ungeschickt, daß er damit umkippte. »Ich werd’ verrückt!« schrie der frisch angekommene Brown, als er seinen älteren Doppelgänger sah. »Ich werd’ verrückt.« Ferrer kicherte belustigt. »Na, was sagen Sie nun, Brown? Warten Sie nur einen Moment. Es kommt noch eine kleine Überraschung …« Er widmete sich von neuem seiner Zeitmaschine. Plötzlich stand neben dieser Zeitmaschine eine weitere, und vor dieser saß ein zweiter Professor Ferrer und guckte durch den Feldstecher. Es befanden sich somit zwei Browns und zwei Ferrers mitsamt dazugehörigen Zeitmaschinen im Keller. Und es wurde ein bißchen eng. »Warum haben sie das getan?« fragte der ältere, Brown I, entsetzt, während sich Brown, der Jüngere, abwechselnd über die Augen wischte und sich an den Haaren riß und rief: »Ich träume bloß. Alles nur ein Traum!« 28
Der »alte« Ferrer aber stand an seiner Zeitmaschine und fragte stolz: »Na, was halten Sie nun von meiner Theorie, werter Kollege?« Bevor Brown etwas antworten konnte, trat genau das ein, was er befürchtet hatte. Der Ferrer, der vor kurzem mit einem Duplikat der Zeitmaschine »chronoportiert« war, produzierte mit stoischer Ruhe einen weiteren Brown. Brown III. »Um Gottes willen!« rief Brown I ahnungsvoll. »Stellen Sie die Kettenreaktion ab, Ferrer. Wenn jetzt noch …« Und da war er schon. Ferrer III mitsamt einer Zeitmaschine, die so gut funktionierte wie die beiden anderen. Sie lieferte einen neuen Beweis von der Richtigkeit von Ferrers Theorie, indem sie einen neuen Brown aus einem vergangenen Universum holte. Ferrer III kicherte und meinte: »Na, was sagen Sie nun, Brown? Warten Sie nur einen Moment. Es kommt noch eine kleine Überraschung …« Und da war sie auch schon. Der Keller war natürlich längst schon viel zu klein für die vielen neuen Chrono-Manifestation von Browns und Ferrers und die Staffel von Zeitmaschinen. Aber die Erde drehte sich und bot genügend Platz. Und die Browns und Ferrers und Zeitmaschinen nützten ihn weidlich aus. Sie materialisierten überall in schöner Regelmäßigkeit. Und sie verdoppelten und vervielfachten sich in jeder Sekunde. Sie wurden zu einer regelrechten Plage für die übrige Menschheit. Sie demonstrierten eine neue Variante von Bevölkerungsexplosion, und es dauerte nicht lange, da übertrafen die Browns und Ferrers die übrige Erdbevölkerung an Zahl. Und irgendwann bedeckten sie jeden freien Flecken der Erde. Aber ein Ende der Kettenreaktion war nicht abzusehen, denn es gab eine Unzahl von Ferrers, die immer wieder sagten: »Es kommt noch eine kleine Überraschung …«
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Der 13. Adam Walmis hatte Blut gebrochen, deshalb schickte ich ihn zur Krankenstation. So kam es, daß ich alle Instrumente allein bedienen mußte, als Eva von den Roboterarmen aus der Kälteschlafkammer gehoben wurde. Gerade bei den nachfolgenden Manövern gab es die meiste Arbeit, und ich konnte mich fast zerreißen, um Eva heil aus dem Kälteschlaf ins Leben zu bringen. Durch das dicke Quarzglas der Beobachtungsluke sah ich, wie Evas schlanker Körper von den Gelenkarmen sanft auf die Behandlungscouch gelegt wurde. Ich regulierte die ferngelenkte Herzmassage, mußte den aerostatischen Temperaturgeber auf die richtige Wärmestufe bringen und achtgeben, um den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, zu dem ich den Aeroduktor einschalten konnte; ich mußte die Luftfeuchtigkeit regulieren, die Strahlungsmenge dosieren und schließlich noch ein Dutzend andere Dinge tun. Das Ärgste war vorbei, die Starre war von Eva abgefallen und hatte einem natürlichen tiefen Schlaf Platz gemacht, als sich die Tür hinter mir öffnete und Schritte in die Kontrollstation kamen. Der Schweiß stand mir auf der Stirn, ich war erschöpft und ausgelaugt. Ohne mich umzudrehen, sagte ich gereizt: »Du hättest überhaupt nicht mehr zu kommen brauchen, jetzt, wo ich die Sache allein erledigt habe.« »Walmis kommt nicht mehr«, sagte jemand hinter mir, den ich nicht an der Stimme erkannte. Deshalb wandte ich den Kopf. Ein junger Bursche namens Peters stand da. Er war einer von den einfachen Handlangern, und ich hatte ihn schon einige Male zu Hilfsdiensten angefordert, wenn uns die Arbeit über den Kopf gewachsen war. Ich fragte ihn nicht, warum Walmis nicht mehr komme, es konnte nur einen Grund dafür geben. Ich bedauerte ihn nicht, eher gönnte ich ihm die Erlösung von sei30
nen Leiden. »Anerkennen Sie mich als Ihren neuen Assistenten?« fragte Peters. Ich murmelte nur irgend etwas Unverständliches, das er als Zustimmung auszulegen schien, denn aus den Augenwinkeln sah ich, wie er sich in den zweiten Kontrollsessel fallen ließ. Peters war als Assistent besser als jeder andere Ersatzmann. Von nun an hatte er nichts anderes mehr zu tun, als den Materieprojektor zu bedienen und auf meine Impulse zu reagieren. In dieser Arbeit kannte sich Peters aus, denn Walmis hatte ihn angelernt. Jetzt war Walmis tot. Sein Tod war kein besonderes Ereignis, denn fast täglich raffte die Pest irgend jemanden aus unserer Mitte dahin. Von den vierhundert Männern und Frauen, die vor zwanzig Jahren hier gelandet waren, lebten kaum noch fünfzig. Bossoko war die Hölle. Aber es war doch der erdähnlichste Planet, den wir hatten finden können. Bossoko unterschied sich nur in einem wesentlichen Punkt von der Erde und den hatten wir erst zu spät entdeckt, nämlich erst, nachdem wir alle verseucht waren. Ade, Menschheit, die letzten Vertreter deiner Rasse sehen auf Bossoko einem qualvollen Tod entgegen. Ade, Menschheit! Deine letzten Spuren im großen Universum verwehen auf Bossoko … Mit dem ersten Raumschiff verließen wir die Erde, um das All zu erforschen. Wir waren ein ausgesuchtes Team von Wissenschaftlern, hatten eine Unmenge technischen Materials zur Verfügung, und derart ausgerüstet, stürzten wir uns zuversichtlich in das bisher größte Abenteuer der Menschheit. Nach fünf Jahren wandten wir uns wieder dem heimatlichen System zu. Wir brachten so viel an Wissen und Erfahrungen mit, daß wir nach vorsichtigen Schätzungen zu dem Ergebnis kamen, die Auswertung werde die nächsten zwanzig Jahre in Anspruch nehmen. Wir sahen schon die jubelnden Massen vor uns, wenn 31
wir landeten, den folgenden Triumphzug durch das ganze Sonnensystem. Wir sahen es mit unserem geistigen Auge: Der Menschheit gehört die Zukunft. Was wir dann tatsächlich sahen, war grauenvoll. Es gab keine Menschheit mehr, und es gab keine bewohnbaren Planeten mehr in unserem Sonnensystem. Wir würden nie erfahren, wie es dazu gekommen war, aber schließlich war es nicht ausschlaggebend, wer die erste Bombe geworfen hatte; die Planetentrümmer sprachen eine beredte Sprache: Hier gab es keinen Funken Leben mehr. In dem Gefühl, die Gründer einer neuen Rasse zu sein, ließen wir uns auf der erdähnlichsten Welt nieder, auf die wir gestoßen waren, und benannten sie nach unserem Kapitän Bossoko. Und damit wurde vom Schicksal der Schlußstrich unter die Menschenrasse gezogen. Nur wir, eine Handvoll vom Tode Gezeichneter, wollten uns nicht ins Unabänderliche fügen, sondern wir starteten das Projekt Adam und Eva. Ich setzte mich vor den Materieprojektor, setzte mir die Kopfmaske auf, steckte die Anschlüsse, und als ich die Energiezufuhr eingeschaltet hatte, durchrieselten die sanften Stromstöße meinen Körper. Wir hatten alle eine gewisse Scheu voreinander entwickelt, und selbst Walmis und ich hatten ein stilles Abkommen getroffen, wonach wir nie über unsere Leiden oder unser Aussehen sprachen. Wir vermieden es nach Möglichkeit, uns gegenseitig anzusehen. Wenn wir Gesellschaft suchten, nahmen wir die Materieprojektoren zu Hilfe, projizierten uns menschliche Körper und gaben uns in den Gemeinschaftsräumen der Illusion hin, daß sich nichts geändert hätte. Aber wir machten immer weniger Gebrauch von den Materieprojektoren, sondern zogen uns in die Einsamkeit unserer Unterkünfte zurück. Indes beharrte ich darauf, Eva in menschlicher Gestalt gegenüberzutreten. Schließlich wollte ich sie nicht erschrecken, und es gab 32
auch noch einen anderen Grund. Ohne Peters anzusehen, sagte ich: »Du kannst anfangen.« »In Ordnung.« Diese jungen Kerle, die die Erde nie gesehen hatten und die mit der Pest groß geworden waren, hielten sich kaum an eines unserer Tabus. Und deshalb würde ich es Peters erst beibringen müssen, daß er mich nicht so unverwandt anstarrte. Ich spürte seine Blicke förmlich und wollte ihn streng zurechtweisen, aber da wurde mir auch schon schwarz vor Augen. Als die Phase abgeschlossen war, stand ich in der Gestalt eines Menschen vor Eva. Ich nahm sie von der Behandlungscouch und trug sie in die angrenzende Kabine. Dort zog ich ihr einen blauen Overall an und legte sie in die schmale Bettnische. Meine Hände zitterten. »Eva«, sagte ich, »Eva, du mußt aufwachen.« Ihre Mundwinkel zuckten ein wenig, dann drehte sie sich mit einem leisen Seufzer auf die andere Seite. »Eva«, wiederholte ich, diesmal etwas lauter, »du mußt aufwachen!« Ganz plötzlich öffnete sie die Augen. Langsam fuhr sie sich über die Stirn und wischte dabei eine Strähne ihres goldblonden Haares beiseite. Dann gähnte sie herzhaft, streckte sich und wischte sich über die Augen. Als sie die Hände in den Schoß legte, war ihr Blick ins Leere gerichtet. »Es ist immer noch derselbe Raum«, murmelte sie dazu. Jetzt sah sie mich an, und sie lächelte. »Bertie, ach wie schön, dich zu sehen, nach dieser langen, langen Zeit. Ich dachte, du wärest schon lange tot, wenn ich erwachte, und diese Vorstellung war schrecklich. Aber jetzt ist alles wieder gut.« Sie vertiefte ihr Lächeln und wies neben sich aufs Bett. »Komm, setz dich.« Schweigend tat ich das. Ich blickte sie an. Sie war noch immer jung und schön, während ich um zwanzig Jahre gealtert war und die Bossoko-Pest hatte. Aber das sah sie alles nicht an mir, weil ich in meiner früheren Gestalt zu ihr gekommen war. 33
Ja, sie war schön, und sie hatte sich nicht verändert. Ich liebte sie immer noch, obwohl ich wußte, daß sie für mich unwiederbringlich verloren war. »Ob du immer noch Grübchen hast, wenn du lächelst?« fragte sie. Ich tat ihr den Gefallen und lächelte. »Na also, jetzt wirkst du nicht mehr so bärbeißig.« Sie lachte. »Du darfst jetzt nicht zu lächeln aufhören, ich habe mich so darauf gefreut, all die Jahre …« »Es waren kaum sechs Monate«, sagte ich. »Wirklich? Wenn ich zurückdenke, macht es mich schauern. Aber das macht jetzt nichts, es ist alles gut.« »Eva«, sagte ich rauh, »du weißt doch, daß …« »Pst«, machte sie und legte mir ihren schlanken Zeigefinger auf die Lippen. »Zerstöre mir wenigstens nicht die Illusion.« Plötzlich weinte sie und lehnte sich gegen mich. Das Teuflische an der Materieprojektion ist, daß man in dem projizierten Körper alles genauso empfindet, als sei man es selbst; man stopft sein ureigenstes Ego in diesen Scheinkörper. Ich spürte Evas Berührung, und etwas verkrampfte sich in mir und rief schmerzlich alte Erinnerungen wach. Aber ich verjagte sie! Ich durfte nicht sentimental werden, nicht jetzt, wo fast alles dafür sprach, daß das Projekt diesmal klappte. Evas Tränen versiegten. Sie sagte: »Das wievielte Wecken ist das, Bertie?« »Das dreizehnte.« »Dreizehn ist eine garstige Zahl«, flüsterte sie. »Ich habe Angst davor.« »Du darfst nicht abergläubisch sein«, gab ich fast automatisch zurück. »Du hast offensichtlich recht, das darf ich nicht. Ich bin zu wertvoll.« »Du darfst nicht so sprechen.« »Aber es ist so. Ich bin eure einzige Kuh, von der ihr Kälber erwarten könnt.« 34
»Sprich nicht so bitter, Eva!« Sie lachte gekünstelt. »Ich darf wohl überhaupt nichts? Nicht leben und nicht einmal sterben, nichts erlaubt ihr mir. Aber ich muß in einem unterkühlten Gefängnis bleiben, in dem mein Körper tot ist, aber nicht mein Geist. Meine Gedanken sind da! Weißt du überhaupt, wie schrecklich es ist, Bertie, wenn die Gedanken wach sind, man sich aber nicht bewegen kann? Wenn man nichts sieht, keinen Körper hat und nicht weiß, ob man schon tot ist oder noch lebt? Es sind verzweifelte Gedanken, die sich einem da aufdrängen und denen man nicht entrinnen kann, weil sie das einzige Gegenwärtige sind. Es ist schrecklich, Bertie, es ist zum Wahnsinnigwerden!« »Keine Bange«, versuchte ich, sie zu trösten, »du kannst nicht wahnsinnig werden. Wir haben vorgesorgt.« »Keine Bange«, äffte sie nach. »Dabei hoffe ich manchmal auf den Wahnsinn. Vielleicht wäre er eine Erlösung. Aber ihr gebt mir keine Möglichkeit zu irgendeiner Flucht. Welch grausamer Fügung ist es zu verdanken, daß ausgerechnet ich dafür bestimmt bin?« »Das ist grausam?« stieß ich hervor. »Sei froh, daß du länger als wir anderen der Pest standhalten konntest, so war es möglich, dich noch rechtzeitig zu isolieren. Bestimmt ist deine Lage nicht sonderlich angenehm, aber gemessen an dem, was die anderen durchmachen, bevor sie sterben, hast du einen goldenen Käfig. Und schließlich kann dich der Gedanke beruhigen, daß du in absehbarer Zeit wieder ein normales Leben führen kannst, während wir hier jämmerlich zugrunde gehen. Als ich zu dir ging, habe ich mir vorgenommen, Abstand von jeglicher Phrase zu nehmen, aber du nötigst mich gerade dazu, dich zu erinnern, daß du die Mutter der neuen Menschheit sein sollst. Du bist unsere einzige Hoffnung!« »Hör doch damit auf!« schrie sie mich an, und in der nächsten Sekunde wurde sie von einem trockenen Schluchzen geschüttelt. »Entschuldige«, flüsterte sie nach einiger Zeit, »aber 35
ich habe Schreckliches hinter mir. Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst.« »Doch«, gestand ich kühl, »vor so viel Selbstmitleid kann ich mich ganz einfach nicht verschließen.« »Ja, ja, verhöhne mich nur, ich habe es nicht anders verdient. Aber es ist gut so, deine Therapie hat gewirkt, ich bin wieder in Ordnung.« »Das ist fein. Dann könnten wir zum Kern der Sache kommen.« Ich machte eine kurze Pause, in der ich Atem schöpfte, dann sagte ich: »Du mußt dich darauf vorbereiten, Adam gegenüberzutreten.« Mit offenem Mund starrte sie mich an. Aber ihre Augen waren voller Hoffnung. »Diesmal bin ich zuversichtlich, daß alles klappen wird«, fuhr ich fort. »Es bedarf nur noch eines kleinen Tests, dann haben wir Gewißheit.« »Und wenn er wieder versagt, wie zwölfmal vorher?« »Das glaube ich nicht, denn nach allen bisherigen Ergebnissen spräche ein Versager gegen alle Wahrscheinlichkeit. Ich glaube, ich kann schon jetzt sagen, daß Adam in Ordnung ist.« »Dann brauche ich nicht mehr in den Kälteschlaf zurück?« fragte sie fast ungläubig. »Du mußt nur noch einige Tage Geduld haben, aber du mußt nicht mehr zurück in den Kälteschlaf«, antwortete ich. »Hat das alles einen Sinn, Bertie?« fragte sie zaghaft. »Du solltest es wissen«, gab ich zurück. »Ich habe dir alles über das Projekt gesagt, und du weißt, daß wir eine gute Ausrüstung im Raumschiff hatten.« »Ja, sicher, ich möchte auch nicht zweifeln, sondern dieselbe Zuversicht empfinden wie du, aber schließlich habt ihr mich schon vorher zwölfmal geweckt, und immer war es ein Fehlalarm. Und ich frage mich eben, wieso es diesmal anders sein sollte.« 36
Es machte mich fast krank, daß ich sie belügen mußte, aber schließlich durfte sie die Wahrheit unter keinen Umständen erfahren. Sie hätte sie nicht ertragen. »Das ist einfach«, baute ich mein Lügennetz auf. »Adam war nicht so gut daran wie du. Als wir ihn isolierten, machten sich bei ihm schon kleinere Symptome der Pest bemerkbar. Du siehst wohl ein, daß wir alle Spuren der Pest erst ausmerzen mußten, bevor wir das Projekt starten konnten. Wir dürfen kein Risiko eingehen.« »Ich verstehe schon«, sagte sie. »Adam und ich, wir sind die letzten beiden Menschen.« Ich sah sie an, bemerkte in ihrer Miene aber keine Spur von Sarkasmus. Ich fuhr fort: »Leider ging die anderen zwölf Monate immer irgend etwas schief, und wir weckten dich umsonst. Der Kälteschlaf war notwendig, weil wir ja nicht wollten, daß du eine Greisin bist, wenn wir dich mit Adam auf einer Welt aussetzen.« Ich lachte, aber sie wurde davon nicht angesteckt. »Aber jetzt«, endete ich, »steht dem Wechsel von der Theorie in die Praxis nichts mehr im Wege; wir haben aus unseren Fehlern gelernt, und Adam ist ein Prachtbursche, jedenfalls der gesündeste und vitalste Mensch, dem ich je begegnet bin.« »Er heißt doch nicht wirklich Adam?« fragte Eva. »Nein«, gab ich zurück, »wir nennen ihn nur so. Es soll ein neuer Anfang sein. Und Adam und Eva, das paßt doch wunderbar.« Jetzt lachte sie. »Es ist kitschig.« »Laß uns diese kleine Freude. Später kannst du ihn dann nennen, wie es dir Freude macht.« »Auch Bertie?« Ich benetzte mir die Lippen. »Das bleibt dir überlassen. Allerdings hat er ja einen Namen, aber ich darf nicht sagen, wer es ist.« Sie lächelte still in sich hinein und kuschelte sich an mich. Ein unbestimmtes Gefühl beschlich mich, eine Ahnung, die ich 37
nicht näher zu ergründen versuchte. Ich fürchtete mich davor. »Du Dummer«, sagte Eva glücklich, »glaubst du, ich habe nicht schon längst alles durchschaut?« »Tatsächlich?« sagte ich beklommen. »Natürlich.« Ihre Hand umfaßte mich, und sie drückte mich fest. »Du konntest es mir nicht verheimlichen, eine Frau fühlt diese Dinge. Du bist ein miserabler Schauspieler.« »Wie meinst du das?« »Deine Absichten waren ja gut«, sagte sie. »Du wolltest mich in Ungewißheit lassen, um mir keine falschen Hoffnungen zu machen. Aber jetzt, wo du gesund bist, können wir dem Versteckspiel doch ein Ende machen, meinst du nicht?« Ich sprang auf, ich taumelte. Sie starrte mich erschrocken an. »Was hast du?« fragte sie. »Eva«, stammelte ich, »du bist kein Kind mehr, du bist achtundzwanzig, deshalb kann ich dir deine Illusion nicht lassen, die du dir so verzweifelt aufgebaut hast.« Ich sprach schnell und gab ihr keine Gelegenheit, mich zu unterbrechen. »Du bist kaum gealtert, während ich ein alter Mann bin. Sieh doch der Tatsache ins Auge. Ich bin nicht Adam!« »Aber ich dachte …« Jedesmal, wenn Eva aus dem Kälteschlaf geweckt worden war, hatte sie nur mit mir Kontakt gehabt, und sie mußte immer mehr zu der Überzeugung gekommen sein, daß ich derjenige sei, der mit ihr auf einer Welt ausgesetzt werden sollte. Obwohl ich ihr immer wieder gesagt hatte, daß ich in projizierter Gestalt bei ihr erscheine, war sie wohl anderer Überzeugung geworden; sie hatte sich die Zukunft so ausgemalt, wie sie ihr am angenehmsten wäre. »Ich bin nicht Adam«, wiederholte ich. Die Gefühle brachen so rasch aus ihr, daß ich nicht gefaßt darauf war. Sie warf sich an meine Brust und preßte sich gegen mich, und während sie dermaßen physischen Halt suchte, erkannte ich, daß sie nicht imstande war, von ihrem Wunschbild 38
loszukommen. Sinnlose Worte sprudelten über ihre Lippen. Sie konnte sich nicht mit dem Gedanken abfinden, daß sie künftig ein ihr fremdes Wesen lieben sollte. Es war eine problematische Situation, die niemand vorhergesehen hatte. Es gab nur einen Ausweg; ich mußte ihr deutlich vor Augen führen, daß eine Verbindung zwischen uns beiden undenkbar war. Ich setzte mich mit Peters in Verbindung, und er handelte. Unter Evas Händen ließ er die trügerische Projektion zerfließen und bildete meine jetzige Gestalt. Ungläubig wich sie zurück. Ihr Gesicht wurde unnatürlich blaß. Grenzenloses Entsetzen sprang mich aus ihren Augen an, und ich dachte, daß ich diese Blicke mein Leben nie vergessen würde. Ich löste die Projektion auf. Ohne auf irgend etwas oder jemanden zu achten, verließ ich die Kontrollstation, ging hinüber zu den Baracken, in denen sich die Unterkünfte befanden, und schloß mich in mein Zimmer ein. Wir kannten keinen Komfort, aber unter meinem Kopfkissen lag ein Gegenstand, der in diesem Augenblick für mich von unschätzbarem Wert war: ein Taschenspiegel. Ich zog ihn hervor und blickte hinein. Ein Gesicht mit bläulicher Haut sah mir entgegen, die Augen lagen eingebettet zwischen gesprungenen Beulen, die geschwollenen Lippen… Ich zerbrach den Spiegel und begann zu toben. Als zwei Krankenaufseher kamen und mich in eine Zwangsjacke steckten, war ich zu müde, um an Gegenwehr zu denken. Sie sperrten mich in eine kleine Zelle. Draußen hörte ich Doc Pfleger sagen: »Es war eine Schnapsidee, Bert als Evas Kontaktmann zu bestimmen. Aber auf mich hört ja niemand …« Es fiel nicht schwer, mich zu beruhigen. Ich begann, mein Verhältnis zu Eva nüchterner zu betrachten. Früher, im Raumschiff, bevor wir noch auf Bossoko gelandet waren, war sie 39
meine Geliebte gewesen. Aber jetzt hatte ich ganz einfach kein Anrecht mehr auf sie, das war klar. Es war ganz einfach notwendig, daß Eva ein für allemal von mir loskam, und da sie nun mein wirkliches Aussehen kannte, würde es nicht mehr lange dauern, bis sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte. Obwohl meine Erregung abgeklungen war und ich meinen normalen Dienst ohne weiteres hätte antreten können, machte es mir nichts aus, noch einige Zeit eingesperrt zu bleiben. Weiß Gott, ich konnte ein wenig Ruhe gebrauchen, und Doc Pfleger würde mich schon beizeiten herauslassen, denn sie brauchten mich für Adam. Für Adam, der dazu ausersehen war, mit Eva auf einer anderen Welt ausgesetzt zu werden. Es war ein Planet mit erdähnlichen Bedingungen, in einem Sonnensystem, das vierzig Lichtjahre von Bossoko entfernt war. Es war alles schon vorbereitet, und das Projekt konnte in seine Endphase treten, nur Adam mußte noch einige Tests über sich ergehen lassen. Aber ich war überzeugt, daß er sie bestehen würde. Adam war kein Mitglied unserer Mannschaft, das zufällig auch von der Pest verschont geblieben war – so lautete nur die Version für Eva. Adam gehörte nicht zu uns, er war nicht einmal ein Mensch, sondern ein synthetisches Geschöpf, das ich ins Leben gerufen hatte. So wie seine zwölf Vorgänger war auch er ein künstliches Wesen, aber das durfte Eva nie erfahren. Sie sollte glauben, Adam sei ein junger Mann, ein Mensch, der durch einen glücklichen Zufall von der Bossoko-Pest verschont geblieben war. Aber Adam war nach menschlichem Vorbild geschaffen worden, nichts an seiner äußeren Erscheinung unterschied ihn von einem Menschen. Und doch gab es Unterschiede an ihm. Wir waren nämlich zu dem Entschluß gekommen, daß der Mensch in seiner jetzigen Form nur bedingt lebensfähig wäre, wenn er sich auf fremden Welten niederließe. Um die größtmöglichen Überlebenschancen zu gewährleisten, gaben wir Adam einige zusätzliche Organe und züchteten ein großzügige40
res Gehirn, mit dem gleichen Volumen wie das menschliche, aber mit einer viel größeren Kapazität und mit fast uneingeschränkten Lernkreisen. Auf Grund dieser zusätzlichen Wirkungsbereiche konnte Adam Fähigkeiten erlangen, die für den Menschen nur theoretisch möglich gewesen wären. Doc Pfleger jedenfalls war der unbedingten Meinung, daß Adam innerhalb kurzer Zeit parapsychische Talente entwickeln würde. Natürlich war Adams Existenz nicht mir allein zu verdanken, obwohl er von mir allein erschaffen worden war. Aber mir stand ein auserlesenes Team zur Seite, das sich aus Biologen, Psychologen, Pädagogen und noch einem halben Dutzend von Vertretern aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen zusammensetze. Sie alle hatten es in vorbildlicher Zusammenarbeit möglich gemacht, einen synthetischen Mann zu schaffen, der der Stammvater der neuen Menschheit sein konnte. Eben war ich alle Für und Wider noch einmal durchgegangen und zu dem Schluß gekommen, daß wir unserer Lage gemäß richtig gehandelt hatten. Wenn Adam die letzten Tests bestanden hatte, dann würden wir ihn mit Eva im Raumschiff fortschicken. Ich dachte an Eva, ich dachte intensiv an sie. Und als ich eingeschlafen war, träumte ich von ihren Augen, aus denen die Panik schrie, und ein Wort hämmerte sich mir ein, das ihre stummen Lippen monoton formten: »Monstrum! Monstrum!« Die Geräusche eines schnappenden Schlosses weckten mich aus diesem Alptraum. Ich öffnete die Augen, und Doc Pfleger stand vor mir; ich senkte den Blick. Er befreite mich aus der Zwangsjacke. »Wie fühlen Sie sich?«fragte er mich. »Danke, gut.« »Das habe ich mir gedacht. Sie haben eine Roßnatur«, gab er leise zurück. »Dann sind Sie wieder einsatzfähig?« »Ich denke schon.« Ich konnte die Frage nicht mehr für mich behalten, die sich immer mehr in meinem Bewußtsein nach vorn drängte: »Wie hat Adam den Test bestanden?« 41
Als ich die Hand schon auf die Klinke gelegt hatte, um sie niederzudrücken, überlegte ich noch schnell, wie ich Adam gegenübertreten sollte. Nicht, daß es von besonderer Bedeutung gewesen wäre, aber ich arbeitete gern nach einem Konzept; ich entschloß mich für schonungslose Offenheit. Ich öffnete die Tür und sagte: »Du mußt sterben, Adam.« Es klang sehr oberflächlich, fast banal. Bei meinem Eintritt war Adam aus dem Bett gesprungen und hatte sich mit seinem ausdrucksstarken Gesicht zu mir gewandt, auf dem ich deutlich sein Hoffen und Bangen lesen konnte. Jetzt zeigte er Verblüffung, Fassungslosigkeit. Kraftlos und niedergeschlagen ließ er sich aufs Bett zurücksinken. Leise machte ich die Tür hinter mir zu und betrachtete ihn wortlos. Er hatte einen dunklen Teint und schwarzes Haar, sein Körper war wohlproportioniert, schlank und sehnig. Er war tatsächlich ein Meisterwerk. Er trug eine leichte Uniformhose und -bluse. Nach einer endlosen Minute des Schweigens, in der er reglos dagesessen hatte, begann er endlich zu reden. »Setz dich doch«, sagte er. Ich zog mir einen Sessel heran und ließ mich hineinfallen. Er sah mich mit großen Augen ab. »Warum?« fragte er. Ich zuckte die Schultern. »Ich war beim Test nicht dabei, deshalb weiß ich nicht, was es war. Aber schließlich kommt es darauf nicht an. Es wurden Mängel festgestellt, das genügt.« »Und doch kommt es darauf an«, murmelte er. »Es kommt sogar sehr darauf an, daß ich weiß, welcher Art diese Mängel sind. Du erinnerst dich doch daran, Bert, als du einmal sagtest, daß ich nach und nach außersinnliche Fähigkeiten an mir feststellen würde. Damals hielt ich es für bloßes Gerede.« Mein Rücken versteifte sich unmerklich, als ich ihn fragte: »Hast du schon welche an dir festgestellt?« Er nickte. »Es ist nichts Überwältigendes, nur die Gabe, mich 42
selbst unter die Lupe nehmen zu können, oder, wenn du willst, nenne es eine Art inneres Auge, ein Röntgenauge, womit ich meine körperlichen und geistigen Funktionen überprüfen kann. Ich habe mich unter vollkommener Kontrolle! Und deshalb überrascht es mich besonders, daß Mängel an mir festgestellt wurden, wo ich doch selbst keine entdecken konnte. Ist das nicht seltsam?« Ich lächelte geringschätzig. »Du willst damit ausdrücken, daß keineswegs du dich geirrt hast, was? Du fühlst dich als Übermensch!« Er überging den Spott. »Wenn du mich einen Menschen nennen willst – danke schön. Aber diese Entscheidung kann ich nicht verstehen. Ich bin vollkommen in Ordnung, Bert. Aus welchem Grund wollt ihr mich töten?« »Dir geschieht kein Unrecht«, sagte ich. »Möglich, aber dann hat sich wahrscheinlich die Prüfungskommission geirrt. Ich sage dir, daß ihr einen unverzeihlichen Fehler begeht, wenn ihr mich tötet.« Ich erhob mich. »Das Urteil ist unwiderruflich. Das wollte ich dir sagen.« Er sah mich bleich an. »Du willst mich jetzt alleinlassen? Jetzt?« »Natürlich«, meinte ich kalt. »Ich muß an mich denken, deshalb kann ich mir mit dir kein Mitleid leisten. Bis jetzt war ich zu dir wie ein Freund, aber das hat nun ein Ende.« Er schien verwirrt, und er stammelte: »Das kannst du? Du kannst von einer Sekunde zur anderen unsere Freundschaft vergessen?« »Ich habe einen Job, Adam, vergiß das nicht, und ich habe ein Ziel. Du kennst es. Und du bist nicht der erste synthetische Mann, den ich ins Leben gerufen habe, ich produziere sie sozusagen am Fließband. Ich züchte euch, und ich muß euch wieder töten. Diese Arbeit ist schmutzig, aber niemand nimmt sie mir ab. Deine zwölf Vorgänger waren Versager, und du bist nicht 43
mehr wert als sie.« »Das stimmt nicht«, begehrte er auf. »Ich fühle, daß ich in Ordnung bin.« »Das haben die anderen auch gesagt.« Ich wandte mich zum Gehen. »Halt!« schrie er mir nach. »So leicht mache ich es dir nicht.« Er bebte am ganzen Körper. Seine Hände zitterten, seine Lippen zuckten; er knetete seine Finger und biß sich auf die Lippen. Er hatte sich schnell darauf beruhigt. Er sagte: »So leicht mache ich es euch wirklich nicht, ganz bestimmt nicht. Ihr habt mich zum Leben erweckt, habt aus mir einen Menschen gemacht, ich denke und fühle, ich fühle, Bert, und schließlich habt ihr auch noch den Selbsterhaltungstrieb in mich gepflanzt. Einen sehr ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb. Und du hast mir Rechte zugesichert, Bert. Du erinnerst dich doch daran? Menschenrechte?« »Und?« »Ich beanspruche sie jetzt.« »Das kannst du nicht, denn du bist ein mißratenes Stück künstliches Leben, nicht mehr.« Er ließ die Schultern sinken und stieß die Luft pfeifend durch die Nase. Leidenschaftslos sprach er jetzt: »Ich habe dir nur meinen Standpunkt zu erklären versucht, ohne auf euch einzugehen. Aber deine Ignoranz kennt keine Grenzen. Wofür haltet ihr euch eigentlich? Für Götter? Aber das schlagt euch aus dem Kopf, denn das stimmt ganz und gar nicht. Ihr seid nichts weiter als arme Teufel. Ihr wart Menschen, jetzt hat euch das Schicksal einen üblichen Streich gespielt, und ihr seid es nicht mehr. Und das dürfte sich auch auf euer Denken geschlagen haben, denn ihr seid verbittert und weltfeindlich. Ihr wolltet einen Menschen schaffen, der euch den Fortbestand eurer Rasse garantieren sollte. Aber das könnt ihr nicht, weil ihr im Unterbewußtsein auf das von euch erschaffene Geschöpf eifersüchtig 44
seid. Ihr sagt, daß euch die Rasse über alles geht, belügt euch dabei aber selbst, denn im Innersten haßt ihr den Adam, den ihr erschaffen habt, weil er mehr Mensch ist als ihr.« Ich hatte ihn angehört, jetzt ging ich zur Tür und griff nach einem kaum sichtbaren Knopf neben dem Lichtschalter. Ich wollte ihn drücken. »Einen Augenblick, was soll das?« Ich sagte: »Keine Angst, es nimmt dir nicht das Leben. Ich möchte dir nur etwas zeigen. Da!« Ich deutete auf die gegenüberliegende kahle Wand, die plötzlich in einem gedämpften Licht erstrahlte. Kleine Lichtpunkte entstanden, und dann schien das Weltall ins Zimmer zu springen. »Das ist ein Bildschirm, Adam«, sagte ich. Er starrte den Bildschirm, der die ganze Wand einnahm, regungslos an, langsam drehte er sich dann zu mir um. Ich erklärte: »Du bist ein Narr, Adam. Ja, wir haben unbestreitbar einen Supermenschen aus dir gemacht, mit viel Intelligenz und Begabung und mit schlummernden übermenschlichen Fähigkeiten. Aber du hast keinerlei Lebenserfahrung und bist deshalb naiv wie ein Neugeborenes. Glaubst du, wir konnten uns deine Reaktion auf das Todesurteil nicht an den Fingern ausrechnen? Wir wissen doch über deinen Selbsterhaltungstrieb Bescheid. Nein, du würdest dich nicht so ohne weiteres töten lassen, und möglicherweise kämen dir deine parapsychischen Fähigkeiten rechtzeitig zu Hilfe. Darauf wollten wir es nicht ankommen lassen. Wie du siehst, haben wir vorgesorgt. Wir haben dich eingeschläfert, ins Raumschiff gebracht und sind gestartet. Jetzt sind wir bereits etliche Lichtjahre von Bossoko entfernt, und wir steuern geradewegs auf eine Sonne zu. Glaubst du mir nicht?« Ich schaltete durch eine Vierteldrehung des Knopfes den Heckbildschirm ein. Ein anderer Teil des Weltraums erschien auf dem Bildschirm. Ein Stern fiel besonders auf; heller als alle anderen strahlte sein Licht. »Das Raumschiff ist nicht mehr von diesem Kurs abzubrin45
gen«, fügte ich lakonisch hinzu. Er starrte wortlos auf die Bildschirmwand. Ich fragte: »Gefällt dir die Situation nicht? Nun, du kannst dich innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden daran gewöhnen. Diese Zeit bleibt dir noch.« Adam sah mich an. »Ich gebe mir eine Chance«, sagte er. »Ich gebe dir keine.« »Das ändert nichts«, gab er gelöst zurück. »Ich bin so zuversichtlich, daß ich gerne mit dir darüber spreche.« »Besser nicht, ich könnte lachen.« »Sieh mal«, begann er, nachdem er es sich auf dem Bett bequem gemacht hatte. »Ihr werdet das Raumschiff nicht in die Sonne stürzen, weil ihr euch nicht leisten könnt, es zu verlieren. Es ist eure einzige Verbindung zu den Sternen. Meine Überlegung ist doch logisch? Aber weiter. Ich nehme also ziemlich berechtigt an, daß ihr mich nur blufft, um mich zu einer Dummheit zu verleiten. Wahrscheinlich sind meine zwölf Vorgänger ahnungslos in diese Falle getappt, doch ich werde mich hüten. Aber da ist noch ein Punkt, der mich hoffen läßt und meine Theorie erhärtet. Du befindest dich nämlich auf dem Raumschiff, und obwohl du keine besondere Lebenserwartung haben kannst, glaube ich nicht, daß du dich so ohne weiteres opferst. Du hängst an deinem Leben wie jeder andere Mensch auch. Aber selbst wenn ich da irre und du eine größere Opferbereitschaft hast, dann bleibt immer noch das Raumschiff.« »Du hast dir da ein Kartenhaus aufgebaut, das jeden Augenblick zusammenstürzen kann«, sagte ich. »Noch steht es.« »Nicht mehr lange. Zum Beispiel möchte ich dich daran erinnern, daß nicht ich vor dir stehe, sondern nur eine Materieprojektion.« Er ließ sich nicht erschüttern. »Ich gehe von der Voraussetzung aus, daß ihr nicht über Lichtjahre hinweg projizieren könnt. Ich nehme also an, daß du dich auf dem Schiff verbirgst.« 46
