Mia Arrow
Julia und
der schwarze Lord
Irrlicht Band 072
Julia stockte plötzlich. Vor ihrem Fuß lag ein Kinderkop...
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Mia Arrow
Julia und
der schwarze Lord
Irrlicht Band 072
Julia stockte plötzlich. Vor ihrem Fuß lag ein Kinderkopf aus weißem Marmor. Sie spürte, wie alles Blut aus ihrem Herzen wich, um gleich darauf um so mächtiger zurückzuströmen. Sie kniete nieder und hob den Kopf auf. Julias Hände, die den Kopf hielten, zitterten. Das war ja sie! Das war sie, als sie ein dreijähriges Kind gewesen war!
Ganz London war davon überzeugt, daß Julia Hartfields und John Barrows Verlobung ein Ereignis war, wie man es nur selten erlebte. Das lag nicht allein an den köstlichen Speisen, den ausgesuchten Weinen, Likören, Brandys und jenen unbekannten Getränken, die Johns Vater vor Jahren aus den Kolonien mitgebracht hatte. Es lag auch nicht an dem ungewöhnlich warmen Wetter und dem starken Rosenduft, der vom Park her in die altenglische Villa drang. Irgend etwas lag in der Luft… irgend etwas, von dem keiner der etwa fünfzig Gäste sagen konnte, was es war, das aber jeder spürte. Man trank mehr als gewöhnlich, redete lauter, gab sich freier und fast ein wenig frivol. Die Frauen hatten sich der neuesten Mode entsprechend gekleidet. Zu Schlabberkleidern, die viel Haut freigaben, trugen sie weiche Hüte, deren breite Krempen ihre Gesichter halb verdeckten. Die Männer zeigten sich konservativ. Ihre korrekt geschnittenen Anzüge hatten die gleichen Farben, die schon ihre Väter bei derartigen Anlässen bevorzugt hatten: grau und beige in jeder Schattierung. »Julia!« rief John über die Köpfe der Gäste hinweg. Er war so groß, daß er fast alle überragte. Sie blickte sich lächelnd nach ihm um und fragte, als sie das Glas mit der giftgrünen Flüssigkeit sah, das er ihr entgegenhielt: »Willst du mich vergiften?« John wurde bei ihrem Lächeln ganz warm ums Herz. »Eher würde ich mir selbst den Tod bereiten«, antwortete er zärtlich. Er liebte Julia, seit er ihr zum ersten Mal vor zwei Jahren beim Rennen in Ascot begegnet war. Seitdem hatte er alles getan, um seine Studien der Volkswirtschaft auf der renommierten Universität von Cambridge so schnell wie
möglich abzuschließen, eine Lebensstellung bei der Regierung zu erhalten und um Julias Hand anzuhalten. Bis sie ihm zwei Wochen vor diesem Verlobungsfest ihre Antwort gegeben hatte, war John von der ständigen Angst besessen gewesen, daß ein anderer Mann um sie werben könnte. Gab es ein liebreizenderes Geschöpfais Julia Hartfield? Für John war sie eine Gestalt wie aus einem Märchen. Langes pechschwarzes Haar, das John immer an poliertes Ebenholz erinnerte, fiel in weichen Wellen auf ihre schmalen Schultern. Die zarte Rundung ihrer Wangen zeigte, daß sie zwar kein Mädchen mehr war, aber auch noch keine reife Frau. Tatsächlich besaß Julia die Impulsivität eines Kindes und zugleich etwas von der Art einer erfahrenen Weltdame. Diese Mischung entzückte John immer wieder aufs neue. Außerdem war er hingerissen von ihrer weichen, durchscheinenden Haut, die wie Porzellan schimmerte, ihrem grazilen Körper, ihren geschmeidigen Bewegungen. Sie war für ihn das vollkommenste Geschöpf auf der ganzen Erde, daran hatte John nie gezweifelt. Lächelnd klärte John jetzt seine Braut über die Farbe des Getränks auf. »Ich habe in französischen Champagner ein wenig Pfefferminzextrakt gemischt, was einen ganz eigenartigen, aber ungemein frischen Geschmack ergibt.« Julia nippte an dem Glas und mußte John zustimmen, selten in ihrem Leben etwas so Köstliches gekostet zu haben. Vom Park her ertönte jetzt Musik. Johns Freunde, die schon während seiner Cambridge-Zeit dem Universitätsorchester angehört hatten, begannen einen Blues zu spielen. »Magst du tanzen?« fragte John. »O ja… tanz mit mir in den Himmel, John!« Julia schmiegte sich an ihn, und jeder, der die beiden sah, erkannte, wie sehr sie einander zugetan waren.
»Ich liebe dich, mein Herz. Ich liebe dich so sehr, daß ich gar keine Worte finde«, flüsterte John. »Ich bin unsagbar glücklich. Die Leute sagen immer, die Hochzeit sei der schönste Tag im Leben. Aber wie kann ein Mensch noch glücklicher sein als ich es heute schon bin, John?« Julia tanzte so leicht wie eine Feder, und John führte sie sicher und fest. Auch andere Paare hatten zu tanzen begonnen. Die Spannung löste sich ein wenig. Der Butler George und drei Bedienstete, die schon seit Jahrzehnten mit zum Hause von Johns Eltern gehörten, boten auf silbernen Tabletts erfrischende Getränke an. Einige Gäste standen vor dem kalten Büfett, das im kleinen Salon angerichtet worden war. Eine Frau mit rotem Haar und einem kleinen, spitzen Gesicht, die mit einem sehr großen Herren neben Julia und John tanzte, kicherte ununterbrochen über die Witze ihres Tanzpartners. »Laß uns irgendwohin gehen, wo es nicht so laut ist«, bat Julia. John führte sie in den Park. Kaum erreichten sie die Rosenhecke, als Johns Onkel auf sie zukam. Er sprach zum dritten Mal seine Glückwünsche über die glückliche Wahl aus, die sein Neffe getroffen hatte, und begann dann sofort, über seine Erlebnisse als junger Mann in Indien zu reden. John wußte, daß an eine Flucht vorerst nicht zu denken war, wenn er seinem Onkel nicht sofort Einhalt gebot. Er brachte das Kunststück fertig, das Gespräch von Indien auf Paris zu lenken, wo er mit Julia nach der Hochzeit für ein oder zwei Monate leben wollte. Sein Onkel lenkte aber sofort wieder auf sein Lieblingsthema über: »Paris ist natürlich nicht Indien. Was ich noch sagen wollte: Wenn der Monsun kam…«
John lächelte so freundlich, wie es ihm möglich war, und sagte: »Onkel George, ich sehe dort gerade Tante Mary, Sie scheint nach dir zu suchen. Ich meine, wir sollten zu ihr gehen.« John und Julia blieben noch ein paar Minuten bei den beiden alten Leuten, dann mischten sie sich wieder unter die Tanzenden. »Ich glaube, vor Mitternacht werden wir nicht allein sein, Julia«, sagte John mit einem Ton von Verzweiflung in der Stimme. »Dafür haben wir ein ganzes gemeinsames Leben vor uns, John. Denke doch nur, ein Leben voller Liebe.« Ihre Stimme war immer leiser geworden. Sie sah John nicht mehr an, sondern starrte auf einen Herrn von etwa fünfundvierzig Jahren, der vorher noch nicht unter den Gästen gewesen war und den Julia zum ersten Mal in ihrem Leben sah. Gleichzeitig hatte sie jedoch das seltsame Gefühl, ihn sehr gut zu kennen. Sie erschauerte. Es rann ihr plötzlich kalt über den Rücken. »Was ist dir, Liebes?« fragte John und folgte ihrem Blick. »Der Herr dort… im schwarzen Anzug… weißt du seinen Namen?« flüsterte Julia leise. »Ich meine, ihm früher schon einmal begegnet zu sein. Aber ich kann mich irren…«, erklärte John. Der Fremde kam auf Julia zu. John schien er überhaupt nicht zu beachten. Als er dicht vor ihnen stand, sah Julia, daß der Hemdkragen des Mannes unsauber und sein Anzug voller Flecken war. Er machte einen sehr ungepflegten Eindruck. »Erlauben Sie, daß ich mich vorstelle«, sagte er und deutete eine höfliche Verbeugung an. »Mein Name ist Henry Lord of Stanford.« Dabei sah er Julia so zwingend an, als unterbreite er ihr ein lebenslang gehütetes Geheimnis.
Julia wurde aschfahl. John legte schützend einen Arm um sie. Er versuchte zu lächeln und antwortete dem Besucher: »Ich freue mich, daß Sie unser Gast sind, Sir.« Dann wollte er Julia mit sich fortziehen. Mit einer unwilligen Bewegung schüttelte sie jedoch seinen Arm von ihrer Schulter. Lange starrte sie den Mann an, als wollte sie sich seinen Anblick für alle Zeiten einprägen. Er war nicht groß und kräftig gebaut. Dunkle Haare, die sich an den Schläfen bereits grau färbten, umrahmten einen mächtigen Schädel. Am merkwürdigsten waren jedoch seine Augen. Sie hatten die tiefbraune, fast schwarze Farbe eines unergründlichen, tödlichen Moores. Julia konnte ihren Blick nicht von diesen Augen lösen. Sie zogen sie in ihren Bann, trennten sie von allem, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte. »Julia«, sagte John ungeduldig. Auch die anderen Gäste waren auf Julia und den Fremden aufmerksam geworden. Die Frau mit dem roten Haar, die zuviel Champagner getrunken hatte, begann wieder zu kichern. »Komm«, sagte der Mann im schwarzen Anzug. Seine Stimme klang dumpf und tief, als wolle sie die Menschen, die sie hörten, in einen Bann ziehen, aus dem es kein Entkommen gab. »Es wäre mir sehr lieb, wenn Sie meine Braut nicht länger ängstigen würden«, sagte John. Er versuchte, gelassen zu erscheinen. Der Fremde beachtete ihn überhaupt nicht. Julia begann zu zittern. Ihr Atem ging stoßweise. Unter ihrer zartgebräunten Haut war sie leichenblaß geworden. »Komm, Julia«, sagte der Fremde noch einmal, jetzt eindringlicher.
Sie senkte den Kopf. Dann folgte sie ihm, ohne sich nach John umzusehen. »Julia! Du wirst nicht mit ihm gehen! Das ist doch ein Verrückter!« schrie John außer sich. Er ließ jetzt jede Höflichkeit außer acht. Unter den Gästen erhob sich erst ein Gemurmel, und dann redeten plötzlich alle durcheinander. Julia schritt wie eine Traumwandlerin hinter dem Fremden her. Umsonst versuchte John, sie zurückzuhalten. Sie gingen durch den zweiten Salon, durch die große Halle des Hauses. Vor dem schmiedeeisernen Gittertor stand ein schwarzer Rolls Royce. Ein graugekleideter Chauffeur hielt Julia die Tür auf. »Ich weiß nicht, was in dich gefahren ist! Ich werde auf gar keinen Fall zulassen, daß du diesem Menschen folgst! Ich werde…« John brach ab, als er Julias haßerfüllten Blick auf sich ruhen sah. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück. Julia und der Fremde stiegen ein. Der Chauffeur nahm hinter dem Steuer Platz. Der Motor summte leise auf. John sah dem Wagen wie gebannt nach, bis er hinter der nächsten Straßenbiegung verschwand. Er glaubte zu träumen! Es konnte doch nicht sein, daß Julia ihn verlassen hatte! Er mußte etwas tun! Er konnte doch nicht einfach hier untätig stehen! Aber seine Beine waren wie gelähmt. »Was ist, John?« fragte sein Onkel George neben ihm. »Nichts… nichts…« In völliger Verwirrung schüttelte John den Kopf.