»Das ist dein erster Irrtum. Mein Körper befindet sich auf Bossoko. Aber das ist nicht der einzige Punkt, mit dem ich deine Theorie ad absurdum führen kann.« Adam hatte seine Ruhe wieder vollkommen zurückgewonnen; in seinem Gehirn mußte es fieberhaft arbeiten. Der Mensch brauchte ungefähr an die zwanzig Jahre, um zu geistiger Reife zu gelangen. Adam dagegen war erst vor einer Woche fertiggestellt worden, und obwohl er sich noch im Lernstadium befand, konnte er jeden Menschen in den Schatten stellen. »Du hast richtig vermutet«, sagte ich. »Was habe ich richtig vermutet?« »Daß du keinerlei Mängel aufweist. Der Test war sehr zufriedenstellend!« Er war überrascht, aber offensichtlich mehr über meine Offenheit als über die Tatsache, daß er keinerlei Mängel aufweise. Er meinte: »Dann habe ich wahrscheinlich auch mit meinen anderen Vermutungen recht. Ihr seid verbittert über euer Los und neidet es einem künstlichen Wesen, das Erbe der Menschheit abzutreten. Ich frage mich, warum ihr dann überhaupt das Projekt begonnen habt. Aber das ist nun unwesentlich. Ich bin euch zu gut gelungen. Ha, ist das nicht paradox? Aber es wundert mich, daß du dich mit einer Großartigkeit schmückst, die nicht am Platz ist. Ich sehe jetzt nur meine Vermutung bestätigt.« »Ja, du siehst deine Vermutung bewiesen, aber du bist keinen Gedanken bis zur letzten Konsequenz durchgegangen«, sagte ich und stellte fest, daß sich seine Stirn umwölkte. Ich fuhr fort: »Das hättest du tun sollen. Wir haben es getan.« »Und wie sieht diese letzte Konsequenz aus?« fragte er mit wenig Interesse. »Es ist die Wahrheit, daß das Schiff durch Fernlenkung in diese Sonne gestürzt wird«, sagte ich. »Wir brauchen es nicht mehr, weil wir das Adam und Eva-Projekt aufgeben.« Ich konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem Buch; er 47
war nicht davon überzeugt, daß ich die Wahrheit sagte, aber er hoffte jetzt auch nicht mehr aufs Gegenteil. Er war sehr unsicher. »Aber Bert«, sagte er etwas lahm, »was soll das bedeuten? Du sagst, ich sei naiv, aber so naiv wieder nicht. Ich kann nicht einsehen, daß euer Rassebewußtsein kleiner sein soll als eure Selbstsucht. Ihr würdet nicht das ganze Projekt so ohne weiteres über den Haufen werfen. Zumindest nicht endgültig aufgeben. Mir scheint, du willst mich nur verwirren. Du mußt doch zugeben, daß du dir mehr als einmal widersprochen hast. Auf jeden Fall bin ich der Meinung, daß ihr alles daransetzen werdet, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. So ist es doch?« »Natürlich, Adam, so ist es. Aber hast du schon daran gedacht, wie wir uns den zukünftigen Menschen vorstellen?« »Quäle mich nicht mit einem neuerlichen Ablenkungsmanöver« , sagte er nur unwirsch. »Ich will dich nicht ablenken«, gab ich zurück. »Ich will dir dieses eine noch erklären, dann überlasse ich dich dir selbst. Eigentlich gibt es da nicht viel zu erklären. Du selbst hast doch gesagt – ich muß leider wieder darauf zurückkommen –, daß wir mit unseren synthetischen Geschöpfen nicht zufrieden sind. Lassen wir jetzt die Frage nach dem Warum. Aber wenn wir mit unseren künstlichen Geschöpfen unzufrieden sind, dann liegt es doch auf der Hand, daß wir einen anderen Ausweg versuchen. Und warum, warum, sollen wir nicht versuchen, gegen die Bossoko-Pest anzukämpfen! Wir haben das Problem bis jetzt ganz einfach von der falschen Seite angepackt, weil wir uns daran geklammert haben, daß die neue Menschheit so aussehen würde wie die vergangene. Aber das ist nicht nötig. Geht dir jetzt ein Licht auf?« »Allerdings«, sagte er in Gedanken. »Aber das kann doch nicht euer Ernst sein!« »Warum nicht?« »Weil man doch meinen sollte, daß man die Brücken zum 48
früheren Leben nicht so einfach hinter sich zerstören kann. Aber vielleicht hat die Pest tatsächlich Ungeheuer aus euch gemacht … Und was soll aus dem Mädchen werden, aus Eva?« »Sie befindet sich ebenfalls irgendwo auf dem Schiff. Du kannst sie suchen, wenn du willst. Möchtest du noch irgend etwas?« »Laß mich allein.« Ich löste die Projektion auf. Auf Bossoko sprach ich meinen Bericht auf Band und projizierte mich wieder zurück ins Schiff. Adams Kabine war leer. Ich erschrak. Ursprünglich hatte ich mir ausgerechnet, daß mir noch genügend Zeit bleiben würde, um noch ein wenig zu schlafen. Aber das erwies sich nun als Trugschluß, denn entweder waren keine achtundvierzig Stunden mehr Zeit gewesen, als ich zu Adam gekommen war, oder was weiß ich. Jedenfalls war ein Aufenthalt im Schiff nur noch eine Stunde möglich, sollte man keinen Schaden nehmen. Die Temperatur war angestiegen. Auf dem Bildschirm war die Zielsonne zu einem kürbisgroßen glühenden Ball angeschwollen. In vier bis fünf Stunden würde das Schiff verglühen. Ich schaltete den Bildschirm ab. Aus der dunklen Mattscheibe glotzte mich ein formloses Wesen an. Ich war in meiner wirklichen Gestalt ins Schiff zurückgekehrt. Eine ungeheure Spannung hatte sich meiner bemächtigt. In einer Stunde würde jegliches Leben in diesem Raumschiff unmöglich sein. Vielleicht wäre Adam geschickt genug, die Kühlanlage einzuschalten. Er könnte dadurch eine weitere Stunde herausschinden, aber mehr nicht. Ich war gespannt darauf, was er bis jetzt unternommen hatte. Vielleicht würde ich Spuren finden und vielleicht sogar ihm selbst begegnen. Ich verließ Adams Kabine und schritt den Korridor entlang. 49
Als ich den Navigationsraum betrat, entfuhr mir ein überraschter Ausruf. Der Navigationsraum war ein einziges Chaos. Es war klar, was Adam damit bezweckt hatte: Er wollte durch diese systematische Zerstörung erreichen, daß das Schiff auf einen anderen Kurs käme. Aber es war ein aussichtsloses Unterfangen gewesen. Ich betrachtete mir die Verwüstung und kam zu dem Schluß, daß Adam es durch Muskelkräfte niemals geschafft hätte. Er hatte mit der Kraft seines Geistes gewütet. Ich verließ den Navigationsraum. Welche Talente hatte Adam noch entdeckt? Wäre es ihm vielleicht möglich, mir zu schaden, obwohl mein eigentlicher Körper auf Bossoko war? Wenn er blindwütig genug war, traute ich ihm eine Attacke zu. Ich ging zum Maschinenraum. Als ich das Schott öffnete, bot sich mir ein ähnliches Bild wie in der Navigation; das zehn Meter hohe und fünfzig Tonnen schwere Hyperaggregat war in der Mitte gespalten, die zylindrischen Tanks für den Flüssigkeitstreibstoff waren ausgeflossen, und die Schubmotoren für den innerplanetaren Verkehr lagen verstreut umher. Aber auch das hatte Adam nichts genützt. Eigentlich glaubte ich nicht daran, Adam oder Eva noch anzutreffen. Trotzdem suchte ich Evas Kabine auf. Eva war da. Allein! Mir zog es das Herz zusammen bei ihrem Anblick, und ich achtete überhaupt nicht darauf, daß sie zu schreien begann, als sie mich sah. Ich blieb an der Tür stehen und rief: »Eva, wo ist Adam?« Sie starrte mich an, aber ihr fehlte die Kraft, um weiterzuschreien. Plötzlich stand er neben mir. Er war mitten in der Luft materialisiert. Schnell ging er zu Eva und drückte sie fest an sich. Ich konnte mir nichts vormachen; der Anblick dieser beiden Menschen, die wie füreinander geschaffen waren, schmerzte mich doch. Aber trotzdem empfand ich auch eine tiefe Befriedigung. 50
Adam sah mich an, mit einem Blick, in dem grenzenloses Mitleid zu lesen war. Er sagte: »Ich kann jetzt nicht mehr hassen, das ist vorbei. Aber ich fühle auch keine Dankbarkeit, Bert. Ihr seid mir gleichgültig. Wenn du zurückkehrst nach Bossoko, dann kannst du sagen, daß der Anschlag auf unser Leben mißlungen ist. Ich fühle keinen Triumph, sondern bin froh, daß Eva und ich nicht zu sterben brauchen, sage das deinen Kameraden.« »Wovon sprichst du?« fragte ich. Er lächelte. »Von der letzten Konsequenz, Bertie. Habt ihr sie nicht bedacht? Das wundert mich aber. Du selbst hast doch oft betont, daß ich die Möglichkeit hätte, ungeahnte Fähigkeiten an mir zu entdecken. Wenn du davon überzeugt warst, warum hast du nicht daran gedacht, daß mir dadurch vielleicht eine Fluchtmöglichkeit gegeben würde? Ich spreche von der unbegrenzten Macht des Geistes, Bertie. Die Sonne da, sie ist kein Schreckgespenst mehr. Aber sie war eine Gefahr, die mir Angst einjagte. Die Furcht war es auch, die mich anspornte. Ich wußte, daß wir beide sterben würden, wenn ich nicht meine Fähigkeiten entdeckte. Ohne das Damoklesschwert über mir hätte ich sicher länger gebraucht, und deshalb sollte ich euch vielleicht dankbar sein. Aber ich kann mir dieses Gefühl nicht für euch abringen.« Ich schämte mich unter seinem Blick, und ich fühlte mich elend, weil Eva mich mit Abscheu betrachtete. Dann wandte sie sich von mir ab und klammerte sich wieder hilfesuchend und zugleich zärtlich an Adam. Ich hörte Adam fortfahren: »Es gibt einen Planeten in diesem System, der für Menschen bewohnbar ist. Ich komme eben von dort. Ist das nicht gewaltig, Bertie? Allein mit der Kraft des Geistes Millionen Kilometer zu überbrücken? Es ist eine blühende Welt, ein Paradies, und es wird kein zweites Bossoko geben. Ich habe den Planeten gründlich untersucht. Auch habe ich schon Zukunftspläne gesponnen. Es ist eine glückliche 51
Schicksalsfügung, daß ihr euer Raumschiff verliert. Ich glaube, daß ihr andernfalls womöglich blinde Rache genommen hättet, und wer weiß, dann hättet ihr uns vielleicht die Pest gebracht. Deshalb ist es zufriedenstellend, daß wir keine Verbindung mehr zu euch haben.« »Du hältst die Menschheit für so schlecht?« fragte ich verbittert. »Nicht für schlecht eigentlich«, gab er zurück, »aber ihr könnt euch nicht unter Kontrolle halten. Ihr seid zu impulsiv, und das wäre womöglich verhängnisvoll.« Eva war schreckensbleich. Sie hatte sich von dem Schock, den ihr mein plötzlicher Anblick verursacht hatte, noch nicht erholt. Adam nahm ihre Hand und umfaßte sie. »Ihr habt viele Fehler begangen«, sagte Adam wie zum Abschied. »Wir wollen sie vermeiden.« »Hoffentlich gelingt es euch«, wünschte ich aus ganzem Herzen. Seine Augen sahen mich an, und sie sagten: Du wünschst uns viel Glück? Dabei hat euer ganzer teuflischer Plan nur auf unseren Tod hingezielt! Wie seltsam, das verstehe ich nicht. Und als hätte er die Worte tatsächlich ausgesprochen, antwortete ich instinktiv: »Du bist ein Supermensch, aber so naiv, so sehr naiv …« Auf seinem Gesicht stand noch immer grenzenlose Verblüffung, als er sagte: »Komm, Eva.« Beide entmaterialisierten. Jetzt war ich allein im Raumschiff. Die Luft hatte eine Temperatur von 50 Grad Celsius, aber ich konnte mir noch leisten, einige Minuten zu bleiben. Ich dachte nach und kam zu dem Schluß, daß wir gute Arbeit geleistet hatten. Wir hatten Eva zwanzig Jahre lang vor der Pest isolieren können; nach zwölf vergeblichen Versuchen hatten wir ein absolut lebensfähiges Geschöpf erschaffen, und dieses Geschöpf hatten wir dadurch, daß wir es mit der Gefahr konfrontierten, aus seiner Reserve 52
gelockt – Adam hatte seine parapsychischen Fähigkeiten unter Kontrolle. Er hatte das Raumschiff verlassen, das Raumschiff, das in wenigen Minuten in der Sonne verglühen würde. Auch das war unbedingt notwendig gewesen, damit alle Spuren nach Bossoko verwischt waren. Und wenn hier, in diesem System, die ersten Samen der neuen Menschheit heranreiften, dann würden auf Bossoko schon lange alle Spuren menschlichen Lebens verwischt sein. Im Raumschiff wurde es bereits höllisch heiß. Ich löste die Projektion auf und kehrte zurück in eine andere Hölle.
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Safari zu den Sternen Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber schon lastete eine unerträgliche Schwüle über dem Lager. Die Gorgunaer erwachten nach und nach, griffen nach ihren Trommeln und begannen mit dem Tamtam, das den ganzen Tag anhalten würde. Argin Dallas wälzte sich schweißgebadet aus dem Feldbett. Das Trommeln hatte ihn geweckt. Ihm war nicht recht wohl. Die ungewohnte Safarikost ließ seinen Magen rebellieren, und er hatte einen schlechten Geschmack im Mund. Die Hitze verursachte ihm Kopfschmerzen. Er ging unter die Dusche, danach fühlte er sich wesentlich besser. Aber kaum war er in die Jagdkleidung geschlüpft, schwitzte er schon wieder. Er war ein kleiner, schmächtiger Mann von achtundzwanzig Jahren, mit schlechter Haltung und unnatürlich weißer Haut, die jetzt durch die ungewohnte Sonnenbestrahlung gerötet war. Er verließ sein Zelt. Georg Rusk, der Jäger, saß bereits auf dem überdachten Vorplatz und paffte bedächtig eine Pfeife. Als sich Argin ihm gegenüber in einen Faltstuhl fallen ließ, nickte er ihm wortlos zu. »Wie machen Sie es bloß, daß Sie nicht schwitzen?« fragte Argin. »Ich rede sehr wenig«, sagte der Jäger. »Im Schlaf rede ich auch nicht«, gab Argin gereizt zurück, »und trotzdem schwitze ich.« Rusks Achselzucken war nur eine angedeutete Bewegung. In diesem Augenblick kam Robert aus seinem Zelt. Er war das genaue Gegenteil von Argin: groß, breitschultrig und mit sonnengebräunter Haut. Die Jagdkleidung stand ihm gut, aber man sah ihm den Sonntagsjäger an – er war immer peinlich darauf bedacht, einen gepflegten Eindruck zu machen. Jetzt schwitzte er auch, war aber nicht so mißmutig wie Argin. Er setzte sich zu den beiden und sagte: »Mir scheint, die Ein54
geborenen beginnen nach der Uhr zu trommeln.« »Hm«, machte Rusk. »Teufel, schwitze ich«, klagte Grofft. »Das kommt davon, weil du zuviel redest«, sagte Argin. »Ach so.« Grofft sah hinüber zu der offenen Feuerstelle, wo zwei der blauhäutigen Mischlinge das Frühstück zubereiteten. Die sechs anderen Chinos hantierten an den beiden Geländefahrzeugen. Dahinter zog sich die Graslandschaft noch etwa vierhundert Meter dahin, bis sie ziemlich steil ins Dschungeltal abfiel. Grofft wandte den Kopf, und sein Blick fiel auf das letzte Zelt. Es war noch verschlossen. »Ich wundere mich, daß Cindy bei diesem Krach schlafen kann«, murmelte er. Niemand antwortete ihm. Rusk paffte ruhig an seiner Pfeife, Argin starrte zum Gehege hinüber, in dem die Eingeborenen untergebracht waren. Die Gorgunaer waren humanoid, aber ihre verkümmerten, kurzen Arme störten ein wenig, und die stämmigen, vielgelenkigen Beine standen in einem krassen Gegensatz dazu; ihre affenartigen Gesichter waren ziemlich ausdruckslos. Grofft folgte Argins Blick. Er betrachtete die Eingeborenen mit ganz anderen Augen. Sie interessierten ihn kaum, aber er hatte sofort erkannt, daß sie einen sehr ausgeprägten Instinkt besaßen. »Sie scheinen zu ahnen, daß es bald losgeht«, sagte Grofft. »Haben eigentlich ganz schlaue Augen.« »Es sind ausgezeichnete Trommler«, antwortete der Jäger, »aber intelligent sind sie nicht, wenn Sie das meinen.« »Vielleicht haben sie eine Trommelsprache?« vermutete Grofft. Der Jäger schüttelte den Kopf. »Erst die Menschen haben ihnen die Trommeln gebracht. Wie sollten sie in den zehn Jahren eine Verständigungsmöglichkeit entwickeln? Sie befassen sich mit den Trommeln aus denselben Motiven, wie ein Hund mit 55
einem Ball.« Argin warf ihm einen schnellen Blick zu, der wohl ausdrükken sollte, wie wenig er von den Ansichten eines Laien hielt. Aber bevor er etwas sagen konnte, kamen die beiden Chinos heran, stellten den Kaffee hin und verteilten die Tassen. Grofft sah wieder zu dem verschlossenen Zelt hinüber. Argin sprang schnell auf und sagte: »Ich werde Cindy wecken.« »Sie mögen Argin nicht besonders«, stellte Grofft fest, als er mit dem Jäger allein war. »Warum?« »Ich habe nichts gegen ihn«, sagte der Jäger unbefangen. »Aber er paßt nicht auf eine Safari. Sie hätten ihn zu Hause lassen sollen.« »Argin ist mein Freund«, gab Grofft steif zurück. »Er hat vor einigen Wochen seinen dritten Doktor gemacht, und deshalb dachte ich, daß er sich auf dieser Safari etwas erholen könnte. Im übrigen kann es Ihnen egal sein, weswegen ich ihn mitgenommen habe. Sie werden nicht schlecht bezahlt.« Argin kam zurück. »Cindy ist gleich soweit. Sie sagte, wir könnten inzwischen ruhig zu frühstücken beginnen. Sie fühlt sich nicht besonders und möchte nichts essen.« Sie aßen schweigend. Die Chinos hatten sich etwas abseits niedergelassen; sie saßen im Kreis ums Feuer und kauten an Stücken harten Fleisches. Die Gorgunaer trommelten. Als die drei Männer mit dem Frühstück fertig waren, kam Cindy Lauder. Sie sah nicht schlecht aus in den langen, enganliegenden Hosen und den Stiefeln. Das Haar trug sie aufgesteckt wie immer. Ihre Stimme klang etwas matt, als sie den Gruß der drei Männer erwiderte. »Sie sehen nicht sehr wohl aus«, sagte Rusk. »Wollen Sie heute nicht im Lager bleiben?« »Auf keinen Fall«, stieß Cindy impulsiv hervor und warf einen unsicheren Blick zu den Chinos hinüber. »Die könnten Sie ganz gut beschützen«, meinte der Jäger lächelnd. »Außerdem würde es Herrn Dallas vielleicht nichts 56
ausmachen, wenn er bei Ihnen bliebe. Ihm behagt die Jagd ohnehin nicht.« »Sie werden noch ins Schwitzen kommen«, warnte Argin den Jäger. Zu Cindy sagte er: »Ich kann verstehen, daß die Jagd zuviel für dich ist. Ich habe da einen Vorschlag. Ich wollte heute ohnehin zu den Ruinen fahren, das wäre auch für dich eine angenehme Abwechslung. « »Ich werde Sie enttäuschen müssen«, wandte sich Rusk an Argin. »Ihren Ausflug zu den Ruinen werden Sie auf einen anderen Tag verschieben müssen. Heute brauchen wir beide Wagen.« »Du siehst wirklich blaß aus, Cindy«, sagte Grofft. »Sei nicht dumm«, gab sie empört zurück. »Es ist nichts weiter, nur die Hitze hat mir zu schaffen gemacht. Außerdem möchte ich mir die Jagd nicht entgehen lassen. Was steht auf dem Programm?« »Ein Gonzal. Rusk meinte, daß wir heute gute Chancen haben. Die Chinos haben gestern eine Herde ganz in der Nähe aufgespürt.« »Ja«, sagte der Jäger und erhob sich. »Es wird Zeit für uns, wenn wir sie noch an der Tränke erwischen wollen.« Er ging zu den Chinos hinüber und erteilte seine Befehle. Einer der Mischlinge hatte die Gorgunaer aus dem Gehege geholt und trieb sie jetzt in den Dschungel. Nach einer Viertelstunde folgten die beiden Geländewagen. Rusk saß selbst hinter dem Steuer, neben ihm hatte Grofft Platz genommen. Auf dem Fondsitz lagen die Gerätschaften und der Proviant in zwei luftdicht abgeschlossenen Paketen. Links und rechts des Wagens hatten sich je zwei Chinos auf die Trittbretter gestellt. Sie waren selbst nur mit leichten Pistolen bewaffnet, trugen aber die Karabiner der Jäger. Den zweiten Wagen belegten zwei Chinos, und im Fond saßen Argin und Cindy. Rusks Wagen übernahm die Spitze. Der Jäger saß schweig57
sam und entspannt hinter dem Lenkrad. Grofft fragte: »Glauben Sie, daß ich heute zum Schuß komme?« »Warum nicht?« »Hoffentlich sind Sie noch an der Tränke.« Der Jäger nickte. »Bestimmt. Die Gonzalen sind sehr träge.« »Das hört sich nicht nach reißenden Bestien an«, sagte Grofft erstaunt. »Das sind sie nur, wenn sie in die Enge getrieben werden. Wenn nur ein Tier aus der Herde verwundet wird, beginnen die anderen zu rasen. Deshalb haben Sie nur einen Schuß.« »Das haben Sie mir schon gesagt.« »Sie werden es noch oft hören. Nur ein Schuß, und der ins Herz. Wenn Ihnen das nicht gelingt, müssen wir schleunigst Reißaus nehmen.« Die Graslandschaft wurde abschüssig, und die ersten Baumriesen tauchten vor ihnen auf. »Wie friedlich der Wald ist«, sagte Cindy, während sie im Fond des Geländewagens durchgeschüttelt wurde. »Mir behagt der Duft der Wildnis.« »Ja«, stimmte Argin zu. »Diese Welt ist eigentlich nicht so jung«, sagte wieder Cindy. »Die Gorgunaer könnten eine höhere Entwicklungsstufe innehaben.« »Auf Gorguna hat schon einmal eine hochstehende Zivilisation existiert«, erklärte Argin. »Aber durch eine Verschiebung der Planetenachse hat es Naturkatastrophen ungeahnten Ausmaßes gegeben, und die Kultur versank. Wie es genau kam, läßt sich natürlich nicht mehr feststellen, aber die Wissenschaftler haben ein ziemlich abgerundetes Bild bekommen. Zum Beispiel wissen wir auch, daß sich die heutigen Gorgunaer von den Ureinwohnern unterscheiden. Und weil sie sich so stark verändern konnten, nimmt man an, daß der Untergang der gorgunaischen Zivilisation Jahrtausende zurückliegt.« 58
»Wie kann man feststellen, daß sich die Gorgunaer verändert haben müssen?« »Anhand der Bauwerke, an der Beschaffenheit von Türen und Fenstern, auch sprechen die erhaltenen und rekonstruierten Gebrauchsgegenstände eine beredete Sprache.« »Und was hältst du von dem, was Rusk sagt?« »Was sagt er?« »Daß die Ureinwohner wahrscheinlich schon lange ausgestorben sind. Er meint doch, die Zeit seit dem Untergang sei zu kurz, als daß sich die Gorgunaer dermaßen hätten verändern können.« Argin lachte herablassend. »Laientheorie«, sagte er. Der Wald war dichter geworden und glich jetzt mehr einem Dschungel. Rusk bremste ab und stellte den Motor ab. Die Chinos sprangen von den Trittbrettern, Rusk schwang sich aus dem Fahrersitz und ließ sich von seinem Träger den Karabiner geben. Er unterzog ihn einer peinlichen Inspektion. Grofft hängte sein Gewehr achtlos über die Schulter und ging zum hinteren Geländewagen. »Endstation«, verkündete er. Rusk hing sich ebenfalls seinen Karabiner um und streckte die Hand nach Groffts Waffe aus. »Lassen Sie mal sehen.« Rusk entleerte das Magazin bis auf eine Patrone. Er zwinkerte Grofft zu. Dann hob er den Karabiner prüfend an die Schulter, und während er zielte, fragte er: »Wieviel Schuß haben Sie damit schon abgegeben?« »Na … an die tausend«, antwortete Grofft verblüfft. »Und da glauben Sie, daß Sie eingeschossen sind?« »Soll ich jetzt ein Probeschießen veranstalten?« »Dazu ist es zu spät.« Rusk ließ ihn stehen und ging zu den vier Chinos hinüber. »Alles in Ordnung?« fragte er. Sie nickten grinsend. 59
»Gut«, sagte Rusk. »Wir nehmen also einen Gonzal aufs Korn, der etwas abseits von der Herde ist. Wenn ihr ihn dann richtig habt, dann zeigt unserem Sonntagsjäger nur einmal das Herz. Schießt er bei dieser Gelegenheit nicht, verschwindet ihr in die Büsche. Und – rettet euch aus seiner Schußlinie, er ist ein miserabler Schütze.« Die Chinos grinsten und verschwanden im Dickicht. »Sie haben wohl nichts dagegen, wenn Cindy und ich mitkommen?« wollte Argin wissen, als der Jäger zu ihnen zurückkam. »Nein, Sie müssen sich nur an meine Anweisungen halten. Das ist Bedingung.« »Ja, Herr«, sagte Cindy in dem unterwürfigen Ton der Mischlinge. Sie brachen auf. Ein Chino machte den Anfang, der andere bildete den Abschluß. Der Dschungel wurde immer dichter, und oftmals mußte der Chino den Weg mit dem Buschmesser freischlagen. Schließlich wich das Dickicht einem moosartigen, weichen Boden, aus dessen sattem Grün bunte Blütenkelche leuchteten. Zwischen den bekannten Dschungelgeräuschen waren jetzt vereinzelte Schreie zu hören. Sie kamen von ziemlich nahe. Durch eine Buschreihe sah man gelegentlich schmutzigbraunes Wasser durchschimmern. Die Moosflechten waren verschwunden, und der Boden bestand jetzt aus grauer, feuchter Erde, in der deutlich die Spuren von riesigen Pranken abgedrückt waren. Der vordere Chino erreichte die vorderste Buschreihe und ging dahinter in die Hocke. Die anderen folgten seinem Beispiel. Auf allen vieren arbeitete sich Grofft heran und teilte die Äste. Sein Blick fiel auf einen sanft abfallenden Sandhang, der ein fünfzig Meter breites, völlig kahles Ufer für einen breiten, aber anscheinend seichten Strom bildete. Auf der anderen Seite war 60
der Dschungel näher ans Flußbett gerückt. Grofft starrte auf die Ungeheuer, die ihre tonnenschweren Schlangenkörper im Uferschlamm wälzten. Sie maßen in ihrer Gesamtlänge ungefähr fünfundzwanzig Meter, hatten einen eckigen, gehörnten Kopf und vier Beinpaare. Sie hatten schuppenartige Rückenpanzer, die widerstandsfähig waren wie Stahl. Nur die Unterseite ihrer Körper, vom Hals bis zu den hintersten Beinen, war ungeschützt. Und dort mußte man sie ins Herz treffen, um sie zu erlegen. Die Herde bestand aus zwanzig Tieren, meist älteren, ausgewachsenen Riesen, die sich auf engem Raum zusammendrängten. Nur ein einziges der jüngeren Tiere hatte sich etwas abgesondert. Es hatte einen rötlich schillernden Panzer und war nicht länger als fünfzehn Meter. »Der ist richtig«, sagte Rusk. »Aber wir müssen noch ein Stück stromauf.« Auf der anderen Seite des Flusses lagen die vier mit Tran eingeriebenen Chinos hinter den Büschen. Sie hatten sofort erkannt, daß nur der Gonzal in Frage kam, der sich in einiger Entfernung von der Herde suhlte. Sie beobachteten jede Bewegung des jungen Gonzals, damit sie sich auf seine Eigenarten einstellen konnten und für den Augenblick gewappnet wären, wenn Rusk das Zeichen gab. Der junge Gonzal drehte seinen tonnenschweren Körper herum, kam auf seine acht plumpen Beine zu stehen, und während er gemütlich aus dem Fluß trottete, peitschte er mit dem Schwanz kraftvoll das Wasser. Rusk schob zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Plötzlich brach von der anderen Flußseite ein Rudel Gorgunaer aus dem Unterholz. Ein Chino stand dabei und feuerte sie mit lauten Rufen an. Mit wildem Geheul stürzten sich die Gorguaner in den Fluß, so, daß sie zwischen die Herde und den einzelnen Gonzal kamen. Die Gonzalen spitzten die Ohren, und in ihre mächtigen Körper kam Bewegung. Der 61
Leitbulle wollte sich zuerst auf die Gorgunaer stürzen, aber dann wandte er sich zur Flucht. Die Herde folgte ihm brüllend. Der junge Gonzal sah den Weg zur Herde versperrt und begann, wild mit den Beinen den Boden zu stampfen. Sein Kopf wirbelte von einer Seite zur anderen. Plötzlich richtete sich sein Schwanz steil in die Höhe, aus seinen Nüstern kam ein Fauchen, und er senkte den Kopf. Aber bevor er sich noch auf die schreienden und um sich schlagenden Gorgunaer stürzen konnte, sprangen ihn die vier Chinos an, die sich von hinten an ihn herangeschlichen hatten. Sie klammerten sich an seinem Rücken fest, balancierten mit den Beinen, während sie über den Schädel des Gonzals feste, rauhe Stricke warfen. »Legen Sie an«, sagte Rusk zu Grofft. Cindy wandte sich ab. Argin drückte sie fest an sich, aber seine Augen wurden magisch von dem folgenden Geschehen angezogen. Inzwischen hatten zwei der Chinos ihre Stricke um den Hals des Gonzals gespannt und zogen mit ihrer ganzen Kraft daran, damit die Atemwege der Bestie abgeschnürt würden. Damit bezweckten sie, daß sich der Gonzal aufrichtete. Tief gruben sich die Seile in den ungeschützten Hals. Ein Chino hatte sich in sicherer Distanz von dem um sich schlagenden Schwanz gebracht und eine Schlinge um die Hinterbeine des Gonzals geschlungen. Der vierte Chino verlor seinen Halt und sprang ins Wasser; er hetzte mit gewaltigen Sprüngen davon. Endlich gab der Gonzal nach. Die vier Vorderbeine lösten sich vom Boden, und er richtete sich hoch auf. Der Chino ließ das Seil los, langte behende zur Vorderseite und malte an einer Stelle der weißen Brust mit einer Fettkreide einen roten Kreis. »Dort sitzt das Herz«, sagte Rusk. »Schießen Sie.« Grofft schwitzte. Die beiden letzten Chinos sprangen vom Rücken des Gonzals ins schäumende Wasser und rannten davon. Die Gorgunaer 62
brachten sich ebenfalls ans Ufer in Sicherheit. Der Gonzal bäumte sich noch steiler auf und schwankte von einer Seite auf die andere. »Schießen Sie«, schrie Rusk. Der Gonzal war rasend vor Wut. Sein Körper pendelte hin und her. Grofft hatte für einen Augenblick die Mitte des roten Kreises im Visier, aber dann war er schon wieder verschwunden. Rusk stand mit schußbereiter Waffe neben Grofft. »Schießen Sie endlich«, schrie er wieder. Grofft war unsicher, aber als er wieder das Herz im Ziel hatte, drückte er ab. Der Gonzal zuckte zusammen, als ihn das Geschoß traf. Neben dem roten Kreis hatte sich ein dunkler Fleck gebildet. »Daneben«, schrie ein Chino. Der Gonzal sprang plötzlich einige Meter in die Höhe. Die Gorgunaer sahen es und rannten in kopfloser Flucht hinein in den Dschungel. »Verschwindet von hier«, riet Rusk den drei Menschen keuchend. Die anderen Gonzalen sahen ihren Artgenossen toben. Sie witterten Gefahr, und in instinktiver Abwehr stürmten sie los. Rusk stand allein da und legte kaltblütig den Karabiner an. Er wartete darauf, daß der verwundete Gonzal wieder in die Luft sprang. Da sah Rusk das schimmernde Weiß der Bauchseite, er suchte blitzschnell den roten Kreis und schoß. Leblos fiel der Körper des Gonzals donnernd ins Wasser. Die Herde kam heran, der Aufruhr legte sich. Die Gonzalen umschlichen ihren toten Artgenossen, leckten an seiner Wunde und beschnupperten ihn. Dann kümmerten sie sich nicht mehr um ihn, legten sich zurück in den Schlamm und ruhten. Aber bald kamen aus dem Dschungel wieder störende Geräusche – die Gorgunaer kamen zurück und stimmten ein vielkehliges Geschrei an. Schnaufend erhob sich der Leitbulle; trabte 63
mißmutig in die Flußmitte und ließ sich von der Strömung treiben. Die Herde folgte. Der tote Gonzal blieb zurück. Sein Fleisch gehörte den Gorgunaern, es war ihr Lohn. Der Kopf des Gonzals aber stand dem Jäger zu. Nachmittag. Rusk hatte das Lager am Dschungelrand abbrechen lassen und es zu den Ruinen verlegt. Sie hatten die Zelte wieder aufgebaut, und Rusk saß allein mit Grofft zusammen. »Das können Sie nicht tun«, jammerte Grofft. Rusk paffte an seiner Pfeife. Er starrte blicklos zu den Chinos hinüber, die den Kopf des Gonzals aushöhlten, um ihn besser präparieren zu können. »Das können Sie nicht tun«, sagte Grofft wieder. »Schließlich habe ich Sie für eine einmonatige Safari bezahlt.« »Sie können Ihr verdammtes Geld zurückhaben«, meinte Rusk. »Um das Geld geht es mir nicht, darauf pfeife ich. Ich habe genug davon. Aber mir geht es ums Prestige. Warum, glauben Sie denn, daß ich diese Safari unternehme. Vielleicht wegen dieser paar erbärmlichen Raubkatzen, die wir bis jetzt erlegt haben? Pah, die Felle überlasse ich Ihnen gern. Auch der Gonzal reizt mich nicht besonders …« »Was wollen Sie dann?« unterbrach ihn Rusk. »Einen Flechtenpanzer«, sagte Grofft entschieden. Rusk sah ihn jetzt zum erstenmal an. Er sagte freundlich: »Ich mag Sie, Grofft, sonst hätte ich mir nicht solche Mühe mit Ihnen gegeben. Aber einen Flechtenpanzer jagen, das ist kein Kinderspiel. Es ist zu riskant. Wissen Sie eigentlich, wie viele Jäger es gibt, die einen erlegt haben? Es sind vielleicht dreißig, die restliche Million, die das behauptet, gibt nur an.« Einige Zeit schwiegen sie. Dann sagte Grofft leise: »Geben Sie mir die Chance. Mir liegt sehr viel daran, daß ich einen erlege.« 64
Rusk sah ihn aus unergründlichen Augen an. Dann erhob er sich. »Ich gehe schlafen.« »Aber wir jagen einen Flechtenpanzer?« »Unter einer Bedingung.« »Nennen Sie sie.« »Wenn wir innerhalb der nächsten drei Tage keinen aufspüren, dann ist die Safari zu Ende. In Ordnung?« »In Ordnung.« Rusk ging in sein Zelt und legte sich aufs Feldbett. Er hatte es satt. Er wollte nichts mehr mit diesen Sonntagsjägern zu tun haben. Daß er die Safari hatte abbrechen wollen, war nicht darauf zurückzuführen, daß Grofft den Gonzal verfehlte. Rusk hatte dies nur als Vorwand gebraucht. In Wirklichkeit hatte er nur vom professionellen Töten der Waldtiere genug. Jetzt hatte er sich doch herumkriegen lassen, aber er hoffte, daß sie keinen Flechtenpanzer aufspüren würden. Er würde sich nie mehr an Sonntagsjäger verkaufen, das schwor er sich in diesem Augenblick. Er liebte Gorguna, diese wilde, unerforschte Welt. Sie war seine zweite Heimat geworden. Rusk war nahe dem Einschlafen, als das Aufheulen eines näher kommenden Motors in sein Bewußtsein drang. Als der Motor erstarb, folgte ein Durcheinander von Stimme. »Herr!« rief ein aufgeregter Chino. »Herr!« Und dann sagte Cindy Lauder irgend etwas, und dann sprach Grofft. Rusk hörte es ganz deutlich: »… Flechtenpanzer!« Er sprang aus dem Zelt. »Was gibt’s?« Cindy klammerte sich hilfesuchend an Grofft, der schon seinen Karabiner umklammert hielt. Die Chinos hatten den Kopf des Gonzals liegenlassen und waren herübergekommen. Der Mischling, der Cindy gefahren hatte, war ganz verstört. »Wo ist Dallas?« fragte Rusk. 65
»Er wollte nicht mitkommen, Herr«, jammerte der Chino. »Es war schrecklich«, stöhnte Cindy. »Die Bestie war kaum zwanzig Meter von uns entfernt. Ich hätte sterben können vor Angst … Wir müssen sofort etwas unternehmen.« »Ja«, sagte Grofft, und seine Augen blitzten. »Wo habt ihr den Flechtenpanzer gesehen?« fragte Rusk. »Ich habe die Stelle markiert, Herr«, sagte der Chino. »Wir sollten gleich losfahren«, sagte Grofft. »Das werden wir auch.« Rusk hatte gehofft, daß sie keinen Flechtenpanzer finden würden. Aber jetzt, wo sie einen entdeckt hatten, wurde er vom Jagdfieber ergriffen. Wie ein Regisseur, der seine Schauspieler voll und ganz in seiner Hand hat, ließ er die Chinos die Vorbereitungen treffen. Auf beiden Geländewagen wurden auf den Kühlern die Maschinengewehre und die Nachtscheinwerfer montiert. Rusk ließ Granatwerfer mitnehmen, um notfalls ein Gelände einzuebnen, das groß genug war für die Jagd. Einem Flechtenpanzer konnte man nur durch aufwendige technische Tricks beikommen. »Hoffentlich ist Argin nichts zugestoßen«, sagte Cindy. Groffts Worte klangen nicht überzeugend, als er sagte: »Er wäre nicht geblieben, wenn es gefährlich wäre.« Rusk kam zu ihnen. »Wir können losfahren.« Cindy und Grofft nahmen im Fond Platz, während sich Rusk hinters Steuer setzte. Er kurbelte die Windschutzscheibe herunter, so daß der Chino auf dem Beifahrersitz das Maschinengewehr bedienen konnte. Im anderen Geländewagen saßen drei Gorgunaer, zwei Chinos standen auf den Trittbrettern. Rusk fuhr los – auf das Ruinenfeld zu, das sich als dunkle Silhouette vor der untergehenden Sonne aus der Ebene erhob. Die ersten Ruinen lagen weit auseinander. Rusk konnte ein wenig Tempo hinzulegen, denn sie kamen auf eine ziemlich gut erhaltene Straße, und den wenigen Schlaglöchern konnte der wendige Wagen leicht ausweichen. Die Straße war geradlinig. 66