*
Nachdem sie London hinter sich gelassen hatten, bog der Chauffeur in eine schmale Landstraße ein. Julia blickte aus dem Fenster. Die untergehende Sonne tauchte die sanften Hügel in rötliches Licht. »Wohin fahren wir, Lord of Stanford?« fragte sie. »Nach Stanford-House, meine Liebe.« Seine Stimme klang liebenswürdig. Julia ersparte sich die Frage, wo das liegen mochte, dieses Stanford-House. So verbindlich wie möglich wandte sie sich an den Chauffeur: »Darf ich bitte Ihren Namen erfahren?« Der Mann gab keine Antwort, sondern starrte nur weiterhin geradeaus. »Ich weiß, daß englische Chauffeure überaus würdevolle Menschen sind«, fuhr Julia jetzt schon nicht mehr so freundlich fort. »Dennoch könnten Sie mir Ihren Namen sagen.« Wieder bekam sie keine Antwort. »Lord of Stanford, was ist das für ein Mensch?« rief sie zornig. Der Lord zuckte nur mit den Schultern. »Weshalb gibst du keine Antwort?« schrie Julia auf. »Aber meine Liebe, du bist ja außer dir«, ermahnte er sie. »Sein Name ist selbstverständlich Henry. Alle meine Chauffeure heißen so.« »Henry? Weshalb ausgerechnet Henry?« »Weil ich dann immer nur an mich selber denken muß, meine Liebe. Und ich brauche mir keine neuen Namen zu merken. Henry, der Chauffeur… im Unterschied zu mir… Henry, Lord of Stanford.« »Seltsam, sehr seltsam.« Julia sah an dem Chauffeur vorbei aus dem Fenster. Es war inzwischen fast dunkel geworden. An
dem niedrigen Gesträuch und den bizarr geformten Wacholderbüschen erkannte sie jedoch, daß sie durch die Heide fuhren. Einmal kam der Wagen ins Rutschen, und Henry, der Chauffeur, stieg aus, um nachzusehen, was geschehen war und ob er den Schaden gleich wieder beheben konnte. »Das Moor, meine Liebe. Es fordert immer wieder seine Opfer«, sagte der Lord seufzend. »Aber weshalb fahren wir in der Dunkelheit denn durchs Moor, Henry? Es gibt doch sicherlich eine andere Straße!« »Leider nicht, meine Liebe, leider nicht.« Julia nahm sich vor, alles, was an diesem Tag auf sie an Eindrücken einstürmte, gelassen und wie selbstverständlich aufzunehmen. Zu ihrem eigenen Erstaunen verspürte sie überhaupt keine Angst, sondern eher eine Art Neugierde. Dabei war sie immer ein sehr ängstlicher und vorsichtiger Mensch gewesen. Sie kurbelte das Fenster herunter. Über dem weiten Moor hing ein voller Mond. Schwarz und düster standen die Silhouetten der Wacholderbüsche gegen den Nachthimmel. »Henry!« rief Julia. »Können wir bald weiterfahren?« Keine Antwort. Irgendwo stieß ein Brachvogel seinen klagenden Ruf aus. Fünf Minuten später stieg der Chauffeur wieder in den Wagen. Es gab einen sanften Ruck, und dann waren sie wieder auf dem schmalen Weg, der durch das Moor führte. Kurz vor Mitternacht hielt der Rolls Royce vor einem großen Haus, dessen graue Fassade im vollen Mondlicht schimmerte. »Wir sind in Stanford-House angekommen, meine Liebe«, sagte der Lord und half Julia aus dem Wagen. Der Chauffeur steuerte den Rolls Royce hinter das Haus. Ein seltsamer Laut ließ Julia zusammenzucken. Sie war ganz sicher, daß neben ihr ein Tier geschrien hatte, sogar
unmittelbar an ihrer Seite. Aber als sie sich umwandte, konnte sie nichts entdecken. »Was war das für ein Tier, Henry?« fragte sie. »Ein Tier? Du hast dich geirrt, meine Liebe.« »Ich habe mich nicht geirrt!« begehrte Julia auf. »Vielleicht hast du dich nicht geirrt, meine Liebe. Ich begleite dich in deine Zimmer. Du wirst erschöpft sein. Bist du hungrig?« »Nein.« »Dann komm, meine Liebe.« Als er das Wort »komm« aussprach, wurde seine Stimme tief und dunkel und gefährlich, als wolle er sie allein schon durch den Klang dieser Stimme an sich heranziehen. Sie schritten über eine Steintreppe. Julias Fuß stieß gegen mehrere Grasbüschel, die zwischen den Ritzen der Steine wucherten. Eine knarrende Tür führte in eine große, unbeleuchtete Halle. »Morgen wirst du das alles sehen. Jetzt möchte ich kein Licht anzünden«, sagte der Lord. »Du ängstigst dich doch nicht, meine Liebe?« »Nein, Henry, Lord of Stanford!« antwortete Julia mit monotoner Stimme. Plötzlich ertönte aus dem Hintergrund der Halle ein schauriges Lachen. Als es endlich verstummte, hörte es sich an, als ob Knochen gegeneinander klapperten. »Was soll dieser Unfug, Henry?« rief Julia ärgerlich. »Ein Gespenst wird sich einen üblen Scherz erlauben, meine Liebe.« »Es gibt keine Gespenster, Henry! Das solltest du wissen!« Wieder war dieses furchtbare Lachen zu hören. »Ich hoffe, es ist wenigstens ruhig, während ich schlafe, Henry. Sonst kann ich nicht bei dir bleiben. Ich brauche des Nachts meine Rühe.« Julia war zornig.
»Ja, meine Liebe, wir alle brauchen nachts unsere Ruhe.« In seiner Stimme klang Belustigung mit. Sie gingen an einer Balustrade entlang. »Henry, kannst du nicht besser auf dein Personal achten! Ich glaube, ich habe ein Spinngewebe gegriffen!« rief Julia plötzlich. »Ja, meine Liebe. Spinngewebe sind sehr unerfreulich.« Der Schein des Mondes beleuchtete das Ende der Balustrade, von der aus mehrere Türen in verschlossene Zimmer führten. Der Lord öffnete die letztere, die besonders schön geschnitzt war, wie Julia feststellen konnte, nachdem sie mit ihrer Hand darüber gestrichen hatte. »Wo ist der Schalter für das elektrische Licht?« wollte sie wissen. »Oh, wir haben kein elektrisches Licht hier. Ich bedauere das sehr, meine liebe Julia.« »Wie soll ich in so einem Haus leben? Dann laß mir eine Kerze bringen, Henry, Lord of Stanford!« »Ich rate dir, keine Kerze anzuzünden, meine Liebe. Es ist ein guter Rat, der Rat eines Freundes.« Julia stampfte mit dem Fuß auf. »Tue, was ich dir gesagt habe! Läute nach einem Diener!« befahl sie. Bekümmert antwortete der Lord: »Du willst es so, meine Liebe, und ich möchte mich deinem Wunsch nicht widersetzen.« Er zog an einer Schnur, und als nur zwei Minuten später der Chauffeur eintrat, bat er: »Bringen Sie eine Kerze, Henry!« Als habe er nur auf diesen Befehl gewartet, reichte der Chauffeur dem Lord auf einem silbernen Tablett eine Kerze mit einem Feuerzeug. »Ich danke dir, Henry«, sagte der Lord. Der Diener verließ den Raum, in dem Julia ihre erste Nacht auf Stanford-House verbringen sollte.
»Willst du wirklich, daß ich die Kerze anzünde?« fragte der Lord noch einmal, und seine Stimme klang noch bekümmerter als zuvor. »Ja, ja, ja!« rief Julia zornig. »Nun gut.« Das Feuerzeug flammte auf. Der Lord hielt die Flamme an den Docht der langen Kerze. In diesem Augenblick schrie Julia auf. Eine unerklärliche Angst hatte sie ergriffen. Sie preßte ihre Hände gegen ihre Wangen und schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Ihre weit aufgerissenen Augen hielt sie auf den Lord gerichtet. Er sah sie mitleidig an und flüsterte: »Ich hatte dich gewarnt, meine Liebe. Aber du wolltest, daß ich das Licht anzünde.« Julia hörte ihn nicht. Sie schrie und hörte nicht auf. Wie irr rannte sie durch das Zimmer mit den prächtigen Teppichen, den schweren Vorhängen, den kostbaren Möbeln. Tränen rannen über ihre Wangen. »Ich habe Angst! John, hol mich, John! Ich habe Angst!« Julia zitterte am ganzen Körper. »Aber meine Liebe«, sagte der Lord leise und blies die Flamme der Kerze aus. In derselben Sekunde hörte Julia auf zu schreien. Mehrere Augenblicke lang war es ganz still. Nur ihr Atem, der noch immer heftig ging, war zu hören. »Ich hatte dich gewarnt«, meinte Lord Henry leise, so wie man zu einem Kind sprach, das sich trotz aller Mahnungen in Gefahr begeben und verletzt hatte. »Entschuldige«, bat Julia mit normaler Stimme. »Ich kann mir gar nicht erklären, weshalb ich plötzlich eine derartige Furcht hatte. Jetzt ist sie wie weggeblasen. Es tut mir leid, daß ich mich so hysterisch aufgeführt habe, Henry.« »Aber nicht doch, meine Liebe. Du wirst dich jetzt schlafen legen. Morgen wird Henry dir Stanford-House zeigen.«
»Henry, der Chauffeur? Weshalb nicht du?« »Meine Liebe, ich habe viel zu tun. Unsere Hochzeit muß vorbereitet werden… auf mich warten viele Pflichten, meine Liebe.« Im Mondlicht sah Julia, daß er sich verneigte. »Gute Nacht, meine Liebe. Ich hoffe, du hast angenehme Träume. Was du in dieser Nacht auf Stanford träumst, wird sich erfüllen.« »Gute Nacht, Henry. Ich bin sehr müde.« Der Lord verließ das Zimmer, und Julia kleidete sich aus. Ihr Kleid aus zarten Spitzen legte sie über die Lehne eines Stuhles. Die Wäsche ließ sie auf den Fußboden gleiten. Das Bett war aufgeschlagen. Julia gab einen Laut des Wohlbehagens von sich, als sie die federleichte und doch wundervoll wärmende Decke über ihren Körper breitete. Wenige Sekunden später fiel sie in tiefen Schlaf. Schon eine Stunde später begann sie, sich unruhig hin und her zu wälzen. Auf ihrer Stirn standen Schweißperlen. Sie wimmerte, bat, flehte, fluchte, ohne jedoch zu erwachen. Erst als der Morgen graute, entspannte sich ihr Körper wieder, und ihr Atem ging tief und gleichmäßig.
*
Gegen elf Uhr bewegte sich Julia in ihrem Bett. Ihre Augenlider flatterten, und um ihre Mundwinkel lag ein Lächeln. Sie dachte an ihre Verlobungsfeier. Wie gut John wieder ausgesehen hatte! Und die vielen Leute, die gekommen waren! Herrliche Kleider hatten sie getragen. Ach, es war schön, gleich die Augen aufzuschlagen und zu wissen, daß John kommen würde, um mit ihr einen
Spaziergang durch den Park zu machen. Vielleicht würden sie auch ausreiten? Oder John würde sie in die Gemäldegalerie führen, wie er es ihr versprochen hatte. Julia schlug die Augen auf. Mit einem Laut des Entsetzens zuckte sie zusammen. Wo war sie? Was war das für ein Raum? Aber dann fiel ihr alles wieder ein. Lord Henry, das alte Herrenhaus, ihre Angst, als er die Kerze angezündet hatte! Julia verspürte einen krampfartigen Schmerz in ihrem Magen. Sie hatte Angst, maßlose Angst! Sie konnte spüren, wie diese Angst ganz von ihr Besitz ergriff. »John«, flüsterte sie, »John…« Aber sie wußte, daß John nicht kommen würde. Er war in London. Sie hatte ihn verlassen, war ohne Abschied von ihm gegangen. »John!« Julia begann zu schluchzen. Was war nur mit ihr passiert? Wer hatte sie dazu gezwungen, dem Lord zu folgen? Wenn er überhaupt ein Lord und nicht ein Betrüger war. Oder der Teufel, der Teufel in eigener Person! Julia zog die Bettdecke bis zum Kinn und suchte mit ihrem Blick das Zimmer ab. Es war, wie sie bereits während der Nacht festgestellt hatte, auf das Kostbarste ausgestattet. Auf dem reich mit Intarsien verzierten Holzfußboden lagen mehrere persische Seidenteppiche. Es gab nur wenige Möbel, aber die waren von erlesenstem Geschmack. Zwischen zwei Fenstern stand ein Sekretär aus der Zeit Georg des Fünfzehnten. Ein zweisitziges Fauteuil und drei dazugehörige Stühlchen, deren Sitzflächen mit feinstem Gobelin bespannt waren, stammten aus der frühen Zeit Queen Annes. Julia wußte, daß es derartige Möbelstücke in ganz London nicht zu kaufen gab. Und wenn sie wirklich einmal angeboten wurden, waren die Preise, die dafür gefordert wurden, so hoch,
daß nicht einmal reiche Engländer sich dazu entschließen konnten, sie zu erstehen. Wieder mußte Julia an John denken. Oft hatte er auf amerikanische Millionäre geschimpft und gesagt, daß sie mit ihren Dollars noch ganz England aufkaufen würden! »John… lieber, lieber John«, flüsterte Julia. Und dann rannen Tränen über ihre Wangen. Tiefe Hoffnungslosigkeit hatte sie erfaßt. Aber plötzlich hielt sie inne. Schließlich war sie hier keine Gefangene, sondern konnte so freiwillig, wie sie dem Lord nach Stanford-House gefolgt war, dieses Haus auch wieder verlassen, um zu John zurückzukehren. Alles wäre nichts als ein böser Traum, den sie bald vergessen würde. Julia warf die Bettdecke aus roter Seide zurück. Als sie schon mit den großen Zehen den Teppich vor ihrem Bett berührte, wurde zweimal kurz und hart gegen die Tür geklopft. Und ohne Julias Aufforderung abgewartet zu haben, kam der Chauffeur Henry ins Zimmer. Er neigte den Kopf und stellte ein silbernes Tablett, auf dem eine Kakaotasse stand, auf ein Beistelltischchen, das er dann neben Julias Bett trug. Dabei sprach er kein Wort. »Nehmen Sie den Kakao wieder fort! Ich habe nicht die Absicht, hier auch nur eine Minute länger als notwendig zu bleiben!« rief Julia zornig. Sie versuchte, durch ihren Zorn die tiefe Angst zu verbergen, die sie noch immer erfüllte. Henry achtete überhaupt nicht auf diese Worte. »Haben Sie mich nicht verstanden? Sind Sie taub? Oder gar stumm? Oder vielleicht sogar taubstumm?« fuhr sie ihn an. Es gelang Julia nicht, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Am liebsten hätte sie sich in die Kissen geworfen und geweint.
Henry verließ, rückwärts gehend, das Zimmer. Kurz bevor er die Tür hinter sich schloß, verneigte er sich noch einmal. Julia hatte das Gefühl, als lege sich eine Schlinge um ihren Hals. Sie keuchte, und ihr Körper zitterte wie Espenlaub. »Nein, nein, nein!« schrie sie auf. In fliegender Hast kleidete sie sich an. Der weite Rock ihres Abendkleides behinderte ihre Schritte, als sie zur Tür lief. An einem ihrer feinen Riemchenschuhe war ein Verschluß gerissen, so daß der Schuh nachschleifte. Aufschluchzend riß Julia beide Schuhe von ihren Füßen und warf sie achtlos fort. Einer traf die zarte Kakaotasse, die vom Tischchen geschleudert wurde und am Boden in viele kleine Stücke zerbrach. Der Seidenteppich sog sich mit der braunen, klebrigen Flüssigkeit voll. Julia griff sich mit beiden Händen an den Hals. Sie konnte den Blick nicht von dem Teppich wenden. Schließlich löste sie sich gewaltsam aus dieser Erstarrung. Rasch verließ Julia das Zimmer. Aber kaum war die Tür hinter ihr ins Schloß gefallen, als sie von neuem Entsetzen ergriffen wurde. Das Grauen ließ eiskalte Schauer über ihren Rücken rieseln. Sie konnte kaum atmen. Ihre Knie zitterten, und sie mußte sich mit beiden Händen am schmiedeeisernen Geländer festhalten, um nicht umzusinken. Ihr bot sich ein düsteres Bild. Eine Treppe aus rosafarbenem italienischen Marmor führte von der Halle ins Obergeschoß. Auf den Stufen lagen Kleidungsstücke aus vergangenen Jahrhunderten verstreut. Ein Hut mit einer Reiherfeder war heruntergerollt und an einer umgestürzten Gipsfigur hängengeblieben. Spinnweben bedeckten die Wände und den Boden. Staub lag überall, Bilder und Gobelins waren heruntergerissen oder hingen schief oder nur noch an einem Nagel fest. Der
venezianische Leuchter in der Mitte der Halle hing nur noch an einem dünnen Drahtgeflecht und würde sicherlich in kurzer Zeit hinunterstürzen und auf dem Marmorboden in tausend Teile zerbrechen. Am schlimmsten waren jedoch die umgestürzten und verstümmelten Marmorfiguren, die früher wohl einmal in den vielen Nischen der großen Halle ihren Platz gehabt hatten. Es war, als habe ein wütender Gigant seine Freude daran gehabt, die einzelnen Marmorteile wie Spielbälle hoch in die Luft zu werfen und dann einfach fallenzulassen. Julia mußte über Unrat und kostbares Geschirr steigen, um zur Treppe zu gelangen. Dann wurde ihr plötzlich bewußt, daß sie während der Nacht von diesen Dingen, die ihr jetzt den Weg versperrten, nichts bemerkt hatte. Hatte man sie absichtlich erst vor kurzem dort hingeworfen, um den Eindruck von Verwüstung noch zu verstärken? An einigen Stellen des schmiedeeisernen Gitters zu beiden Seiten der eleganten, breiten Treppe waren noch Spuren von Goldbemalung zu erkennen. In jede dritte Stufe hatte ein Kunstschmied ein Wappen eingelassen, das einen zähnefletschenden Wolf darstellte. Es war das grausigste Wappen, das Julia jemals gesehen hatte! Auf der untersten Stufe stockte sie plötzlich. Vor ihrem Fuß lag ein Kinderkopf aus weißem Marmor, der von einer der Statuen abgebrochen war. Julia spürte, wie alles Blut aus ihrem Herzen wich, um gleich darauf um so mächtiger zurückzuströmen. Sie kniete nieder und hob den Kopf auf. Er war so genau gearbeitet, daß der Künstler nicht einmal darauf verzichtet hatte, eine feine Narbe neben dem linken Auge des Kindes einzuzeichnen.
Julias Hände, die den Kopf festhielten, zitterten. Das war ja sie! Das war sie, wie sie als dreijähriges Kind gewesen war! Dieses Lächeln, die Form des Gesichtes, die hohe Stirn, der Haaransatz, das runde, energische Kinn – und die Narbe neben ihrem Auge! Ihr Vater, der Besitzer der Hartfield-Werke, hatte sie im Alter von drei Jahren von einem damals sehr berühmten Künstler malen lassen. Das Bild hatte jahrelang in seinen! Arbeitszimmer gehangen, und nachdem ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, hatte Julia das Gemälde in ihrem Schlafzimmer aufhängen lassen. Der Kopf des Kindes auf diesem Bild war der gleiche gewesen, den der Künstler in Marmor nachgebildet hatte und den sie jetzt in den Händen hielt! Julia preßte den Kinderkopf gegen ihre Wange. Er fühlte sich kalt und tot an. Zögernd ging sie dann weiter. In der Halle blieb sie stehen. Nervös sah sie sich um. Da fiel ihr Blick auf ein von einem Brokatvorhang halbverdecktes Krokodil. Julia schrie auf. Im ersten Augenblick erkannte sie nicht, daß das Reptil ausgestopft war, so lebendig wirkte es mit seinem weit aufgerissenen Maul und den glitzernden kleinen Augen. »Aber meine Liebe!« Henry, Lord of Stanford, war aus einem der Räume getreten, die von der Halle abgingen. Er betrachtete Julia kopfschüttelnd. »Bringen Sie mich sofort zurück nach London!« schrie Julia ihm entgegen. »Aber meine Liebe…«, sagte er sanft. »Aber meine Liebe, aber meine Liebe!« äffte Julia ihn nach. »Ich bin nicht Ihre ›Liebe‹, und ich will sofort zurück zu meinem Verlobten!« Sie begann hysterisch zu weinen. Der Lord ging auf sie zu und hüllte sie in einen Teil seines langen, weiten schwarzen Mantels, der ihm offensichtlich als
Morgenrock diente. Dieser Mantel sah mehr wie die Verkleidung eines Zauberers aus. »Nehmen Sie den Mantel weg!« schrie Julia und wehrte sich. Er seufzte tief auf. »Ich weiß gar nicht mehr, was ich noch tun soll, um Sie mir gewogener zu stimmen, meine Liebe. Habe Sie schon gefrühstückt? Man sagt, das Essen hält Leib und Seele zusammen… aber ich halte das für einen Trugschluß. Erst der Leib, und sehr viel später die Seele.« »Sie… was wissen Sie schon von einer Seele. Wo andere Leute eine Seele haben, da ist bei Ihnen… Spinngewebe!« fuhr Julia ihn an. Auf ihren blassen Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. »Es ist kühl hier, meine Liebe. Ich zeige Ihnen, wo Sie sich umkleiden können«, antwortete der Lord, als habe er ihre bösen Worten nicht gehört. »Ich will mich nicht umkleiden. Ich will…« Er unterbrach sie mit sanfter Stimme: »Ich weiß, ich weiß. Sie wollen zurück nach London. Wie gut ich Sie verstehen kann! Ich fühle mit Ihnen! Was ist dieses Haus mit seinen Krokodilen und Spinnweben und Toten auch schon gegen London, meine liebe Julia?« Julia riß ihre blauen Augen noch weiter auf. Entsetzen malte sich in ihren Zügen. »Tote, welche Toten?« hauchte sie. »Die Menschen, die leider nicht mehr unter uns weilen können, meine Liebe. Wir müssen alle sterben. Ich und du… jeder Mensch. Vielleicht erst morgen, vielleicht noch in dieser Stunde.« Julia verbarg ihr Gesicht in ihren Armen und wandte sich ab. Ihr ganzer Körper wurde von heftigem Schluchzen geschüttelt. Plötzlich fiel etwas die Marmortreppe herunter. Julia zuckte zusammen und ließ ihre Arme sinken. »Was ist das?« fragte sie mit bleichen Lippen.