»Die Gorgunaer müssen Straßenbaukünstler gewesen ein«, sagte Grofft. »Das meinte Argin auch«, antwortete Cindy. »Er war regelrecht fasziniert und sagte, daß er sich einmal gern mit der versunkenen Kultur befassen wolle.« »Wie hast du die Stelle markiert?« fragte Rusk den Chino. »Ich habe einen Rauchentwickler hingestellt«, sagte der Mischling. »Er müßte noch zwei Stunden anhalten.« »Habe ich diesmal wieder nur einen Schuß?« wollte Grofft wissen. »Nein«, brummte Rusk. »Wie werden wir vorgehen?« »Das kommt auf die Situation an.« Jetzt erreichten sie den ehemaligen Stadtkern. Hier waren auch die Gebäude besser erhalten, und manche ragten bis zu fünfzig Meter in den Himmel. Rusk fuhr vorsichtiger. Von einer Straße war nichts mehr zu sehen; wenn es hier überhaupt noch eine gab, dann war sie unter Schutthalden begraben. Der Geländewagen arbeitete sich die Hänge hinauf und schlingerte auf der anderen Seite wieder hinunter. »Hier ist es gewesen«, sagte der Chino. Sie fuhren um eine Ecke, und da sahen sie die Rauchschwaden. Rusk bremste und stieg aus. Einige Zeit war noch das Brummen des anderen Wagens zu hören, dann erstarb auch dieses Geräusch. Rusk sah sich um. Er zog die Stirn in Falten. Es war kein gutes Jagdgebiet, in dem sie sich befanden. Eine Schutthalde reihte sich hier an die andere, und die hochaufragenden Mauerreste sahen sehr wackelig aus. Er befürchtete, daß sie bei der ersten Maschinengewehrsalve einstürzen könnten. Auch könnten sie hier die Wagen nicht einsetzen, denn sie waren nicht wendig genug und würden sie nur behindern. Außerdem war es leicht möglich, daß der Boden hier überall unterhöhlt war. Es bestand also Einsturzgefahr. Sicher hätten sie die Ruinen einebenen können, aber das ging erst, sobald 67
sobald sie Dallas gefunden hatten, und selbst dann scheute sich der Jäger vor dieser Maßnahme. Er wollte keine willkürliche Zerstörung, wenn es sich vermeiden ließ. Er entschloß sich dazu, Dallas vorerst einmal über die Lautsprecheranlage rufen zu lassen. Inzwischen konnte er sich umsehen und die vorhandenen Spuren untersuchen. Der Boden war hier ziemlich locker; es würden sich bestimmt genügend Abdrücke finden. Er befahl den Chinos, nach Dallas zu rufen. »Warum unternehmen wir nichts«, fragte Grofft gereizt. »Was is Ihnen wichtiger, Ihr Freund oder der Flechtenpanzer?« fragte Rusk grob. Grofft schwieg. Cindy warf ihm einen kalten Blick zu. »Herr Dallas! Herr Dallas!« plärrte die Stimme eines Chinos aus dem Lautsprecher. »Herr Dallas, können Sie uns hören?« Sie lauschten, aber nur das Echo war zu hören und das Säuseln des Windes. »Herr Dallas! Melden Sie sich, wenn Sie uns hören. Herr Dallas!« »Sie können mich begleiten«, sagte Rusk zu Grofft. »Ich will mich ein wenig umschauen. Sie, Fräulein Lauder, bleiben am besten beim Wagen.« Rusk schnallte sich den Patronengurt um und nahm seinen Karabiner auf. Ohne sich umzusehen, stieg Rusk einen umgestürzten Betonpfeiler hinauf, der zu einer schrägen Plattform führte. Hinter sich hörte er Groffts knirschenden Schritt. Es war überhaupt nicht schwül hier, der Wind kühlte angenehm, aber trotzdem schwitzte Rusk. Er war sich nicht klar darüber, was ihm den Schweiß aus den Poren trieb. Angst? Wovor? Er stand auf der Plattform. Zwanzig Meter unter ihm standen die beiden Wagen, daneben die kleinen, blauen Gestalten der Chinos, er sah Cindys blasses Gesicht und dahinter die grotesken Gorgunaer. Grofft kam zu ihm. »Was sind wir eigentlich: Müßiggänger? Romantische Touri68
sten?« schimpfte er. »Aber bestimmt keine Jäger.« »Sie kommen schon noch zum Zug«, sagte Rusk. Grofft lag eine Entgegnung auf der Zunge. War es nur Einbildung gewesen, oder hatte er tatsächlich eine Bewegung im Schatten einer Ruine gesehen? Er zeigte mit dem Arm in die Richtung und sagte: »Sehen Sie dort, Rusk. Etwa vierhundert Meter entfernt, im Schatten dieser langen Mauer. Da bewegt sich etwas.« Rusk zog die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und schaute in die angegebene Richtung. Dort bewegte sich tatsächlich etwas. »Sehen wir es uns aus der Nähe an«, sagte Rusk. Er stieg den Betonklotz hinunter. Dem Anführer der Chinos zwinkerte er zu. »Es dürfte losgehen.« »Habt ihr von Argin etwas entdecken können?« fragte Cindy besorgt. »Wenn es der Flechtenpanzer war, den wir sahen«, wich Rusk aus, »dann war er jedenfalls nicht in Kampfstimmung.« Er wandte sich wieder an den Chino. »Wir machen kein großes Tamtam. Nur du wirst uns begleiten, und die Gorgunaer nehmen wir auch mit, für den Fall, daß wir den Flechtenpanzer in die Enge treiben können. Wenn wir die Wagen brauchen, schieße ich eine grüne Rakete ab. Verstanden?« Die Chinos nickten. Rusk steckte einige Leuchtraketen in die Tasche, dann schnallte er sich den Patronengurt um und überprüfte den Karabiner. Er sah, daß diesmal auch Grofft sich vom Funktionieren seiner Waffe überzeugte. »Ihr könnt inzwischen weiterhin nach Herrn Dallas rufen«, sagte Rusk zu den Chinos, dann gingen sie. »Ich komme mit«, sagte Cindy. Rusk blieb stehen. »Nein, das ist zu gefährlich.« Grofft kam an seine Seite. Trotz der Kühle schwitzte er. »Fühlen Sie sich in Ordnung?« fragte Rusk. »Ich bin fit«, gab Grofft zurück. »Ich werde den Flechten69
panzer nicht verfehlen.« Ich werde es euch schon zeigen, dachte er bei sich. Er wußte, daß er nicht eher ruhen würde, bis er eine dieser Bestien erlegt hatte. Es galt, sich vor sich selbst und den anderen ins rechte Licht zu setzen – er mußte sich rehabilitieren. Er war ganz in Gedanken versunken, als ihn Rusk ansprach. »Was haben Sie gefragt?« fragte er zerstreut. Rusk entging das leidenschaftliche Glitzern in den Augen des anderen nicht. »Ich sagte, wir sollten uns trennen. Am besten kommen Sie von der rechten Flanke heran, während ich die linke nehme. Es kann sein, daß wir den Flechtenpanzer im offenen Gelände antreffen, dann werde ich die Wagen anfordern. Vielleicht ist das aber nicht nötig. Ich habe gesehen, daß die Ruinen kaum mehr als einen Weg offen lassen. Wenn das zutrifft, ist’s gut, der Chino kann mit Hilfe der Gorgunaer den Flechtenpanzer dann in eine Sackgasse treiben. Haben Sie noch Fragen?« Grofft war ein wenig verwirrt. »Haben Sie keine Anweisungen in petto?« »Sie sollten die Situation selbst einschätzen können«, sagte der Jäger. »Wenn Sie eine gute Schußposition haben, dann geben Sie es ihm. Aber seien Sie nicht zu leichtsinnig, einen Flechtenpanzer darf man nicht unterschätzen. Lassen Sie ihn nicht zu nahe an sich heran. Dann also, viel Glück, ich schalte mich schon ein, wenn es erforderlich ist. Es war ganz sicher ein Flechtenpanzer, den wir gesehen haben.« »Das wissen Sie so genau?« fragte Grofft. »Mit den Jahren entwickelt man so etwas wie einen sechsten Sinn dafür.« »Sie sollen nur recht behalten, mehr wünsche ich nicht! Also, dann…« Grofft wandte sich nach rechts, überkletterte einige Mauerreste mit einer Geschwindigkeit, die ihm Rusk nie zugetraut hätte, und verschwand aus seinem Blickfeld. Rusk wandte sich an 70
den Chino. »Wenn es geht«, murmelte Rusk, »dann lasse die Gorguaner allein und kümmere dich um Grofft. Auf sich allein gestellt, verliert er vielleicht den Kopf. Greif ihm ein wenig unter die Arme.« »Ja, Herr.« Der Chino ließ auf seinem blauen Gesicht ein kurzes Grinsen erscheinen, dann trieb er die Gorgunaer an. Hohl klang die Lautsprecherstimme über die Ruinen: »Herr Dallas! Herr Dallas, melden Sie sich, wenn Sie uns hören.« Rusk kletterte auf einen Mauerrest, der die anderen überragte. Er sah in die Richtung, in der sie vorhin die Bewegung gesehen hatten. Die Schatten hatten sich vertieft, die Sonne stand bereits nahe dem Horizont. Rusk strengte seine Augen an, aber er konnte keine Bewegung entdecken. Oder doch? Er überschattete seine Augen mit der flachen Hand, damit er besser sehen konnte. Ja, da bewegte sich etwas. Aber es war kein Flechtenpanzer – das mußte Dallas sein! Vielleicht war er verwundet, oder er hatte nur eine Entdeckung gemacht, die ihn dermaßen fesselte, daß er den Aufruf überhaupt nicht merkte. Schließlich war Dallas ein Archäologe; wenn der interessante Ausgrabungen machte, dann scherte er sich bestimmt den Teufel darum, daß seine Kameraden ihn verzweifelt suchten. Rusk verließ seinen Aussichtsposten. Er brachte einige Schutthalden hinter sich, umrundete einige Bauwerke, die noch ziemlich gut erhalten waren, aber jeden Augenblick einstürzen konnten, und kam schließlich an eine lange Mauer. Er sah die verschüttete Straße hinauf und hinunter und kam zu dem Schluß, daß er die Stelle erreicht hatte, wo er die Bewegung gesehen hatte. Er sah die Wand, die von vielen Rissen und Sprüngen durchzogen war, hinauf, aber er konnte keine Öffnung entdecken. Er ging die Straße ein Stück entlang, und dann blieb er plötzlich stehen. Hinter einer Schutthalde versteckt sah er einen ziemlich breiten, aber niedrigen Mauerdurchbruch, 71
groß genug, um einen Flechtenpanzer durchzulassen. Er entsicherte den Karabiner und schlich vorsichtig in das Dunkel. Eine eigenartige Ausdünstung erfüllte die Luft; es roch nach Schweiß. Nur Flechtenpanzer sonderten einen solchen Geruch ab. Rusk hatte das Versteck eines Flechtenpanzers gefunden. Von irgendwo, aus der undurchdringlichen Schwärze vor ihm, kam ein Geräusch. Das Geräusch rollenden Schotters. Undeutlich war eine Stimme zu hören, Rusk tastete sich vorwärts, einige Zeit verlief der Gang gerade und eben, dann kam plötzlich eine Steigung, und Rusk rutschte aus. Das folgende Geräusch von kollerndem Gestein schmerzte in seinen Ohren. Er machte, daß er weiterkam. Plötzlich stieß er gegen etwas Weiches. »Heilige Mutter Gottes«, flüsterte eine Stimme. Rusk spürte, wie der Chino am ganzen Körper zitterte. »Ich bin es«, murmelte Rusk beruhigend. Der Chino seufzte. »Ich kann gar nicht sagen, wie unsagbar froh ich bin. Ich …« Rusk schnitt ihm die Rede ab. »Schon gut, hast du Grofft gesehen?« »Ja, Herr«, sagte der Chino. »Er hat mit mir gesprochen. Er behauptet, einen Flechtenpanzer gesehen zu haben. Er wollte nicht durch den Stollen, er ist die Wand hinaufgeklettert.« Er ist besessen, dachte der Jäger. Laut sagte er: »Jedenfalls sitzt der Flechtenpanzer in der Falle, du kannst die Gorgunaer dann alleinlassen. Kümmere dich also um Grofft.« »Ja, Herr, wenn ich ihn finde.« »Suche ihn.« Rusk schob die grunzenden Gorgunaer zur Seite und tastete sich weiter durch den Tunnel. Dann vermeinte er einen Lichtstrahl zu sehen, der aber im nächsten Augenblick durch einen Vorsprung verdeckt wurde. Nach einigen weiteren Schritten kam er um eine Biegung und stand plötzlich vor einem Ausgang, der in einen halb verschütteten Raum führte. Die Decke 72
bestand aus einer schrägen Betonplatte. Auch hier war die Luft erfüllt von der beizenden Ausdünstung des Flechtenpanzers. Rusk kletterte über die Betonplatte hinweg, rannte gebückt über einen schmalen Steg und kam schließlich zu einer fensterartigen Öffnung. Vor ihm erhob sich, ein hoher Trümmerhaufen, der ihm die Sicht versperrte. Bevor er ihn erkletterte, sah er sich um. Er befand sich in einer Art Innenhof eines gewaltigen, noch ziemlich gut erhaltenen Gebäudekomplexes. Hier irgendwo mußte sich der Flechtenpanzer aufhalten. Und gleich darauf sah er ihn. Als er die höchste Stelle des Trümmerhaufens erreicht hatte, bot sich ihm in der Mitte des Hofes ein seltsamer Anblick. Er glaubte zu träumen, so unwirklich war die Szene, auf die er herunterblickte. »Herr Dallas! Herr Dallas!« klang die Lautsprecherstimme herüber. Sie war gut zu hören, aber kein Wunder, daß sich Dallas nicht meldete. Er ging einer sonderbaren Beschäftigung nach, die ihn ganz in ihrem Bann hielt. Friedlich saß er dem Flechtenpanzer gegenüber und gestikulierte mit den Armen. Der Flechtenpanzer seinerseits verhielt sich ganz ruhig und – betrachtete Dallas interessiert. Rusk getraute sich nicht zu atmen; er befürchtete, schon die geringste Bewegung könnte das Bild in Nichts auflösen. Der Flechtenpanzer sah irgendwie einem übergroßen Tiger ähnlich, obwohl er weder gestreift war noch ein Fell hatte. Vielmehr war sein Körper von einer chitinartigen Haut bedeckt, die viele Runzeln und Falten aufwies. Er hatte keinen Schweif, und seine schlanken, sehnigen Beine endeten nicht in Pfoten und Krallen, wie man es vielleicht erwartet hätte, sondern in weichen Tatzen mit hornlosen, fingerartigen Auswüchsen. Sein Kopf war rund und wies auf der Stirn ein faustgroßes, tellerartiges Auge auf. Der lippenlose, von einem Spitzohr zum anderen reichende Mund war von gelblichen Flechten umgeben. Plötzlich stockte Rusk das Blut in den Adern. Aus den Au73
genwinkeln sah er eine Bewegung. Er blickte nach links. Dort kam der Chino herangeschlichen, dicht auf den Fersen folgte ihm Grofft. Sie wurden von einigen großen Trümmerstücken gut gedeckt. Rusk machte mit den Armen einige Bewegungen, wurde aber von den beiden nicht gesehen. Sie waren noch ungefähr hundert Meter von Dallas und dem Flechtenpanzer entfernt. Rusk richtete seine Augen wieder auf das ungleiche Paar. Er fragte sich, warum es ihm nun überhaupt nicht mehr als unmöglich erschien, daß der Homo sapiens friedlich einer Bestie gegenübersaß. Es war ein seltsames, faszinierendes Bild, ein ungewohntes Bild, aber dennoch faßbar. Er konnte sich nicht davon losreißen … Grofft schlicht sich hinter dem Chino heran. Wie weit war er noch entfernt? Es mochten noch sechzig Meter sein. Aber er mußte noch näher heran, damit er Argin nicht gefährdete. Argin war ein weltfremder Narr, sonst wäre er nicht allein in den Ruinen geblieben, aber man mußte ihm lassen, daß er sich ziemlich kaltblütig in dieser Situation verhielt. Er mußte nur noch einige Sekunden ausharren. Grofft zitterte jetzt nicht mehr. Auch er war kaltblütig und von dem Wunsch erfüllt, den Flechtenpanzer zu erlegen. Der Chino sprang über eine Spalte. Grofft hatte sie zu spät bemerkt. Er sprang ungeschickt und landete auf der anderen Seite auf allen vieren. Ein Stein löste sich dabei und fiel in die Spalte. Grofft wartete nicht erst ab, bis er irgendwo in der Tiefe aufschlug, sondern raffte sich auf und stürmte den Hang hinauf. Noch während des Laufens riß er den Karabiner an die Schulter. Dann stand er auf dem Hügelkamm, lehnte sich leicht gegen einen Betonbrocken und nahm Ziel. Der Flechtenpanzer war ein schöner Brocken … Aber Argin war im Weg. »Spring zur Seite!« schrie Grofft. Plötzlich tauchte Rusk auf. Er schrie etwas. Der Flechtenpanzer hatte sich erhoben und stand auf den Hinterbeinen. Hoch 74
aufgerichtet, starrte er mit seinem Tellerauge zu Grofft hinüber. »Nicht schießen!« brüllte Rusk verzweifelt. Grofft verstand ihn nicht. Das Jagdfieber machte seine Sinne taub. Er haßte Argin in diesem Augenblick. Warum ging dieser Narr nicht aus der Schußlinie? Nur ein, zwei Schritte zur Seite hätten genügt. Aber statt dessen rannte er Grofft entgegen. »Verschwinde!« schrie Grofft. Er hätte heulen können. Sein Gesicht verzerrte sich gequält. So nahe war sein Ziel. Argin mußte wahnsinnig sein. »Geh aus der Schußlinie! « Keuchend kam Argin immer näher. »Wenn du abdrückst, töte ich dich«, stieß er hervor. Rusk kam auch näher. Er stolperte, kollerte einen Hang hinunter und raffte sich wieder auf. Seine Gedanken drehten sich im Kreise, aber eines wußte er ganz sicher: Grofft durfte den Flechtenpanzer nicht erlegen! Der Flechtenpanzer stand da, die Vorderbeine (oder waren es die Arme?) kraftlos herabhängend – das Tellerauge war geschlossen. Er fügte sich in sein Schicksal, dachte Rusk. Grofft heulte auf. »Geh zur Seite, oder ich schieße!« Dallas war heran. Ein Schuß löste sich, aber der Lauf wies gen Himmel. Argin entwand Grofft das Gewehr. Grofft sank kraftlos zu Boden und flüsterte immer wieder: »Warum? Warum denn nur?« Keuchend sah Argin auf seinen Freund hinunter. »Weil die Flechtenpanzer die Ureinwohner Gorgunas sind«, sagte er. »Das ist es also«, flüsterte Rusk. Unterbewußt hatte er dies in den letzten paar Sekunden schon vermutet, aber er hatte sich gescheut, diesen Gedanken zu Ende zu führen. Er sah zu dem Flechtenpanzer hinüber, dessen Tellerauge sich wieder geöffnet hatte, der lippenlose Mund kräuselte sich. War dies ein Lächeln? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Der Mensch würde sich noch viel mit dieser völlig anders gearteten Rasse beschäftigen müssen, um sie verstehen zu lernen. Und der Mensch hatte viel 75
gutzumachen. Rusk schwindelte. Die Menschen hatten die Ureinwohner Gorgunas gnadenlos gejagt, nur weil sie keine annähernd menschliche Gestalt hatten. Die wirklichen Herrscher dieser Welt hatten keine Chance, weil sie nur ein paar Überlebende einer längst versunkenen Zivilisation waren, und weil sie kein humanoides Aussehen besaßen. Was hatte man diesen Wesen angetan! Natürlich hatten sich die Flechtenpanzer gewehrt. Die drei Gorgunaer kamen heran, unterwürfig wie immer. »Ihr seid nichts weiter als Tiere«, schrie Rusk sie an, »die zufällig menschliche Gestalt haben.« Die Gorgunaer zuckten zusammen, als sähen sie ihre Schuld ein. Aber sie hatten keine Schuld, nur der Mensch ganz allein, weil er in seiner Ignoranz gemeint hatte, daß alles, was sich mit ihm messen wolle, ihm auch ähnlich sein müsse. Der Mensch mußte von nun an völlig umdenken, wenn er sich weiterhin im Kosmos behaupten wollte. In plötzlicher Verzweiflung warf Rusk seinen Karabiner zu Boden. »Weidmannsheil, Menschheit«, murmelte er sarkastisch. Argin kam zu ihm, und gemeinsam gingen sie zu dem Flechtenpanzer. Grofft beobachtete, immer noch verständnislos, wie sich die beiden Menschen dem aufrecht stehenden Wesen näherten.
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Die kosmischen Freibeuter Es wäre hirnverbrannt gewesen, Magior in der Galerie der Zukunft suchen zu gehen, denn da wimmelte es nur so von Menschen. Es mußten Millionen sein, von denen die meisten Touristen waren. Eigentlich störte mich das nicht, denn wer auf Mandelaire lebte, der lebte von den Touristen; ohne die Touristen hätte das Vergnügungszentrum der Galaxis, die Galerie der Zukunft gleich zusperren können, und Tausende Gauner hätten womöglich bürgerliche Arbeit verrichten müssen. Ein schrecklicher Gedanke! Da Magior und ich alte Freunde waren, kannte ich seine Gewohnheiten und wußte, daß er früher oder später beim Korsarengrab auftauchen würde. Mir waren auch alle seine Tarnkniffe bekannt, deshalb quartierte ich mich sehr zuversichtlich im Café Ostergarten ein. Von dort konnte ich den ganzen Platz überblicken, in dessen Mitte Billy »Tiger« Hobkopp auf einem Quadratsockel thronte, ganz aus blauem Marmor gemeißelt. Es war fein, daß man gerade ihn als Symbol aller Piraten aufs Grab gesetzt hatte, denn er war der Größte. Er war schon lange tot, würde aber auf ewig unvergessen bleiben. Drei Tage lag ich auf der Lauer, und ich hatte immer noch keine Spur von Magior entdeckt. Die vielen Touristen machten mir die Sache auch nicht gerade leicht, und ich mußte wirklich aufpassen, damit mir nichts entging. Auch machte mir die Müdigkeit zu schaffen, deshalb nahm ich immer wieder von den Pillen, die mir den Gedanken an Schlaf austrieben. Es war wieder Zeit für eine Pille. Aber ich hatte sie noch nicht geschluckt, da sah ich plötzlich Magior im Gedränge. In Begleitung dreier Leibwächter erschien er am Grab und legte einen kristallenen Kranz nieder, der gut seine dreitausend Platins gekostet hatte. Magior trug eine Gesichtsplastik, und somit war es klar, daß er anonym bleiben wollte. Aber mir konnte er 77
nichts vormachen, denn ich erkannte ihn allein an seinem geschmeidigen, katzenhaften Gang. Er blieb kaum zwei Minuten am Grab und wollte sogleich wieder in der Menge untertauchen, aber da war ich auch schon bei ihm. »Magior! Du Tausendsassa, laß dir gratulieren.« Aber bevor er sich noch mir zugewandt hatte, stürzten seine Leibwächter auf mich. Und wie aus dem Boden gewachsen, umringten uns plötzlich über ein Dutzend Reporter. Und während die Blitzlichter aufflammten und Kameras summten, kümmerten sich die Leibwächter ziemlich grob um mich. Aber darauf achtete niemand in diesem Gedränge, denn alle wollten Magior, den erfolgreichen Korsaren, interviewen. »Sir, würden Sie uns Ihre Eindrücke schildern?« »Kennen Sie schon den Umfang Ihrer Beute?« »Werden Sie sich zurückziehen?« »Haben Sie die Finanzbehörden unterrichtet?« Wie als Antwort auf die letzte Frage ertönten aus der Ferne plötzlich die Sirenen der Finanzpolizei, die sich rasch näherten. Bevor aber die Polizeischweber heran waren, erschien hoch über unseren Köpfen eine pompöse Luftschaukel und senkte sich lautlos herab. Kreischend stoben die Menschen auseinander. Zwei Meter von mir entfernt schlug ein Antigravstrahl auf. Magior sprang hinein und wurde wie von einer unsichtbaren Faust in die Höhe gerissen. Zwei Leibwächter sprangen hinterher, der dritte schleifte mich am Kragen mit sich. Mir hob es fast den Magen aus, als ich mit unheimlicher Geschwindigkeit hinaufschwebte. Aber ich war zufrieden, ich hatte Magior gefunden. Unter uns breitete sich ein endloses Lichtermeer aus, die Galerie der Zukunft, jenes Wunderland der Milchstraße, wo noch der Puls des großen Abenteuers schlug, wo noch das Geld auf der Straße lag, wo die Möglichkeiten unbegrenzt waren. Ja, hier auf Mandelaire ließ es sich noch leben. Und wenn man es schaffte, ein Freibeuter zu werden, mit einem eigenen Schiff, dann standen einem alle Herzen und Brieftaschen des Univer78
sums offen. Das wollte ich noch schaffen! Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich Magior in der Luftschaukel gegenüberstand. Er hatte seine Leibwächter weggeschickt und stierte mich grimmig an. Plötzlich lachte er. Er nahm seine Gesichtsplastik ab und sagte: »Eigentlich darf ich dir nicht böse sein, denn du hast für mich ganz schön Reklame gemacht. Sämtliche Käseblätter der Milchstraße werden Bilder von mir bringen, wie ich am Korsarengrab stand. Ich müßte dir dankbar sein. Du bist mein Gast!« Magior ließ mich allein und verschwand irgendwohin. Auf mich allein gestellt, sah ich mich ein wenig in den Räumen der Luftschaukel um. Es war eine auserlesene Gesellschaft, mit der Magior seine erfolgreiche Enterfahrt feierte. Ich sah viele bekannte Gesichter, alles große Korsaren mit klingenden Namen. In einem der schwach beleuchteten Säle spielte eine Kapelle. Überall wimmelte es von Touristenmädchen, die von den Fängern eingebracht worden waren. Ich mischte mich unter die Gäste. Es herrschte eine großartige Stimmung, und bald war die Gesellschaft so ausgelassen, daß niemand etwas dagegen hatte, als einer von Magiors Handlangern vorschlug, hinaus aufs offene Meer zu fliegen und auf einem der verlassenen Atolle ein Lager aufzuschlagen. Irgendwann schlief ich meinen Rausch aus. Als ich dann erwachte und meinen Kater mit den geeigneten Präparaten beseitigt hatte, waren wir schon auf einem Atoll gelandet. Die Kapelle hatte sich zwischen den schimmernden Korallengebilden eingenistet und lockte die Leute mit ihren heißen Rhythmen an. Es war eine prachtvolle Nacht mit einem übervollen Sternenhimmel, und ich dachte etwas wehmütig daran, daß man Pirat sein müßte, um sich dieses Leben leisten zu können. Aber ich sagte mir dann tröstend, daß ich es schon noch schaffen würde. Ich forderte ein terranisches Mädchen zum Tanzen auf, doch dann ließ ich das Mädchen stehen, weil ich Slim Pfauenauge entdeckte. Er saß auf einer Korallenbank und stierte blicklos 79
aufs Meer hinaus. »Störe ich?« fragte ich ihn. »Natürlich«, fauchte er mich an, »ich philosophiere.« Wortlos wandte ich mich zum Gehen, aber er hielt mich zurück. »Jooby«, sagte er, als ich neben ihm saß, »möchtest du einen prima Tip haben?« »Gerne«, gab ich zurück. Er starrte mich an. »Kauf dir kein Schiff, werde nie Pirat.« Ich ärgerte mich, weil er mir so einen Unsinn riet. In seiner Jugend war Slim Pfauenauge einer der kühnsten Piraten gewesen. Jetzt war er nur noch alt und wunderlich. »Ich muß Freibeuter werden«, sagte ich fest. »Es ist der einzige Weg, der zu einem erfüllten Leben führt. Ich möchte auch solche Feste feiern wie Magior.« Er funkelte mich an. Dann schlug er die Faust gegen einen Korallenstock und zeigte mir den blutigen Handrücken. »Siehst du, wie das blutet? Der Schmerz macht mir überhaupt nichts aus. Aber dafür schmerzt es, wenn ich die Bilanz aus meinem Leben ziehe und feststelle, daß es vollkommen unnütz war.« »Du hast das Leben ausgekostet«, sagte ich. »Ja, ich habe Feste gefeiert, und ich war oft wochenlang bis zur Bewußtlosigkeit besoffen, aber nicht, weil es mir Spaß gemacht hat, sondern weil ich die Bilder verscheuchen wollte, die ich im Weltraum gesehen habe. Wenn du noch nicht ganz versumpft bist, Jooby, und wenn du noch ein wenig Charakter hast, dann werde nie Pirat. Es ist ein schmutziges Geschäft.« Slim war in Ehren ergraut, aber jetzt im Alter schnappte er über. Ich ließ ihn, wo er saß und kehrte zurück zur gemütlichen Gesellschaft. Bald brachen wir auf. Irgend jemand hatte die Idee gehabt, in die Berge zu fliegen, wo man einen Gletscher schmelzen konnte, um ein völlig neues Badegefühl zu erproben. Wir schmolzen ein Eisfeld und hielten uns einige Tage dort auf. Zwischendurch sah ich gelegentlich Magior, aber ich 80
konnte ihn nie für ein längeres Gespräch gewinnen. Erst als wir uns auf dem Rückweg zur Galerie der Zukunft befanden, erwischte ich ihn in einem günstigen Augenblick. Diesmal war ich fest entschlossen, ihm mein Anliegen vorzubringen. Magior stand allein hinter der reichhaltigen Bar und mixte gerade einen Drink. »Man hat nur ein einziges Mal im Leben wirkliches Glück, mein Junge«, sagte Magior zufrieden, »und dieses eine Mal muß man fest zupacken.« »So wie du«, sagte ich und nahm das Glas, das er mir bis zum Rand gefüllt hatte. »Ich habe alles über die Orpheus gelesen, was geschrieben wurde. Muß ein toller Hecht gewesen sein.« Er lachte ungestüm, prostete mir zu und schüttete sich den Drink in die Kehle. »Toller Hecht ist untertrieben. Alles, was du gelesen hast, ist untertrieben. Alle diese sogenannten Spitzenreporter sollen sich pensionieren lassen, die können nur faseln. Ich werde dir sagen, was für ein Schiff die Orpheus wirklich war.« Und dann legte er los. Es sei ein Schiff gewesen, Junge! Jeder Quadratzoll ein Vermögen wert. Man konnte sich nicht sattsehen, denn jeder Winkel quoll förmlich über vor Edelsteinen und Gold, weil die Passagiere allesamt reiche Leute gewesen wären. Ja, die Orpheus war schon ein Wrack, wie es sich jeder Freibeuter erträumte, an das er aber im wirklichen Leben nicht herankam. Magior lachte wieder. »Das alles hat mich kalt gelassen. Ich habe nichts davon angerührt.« »Du hast nichts davon angerührt?« fragte ich verständnislos. Er schlug mir auf die Schulter, daß ich meinte, das Schlüsselbein müsse brechen. »Für mich war das uninteressant«, sagte er, »denn es hat sich da um Pretiosen gehandelt, die man erst an den Mann bringen mußte, und von Schachergeschäften halte 81
ich nicht viel. Nein, ich war als erster beim Wrack und habe mich aufs Kasino gestürzt. Volle zwei Stunden mußte ich mich abrackern, bis ich es ausgeräumt hatte. Als die Meute ankam, hatte natürlich niemand eine Ahnung, daß ich mit dem größten Happen bereits abdampfte, sonst hätten sie mich in Stücke gerissen.« Wir kippten den zweiten Drink. Ich war wie berauscht von seiner Erzählung. »Du hast deine Chance wahrlich genützt«, sagte ich. »Natürlich. Und jetzt habe ich so viel Mammon, daß ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll!« »Ich wüßte schon einen Tip«, sagte ich schüchtern. »Heraus damit«, schrie er begeistert. »Junge, wenn du eine gute Idee hast, dann sage ich allen Leuten hier, daß du mein bester Freund bist, und du sollst mal sehen, wie sich alle Türen für dich öffnen.« Plötzlich sank mir das Herz in die Hose. Er dachte überhaupt nicht daran, daß ich ihn um einen Gefallen bitten wollte, sondern glaubte, ich hätte einen Tip, wie er sein Freudenfest um eine Originalität bereichern konnte. Ich sagte nur: »Es ist eigentlich nichts.« »Willst du mich auf den Arm nehmen?« fragte er scharf. Da blieb mir nichts anderes übrig, als mit der Sprache herauszurücken. Ich sagte ihm also, was er mit einem ganze kleinen Teil seiner Beute machen könnte. Ich sagte ihm, daß er mir hunderttausend Platins leihen sollte, damit ich mir ein eigenes Schiff kaufen könnte. »Jooby«, sagte er milde, »erwähne nie wieder etwas Derartiges, sonst bist du für immer für mich gestorben. Du bettelst mich an! Hast du denn keine Würde, keinen Stolz? Kannst du nicht selbst die Summe erarbeiten, die dir fehlt? Hast du kein Gehirn, in dem du Ideen schöpfen kannst? Wenn du das alles nicht hast, dann denke nicht mehr daran, ein Korsar zu werden. Denn ohne diese Grundbedingungen schaffst du es nie.« 82
Ich schlug die Augen nieder und stammelte: »Ich dachte nur, weil du mein Freund bist …« »Das hat mit Freundschaft nichts zu tun. Selbst wenn ich einen Bruder hätte, dürfte er mich nicht anbetteln. Ich würde ihn eher umkommen lassen, als ihm Geld geben, damit er sich in die Freibeuterei einschleichen könnte. Was man zu einem Korsaren braucht, das kann man sich nicht erkaufen, man muß es selbst erarbeiten!« »Magior«, sagte ich schwach, »es war nur ein Versuch …« Gedemütigt und beschämt verließ ich die Luftschaukel, als wir in der Galerie der Zukunft einliefen. Ich kehrte zu meinem früheren Leben zurück, aber ich hatte mir geschworen, daß ich diese Schmach nicht auf mir sitzen lassen würde. Ich mußte es von allein schaffen. Es war leicht, den Touristen in der Galerie der Zukunft Geld abzuknöpfen. Ich bestahl sie, nahm sie beim Glücksspiel aus und verdiente mir gelegentlich einiges auf reelle Weise, indem ich Führungen veranstaltete. Aber es reichte immer nur gerade zum Leben. Es wollte einfach nicht richtig vorwärtsgehen, bis ich dann auf die Idee mit den Aktien kam. Am Rand der Galerie kaufte ich billig ein paar schäbige Parzellen und ließ von einem heruntergekommenen Banknotenfälscher für jeden Quadratzentimeter Boden eine Aktie anfertigen. Es waren sehr schmucke Papiere, und die Touristen erstanden sie haufenweise. Ich verlangte drei Platins pro Stück und hatte einen Reingewinn von zweieinhalb. Es war ein ziemlich langwieriges Geschäft, aber als ich dann neue Grundstücke kaufte und neue Aktien anlegte, hatte ich auf der Bank siebzigtausend Platins liegen. So dauerte es nur zwei Jahre, bis ich zweihunderttausend Platins beisammen hatte. Ich kaufte mir ein prachtvolles Enterschiff, stattete es mit einer vorzüglichen Ausrüstung aus und ließ es in die Berge schaffen. Danach besaß ich immer noch dreißigtausend in bar. Davon konnte ich bei einiger Zurückhaltung schon einige Mo83
nate zehren. Aber ich dachte nicht daran, mich auf die faule Haut zu legen. Jahrelang hatte ich mich nach einer ersten Enterfahrt gesehnt, jetzt wollte ich keine Zeit verlieren. Drei Wochen lag ich in den Bergen hinter dem Sender, aber nichts Aufregendes tat sich im Äther. Meine Geduld war schon so ziemlich am Ende, als ich am Anfang der vierten Woche einen Notruf auffing. »… Flitterbraut ruft um Hilfe … Flitterbraut …« Es war soweit. Diesmal hatte ich eine wirkliche Chance, wenn ich schnell genug reagierte. Ich ließ die Peiltaste einrasten, die mir die Koordinaten des funkenden Schiffes ausrechnen würde, und startete. Vielleicht gelang mir gleich bei meinem ersten Unternehmen ein guter Fischzug. Glück gehörte allerdings dazu … Ich hatte kein Glück. Als ich das Wrack sichtete, war ich ein wenig enttäuscht. Die Flitterbraut war eine unscheinbare, kaum zehn Meter lange Jacht. Aber meine Laune sank auf den Nullpunkt, als ich nahe genug heran war und auf dem Bildschirm Einzelheiten erkennen konnte. Ich wußte sofort, daß das Leck im Hinterschiff durch eine Motorexplosion entstanden war, aber das registrierte ich nebenbei. Ich sah nur das Totenkopfgebilde, das oberhalb des Lecks angebracht war. »Wo ein Totenkopf ist, da gibt es nichts mehr zu holen«, hatte mir einmal jemand gesagt. »Denn da war einer schneller als du.« Enttäuscht über diesen Mißerfolg, wendete ich und kreuzte einige Tage in der Gegend zwischen Mandelaire und den beiden Monden. Drei Gelegenheiten boten sich in dieser Zeit noch, aber für mich waren es nur Enttäuschungen. Ich kehrte nach Mandelaire zurück und landete im Raumhafen der Galerie. Ich mietete einen Schweber und beschloß, für eine Weile auszuspannen. Im »Goldenen Treibgut« gesellte ich mich zu einer Runde von zwölf Mann, denen ich von meinem Pech erzählte. Aber niemand war erstaunt darüber. 84
»Die Zeiten sind sehr schlecht«, sagte Jill der Radioaktive. Er war um die Mitte herum sehr breit, weil er ein Bleimieder tragen mußte. Das war zum Schutz der Leute notwendig, die mit ihm verkehrten, denn irgendwo in seinen Eingeweiden steckte eine Strahlungskapsel, die ihn am Leben hielt. »Blech-Willi war die letzten beiden Monate im All und ging leer aus. Ich habe mich ordentlich dahintergeklemmt«, sagte er mit seiner schnarrenden Stimme. »Ich bin über zwanzig Einsätze geflogen, aber immer war jemand vor mir da. Entweder die Patrouille, oder das Rote Kreuz. Und ein paarmal auch das Syndikat.« Langer Schwarz, der ein so dunkles Gesicht hatte, als wäre ihm ein Kilo Ruß hineingeblasen worden, sagte: »Es ist eine einzige Schweinerei, was die Patrouille mit uns treibt. Warum hat man denn die Piraterie legalisiert, wenn man nicht einmal an einem Wrack schnuppern kann, ohne einige Schüsse vor den Bug zu kriegen?« »Das Syndikat hat uns die Suppe eingebrockt«, sagte Jill der Radioaktive. Andere nahmen den Faden auf. Sie schimpften über die Patrouille und prophezeiten, daß alles noch ein böses Ende nehmen würde, wenn es so weiterginge. »Wenn die Patrouille weiterhin gegen die Konventionen verstößt«, drückte Mendez die allgemeine Stimmung aus, »dann werden wir eben auch zu ballern beginnen.« »Das Syndikat hat uns die Suppe eingebrockt«, wiederholte Jill. Von den Nebentischen sahen die Touristen interessiert zu uns herüber. Es wurde unheimlich still am Tisch. Nur Jill, der schon einiges intus hatte, sprach ungehemmt weiter. »Warum hat sich die Patrouille früher nicht um uns gekümmert? Sie schaltete sich nur dann ein, wenn einer die Finanz übers Ohr hauen wollte. Warum jagen sie uns jetzt? Ihr kennt die Methoden des Syndikats, und niemand kann mir erzählen, daß er damit einverstanden wäre. Fürchtet ihr euch vor den Folgen, wenn ihr euch gegen das Syndikat stellt? Seid ihr feige?« 85