Lord of Stanford bückte sich und hof ein stilettartiges Messer auf. »Nichts besonderes. Ein kleines, aber sehr hübsches Messer. Wenn Sie möchten, schenke ich es Ihnen. Vielleicht können Sie es bei einer Gelegenheit einmal gebrauchen, meine Liebe.« Julia starrte auf das Messer. Es war schärfer als irgendeines, das sie je gesehen hatte. Die Klinge war so spitz wie eine Nadel. Der Griff bestand aus reichbeschnitztem Elfenbein. Der Lord hielt es ihr hin. »Zögern Sie nicht, meine Liebe. Mann kann nie wissen…« Als er seine Hand noch weiter vorstreckte, schlug Julia dagegen, so daß das Messer klirrend zu Boden fiel. »Das war nicht nett von Ihnen«, sagte der Lord, und für eine kurze Sekunde zuckte es in seinen dunklen Augen böse auf. Julia zuckte bei diesem Blick wie unter einem Peitschenhieb zusammen. »Bitte, bitte bringen Sie mich wieder nach Hause«, bat sie flehentlich. »Sie sind frei, meine Liebe. Sie können gehen, wohin Sie wollen. Es gibt hier keinen Menschen, der Sie zurückhalten wird«, entgegnete der Lord und wandte sich um.
*
Als Julia die schwere Eingangstür hinter sich ins Schloß fallen ließ, fuhr ihr ein feuchtwarmer Wind ins Gesicht, der vom Moor herüberwehte. Trotzdem erschauerte sie wie unter einem eisigen Lufthauch. Eine Weile stand sie reglos da. Auf der breiten Freitreppe aus blaugrauen Gestein, die vom Haus in einen verwilderten Garten führte, wuchsen Grasbüschel und rankten gelbe und lilafarbene Blumen, die
sich in dieser trostlosen Gegend anmutig und farbenprächtig ausnahmen. Julia horchte in die Stille hinein. Kein Laut war zu hören. Nur ihr Herz schlug wie rasend, und der Pulsschlag dröhnte ihr überlaut in den Ohren. Sie preßte beide Hände auf ihr wildschlagendes Herz, so als könne sie es damit beruhigen. Es berührte sie seltsam, daß in dem großen Garten, der das Haus umgab, so viele Bäume wuchsen, denn gleich hinter dem Garten begann das Moor, nur unterbrochen von einzelnen Heideflächen. Der schwarzgraue Horizont verschwamm in dem bleigrauen Himmel, der tief über dem Land hing. Julia hatte das Gefühl, als drücke dieser Himmel sie nieder. John, dachte sie wieder, warum bin ich von dir fortgegangen? Sie durfte nicht hier auf der Treppe stehenbleiben. Sie mußte zu John! Er wartete gewiß auf sie. In ihrer Hast sprang Julia immer zwei Stufen auf einmal hinunter. Dabei verhedderte sie sich in ihrem Kleid und stürzte. Es durchzuckte sie ein heftiger Schmerz in ihrem linken Knöchel. Sie biß die Zähne zusammen, um vor Schmerz und Angst und maßlosem Zorn nicht aufzuschreien. Wenige Minuten gönnte sie sich Ruhe, dann zwang sie sich, aufzustehen und weiterzugehen. Sie meinte, Blicke in ihrem Rücken zu spüren. Vielleicht umspielte sogar ein höhnisches, niederträchtiges Grinsen die Lippen des Beobachters? Julia gab sich die allergrößte Mühe, nicht zu humpeln. Hinter einer dichten Dornenhecke entdeckte sie einen steinernen Brunnen. Julia mußte unwillkürlich an das Märchen von der verwunschenen Königstochter denken.
Wie unter einem inneren Zwang ging sie um die Hecke herum und trat zu dem Brunnen. Eine Echse huschte vor ihren Füßen davon und verschwand im kniehohen Gras. »Ich bin dabei, verrückt zu werden. Vielleicht bin ich es schon«, flüsterte Julia entsetzt vor sich hin. Sie neigte sich über den Brunnenrand und starrte in das faulig riechende schwarze Wasser. Auf einmal sah sie nicht weit von sich entfernt den Chauffeur Henry stehen, der den Blick unverwandt auf sie gerichtet hielt. »Was starren Sie mich so an?« schrie Julia, und sie zitterte am ganzen Körper. Henry antwortete nicht. In seinem Gesicht regte sich kein Muskel. »Wer ist denn hier verrückt? Ich oder Sie?« fuhr sie fort. Ihre eigene Stimme erschien ihr fremd und seltsam schrill. Immer noch zeigte Henry keine Reaktion. Julia humpelte zu ihm. Sie blickte in sein bleiches Gesicht mit den schmalen Augenbrauen. Ihr Zorn wuchs. »Und wenn ich Sie jetzt schlage?« fragte sie aufgebracht. »Werden Sie dann zeigen, daß Sie noch ein Mensch und kein Roboter sind? Werden Sie dann wütend sein? Oder was werden Sie dann tun, Sie… ja, Sie meine ich! Sie Wachsfigur!« schrie Julia außer sich. Henrys Lippen verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln voller Verachtung. »Ich werde Sie einsperren lassen! Sie und den Lord. So etwas darf nicht in Freiheit leben! Ja, noch heute werde ich Sie holen lassen!« Henry senkte die Lider, dann wandte er sich um, so zackig und steif, als habe ihn jemand aufgezogen, und ging in den hinter der Villa gelegenen Teil des Gartens. Julia preßte eine Hand vor ihren Mund, als sie plötzlich hysterisch zu lachen begann.
Nein, ihr werdet mich nicht verrückt machen. Ich kann noch klar denken, und ich weiß, was ich zu tun habe, hämmerte es in ihrem Kopf. Plötzlich fiel ihr der Rolls Royce ein. Wenn niemand mit ihr sprach und niemand ihr Einhalt gebot, ließ man sie vielleicht auch mit dem Wagen fortfahren. Aber wo stand er? Die Garage mußte sich hinter der Villa befinden! Mit großer Mühe bahnte Julia sich einen Weg durch das Gestrüpp. Die kostbare Spitze ihres Abendkleides blieb an den Dornen und Ranken hängen. Achtlos riß Julia sich los, so daß es bald aussah, als trüge sie einen Fetzen statt eines teuren Abendkleides, für das sie extra nach Paris geflogen war. Von einer Garage war nichts zu sehen. Die Villa war nur von dem verwilderten Garten umgeben. Es war kein Nebengebäude da. Gleich hinter dem Garten begannen Moor und Heide. Der Garten und das Haus standen wie eine Insel in der düsteren Trostlosigkeit. Julia war wieder auf dem schmalen Weg angelangt, der von der Freitreppe durch das Tor zu der einzigen Verbindungsstraße zwischen dem Haus und der Außenwelt führte. Sie humpelte durch das Tor. Fest biß sie die Zähne aufeinander und tastete den Weg vor jedem Schritt ab. Er war fest, und es bestand keine Gefahr, daß sie einsinken oder abrutschen könnte. Ab und zu wurde das Heideland, das hier vorherrschte, von einer kleinen Baumgruppe unterbrochen. Julia quälte sich Schritt um Schritt vorwärts. Plötzlich zerriß ein grauenhafter Schrei die lastende Stille. Julia blieb stehen. Sie wagte vor Angst nicht, sich umzublicken. Dann ertönte wieder, wie am Vortag, ein lautes, hysterisches Lachen.
Ohne sich zu besinnen stürzte Julia vorwärts. Und wenn sie im Moor umkam, wenn sie sich in der weiten Heidelandschaft verirrte… in der Nähe dieses furchtbaren Hauses wollte sie nicht länger bleiben. Alle paar Schritte knickte Julia mit ihrem verletzten Fuß um. Als sie sich einmal zurückwandte, bemerkte sie, daß sie sich kaum mehr als fünfhundert Meter vom Haus entfernt hatte. Dabei hatte sie das Gefühl, schon eine Ewigkeit unterwegs zu sein. Julia schluchzte trocken auf. Taumelnd vor Erschöpfung schleppte sie sich noch ein paar Meter weiter, dann brach sie zusammen. Ihre Füße brannten wie Feuer, in ihrem Kopf zuckte ein fast unerträglicher Schmerz. Julia betastete ihre Füße mit beiden Händen. Da bemerkte sie, daß sie blutig waren. Der rechte Knöchel war nach dem Sturz auf der Treppe so angeschwollen, daß er fast doppelt so dick war wie der linke. Dornen hatten ihre Beine zerkratzt. Ich schaffe es nicht, dachte sie verzweifelt. Wenn nur dieser furchtbare Schmerz im Kopf nicht wäre! Julia verbarg ihr Gesicht in den Händen. Minutenlang blieb sie so sitzen und überließ sich ihrem Schmerz und ihrer Verzweiflung.
*
»Nun, meine Liebe, geht es dir nicht gut?« hörte sie über sich die betont freundliche Stimme des Lords fragen. Julia hob ihr tränenüberströmtes, von Schmerz verzerrtes Gesicht. Sie verspürte den Wunsch, in Henrys lächelndes Gesicht zu schlagen. Sie wollte dieses Lächeln, das sie so beleidigte, für immer löschen.
Er trug einen eleganten Sportanzug, eine karierte Mütze und ein Paar derbe Schuhe. In einer Hand hielt er ein Netz, das an einer langen Stange befestigt war. Julia merkte, daß die Angst von ihr wich und maßlose Wut von ihr Besitz ergriff. »Ich hasse Sie! Ich verabscheue Sie, Henry, Lord of Stanford! Wie lächerlich Sie aussehen mit diesem Angelnetz und Ihrer karierten Mütze! Ich…« Julia konnte vor Wut nicht weitersprechen. Henry lächelte mitleidig. »Aber meine Liebe, du täuschst dich. Das ist kein Netz zum Angeln. Damit fange ich Schmetterlinge.« »Wie widerlich! Das paßt zu Ihnen, Henry Lord of Stanford.« »Ich werde Ihnen bei Gelegenheit meine Sammlung von Schmetterlingen zeigen, meine Liebe. Leider haben Sie mir meine Frage noch nicht beantwortet, ob ich Ihnen helfen darf, meine Liebe.« »Nennen Sie mich nicht immer ›Meine Liebe‹! Ich habe Ihnen gerade gesagt, daß ich Sie zutiefst hasse und verachte!« fuhr Julia ihn an. »Ach ja, ach ja. Sie dürfen nicht so heftig sein, meine Liebe. Das ist der Gesundheit abträglich.« Julia versuchte aufzuspringen, fiel aber wieder zurück. Der Schmerz, der von ihrem Fuß durch ihren ganzen Körper zuckte, war unerträglich. »Oh, Sie haben sich verletzt«, meinte Henry und kniete neben ihr nieder. »Fassen Sie mich nicht an!« schrie sie. »Oh, oh, meine Liebe, das ist eine schlimme Verstauchung. Und nicht einmal Schuhe haben Sie angezogen. Dabei stehen in Stanford-House über hundert Paar Schuhe Ihrer Größe. Ja, ich irre mich nicht, es ist genau Ihre Größe. Nur wenige Frauen
haben so zierliche kleine Füße. Bezaubernd, ganz bezaubernd.« Henry hatte ein Taschentuch aus seiner Jackentasche gezogen und betupfte damit Julias Fuß. Sie biß die Zähne aufeinander, um nicht aufzustöhnen. »Schlimm, meine Liebe, sehr schlimm. Wie sehr ich mit Ihnen fühle!« Julia verzog nur den Mund. »Wo steht der Wagen?« wollte sie wissen. »Welcher Wagen, meine Liebe?« Seine Augen blickten plötzlich wie die eines unschuldigen Kindes. »Der Rolls Royce, mit dem Sie mich in diese Einöde geschleppt haben.« »Aber meine Liebe, wie Sie sich ausdrücken! Ich darf darauf hinweisen, daß Sie mir ohne jeden Protest gefolgt sind! Haben Sie das vergessen?« »Wo ist der Rolls Royce?« Er zuckte die Schultern. »Darüber kann ich Ihnen leider keine Auskunft geben, meine Liebe. Der Wagen ist ganz allein Henrys Sache. Ich würde ihn nur verärgern, wenn ich mich in seine Angelegenheiten mischte. Leider kann ich Ihnen deshalb keine Auskunft geben. Weshalb fragen Sie nicht Henry nach dem Wagen, meine Liebe?« »Sie wissen wie ich, daß er nicht spricht.« »Das ist leider wahr.« Seine sanfte Stimme brachte Julia nur noch mehr in Wut. Sie ballte die Hände so fest, daß sich ihre Fingernägel schmerzhaft in die Handballen gruben. Der Lord lächelte. »Das wollen wir doch nicht hoffen, meine liebe Julia. Aber Sie dürfen jetzt nicht länger hier sitzen, sonst werden Sie sich noch erkälten. Und schauen Sie sich ihr schönes Haar an. Sie haben es nicht einmal gekämmt.«
Julia biß sich auf die Lippen und zuckte gleichmütig die Schultern. »Ich trage Sie nach Stanford-House zurück. Dort werden Sie alles vorfinden, was Sie brauchen, meine Liebe«, sagte Lord Henry. Er warf das Schmetterlingsnetz achtlos fort. Ohne Julias Zustimmung oder Protest abzuwarten, hob er sie auf seine Arme und ging mit ihr nach Stanford-House zurück. Julia fühlte, wie ihr Widerstand schmolz. Ein Gefühl von Geborgenheit durchströmte sie. Sie wünschte sich plötzlich, ihren Mund auf Henrys Wange zu pressen. Was ist nur mit mir geschehen? fragte sie sich beklommen. Warum ist all mein Zorn gegen ihn wie verflogen? Wieder erschauerte sie. Ich muß den Verstand verloren haben, sagte sie sich. Ich darf das nicht zulassen! Und doch lag sie völlig willenlos an Lord Henrys Brust und ließ sich von ihm in das Haus zurückbringen, vor dem sie sich so sehr fürchtete und aus dem sie hatte fliehen wollen…
*
Der Lord hatte Julia ins Haus getragen und war mit ihr in eines der Zimmer getreten, die von der Halle abgingen. Es war ein düsterer Raum. Die eine Wand des Zimmers nahm ein reichgeschnitzter Schrank ein, der bis zur Decke reichte. Henry setzte Julia in einen mit blasser Seide bespannten Sessel und öffnete die Schranktür. Als sie aufging, gab sie ein knarrendes Geräusch von sich. »Sehen Sie, meine Liebe, hier finden Sie Kleider und Wäsche«, sagte der Lord. Er hob den Rock eines lila Chiffonkleides hoch.
Plötzlich preßte er den Stoff an seine Wange. Verwundert sah Julia, daß er totenbleich geworden war. Doch im nächsten Augenblick hatte er sich wieder in der Gewalt. »Schuhe sind hier«, fuhr er mit harter, veränderter Stimme fort. Er riß die Schubladen einer hellgebeizten Kommode auf. Mehrere Einzelschuhe lagen auf dem Fußboden herum. In die meisten von ihnen war mit Goldlettern der Name eines berühmten Schweizer Schuhhauses gepreßt. Julia erkannte sofort, daß es sich um Modelle handelte. Sie hätte ähnliche Einzelanfertigungen während eines Besuches in diesem Schuhsalon bewundert, als sie einmal mit ihrer Tante ihre Ferien in der Schweiz verbracht hatte. »Zum Bad geht es durch diese Tür«, sagte Henry und öffnete die Tür zu einem Nebenraum. »Wenn Sie etwas brauchen, meine Liebe, so lassen Sie es mich bitte wissen. Ich möchte, daß Sie sich in Stanford-House wohl fühlen… aber wenn ich recht überlege, so müßte noch alles vorhanden sein. Es ist jedoch möglich, daß das Parfüm nicht Ihrem Geschmack entspricht, was ich sehr bedauern würde.« »Sie haben gut vorgesorgt«, murmelte Julia. Sie fühlte sich seltsam beklommen. Wem gehörten diese Sachen? Einer Toten? »Ja, meine Liebe. Es ist für alles gesorgt. Ich lasse dich jetzt allein. Vergiß nicht, dein Frühstück einzunehmen. Im Eßsaal wird um vierzehn Uhr der Lunch serviert. Leider kann ich heute nicht mit dir speisen, weil ich hoffe, bei diesem Wetter den Paradiesblütler zu fangen. Du wirst mich entschuldigen, meine Liebe.« »Nein, das werde ich nicht, Henry«, fuhr sie auf. »Deine widerliche Leidenschaft für Schmetterlinge kann ich nicht verstehen. Außerdem… Schmetterlinge kannst du immer noch fangen.«
»Oh, meine Liebe, du kannst nicht nachempfinden, welch ein Genuß es ist, ein so zartes Wesen wie einen Schmetterling im Netz gefangen zu sehen. Wie er sich aufbäumt, wie er mit seinen Flügeln schlägt und wie er sich dann in sein Schicksal ergibt… oh, das ist köstlich, meine Liebe.« »Es ist abscheulich!« schrie sie. Henry neigte sich zu Julia hinab, ergriff ihre Hand und küßte sie formvollendet. »Verbringen Sie einen glücklichen Tag auf Stanford-House, meine Liebe. Sobald es dunkel wird, komme ich zurück.« Nachdem die Tür hinter ihm zugeflogen war, dachte Julia, wie seltsam es doch war, daß er sie mal mit dem vertrauten »Du« und dann wieder mit dem steifen »Sie« ansprach. Sie starrte auf die Kleider, die Schuhe, die vielen Ketten, Broschen und anderen Schmuckgegenstände, die achtlos auf Tischen, Kommoden und sogar auf dem Fußboden herumlagen. Wem hatten sie gehört? Ganz langsam, wie ein gefährlicher Polyp kroch die Angst wieder in ihr hoch. Plötzlich wurde Julia bewußt, daß sie sich immer fürchtete, wenn sie allein war, daß sie in Henrys Gegenwart zwar Wut und Haß empfand, aber niemals Angst. Was ging in diesem düsteren Haus vor? Warum wechselten ihre Empfindungen ständig? Und wo war die Frau, die diese Dinge hier einmal getragen hatte? Diese Fragen quälten sie. Julia zwang sich gewaltsam zur Ruhe. Sie betrat das Nebenzimmer, zu dem die Tür angelehnt war. In den Steinfußboden war eine Badewanne aus rosafarbenem Marmor eingelassen. An den Wänden hingen kostbare Gemälde, die Haremsszenen darstellten. Die Badewanne glänzte vor Sauberkeit. Aber sonst herrschte auch in diesem Raum ein großes Durcheinander. Julia nahm eine Schaumbadflasche vom Boden und tat etwas von dem Extrakt in die Wanne. Dann drehte sie den Hahn auf
und ließ das Wasser einlaufen. Auf einem Bord fand sie Haarwaschmittel und unter einem Gewirr bunter Haarbänder einen fast neuen Fön. Sie wartete, bis die Wanne randvoll war. Dann stieg sie hinein. Wohlig streckte sie sich in dem duftenden Wasser aus. Die Wärme tat ihr gut. Das Bad wirkte wunderbar entspannend. Julia fühlte sich erfrischt und von allen Ängsten befreit. Der Gedanke daran, wer die vielen Kleider einmal getragen hatte, verursachte ihr nicht mehr Beklemmung und Sorge. Sie rieb sich trocken und trat dann vor den Spiegel. Sie starrte in das fleckige Glas. Ihre Augenlider flatterten leicht, und unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Aber sonst sah sie aus wie immer. Aus der Fülle der kostbaren Kleider wählte Julia ein hellblaues Leinenkleid. Es paßte wie angegossen. Sie schlüpfte dann in ein paar blaue Seidenpantöffelchen. Die Schwellung an ihrem linken Knöchel war ein wenig zurückgegangen. Julia verspürte Hunger. Sie hatte seit dem vergangenen Nachmittag nichts mehr gegessen. Der Lord war auf der Jagd nach Schmetterlingen, und Henry, der Chauffeur, schlich im Hause herum. Stumm wie eine der Eidechsen im Garten. Beim Gedanken an diesen Mann bekam Julia wieder Angst. Sie zwang sich dazu, diese Angst zu überwinden. Hatte ihr verstorbener Vater nicht immer gesagt, daß Angst das Dümmste sei, was einem Menschen widerfahren könne? Sie verwirrte die Sinne und verhinderte, daß man etwas tat, das die Lage änderte. »Ich habe keine Angst«, sagte Julia halblaut in die Stille hinein. Sie stand in der Halle und starrte auf die sechs Türen, die neben den kleinen Nischen abgingen. Wo war der Eßsaal?
Plötzlich wurde eine Tür geöffnet, und Henry, der Chauffeur, bat sie durch eine tiefe Verbeugung einzutreten. Julia schritt würdevoll und hochmütig an ihm vorbei. Der Tisch, der mitten im Raum stand, war für eine Person gedeckt, obwohl mindestens zwanzig Personen dort Platz gefunden hätten. Das Geschirr war aus feinstem Silber, war aber so schwarz angelaufen, daß Julia sich ekelte. »Haben Sie kein Porzellangeschirr?« herrschte sie den Diener an. Henry verneigte sich wieder. Er verließ den Salon und kam gleich darauf mit altchinesischem Porzellan in Kobaltblau, der Farbe der früheren chinesischen Kaiser, zurück. Er schenkte Julia Kaffee ein und hob eine Serviette von einem Körbchen, um Julia zu zeigen, wo sie frischen Toast fand. »Ich danke Ihnen«, sagte sie kühl. Sie ärgerte sich über sich selbst, weil ihr Herz vor Angst wieder bis zum Hals hinauf klopfte. Die Bissen wollten ihr im Hals stecken bleiben. Aber sie sagte sich immer wieder, daß eine Julia Hartfield keine Angst haben mußte, und aß weiter. Nachdem sie zwei Tassen Kaffee getrunken hatte, sah sie sich um. An den Wänden standen Schaukästen, deren Inhalt Julia von ihrem Platz aus jedoch nicht erkennen konnte. Sie erhob sich und trat vor einen der Kästen. »Ist das widerlich!« schrie sie entsetzt. Auf Elfenbeinnadeln gesteckt, sah sie farbenprächtige Schmetterlinge vor sich. Am Boden des Schaukastens stand in feinster Schreibschrift der Name der Schmetterlinge, darunter Tag und Ort, wo sie gefangen worden waren.
Julia sah in den zweiten Schaukasten und entdeckte Schmetterlinge mit honigfarbenen Flügeln, die aussahen, als hätten sie die Sonne eingefangen. In diesem Kasten lag auch das stilettartige Messer, das der Lord ihr am Morgen gereicht und das sie ihm aus der Hand geschlagen hatte. Entsetzt wandte Julia sich ab. Sie brachte keinen Bissen mehr hinunter. Bleierne Müdigkeit überkam sie plötzlich. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten. Jede Bewegung kostete sie übermäßige Anstrengung. Julia schleppte sich in die Halle und die Treppe hinauf. Sie taumelte über den langen Flur und in das Zimmer, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatte. Das Bettlaken war geglättet, die rotseidene Decke war zurückgeschlagen. Julia ließ sich auf das Bett fallen und schlief sofort ein.