Mendez mit dem kalten Blut sagte: »Du bist nur wütend, weil du schon zu alt bist. Im Syndikat haben Greise keinen Platz.« Mit diesen Worten ging er. Jill lehnte sich schwer atmend zurück. Er blickte mich an. »Du bist noch ein Grünschnabel, Jooby, deshalb halte dich hier heraus. Verschwinde!« Ich bekam einen roten Kopf, wütend zog ich mein Messer. Langer Schwarz hielt mich zurück. »Er ist ein alter Narr«, sagte er. »Laß ihn reden.« Wir waren nur noch zu sechst am Tisch, die anderen waren gegangen. »Du kannst mich nicht beleidigen«, wandte sich Jill an Langer Schwarz, »denn ich weiß, daß du die Hosen voll hast, wenn du etwas vom Syndikat hörst. Ich dagegen fürchte mich nicht. Wo sind denn die starken Männer vom Syndikat, damit ich ihnen die Meinung sagen kann.« »Ich habe genug von deinem Geschwätz«, sagte Langer Schwarz. »Kommst du mit, Jooby? Hier wird es bald ungemütlich werden.« Ich zögerte. Sollte ich Jill alleinlassen? Er erinnerte mich irgendwie an Slim Pfauenauge, der hatte auch so verworrene Ansichten gehabt. Jeder wußte doch, daß die Patrouille sich zu einem argen Übel entwickelte und die legale Piraterie zu untergraben drohte. Da war eine Organisation wie das Syndikat ein geeignetes Gegengewicht. Sicher hatte es eine Menge Gerüchte gegeben, die das Syndikat in ein falsches Licht rückten, aber davon konnte man nicht die Hälfte glauben. Nur ein alter Narr wie Jill konnte sich blenden lassen. Es war nicht recht, ihn allein hierzulassen, aber schließlich hatte ich auch keine Lust, mir sein irres Gerede anzuhören. So schloß ich mich Langer Schwarz an. »Hänge die Freibeuterei an den Nagel, sie hat in letzter Zeit den bitteren Beigeschmack von organisiertem Mord erhalten«, sagte Jill zum Abschied. Ich sah ihn nie mehr wieder. 86
Mandelaire bot unbegrenzte Möglichkeiten für einen durchschnittlichen Gauner – hier konnte er zum Millionär werden. Wo sonst in der Milchstraße gab es einen Ort, zu dem von überall her die Touristen pilgerten und direkt danach verlangten, ausgenommen zu werden? Und sie wurden nicht davon abgeschreckt, daß so mancher sein ganzes Vermögen auf Mandelaire gelassen hatte. Ganz im Gegenteil, sie wurden angezogen wie die Motten vom Licht. Mandelaire besaß durch die Korsaren, die Bauernfänger, die Rummelplatzatmosphäre und durch seine Altertümlichkeit eine besondere Note. Und des Menschen Trieb zum Abenteuer, der Erlebnishunger, diese Emotionen konnten hier gestillt werden. Ja, hier auf Mandelaire konnte man noch leben, richtig leben, ohne Fesseln. Das sprach sich in der Galaxis herum, und die Touristen folgten dem Ruf des Abenteuers und gaben dem Trend zur Goldenen Vergangenheit nach. Aber obwohl die Allgemeinheit nichts davon zu merken schien, tauchten Schatten auf, die Mandelaires Zukunft in Frage stellten, wenn sich nicht bald etwas änderte. Aus völlig unverständlichen Gründen begann die Patrouille, mit den Piraten aufzuräumen. Am folgenden Tag las ich in der Zeitung eine kurze Notiz, die mich tief erschütterte. Jill der Radioaktive, stand da, habe in seinem Raumschiff Selbstmord begangen; man vermutete, der Grund für diese Verzweiflungstat seien seelische Depressionen gewesen. In einem kurzen Nachruf würdigten sie ihn als eine der abenteuerlichsten Gestalten der Vergangenheit … Vergangenheit? Ich wollte nicht daran glauben, für mich war die Freibeuterei Gegenwart und Zukunft. Ich startete mein Schiff und ging auf Enterfahrt. Es war genügend Ausrüstung an Bord, und so konnte ich mit ruhigem Gewissen zwei Monate im All bleiben. Ich war fest 87
entschlossen, mir in diesen beiden Monaten keine Chance entgehen zu lassen. Ich war viele Tage allein, aber ich spürte kein Verlangen nach Gesellschaft, ich war nicht einsam. Ich fühlte mich mit den Sternen verbunden, und die Leere des Weltraums war mir sehr vertraut. Und dann fing ich einen Notruf auf. Als ich die Peiltaste einrasten ließ, entdeckte ich, daß das verunglückte Schiff kaum fünfzigtausend Kilometer von meinem Standort entfernt war, und in diesem Augenblick spürte ich, daß ich Glück haben würde. Ich handelte schnell, und knapp eine Viertelstunde, nachdem ich den Hilferuf aufgefangen hatte, war ich an Ort und Stelle. Schon auf den ersten Blick erkannte ich, daß es sich um eine jener Privatjachten handelte, wie sie zu Tausenden in unserem System kreuzten. Es würde dabei nicht übermäßig viel zu holen geben, aber ich spannte meine Forderungen an das Glück bei meinem ersten Einsatz nicht zu hoch. Was würde mich erwarten? Ich war ziemlich aufgeregt, aber deshalb nicht unbesonnen. Ich traf die Vorbereitungen mit kühler Überlegung und stellte mir eine handliche Ausrüstung zusammen, die aber alle notwendigen Dinge enthielt. Anscheinend gab es auf dem Wrack noch Überlebende, denn der Hilferuf kam unregelmäßig, wurde also nicht ausgestrahlt. Ich nahm Verbindung auf, und eine zittrige Männerstimme meldete sich: »Sind Sie ein Rettungsschiff? Wo ist Ihre Flagge?« »Ich fliege ohne Flagge«, sagte ich. »Öffnen Sie die Luftschleuse, sonst schweiße ich sie auf.« Mit einem Handgriff schloß ich den Raumhelm an die Sauerstoffflaschen, schnallte den Ausrüstungssack an den Sicherheitshaken und verließ durch die Notschleuse das Schiff. Im Wrack glitt die Luftschleuse auf. Sie sah sehr einladend aus, aber ich wäre ein Narr gewesen, hätte ich sie benützt. Im toten 88
Winkel der Bildschirme schwebte ich an das Heck der Jacht heran und glitt durch das mannsgroße Leck ins Innere. Durch das Gewirr der geschmolzenen Streben und scharfkantigen Bruchstücke arbeitete ich mich im Licht meiner Stablampe an das Schott zum Kabinenteil heran. Es war einmal ein gutes, ein modernes Schiff gewesen, an dem die Sicherheitsanlage vorzüglich gearbeitet hatte. Ich erkannte, daß das Schott beim Entweichen der ersten Luft sofort geschlossen und abgedichtet hatte. Nicht immer funktioniert das so glatt. Ich machte mich gerade daran, die Behelfsluftdruckkammer aufzublasen, als plötzlich irgend etwas gegen meinen Rücken drückte. Mir kam eine Gänsehaut, und ich verfluchte meinen Leichtsinn, der mich in diese simple Falle hatte tappen lassen. Aber ich hatte mich getäuscht, es handelte sich nicht um eine Falle. Der Druck verschwand aus meinem Rücken, und dann trieb steif ein menschlicher Körper an mir vorbei. Ich wandte meinen Blick von der Leiche ab – Tote bieten im Weltraum keinen schönen Anblick. Armer Teufel, dachte ich, hatte wahrscheinlich gerade im Maschinenraum hantiert, als es losgegangen war. Ich arbeitete weiter, und als die Luftdruckkammer aufgeblasen und der Druckausgleich hergestellt war, konnte ich das Schott leicht öffnen. Die Geräte ließ ich in der Luftblase liegen, als ich den verlassenen Korridor betrat. Ich schraubte den Helm ab und nahm die Waffe in die Hand. Drei vorsichtige Schritte brachten mich zu einer offenen Tür. Dahinter lag eine enge Kabine, in der auf einem Bett ein junger Bursche mit einem weißen Kopfverband saß. Als er mich sah, begann er zu schreien. Ich schloß die Kabinentür ab und ging weiter. Vor der geschlossenen Innenschleuse stand ein verhutzeltes Männchen, hatte eine Waffe in der Hand und wartete wahrscheinlich darauf, daß ich durch die Luftschleuse käme. Der Schrei des Verwundeten mußte ihm den Mut genommen haben, denn er zitterte wie Espenlaub, und ich brauchte ihm die Waffe nur aus den Fingern zu nehmen. 89
Dann durchstreifte ich das restliche Schiff. In einer Kabine stieß ich auf einen ganzen Berg von Andenken aus der Galerie, in der nächsten auf einen Tresor, der sich spielend öffnen ließ. Darin fanden sich zwei Scheckbücher. Ich ließ sie liegen. Bargeld war keines da, aber dafür einiger Schmuck. Ich warf ihn auf den Korridor hinaus. Die beiden Damen, die zu dem Schmuck gehörten, traf ich in der letzten Kabine an. Die eine war alt, die andere war ziemlich jung und sehr hübsch. »Was haben Sie mit Philipp gemacht?« schrie mir die junge Frau entgegen. Ich sah einen Ehering an ihrer Hand. »Ich konnte nichts mehr für ihn tun«, sagte ich. Ich hielt zuerst nach Waffen Ausschau, bevor ich die Wertgegenstände einsammelte und im Korridor auf einem Haufen zusammenlegte. »Aasgeier«, zischte die junge Frau, als sich unsere Blicke einmal kreuzten. Sie war sehr tapfer, sie weinte nicht. Als ich alles, was von Wert war, zusammengetragen hatte, fragte ich den Alten: »Wie hat er geheißen?« »Philipp.« »Das weiß ich. Wie sonst noch, wann wurde er geboren und wo?« »Philipp Coleman, Antares, Palladine-City, geboren 19.1. 3458.« »Werden Sie uns töten?« fragte die alte Dame. Ich sah sie an und sagte: »Sie haben genügend Proviant und bestimmt auch noch Sauerstoff für einige Tage. Sie sind nicht sehr weit draußen, die Rettungsmannschaft kann in spätestens fünf Stunden hier sein.« Mit einer ungelenken Bewegung winkte ich, schaffte die Beute in die Luftblase, schraubte den Raumhelm an, und nachdem ich das Schott geschlossen hatte, pumpte ich die Luft aus der Blase zurück in den Sauerstofftank. Dann faltete ich einen Leichtmetallsarg auseinander, legte Philipp Coleman hinein, schrieb seine Personalien darauf und schickte ihn auf die ewige 90
Reise in den Weltraum. Mehr konnte ich für ihn nicht tun. Ich klebte noch den Totenkopf ans Leck und kehrte zurück in mein Schiff. Ich startete. In den nächsten vier Wochen hatte ich viel zu tun, und von den dreißig Fahrten, die ich machte, waren vier erfolgreich. Das war nicht sehr viel, brachte aber außer einem Haufen beachtenswerter Pretiosen eine hübsche Summe Bargeld. Ich beschloß, für die nächste Zeit auszuspannen. Als ich im Raumhafen der Galerie landete, war ich ziemlich mißmutig. Wo blieb das erhebende Gefühl, das ein erfolgreicher Freibeuter empfinden sollte; wo das gewisse Prickeln, das sich nach bestandenen Abenteuern einstellte? Das alles blieb aus. Ich sah die grauenvollen Bilder vor mir, von den übel zugerichteten Menschen, die im Vakuum umgekommen waren, hörte das Zetern und Anklagen der Witwen und Mütter, und diese tragischen Gestalten konnte ich nicht so schnell vergessen. Ich hing meine Beute Kinnek Hehler für runde sechzigtausend an und hatte, zusammen mit dem erbeuteten Bargeld, jetzt runde hunderttausend Platins in der Tasche. Siebzigtausend legte ich auf die Bank, den Rest wollte ich unters Volk bringen. Ich schlenderte durch die Galerie und redete mir ein, daß alles so wie früher sei, aber das gelang mir nicht. Zu allem Übel sah ich nirgends bekannte Gesichter, und ich kam mir zwischen den Touristenscharen fast fremd vor. Ich beschloß eben, mir einen Schweber zu mieten und die Galerie zu verlassen, als mich eine Polizeisirene aus den Gedanken riß. Die Polizeisirenen hätten eigentlich nichts weiter bedeuten müssen, als daß jemand die Finanzbehörden hintergehen wollte. Das kam schon mal vor, und dann wurden Razzien gestartet. Aber diesmal war es anders. Kaum waren die Polizeisirenen ertönt, als auch schon Schüsse zu hören waren. Dann waren die Polizeischweber heran, und eine mondäne Spielhölle ging in Flammen auf. Es ging alles sehr schnell vor sich und endete 91
ebenso plötzlich, wie es angefangen hatte. Aber der Zirkus ging erst los, als bauchige Evakuierungskopter der Patrouille landeten, die alles verluden, was sich bewegte. Mich schnappten sie auch, und eingezwängt in ein Rudel Touristen, denen die ganze Sache Spaß zu machen schien, wurde ich ins neue Polizeihauptquartier gebracht. Die Touristen hatten es gut, denn nachdem ihre Identität festgestellt worden war, konnten sie wieder gehen. Aber ich mußte zwei Stunden in einer zugigen, kahlen Halle warten, bis ich einem Hauptmann namens Ivo Semkana vorgeführt wurde. »Aha, Jooby, der aufsteigende Stern der Freibeuter«, sagte er, nachdem er von einem dünnen Akt aufblickte. »Setzen Sie sich.« Ich setzte mich in einen Sessel, der mit richtigem Leder überzogen schien, und sagte: »Nur Freunde dürfen mich Jooby nennen.« Semkana lehnte sich zurück und betrachtete mich mit schmalen Augen. »Hoffen Sie, daß ich Ihr Freund bin. Wenn Sie mich nämlich als Ihren Feind betrachten, dann könnten Sie eines Tages so enden wie heute Mac der Zuckerheld, Connery der Verfemte, oder wie Flint Dynamit Woohley und Oskar das Findelkind. Das waren doch alles Freunde von Ihnen?« Das stimmte nicht ganz, ich hatte sie nur hie und da zu Gesicht bekommen, aber ich ließ es dabei bewenden, indem ich sagte: »Sie waren aus gutem Holz geschnitzt.« »Gutes Holz, das morsch geworden war.« »Sicher«, gab ich sarkastisch zurück, »aber ihr habt die Würmer hineingesetzt. Alles, was Mandelaire anziehend machte, wollt ihr abschaffen. Es gelingt euch noch, die Galerie in ein Altersheim zu verwandeln.« Er war traurig; es schien eine echte Trauer, und das irritierte mich. Er sagte: »Ich bin auch auf Mandelaire aufgewachsen, ich hänge an dieser Welt, und früher wollte ich sogar Freibeuter werden. Aber ich bin froh, daß ich rechtzeitig genug erkannt 92
habe, woran es uns wirklich mangelt. Wir haben nichts gegen die Freibeuter alten Stils, wenn es auch nicht jedermanns Sache sein mag, Leichen zu bestehlen. Warum sagen Sie nichts dagegen?« »Ach, lassen Sie mich in Ruhe.« »Haben Sie auch schon Gewissensbisse?« »Nein.« Er lachte wissend. »Lassen wir das. Ich wollte Ihnen eigentlich nur sagen, daß Sie sich aus dem Syndikat heraushalten sollen. Sie sind im Grunde genommen ein anständiger Kerl, und ich möchte nicht, daß Sie in irgend etwas hineinschlittern, was Sie dann bereuen. Sie haben doch Jill gekannt? Jill den Radioaktiven?« »Ja«, sagte ich. »Er hat irgend etwas mit sich herumgeschleppt und konnte es nicht loswerden. Deshalb hat er Schluß gemacht.« »Das war die Version, die von den Zeitungen gebracht wurde. Schließlich wollen wir die Öffentlichkeit nicht über die Hintergründe informieren. Das ist schlecht für den Fremdenverkehr.« »Was soll das?« fragte ich. »Hat er denn nicht Selbstmord begangen?« »Nein. Er hat über das Syndikat gelästert, und deshalb mußte er sterben.« »Das ist doch Blödsinn. Vielleicht habt ihr ihn auf dem Gewissen, so wie Oskar Findelkind und die anderen.« »Nein, Oskar und seine Kumpane gehörten zum Syndikat und hatten den Tod verdient.« »Nun weil sie dem Syndikat angehörten?« »Das ist Grund genug!« Er lehnte sich nach vorn und sah mir fest in die Augen. »Wir müssen das Syndikat ausräuchern, bevor uns die Regierung zur Strafkolonie macht.« Sie wollten die Freibeuter ausrotten! Warum sagte er es nicht rundheraus. Einige Bonzen waren auf Mandelaire ausgeraubt 93
worden und setzten ihre Beziehungen für ihre Rachegelüste ein. Das Syndikat setzte sich für die Freibeuter ein, und die Mitglieder dieser Vereinigung wurden von der Polizei einfach getötet. Ich kochte vor Wut. Ich stand auf und fragte Semkana, ob das alles sei. Er sagte, eigentlich ja, das Formelle sei geregelt, aber er hätte sich noch mit mir privat zu unterhalten. »Lieber nicht«, sagte ich und ging. Ich verbrachte einige turbulente Tage in der Galerie, aber irgend etwas Unbestimmtes fehlte mir. Ich hatte wieder das Gefühl, ein Fremder zu sein. Das verstand ich nicht, es war doch alles wie früher – die Lichtkaskaden, der Lärm, der Pulsschlag des großen Abenteuers. Oder etwa nicht mehr? Was hatte sich denn verändert? Und plötzlich wußte ich es. Es war tatsächlich noch alles wie früher. Nur ich hatte mich geändert! Ich hatte mir seit meiner frühesten Jugend gewünscht, Freibeuter zu werden. Jetzt hatte ich das Ziel erreicht, aber es befriedigte mich nicht. Von irgendwoher sprang mich die Titelseite einer Zeitung an. In riesigen Lettern stand auf dem Blatt, das ein Tourist in der Hand hielt, folgende Schlagzeile: 2 MILLIARDEN PLATINS BEUTE! Tollstes Husarenstück in der Geschichte der Freibeuterei! Eine noch unbekannte Entermannschaft räumte die wracke NAXOS aus! Ich kaufte eine Zeitung und wollte den Artikel schnell überfliegen, als eine Stimme hinter mir sagte: »Da bleibt dir wohl die Luft weg, was?« Ich wirbelte herum. »Magior!« Er war es tatsächlich. Groß, breit lächelnd, stand er da. Er sah immer noch so aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Aber er trug keine Korsarenkleidung mehr. Drei Jahre hatte ich ihn nicht gesehen, und mir kam erst in diesem Augenblick zu Bewußtsein, wie sehr mir seine Gesellschaft gefehlt hatte. 94
»Wo hast du in den drei Jahren gesteckt?« fragte ich. »Man hat überhaupt nichts von dir gehört. Was hast du getrieben? Bin ich glücklich, daß ich dich wiedersehe!« Er lachte und schlug dann vor, in einen Keller zu gehen, wo wir in einer Nische ungestört plaudern könnten. Das taten wir dann auch. Wir tauschten Erinnerungen aus. Ich erzählte ihm, was ich erlebt hatte, und er wartete mit Reiseberichten über ferne Planeten auf, die er besucht hatte, berichtete von den unwahrscheinlichsten Abenteuern, die er erlebt hatte und die mich ganz wehmütig werden ließen. »Ich weiß es«, sagte ich, »das Abenteuer geht mir ab. Die Galerie ist nur noch ein Abklatsch.« Magior deutete auf die Zeitung. »Und was sagst du dazu?« »Steckst du vielleicht dahinter?« »Einer allein könnte das nicht schaffen«, sagte er. »Wir haben es geschafft. Es ist nur eine Frage der Organisation, um ein solches Ding zu drehen.« Mir ging ein Licht auf. »Das Syndikat! Du gehörst zum Syndikat. Aber ich dachte, die Mitglieder des Syndikats wollen anonym bleiben. Warum gibst du dich mir zu erkennen?« »Ich vertraue dir.« »Nur deswegen?« »Nein. Wir suchen nach geeignetem Nachwuchs. Deine Erfolge haben sich herumgesprochen.« »Ist das dein Ernst?« Ich war verblüfft. »Soll das heißen, das Syndikat interessiert sich für mich?« »In etwa. Aber du scheinst nicht besonders begeistert zu sein. Hat es vielleicht mit deinem Besuch bei Hauptmann Semkana zu tun? Ich kann mir vorstellen, daß er versuchte, dich einzuschüchtern. Aber du hast genügend Einblick in die augenblickliche Situation, daß du einsehen wirst, wie notwendig es ist, daß wir uns organisieren.« »Das ist mir klar«, sagte ich. »Wie stellst du dich dann zu diesem Angebot?« 95
»Ich schätze es sehr«, sagte ich nachdenklich, »aber es kommt so plötzlich.« Magior wurde zornig. »Was stellst du dir eigentlich vor? Ich könnte dir mehr als hundert Korsaren nennen, die sich ein Bein ausreißen würden, um ins Syndikat aufgenommen zu werden. Und du hast da noch Bedenken? Hast du denn überhaupt eine Ahnung, was es bedeutet, Mitglied des Syndikats zu sein? In ein, zwei Jahren wird es soweit sein, daß keiner der Einzelgänger mehr eine Chance hat. Die Patrouillenschiffe werden immer mehr, die Passagierschiffe bewaffnen sich, und alles, was bleibt, sind die Privatjachten. Aber davon kann man bekanntlich nicht leben. Außerdem werden die Schiffe immer besser, so daß man viel Geduld haben muß, um an ein Wrack heranzukommen.« »Verstehe mich richtig, Magior«, warf ich ein, »ich stehe nicht gegen das Syndikat, im Gegenteil. Aber ich möchte mich informieren, bevor ich mich anschließe. Deshalb frage ich dich auch, was das Syndikat ändern kann, daß die Schiffe immer widerstandsfähiger werden.« »Das Syndikat ist eine weitverzweigte Organisation«, sagte Magior, »wir haben Mittelsmänner in der ganzen Galaxis, von denen wir Tips bekommen. Diese Leute tragen uns zu, welche Schiffe defekt sind und wie diese Mängel geartet sind. In den Trockendocks auf Mandelaire haben wir ein Dutzend Mechaniker auf unserer Seite, die über die einlaufenden Schiffe Berichte liefern. Wir brauchen dann nichts weiter zu tun, als die Schiffe im Auge zu behalten, die eine Chance haben, als Wrack zu enden. Wenn es dann bumst, sind wir zuerst da. Du kannst Gift darauf nehmen, daß fast jedes Wrack, das du geplündert vorgefunden hast, vom Syndikat ausgeräumt wurde.« »Das hört sich so einfach an …« »Es ist aber komplizierter.« Er sagte mir noch mehr über das Syndikat. Und wer beim Syndikat sei, hätte nie Geldsorgen, denn man wäre an jedem Fischzug beteiligt, selbst wenn man 96
sich auf Urlaub irgendwo in der Galaxis herumtriebe. Man wäre sozusagen Gehaltsempfänger. »Das hört sich an, als betreibe man die Freibeuterei als Job«, sagte ich lachend. »Richtig!« Magior sagte es, als sei es die natürlichste Sache der Welt. Die Freibeuterei habe doch schon lange alle Reize verloren, erklärte er. Pirat sein, das sei doch nur ein verwirklichter Kindheitstraum, aber was sei das schon für ein Abenteuer. Er zerstörte mir eine Illusion um die andere, aber ich konnte nicht umhin, ihm recht zu geben. »Abenteuer«, schwärmte Magior, »die sucht man woanders. Und man findet sie auch. Man fliegt für das Syndikat einige Einsätze, dann hat man für einige Zeit Urlaub.« Magiors Erzählung riß mich mit. Am Ende fragte er: »Ist das ein Leben?« »Ja«, gab ich zu, »aber ich denke auch an später.« »Wenn du alt bist, sorgt das Syndikat für dich. Das Syndikat vergißt niemanden. Im positiven Sinn genausowenig wie im negativen.« »Wie meinst du das?« »Miesmacher können wir nicht gebrauchen. Ich denke da an Jill …« Ich war fassungslos. »Ihr habt Jill umgebracht?« »Was hast du, Jooby? Wir können es uns nicht leisten, daß uns jeder dahergelaufene Stromer anschwärzt. Es liegt doch auf der Hand, daß wir in solchen Fällen radikal durchgreifen müssen.« Ich nickte geistesabwesend. »Es wird schon so sein.« »Dann schlag ein.« Er hielt mir seine Hand her. Ich schlug ein. Magior hatte gesagt, ich sollte die nächste Zeit warten, das Syndikat würde sich mit mir in Verbindung setzen. Drei Wo97
chen lang blieb ich in der Nähe meines Raumschiffs, das immer noch im Raumhafen der Galerie stand. Ich schloß einige Bekanntschaften mit Touristen, die ihre Jachten in der Nähe abgestellt hatten und es vorzogen, in ihren Luxuskabinen zu wohnen, statt in den Hotels der Galerie. Die Abende verbrachte ich meistens mit Frau Thorheim, die ihren Mann auf seinen nächtlichen Vergnügungsgängen nicht begleiten konnte, weil sie schwanger war. Sie hatte mir freimütig alles über sich und ihren Mann erzählt, so daß ich fast einen lückenlosen Lebenslauf von den Thorheims besaß. Sie wollten bald zurück nach Terra. Herr Thorheim war einer der reichsten Männer im Sol-System, und er hatte sich mit seiner Familie verkracht, weil alle gegen eine Heirat waren. Ich hätte an Thorheims Stelle nicht anders gehandelt, denn seine Frau war eine ganz entzückende Person und eine recht angenehme Gesprächspartnerin mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Mitten in eines unserer Abendgespräche platzte ein Mechaniker in meine Kabine, den ich vorher noch nie gesehen hatte. Aber er behauptete, auf meinen Wunsch gekommen zu sein, um die Maschinen zu überprüfen. Ich hatte nichts dergleichen gewünscht, hütete mich aber, dies vor Frau Thorheim zu sagen. »Oh, Sie gehen auf Enterfahrt?« fragte sie nur. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, erhob sie sich. Ich begleitete sie zur Schleuse und war etwas betreten, weil ich sie so schnell abschob. Aber als sie dann auf dem Betonboden vor dem Schiff stand, wünschte ich ihr noch einmal viel Glück, weil mir nichts Passenderes einfiel. »Vermutlich werden wir uns nie wiedersehen«, sagte ich. »Vermutlich. Jedenfalls halte ich Ihnen die Daumen, daß es ein Junge wird.« Sie lachte. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber wahrscheinlich nicht notwendig. Aber vielleicht nützt es etwas, wenn ich Ihnen die Daumen halte, damit Sie eine fette Beute machen. Hoffentlich sind nicht wir Ihre Opfer.« 98
Wir lachten, plötzlich gab sie mir einen Kuß auf die Wange. Dann wandte sie sich um. Ich sah ihr noch einige Sekunden nach, wie sie langsam zu ihrem Schiff hinüberging. Als ich in die Kabine zurückkam, erwartete mich der Mechaniker schon ungeduldig. Er sagte: »Man hat mich zu Ihrer Unterstützung hergeschickt. Wir sollen alles klarmachen. In vier Stunden geht es los. Die Vorbereitungen wurden schon getroffen, der Papierkram ist erledigt.« Seine kalte Art gefiel mir nicht, aber ich verkniff mir einige Bemerkungen, die mir auf der Zunge lagen. Ich hoffte nur, daß ich nicht mit ihm starten würde. Aber meine Befürchtungen waren grundlos. Als das Schiff startklar war, erschien Magior. Der Mechaniker ging. »Du?« fragte ich ganz erstaunt. »Ja«, sagte Magior und schlug mir auf die Schulter. »Man war der Meinung, wir beide seien ein fabelhaftes Team.« Wir starteten, und danach, draußen im Weltraum, war ich arbeitslos. Magior berechnete die Kursdaten, fütterte die automatische Navigation und führte dazwischen immer wieder chiffrierte Gespräche mit einer Stelle auf Mandelaire. Er ließ mich an keine Arbeit heran. Und es waren fast zwei Stunden vergangen, die sich für mich endlos dahinzogen, als sich Magior zufrieden seufzend zurücklehnte. »Das hätten wir geschafft«, sagte er. »Diesmal habe ich dir die ganze Arbeit abgenommen, aber nächstens mußt du sie allein machen.« »Können wir es uns eigentlich leisten, mit dem automatischen Piloten zu fliegen?« fragte ich verwundert. »Das sieht beinahe so aus, als wüßtest du genau, wenn und wo etwas passieren würde.« »Du kommst noch schnell genug hinter unser System«, sagte er kurz. Er beschäftigte sich wieder mit der Funkanlage, denn ein Spruch kam durch. Diesmal unverschlüsselt. Die Nachricht war kurz: »Eben gestartet.« 99
»Jetzt ist es bald soweit«, sagte Magior erleichtert. »Du kannst dich inzwischen flachlegen, während ich noch einige kleinere Korrekturen vornehme. Geh ruhig in deine Kabine, hier würdest du mich nur stören.« Es klang nicht wie ein guter Ratschlag, sondern war unverkennbar ein Befehl. Ich ging auf meine Kabine und versuchte, mich zu entspannen. Aber es gelang mir nicht. Und als mich dann der Alarm aufschreckte, stürmte ich zu Magior in die Navigation. Er war nicht einmal halb so aufgeregt wie ich. »Wir haben es«, empfing er mich gelassen. Aus dem Funkempfänger kamen Kratzgeräusche. Ich sah zum Bildschirm und erkannte in dem Sternenmeer eine mattschimmernde Raketenhülle, in deren Mitte ein breiter Riß klaffte. Dieses seltsame Leck verwunderte mich. Ich zerbrach mir den Kopf, wie es zu dieser Katastrophe hatte kommen können, aber mir fiel keine Erklärung ein. Noch nie hatte ich ein Leck dieser Art gesehen. Immer noch kamen die Kratzgeräusche aus dem Funkempfänger, und sie verwirrten mich. »Was bedeutet das Kratzen?« fragte ich. »Wir zerhacken ihre Notrufe«, gab Magior zurück. »Dadurch können sie schlechter angepeilt werden, und inzwischen räumen wir den Kahn aus. Dir werden die Augen überquellen, wenn du die Schatzkiste dort drüben siehst. Aus sicherer Quelle wissen wir, daß es sich um eine gute Million handelt. Da hast du gleich den ersten Beweis dafür, wie gut es ist, das Syndikat hinter sich zu …« Ich unterbrach ihn. »Was soll das? Notruf zerhacken! Damit erschweren wir den Rettungsmannschaften die Arbeit. Vielleicht gibt es Verletzte im Wrack.« »Hoffentlich nicht.« »Wie meinst du das?« »Ach, halt den Mund.« Magior stellte seine große Entererfahrung meisterlich unter 100
Beweis. Geschickt manövrierte er unser Schiff an die Breitseite des Wracks und ließ die Magnetklammern zuschnappen. Wir kletterten in unsere Raumanzüge. Magior wog einige Waffen in der Hand, bevor er sich für einen Nadelstrahler entschloß. Ich hatte inzwischen den Raumhelm abgeschraubt und stellte die Gerätschaft zusammen. Als ich zur Notschleuse kam, war Magior schon durch. Ich folgte mit dem Gerätschaftssack. Die Außenkante der Luftschleuse bot mir einigen Halt, und während ich mich anklammerte, orientierte ich mich. Magior hatte sich schon abgestoßen und schwebte auf das zwei Meter breite Leck des anderen Schiffes zu. Das Leck befand sich ungefähr in Höhe der Unterkunftsräume. Magior kam beim Wrack an und winkte mich zu sich. Ich stieß mich ab. Es ist ein komisches Gefühl, durch den Weltraum zu schweben. Man glaubt, man hinge bewegungslos und alles drehe sich um einen. Aber es war genau umgekehrt. Plötzlich sah ich, wie das geenterte Schiff unter mir heranrollte und griff nach einer abstehenden Strebe. Magior nahm mir den Gerätesack ab, holte sich den Schweißbrenner hervor und schwebte dem nächsten Schott zu. Ich wußte nicht, ob er vergessen hatte, das Leck abzudichten, bevor er das Schott öffnete, oder ob es Absicht war. Immerhin bestand die Möglichkeit, daß es Überlebende gab, und darauf mußte man Rücksicht nehmen. Mit einigen Handgriffen spannte ich eine Kunststoffplane über das Leck und dichtete es so ab. Dann öffnete ich eine Sauerstofflasche und ließ die Luft ausströmen, bis der normale Druck hergestellt war. Unsere Raumanzüge fielen zusammen, und wir nahmen die Helme ab. Als ich bei ihm war, sagte Magior tadelnd: »Du hättest Sauerstoff sparen können.« »Aber vielleicht gibt es noch Überlebende«, sagte ich. »Na, und wenn schon. Zeugen dürfen jedenfalls nicht zurückbleiben.« Mit diesen Worten zog er seinen Nadelstrahler und öffnete das Schott. Als er hindurchschritt, kam er in den 101
Bereich des Antigravs, und es gab ein Poltern, als seine schweren Stiefel gegen den Boden prallten. Er hatte sich elegant abgefangen. Bevor ich die Tragweite des Gesagten erfassen konnte, hatte er nacheinander einige Kabinen aufgestoßen. Vor der letzten blieb er stehen. Langsam kam ich näher. Dabei konnte ich Magior nicht aus den Augen lassen. Er war mir plötzlich ein Unbekannter. Er hatte etwas Dämonisches an sich. Wie gebannt starrte er in die Kabine, aus der ein Wimmern kam, und richtete die Waffe in den Raum. »Nicht!« flehte eine Männerstimme. »Bitte, bitte, nicht schießen!« »Komm her, Jooby«, sagte Magior, »diese Arbeit nehme ich dir nicht ab. Schließlich mußt du dich daran gewöhnen.« Wieder dieses Wimmern. Ich ging zu der Kabine. Als ich hineinsah, wurden mir die Knie weich. Instinktiv lehnte ich mich an Magior, aber er stieß mich ab. »Du gewöhnst dich daran«, sagte er. »Mach jetzt ja nicht schlapp.« Ich zog meine Waffe. Der Mann begann zu schreien und warf sich auf die Frau im Bett. Plötzlich wurden mir alle Zusammenhänge klar. Ich wußte, woher Magior den sicheren Tip hatte, daß zu einem genau bestimmten Zeitpunkt ein bestimmtes Schiff verunglücken würde. Und ich wußte auch, auf welche Art das Leck zustande gekommen war. Schon im Raumhafen hatten die Männer des Syndikats hochexplosiven Sprengstoff im Schiff untergebracht und hatten ihn an einen Zeitzünder angeschlossen. Und was danach noch zu erledigen war, fiel den Freibeutern zu. Diese Methode war einfach und absolut narrensicher. Deshalb also konnten die Freibeuter des Syndikats immer als erste bei einem Wrack sein. Sie hatten ja den Sprengstoff angebracht und den Zeitzünder gestellt. Und das Syndikat machte nicht einmal vor den großen Passagierschiffen halt. Wieviel 102
Menschenleben dabei geopfert wurden, schien belanglos zu sein. Mir kam ein Verdacht, daß Magior schon damals, als er die Orpheus plünderte, dem Syndikat angehörte. Mir wurde übel, als ich ihn ansah. Wen konnte es jetzt noch wundern, daß sich die Patrouille so radikal gegen die Freibeuterei wendete? Es waren keine Piraten mehr, es waren noch nicht einmal Aasgeier, sondern skrupellose Massenmörder. Und mein bester Freund, mein ehemaliges Vorbild, Magior, gehörte zu ihnen. »Du brauchst ihnen nicht in die Augen zu sehen«, riet er mir. Aber ich sah ihnen in die Augen. Ich sah Thorheim in die Augen, der sich inzwischen gefaßt hatte. Und ich sah seiner Frau in die Augen, die in den Wehen lag. Thorheim hielt ihre Hand. Sie wandte den Kopf ein wenig und sah mich voll an. Sie lächelte. Aber es war ein müdes Lächeln. Ich sah Magior an. Er betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. Dann fiel sein Blick auf meine Waffe. »Was tust du da?« fragte er betroffen. »Bist du übergeschnappt, Jooby? Was soll das … Jooby!« Magior war bis an die Wand zurückgewichen. Er war sehr bleich und bot einen erbärmlichen Anblick. »Wir waren doch Freunde, Jooby«, sagte er. »Ich will mich auch erkenntlich zeigen. Wenn du die Waffe wegsteckst, dann werde ich den Vorfall vergessen. Sag mir, daß du in einer plötzlichen Sinnesverwirrung gehandelt hast, und es ist in Ordnung.« »Ich weiß sehr gut, was ich tue«, gab ich zurück und entsicherte die Waffe. »Du kannst mich auch nicht einschüchtern, wenn du mir mit der Rache des Syndikats drohst. Und deine verlockenden Abenteuer? Du konntest mir nur für einige Zeit damit den Mund wäßrig machen. Ich glaube, hier gibt es für mich weit mehr zu tun. Das Syndikat ausräuchern helfen, wird sicherlich auch abenteuerlich sein.« Er starrte mich an. »Tatsächlich«, stöhnte er, »du bist übergeschnappt. Aber du bringst es nicht über dich, mich zu töten.« 103
»Da hast du recht«, sagte ich. »Das ist auch nicht nötig. Es kann nicht mehr lange dauern, bis die Patrouille eintrifft.« Magior sagte nichts mehr, aber ich sah, wie es in ihm arbeitete. Er suchte krampfhaft nach einer Chance, um mich zu überwältigen. Ich gab ihm diese Chance nicht. Ich riskierte einen kurzen Blick in die Kabine. Thorheim schluchzte befreit. Seine Frau hatte wahrscheinlich von alledem nicht viel mitbekommen. Sie schlief wieder, während wir auf das Eintreffen der Patrouille warteten.