*
Es war stockfinstere Nacht, als Julia erwachte. Jemand hatte sie am Hals berührt! Mit einem Schrei fuhr sie hoch. Schlaftrunken starrte sie die Gestalt vor ihrem Bett an. »Meine Liebe, es wird Zeit«, hörte sie Lord Henry sagen. »Wofür wird es Zeit?« fragte sie. »Hast du vergessen, daß um Mitternacht unsere Hochzeit ist, meine Liebe? Kleide dich an. Ich will eine schöne Braut vor den Altar führen.« Er schickte sich an, eine Kerze anzuzünden. Julia erinnerte sich an das Grauen, das sie in der vergangenen Nacht erfaßt
hatte, als der Lord das Feuerzeug aufflammen ließ, und bat flehentlich: »Bitte, lösch die Kerze!« Sein Gesicht wirkte im Schein der Kerze fratzenhaft verzerrt. Er lächelte grausam. Aber er löschte die Kerze nicht. »Hab’ keine Angst, meine Liebe. Dir wird heute nichts geschehen. Ziehe dich um. Deine Kleider liegen hier auf den Stühlen.« Mit einer ausholenden Bewegung seiner Hand deutete er in den dunklen Raum. Es wurde Julia bewußt, daß sie nicht die geringste Angst fühlte. Im Gegenteil. Willenlos folgte sie seiner Aufforderung. Julia stieg aus dem Bett und streifte das Leinenkleid ab. Sie spürte seinen Blick auf ihrem Körper, während sie sich ankleidete. Als sie fertig war, erhob er sich ruckartig und stieß rauh hervor: »Wir gehen.« Das Haus war von vielen Kerzen erleuchtet. Sie standen überall, in den Wandleuchtern, auf dem schmiedeeisernen Gitter und auf den Trümmern der gestürzten Skulpturen. Der Lord hielt seine Hand weit vorgestreckt. Als er mit Julia durch die schwere Eingangstür schritt, löschte ein Windstoß die Kerzen aus. Wolkenfetzen jagten vor dem Mond dahin. Der Wind fuhr in Julias Haar und zerrte an ihren Locken. Henry stand einen Augenblick still auf der obersten Stufe der Freitreppe, als horche er in sich hinein. Dann hob er. Julia auf seine starken Arme, ging mit ihr um das Haus herum. Er schritt durch dichtes Buschwerk und Dornengestrüpp und kam vor ein kapellenartiges Gebäude. Dort setzte er Julia ab und warf seinen weiten schwarzen Samtmantel von sich. »Komm«, sagte er dumpf. Und wie immer, wenn er dieses befehlende »Komm« aussprach, klang seine Stimme, als wollte er sie sich Untertan machen. Es gab keinen Widerstand, kein Entrinnen. Es war zwingender als eine Eisenschlinge.
Julia nahm seinen Arm, und er geleitete sie über feuchte, glitschige Stufen in ein Gewölbe hinunter. Der modrige Geruch war Julia unerträglich. Sie mußte husten. »Still!« wies Henry, Lord of Stanford, sie zurecht und drückte ihren Arm so fest, daß es Julia nicht gelang, einen Schmerzensschrei zu unterdrücken. Sie kamen durch einen langen Gang, der so schmal war, daß Julia mit ihrem Ärmel gegen die moosbewachsenen Wände stieß. Plötzlich, hinter einer Ecke, sah sie ein flackerndes Licht. Eine Fledermaus flatterte dich vor ihr vorüber. Noch wenige Meter, dann standen sie vor einem schmiedeeisernen Tor, das der Lord öffnete. Die rostigen Angeln knarrten. Direkt hinter dem Tor befand sich ein Altar. In der Mitte des seltsamen Aufbaues stand die Kerze und verbreitete ihr schwaches, flackerndes Licht. Julia sah, daß sie sich in einer Gruft befanden. »Knie nieder«, flüsterte Henry. Julia gehorchte ihm wie unter einem geheimnisvollen Zwang. Sie wagte nicht einmal, den Kopf zu heben und ihn anzublicken. Er stellte sich vor Julia, und sie hörte, wie er auf dem Altar eine Flüssigkeit von einem Gefäß in ein anderes Gefäß goß. Danach murmelte er etwas, das Julia nicht verstand, und die Flüssigkeit wurde wieder umgeschüttet. Julia sah, daß er glänzende schwarze Schuhe und eine schwarze Hose trug. Plötzlich waren Schritte zu hören. Langsam hob Julia den Kopf und erstarrte. Hinter dem Altar stand Henry, der Chauffeur. Er war von Kopf bis Fuß in Rot gehüllt. Sein Gesicht war so weiß, als habe er es geschminkt. Er nahm ein irdenes Gefäß entgegen, das Henry, Lord of Stanford, ihm reichte.
Der Diener trug das Gefäß in den Hintergrund der Gruft. Jetzt erst erkannte Julia, daß die Wände aus Grabplatten bestanden. Das flackernde Kerzenlicht fiel auf das steinerne Gesicht einer Frau auf einer Grabplatte. Die Schatten, die das Licht warf, glitten über ihre hohen Wangenknochen und die niedrige Stirn. Sie trug die Kleidung des Adels von vor zweihundert Jahren. Über zwei Jahrhunderte hatte sie ihre Gesichtszüge an den letzten Lord of Stanford vererbt, denn wie sie besaß Henry kräftige, leicht vorstehende Wangenknochen und eine niedrige Stirn mit einem leichten Wulst über den Augenbrauen. Henry hätte ihr Sohn sein können. Jetzt wandte er sich Julia zu. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, aber in seinen Augen glomm ein dunkles, gefährliches Feuer. Er hielt Julia das irdene Gefäß hin. Entsetzt trat sie einen Schritt zurück. »Nein«, flüsterte sie, »nein, das werde ich nicht tun.« »Trink!« befahl die dumpfe Totenstimme, die Julia wie ein Strudel in ausweglose Tiefen riß. Ihre Lippen bebten. Sie wandte den Kopf abwehrend zur Seite. Gequält schloß sie die Augen. Plötzlich stand Henry neben ihr. Er hielt ihr den Becher hin und bat freundlich und sanft: »Bitte, meine Liebe, tu mir den Gefallen.« Mit zitternder Hand nahm Julia den Becher. Sie trat damit vor die flackernde Kerze und erkannte eine purpurne Flüssigkeit darin. Da hob sie den Becher an ihre Lippen und nahm einen Schluck davon. Sie spürte, wie die Flüssigkeit durch ihren Körper rann und wie sie leicht und heiter wurde. Ihre Verkrampfung löste sich. Sie konnte sogar lächeln. Auch der Lord trank aus dem irdenen Gefäß. Sein Gesicht erschien Julia danach um viele Jahre jünger. Sie neigte sich
vor, um ihn zu küssen, aber der düstere Blick seiner Augen hielt sie in letzter Sekunde davor zurück. Solche Augen muß der Teufel haben, dachte sie. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie jedoch nicht entsetzt, sondern ganz ruhig. Der Lord kniete vor dem Altar nieder und zog Julia auch auf die Knie. Seine Lippen bewegten sich. Doch Julia konnte kein Wort verstehen. »Ich gelobe, den Auftrag zu erfüllen«, hörte sie plötzlich jemanden laut und deutlich sagen. Sie glaubte im ersten Augenblick, daß Henry, der Chauffeur, gesprochen hatte. Aber von ihm war nichts zu sehen. Sie war mit dem Lord allein. »Leben und Tod. Leben, um zu sterben, sterben, um zu leben«, fuhr dieselbe Stimme fort. Julia glaubte zu erkennen, daß die steinerne Frau, die Henry so ähnlich sah, hämisch lächelte. »Henry, wer spricht hier?« rief Julia erregt. »Schweig! Du störst mich in meinen Gedanken!« fuhr er sie an. Julia sah überrascht zu ihm hin. Henry war tief in seine Gedanken versunken. Endlich schien er aus seiner Versunkenheit zu erwachen. Er lächelte Julia an, nahm einen Ring mit einem blitzenden Stein von seinem kleinen Finger und streifte ihn Julia über den Ringfinger. »Jetzt sind wir Mann und Frau. Nur der Tod wird uns scheiden. Nur der Tod, meine Liebe.« »Du vergißt das Leben, Henry!« flüsterte sie. Er lächelte wie jemand, der es besser weiß. Dann erhob er sich und machte Julia ein Zeichen, daß sie aufstehen sollte. Im Hinausgehen sagte sie: »Henry, ich bitte dich, deinen Chauffeur zu entlassen. Ich bin davon überzeugt, daß er üble
Späße treibt. Vorhin die Stimme… das kann nur er gewesen sein.« Der Lord sah sie an. »Ja, meine Liebe. Ich werde ihn zur Rechenschaft ziehen. So etwas gehört sich nicht. Paß auf, meine Liebe… an den Wänden wächst hier überall Moos. Die Gruft ist wirklich sehr feucht.« Julia verspürte keine Angst, obwohl die Luft in diesem Gewölbe modrig war. Die Finsternis war so schwarz, daß sie nicht einmal die Hand vor Augen erkennen konnte. Julia hielt sich dicht an Henry, um nicht zu stolpern. Sie kamen zur Treppe. Der Mond beleuchtete eine Skulptur, die neben der obersten Stufe stand und die einen spielenden Knaben darstellte. »Ich werde dich jetzt wieder tragen, meine Liebe«, erklärte Henry, Lord of Stanford. Und dann trug er sie zum Haus zurück. Im Haus brannten wieder die unzähligen Kerzen. »Morgen werde ich dich malen, meine Liebe«, sagte Henry. Einen Augenblick sah er aus wie ein frischvermählter und verliebter Ehemann. In seinen dunklen Augen lag ein Leuchten, und sein Lächeln spiegelte Zärtlichkeit wider. Julia fühlte, daß sie schwach wurde. Es war ihre Hochzeitsnacht. Sie war seine Frau geworden. Es wurde ihr erst jetzt mit aller Deutlichkeit bewußt. Henry, Lord of Stanford, war jetzt ihr Gemahl. Er trug sie die Treppe hinauf und setzte sie erst vor ihrem Schlafzimmer auf den Boden nieder. Dann verneigte er sich förmlich. »Schlafe wohl, meine Liebe«, sagte er freundlich. »Aber Henry…« Julia sah ihn ungläubig an. Wollte er sie so verabschieden? »Ich hoffe, du wirst in dieser Nacht nicht gestört werden, meine Liebe.« Er küßte ihre Hand.
»Du läßt mich jetzt allein, Henry?« fragte Julia schüchtern. »Jeder Mensch ist allein. Gute Nacht, meine Liebe.« Er wandte sich um und ging davon. Jeder seiner Schritte verursachte auf dem hölzernen Fußboden ein knarrendes Geräusch. Nur noch wenige Kerzen brannten. Sie warfen nur noch schwaches, flackerndes Licht. »Henry!« rief Julia mit zitternder Stimme, als er die Treppe erreicht hatte. Ganz langsam wandte er sich ihr zu. Julia konnte den Ausdruck auf seinem Gesicht nicht erkennen. Seine Körperhaltung wirkte jedoch plötzlich bedrohlich. »Ja, meine Liebe?« fragte er leise. »Nichts, Henry, es ist nichts.« Hastig trat sie in das Zimmer, das in Stanford-House zu ihrem Reich geworden war. Die Vorhänge waren vorgezogen, so daß kein Mondlicht hereindringen konnte. Julia streifte ihre Kleider ab und schlüpfte unter die Decke. Ihre Füße waren eiskalt, und ihr Herz klopfte vor Angst wild und unruhig. Lange konnte sie nicht einschlafen. Dann sanken die Lider über ihre brennenden Augen, und sie begann tief und gleichmäßig zu atmen. Etwa zwei Stunden später krampften sich ihre auf der Seidendecke liegenden Hände zu Fäusten zusammen. Julia stöhnte und warf sich unruhig in den Kissen hin und her. Als sie dann plötzlich auffuhr, wußte sie, daß sie nicht allein im Zimmer war.