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Blütezeit Die Blume, die Benjamin Craig aus der Brust wuchs, sah einer Zinnie nicht unähnlich. Ben Craig stand dicht vor dem Spiegel. Fasziniert betrachtete er den buntfarbenen Blütenkopf, der sich zwischen dem groben Tuch seiner geöffneten Bluse dem Licht entgegenreckte. Dann glitt Bens Blick weiter zum kräftigen, behaarten Stengel, der etwa drei Zentimeter unterhalb der Blüte ein ebenfalls behaartes Blatt trug. Der Stengel maß danach noch ungefähr acht Zentimeter, bevor er knollenartig in der Brustmitte mündete und mit Haut, Bindegewebe, Muskelstränge, Knorpeln und Brustbein verschmolz. Ben erwuchs daraus keinerlei physisches Unbehagen. Biß er aber am Stengel der Blume, so entstand in seiner Brusthöhle ein Schmerz, der sich mit sengender Schärfe durch seinen ganzen Körper fortpflanzte. In den letzten fünf Stunden war die Blume weder gewachsen, noch hatte sie sich auf andere Art merkbar verändert. Ben war sich dessen absolut sicher, denn er verfolgte das Wachstum der Blume mit steigendem Interesse – seitdem er die Knospe auf seiner Brust entdeckt hatte: vor vierzig Normstunden. Und mit keiner anderen Regung als wissenschaftlicher Neugier beobachtete er die Entfaltung der schillernd bunten Blütenblätter. Er empfand es als eine Selbstverständlichkeit, daß er nicht sogleich in Panik verfallen war. Aber er wußte auch, daß er von den anderen Expeditionsteilnehmern nicht erwarten durfte, daß sie die Gegebenheiten mit derselben vorurteilslosen Objektivität betrachteten wie er. Im Gegenteil, er würde auf der Hut sein müssen! Als sich aus dem Korridor leichtfüßige Schritte seiner Kabine näherten, schloß er hastig die Bluse über der Brust – dennoch behutsam, damit die Blume ja nicht gefährdet werde. 105
Er drehte sich mit betont ausdruckslosem Gesicht um. Die Arme schützend vor der Brust verschränkt, erblickte er Esther Dillon, die, zögernd fast, seine Kabine betrat. »Ben, ich …«, stammelte sie. Sicher war ihr die schnelle Bewegung, mit der er sich der Tür zugewandt hatte, nicht entgangen. Sofort überbrückte sie aber ihre Befangenheit mit einem Lächeln. »Ich suche dich im ganzen Schiff, Ben … Jeff und Mick möchten dich sprechen. Sie warten im Lager.« Esther war ein zerbrechliches Geschöpf, mit rotschimmerndem Haar, schneeweißer Haut und ausdruckskräftigen Mandelaugen; und ihre ungeschminkten Lippen waren voll und rot. Zwischen Ben und ihr hatten sich seit dem Start von Luna unsichtbare Bande gesponnen, die sich leicht zu offener Zuneigung hätten festigen können, wäre dadurch nicht ein Keil in ihre Runde getrieben worden. Denn neben Esthers Tätigkeit als Schiffsarzt, Bordkoch und »Mädchen für alles« war sie die einzige Frau in diesem vierköpfigen Unternehmen. Sekundenlang stand Ben reglos da, dann sagte er: »Gut. Ich komme gleich nach.« Mit gefurchter Stirn beobachtete er, wie Esther nickte, sich umdrehte und den Raum verließ, leichtfüßig zwar, wie immer, doch ungelenk und steif, so schien es ihm. Er wartete so lange, bis Esthers Schritte im Korridor verhallt waren und er sie über die Eisenleiter an der Außenwand des Schiffes steigen hörte. Dann durchmaß er die Kabine mit vier schnellen Schritten und – blieb stehen. Ein Verdacht zwang sich ihm auf. Langsam, fast widerwillig drehte er sich um. Er stand jetzt in der offenen Tür und hatte denselben Blickwinkel, wie vorhin Esther. Er sah hinüber zum Spind, blickte in den Spiegel. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. Esther hätte ihn von hier aus beobachten können. Hatte sie die Blume gesehen? Ben wollte kein Risiko eingehen, darum nahm er als sicher 106
an, daß Esther die Zinnie auf seiner Brust gesehen hatte. Es war zweifelhaft, ob ihm Esther im Ernstfall zur Seite stehen würde, hatte sie ihm doch offen erklärt, sie können seinen Wunsch, noch länger auf dieser Welt zu bleiben, zwar respektieren, unmöglich aber teilen. Hatte Esther die Blume also gesehen, dann stand er allein, so oder so. Aber Ben würde selbst in diesem Fall nicht kapitulieren. Er hatte die kommende Krise vorausgesehen und die nötigen Schritte überlegt. Jetzt war es soweit; es galt zu handeln. Mit pochenden Schläfen warf er sich eine Lederjacke über, um die verräterische Ausbuchtung seiner Bluse zu tarnen. Er wandte sich zum Schott, das in die unteren Regionen des Schiffes führte, und klomm die ölige Leiter hinunter. Bens Füße erreichten das metallene Deck des Maschinenraums. Es stank hier nach einem Gemisch von Schmiermitteln, Öl, Säure und Abgasen – ein Geruch, der selbst nach längerer Ruhezeit der Motoren nicht zu vertreiben war. Er sah sich um, konnte aber kaum etwas erkennen, so dunkel war es. Dennoch knipste er das Licht nicht an. Er ergriff eine der beiden Stablampen, die links und rechts der Eisenleiter angebracht waren, und leuchtete sich damit seinen Weg zum Sammelaggregat. Er kannte sich mit dem Antrieb und der Mechanik eines Raumschiffs kaum aus, aber er hatte Mick, der Pilot und Ingenieur war, bei einer der seltenen Motorwartungen über die Schulter geblickt und sich dadurch einige oberflächliche Kenntnisse erworben. Jetzt kamen sie ihm zugute. Er wußte, wie wichtig die Platinstäbchen waren, die beim Hypersprung die Aufgabe hatten, als Katalysatoren zwischen Normal- und Hyperraum zu wirken. Über den Metallsteg erreichte er das Aggregat, löste mit flatternden Fingern die Verschlußkappe, griff hinein in das Gewirr der Schaltelemente, entfernte die drei kleinen Stäbe und steckte sie in seine Jackentasche. 107
Sein nächstes Ziel war das Ersatzteillager. Der Lichtfinger seiner Stablampe erfaßte ein Kästchen, das er rasch durchstöberte, bis er alle Ersatz-Katalysatoren gefunden hatte. Er verstaute, die sechs Platinstäbchen bei den drei anderen in seiner Brusttasche. Kurz darauf befand er sich wieder auf dem Oberdeck. Er öffnete die Wachraumtür und schloß sich in der engen, mit weißem Alublech ausgelegten Duschnische ein. Im Zentrum der quadratischen Bodenfläche war ein kreisrunder Abfluß eingelassen, über den sich ein engmaschiges Gitter spannte. Ben bückte sich und stellte zufrieden fest, daß sich das Netzwerk leicht in seinem Gewinde aufschrauben ließ. Sekunden später lag das Abflußgitter neben der konischen Öffnung. In zehn Zentimeter Tiefe spannte sich der erste Filter; hier waren die Platinstäbe sicher aufbewahrt … Nachdem er das Gitter wieder über den Abfluß geschraubt hatte, überprüfte er sein Versteck – und er atmete auf. Die Stäbchen waren selbst bei genauerer Betrachtung des Abflusses nicht zu sehen. Fast war ihm, als recke sich die Blume wohlig unter seiner Bluse, als streichle sie mit ihren lanzettförmigen Blättern über seine Brust. Ben wollte sich aufrichten, erstarrte aber mitten in der Bewegung. Von irgendwoher außerhalb des Schiffes erklang ein langgezogener markerschütternder Schrei. Der Schrei einer Kreatur in Todesqual! Ben war Biologe, und für ihn war der Kampf ums Dasein in der Natur nur selbstverständlich. Der beständige Lebenskampf war für eine junge Welt nur gesund und wünschenswert, sollte sie nicht schon in ihren Existenzanfängen degenerieren. Aber dies allein war es nicht, was ihn zu dieser Welt stehen ließ, der sie noch nicht einmal einen Namen gegeben hatten. Der Blume vielmehr war es zuzuschreiben, der Zinnie auf seiner Brust. Er 108
vermochte sich nicht vorzustellen, wie sie dort gedeihen konnte. Und insbesondere: wie sie dorthin geraten war! Aus Vorsicht seinen Kameraden gegenüber hatte er dem Rätsel noch nicht auf den Grund gehen können. Dazu wäre viel Zeit nötig und sehr viel Ruhe. Beides hatte er nicht. Aber immerhin hatte er bereits einige kleinere Versuche anstellen können, die erstaunliche Resultate gebracht hatten und kühne Zukunftsaussichten boten. In diesem Zusammenhang war es gar nicht absurd, von Unsterblichkeit zu sprechen! Er hatte seine Untersuchungen mit einer Pflanze begonnen, die er wahllos aus dem bunten Reigen der so vielseitigen Flora dieser namenlosen Welt herausgegriffen hatte. Und doch machte er die verblüffendste Entdeckung, die ihm in seiner fünfzehnjährigen Laufbahn als Zytologe beschieden war – vielleicht die erstaunlichste Entdeckung der Menschheit überhaupt. Allerdings nur dann, wenn seine Hypothese sich als richtig erwies. Er hatte festgestellt, daß die Zellwände jeder der untersuchten Zytosome ungewöhnlich weich waren; das Protoplasma bestand zu kaum 30 Prozent aus Wasser – was entschieden unter der Norm lag. Der Rest teilte sich zu 40 Prozent in die bekannten Stoffe auf, und die anderen 30 Prozent erwiesen sich selbst nach eingehender Prüfung als regelfremd. Was Ben jedoch am meisten verblüffte, war die Tatsache, daß er keine einzige tote Zelle an der Pflanze gefunden hatte; und das war ungewöhnlich genug. Normalerweise bilden die abgestorbenen Zellen eine Schutz- und Stützschicht für jedes Tier und jede Pflanze, hier aber erstarrten die Zellen nur! Was dies zu bedeuten hatte, daran wagte er kaum zu denken, so phantastisch und zukunftsweisend war die Antwort. Er beobachtete auch eine Zellteilung. Er hatte mit seinen mikroskopischen Instrumenten eine Zelle vollkommen abgesondert. Und innerhalb einer einzigen Sekunde war diese geteilt gewesen. Bereits eine Minute später hatte er die Zellansamm109
lung mit freien Augen erkennen können. Nach einer Stunde stand da eine Pflanze, geboren aus dieser einen Zelle, in erster Blüte auf der Präparatebene des Mikroskops! Das war nicht nur Regeneration in höchster Vollendung, das war … Aber Ben ergab sich nicht erst den Irrwegen der vielfältigen Möglichkeiten, die sich hier boten. Er hielt einzig an dem fast offensichtlichen Faktor fest: Unsterblichkeit! Wer weiß, vielleicht waren des Menschen Zellen einmal ebenfalls unsterblich gewesen, oder überhaupt alles Leben in der Galaxis, im Universum. Und durch irgendwelche Einflüsse waren sie jetzt verseucht, mutiert, ihrer ewigen Regenerationsfähigkeit beraubt. Es war ein Wunder, dem er hier gegenüberstand, ein Wunder, das ihm die Urzelle in ihrer reinsten, unwiederbringlichen Form präsentierte. Unwiederbringlich? Ben hoffte, daß dies eben nicht der Fall sei. Noch einige Versuche, denen er sich in Ruhe widmen konnte, und er hätte den Beweis für oder gegen seine Theorie. Und seine Kameraden? Ben entsann sich des Schreies und kehrte mit seinen Gedanken zurück auf den Boden der Tatsachen. Er stand auf der Plattform vor der Schleuse. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er das Dickicht unter ihm ab. Der Ausblick auf die wuchernde Vegetation dieser Welt war grandios. Die Plattform befand sich in vierzig Meter Höhe, und sein Blick reichte bis zum dunstverhangenen Horizont, zu den blauschimmernden Bergen auf der einen Seite und dem rötlichen Meer auf der anderen. Aber nirgends gewahrte er eine Bewegung, die auf ein Wesen schließen ließ, das sich im Todeskampf wand. In zweihundert Meter Entfernung befand sich eine Lichtung, auf der das Lager aufgestellt worden war; ein Schnellbauhaus, umgeben von einem übermannshohen Energiezaun, der Boden durch Energieflüsse von der Natur abgeschirmt. Ein schmaler 110
Pfad, gleichfalls durch Kraftfelder vor planetaren Einflüssen geschützt, verband das Raumschiff mit dem Lager. Das alles waren Vorsichtsmaßnahmen, die Ben für überflüssig hielt. An seiner Meinung konnte auch der markerschütternde Schrei von vorhin nichts ändern. Eine Bewegung im Lager ließ ihn aufmerken. Mick erschien vor der Hütte. Ben erkannte ihn an seiner gedrungenen Gestalt und an dem bunten Halstuch, das er locker um den Hals geknüpft trug. Er hielt mit beiden Händen eine Tri-Läufige, eine Waffe, die Saurier in die Knie zwingen konnte. Einfach lächerlich, diese Bewaffnung! Mick suchte eine Weile die Gegend mit den Augen ab, dann ließ er das Gewehr sinken und schlenderte den Energiezaun entlang. Plötzlich blieb er stehen. Mit angehobenem Kopf blickte er zum Raumschiff, und seine Arme hoben die TriLäufige. Ben zweifelte keine Sekunde daran, daß Mick ihn sah. Ebenso wußte er, daß Mick ihn im Fadenkreuz der schweren Waffe hatte. Und um den Abzug krümmte sich ein Finger, der zu einem völlig unberechenbaren Mann gehörte. Ben vermeinte, in die ferne Mündung blicken zu können – dort lauerte das Geschoß, das imstande war, einen Menschen buchstäblich in Stücke zu reißen. Ihn überfiel ein plötzliche Panik, eine lächerliche, absurde Panik. Und ehe er sich dessen richtig bewußt wurde, hatte er hinter der Luftschleuse Deckung genommen. Was folgte, war Micks rauhes Lachen, das der Wind zum Schiff trug. Minuten danach stand Ben noch wütend da; weniger verärgert über Micks kindischen Scherz, auf den er hereingefallen war, als über sich selbst. Er war mit den Nerven vollkommen herunter. Das schrieb er dem Umstand zu, daß er in ständiger Furcht leben mußte, seine Kameraden könnten hinter sein Geheimnis kommen. Aber jetzt würde es ohnehin zur Entschei111
dung kommen. Ben hatte sich entschlossen. Als er ruhiger geworden war, kletterte er die Leiter des Schiffes hinunter und schritt den Pfad entlang zum Lager. Er öffnete die Tür, und Micks spöttisches Gelächter empfing ihn. »Halt den Mund«, sagte Jeff, der am Fenster stand. Mick gehorchte, grinste aber breit vor sich hin. Ben sah von Jeff hinüber zu Esther, die auf der untersten der vier Liegen saß, weit nach vorn gebeugt, die Arme auf die Knie gestützt. Sie machte den Eindruck eines gebrochenen Menschen. Neben den Liegen stand das Waffenregal. Mick hatte die TriLäufige zurückgestellt. Jetzt lümmelte er in einem der vier Stahlrohrsessel, die um den Tisch in der Mitte des Raumes gruppiert waren. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und das bartstoppelige Gesicht hämisch verzogen. Ein Patronengurt mit Pistole spannte sich um seine Hüften. Ben setzte sich Mick gegenüber an den Tisch. »Du hast uns lange warten lassen, Ben«, sagte Jeff schließlich in die entstandene Stille hinein. Er sprach ruhig, zu ruhig für Bens Geschmack. Jeff war ein guter Psychologe, aber über seine eigene Spannung konnte er nicht hinwegtäuschen. »Also?« fragte Ben ohne Neugier, er wußte ohnedies, was kommen würde. Mick ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. Esther starrte intensiv zu Boden, als gäbe es dort etwas zu sehen, das ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit wert sei. »Nun, du liebst die Kürze, Ben.« Jeff sah immer noch aus dem Fenster. »Wir sind diesmal fest entschlossen zu starten. Esther, Mick und ich, wir sind einer Meinung und lassen uns von dir nicht mehr zum Bleiben überreden. Stimmenmehrheit.« Der Wunsch, zu starten, war nicht neu. Aber noch nie war es den anderen so ernst damit. Ben schwieg. »Soll ich dein Schweigen als Zusage deuten?« erkundigte 112
sich Jeff. Ben hob den Blick und sah in seine Richtung. Dann lächelte er leicht und schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht dafür«, erklärte er bedächtig. Jeff seufzte. »Du bist ein schwieriger Fall, Ben. Irgendwie kann ich dich verstehen, aber schließlich bin ich für die Sicherheit unserer kleinen Gruppe verantwortlich. Schließlich ist es auch nicht unsere Aufgabe, unser Leben aufs Spiel zu setzen. Damit wäre niemandem gedient. Wir haben genügend Daten gesammelt, aus denen die Gesellschaft ersieht, ob sie sich weiter für diese Welt interessieren soll oder nicht. Nun ist es Zeit für uns, zu starten. Im Prinzip kommt es mir nicht darauf an, einige Standard-Tage länger zu bleiben. Aber diese Welt ist zu gefährlich für uns. Die Direktoren werden uns nicht tadeln, wenn wir frühzeitig aufbrechen. Sie werden besser ausgerüstete Schiffe herschicken.« Ben war von der Leidenschaft überrascht, mit der Jeff seine Rede gehalten hatte. Sie wollten diese Welt augenblicklich verlassen! Und was sollte aus seinen Entdeckungen werden? Die Gesellschaft würde seine Aufzeichnungen gern entgegennehmen, dann würde man ihn in irgendein Laboratorium abschieben. Andere würden seine Hypothesen ausfeilen, ihnen den letzten Schliff geben und sich mit seinen Federn schmükken. Er, Benjamin Craig, wäre dann irgendein Unbekannter, der vielleicht von den »großzügigen« Direktoren eine kleine Gehaltsaufbesserung bekommen würde. Aber was ein richtiger Wissenschaftler ist, besteht zu 90 Prozent aus Ehrgeiz, und das macht ihn früher oder später zum Fanatiker. Darüber war sich Ben vollkommen im klaren, aber er kämpfte nicht dagegen an, weil er kein Übel darin sah, Aber natürlich hätte es keinen Zweck gehabt, mit seinen Kameraden darüber zu argumentieren. Jeff selbst hatte ja gesagt, daß er ihn verstehen könnte, jedoch nicht gewillt war, länger hierzubleiben. 113
Ben blieb daher keine Wahl, er mußte handeln! Mit einem verstohlenen Blick prüfte er seine Chance, an den Waffenschrank zu kommen. Es wäre nicht leicht, vor allem deswegen nicht, weil Mick seine Pistole hatte. Während Ben noch fieberhaft überlegte, sprach Jeff weiter: »Es ist also beschlossen, daß wir zur Erde zurückfliegen. Aber da gibt es noch etwas, das wir vorher erledigen müssen.« Ben erhob sich wie beiläufig und wanderte in dem kleinen Raum auf und ab. Mick ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. »Und das wäre?« fragte Ben, der sich nachdenklich gab. »Hast du den Schrei vorhin gehört?« war Jeffs Gegenfrage. »Natürlich.« »Aber du hast sicher nicht gesehen, wer geschrien hat.« »Stimmt.« »Wir schon«, sagte Jeff. Es war verblüffend, welche Betonung er in diese beiden Worte legen konnte. Er fuhr fort: »Wir waren Zeuge eines erbitterten Kampfes, den ein Tier mit den Pflanzen führte. Es war ein starkes Tier, etwa von der Größe eines irdischen Büffels, aber es war den Pflanzen hoffnungslos unterlegen. Denn die Pflanzen griffen nicht von außerhalb an, nein, sie vernichteten das Tier von innen heraus. Der Büffel war übersät mit Blumen, Schlingpflanzen und Dornenästen, die aus seinem Fell wuchsen, ihn peinigten und schließlich in die Knie zwangen. Ben, diese Flora, die uns von allen Seiten bedrängt und die so schön für das Auge ist, ist trügerisch. Hier haben wir es mit ganz teuflischen Parasiten zu tun, denen man vielleicht auch ein wenig Intelligenz zusprechen kann. Aber darüber kann ich mir kein Urteil bilden …« Gegen seinen Willen interessierte sich Ben für Jeffs Ausführungen. Vielleicht konnten die Punkte, die Jeff anschnitt, für seine eigenen Versuche wichtig sein. Trotzdem vergaß er darüber nicht seinen Plan. Jeff sprach immer noch weiter. Inzwischen stand Ben hinter Mick, der sich zur Seite drehen mußte, 114
um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei blieb ihm nichts anderes übrig, als den Sessel, auf dem er saß, auf den beiden Hinterbeinen zu balancieren. »… aber du, Ben, könntest darüber sicher einige treffende Vermutungen anstellen«, fuhr Jeff fort. »Aber das können wir im Augenblick lassen. Eine andere Frage hat sich uns gestellt. Ist es nicht möglich, daß diese pflanzlichen Parasiten auch Menschen befallen? Und wir haben sofort diese Frage zu beantworten versucht. Esther, Mick und ich, wir drei sind nicht befallen, aber …« Weiter ließ es Ben nicht kommen. Mit einem kräftigen Tritt stieß er Micks Sessel um, während er hinter sich noch das Poltern hörte, stand er bereits am Waffenschrank und ergriff ein Schnellfeuergewehr, entsicherte es blitzschnell und drehte sich um. Alle drei starrten ihn entgeistert an. Esther hatte sich erhoben, eine Hand hatte sie auf den Mund gepreßt, mit der anderen stützte sie sich haltsuchend an die obere Schlafnische. Jeff stand noch immer am Fenster, mit leichenblassem Gesicht. Mick lag neben dem umgestürzten Sessel, seine Rechte, mit der er eben nach der Pistole greifen wollte, erstarrte, als er die Gewehrmündung auf sich gerichtet sah. Ben war über sich selbst verwundert. Noch nie in seinem Leben hatte er einen Menschen mit einer Waffe bedroht, aber in diesem Augenblick fiel es ihm leicht. Ja, er spürte, daß er im Notfall ohne weiteres abdrücken konnte. Und das mußte den anderen auch aufgefallen sein; vielleicht verriet es seine entschlossene Haltung, oder seine Augen zeigten es. »Du bluffst nur«, sagte Mick mit rauher Stimme. »Laß es nicht auf einen Versuch ankommen«, gab Ben zurück. »Esther hat sich also nicht geirrt«, sagte Jeff. »Du trägst tatsächlich schon eine Blume unterm Hemd.« »Die Blume hat mit meinem Verhalten nichts zu tun«, fuhr 115
ihn Ben scharf an. Dann berichtigte er sich: »Doch, sie hat damit zu tun, aber sie zwingt mir ihren Willen nicht auf, wie du vermutest.« »Und …«, versuchte Esther zu sprechen; sie schluckte, bevor sie ihre Stimme wiederfand. »Und was ist dann in dich gefahren?« »Diese Welt birgt ein Geheimnis«, erklärte Ben, »ich muß es enträtseln. Die Menschheit kann davon nur profitieren. Aber um verwertbare Ergebnisse zu bekommen, brauche ich Ruhe. Deswegen verlange ich von euch nicht mehr, als daß ihr euch auf das Schiff zurückzieht und mich hier ungestört arbeiten laßt. Da ich die Energiewände von hier aus kontrollieren kann, werde ich den Verbindungsweg zum Schiff unterbrechen. Das garantiert mir, daß ihr mich in Ruhe laßt. Mehr will ich nicht. Wenn ich meine Arbeit fertig habe, starten wir. Und jetzt geht bitte.« Mick wollte als erster zur Tür hinaus, aber Ben hielt ihn mit einem scharfen »Halt« zurück. »Schnall deinen Waffengurt ab«, fügte er hinzu. Wortlos ließ Mick den Patronengürtel mit der Pistole zu Boden fallen und stapfte durch die Tür. Esther folgte ihm, ohne Ben noch eines Blickes zu würdigen. Ben starrte ihr gebannt nach. Er hoffte, daß er ihre Zuneigung wieder gewinnen würde, wenn er erst seine Arbeit beendet hatte. Jeff ging ebenfalls zur Tür, wo er zögernd stehenblieb. »Und was, wenn wir dich auf dieser Welt zurücklassen?« fragte er. Ben lächelte nur. Jeff deutete das Lächeln richtig. Als sie die Plattform des Schiffes erreicht hatten, fiel hinter ihnen der Energiepfad zusammen, der das Lager mit dem Schiff verbunden hatte. Im Schiff angekommen, setzten sie sich in den Gemeinschaftsraum. Einige Zeit rasteten sie, dann 116
machte sich Mick auf den Weg, um herauszufinden, was Ben sabotiert hatte. Esther und Jeff blieben allein zurück. Nach einer halben Stunde kam Mick zurück. Seine Hände und das Gesicht waren ölverschmiert. »Starten könnten wir«, sagte er, »aber das hilft uns nichts. Er hat die Katalysatoren aus dem Hyperaggregat genommen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als das Schiff nach ihnen abzusuchen.« Nach zwei Stunden ergebnislosen Suchens trafen sie einander wieder im Gemeinschaftsraum. Draußen stand die Sonne hoch über dem Land, schickte ihre glühenden Strahlen auf die wuchernde Vegetation herunter. Mick schwitzte, obwohl es im Gemeinschaftsraum angenehm kühl war. »Im Norden ballen sich Wolken zusammen«, sagte er. »Was hast du für einen roten Fleck im Nacken?« fragte Esther. Mick wischte sich geistesabwesend darüber. »Es juckt …« »Ich wüßte nicht, wo wir noch suchen sollten«, meinte Jeff resigniert. »Der Teufel mag wissen, wo Ben die Katalysatoren versteckt hat.« »Wir haben erst einen kleinen Teil des Schiffes abgesucht«, erklärte Mick und kratzte sich im Nacken. »Wenn er sie im Schiff versteckt hat, werden wir sie finden. Es gibt nicht besonders viele Verstecke im Schiff. Suchen wir also weiter.« Sie trennten sich. Mick ging wieder hinunter ins Unterdeck zu den Maschinenräumen. Esther suchte das Mitteldeck ab, durchstöberte die Mannschaftseinrichtungen und die Einzelkabinen. Jeff suchte im oberen Teil, im Navigationsraum und in der Pilotenkanzel. Draußen näherte sich die Sonne dem Horizont. Um Energie zu sparen, hatten sie das Ventilationssystem abgeschaltet. Jetzt bereitete sich eine bedrückende Schwüle im Raumschiff aus. Esther war vom langen Suchen erschöpft und 117
ausgelaugt, ihre Kleider waren schweißnaß. Sie entschloß sich, ein Bad zu nehmen, da sie der Meinung war, daß es auf ein paar verlorene Minuten nicht ankam. Sie duschte und bemerkte, daß das Wasser nicht schnell genug abfloß. Sie drehte den Wasserhahn ab und bückte sich zum Abfluß hinunter. Da sah sie das matte Schimmern durch das Gitter … Jeff war gerade in der Pilotenkanzel damit beschäftigt, die Deckplatte des automatischen Steuerelements abzuschrauben, als ihn Esthers Ruf erreichte. Ihre Stimme klang schrill durch das stille Schiff. »Jeff! Mick! Kommt schnell in die Messe!« Sie schien sehr aufgeregt, und Jeff ließ alles stehen und liegen und kletterte flink die Leiter zum Zwischendeck hinunter. Mick war schneller gewesen und stand schon vor Esther, als Jeff eintrat. »Was ist los?« fragte Mick eben. Aber Esther gab keine Antwort, sie starrte Mick nur betroffen an. Jeff folgte ihrem Blick und sah die Beule in Micks Nacken. Sie war unten stark gerötet, verfärbte sich aber zum höchsten Punkt hin grünlich. Mick hatte seinen Kragen aufgestellt, aber das war ein sehr ungeschicktes Tarnmanöver; er konnte dadurch die Beule nicht vor den anderen verbergen. »So sag es schon. Warum hast du uns gerufen?« fragte Mick barsch. »Die Beule …«, stammelte Esther, »die Beule in deinem Genick.« Mick sagte nur: »Wahrscheinlich bin ich von einem Insekt gestochen worden. Es ist weiter nichts.« »Ich habe die Katalysatoren gefunden«, sagte Esther. Sie zeigte die Platinstäbchen in ihrer hohlen Hand. »Dann können wir endlich abhauen«, frohlockte Mick. »Nein!« warf Jeff ein, »das können wir nicht.« Überrascht sah ihn Mick an. »Und wieso nicht?« »Weil wir die Saat der Parasiten mitnehmen würden. Es hat 118
den Anschein, als seien wir ebenfalls schon verseucht. Denke an die Beule in deinem Genick. Wir können nicht zurück zur Erde, das wäre ein zu großes Risiko. Wir müssen das Schiff flugunfähig machen, solange wir noch unsere eigenen Herren sind.« In diesem Augenblick sprang die Knospe in Micks Genick auf. Als Esther, Jeff und Mick das Raumschiff erreichten, ließ Ben den energetischen Verbindungspfad zusammenfallen. Danach verschwendete er keinen weiteren Gedanken an die Kameraden. Jetzt, da er ungestört arbeiten konnte, wollte er keine Minute ungenützt vergehen lassen. Er dachte daran, daß sie nun schon immerhin einige Wochen auf dieser Welt waren, in denen bei seinen Untersuchungen keinerlei Absonderlichkeiten aufgetaucht waren. Natürlich war ihm gleich nach ihrer Ankunft aufgefallen, daß es hier nur eine sehr geringe Fauna gab. Allerdings war ihm damals nicht in den Sinn gekommen, die Pflanzen könnten hier die dominierende Lebensform sein. Nach der neuesten Entwicklung schien es aber doch so zu sein. Aber das war ein anderes Problem, dem er sich später widmen wollte. Im Augenblick schien ihm die Tatsache wichtig, daß das plötzliche Wuchern der Pflanzenwelt zu einem bestimmten Zeitpunkt spontan eingesetzt hatte; nämlich ungefähr zu dem Zeitpunkt, als er die Knospe auf seiner Brust entdeckt hatte. Das ließ die Vermutung zu, daß die Pflanzen immer nach einem unbestimmbaren Intervall in eine Art »Blütezeit« traten. In der übrigen Zeitspanne führten die Pflanzen ein vergleichbar kümmerliches Dasein. Das war dann die Zeit der Tiere. Bens Vorstellungen von diesem Wechselstadium, in dem einmal die Flora und dann die Fauna die Oberhand über diese Welt hatte, waren noch sehr nebulös. Aber er zweifelte nicht daran, daß die Pflanzen das viel weiter entwickelte Leben auf 119
dieser Welt waren; vor allem jetzt, in ihrer »Blütezeit«! Durch diese Überlegungen kam Ben zum nächsten Punkt. Es war für ihn ganz offensichtlich, daß er die Dinge von der ökologischen Seite her anfassen mußte, also die Beziehungen der Tiere zu ihrer Umwelt prüfen mußte. Denn war es nicht klar, daß sich die Tiere bedingungslos der Umwelt anpaßten? Er erinnerte sich des Büffels, der aus dem normalen Lebensrhythmus getanzt war. Hatten ihn die Pflanzen aufgefressen? Oder was war sonst mit ihm geschehen? Ben sah durch das breite Fenster hinaus ins Freie, auf die dichte Pflanzenhecke vor dem Energiezaun. Wie schnell sich die Formen veränderten! Es war mehr als verblüffend, denn noch vor knapp zwei Stunden hatten dort schlanke Büsche gestanden. Jetzt wuchsen dort dicke Stämme, mit einem Durchmesser von einem halben Meter, und ihre oberen Enden waren zusammengewachsen. Daneben sprossen schlanke Stengel, von denen jeder nur eine Knospe trug; eine große, schwere Knospe, von der Größe eines menschlichen Kopfes. Indem Ben den Energiefluß des Bodens an einer kleinen Stelle unterbrach, holte er sich einige Erdproben aus verschiedenen Tiefen. Die Frage, warum die Pflanzenwelt nicht in ihrem eigenen Wuchs erstickte, war überflüssig, wenn man bedachte, daß die Zellen nicht abstarben. Aber es mußte dennoch interessant sein, die Bodenbeschaffenheit zu erforschen, außerdem war dies für eine ökologische Arbeitsweise unerläßlich. Es griff ein Rädchen ins andere, und das bewirkte beinahe, daß sich die Geheimnisse verdoppelten, mit jedem Schritt, den er nach vorn zu kommen glaubte. Daran dachte er eben etwas wehmütig, als er die Explosion hörte. Er rannte vor das Haus und sah, wie eine grellweiße Stichflamme aus dem Schiff schoß. Als sich die schwarzen Explosionswolken verflüchtigt hatten, starrte ihm ein dunkles, ausgezacktes Loch aus dem oberen Teil des Schiffskegels entgegen. 120
Diese Narren! Jetzt gab es kein Zurück zur Erde mehr, denn die Funkanlage war sicher ausgefallen, und sie konnten nicht hoffen, daß sie ein Suchschiff zufällig in diesem Dschungel finden würde. Resigniert ging Ben zurück ins Haus, aber er dachte nicht daran, sich durch die Dummheit seiner Kameraden von seiner Arbeit abhalten zu lassen. Die Blume in seiner Brust begann sich zu regen. Mick hatte einen Kurzschluß mit Zeitzündung arrangiert. Sie hatten gerade genug Zeit, das Raumschiff zu verlassen. Als die Explosion vorüber war, sagte Jeff: »Und jetzt könnten wir uns auf einfache Weise unser Schicksal erleichtern.« Esther schauderte, und Jeff legte ihr schützend den Arm um die Schulter. »Ihr habt noch immer eine Chance«, sagte Mick, der eine wunderhübsche Blume im Genick trug. »Wer weiß, vielleicht seid ihr beide noch nicht befallen, zumindest zeigen sich noch keine Merkmale einer Parasitentätigkeit. Geht zurück ins Schiff und schließt euch ein.« »Und was wirst du tun?« fragte Jeff. »Ich schlage mich zu Ben durch«, sagte Mick. Jeff überlegte einen Augenblick lang, während dem er zu der gelben Wolkenwand hinüberstarrte, die näher gerückt war. Seltsame Wolken, dachte er. Er sah Mick an und sagte: »Das ist keine schlechte Idee. Vielleicht ist Ben inzwischen zur Vernunft gekommen. Jedenfalls ist er als Biologe der einzige, der einen Ausweg für uns finden könnte.« »Eigentlich habe ich an etwas anderes gedacht«, gab Mick zu. »Vergiß deine Privatfehde«, fuhr ihn Jeff an. Mick ging darauf nicht ein, sondern sagte nur: »Jedenfalls solltet ihr beide im Schiff bleiben. Es ist der sicherste Ort für euch beide.« Damit wandte sich Mick ab und steuerte auf die Dschungel121
wand zu, die sich kaum drei Meter vor ihm erhob. Knapp davor blieb er stehen und richtete die Mündung des Flammenwerfers darauf, den er sich umgehängt hatte. Er schoß das Kerosin ab, das an dem kleinen Zündflämmchenflämmchen Feuer fing und als Flammenzunge nach dem Dschungel griff. Die Bäume und Sträucher, Blumen und Schlingpflanzen bäumten sich unter der heranschießenden Hitze auf, zuckten und verbrannten schließlich. Ein schmaler Pfad tat sich vor Mick auf, und er schritt ihn entlang, den Flammenwerfer geradeaus gerichtet und immer auf höchste Wirkung gestellt. Aber während die Flora vor ihm verging, schloß sich der Pfad hinter ihm fast ebenso schnell, wie er ihn gebrannt hatte. Ein bestialischer Gestank stach Mick in die Nase, aber er unterdrückte die Übelkeit und brannte weiter. Er brannte so lange, bis der Kerosintank leer war, die Feuerzunge erstarb und nur noch das kleine Zündflämmchen am Austrittsrohr brannte. Sofort schloß sich der Dschungel um ihn, legte sich auf Mick, als wolle er ihn erdrücken. Aber Mick hatte auch dafür vorgesorgt. Er zog das Buschmesser und hackte auf den heranstürmenden Dschungel ein. Inzwischen war es Nacht geworden. Behutsam streifte Ben die Bluse von seinem Oberkörper und blickte auf die Blume. Anstatt eines Blattes trug der Blütenstengel jetzt zwei Blätter! Beide befanden sich in gleicher Höhe, waren gleich groß und behaart. Sie wanden sich und rieben gegeneinander. Das erzeugte ein feines, kaum hörbares Geräusch. »Mein Gott«, flüsterte Ben überwältigt, »die Blume kann sich aus eigener Kraft bewegen!« Als sich die Blätter wieder aneinanderrieben, hörte sich das so an: »Seiß soßß … sie seßeßß siß seaßß-ßen-ßiß.« Ben mußte sich überrascht setzen und starrte ungläubig auf das Phänomen auf seiner Brust. War das Intelligenz? Jedenfalls 122
versuchte die Blume, seine Worte zu wiederholen. Wenn sie auch noch nicht aller menschlichen Laute mächtig war, so lernte sie schnell. Das erste »n« war noch ein unverständliches »ß«, das zweite aber war klar, wenn auch nicht guttural. Aber das war weiter nicht verwunderlich, denn die Blume besaß keine Stimmbänder, keine Zunge und keine Lippen und mußte die Worte mit den Blättern artikulieren. Die so zustandegekommene Stimme war äußerst leise, und Ben erwog die Möglichkeit einer Täuschung; probeweise sagte er: »Intelligentes Leben!« »Inten-nninenteß Sennänn…« Zweifellos, dies waren intelligente Pflanzen! Ob sie diese Intelligenz aber nur durch ihre Parasitentätigkeit entwickelten, konnte Ben nicht sagen. Er stellte sich sogar die etwas weit hergeholte Frage, ob der Unsterblichkeitsfaktor verschwand, wenn die Pflanzen eine gewisse Intelligenzstufe überschritten. Oder ob vielleicht eine andere Einbuße bei mehrmaliger Zellteilung entstand. Mit einem feinen Skalpell schabte er eine Faser vom Blütenstengel, und sofort quoll ein Tropfen menschlichen Blutes aus der kleinen Wunde. Ben achtete nicht weiter darauf. Unter dem Mikroskop sonderte er drei Zellen ab und legte sie dann nebeneinander vor sich auf den Tisch. Er wartete. Diesmal brauchte er nicht länger als eine halbe Stunde zu warten, bis er drei blütenreife Zinnien vor sich hatte. Eine sah aus wie die andere und jede hatte zwei Blätter am Blütenstengel, wie die Zinnie auf seiner Brust. Er dachte wieder an seine Theorie von der Blütezeit. »Jede ist eine vollwertige Intelligenz?« fragte Ben dann laut. »’te ist eine -onn-eatige Intennigens!« sagten alle vier Zinnien. Und das hörte sich an wie eine Antwort! Nun zählte sich Ben einige Tatsachen auf, die er herausgefunden hatte: 1. Die Zellen besaßen vollkommene Regeneration, wo bei ei123
ne einzige Zelle genügte, um ein exaktes Ebenbild des Ursprungskörpers herzustellen. 2. Außergewöhnliche Vererbungsfaktoren. 3. Außergewöhnliche Lernkreise! 4. Unsterblichkeit, wobei es allerdings die Möglichkeit eines unnatürlichen Todes gab. Er hätte noch mehr als ein Dutzend anderer Punkte aufzählen können, zum Beispiel, daß die Pflanzen als Wesen anzusehen und dem Menschen (mit Einschränkung) gleichzusetzen waren – aber dieser und die anderen Punkte resultierten zwangsläufig aus den aufgezählten. Über seiner Arbeit war es Ben nicht aufgefallen, daß es bereits Nacht geworden war. Das Licht im Lager hatte sich automatisch eingeschaltet. Aber dieser Dinge wurde er sich erst bewußt, als ihn ein langgezogener Ruf aufschreckte. »Ben!« Es war Esther, die irgendwo aus der Nacht seinen Namen rief. Ben zuckte zusammen, als aus dem Dschungel schaurig das Echo der Zinnien-Intelligenzen nachklang. »Bwenn!« »Ben, kannst du uns hören?« schrie jetzt Jeff. Ringsum rieb der Dschungel seine Blätter zusammen und schickte verzerrte Laute dem Ruf nach. Was wollten sie nur von ihm? »Ben! Mick ist auf dem Weg zu dir«, rief Esther, ihre Stimme klang trotz der Entfernung ängstlich und besorgt. »Nimm dich vor ihm in acht.« Als das Dschungel-Echo verklungen war, wollte sich Ben für die Warnung bedanken, aber dafür war es bereits zu spät. Plötzlich durchbrandete ein allgegenwärtiger Schmerz seinen Körper. Er wußte nicht, wo sein Ursprung war, wo die Schmerzquelle lag, denn er war überall. Er zog und zerrte, pochte in seinem Gehirn und ließ die Glieder konvulsivisch zucken. »Ben!« schrie Jeff vom Raumschiff her. »Kannst du uns 124
nicht hören?« »Bwenn! Kann stu uns nicht höarn?« Mick mußte jeden Schritt, den er vorwärts kam, bitter erkämpfen. Der Dschungel schenkte ihm nichts. Aber Mick ließ sich auch nicht unterkriegen. Ein Haß trieb ihn voran und verlieh ihm eine ungeahnte Kraft, ein bedenkenloser Haß auf Ben, den Mick für den ganzen Schlamassel verantwortlich machte. Jeffs Stimme drang durch die Nacht: »Ben!« »Bwenn!« echote der Dschungel. Eine teuflische Welt, die Hölle! Mick schlug mit dem Buschmesser um sich, schnitt Lianenstränge ab, die sich um seine Beine ringelten, köpfte Blumen, deren Kelche gierig nach ihm schnappten – er verwundete den Dschungel an tausend Stellen. Aber der Dschungel verwundete auch ihn; die Dornen gruben sich in sein Fleisch, die dünnen, hanfartigen Fasern, die von den Bäumen hingen, wanden sich um seine Arme und hinterließen blutige Striemen. Nur Mick spürte es nicht. Verlassen kämpfte er sich Schritt um Schritt seinem Ziel näher, dem Lager. Und dort war auch Ben, der das ganze Unheil heraufbeschworen hatte. »Na, warte«, stieß Mick hervor und wischte die klebrigen Blätter aus seinem Gesicht. Anderes Blätterwerk schnellte heran und versuchte, Micks Atemwege zu verlegen. Mick befreite sich davon. Er wußte, daß er im Augenblick noch gegen die kleineren Übel ankämpfte, schlimm würde es erst werden, wenn der Parasit in seinem Genick zuschlug. Aber die Blume bereitete ihm noch keinerlei Unbehagen. »Ben!« rief Jeff. Das Dschungel-Echo: »Bwenn«. Nur – Ben reagierte auf keinen der Anrufe mehr. »Ist schon gut, Ben«, murmelte Mick vor sich hin, während er einen Strauch zerhackte. »Ist schon gut. Ich komme, und dann wehe dir!« 125
Mick wurde von einem Krampf befallen. Eine Wolke gelben, duftschweren Blütenstaubs legte sich auf ihn. Sein Körper krümmte sich in instinktiver Gegenwehr. Als der Schmerz nachließ, spürte Mick ein stetes Pochen in seinem linken Bein, etwa in Höhe des Schienbeins. An dieser Stelle begann sich die Hose aufzubauschen und dann zu spannen. Als sie dem Druck nicht mehr standhalten konnte, riß sie auf, und ein wurzelartiges Gebilde schnellte aus der Öffnung. Mick beachtete die Wurzel nicht weiter, nur wenn er damit gegen einen Widerstand stieß, dann schmerzte es. »Dafür schlage ich dich tot, Ben!« Ben lag vor dem Kunststoffhaus der Bodenstation und wand sich in Schmerzen. Er rollte seinen Körper zusammen, drückte die Hände gegen den Magen und hoffte, auf diese Weise die Qualen lindern zu können. Irgendwie erreichte er dann das Innere des Hauses, und dort umfing ihn die erlösende Ohnmacht. Es war heiß, als er wieder zu sich kam. Fast Mittag. Er stellte den Temperaturregler ein und wollte sich auf seinen Sessel setzen, um seine Lage zu überdenken. Aber bevor er noch den Sessel erreichte, machte sich sein rechter Fuß selbständig. Das Bein hob sich ungelenk, winkelte sich im Knie ab, und der Fuß begann im Knöchel zu kreisen, fiel dann auf den Boden, wo er noch einige Steppschritte machte, bevor er sich beruhigte. Ben hatte wieder Gewalt über sein rechtes Bein. Er setzte sich. Was man ihm auch vorhalten konnte: Egoismus, Engstirnigkeit, Fanatismus, es mochte stimmen, aber trotzdem war er kein hoffnungsloser Narr. Er wußte, wann er verspielt hatte. Seine Überlegungen, seine Theorien hatten immer noch ihre Gültigkeit, aber er hatte dabei eines nicht bedacht, nämlich, daß die Pflanzen dieser Welt Schmarotzer waren. Vielleicht hatte er 126
es auch ganz einfach nicht sehen wollen, weil die biologischen Wunder so viel einfacher greifbar waren. Aber der Traum von der Unsterblichkeit war nun dahin. Ben machte sich nichts vor. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis ihn die Parasiten entmenschlicht hatten, bis sie ganz von seinem Körper Besitz ergriffen hatten. Was würden sie dann mit ihm machen, diese halbintelligenten Pflanzen, die einen Hang zur Nachäffung der menschlichen Sprache hatten? Die Schmarotzer breiteten sich in seinem Innern aus und begannen seinen Körper auszuhöhlen, so wie sie es mit dem Büffel gemacht hatten. Die Schmerzen, die ihn zu Boden geworfen hatten, waren die ersten Auswirkungen der fortgeschrittenen Parasitentätigkeit gewesen. Was war eigentlich aus Mick geworden? Ben sah sich im Haus um. Sein Blick erfaßte acht Dutzend Zinnien, die die eine Seite des Raumes überwucherten. Alles Ebenbilder seiner Brustblume. Sie waren das Ergebnis seines Versuchs, bei dem er durch Zellabsonderung drei Zinnien gezüchtet hatte. Jetzt waren es an die hundert! Er fluchte, und der Chor der Zinnien äffte ihn nach. »Zum Teufel mit euch!« schrie Ben. Und dann fiel sein Blick auf die Reagenzgläser, in denen er die Erdproben aus verschiedenen Tiefen abgestellt hatte. Bei dem Anblick, der sich ihm bot, hätte er am liebsten schreien mögen, aber er brachte nur ein unverständliches Plappern über seine Lippen. Aber sein Gehirn funktionierte noch tadellos. Als er die Erdproben in der Hand gehabt hatte, mußten sich einige tote Zellen abgeschabt haben und an der Erde haften geblieben sein. Eine Urzelle dieser Welt mußte damit in Verbindung gekommen sein, und das Wunderbare begann sich abzuspielen. Die Urzelle verjüngte die abgestorbene Zelle; eine Rückentwicklung setzte ein, bei der die tote Zelle belebt wurde und sich zu jener menschlichen Hand regenerierte, von der sie stammte. 127
Jetzt reckten sich vollwertige menschliche Gebilde – HÄNDE – aus den Reagenzgläsern. Die Finger krampften sich zusammen, als wollten sie die Kraft erproben, die in ihnen steckte. Demnach war die Wirklichkeit noch viel phantastischer, als Ben angenommen hatte; seine Theorien waren dagegen schüchterne Annäherungsversuche an die Wahrheit, bruchstückhafte Mosaike eines Ganzen. Dieser Planet war lebensfähig wie keine andere Welt, und Ben begann sich zu wundern, wieso keine Spuren höherer Intelligenzen, Anzeichen von Kultur zu finden waren. Dieses letzte große Rätsel würde Ben nicht mehr lösen können, denn lange konnte es nicht mehr dauern, bis ihn der Parasit ganz in seiner Gewalt hatte. Und – wann würde Mick das Lager erreichen? Ben lauschte und blickte aus dem Fenster. Dabei machte er vielerlei Entdeckungen, die ihn so plötzlich überkamen, daß er nicht fähig war, sie zu sondieren. Die gelbe Wolkenwand war näher gekommen, schwebte über dem Lager und senkte sich langsam herab. Aber es waren keine Wolken. Es war Blütenstaub! Die dicken, hölzernen Stämme, die vor dem Energiezaun aus dem Boden geschossen waren, veränderten ihre Formen nicht mehr. In ihren vormals ebenmäßigen Rinden bildeten sich Sprünge, die sich zusehends verbreiterten. Und daneben sprossen die mannshohen Blumen, deren Blütenkelche einen Durchmesser von fast einem halben Meter hatten. Die viel zu dünnen Stengel neigten sich leicht unter der Last, die sie zu tragen hatten. Die Blüten waren noch geschlossen. Welche Schrecken verbargen sie in ihrem Innern? Ben sah, daß sich die Blütenblätter langsam nach außen wölbten. Und in diesem Moment erschien Mick vor dem Energiezaun. Er brach aus dem Busch – ein stampfendes, schreiendes Ungeheuer. Und Bens linkes Bein begann wieder zu zucken, aber darum 128
kümmerte er sich nicht. Denn jetzt öffneten sich die riesigen Blüten vollends, und die dicken Holzgebilde brachen auf. Aus den Blüten schoß buntes Gefieder und stieß krächzend in den Himmel hinein. Aus ihren flatternden Federn löste sich gelber Blütenstaub. Aus dem berstenden Holz der blütenlosen Stämme sprangen pelzige Tiere; sie quäkten und quietschten und schrien, als freuten sie sich über die so plötzlich erlangte Freiheit. Bevor sich ihre Schar im Dschungel verlor, sträubten sich die Pelze, und gelber Blütenstaub stob in die samengesättigte Luft. »Mick!« schrie Ben. War das noch Mick? Am Energiezaun stand eine alptraumhafte Gestalt; spitze Dornen wuchsen aus den Wangen, zwischen den Haaren wuchs Gras, und bunte, winzige Kelche sprossen dazwischen, die die blutenden Wunden stillten. Plumpe, formlose Gebilde, gegen den Himmel gestreckt, erinnerten entfernt an Hände. Wo die Beine hätten sein müssen, da wuchsen Wurzeln, die vorsichtig und emsig den Weg abtasteten. »Bwenn!« schrie Mick. »Bwenn, Bwenn, Ben!« Und der Dschungel raschelte mit den Blättern, was wie ein Jubelschrei klang. Schneeflocken gleich sanken die gelben Samenweben vom Himmel und verfinsterten die Sonne. Neben Mick, der in seinen Bewegungen langsamer geworden war, wuchsen Gebilde aus dem Boden, so schnell, daß Ben den einzelnen Wachstumsphasen nicht folgen konnte. Ben meinte, ein emsiger Künstler sei hier am Werk, der es an Sorgfalt und Ideenreichtum nicht fehlen ließ. Höher und immer höher wurde das Gebilde … da bildete sich ein feines Grübchen, dort ein Eckchen, ein zarter Vorsprung wölbte sich über eine geschwungene Einbuchtung; der Wurzelstock erinnerte irgendwie an ein menschliches Bein, und es schlugen bereits die ersten Knospen daraus hervor. Weiter oben – es hätte ein gerundetes Knie sein können – bewegten sich grazil einige 129
zarte Äste; Knospen formten sich auch hier und öffneten sich in pastellener Farbenpracht. Der Rumpf hatte schon erkennbare Formen angenommen; an den knorpligen Schultern schlugen stärkere Äste aus. Oder waren es Arme? Arm-Äste, ja! Vom Kopf hing rotes Haar – oder rotes Gras? Die Wurzeln hoben sich und traten einen Schritt an den Energiezaun heran. Der Knospenmund hauchte: »Ben.« »Esther!« Ben taumelte zurück. Mick, jenes Alptraumgebilde aus Fleisch und Pflanzen, dieser Mick lachte. Es war kein hämisches Lachen, sondern eher glücklich zu nennen. Durch den Dschungel kam ein anderer Mick heran, und plötzlich war der Energiezaun von lauter Micks umgeben. Ben sah auch einige Jeffs. Aber nur eine Esther war da. »Keine Rache mehr«, sagte einer der unzähligen Micks. »Das wäre doch Blödsinn«, meinte ein Jeff und warf die Arm-Äste übermütig in die Luft. »Dir verdanken wir doch dieses paradiesische Dasein. Ohne dich wären wir immer noch sterblich.« Ja, überlegte Ben wie in Trance, ohne mich könntet ihr noch Menschen sein. Wenn wir vor der Blütezeit diesen Planeten verlassen hätten, wären wir noch Menschen. Jetzt hatten sich die Zeiten dieser Welt auf die abgestorbenen Zellen der Menschen gestürzt, hatten sie rückverwandelt und aus ihnen skurrile Gebilde geschaffen. Und die Urzelle, diese pflanzliche Zelle, hatte diese Wesen beeinflußt: Sie waren halb Mensch, halb Pflanze, mit Haaren und Blättern. Als wollten die Parasiten die ganze Menschheit verulken, hatten sie diese erbärmlichen Wesen geschaffen. Clowns. Ben schauderte. Er war noch ein Mensch, wenn ihm auch eine Zinnie aus der Brust wuchs, aber er hatte noch Gewalt über sich. Er wollte nicht dasselbe Schicksal wie seine Kameraden erleiden, lieber würde er sterben. »Es sind keine Parasiten«, sagte ein Jeff. »Vielmehr handelt es sich hier um eine vollendete Lebensform, mit einer voll130
kommenen Lebensweise.« Ben, der Jeffs Worte nicht mehr hören wollte, stapfte auf das Haus zu. Aber er kam nur langsam vorwärts, denn jede Bewegung verursachte ihm Qualen. Er erreichte die Tür, als Jeff hinter ihm fortfuhr: »Vor langer Zeit hat die Pflanzenwelt auf diesem Planeten eine Art Rückentwicklung durchgemacht. Die Zellen sind mutiert. Ich weiß nicht genau, worauf das zurückzuführen ist, vielleicht auf Sonneneruptionen oder auf eine Strahlungsveränderung der Sonne, oder auch auf Bewegungen im Innern dieser Welt – es ist auch egal. Jedenfalls wandelten sich die Zellen in ihr ursprüngliches Stadium zurück, die absolut wandlungsfähige Zelle entstand. Du hast da deine Forschungen in dieser Richtung betrieben und hast mit deinen Vermutungen in wesentlichen Punkten recht. Aber du konntest nicht einmal erahnen, welche Auswirkungen dies auf die Fauna und Flora haben konnte.« Ben erreichte das Innere des Hauses und tastete sich auf den Waffenschrank zu. Hinter ihm brach der Energiezaun zusammen, und er hörte das Klappern der Wurzelstöcke näher kommen. »Die Pflanzen gingen mit den Tieren eine Symbiose ein«, erkläre Jeff im Näherkommen. »Dabei profitierten beide Partner, die Tiere wurden wandlungsfähig und erhielten die Unsterblichkeit, die Pflanzen bekamen einen gewissen Grad von Intelligenz. Aber der Fluch dieser Welt war es, daß es kein intelligenteres Leben gab. Wenn auch die physische Entwicklung keine Grenzen kannte, so stagnierte doch die psychische. Was nützen schon die phantastischsten Möglichkeiten, wenn die Triebfeder zu ihrer Nutzung fehlt: der Geist. Deshalb entwickelte sich auch ein ganz eigenwilliger Lebensrhythmus zwischen Flora und Fauna; zwei Zyklen bildeten sich, während einer Zeitspanne bevölkert die Tierwelt den Planeten, dann übernehmen die Pflanzen wieder die Herrschaft. Das klingt 131
alles nicht sehr verständlich, vor allem für dich, Ben, weil du die Symbiose noch nicht eingegangen bist, aber du hast den Wechsel ja selbst miterlebt. Wir landeten gerade zu solch einem Zeitpunkt, wo die Pflanzen in ihre Blütezeit traten. Wir waren für die Pflanzen die ›Tiere‹. Begreifst du jetzt, Ben?« Ben spürte ein Ziehen im Bein. Er machte sich keine Gedanken darüber. Er sah nur den Waffenschrank vor sich. Zwei Schritte, er mußte es schaffen! »Wir sind die Triebfeder, Ben«, sagte Jeff begeistert. »Wir brachten die Intelligenz auf diese Welt, mit der man all die Möglichkeiten nutzen kann. Schau her, Ben!« Ben sah nicht hin. Er hatte den Waffenschrank erreicht und ergriff eine Tri-Läufige. Er schob sich den Lauf in den Mund, und seine Hand tastete nach dem Abzug. Irgend etwas ließ ihn stolpern. Dabei hatte er sich etwas zur Seite gedreht, und jetzt sah er Jeff. Es war Jeff, jener Jeff, der mit ihnen im Raumschiff zu dieser Welt geflogen war. Keine Knospe, kein Ast, kein Gras war auf seinem Körper. »Ahnst du die Möglichkeiten, die sich für uns ergeben?« fragte Jeff. Verblüfft legte Ben die Waffe weg. Bevor er seiner Verwunderung noch in Worten Ausdruck geben konnte, traten Mick und Esther ein.
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Rückkehr vom Sirius Er rannte um sein Leben. Er nannte es Drang, dieses heftige Verlangen, sich in einen Wolf zu verwandeln. Der Drang belastete ihn seelisch und körperlich schwer, während er durch den nächtlichen Wald hastete. Nur selten gönnte er sich eine kurze Verschnaufpause, um auf das Kläffen der Bluthunde zu hören. Sie kamen immer näher und näher. Er stolperte über Wurzeln, die aus dem harten Erdreich ragten, raffte sich auf und hetzte keuchend weiter. Wie lange konnte es noch dauern, bis ihn die Bluthunde einholten und die grausame Jagd beendeten? Die Bluthunde würden sich nicht damit begnügen, ihn zu stellen, denn sie würden seine Ausdünstung wittern, den Schweiß des Wolfes. Nein, er hatte keine Chance, sie würden ihn anfallen und zerfleischen. Der Drang wurde übermächtig. Der Schmerz der beginnenden Verwandlung überschwemmte seinen Körper in regelmäßigen Abständen. Er blieb stehen, stützte sich an einen stämmigen Baum und schloß erleichtert die Augen. Die Flut der Schmerzen ebbte ab. Hierbleiben und ausruhen, dachte er sehnsüchtig. Aber er mußte weiter. Er hörte schon die Schreie der Treiber. Er machte einen Schritt, und sein Körper bäumte sich gepeinigt auf; alles brannte in ihm, als werde sein gesamtes Nervensystem in glutflüssiger Lava gebadet. Die Schatten der Nacht verschwammen vor seinen Augen zu einem glatten, schwarzen Tuch. »Verdammte Bluthunde!« schrie er in seiner Muttersprache, bevor er ohnmächtig zusammenbrach. Die Verwandlung schritt rasch voran … Ein Winseln und Knurren weckte ihn. Er öffnete die Augen und sprang auf die Beine. Zwei glühende Augenpaare starrten ihn an. Er sah die geifernden Lefzen und das weißleuchtende 133
Gebiß. Dahinter erblickte er schemenhaft die Gestalten der vier Treiber. Sie schrien. Er konnte nicht verstehen, ob es sich um artikulierte Laute handelte. Er war ein Wolf. Er heulte auf und sprang dem ersten Bluthund entgegen. Ein erbittertes Ringen begann. Die Treiber gaben beiden Bluthunden Leine und feuerten sie akustisch an. Mit seinen starken Pfoten drückte er den ersten Bluthund zu Boden und schnappte nach seiner Kehle. Das fremde Blut schmeckte süß… Er ließ von dem winselnden Etwas ab und wirbelte zum anderen Bluthund herum. Einen Augenblick lang standen beide Tiere nur auf den Hinterpfoten, dann wälzten sie sich über die harte Erde, wirbelten das welke Laub auf. Der Wolf war stärker. Er riß den Rachen auf, spannte ihn über die Kehle des Bluthunds und biß zu. Die tödlich getroffene Kreatur zuckte noch ein paarmal konvulsivisch, um dann für immer leblos in sich zusammenzufallen. Der Wolf hatte gesiegt. Der Kampf war vorbei. Fast vorbei … Die Treiber stoben laut kreischend auseinander, als der lange schwarze Schatten auf sie zuflog. Einige ungezielte Schüsse lösten sich aus ihren Gewehren, sie trafen den Wolf nicht. Der Wolf war schnell und flink – er holte sich einen Treiber nach dem anderen. Und er war intelligent, er tötete keinen von ihnen. Er ließ die vier verwundeten Menschen liegen und rannte weiter der französischen Grenze entgegen. Er wurde sich erst nach einigen Kilometern bewußt, daß er noch immer Teile der Astronautenuniform trug. Er brauchte nicht lange, um sich ihrer zu entledigen. Das sowjetische Raumschiff war vor zwei Jahren unter strengster Geheimhaltung zum Sirius gestartet. Der Flug zu den Planeten des Sonnensystems, der Bau von bemannten Raumstationen und von Mondbasen gehörte schon beinahe zum Alltag – 134
aber dies war die erste Expedition zu einem Fixstern. Das Raumschiff hatte die siebzehn Lichtjahre des Hin- und Rückfluges im überlichtschnellen Flug ohne technische Pannen geschafft, der Rest war nur noch unzählige Male durchexerzierte Routineangelegenheit. Es schien, daß alles gutgehen würde. Die Panne passierte, als das Sternenschiff eine der Raumstationen anflog, die in einer weiten Umlaufbahn die Erde umkreisten. Die Bremsdüsen versagten, das Raumschiff raste in unverminderter Geschwindigkeit auf die Erde zu. Der Kommandant verhinderte das Ärgste, indem er in einem flachen Winkel in die Atmosphäre einflog, aber er konnte dadurch die Katastrophe nur hinauszögern. Das Raumschiff war zum Verglühen verurteilt. Die sieben Astronauten ignorierten die Funksprüche aus Moskau, in denen ihnen befohlen wurde, ihr Leben zu opfern, um das Geheimnis der ersten Sternenexpedition zu wahren. Die Astronauten suchten die Rettungskapsel auf und ließen sich vom Katapult aus dem verglühenden Raumschiff schleudern. Die Rettungskapsel fiel nahe der italienischen Riviera ins Ligurische Meer. Zwei Schnellboote der NATO nahmen sie ins Schlepp und brachten sie an Land. Dort wartete ein Abteilung Soldaten. Als die sowjetischen Astronauten die Raumkapsel verließen, wurde sofort das Feuer auf sie eröffnet. Drei von ihnen brachen im ersten Kugelhagel tot zusammen, zwei weitere ereilte das Schicksal während der Flucht in die Berge. Nur Sergej Kamow und der Kommandant erreichten die Ligurischen Alpen. Dort fiel der Kommandant den Bluthunden zum Opfer – sie überraschten ihn während der Metamorphose. Blieb nur noch Sergej Kamow von sieben sowjetischen Astronauten übrig. Immer wieder kreisten seine Gedanken um dieselbe Frage: Wodurch haben wir uns verraten? Nur weil wir in der Gestalt von Wölfen der Raumkapsel entstiegen? Auf den ersten Blick hätten sie uns für Hunde, für 135
Weltraumhunde, halten müssen. Aber sie schossen augenblicklich. Sie mußten gewußt haben, daß wir Werwölfe waren. Wie war das möglich? Das Mädchen mit dem Fahrrad kam in gemächlichem Tempo den schmalen Pfad heruntergefahren. Es hatte keine Eile, auch schien es ihr nichts auszumachen, daß die Sonne hinter dem Wald versunken war und es bereits dämmerte. An den Büschen, die den stillen Waldsee an dieser Stelle umsäumten, stieg sie vom Rad und schob es durch das Dickicht. Auf einer Lichtung legte sie es ins Gras. Sie seufzte wohlig, langte hinter sich, um den Verschluß ihres leichten Sommerkleides zu öffnen. Plötzlich erstarrte sie mitten in der Bewegung. »Ist hier jemand?« Sie blickte suchend und ohne erkennbare Angst um sich. Dann sah sie, daß sich das Blattwerk an einer Stelle am Rand der Lichtung bewegte. »Wollen Sie mir etwa beim Baden zusehen?« fragte sie barsch, aber bereits etwas unsicher. »Kommen Sie sofort heraus.« Zu ihrer Überraschung bekam sie eine Antwort. »Ich kann nicht«, sagte eine angenehm klingende Männerstimme auf Englisch; sie überhörte den harten, rollenden Akzent nicht. »Sprechen Sie nicht Französisch?« erkundigte sie sich in derselben Sprache. »Nein – ich bin Amerikaner.« Sie runzelte die Stirn und mahnte sich zur Vorsicht. Wer immer dieser Mann hinter dem Busch war, er sprach mit einem slawischen Akzent und war alles andere als ein Amerikaner. »Warum können Sie nicht aus Ihrem Versteck kommen?« fragte sie. »Weil ich nackt bin.« »Oh.« 136
Das Strauchwerk teilte sich, dann erschien der nackte Oberkörper eines kräftig gebauten Mannes von mittlerem Alter. Er hatte strenge, markante Gesichtszüge, sein Haarschnitt war von militärischer Kürze. Er lächelte unbeholfen und sagte: »Man hat mir die Kleider gestohlen, als ich hier badete.« »Ach?« meinte sie zweifelnd und dachte: Er lügt schon wieder. Laut sagte sie: »Der See ist so einsam und verlassen, daß sich kaum ein Fremder hierher verirrt. Selbst Einheimische …« Sie unterbrach sich, weil sie erkannte, wie verfänglich ihre Worte waren. Schnell fügte sie hinzu: »So verlassen ist der See eigentlich gar nicht. Wir kommen sehr oft her – mein Freund muß ohnedies bald eintreffen. Er kann jeden Augenblick kommen.« Das Gesicht des Unbekannten erhellte sich. »Vielleicht könnte mir Ihr Freund eine Badehose borgen.« Das Mädchen lachte schallend, gelöst. Als sie sein Erstaunen und seine Betroffenheit sah, bemerkte sie: »Ich dachte, Sie seien ein Wüstling, ein Voyeur oder so – man liest ja allerhand Schauerliches. Deshalb habe ich zu Ihnen gesagt, daß mein Freund bald kommt.« »Dann kommt er gar nicht?« Sie schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich muß Sie leider enttäuschen. Aber lassen Sie mich nachdenken. Nackt können Sie natürlich nicht bleiben … Natürlich, so geht es! Sie können sich zur Not das Höschen meines Bikinis überstreifen; mit dem Baden wird es ohnehin nichts mehr.« »Aber …« »Lassen Sie mich nur machen«, unterbrach sie ihn. »Ich bringe Sie mit dem Rad zu mir nach Hause. Auf dem Dachboden befinden sich noch einige Klamotten meines Vorgängers, die könnten Ihnen passen.« Es stellte sich heraus, daß sie Lehrerin in einem kleinen Ort war und ein abgelegenes Haus bewohnte. Niemand bemerkte 137
sie, als sie mit dem Fremden ankam. Sie brachte ihm Unterwäsche, ein Hemd und einen zerknitterten Anzug. Er rümpfte die Nase. »Eingemottet«, erklärte sie spitz. »Aber in Ihrer Verfassung können Sie nicht wählerisch sein.« »Natürlich nicht. Entschuldigen Sie.« Als er sich wenige Minuten später mit dem Anzug sehen ließ, stellte sie fest, daß er recht stattlich darin wirkte. Nachdem sie ihm zu essen gegeben hatte, erkundigte sie sich, was er nun zu tun gedenke. Er erklärte, daß er beim nächsten Gendarmerieposten Anzeige erstatten würde, um dann zu seinem Geschäftsfreund zurückzukehren, bei dem er wohne. Wortlos legte sie eine Zeitung vor ihn auf den Tisch. Sie sah, daß sein Blick wachsam und argwöhnisch wurde. Ohne auf die Zeitung zu achten, sagte er: »Ich kann das leider nicht lesen. Würden Sie es mir übersetzen?« Sie nahm die Zeitung wieder an sich und las die Überschrift vor: »Sowjetische Raumkapsel bei Imperia ins Meer gestürzt. Sechs Astronauten kamen ums Leben … der einzige überlebende Astronaut dürfte durch einen Schock das Gedächtnis verloren haben. Er ist vor seinen Rettern in die Berge des Ligurischen Apennin geflüchtet. Bei Redaktionsschluß fehlte von ihm noch jede Spur, aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß er sich bereits auf französischem Boden befindet. Die Bevölkerung wird ersucht …« »Sie haben recht«, gestand er, »das bin ich. Aber ich habe mein Gedächtnis nicht verloren. Ich mußte flüchten, ich mußte um mein Leben laufen.« »Sie können mir Ihre Geschichte auch später erzählen«, meinte sie beruhigend. Sie senkte den Blick und sagte: »Sie wissen sicher nicht, wohin Sie sich wenden sollen. Wenn Sie wollen, können Sie hier in meinem Haus übernachten – ich habe ein Gästezimmer.« »Ich würde schon – aber haben Sie keine Angst, einen wild138
fremden Mann bei sich aufzunehmen?« »Hm, hm«, machte sie kopfschüttelnd. »Nicht wenn er so tugendhaft ist wie Sie.« Ja, dachte er, ich bin ein tugendhafter Werwolf. Ich muß schleunigst jemand finden, mit dem ich über meine Krankheit sprechen kann. Spät in der Nacht lag er immer noch wach. Er dachte, Marielle an seiner Seite sei schon lange eingeschlafen. Aber plötzlich bewegte sie sich und richtete sich auf. »Warum bist du Ihnen davongerannt?« erkundigte sie sich mit leiser Stimme. »Das fragst du mitten in der Nacht?« »Ich konnte ebensowenig schlafen wie du.« Eine Weile herrschte Stille, dann sagte er: »Sie wollten mich töten, so wie sie es mit meinen Kameraden getan haben.« »Aber in der Zeitung steht, sie seien bei der Katastrophe ums Leben gekommen.« »Alles Lüge. Sie wurden abgeschossen wie …« »Wie tollwütige Hunde?« »Ja, wie tollwütige Hunde!« Er spürte eine heiße Woge seinen Körper überschwemmen. In zorniger Erregung fuhr er fort: »Sie haben uns keine Chance gelassen. Wir hatten kaum unsere Schnauzen aus der Schleuse gesteckt …« Sie erstarrte. »Was sagst du da, Sergej?« Wie versteinert lag er da. Er hatte sich verraten. Durch ein einziges unbedachtes Wort hatte er ihren Argwohn erweckt. Doch war das nicht so schlimm, er hätte sich noch herausreden können – wenn nicht ausgerechnet in diesem Augenblick der Drang über ihn gekommen wäre. Er wehrte sich heftig dagegen, aber er kam nicht dagegen an. Es war ein Muß für ihn, sich zeitweise in einen Werwolf zu verwandeln. Anders konnte er nicht existieren. Er erinnerte sich noch genau an das erstemal, als er auf alle viere niedergesunken war und ihm aus dem 139
Spiegel ein Wolf entgegengeblickt hatte. Das war auf dem Raumschiff passiert, eine Woche nachdem sie Sirius verlassen hatten. Er war damals zu Tode erschrocken gewesen … »Sergej! Was ist mit dir? Fühlst du dich nicht wohl?« »Gleich, Marielle, gleich wird es mir besser gehen.« Er fletschte die Zähne, knurrte wild und sprang dem vermeintlichen Rivalen entgegen. Der Spiegel zersplitterte in tausend Scherben – er hatte sein eigenes Spiegelbild angegriffen. Er kam wieder zur Besinnung und lief unruhig in der engen Kabine auf und ab, die für menschliche Bedürfnisse geschaffen worden war. Als Mensch fühlte er sich wohl darin, aber als Wolf brauchte er mehr Bewegungsfreiheit. Er war hungrig, aber als er an den Nahrungskonzentraten schnupperte, rebellierte sein Magen. Er war durstig, konnte seinen Durst aber nicht stillen, weil er mit den Pfoten den Wasserhahn nicht betätigen konnte. Am liebsten hätte er seiner Verzweiflung in einem anhaltenden Klagelaut Ausdruck gegeben, aber er gemahnte sich noch rechtzeitig zur Vorsicht. Er war nicht allein auf dem Raumschiff. Sechs Menschen befanden sich mit ihm an Bord. Es waren seine Kameraden nur solange er menschliche Gestalt besaß. Jetzt war er ein Wolf, die Menschen waren seine Feinde! Er mußte warten, bis der Drang nachließ und er wieder menschliche Gestalt annehmen konnte. Dann würde er sich überlegen, welche Vorsichtsmaßnahmen er künftig gegen eine Entdeckung treffen konnte. Denn er wußte: Er würde noch oft zum Wolf werden. Das war sein Schicksal. Sechs Wochen später rief der Kommandant, Juri Alexandrowitsch, sie zu einer dringenden Besprechung in den Gemeinschaftsraum. Als alle versammelt waren, sprach er zusammenfassend über den Erfolg ihrer Expedition und ging sofort auf den eigentlichen Grund der Zusammenkunft über. 140
Er sagte: »Wir können nicht dulden, daß dieser Erfolg durch verbrecherische Elemente in Frage gestellt wird. Irgend jemand aus unserer Gemeinschaft möchte sich persönliche Vorteile verschaffen, indem er die Lebensmittelkammer plündert. Wenn das nicht sofort eingestellt wird, schmelzen unsere knapp rationierten Lebensmittel auf ein Nichts zusammen, noch bevor wir die Erde erreicht haben.« Sergej Kamow war den Ausführungen mit wachsendem Unbehagen gefolgt. Er glaubte sich durch seine Nervosität verraten, als er den Blick des Kommandanten auf sich ruhen spürte. »Meldet sich der Schuldige freiwillig?« Sergej hatte nicht geglaubt, daß das Fehlen von drei Fleischkonserven so schnell auffallen würde. Er wollte den Diebstahl schon zugeben, als sich der Navigator meldete. »Ich bin der Dieb«, sagte er. Sergej frohlockte innerlich. Der Navigator war sein Verbündeter, ein Wolf wie er. Warum sonst hätte er die Fleischkonserven stehlen sollen? »Warum haben Sie gestohlen?« fragte der Kommandant. »Ich … ich brauchte das Fleisch …« »Wer fühlt sich noch schuldig?« erkundigte sich der Kommandant. Als sich niemand meldete, sagte er: »Dann muß ich den anderen Dieb überführen. Funker, geben Sie zu, daß Sie den Wasservorrat unerlaubt angegriffen haben?« »Ja«, bekannte der Funker. »Sie haben einen Bottich voll Wasser in Ihrer Kabine stehen. Wozu brauchen Sie das Wasser? Funktioniert der Wasserhahn nicht?« »Doch«, bekannte der Funker, »aber manchmal … manchmal kann ich ihn nicht betätigen.« Jetzt sind wir drei, triumphierte Sergej Kamow. »Ich kann alles verstehen«, meinte der Kommandant mit plötzlich veränderter Stimme, »nur nicht, daß sich einige auf Kosten anderer bereichern wollen. Wir sollten uns in jeder La141
ge vor Augen führen, daß wir eine Gemeinschaft sind. Auch Sie, Genosse Kamow!« Sergej zuckte zusammen, aber er faßte sich schnell wieder. Er hatte mit dem Navigator und dem Funker zwei Bundesgenossen, die im Fall einer Auseinandersetzung auf seiner Seite stehen würden. »Ich bin krank, ich brauche Fleisch«, sagte er deshalb herausfordernd. Der Kommandant reagierte ganz anders als erwartet. »Wie können Sie das nur sagen, Genosse Kamow! Sie nennen es eine Krankheit, aber es ist eine kostbare Begabung. Ich bin ebenfalls damit gesegnet – wir alle sind es. Oder gibt es einen Außenseiter unter uns?« Die sechs Astronauten schüttelten die Köpfe. Die Verkrampfung der letzten Tage und Wochen fiel von ihnen ab, sie benahmen sich freier und ungezwungener. Sie brauchten voreinander keine Geheimnisse mehr zu haben. Sie waren alle von dem gleichen Drang befallen. Das Raumschiff raste der fernen Erde entgegen. Es hatte sieben Werwölfe an Bord, die sich gegen die Menschheit verschworen hatten. Sergej Kamow blickte in Gedanken versunken aus dem Seitenfenster des Führerhauses auf die vorbeiflitzenden Bäume, die die Landstraße einsäumten. Immer wieder sah er Marielles nackten Körper ausgestreckt neben dem Bett liegen, blutbesudelt. Er erinnerte sich noch genau daran, daß er sich die Schnauze abgeleckt hatte, bevor er durch das Fenster ins Freie gesprungen war. Die Geschehnisse der beiden darauffolgenden Tage hafteten nicht mehr so lebendig in seinem Gedächtnis. Er wußte nur noch, daß er in Wolfsgestalt durch die Gegend gestreunt war und daß einige Male Menschen seinen Weg gekreuzt hatten, obwohl er die Ortschaften und belebten Straßen 142
in weitem Bogen umgangen hatte. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als Menschen anzufallen, aber er hatte keinen von ihnen getötet. Auch Marielle hatte er nicht lebensgefährlich verwundet. Warum er selbst während seines Wolfsdaseins so human war, konnte er nicht begründen. Vielleicht hinderte ihn sein Unterbewußtsein daran, zu morden? Plötzlich durchfuhr es ihn siedend heiß. Er schloß die Augen und biß die Zähne zusammen. Nicht jetzt, dachte er, nur nicht jetzt. Der Drang ließ nach, er hatte das schmerzhafte Verlangen, sich in einen Wolf zu verwandeln, besiegt. Die Erkenntnis kam blitzartig: Er konnte den Drang kontrollieren! Er atmete auf. Der Fahrer des Sattelschleppers warf ihm einen Seitenblick zu und murmelte etwas auf französisch. Sergej reagierte überhaupt nicht. Er hatte vorgegeben, taubstumm zu sein. Das schien ihm die beste Möglichkeit, kein Aufsehen zu erregen. Bisher funktionierte seine Tarnung. Vor ihnen tauchte eine Raststätte auf. Der Fahrer bremste den Sattelschlepper ab und fuhr auf den Parkplatz. Er stieß Sergej an und bedeutete ihm, mitzukommen. Sergej schüttelte den Kopf und kehrte bedauernd seine Rocktaschen um. Der Fahrer forderte ihn daraufhin nochmals zum Mitkommen auf, und diesmal folgte ihm Sergej bereitwillig. Der hatte nichts dagegen, sich auf ein Mittagessen einladen zu lassen. Das Schaf, das er letzte Nacht gerissen hatte, war schon längst wieder verdaut. Sein Magen knurrte. Das Essen war nicht dazu angetan, hohe Ansprüche zu befriedigen, aber es sättigte wenigstens. Sergej lehnte sich zufrieden zurück. So saß er eine Weile da und wartete darauf, daß der Fernfahrer die Zeitung weglegen würde. Eine Viertelstunde wartete Sergej vergebens darauf. Er wurde unruhig, und um nicht aufzufallen, nahm er ebenfalls eine Zeitung und tat, als 143
lese er. Plötzlich stach ihm ein Wort ins Auge. Lykanthropologe, stand da. Ein Lykanthrop war ein Werwolf, und ein Lykanthropologe mußte demnach jemand sein, der sich wissenschaftlich mit Werwölfen befaßte. Sergej studierte den Artikel Wort für Wort. Er bekam natürlich nicht heraus, worum es im einzelnen ging, aber immerhin erfuhr er den Namen eines Lykanthropologen und dessen Adresse. Er heiß Jean-Louis Guillard und wohnte in Paris. Sergej nahm sich in diesem Augenblick vor, ihn aufzusuchen. Es war der einzige Mensch, dem er sich anvertrauen konnte und von dem er überzeugt sein konnte, daß er ihn auch anhören würde. Sein Entschluß stand fest. Er würde zu Professor Jean-Louis Guillard gehen und ihm alles über die bevorstehende Invasion der Werwölfe erzählen. Hoffentlich hörte er ihn auch an, bevor er die Polizei verständigte. Sergej kam sein Vorhaben plötzlich sinnlos vor. Wer würde ihm denn schon glauben? Es klang alles so phantastisch und unwahrscheinlich, daß man ihn für wahnsinnig halten mußte. Trotzdem blieb ihm keine andere Wahl. Er mußte den Lykanthropologen aufsuchen, um sich der drückenden Belastung zu entledigen, die das schreckliche Geheimnis für ihn bedeutete, das er mit sich trug. Der Sattelschlepper brachte ihn bis Lyon, wo er die Nacht frierend in einem Park verbrachte. Er hätte der Kälte ganz leicht beikommen können, indem er Wolfsgestalt annahm, aber aus Angst vor einer Entdeckung unterließ er es. Am nächsten Morgen bereute er seine übermäßige Vorsicht bitterlich. Ein Polizist stöberte ihn auf und nahm ihn wegen Landstreicherei mit auf die Wache. Dort wurde ihm ein Platz vor einem Schreibtisch zugewiesen, an dem ein Beamter hinter einer Schreibmaschine saß. Er sah Sergej erwartungsvoll an und stellte in mürrischem 144
Ton eine Frage. Sergej deutete auf seine Ohren, bewegte den Mund lautlos und machte mit den Fingern einige undefinierbare Zeichen. Der Beamte nickte zum Zeichen, daß er verstanden hatte, dann drehte er den Kopf und rief einen Namen. Sergej begann zu ahnen, was nun geschehen würde, und der Schweiß brach ihm aus. Er brauchte auch nicht lange zu warten, bis ein anderer Beamter in Zivil kam und sich ihm gegenübersetzte. Die beiden Beamten wechselten einige Worte, dann wandte sich der Hinzugekommene mit einem Lächeln an Sergej. Bevor er noch dazu kam, seine Finger in der Zeichensprache zu bewegen, sagte Sergej auf Englisch: »Können Sie einen Dolmetscher kommen lassen?« Die beiden Beamten starrten sich betroffen an, dann hieb der hinter der Schreibmaschine wütend auf die Tasten. Fluchend rief er nach einem anderen Beamten. Diesmal erschien ein bulliger Polizist. Er nahm wortlos Platz und hörte sich an, was ihm der Mann hinter der Schreibmaschine zu sagen hatte. Danach grunzte er und fragte mit schleppender Stimme und in schlechtem Englisch: »Warum hast du uns angelogen?« Sergej verstand ihn gerade noch zur Not. Er benetzte sich die Lippen und sagte: »Das kann Ihnen doch egal sein. Nehmen Sie meine Personalien auf und lassen Sie mich in Frieden.« »Ah, so einer bist du. Na, wir werden schon mit dir fertig.« Er begann ihn nach Namen, Meldeort, Beruf und Staatszugehörigkeit auszufragen. Sergej nannte irgendeinen Namen, gab als Wohnort ein kleines Dorf an, an dem er mit dem Fernfahrer vorbeigekommen war, bezeichnete sich als Jugoslawe, und als Gelegenheitsarbeiter. »Hast wohl selten Gelegenheit zum Arbeiten«, bemerkte der Polizist, dann begann er mit dem eigentlichen Verhör; er führte es geschickt und streng, dabei machte er den Eindruck, als seien ihm alle Ausländer prinzipiell verdächtig. 145