*
Mit angehaltenem Atem lauschte Julia in die Stille. »Wer ist da? Bist du es, Henry?« fragte sie flüsternd. Keine Antwort. »Henry, ich fürchte mich! Bitte sprich doch ein Wort.« Sie begann zu schluchzen. »Julia, Julia«, sagte eine Frauenstimme/und die Stimme hörte sich an wie ihre eigene. »Julia, geh in Lord of Stanfords Zimmer. Ich befehle dir, ihn zu töten!« Julia war vor Entsetzen wie gelähmt. »Nein, nein… wer sind Sie? Ich will wissen, wer Sie sind!« schrie sie außer sich. »Ich bin die, die du nie sein wirst, Julia. Ich bin deine Freundin und deine Feindin. Ich bin in dir und außerhalb von dir. Du darfst mir solche Fragen nicht stellen. Du bist sehr ungeduldig, meine Liebe.« Julia erstarrte. Wie war das möglich? Sie selbst war es, die da sprach. Es war ihre eigene Stimme, ganz genau ihre Stimme! »Bitte, bitte quälen Sie mich nicht! Ich habe so entsetzliche Angst, daß ich fast verrückt werde. Oder… vielleicht bin ich es schon. Bitte, geben Sie sich zu erkennen«, bat Julia flehend. Die andere lachte. Es war ein heiteres, gelöstes Lachen. Genauso hatte sie, Julia, gelacht, wenn John ihr Zärtlichkeiten ins Ohr geflüstert hatte. John – er schien in einer anderen Welt zu leben. Er war weit fort. Unerreichbar weit. Bei dem Gedanken an John stiegen Tränen in Julias Augen und rannen über ihre Wangen. »Henry, Lord of Stanford, schläft am anderen Ende des Ganges. Du mußt ihn töten, wenn du nicht selbst getötet werden willst«, fuhr die Stimme wie im Plauderton fort. »Ich kann nicht! Er hat mir nichts getan… ich kann doch keinen Menschen töten!« rief Julia mit schriller Stimme. »Er wartet darauf, Julia. Hat er dir wirklich nichts angetan? Hat er dich von der Seite deines Verlobten gerissen? Hat er
dich nicht in dieses Haus, in diese Einöde gebracht? Er wird sich furchtbar an dir rächen, wenn du ihn nicht tötest, Julia! Aber dann wird es zu spät sein. Dann bist du selbst das Opfer. Was bedeutet sein Leben? Es ist nur noch ein kleines Flämmchen. Aber deines kann zu einer leuchtenden Flamme werden.« »Wie… wie soll ich ihn denn töten?« Julias Stimme war leiser als ein Hauch. Sie hörte ein Aufatmen. »Nun also. Ich wußte doch, daß du vernünftig sein wirst, Julia.« Plötzlich flammte eine Kerze auf. Sie beleuchtete das Gesicht einer weißgekleideten Frau. Julia brachte vor Entsetzen keinen Ton hervor. Diese Frau war sie, so, wie sie in zwanzig Jahren einmal aussehen würde. Ihr Haar war fast weiß. In ihr schmales, immer noch edles Gesicht hatte sich ein Netz feiner Linien eingezeichnet. Ihre Augen leuchteten in klarstem Blau. Sie hatten ihre strahlende Kraft nicht eingebüßt. »Julia, weißt du jetzt, wer ich bin?« fragte sie freundlich. Julia konnte nur leise stöhnen. »Es tut mir so leid, daß ich dich erschrecken muß. Aber es mußte sein, Julia.« Im selben Augenblick wurde die Kerze ausgeblasen. Tiefstes Dunkel erfüllte wieder den Raum. Julia hörte die Schritte nackter Füße, und dann sagte die andere dicht vor ihrem Bett: »Hier, Julia. Wenn du ihn damit tötest, wirst du zu deinem Verlobten zurückkehrten können. Aber du wirst so lange auf Stanford-House bleiben, bis du deinen Auftrag erfüllt hast. Und wenn du ihn nicht bald erfüllst, Julia, dann wird er dich töten. Nimm endlich, Julia.« Die letzten Worte waren mit einem ärgerlichen Unterton hervorgestoßen worden.
Julia streckte die Hand aus und berührte die messerscharfe Schneide eines spitzen Messers. Sie schrie leise auf. »Vorsichtig. Messer sind keine Kinderspielzeuge. Denke daran, daß du sein Herz treffen mußt. Du mußt kräftig zustoßen… so kräftig, wie du vermagst.« Damit drückte die Frau Julia den elfenbeinenen Griff des Messers in die Hand. Mehrere Minuten lang saß Julia wie erstarrt. Sie meinte, leise Schritte und das Knarren der Tür zu hören. Aber vielleicht hatte sie sich auch getäuscht. Weit in der Ferne schrie ein Käuzchen. Julia warf die Bettdecke zurück und umfaßte den Schaft des Messers fester. Alles in ihr lehnte sich dagegen auf, einen Menschen zu töten. Aber sie gehorchte nicht mehr ihrem eigenen Willen, sondern dem der anderen Frau. Sie bewegte sich wie eine Marionette. Sie tastete sich durch den dunklen Raum zur Tür und öffnete sie. Vor der Tür stand eine brennende Kerze, als habe jemand sie dort für sie abgestellt, weil er wüßte, daß sie sie brauchen würde. Julia sah, daß sie jenes Stilett umklammert hielt, das Henry ihr am Morgen in der Halle gereicht und das sie ihm aus der Hand geschlagen hatte. Der Schaft war aufs kunstvollste verziert. Sie nahm die Kerze hoch und ging damit über den langen Flur. Die Tür am anderen Ende war im Gegensatz zu allen anderen Türen, die reich geschnitzt waren, aus schlichtem, glattem Holz. Der Türgriff war blutrot angestrichen. Im ersten Augenblick glaubte sie, daß es sich um echtes Blut handelte, und sie wich unwillkürlich zurück. Dann erkannte sie jedoch, daß es Farbe war, und drückte die Klinke vorsichtig nieder.
Alle Türen in der Villa knarrten. Diese ließ sich aber öffnen, ohne das leiseste Geräusch von sich zu geben. Die Kerze erlosch im Luftzug. Julia trat in den Raum. Auch hier waren die schweren Vorhänge zugezogen, so daß kein Mondlicht hereinfallen konnte. Julia lauschte. Aus einer Ecke des Raumes waren gleichmäßige Atemzüge zu hören. Sie umfaßte den Schaft des Stiletts so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten, und ging auf dieses Geräusch zu. Schließlich stieß Julia mit ihren Beinen gegen eine Bettkante. Sie fühlte, wie sich ihre Brust weitete, wie alle Angst und Scheu von ihr abfielen und sie nur noch von dem Wunsch beseelt war, Lord Henry die Klinge des Stiletts mitten ins Herz zu stoßen. Julia hob ihren Arm. Sie wagte nicht zu atmen. Eine wahnsinnige, nie zuvor empfundene Freude erfüllte sie. Sie befand sich in einem Rausch und war nicht mehr sie selbst. Vor ihren Augen drehten sich feurige Räder, und wie aus weiter Ferne drang die Stimme an ihr Ohr. »Aber Julia! Bist du es wirklich?« fragte Henry, Lord of Stanford. Julia stand keuchend vor ihm und war wie erstarrt. »Mitten in der Nacht, Julia«, wies Henry sie zurecht und ließ ein Streichholz aufflammen, das er gegen den Docht einer Kerze hielt. Julia stand noch immer mit hocherhobenem Arm vor ihm. »Gib mir das Messer, Julia. Es ist zu gefährlich in deiner Hand«, sagte Henry. Er sprach mit ihr, wie Erwachsene mit Kindern sprechen, die im Begriff sind, eine Dummheit zu begehen. Henry setzte sich im Bett auf. Julia stand reglos da.
Der Lord sagte noch einmal eindringlich: »Julia, gib mir das Messer! Du wirst dich damit verletzen!« Da ließ sie langsam den Arm sinken. Der Lord nahm ihr das Messer aus der Hand und sagte freundlich, aber bestimmt: »Du gehst jetzt wieder in dein Bett und machst keine solche Dummheiten mehr, meine Liebe. Es ist mitten in der Nacht. Ich bin sehr müde, Julia. Morgen ist alles vergessen. Geh jetzt wieder in dein Bett.« Julia hatte bisher kein Wort gesprochen. Mechanisch, wie von einer fremden Macht getrieben, wandte sie sich um und verließ Henrys Schlafzimmer. Leise schloß sie die Tür hinter sich. Als sie sich zu ihrem Zimmer zurücktastete, fiel etwas laut polternd die Stufen der Marmortreppe hinunter. Julia glaubte, sie würde verfolgt. Sie floh wie von Furien gehetzt zu ihrem Zimmer, warf die Tür hinter sich ins Schloß und lehnte sich keuchend dagegen. In ihrem Kopf hämmerte ein unerträglicher Schmerz, der ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie hatte versagt. Sie hatte den Lord nicht getötet! Julia begann hemmungslos zu schluchzen. Jetzt würde sie getötet werden, von Henry oder von der anderen Frau. Sie würde niemals mehr zu John zurückkehren können. Julia ließ sich ins Bett sinken und zog die Seidendecke über ihren Kopf. Es war furchtbar, hier in diesem Haus zu leben. Aber noch furchtbarer war es, einen gewaltsamen Tod sterben zu müssen!
*
Als Julia am nächsten Tag erwachte, stand neben ihrem Bett auf einem silbernen Tablett, in das das Wappen der Lords of Stanford eingraviert war, eine bauchige Tasse mit köstlich duftendem Kakao. Julia setzte sich auf und hob das Tablett auf ihr Bett. Als sie die Kakaotasse an ihre Lippen setzen wollte, fielen ihr die Geschehnisse der vergangenen Nacht wieder ein. Sie erschauerte und stellte die Tasse zurück. Ich muß nachdenken, hämmerte es in ihrem Kopf. Irgend etwas hat mich dazu gebracht, Henry töten zu wollen. Das war nicht mein eigener, sondern ein fremder Wille. Entsetzen erfüllte Julia bei der Vorstellung, was geschehen wäre, wenn sie mit der Waffe wirklich zugestoßen hätte. Sie wäre eine Mörderin geworden! Schweißperlen traten auf ihre Stirn. Julia sprang aus dem Bett, lief zum Fenster und riß die Vorhänge zurück. Es regnete in Strömen. Sturzbäche ergossen sich auf die Erde, die zu einer Art Morast wurde. Der Weg, auf dem Julia zwei Tage zuvor mit dem Rolls Royce nach Stanford-House gekommen war, glich der Moorlandschaft, die hinter dem Haus begann und sich bis zum Horizont ausdehnte. Ich bin gefangen, dachte Julia. Sie konnte Stanford-House nicht entkommen. Es gab keinen sicheren, festen Weg, der in den nächsten Ort führte. Sie war Henry, Lord of Stanford, und Henry, dem Chauffeur, hilflos ausgeliefert. Und der unheimlichen Frau, dieser Spukgestalt, die ihr so ähnlich war. Eine Gänsehaut kroch über Julias Körper, als sie sich ausmalte, daß sie eine weitere Nacht auf Stanford-House bleiben müßte.