Sergej verstrickte sich bald in Widersprüche. Er spürte es direkt physisch, wie der Beamte immer mißtrauischer wurde. Er dachte fieberhaft über einen Ausweg nach, aber er könnte sich nicht darauf konzentrieren, weil andauernd Fragen auf ihn niederprasselten. Er mußte handeln, bevor sie ihn in eine Zelle sperrten – noch bevor sie durch Rückfragen seine wahre Identität erfuhren. Der bullige Beamte lehnte sich zurück, öffnete den obersten Hemdkragen und wischte sich mit dem Taschentuch über die schweißnasse Stirn. »Ich bin fertig mit dir«, sagte er. »Jetzt werde ich das Verhör dem Chef überlassen.« Sergej sprang mit einem gurgelnden Laut auf – sein Körper wurde in Feuer gebadet. Der Polizist war zur Stelle und stützte ihn. »Du wirst doch hier nicht kotzen?« fragte er mißtrauisch. Sergej schüttelte den Kopf. »Es ist schon wieder vorbei.« Der Beamte sah ihn prüfend an. »Siehst immer noch recht blaß aus. Da hinten ist das W.C. Vielleicht fühlst du dich besser, wenn du dich entleerst.« Er drängte Sergej in den hinteren Teil des Raumes, öffnete eine Tür, schob ihn in die Toilette und blieb draußen stehen. Er wartete fünf Minuten, dann fragte er durch die geschlossene Tür: »Was ist?« Ein gurgelnder Laut kam als Antwort. Der Gendarm überlegte, ob er nicht doch nachsehen sollte, aber dann verzog er nur angewidert das Gesicht und blieb draußen. Nach einigen weiteren Minuten stellte er wieder eine Frage. Er bekam keine Antwort. Er drückte gegen die Tür, sie war von innen verschlossen. Jetzt bemächtigte sich seiner ernsthafte Besorgnis. Er rief einen anderen Beamten zu sich, und gemeinsam rannten sie gegen die Tür an. Nach drei Anläufen splitterte sie aus ihren Angeln. Aus dem düsteren Raum sprang ein schwarzer Schatten die 146
beiden Beamten an. Ihre folgenden Schmerzensschreie vermischten sich mit dem wilden Knurren der Bestie. Der Kampflärm drang bis in den Hintertrakt, wo sich der Bereitschaftsraum befand, und alarmierte die dort befindlichen Polizisten. Als sie mit entsicherten Pistolen ins Wachzimmer stürmten, bot sich ihnen ein schrecklicher Anblick. Inmitten eines Chaos aus umgestürzten Tischen und Stühlen lagen fünf ihrer Kameraden blutüberströmt und röchelnd – und durch ein offenstehendes Fenster sprang ein großer schwarzer Wolf hinaus auf die Straße. Eine sofort eingeleitete Verfolgungsjagd verlief ergebnislos. Es meldeten sich zwar viele Augenzeugen in und um Lyon, die einen schwarzen Wolf gesehen haben wollten, und aus den Krankenhäusern wurden fast zwei Dutzend Fälle von Bißwunden gemeldet – aber der Wolf blieb unauffindbar. Eine Woche später ging ein Mann mit aufgestelltem Mantelkragen eine bestimmte Straße in Paris entlang. Er blieb vor einem Haustor stehen, an dem ein unaufdringliches Schild verkündete: Dr. Jean-Louis Guillard Psychiater und Professor für Lykanthropologie Dem Mann bereitete es sichtliches Unbehagen, in den hellen Eingang zu treten. Aber er überwand seine Scheu dann doch und drückte den Klingelknopf neben Professor Guillards Namensschild. Aus dem Lautsprecher ertönte ein Knacken, und dann fragte eine Frauenstimme: »Wer ist da?« »Kann ich Dr. Guillard sprechen?« fragte Sergej Kamow auf Englisch zurück. Eine Weile herrschte Schweigen, dann meldete sich die Frau 147
in gebrochenem Englisch: »Der Professor hat jetzt keine Sprechstunden.« »Aber es ist dringend«, beharrte Sergej. »Ich muß ihn unbedingt sprechen. Lassen Sie mich zu ihm.« »Professor Guillard ist nicht hier …« »Lassen Sie mich ein«, drängte Sergej und blickte sich um. »Ich werde oben auf ihn warten.« »Worum handelt es sich?« erkundigte sich die Frauenstimme ungerührt. »Es …« Sergej zögerte, dann fuhr er schnell fort: »Ich möchte ihn in seiner Eigenschaft als Lykanthropologe sprechen.« Es kam keine Antwort, aber dafür sprang das Haustor mit einem Summen auf. Sergej ignorierte den Lift und ging die zwei Etagen bis zu Dr. Guillards Ordination zu Fuß hinauf. Eine kleine, unscheinbare Frau in weißem Ärztekittel erwartete ihn mit einem nervösen Lächeln an der Tür. »Sie hätten sofort sagen müssen, daß der Herr Professor Sie erwartet«, empfing sie ihn. Sergej antwortete darauf nichts. Wenn der Professor jemand erwartete, der mit ihm lykanthropische Probleme erörtern wollte, und die Sprechstundenhilfe glaubte, er sei diese Person, so konnte ihm das nur recht sein. Wenn sich die Verwechslung erst herausstellte, bis er seine Geschichte dem Professor erzählt hatte, dann würde der seinen anderen Besucher schnell vergessen. Sergej fühlte sich sogleich geborgen, als er an der Sprechstundenhilfe, die ihm die Tür offenhielt, vorbeitrat und in einen Vorraum mit einigen antiken Möbelstücken kam. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß. »Hierher, bitte«, sagte die Sprechstundenhilfe und führte ihn in eine Bibliothek. »Machen Sie es sich gemütlich.« Sergej sah sich anerkennend um. Selten hatte er einen Raum gesehen, der so viel Behaglichkeit ausstrahlte. Eine Leselampe warf angenehmes Licht auf einen Tisch und ließ die Bücherre148
gale in der dahinterliegenden Dämmerung mehr erahnen als sehen. Ein offener Kamin, in dem ein kleines Feuer knisterte, tat ein übriges zur Schaffung einer angenehmen Atmosphäre. Die Sprechstundenhilfe blieb abwartend in der Tür stehen. »Wann erwarten Sie den Professor zurück?« erkundigte sich Sergej. »Vielleicht heute nacht, oder morgen«, sagte sie. »Ich werde ihn sofort verständigen. Wollen Sie trotzdem warten?« »O ja. Auf jeden Fall – das heißt, wenn es keine Umstände bereitet.« »Nein, nein. Machen Sie es sich nur gemütlich.« Sie nickte ihm zu und ließ ihn allein. Sergej ließ sich aufatmend in einen der beiden antiken Polstersessel fallen. Er war müde – die beschwerliche Flucht von Lyon bis hierher hatte ihre Spuren hinterlassen. Er mußte gegen die Müdigkeit etwas tun, sonst schlief er hier noch glatt ein. Sein Blick fiel auf ein Buch, das auf dem Tisch lag. Der Titel war in französischer Sprache auf den Rücken geprägt und deshalb nichtssagend für ihn. Aber er vermutete, daß Professor Guillard auch Bücher in anderen Sprachen besitzen würde. Vielleicht konnte er sich mit der Lektüre eines Buches wachhalten. Als er die Titel in den Regalen überflog, es handelte sich meist um psychoanalytische und psychologische Fachwerke, stieß er auch auf ein Fach, in dem sich nur Werke über Lykanthropie befanden. Sergej entnahm dem Fach zwei Bücher, die in englischer Sprache verfaßt waren. Das eine betitelte sich »Die Werwölfe vom Altertum bis heute«, das andere war ein handgeschriebenes Manuskript in Leder gebunden; nur der Name des Verfassers, James Hubbard, stand auf dem Einband. Er setzte sich mit seiner Lektüre wieder an den Tisch. Das Buch über die Werwölfe vom Altertum bis in die Gegenwart enthielt wohl einige Neuigkeiten für Sergej, aber es 149
erschien ihm dennoch als nicht besonders lesenswert. Es zeigte ihm nur, daß alle Völker aus allen Epochen der Erde bereits Kontakt zu Menschen gehabt hatten, die sich in Wölfe verwandeln konnten. Schon bei den alten Skythen und bei der sarmatischen Völkerschaft der Neurer fanden sich Hinweise auf Menschen, die zeitweise Wolfsgestalt annahmen. Griechische Ärzte berichteten über eine Krankheit, bei welcher der davon Befallene des Nachts umherlief und wie ein Wolf heulte. Die Römer kannten die Werwölfe unter der Bezeichnung versipelles; nach germanischen Begriffen, die auch in der Völsungasaga zum Ausdruck kamen, wurde durch Überwerfen eines ûlf-hamr die Verwandlung in die Wolfsgestalt bewirkt; im dänischen Volksglauben nahm der Werwolf ebenfalls seine feste Stelle ein. Der Autor des Buches wies auch darauf hin, daß im südöstlichen Asien und in Afrika jetzt noch die allgemeine Vorstellung herrschte, Menschen könnten sich in Tiger, Löwen, Leoparden und Hyänen verwandeln; ebenfalls finde man noch in verschiedenen Gegenden Südrußlands, in der Walachei und verschiedenen slawischen Ländern den Glauben an Werwölfe, eng verknüpft mit dem Glauben an Vampire. In der Zusammenfassung kam der Autor schließlich zu dem Schluß, daß all diese Erscheinungen wohl nur der Phantasie und jeweiligen Mentalität der verschiedenen Völker entsprungen seien. Der Glaube sei ganz bestimmt nicht auf die tatsächliche Existenz von Werwölfen zurückzuführen. Selbst wenn die neueren Forschungsergebnisse noch so sehr diese Vermutung zu unterstützen schienen, müsse man sie strikt von sich weisen. Wenn es Werwölfe tatsächlich gegeben hätte – warum sprachen die Asiaten und Afrikaner dann von Menschen in Tigeroder Leopardengestalt? Als Schlußsatz stand dort: »Ich schätze meinen Freund James Hubbard sehr, aber ich kann nicht umhin, sein Lebenswerk, mit 150
dem er die Existenz von Werwölfen beweisen will, durch wissenschaftliche Fakten zum Einsturz zu bringen.« Sergej sah erst jetzt auf der Umschlagseite nach dem Verfasser des Buches. Dort stand der Name Jean-Louis Guillard. Er mußte sich noch zweimal vergewissern, daß er den Namen auch richtig gelesen hatte. Er hatte sich nicht geirrt. Der Mann, an den er sich um Hilfe wenden wollte, der Mann, von dem er geglaubt hatte, daß er sich seines Problems annehmen würde, war in Wirklichkeit ein Gegner der Lykanthropie. Er glaubte nicht an Werwölfe, er verwies ihre Existenz fanatisch ins Reich des Aberglaubens! Wie konnte sich Sergej von ihm Hilfe erwarten? Seine Hände zitterten, als er das in Leder gebundene Manuskript aufschlug. »Eine Beweisführung für die Existenz der Werwölfe auf dem versunkenen Kontinent Atlantis, im Reiche des Sonnengottes Ra und in der Neuzeit, von James Hubbard.« James Hubbard … James Hubbard, Sergej hatte diesen Namen schon früher gehört. Er wußte nur im Augenblick nicht, wo er ihn hintun sollte. Plötzlich fiel es ihm wieder ein. Natürlich, James Hubbard war ein Archäologe und Anthropologe, der einer der Entdecker des versunkenen Kontinents Atlantis war. Er hatte nicht nur die schon lange existierende Theorie bewiesen, daß sich der Kontinent Atlantis im Gebiet von Helgoland befunden hatte, sondern er hatte auch Schätze dieser versunkenen Kultur aus dem Meer geholt. James Hubbard war vor einem Jahr einem mysteriösen Unfall zum Opfer gefallen. Professor Guillard nannte ihn seinen Freund. Aber mußten sie in Wirklichkeit nicht Feinde gewesen sein? Sergej begann die Beweisführung James Hubbards zu lesen. Wie mit einem Schlag war alle Müdigkeit von ihm abgefallen; der Inhalt des Manuskripts zog ihn völlig in seinen Bann. James Hubbard zog eine starke Trennlinie zwischen Aberglauben und beweisbaren Tatsachen. Die Gerüchte, wonach 151
Werwölfe nur in Vollmondnächten in Erscheinung treten, wies er ebenso ins Reich der Fabel wie den Glauben, daß Werwölfe nur durch Silberkugeln getötet werden könnten. »Der Lykanthrop ist eine Spezies wie der Homo sapiens«, stellte er sachlich fest. Durch seine Ausgrabungen und seine Unterwasserexpeditionen konnte James Hubbard beweisen, daß auf dem Kontinent Atlantis die Rasse der Werwölfe regiert hatte. Die Lykanthropen besaßen damals bereits eine Kultur und Zivilisation, die ungefähr auf derselben Höhe stand wie die menschliche Zivilisation heute. Durch eine gigantische Atombombenexplosion versank der Kontinent im Meer. Einige der Lykanthropen retteten sich nach Europa, wo sie aber nicht mehr zu ihrer vergangenen Blüte zurückfinden konnten. Sie wurden vom Homo sapiens zu einem Schattendasein verurteilt. »Nach und nach müssen die Lykanthropen dann auf der Erde ausgestorben sein«, vermutete James Hubbard. »Sie lebten nur noch in der Mythologie der Menschen weiter. Aber es wäre falsch anzunehmen, daß die Art nicht überlebte. Halten wir uns vor Augen, daß die Lykanthropen eine hochentwickelte Technik besaßen. Wenn sie mit der Atombombe spielten, dann müssen sie auch die möglichen Folgen beachtet haben. Es liegt auf der Hand, daß sie Maßnahmen zur Erhaltung ihrer Art trafen. Aber wo sind sie hin, wenn es sie auf der Erde nicht mehr gibt? Wir haben einige Hinweise. Den wichtigsten hinterließen uns die Ägypter. Die Wissenschaftler haben sich schon immer den Kopf darüber zerbrochen, warum sich die alten Ägypter ausgerechnet für den Sirius interessierten. Sie stellten sogar einen genauen Kalender auf, der sich nach dem Siriusaufgang richtet – dieser Kalender gibt Jahreszyklen über 32 000 Jahre an! Jetzt haben wir die Antwort darauf, warum sich die Ägypter so sehr um den Sirius kümmerten …« Sergej erschauerte. Das also war die endgültige Antwort. 152
Jetzt waren ihm alle Zusammenhänge klar. Wie eine Erinnerung aus grauer Vorzeit tauchte das Bild vor seinem geistigen Auge auf, das sich ihnen bot, als sie auf dem zweiten Planeten des Sirius landeten. Es war eine grünende Welt, in ihrer Flora und Fauna der Erde ähnlich, und sie wurde von Menschen bewohnt … Die sieben sowjetischen Astronauten fanden bei den Menschen des Siriusplaneten freundliche Aufnahme. Eine unübersehbare Menschenmenge fand sich aus der nahen Stadt am Landeplatz des Raumschiffs ein. Die Bedenken des Kommandanten, die Sirianer könnten kriegerische Absichten haben, wurden bald zerstreut, nachdem er den Bericht der beiden Männer hörte, die er zur Erkundung der Situation ausgesandt hatte. »Es sind Menschen wie wir«, berichtete der eine der beiden Kundschafter; es war der Psychologe. »Sie sprechen eine unbekannte Sprache, tragen andere Kleider – und es wird sich noch herausstellen, daß ihre Gesellschaftsordnung der unseren recht fremd ist – , aber sie unterscheiden sich von uns nicht mehr, als sich die östlichen Völker der Erde von den westlichen unterscheiden.« Der Kommandant ließ zwei der Männer als Wachen im Schiff zurück und folgte mit den anderen einer Delegation von sechs Männern in die Stadt der Sirianer, die in einem malerischen Tal lag. Die Gebäude waren niedrig und aus einem hellen Kunststoff gefertigt, dazwischen schlängelten sich breite, gewundene Prachtstraßen in alle Richtungen; großzügige Grünflächen, Springbrunnen und Wasserläufe vervollständigten den Eindruck von einer riesengroßen Parkanlage, in der die Wohnanlagen geschickt verteilt waren. Anzeichen von Technik fanden die Menschen der Erde nirgends. Es schien keine Autos, keine Flugzeuge, kein Nachrichtenwesen und keine Energieversorgung zu geben – trotzdem wirkten die Sirianer fortschrittlich 153
und intelligent. Die Astronauten wurden zu dem größten Gebäude der Stadt gebracht, das sich als flacher Quader über den Gipfel des höchsten Hügels erstreckte. Dort wurden den Menschen luxuriöse Unterkunft zugewiesen. Der Kommandant argwöhnte, daß sie von den Sirianern als Gefangene betrachtet würden, aber als er nach zwei Tagen Aufenthalt seinen vermeintlichen Bewachern klarmachte, daß er ins Raumschiff zurückkehren wollte, hinderten sie ihn nicht daran. In den folgenden Tagen brachten die Menschen ihre sämtlichen wissenschaftlichen Ausrüstungsgegenstände zu dem Quaderkomplex auf dem Hügel, und die Sirianer waren ihnen dabei behilflich. Allerdings kamen die sowjetischen Astronauten in ihrer Forschungsarbeit nicht weiter. Die Sirianer waren zwar freundlich, aber aufgrund der Verständigungsschwierigkeiten schienen sie nicht recht zu wissen, was die Besucher aus dem Weltraum eigentlich wollten. Der Psychologe bemühte sich, die Sprache der Sirianer zu erlernen. In der Zwischenzeit sammelten die anderen die ersichtlichen Fakten und werteten sie aus. Vieles schien darauf hinzuweisen, daß die Flora und Fauna der Siriuswelt mit der der Erde verwandt war – ja, daß sie denselben Ursprung hatte … Zwei Monate später wurde diese Theorie vom Psychologen bestätigt. Er beherrschte inzwischen die Sprache der Sirianer leidlich und hatte herausgefunden, daß vor langer Zeit eine Verbindung zur Erde geherrscht haben mußte. Er glaubte sogar herausbekommen zu haben, daß sie es hier mit einem frühen Volk der Erde zu tun hatten, das zum Sirius emigrierte. Außerdem war er überzeugt, daß die Sirianer planten, der Erde einen Gegenbesuch abzustatten. »Aber wie«, erkundigte sich der Kommandant skeptisch, »wollen sie die achteinhalb Lichtjahre überbrücken. Haben Sie irgendwo Anzeichen gesehen, die auf eine Raumfahrt hinweisen?« 154
Nachdem der Psychologe gegangen war, widmete sich der Kommandant wieder seinem sirianischen Mädchen. Während der Stunden, in denen er mit ihr zusammen war, vergaß er alle seine Aufgaben und Pflichten als Vertreter einer irdischen Großmacht. Er wurde in ihrer Gegenwart zu einem ganz anderen Menschen – und plötzlich erkannte er, daß er kein Mensch mehr war. Er empfand keinen Schock über seine Verwandlung, und er war nicht wütend auf das Mädchen, als er erkannte, daß es der Preis war, den er für ihre Liebe hatte zahlen müssen. Jetzt, als Wolf, fühlte er sich nur noch mehr zu ihr hingezogen, es gab keine Sprachschwierigkeiten mehr, keine seelischen Schranken. Ihre gemeinsame Sprache war die Sprache der Wölfe. »Was ist mit meinen Kameraden?« »Jedem ist ein Mädchen zugeteilt worden. Es wird nicht mehr lange dauern, bis auch sie zu uns gehören – bis sie Lykanthropen sind.« Am nächsten Tag startete das sowjetische Sternenschiff. Bevor es in den unendlichen Raum hinausflog, umkreiste es den Planeten noch einmal in geringer Höhe – und es flog auch über den Wald von Raumschiffen hinweg, die für den Tag X bereitstanden. »Wir sind nur die Vorhut«, sagte der Kommandant zu seinen Männern, als sie in das heimatliche Sonnensystem einflogen. »Eine Gruppe von vielen, die die Invasion vorbereiten. An uns liegt es, ob die Lykanthropen die Erde zurückerobern werden …« Sergej schreckte aus dem Sessel hoch, in dem er eingeschlafen war. Ein Geräusch hatte ihn geweckt. Noch schlaftrunken starrte er auf die sich langsam öffnende Tür – plötzlich wurde sie ganz aufgestoßen. Ein Mann in einem eleganten schwarzen Mantel stand darin. Er schien irritiert, 155
faßte sich aber rasch. Er lächelte und sagte: »Meine Sprechstundenhilfe hat mir versichert, daß Sie schlafen.« Sergej fuhr sich durch das Haar. »Ich habe auch geschlafen – ein Geräusch weckte mich. Sind Sie Professor Guillard?« Ein gutmütiges Lächeln. »Ja, der bin ich.« Ich kann nicht mehr zurück, dachte Sergej. Auch wenn er der Lykanthropologie noch so ablehnend gegenübersteht, muß ich versuchen, ihn von der Wahrheit zu überzeugen. Es ist noch nicht zu spät, die Invasion der Werwölfe zu verhindern. Sergej begann: »Ich muß unbedingt mit Ihnen sprechen, Herr Professor …« »Ich weiß«, wurde er unterbrochen, »ich habe Ihren Besuch schon lange erwartet.« »Sie haben mich erwartet? Dann wissen Sie auch, wer ich bin?« »Ja – das heißt, ich weiß nur, daß Sie einer der sowjetischen Astronauten sind. Ihren Namen kenne ich nicht. Aber er ist jetzt nicht mehr maßgebend. Hauptsache ist, Sie sind hier.« Sergej fand, daß irgend etwas am Verhalten des Professors nicht stimmte. Er benetzte sich die Lippen und sagte: »Ich komme zu Ihnen, weil …« Wieder wurde er unterbrochen. »Sie dachten, ich würde Sie anhören? Sie waren der Meinung, ich wäre so töricht, mich überrumpeln zu lassen?« »Aber …« »Sagen Sie nichts mehr!« Professor Guillard sprang zur Seite. Zwei Männer mit vorgestreckten Pistolen erschienen in der Tür. Sie schossen augenblicklich. Sergej sah die Mündungsfeuer aufblitzen und spürte fast gleichzeitig, wie die Kugeln in seinen Körper einschlugen. Die Wucht der Geschosse schleuderte ihn zurück gegen den Sessel. Dann herrschte plötzlich tödliches Schweigen. 156
Sergej lebte noch, aber er nahm die Geschehnisse um sich nur wie im Traum wahr. Er hörte Stimmen, aber er verstand nicht alles, was sie sagten. Die Bibliothek füllte sich mit Menschen, es wurden immer mehr, und alle sprachen sie fast gleichzeitig. »Sie hätten ihn aussprechen lassen sollen, Genosse Professor.« »Dann hätte er sich womöglich in einen Wolf verwandelt und wäre über uns hergefallen.« »Jetzt haben wir alle sieben.« »Es gibt also doch Werwölfe …« »Ja, aber nicht mehr auf der Erde. Sie sind Lichtjahre von uns entfernt, und bevor sie uns wieder gefährlich werden können, holen wir zum Vernichtungsschlag gegen sie aus.« Sergej bäumte sich auf, aber er hatte nicht mehr die Kraft, seine Warnung auszusprechen. Warum nur hatten sie ihn nicht angehört! Er war der einzige, so glaubte er, der von der bevorstehenden Invasion der Lykanthropen wußte. Warum nur hatte ihn Professor Guillard sofort erschießen lassen? Ein verwaschener heller Fleck erschien vor ihm. »Können Sie mich hören?« fragte Professor Guillard mit leiser, beschwörender Stimme. »Wenn Sie mich hören können, dann nicken Sie … Es tut mir leid, daß ich Sie erschießen lassen mußte, aber es ging nicht anders. Sie hätten sonst unsere ganze Aktion gefährdet. Beantworten Sie mir eine Frage: Haben Sie viele Menschen gebissen? Wenn ja, dann nicken Sie.« Sergej nickte. »Das ist gut«, hörte er wieder Professor Guillards Stimme. »Sie werden alle zu Lykanthropen! « Sergej verstand überhaupt nichts mehr. Er spürte, daß der Tod ihn gleich ins Jenseits hinüberziehen würde. Hörte er deshalb so wirres Zeug aus dem Mund eines Menschen? Handelte es sich nur um einen letzten Alptraum, bevor der Lebensfunke vollkommen erlosch? 157
Professor Guillard beugte sich ganze nahe zum Ohr des Sterbenden und flüsterte: »Wenn Sie jetzt sterben, dann können Sie es in der Gewißheit tun, unserem gemeinsamen Volk damit einen Dienst erwiesen zu haben. Wir Lykanthropen werden die Erde zurückerobern.« Guillards Worte bewahrheiteten sich ein Jahr später.
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Der geduldige Buchhalter Laß sie nur lachen, es amüsiert dich. Ja, es gab eine Zeit, da hat dich das versteckte Schmunzeln des Laufburschen im Büro verbittert. Es hat dich innerlich verzehrt, wenn die jungen Mädchen an den Schreibmaschinen hinter vorgehaltenen Händen über dich gekichert haben. Es hat dich mitten ins Herz getroffen, wenn du in den Korridoren der Firma Gruppen begegnet bist, die bei deinem Anblick verstummten, um sich dann hinter deinem Rücken über dich lustig zu machen. »Guten Tag, Herr Prokurist«, haben sie höflich gegrüßt und, wenn du an ihnen vorbei warst, getuschelt: »Es ist phänomenal, daß ein so schmächtiger Mann so eine Menge von Hörnern überhaupt mit sich herumtragen kann.« Aber du hast nicht nur die Hörner tapfer getragen, sondern auch den Spott. Du hast brav und geduldig deine Arbeit verrichtet, hast dir nie etwas anmerken lassen. Freilich, manchmal hat deine Hand gezittert, wenn du Buchungen vorgenommen oder saldiert hast. Dann war deine Schrift nicht so gestochen scharf wie sonst. Doch das merkte außer dir niemand. Wenn einmal eine verstohlene Träne auf das Papier fiel, dann ist sie rasch getrocknet. Nur in deinem Innern krampfte sich jedesmal etwas zusammen, wenn du das Konto zur Hand nahmst. Es war gut, daß du dir nichts anmerken ließest. Du hast dein Los tapfer getragen. Du hast es auch hingenommen, wenn du am Morgen aus dem Haus gingst und der Hausmeister statt eines Morgengrußes heuchlerisch fragte: »Wie geht es Ihrer Frau?« Du hast ihn nicht merken lassen, daß du Bescheid wußtest. Du hast auch nicht einmal mit der Wimper gezuckt, wenn du am Schwarzen Brett vorbeigekommen bist und die Notiz gesehen hast, die besagte, daß heute der Stromableser ins Haus 159
kommen sollte. Was war denn auch schon Besonderes dran? Der Postbote kam schließlich jeden Tag. Sollte er nur kommen, du konntest das so leicht oder schwer ertragen wie alles andere. So betrachtet, bist du sogar ein Held. Keiner wird dich natürlich wegen dieser Heldentat rühmen. Niemand wird dir anerkennend auf die Schulter klopfen und dir sagen, wie ihm deine Haltung imponiere. Und doch, einmal hat dir jemand wegen deiner Haltung auf die Schulter geklopft. Sein Motiv blieb allerdings bis heute unklar. Denn er hat es getan, als du einmal überraschend nach Hause kamst und ihn mit deiner Frau erwischt hast. Die Situation war eindeutig gewesen, und du wärst am liebsten vor Scham im Boden versunken. Aber du hast nur bewegungsunfähig an der Tür gelehnt und krampfhaft die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken versucht. Es war eine zusätzliche Demütigung gewesen, daß deine Frau, nachdem sie die erste Überraschung überwunden hatte, dir zurief: »Na, Schatz, noch eine Vorstellung gefällig?« Dann war sie in ein schrilles Lachen verfallen. Du hast nur dagelehnt und gegen Übelkeit und Tränen angekämpft. Du erinnerst dich noch genau daran, wie ihr Lachen plötzlich in ein entsetztes Schreien überging, wie sich ihr Mund rot färbte und wie der Arm des Mannes auf und nieder ging. Da erst war Leben in dich gekommen, du hast den Mann weggezerrt, und er hat gesagt: »Schon gut, schon gut.« Dann hat er dir auf die Schulter geklopft. Nackt wie er war. Du siehst ihn noch heute vor dir, seinen Körper, der keineswegs reizvoller oder ansehnlicher als deiner war. Und du hast dich gefragt: Warum betrügt sie dich mit ihm? Du hast die Antwort darauf nicht gefunden. Deine Frau nahm jeden, sie war nicht wählerisch und schien keinen Stolz zu besitzen. Doch letzteres konnte nicht zutreffen, denn sie besaß Stolz. Sie war auf ihre eigene eigentümliche Art und Weise 160
stolz. Das bewies sie einmal, als sie von dem Besitzer der Bar an der Ecke auf die Straße gesetzt worden war. Sie hatte ihm diese Blamage nie vergessen. Und als sie dann einmal erfuhr, daß er sich mit einem jungen Mädchen traf, hatte sie seiner eifersüchtigen Frau einen Wink gegeben. Ja, so grausam konnte sie sich rächen. Sie war überhaupt sehr rachsüchtig, sie vergaß nichts und verzieh nichts. Es war möglich, daß sie auch dir nie verziehen hatte. Aber was weißt du schon darüber, du kanntest sie kaum. Du hattest nie Gelegenheit, sie kennenzulernen. Denn ihr wart kaum verheiratet, da lebtet ihr euch schon wieder auseinander. Schon in der Hochzeitsnacht begannen die Zwistigkeiten und rissen dann nicht mehr ab. Es ging damals um den Atombunker. Ihr strittet später noch oft deswegen, aber es begann in eurer ersten gemeinsamen Nacht. Dabei hatte alles ganz wunderbar begonnen. Du warst glücklich, und sie schien es auch zu sein. Ihr habt keine Probleme gewälzt, sondern harmlos und verliebt geturtelt, wie es Frischvermählte eben tun. Dann kam sie auf deine Ersparnisse zu sprechen, die sie für den Bau eines Häuschens verwenden wollte. Du warst verlegen, denn du hattest mit dem Geld ganz andere Pläne. Du fandest es zu unsicher in diesen unsicheren Zeiten, sein Geld solcherart anzulegen. Du warst über alles informiert, was in der Welt geschah. Du hattest viele Artikel über die Möglichkeiten eines dritten Weltkriegs gelesen und warst überzeugt, daß es früher oder später dazu kommen mußte. Das hieß für dich, daß Atombomben fallen würden. Du hattest viele Bilder von Hiroshima und den Strahlungsgeschädigten gesehen. Du wolltest eines solchen Todes nicht sterben. Du wolltest Vorsorgen. Und deshalb wolltest du von deinen Ersparnissen einen Atombunker bauen. Du hattest schon alles geplant, hattest deine Arche Noah für den 161
Atomkrieg schon in allen Details ausgearbeitet und hattest auch schon ein kleines Grundstück im Gebirge gekauft. Als du deiner frisch getrauten Frau von deinen Plänen erzähltest und ihr klarlegtest, daß du sie unter allen Umständen verwirklichen wolltest, fiel sie aus den rosaroten Wolken, in denen sie offenbar geschwebt hatte. Sie sagte dir sehr grobe Dinge, sie schimpfte, sie verfluchte dich, und sie schrie dir ins Gesicht, daß sie dich nur wegen des Geldes geheiratet hatte. Dann lief sie davon und ließ lange Zeit nichts von sich hören. Du begannst damit, den Atombunker zu bauen. Deswegen beneideten, bestaunten oder belächelten dich die Leute. Du ließest die Neider neidisch sein und die Dummen dich belächeln. Du wartetest, daß deine Frau zurückkam. Und sie kam eines Tages tatsächlich zurück. Aber nicht die Reue hatte sie zurückgebracht, sondern ihre Rachsucht und ihr ungestillter Haß gegen dich. Sie machte dir das Leben zur Hölle, indem sie es mit allen Männern trieb, die ihr über den Weg liefen, und in deiner Firma gab es nur wenige, die nicht intim mit ihr gewesen waren. Du glaubtest damals fest, daß sie nicht absichtlich so grausam zu dir war, du nahmst jede neuerliche Demütigung geduldig auf dich und ließest dir deinen Schmerz nicht anmerken. Du trugst dein Los tapfer. Ein wahrer Held, den alle verkannten. Dann war der Atombunker endlich fertig. Selbst deine Frau war daraufhin versöhnlicher und schien deine Freude zu teilen. Wie glücklich warst du, als sie dir vorschlug, jemanden von einer großen Tageszeitung zur Einweihung des Bunkers einzuladen. Sie sagte, sie kenne ihn »von früher« her, und sie sei überzeugt, daß er dich ganz groß herausbringen würde. Sie schaffte es tatsächlich, den Reporter in die verlassene Gebirgsgegend zu bringen. Er war ein netter junger Mann, und ihr hattet einen riesigen Spaß, als ihr den Bunker mit Sekt und Kaviar einweihtet. Du dachtest: Vielleicht hat sie zu mir zu162
rückgefunden? Du warst seit langem einmal wieder richtig glücklich. Wahrscheinlich hattest du deshalb etwas zuviel getrunken und schliefst ein und merktest nicht, daß sie dich in deinem Bunker mit dem Reporter betrog. Du hättest es nie erfahren, wenn sie es dir nicht gesagt hätte. Aber sie erzählte es dir, wie sie dir alle ihre amourösen Abenteuer erzählte, um dir Schmerz zuzufügen. Du hattest dir auch damals nichts anmerken lassen. Das hat sie wütend gemacht, und sie schrie: »Was muß ich denn noch alles tun, um dich aus der Ruhe zu bringen!« Wie verblendet du warst. Du glaubtest immer noch nicht, daß sie in böser Absicht handelte. Es bedurfte erst einer neuerlichen Schmach, um dir endlich die Augen zu öffnen. Als du eines Abends heimkamst, war sie aufgeräumter als sonst, ja, sie gab sich sogar richtig zärtlich. Sie öffnete dir die Tür, küßte dich zur Begrüßung, nahm dir Hut und Mantel ab und führte dich an der Hand ins Wohnzimmer. Sie drückte dich in den Sessel, setzte sich dir gegenüber und überreichte dir wortlos die Zeitung. Dabei lächelte sie. Du wußtest natürlich sofort, was das zu bedeuten hatte. Der Artikel über deinen Atombunker. Du brachtest vor Rührung kein Wort über die Lippen. Sie lächelte und beobachtete dich gespannt. Du schlugst die Zeitung mit zitternden Fingern auf – und da war der Artikel. Du hast ihn gelesen und sofort wieder vergessen. Du hast ihn zweimal, dreimal gelesen, aber die Buchstaben verschwammen vor deinen Augen. Du erinnerst dich heute nur noch, daß der Artikel vor Hohn troff, daß er dein Lebenswerk verhöhnte und dich persönlich der Lächerlichkeit preisgab. Und während du noch den Text zu verdauen suchtest, stichelte deine Frau. Sie machte keinen Hehl daraus, daß sie den Reporter dahingehend beeinflußte, einen Artikel zu schreiben, der dich und dein Lebenswerk ins Lächerliche zog. Damals hast du dich zum ersten- und letztenmal in deinem 163
Leben gehenlassen. Du schlugst sie, du warst rasend vor Wut und hättest sie wahrscheinlich getötet, wenn deine Vernunft nicht die Oberhand behalten hätte. Du hast dich bei ihr entschuldigt, ihre Verletzungen gepflegt. Sie hat es dir mit Spott gedankt. Sie sagte dir, wie befriedigt sie sei, endlich eine wunde Stelle an dir gefunden zu haben. Wunde Stelle. Welcher Hohn. Sie hatte dich mit jedem Pfeil, den sie gegen dich abschoß, mitten ins Herz getroffen. Diesmal war es nicht schlimmer als die anderen Male gewesen. Und warum hast du gerade diesmal den Kopf verloren? Etwas war in dir gestorben, das war klar. Aber nur wegen des läppischen Spottartikels? Nein, bestimmt nicht. Vielmehr mußte es so gewesen sein, daß mit jeder Grausamkeit von ihr ein Tropfen in ein Gefäß fiel. Der letzte Tropfen hatte das Gefäß dann zum Überfließen gebracht. Nun warst du innerlich tot. Das Leben bedeutete nichts mehr für dich. Was hattest du noch zu verlieren? Nichts. Warum solltest du dann deiner Frau und ihrem Reporter nicht beweisen, daß dein Atombunker absolut sicher war, daß man in ihm mühelos überleben konnte. Du hast ihnen deinen Plan unterbreitet. Der Reporter war skeptisch, aber deine Frau sagte: »Ich traue es ihm zu. Ja, er ist verrückt genug, sich in dem Bunker auf Lebzeiten einzuschließen.« Der Reporter gab sich damit nicht zufrieden. Er wollte alles genau wissen. Seine Fragen waren gar nicht dumm. Er war ein heller Kopf, schade, daß er ausgerechnet ihr in die Arme gelaufen war. Diese Frau brachte über jeden Unglück. Auch er würde mit ihr nicht glücklich werden, das wußtest du. Du sagtest schon, daß er nicht dumm war. Er wollte wissen, wie du dich denn für längere Zeit einschließen wolltest, ohne der Versuchung zu unterliegen, dein Gefängnis bei nächster Gelegenheit zu verlassen. 164
Diese Bedenken waren leicht zu zerstreuen. Schließlich hattest du ein raffiniertes Sicherheitsschloß eingebaut. Wenn es einmal eingeschaltet war, ließ es sich nicht mehr durch Handbedienung öffnen. Da es für den Fall eines Atomkriegs gebaut war, würde es sich erst öffnen, wenn die Atmosphäre nicht mehr strahlenverseucht war. Aber es ließ sich auch umpolen. Das heißt, es würde sich demnach erst dann öffnen, wenn die Luft strahlenverseucht war. »Dann ist nur noch absolute Geheimhaltung nötig, damit Sie nicht durch die Hilfe Außenstehender befreit werden können«, meinte der Reporter. Er dachte an alles. Er war eben ein kluger Kopf. Du hattest nichts gegen absolute Geheimhaltung. Warum auch? Du wolltest jetzt nicht mehr deinen Entschluß zurückziehen. So wurde alles arrangiert. Schon vierzehn Tage nach dieser Besprechung fuhrt ihr mit einem Kleinbus ins Gebirge, der vollbeladen mit Konserven und haltbaren Lebensmitteln war. Dieser Vorrat mußte für fünfzehn Jahre reichen. Es war nicht ganz einfach, all die Säcke zum Bunker zu bringen, denn die Straße endete zwei Kilometer davor. Aber da dir deine Frau und ihr Freund beim Tragen behilflich waren, hattet ihr bis zum Abend alle Säcke im Bunker untergebracht. Das heißt, alle bis auf einen. Der Reporter bot sich an, ihn zu holen, aber deine Frau verbot es ihm mit lüsternem Blick. Du wußtest, was sie vorhatte, doch machte es dir nichts aus. Im Gegenteil, es war dir ausgesprochen angenehm. Nein, du bist nicht pervers. Aber es paßte alles in deine Pläne. Du hättest sonst ohnehin nicht gewußt, wie du sie in den Bunker locken solltest. Aber gib es zu, du hast mit der Haltlosigkeit deiner Frau gerechnet. Es ging alles nach Plan. Du tatest, als gingst du zu dem gemieteten Kleinbus, doch kaum außer Reichweite, schlugst du einen Haken und kehrtest 165
von der anderen Seite zum Bunker zurück. Du hast gerade noch sehen können, wie sie beide Hand in Hand im Bunker verschwanden. Hast du gelächelt? Du hast nicht. Und was du dann getan hast, gab dir auch kein Triumphgefühl. Du hast es nicht aus Rache getan, sondern weil du wußtest, daß es für dich keine andere Möglichkeit zum Überleben gab. Solange sie in deinem Leben stand, standest du am Rand des Untergangs. Du mußtest es tun, wirklich, dir blieb keine andere Wahl. Aber natürlich, du hast keine Gewissensbisse. Du hast eingesehen, daß du nur dann eine minimale Überlebenschance hast, wenn deine Frau isoliert wird. Du hast dich zum Bunker geschlichen, das umgepolte Sicherheitsschloß eingeschaltet und bist durch die zugleitende Stahlbetonwand ins Freie gesprungen. In die Freiheit. Jetzt bist du ein anderer Mensch. Wenn du über deine Konten gebeugt bist, dann lebst du. Deine Schrift ist gestochen scharf. Die mitleidigen Blicke deiner Kollegen stören dich nicht. Das Kichern der dummen Gören verbittert dich nicht. Du lebst. Die Frage: »Ist Ihre Frau immer noch verreist?« amüsiert dich. Auch das Tuscheln belächelst du. Alle Welt weiß, daß deine Frau mit einem jungen Reporter durchgegangen ist. Aber du weißt es besser.
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Jagd der Amazonen Vor deinem Fenster steht ein Baum, Sooni. Du weißt nicht, ob es eine Tanne oder eine Fichte ist oder welcher Gattung von Nadelbäumen er angehört. Das hat dich auch nicht zu interessieren, denn er ist ein Stück Natur. Nur kennst du den Baum schon, seit er noch winzig klein war und von den Büschen überragt wurde. Jetzt ist er größer als der höchste Turm deiner Burg. Du darfst dich nicht soviel mit diesem Baum beschäftigen. Er ist tabu – ein Teil der verbotenen Welt. Du gehst zurück zum Frisiertischchen und beendest die morgendliche Toilette. Es dauert nicht lange, und du bist fertig, hast die Keuschheitsrüstung angelegt. Sitzen die Verschlüsse auch? Ist der Gifttrank gefüllt? Sind die beiden Brustgeschütze geladen? Ja. Es zieht dich wieder zum Fenster hin. Du betrachtest den Baum, läßt deinen Blick an seinem Stamm hinunterwandern bis zu den Wurzeln. Du bekommst sie nicht zu sehen, weil Heckenrosen und Brombeersträucher davor sind. Aber zwischen den Blüten und Blättern sind Lücken, und du kannst es rötlich hindurchschimmern sehen. Das Rostrot stammt vom Fell eines Fuchses. Es sind zwei Füchse – und du ahnst, daß es sich um Männchen und Weibchen handelt, die ihren Trieben ungehemmt nachgeben … »Wie widerlich!« sagst du und wendest dich ab. Doch warum läßt du es überhaupt zu, daß dir Tiere Abscheu und Übelkeit verursachen, anstatt dieses grausige Schauspiel ganz einfach mit einem Schuß zu beenden? Warum tust du es nicht, Sooni? Du weißt es nicht. »Kann ich dir helfen, Sooni?« erkundigt sich der Arzt mit geschlechtsloser Stimme. Die Zofe schaltet sich ein. 167
»Merkst du nicht, daß Sooni keinen Quacksalber nötig hat, Doc! Was sie bedrückt, betrifft ihre Seele, und dafür bin ich zuständig.« Die beiden streiten noch eine Weile miteinander. Du läßt es geschehen, weil du glaubst, schon lange apathisch zu sein. Dabei zerren die dauernden sinnlosen Reibereien schwer an deinen Nerven. Überhaupt stört dich so vieles – doch du tust nichts dagegen. Du befindest dich in einem furchtbaren Dilemma. Vielleicht verschafft dir Musik etwas Ablenkung. Du befiehlst also dem Musikus, deine Lieblingsmelodie zu spielen, die »Estampie«, und zwar in übermäßiger Lautstärke, um das Quängeln von Doc und Zofe zu übertönen. Der Musikus spielt auf. Bald merkst du aber, daß dir auch diese sonst beruhigende Melodie heute auf die Nerven geht. Die »Estampie« ist heute aufwühlend, und da du aufgewühlt genug bist, stellst du sie sofort wieder ab. Die Zofe unterbricht den Streit mit Doc: »Es ist Zeit für die Morgennachrichten!« Du nimmst also in deinem Thron Platz und schaltest das TVGerät ein. Schwester Ria spricht gerade über Freizeitgestaltung. Sie hat einen Gast zu sich ins Studio geladen. Eine stämmige Frau, die nach der Art der Südländerinnen tätowiert ist. Ihr Hobby ist es, typisch männliche Gebrauchsgegenstände zu sammeln. Einige besonders wertvolle Stücke ihrer Sammlung hat sie mitgebracht und legt sie vor: ein Paar Hosenträger aus Gummi, die angeblich über sechstausend Jahre alt sind; eine rostfreie Rasierklinge, achttausend Jahre alt, von der sie behauptet, sie könnte noch heute ihren Zweck erfüllen; eine Pfeife … Zum Abschluß der Sendung fragte Schwester Ria die Zuschauer: »Wäre das nicht auch ein Hobby für dich?« Dann kommen die Nachrichten. Du hörst nur mit halbem Ohr zu, Sooni, und bekommst nur verschwommene Eindrücke von den Filmberichten. Irgendwo im hohen Norden hat ein Män168
nerrudel eine Burg überfallen, die Insassin vergewaltigt und dann in Stücke gerissen. Du schließt die Augen, als die verstümmelte Frauenleiche gezeigt wird. Und du stellst dir die Frage, warum die Welt so schrecklich ist. Woran liegt es? Natürlich an den Männern. Aber mit deiner Frage meinst du etwas anderes. Warum hat der Herr die Männer geschickt? Wie herrlich muß das Leben gewesen sein, als die Erde noch ein Frauenparadies war. Aber dann sündigten Eva und Ida, und über die Liebe von Frau zu Frau war der Herr so erbost, daß er eine Plage über die Frauen schickte: Er formte aus sich zwei Dutzend Wesen seines eigenen Geschlechts und brachte ein Dutzend zu Eva und ein Dutzend zu Ida, auf daß die beiden Weiber sähen, wohin die Wollust führt. Und die Männer nahmen Eva und Ida und befruchteten sie. Und war ein Kind geboren, befruchteten sie die beiden Weiber aufs neue – immerzu, bis die Welt von Männern überschwemmt war … Du schauderst, Sooni. Komm in die Wirklichkeit zurück und sieh, daß die Sünden der beiden Urmütter noch nicht verziehen sind. Noch immer ist die Welt voller bestialischer, lüsterner Männer. Nur wenn die Frauen stark und gläubig sind, können sie siegen und wieder ins Paradies einziehen. Männer sind Tiere, das halte dir vor Augen, aber vergiß dabei nicht, daß es verteufelt intelligente Kreaturen sind, denen die unstillbare Triebhaftigkeit unglaubliche Fähigkeiten verleiht. Du lauschst der Nachrichtensprecherin: Zwei besonders kräftige und intelligente Exemplare sind aus dem Zoo ausgebrochen. Warum springst du auf, Sooni? Warum schaltest du das TVGerät aus und gehst zum Fenster? Was wollen deine suchenden Augen erspähen? Die sich paarenden Füchse? Die sind schon fort. Darüber bist du froh, du atmest auf. Und doch, deine Augen suchen noch immer, während du den Blick über den endlosen grünen Teppich der Natur wandern läßt, zum Horizont hin, wo sich die aufgehende Sonne über den Rand schiebt. Und dann wieder zurück zum Fuß des mächtigen Nadelbaumes. 169
Suchst du etwas Bestimmtes? Jemanden Bestimmten? »Ich weiß nicht, was ich will«, flüsterst du. Deine Stimme zittert. Hast du Angst, Sooni? Es liegt kein Grund dafür vor. Du bist zweitausend Jahre alt, und deine Erinnerung reicht zweihundert Jahre zurück. Das sind zehn Prozent, ein guter Durchschnitt. Zweitausend Jahre sind kein Alter, aber doch eine lange Zeit, in der irgendwann einmal eine Krise kommen muß. Jetzt ist die Krise da. »Beruhigungsspritze?« fragt Doc besorgt. »Amouröse Geschichten?« bietet die Zofe an. »Amouröse Geschichten!« Du lachst gekünstelt. »Mein Innenleben ist mir Horror genug.« So ist es recht. Schalte Doc und Zofe aus. Und auch die anderen aufdringlichen Helfer. Nur die Warn- und Verteidigungsanlage laß eingeschaltet. Man kann nie wissen! Und da steht er. Ein Mann. Nein, Sooni, blick weg, wende dich ab. Du weißt, daß der Anblick deine Phantasie beflügelt und dich zur Hysterie bringt. Du hast schon einmal erlebt, wie solch ein Tier dort unten neben der Tanne stand und mit leuchtenden, gierigen Augen zu deinem Fenster hinaufstarrte. Du warst danach einem Zusammenbruch nahe. Und so wird es auch diesmal sein. Frag dich nicht, ob es derselbe Mann wie damals ist. Er ist ein Untier – auf jeden Fall. Siehst du, wie es dich gepackt hat! Du zitterst am ganzen Leib. Es nützt dir nichts mehr, daß du dich vom Fenster abwendest. Die Individualempfänger haben deine Erregung registriert und geschaltet. Doc und Zofe werden dir wieder in den Ohren liegen. »Beruhigungsspritze?« »Märchen?« Du mußt dich irgendwie beschäftigen, damit du diesen beiden Quälgeistern entrinnst. Also rufst du Hila an. Deine beste 170
und einzige Freundin ist sofort am Apparat. »Ach, Sooni, Liebes, wie gut, daß du dich meldest. Ich wollte ohnehin schon lange mit dir sprechen. Aber sooft ich auch anrief, immer war dein Arzt in der Leitung und wimmelte mich ab. Dir fehlt doch nichts? Ich komme auf einen Sprung vorbei. Einverstanden?« Sooni ist ganz aufgeregt, ihre Wangen haben Farbe bekommen, sie glühen. Sooni setzt ihren dienstbaren Geistern zu, damit sie die Kemenate auf Hochglanz bringen. Sooni läßt sich vom Schminker ein phantasievolles Illumake auftragen. Sie läßt es auftragen und abwischen und auftragen und … Da ertönt die Fanfare von Hilas Kutsche vor dem Burgtor. Eine prächtige Kutsche! Sie strotzt nur so von Waffen und ist dabei noch von den Raupenketten bis zum Dach geschmackvoll und luxuriös. Nicht neidisch sein, Sooni, du könntest eine ebenso schicke Kutsche besitzen, wenn du nicht so zurückgezogen und isoliert lebtest. Reiß dich zusammen, Sooni, und gib der Verteidigungsanlage den Befehl, die Kutsche einzulassen. Dann übernimm eigenhändig das Öffnen der Sperren, die Hila auf dem Weg herauf passieren muß. Vergiß aber nicht, sie wieder hinter ihr zu schließen! Hila ist da. Sie stößt die Tür zur Kemenate auf und tritt ein: überschäumend, fröhlich und schick wie immer. Man sieht ihr nicht an, daß sie fünftausend ist. Sicher hat sie auch reichlich Illumake aufgetragen, denn Unsterblichkeit garantiert wohl ewiges Leben, aber nicht ewige Schönheit. Doch Illumake hin, Illumake her, der äußere Eindruck entscheidet. Sie trägt eine Rüstung, die einfach phantastisch ist, und ihre Fröhlichkeit ist ansteckend. »Du siehst wundervoll aus, Hila. Und wie ich dich um deine neue Kutsche beneide! Nimm doch Platz. Möchtest du Tee? Aber nein. Ich weiß, daß du nur Schärferes trinkst. Einen Moment, ich laß die Bar kommen …« Es irritiert dich, daß Hila nur dasitzt und dich reden läßt; ihre 171
prüfenden Blicke bringen dich aus dem Konzept. Schließlich bringt sie dich mit einer anmutigen Geste zum Schweigen. »Du brauchst mir nichts vorzumachen, Sooni. Man wird nicht über Nacht von einem Mauerblümchen zu einem Vamp. Vor allem nicht dann, wenn man sich wie eine Eremitin in seinen vier Wänden einschließt. Aber ich würde mich nicht deine Freundin nennen, wenn ich nicht nach einem Ausweg aus deinem Dilemma gesucht hätte. Ich habe mir einiges einfallen lassen, um dich aus deinem Schattendasein zu entführen. Aber es wird das letztemal sein, daß ich mich um dich bemühe. Wenn du mich wieder enttäuschst, dann ist es aus, Sooni.« »Hila, ich werde alles tun …« »Sei nicht so voreilig mit deinen Versprechungen. Hör zuerst mal, was ich mit dir vorhabe. Zuerst einmal ist es nötig, diese Gespensterburg in eine Laube zu verwandeln. Es gruselt einen direkt, wenn man von außen das von mutiertem Efeu umrankte Gemäuer sieht. Du kannst Einladungen verschicken, soviel du willst, spätestens beim Betreten dieses Gruselkabinetts wird jede normale Dame in Ohnmacht fallen. Es ist fast obszön, in welches geistige Verhältnis du dich mit den Automaten eingelassen hast. Gut, jeder hat einen Arzt und andere dienstbare Geister, und daß diese Roboter vorhanden sein müssen, ist klar. Aber ich kenne niemanden, der von ihnen so abhängig ist wie du. Ich habe da auf meiner letzten Reise einige superbe Ideen gesammelt, wie man deine jämmerliche Kemenate in einen hochmodernen Partyraum verwandeln könnte. Hast du heute morgen Rias Sendung über Freizeitgestaltung gehört? Dann hast du auch die Kannibalin gesehen, die sie zu sich ins Studio geholt hat.« »Kannibalin?« »Klar. Ich bin auf meiner Tour auch durch die Südländer gekommen. Dabei habe ich mit eigenen Augen gesehen, daß die Jägerinnen die erlegten Männer nicht nur skalpierten, sondern auch brieten …« 172
»Hila!« »Schon gut. Ich sage kein Wort mehr darüber. Worauf ich hinauswill ist, daß es nicht schlecht wäre, wenn du deine Wände mit Gebrauchsgegenständen von Männern schmücken würdest. Es müssen keine wertvollen Stücke sein, außerdem sollten sie auch größer sein, als die von Ria gezeigten Preziosen. Ich kenne eine Alte, deren Bau kaum hundert Kilometer von deiner Burg entfernt liegt. Sie ist sicherlich bereit, dir einiges von ihrer Männersammlung abzugeben. Wenn du willst, können wir gleich hinfahren.« Du bist für Hilas Idee Feuer und Flamme. Ein wenig zitterst du zwar schon bei dem Gedanken, dich mit Männersachen zu umgeben, aber du bist doch bereit, den Schritt zurück in die Gesellschaft zu wagen. Du hast die Einsamkeit satt und bist bereit, dein Leben ganz neu zu gestalten. Du hast Mut, Sooni, und er wird dir helfen, dich selbst zu überwinden. Dennoch mußt du Hilas Vorschlag ablehnen, wenigstens für den Augenblick. »Es tut mir leid, Hila«, sagst du mit echtem Bedauern, bist aber gleichzeitig erleichtert, den Beginn deines neuen Lebens hinausschieben zu können. »Ich erwarte Schwester Irn zu Besuch. Sie muß jeden Augenblick eintreffen.« Warum blitzen Hilas Augen belustigt auf, als sie scheinbar verständnisvoll nickt? Vielleicht glaubt sie dir nicht, Sooni, und meint, du gebrauchst nur eine Ausrede. Aber wenn es so ist, dann verschweigt sie es. Ihre Stimme klingt nur ein wenig ironisch, wenn sie Schwester Irns Namen erwähnt. Sie gibt offen zu, daß sie nichts davon hält, neurotische Frauen mit psychologischen Mitteln heilen zu wollen. »Die direkte Methode ist die beste«, sagte sie. »Wenn du mitten hinein ins Leben springst, dann bist du bald von allen Depressionen befreit. Aber ich will dich nicht drängen. Es schadet nichts, wenn du dich von Schwester Irn ein wenig beschwatzen läßt. Ich komme morgen wieder vorbei. Übrigens, ich habe dir 173
ein Geschenk mitgebracht. Ich habe ihn bei der letzten Jagd erwischt. Ein Prachtexemplar. Wenn du erst eine Nacht mit ihm verbracht hast, dann hast du deine ärgsten Hemmungen beseitigt.« Du ahnst, was dir Hila schenken möchte, aber du willst es ganz einfach nicht glauben. Erst als Hilas Zofe die große Kiste hereinbringt, weißt du, daß sich deine schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet haben. Die Zofe hebt den Deckel – und ein Schrei löst sich aus deiner Kehle. »Du brauchst keine Angst vor ihm zu haben, Sooni. Er ist tot. Er wirkt nur so lebendig, weil er balsamiert wurde.« Du wendest dich ab, Sooni. Dir wird beim bloßen Anblick des toten, nackten Mannes schlecht. »Bitte, Hila, nimm ihn weg.« »Er kann dir nichts tun, Sooni, er ist tot. Sieh her, ich kneife ihn in den Arm.« »Bitte, bitte, schaffe; dieses stinkende Scheusal fort …!« Vielleicht bildest du es dir nur ein, Sooni. Aber dir ist, als habe die Bestie selbst im Tod noch eine unerträgliche Ausdünstung. Noch schlimmer als der Gestank ist der Anblick. Du weißt, daß du den Mann nie mehr aus deiner Erinnerung verdrängen kannst. Seine Nacktheit wird dich durch all deine Träume verfolgen. Hila hat es gut gemeint, aber sie hat mehr zerstört als geholfen. Und dann sagt sie auch noch: »Ich glaube, dir ist nicht mehr zu helfen, Sooni.« Schwester Irn kommt geradewegs von der Frühjahrsjagd zu dir. Sie ist fünfzehntausend Jahre alt und läßt sich gerne als der weiseste Mensch dieser Welt bezeichnen. Wenn sie für ein Problem keine Lösung findet, dann gibt es keine. Du empfängst sie auf der obersten Plattform des höchsten Turmes. Es ist später Nachmittag, es regnet. Die Regentropfen zischen, wenn sie auf das elektrisch geladene Gittergeflecht treffen, das sich um die Mauern spannt. Dem mutierten Efeu 174
scheint der Regen ebenso zu bekommen wie die Elektrizität. Die Natur ist ein Bollwerk. Wie können die schwachen Frauen nur erwarten, gegen dieses Bollwerk anzukommen? »Warum betonst du, wir Frauen seien schwach, Sooni?« Schwester Irn ist sehr maskulin. In ihrer Rüstung wirkt sie wie der sagenhafte Dämon Herkules. Ja, wir Frauen sagen, daß wir stark sind. Aber warum lassen wir es dann zu, daß die Natur unsere Welt mit ihrem dichten Grün überwuchert? Warum tun wir nichts dagegen, daß Vögel auf unseren Zinnen ihre Nester bauen, daß die Füchse sich ungezwungen geben? Und warum lassen wir uns durch die Existenz des Mannes verhöhnen? Der Nadelbaum dort, er wächst dir bereits über den Kopf, Sooni; selbst von der höchsten Stelle mußt du zu ihm aufblicken. Warum dulden die starken Frauen ihn, die Tiere und die Männer? »Der wirklich Starke zeigt sich nicht in der Vernichtung, sondern in seiner Geduld«, erklärte Schwester Irn weise. »Wir können es uns leisten, geduldig zu sein, denn wir besitzen die Unsterblichkeit. Wir werden alles überdauern. Inzwischen müssen wir unsere Stärke zeigen, indem wir mit dem Übel leben. Es ist eine Prüfung für die Ewigkeit. Wir sind noch nicht vollkommen, und wir sind weit von göttlicher Glorie entfernt. Wir sind von Eva und Ida belastet. Ihnen haben wir es zu verdanken, wenn wir Zweifel spüren. Du, ich – wir haben alle ein wenig von einer Hure in uns!« Du bist schockiert, Sooni, denn noch nie hast du so derbe Worte von einer heiligen Schwester gehört. Dirnen! Wir alle sollen Dirnen sein? Aber wenn dem so ist, dann muß es das vordringlichste Problem sein, die Ursache der Versuchung zu beseitigen. Und der Mann ist diese Versuchung. Er, dieses triebhafte Tier, beschmutzt den Begriff Homo sapiens. Wir sollten uns reinigen, Schwester Irn! »Du bist naiv, Sooni. Deine Worte zeigen, daß du dir vollkommen falsche Begriffe vom Mann machst. Und warum? 175
Weil du dich in dich zurückziehst. Anstatt dich mit der Wirklichkeit abzufinden, verkriechst du dich vor ihr in dein Schnekkenhaus. Wenn du dich nicht bald mit den Tatsachen abfindest, wirst du noch an der Existenz des Mannes zerbrechen. Warum nimmst du nicht an Aufklärungskursen teil? Warum gehst du nicht in den Zoo und betrachtest einmal einen Mann aus der Nähe? Er verliert viel von seinem Schrecken, wenn du ihn nackt und hilflos hinter Gittern siehst. Du bist gut gewappnet, Sooni. Ich sehe, daß deine Brustgeschütze blankgeputzt und gut justiert sind. Bestimmt triffst du damit jeden Mann auf zweihundert Meter Entfernung. Und im Nahkampf bist du sicher auch stark. Auf den Spitzen deiner Rüstungshaken glitzern die Gifttropfen. Ich bin überzeugt, daß du deinen Gifttank täglich auffüllst. Und ich ahne, daß du sogar noch unüberwindlich bist, wenn ein Mann so nahe kommt, daß er dir den Helm vom Kopf reißen kann. Sollte ein Mann dich küssen, dann wird dein Giftzahn ihn treffen. Dein Haß scheint stark genug zu sein. Aber Männer sind nicht nur brutale, zottige Tiere. Die Realität sieht ein wenig anders aus als deine Traumwelt, Sooni. Die Männer haben sich gewandelt, sie haben gelernt, sie kämpfen nicht mehr mit bloßer Muskelkraft. Und das ist die besondere Gefahr: Haß wohnt gleich neben Liebe. Nimm dich in acht, Sooni!« Schwester Irn beschuldigt dich der Unzucht. Warum tut sie das? Hat sie spioniert? Weiß sie, daß du die Füchse beobachtet hast? Und hat sie eine Ahnung von dem Mann, der deine Burg umschleicht, Sooni? »Du mißverstehst, Sooni. Du bist die reinste Frau, der ich je begegnet bin. Aber ich habe auch noch keine Frau gesehen, die der Wirklichkeit so ratlos gegenüberstand wie du. Und ich äußere nur die Befürchtung, daß du im Ernstfall falsch handeln könntest.« Du wirst in jeder Situation das Richtige tun, Sooni. Du weißt es. Egal was passiert, du wirst dich gegen einen Mann genauso 176
zu wehren wissen wie gegen ein ganzes Rudel. Du kennst alle Methoden und Tricks der Selbstverteidigung. Nie wird ein Mann sich an dir vergehen können! »Ich kannte vor tausend Jahren ein Mädchen, das prahlte genau wie du, Sooni. Sie war stark und fintenreich wie du, aber seelisch ebenso unfertig. Sie war ein zerrüttetes Geschöpf. Und dann kam die Stunde der Wahrheit. Nachdem sie bereits mehr als fünfzig Männer im Kampf getötet hatte, fand sie ihren Meister. Er war kein Tier wie die anderen. Er fiel nicht gleich über sie her, sondern lockte sie in den Dschungel, wo sie ihm ausgeliefert war. Er nahm sie gefangen und hungerte sie aus. Schließlich legte sie ihre Rüstung freiwillig ab: Sie tat es für eine einzige Frucht. Sie dachte, daß sie auch ohne Rüstung gegen jeden Angriff gewappnet sei, denn sie besaß ja noch ihren Giftzahn. Aber der Mann rührte sie nicht an. Er fütterte sie weiterhin mit Früchten und Tierfleisch. Das ging lange so, und das Mädchen wähnte sich sicher. Sie hatte von impotenten Männern gehört und schätzte sich glücklich, an so ein imitiertes Exemplar geraten zu sein. Und dann passierte es eines Tages. Ich traf das Mädchen nach zwanzig Jahren während der Frühjahrsjagd. Ihr Körper war gezeichnet von unzähligen Geburten. Ich gab ihr den Gnadenstoß.« Was bezweckt Schwester Irn mit dieser Lügengeschichte? Sie erzählt dir doch Lügenmärchen, Sooni, das ist klar. Denn aus einer Frau kann nie und nimmer ein Zuchttier werden. Was Schwester Irn sagt, ist unwahr. Du weißt es, denn du selbst bist unfruchtbar, so unfruchtbar wie alle Frauen. Manchmal hast du schon von einem unbeschreiblichen Gefühl der Glückseligkeit geträumt, weil du spürtest, daß Leben in dir wächst. Du hast diese Träume geliebt, weil sie Erlebnisse von einmaliger Faszination waren. Aber beim Erwachen warst du immer ernüchtert. Du hast dann immer den Zorn des Herrn erwartet, Sooni, erinnerst du dich? Du erinnerst dich und zitterst. Nein, nein, Frauen waren nie fruchtbar und werden es nie sein können. 177
»Du irrst, Sooni. Jede Frau hätte die Macht, Leben in sich zu schaffen. Nur nehmen wir mit der Nahrung Stoffe auf, die den Keim der Fruchtbarkeit abtöten. Das Mädchen, von dem ich berichtete, nahm jedoch natürliche Nahrungsstoffe zu sich. Das löste ihre Hemmungen, die Hure in ihr gewann die Oberhand, und sie war dem Mann ausgeliefert. An diesem Beispiel sollst du erkennen, daß Männer oft mit mehr als bloßer Muskelkraft kämpfen. Es ist jetzt spät, Sooni. Ich gehe. Wir sehen uns bald zur zweiten Lektion.« Es hat zu regnen aufgehört. Die Sonne kommt noch einmal durch die Wolken, spiegelt sich kurz in den Fenstern der nachbarlichen Burgen und verschwindet dann hinter dem grünen Teppich der Vegetation. Dann folgt die kurze Dämmerung, es wird Nacht. Eine windige, unruhige Nacht. Dich fröstelt, Sooni, während du in deiner Kemenate die Rüstung ablegst, die deine Keuschheit schützen soll. Die Keuschheitsrüstung! Was nützt sie schon, wenn das Böse, das Schlechte unsichtbar und wesenlos ist. Es durchdringt jede Rüstung spielerisch. Und das Schlechte ist bereits in dir. Denn du hast die Füchse nicht an der Paarung gehindert. Du fällst den Tannenbaum vor deinem Fenster nicht. Manchmal, in Momenten besonderer Melancholie, hast du ihn sogar schön gefunden. Auf welches Niveau sinkst du, Sooni? Du starrst schon wieder aus dem Fenster deiner Kemenate. Deine Augen wandern den dunklen Stamm des Nadelbaums hinunter zu jener Stelle, wo sich heute morgen die Füchse … Da steht ein Mann! Schließ schnell das Fenster, Sooni. Der Wind hat den Geruch von Schweiß zu dir heraufgeweht. Dein Magen rebelliert. Aber das redest du dir nur ein, denn die Rebellion sitzt viel tiefer: in deinem Schoß. Es steckt in jeder Frau, hat Schwester Irn gesagt. »Aber nicht in mir!« Recht so, Sooni, schrei es in die Welt 178
hinaus: nicht in dir! Der Wind rüttelt an den geöffneten Läden des Fensters. Was mag sich der Mann da unten denken? Wird er den Aufstieg wagen? Vielleicht. Hoffentlich tut er es, dann kannst du ihn im elektrisch geladenen Gitternetz schmoren sehen, Sooni. Er kommt sicher. Er kommt! Du hörst die Geräusche, die er beim Aufstieg verursacht. Du wartest auf seinen Todesschrei. Du möchtest dich daran weiden. Zitterst du deshalb? Oder zitterst du aus einem anderen Grund? Was willst du? Was regt sich in dir, was leitet dich? O Sooni, warum komplizierst du alles so sehr. Steig in die Rüstung, richte die Brustgeschütze auf das Fenster aus und warte, den Finger am Abzug. Der Mann kommt bestimmt. Er muß ein besonders intelligentes Exemplar sein, wenn er den tödlichen Fallen unter dem Efeu ausweicht. Du hörst bereits sein Keuchen. Deine überreizte Phantasie malt dir aus, wie er Halt auf einem Mauervorsprung sucht und mit der Hand zur nächsthöheren Ranke greift, sich daran emporzieht … »Musiker, spiel meine Lieblingsmelodie!« Aber die »Estampie« erklingt nicht, der Musikus schweigt. »Doc, eine Spritze. Schnell!« Der Arzt rührt sich nicht. »Zofe, was hat Boccaccio vom zehnten Tage berichtet?« Die Zofe schweigt. Die Hand des Mannes erscheint im offenen Fenster. Sieh nur: Sooni fürchtet sich. Aber wovor? Der Spiegel verrät es dir. Deine Augen glühen, der Schlag deines Herzens wird immer schneller. Angst? Natürlich hast du Angst vor der Begegnung, aber noch mehr verspürst du wohliges Schaudern: Deine Erwartung ist groß, Sooni. Wie haben dich Hila und Schwester Irn nur verkannt! Betrachte die Männer im Zoo, und du verlierst deine Scheu, haben sie prophezeit. Und Hila wollte dir gar einen Mann zum Geschenk machen. Du hättest ihn sicherlich genommen – wenn er nicht tot gewesen wäre. 179
Warum schreist du so gequält auf, Sooni. War das nicht eben eine wahrheitsgetreue Definition deiner Gefühle? Sei ehrlich zu dir selbst. Du willst gar nicht, daß der Mann tot ist, bevor er nicht deine Kemenate erreicht hat. Was nützt es, wenn du die Kontrollen deiner Verteidigungsanlage prüfst, was hat es für einen Sinn, die Stromzufuhr des Gitternetzes ständig aus- und einzuschalten? Wenn sie funktionierte, dann wäre der Eindringling schon lange von den Stromstößen getötet worden. Aber er hat dein Fenster erreicht und klettert in die Kemenate. Du weichst zurück gegen die Wand. Du zitterst am ganzen Leib. Was wird der Mann tun? Gewalt anwenden? Sicher nicht, denn er war intelligent genug, deine Verteidigungsanlage zu zerstören. Und wenn dies einer der beiden Männer ist, die aus dem Zoo ausgebrochen sind? Jetzt hast du entsetzliche Angst, Sooni. Aber es ist bereits zu spät, die Keuschheitsrüstung anzulegen. Deine Beine sind so schwach, daß sie dich kaum tragen können. Der Mann steht da und betrachtet dich. Und er spricht. Sooni, wirst du dieses Wesen überhaupt töten können? Der Mann hat nicht die Gestalt eines wilden Tieres, seine Hände sind nicht zu Klauen geformt, die gierig nach dir greifen. Er hat sanfte, fast wehmütig blickende Augen, in denen kein Funken Lüsternheit liegt. Und seine Stimme ist tief, aber warm und freundlich. Er spricht von Liebe, und du wendest dich gequält ab, Sooni. Er spricht eindringlich, wird aber nicht fordernd. Er hat dich schon lange beobachtet. Andere Männer tun das bei anderen Burgen. Die Männer wissen, daß es genug einsame Frauen wie dich gibt: Wesen mit Gefühlen, die von der Sterilität ihrer Burgen erdrückt werden. Der Mann hat erkannt, wie einsam du hier bist. Er will erkannt haben, daß du anders als die anderen Amazonen bist. Warum hast du das noch nicht selbst erkannt, Sooni? Der Mann sagt dir in einfachen Worten, was du mit komplizierten Umschreibungen zu erklären versucht hast. Er könnte 180
dich jetzt nehmen, Sooni, aber er tut es nicht. Er spricht, um dich noch mehr zu zermürben, um dich gefügig zu machen. Er ist nicht die Verkörperung der Wollust, sondern er ist die Inkarnation der Verführung. Er umgarnt dich mit seinen Worten, und du wehrst dich nicht dagegen. Denn niemand weiß besser als du, wie wahr er spricht. Du glaubst ihm, daß du in der Abgeschiedenheit deiner Burg am falschen Platz bist. Du brauchst die Freiheit, du gehörst hinaus ins Leben, bist selbst ein Teil der Natur, bist Weib, dazu geschaffen, an der Seite des Mannes zu leben. Seine Worte offenbaren dir das, was bisher unverstanden in dir geschwelt hat. Wie dankbar du ihm dafür bist, daß er deine Augen für die wahren Dinge geöffnet hat, und er könnte dich nehmen. Aber er will mehr. »Komm mit mir. Die Welt gehört uns. Wir zwei und die vielen anderen Liebenden, wir sind die Zukunft der Erde.« Kaum hat der Mann das gesagt, da wird die Tür aufgestoßen. Ein Schatten springt herein, stürzt sich auf ihn. Etwas Langes, Schmales bohrt sich in seinen Körper. Der Mann strauchelt, er scheint nicht zu wissen, was mit ihm passiert. Er kniet da. Die Hände gegen die Wunde gepreßt, versucht er den Fluß zu stoppen, der aus ihm quillt. Vor deinen Augen beginnt sich alles zu drehen, Sooni, dir ist so übel, daß du augenblicklich sterben möchtest. Wie wahr es ist: Du möchtest tot sein! Aber da ist etwas, das dich noch quälen will. Irgendein Wesen, maskulin, aber nicht Mann. Ein häßlicher, verdorrter Racheengel, der das Blut seines Dolches abwischt. »Ich konnte dir dieses Erlebnis nicht ersparen, Sooni«, sagt Schwester Irn. »Jetzt weißt du, welche magische Kraft Männer entwickeln können. Und ich glaube, daß du als geheilt gelten kannst. Jetzt kann ein neuer Abschnitt deines Lebens beginnen, Sooni.« Und auf welches Fundament sollst du dein neues Leben auf181
bauen, Sooni? Etwa auf dem Sarg, in den der tote Mann gelegt wird … »Nein, nein, er ist nicht fort! Er ist bei mir!« Auf ihn, auf seine Güte, seine Wärme, auf sein Verständnis wirst du deine Zukunft aufbauen. Und wenn sie gegangen sind, der robotische Totengräber und Schwester Irn, die weiseste und stärkste aller starken Amazonen, dann wirst du an die Verwirklichung deiner Träume gehen. Du hörst nicht hin, als deine dienstbaren Geister zu ihrem kalten, gefühllosen Leben erwachen. »Bist du krank, Sooni?« »Siehst du nicht, daß sie keinen Quacksalber nötig hat! Was sie bedrückt, das drückt auf die Seele …« Du läßt sie schwatzen. Nun bist du wirklich darüber erhaben. Du steigst die Wendeltreppe hinauf zur obersten Plattform des höchsten Turmes und blickst von dort auf den grünen Teppich hinunter. Welch herrlicher Anblick, noch nie hast du ihn so genossen. Fühlst du dich jetzt frei und leicht, so als ob du dich von einer schweren Last befreit hättest, Sooni? Ja, das hast du getan. Der Wind umfächelt dich, als du auf der stehst. Du schließt die Augen und beugst dich nach vorn, weit nach vorn und umarmst deinen Geliebten. Eng umschlungen reist ihr gemeinsam zu einem Ort, wo euch Amazonen wie Schwester Irn nichts anhaben können. ENDE
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Als Utopia-Classics Band 83 erscheint:
Chad Oliver
Menschheitsdämmerung Mit der Raum-Zeit-Maschine ins Land der Neandertaler Von New Mexico ins Land der Neandertaler Dr. Robert Nye, Wissenschaftler des Raketentestgeländes White Sands in New Mexico, hat in jahrelanger privater Arbeit eine Raum-Zeit-Maschine erschaffen. Doch als es darum geht, das Gerät zu inspizieren, passiert Unvorhersehbares: Die Maschine wird aktiviert, und Mark, der Neffe des Wissenschaftlers, wird aus dem Heute in eine entfernte Vergangenheit geschleudert. Der junge Mann erreicht ein eiszeitliches Land, in dem Neandertaler und Cromagnonmenschen um die Vorherrschaft kämpfen, und wird in Konflikte mit einbezogen. Mark sieht sich gezwungen zu töten, wenn er überleben und den Weg zurück ins 20. Jahrhundert finden will.
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