Und wenn diese andere wiederkam? Wenn sie wieder von ihr forderte, daß sie Henry ermordete? Wenn sie, Julia, wirklich zur Mörderin werden würde? »Nein, nein, nein«, sagte Julia mehrere Male. Sie sprach immer lauter. Dann versuchte sie, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie würde mit Henry sprechen. Vielleicht hatte er jetzt selbst Angst und wollte, daß sie Stanford-House verließ. Es konnte nicht in seinem Sinne sein, eine Mörderin in seinem Haus zu wissen, die ihn zum Opfer ausersehen hatte. Julia sah erst jetzt, daß über einem Stuhl ein warmes Wollkleid und frische Wäsche hingen. Vor dem Stuhl stand ein Paar bequemer Lederschuhe. In der Waschschüssel aus edlem, durchscheinendem Porzellan entdeckte Julia Wasser. Auch der Krug neben der Schüssel war mit frischem Wasser gefüllt. »Verrückt, ganz und gar verrückt«, murmelte Julia und begann sich zu waschen. Das helle Wollkleid mit dem weißen Kragen und den weißen Manschetten war wie für sie geschneidert. Zufrieden betrachtete Julia sich im Spiegel. Sie verließ ihr Zimmer und stieg die Treppe zur Halle hinunter. Henry, der Chauffeur, hielt ihr stumm und ergeben die Tür zum Eßsaal auf. »Guten Morgen, Henry«, sagte Julia kühl und schritt an ihm vorbei. Der Lord of Stanford hatte seine Schmetterlinge in den Schaukästen bewundert. Er wandte sich Julia zu, als sie eintrat. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er freundlich. »Ich hoffe, du hattest eine gute Nacht.« »Henry, ich muß mit dir sprechen. Bitte gib dir keine Mühe so zu tun, als wüßtest du nicht mehr, was in dieser Nacht geschehen ist.«
Er machte ein erstauntes Gesicht. »Wovon sprichst du, meine Liebe?« fragte er höflich. »Das weißt du so gut wie ich, Henry!« fuhr Julia auf. »Beruhige dich, meine Liebe. Jetzt werden wir erst einmal ein Frühstück zu uns nehmen. Der Kaffee ist noch heiß! Oder bevorzugst du Tee zum Frühstück? Ich bin gar kein richtiger Engländer, befürchte ich, bei meiner Vorliebe für Kaffee.« Er machte eine Bewegung zum gedeckten Tisch hin und rückte Julia einen Stuhl zurecht. »Nein, Henry, du kannst nicht so tun, als ob nichts geschehen wäre!« begehrte sie auf. »Aber, meine Liebe, was ist denn nur los?« sagte er ungeduldig und runzelte die Stirn. »Henry, ich wollte dich töten! Ich wollte dich mit dem Stilett ermorden! Ich… ich weiß selbst nicht, was in mich gefahren ist…« Julia begann wieder zu weinen. »Aber Julia. Du siehst entzückend aus, wenn du weinst. Aber denke auch an die Zukunft. Jede Träne schadet deiner Schönheit. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß dein schönes Gesicht einmal von Runzeln verunstaltet sein wird.« Es hörte sich an, als wollte er scherzen, Julia trocknete sogleich ihre Tränen. Sie mußte an die Runzeln im Gesicht der Frau denken, die sie heute nacht besucht und ihr den Befehl gegeben hatte, Henry, Lord of Stanford, zu töten. »Du sollst alles wissen, Henry!« rief Julia. »Eine fremde Frau hat mich geweckt…« Er unterbrach sie: »Eine Frau? Nein, meine Liebe, außer dir gibt es auf Stanford-House keine Frau. Das kann ich dir versichern.« »Und selbst wenn es sie nicht gibt, dann sollst du doch wissen, daß ich mit dem Stilett auf dich einstechen wollte!« schrie Julia. Sie zitterte am ganzen Körper.
Henry schüttelte ungeduldig den Kopf und starrte auf die Kaffeekanne aus chinesischem Porzellan. Ihm war anzumerken, wie sehr es ihm mißfiel, daß Julia eine solche Szene machte. »Du hast geträumt. Diese einsame Gegend hier ist ganz dafür geeignet, Alpträume entstehen zu lassen«, sagte er abschließend. Julia seufzte. »Nein, Henry, ich habe nicht geträumt! So glaube mir doch!« Ihr Blick glitt in den Schaukasten, in dem sie am Tag zuvor das Stilett neben den Schmetterlingen mit den honigfarbenen Flügeln gesehen hatte. Sie schrie gellend auf. Dort lag es, das Stilett, das sie in der Nacht in den Händen gehalten hatte! Aber seine Klinge… Sie war rot von Blut! Ein Blutstropfen war auf den hellen Samt gefallen, mit dem der Boden der Schaukästen ausgelegt worden war. »Aber Julia! Daß du dich immer so erschrecken mußt!« sagte Henry ärgerlich. Julia hörte nicht auf ihn. Sie stürzte schreiend aus dem Zimmer, hetzte die Stufen der Marmortreppe hinauf und lief über den düsteren Flur in ihr Zimmer. Aber was wollte sie dort? Gab es dort Sicherheit für sie? Was tat sie überhaut noch in diesem Haus? Julia lief wieder in die Halle hinunter. Sie öffnete mit großer Mühe die schwere Eingangstür und taumelte keuchend hinaus in den Regen. Sekunden später war sie bis auf die Haut durchnäßt. Aus ihrem Haar rann der Regen über ihr Gesicht und ihren Hals. Im Garten konnte Julia noch von einer Steinplatte auf die andere treten. Aber gleich hinter dem Garten begann der Morast. Auf dem Weg, der so fest gewesen war, daß der Rolls Royce darauf hatte fahren können, sank sie knöcheltief ein.
Julia erkannte, daß sie nicht weiterkam. Ihre Flucht war sinnlos geworden. Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. Langsam wände sie sich um und ging mit schleppenden Schritten zum Haus zurück.
*
Der Lord begrüßte Julia in der Halle mit den Worten: »Ich habe ein Kräuterbad einlaufen lassen, meine Liebe. Es wird das Fieber im Keim ersticken.« »Wie ich dich hasse! Wenn ich nur Worte hätte, um auszudrücken, wie abgrundtief ich dich hasse!« schrie Julia ihm entgegen. Er wiegte den Kopf. »Haß vergiftet die Seele, meine Liebe. Vergiß das nicht.« »Höre endlich auf mit diesen Sprüchen! Ich kann sie nicht mehr ertragen!« Der Lord seufzte tief. Julia ging an ihm vorbei ins Badezimmer. Im Schlafzimmer ordnete Henry, der Chauffeur, Kleider, die auf dem Fußboden gelegen hatten. »Sorgen Sie dafür, daß mir das Frühstück nach dem Bad in mein Schlafzimmer gebracht wird«, befahl Julia. »Und ich wünsche keinen Kaffee. Ich will Tee!« Der Diener neigte den Kopf zum Zeichen, daß er verstanden hatte. Julia schloß die Tür hinter sich und stieg in das Wasser. Ihre nassen Kleider hatte sie achtlos auf den Fußboden fallen lassen. Als sie mit dem Bad fertig war, sah sie ins Nebenzimmer, um zu sehen, ob der Diener sich noch dort aufhielt.
Er war jedoch fortgegangen, und Julia konnte das Bad verlassen, um sich aus der Fülle der Kleidungsstücke einen Pullover und eine lange Hose auszusuchen. Danach ging sie in ihr Zimmer, um zu frühstücken. Der Diener hatte inzwischen die Schreibplatte des kostbaren Damensekretärs heruntergeklappt und darauf ein Frühstück angerichtet. Julia aß mit Heißhunger. Und während sie frühstückte, überlegte sie, was sie tun sollte. Es hatte keinen Sinn, bei diesem Wetter an eine Flucht zu denken. Sie mußte sich aber beschäftigen, um sich von ihren bedrückenden Gedanken abzulenken. Sicherlich gab es Bücher in diesem Haus. Sie würde lesen und mit niemandem sprechen. Gleich nach dem Frühstück begab sich Julian in die Halle und rief laut: »Henry!« Der Lord trat aus einem der sechs Räume, die von der Halle abgingen, und sagte mit seinem schönsten Lächeln: »Ach, Julia, meine Liebe! Ich hatte schon auf dich gewartet. Ich wollte heute doch dein Porträt malen, meine Liebe.« »Ich suche die Bibliothek, Henry.« Julia versuchte, eine abweisende strenge Miene aufzusetzen. »Die Bibliothek, meine Liebe? Das tut mir leid… in unserer Familie hat nie jemand Freude an Büchern finden können. Es gibt deshalb keine Bibliothek.« »Keine Bibliothek?« wiederholte sie verblüfft. Der Lord schüttelte bekümmert den Kopf. »Ganz recht, meine Liebe. Ich glaube, wir sind die einzige Grafenfamilie in ganz England, die keine Bibliothek hat. Ich hätte daran denken und Bücher für dich kaufen sollen. Aber das kann ich nachholen. Was liest du am liebsten, meine Liebe?« »Das ist jetzt gleichgültig«, entgegnete Julia scharf. »Du brauchst keine Bücher für mich zu besorgen. Sobald der Regen
aufhört und der Weg wieder fest ist, werde ich Stanford-House verlassen!« »Selbstverständlich, meine Liebe, selbstverständlich. Aber nun komm herein und erfülle mir den Wunsch, dich malen zu dürfen.« Julia dachte daran, daß es ohnehin keine andere Möglichkeit gab, sich zu beschäftigen. Also konnte sie sich auch von Henry malen lassen. Sie trat in den Raum und stieß einen Laut der Bewunderung und des Erschreckens aus. Der riesige, hohe Raum war voller Bilder. Sie hingen an den Wänden und lagen in Stapeln auf dem Fußboden. Es waren kostbare Werke von berühmten holländischen Malern darunter. Außerdem Arbeiten italienischer und französischer Meister aus dem frühen bis späten Mittelalter. Nur Werke von englischen Künstlern konnte Julia nicht entdecken. Henry hatte ihre Gedanken erraten. »In meiner Familie herrschte seit Jahrhunderten ein überaus verfeinerter Kunstsinn, der es verbot, die Schmierereien englischer Maler überhaupt in Erwägung zu ziehen. Bitte, nimm Platz auf dem Stuhl neben dem Fenster dort, meine Liebe.« Julia zögerte. »Du bist seit heute nacht Duchess of Stanford, und ich möchte dein Bildnis der Nachwelt erhalten. Also bitte…« Er sah sie so durchdringend an, daß Julia gar nicht anders konnte, als seiner Bitte Folge zu leisten. Der Stuhl war sehr unbequem. Wenn Julia versuchte, sich gegen die Lehne zu lehnen, schmerzte ihr Rücken. Wenn sie aufrecht saß, schmerzte ihr ganzer Körper. Der Lord schien ganz in seiner Arbeit versunken zu sein. Er stand hinter einer altmodischen Staffelei, die ihn zur Hälfte vor Julias Blick verbarg.
Nach einer Weile stöhnte Julia. »Henry, es reicht mir! Meine Knochen sind schon steif!« rief sie. Er kam hastig hinter der Staffelei hervor. Seine dunklen Augen glitzerten gefährlich. Sein Mund war seltsam verzerrt. »Du bewegst dich nicht!« herrschte er sie mit vor Zorn bebender Stimme an. Irgend etwas in seinem Benehmen hielt Julia davon ab, noch einmal aufzubegehren. Stundenlang blieb sie in der gleichen Stellung sitzen. Ihren Körper spürte sie bald nicht mehr. Endlich ließ der Lord Pinsel und Palette sinken. Sein Gesicht drückte tiefste Erschöpfung aus. Julia erhob sich von ihrem Stuhl und trat neben Henry vor die Staffelei. Entsetzt starrte sie auf das Bild, das er von ihr gemalt hatte. Sie erkannte sich… und doch meinte sie, eine Fremde zu sehen. Das war sie… und es war zugleich eine andere Frau. Da wußte Julia, daß Henry sie nicht so gemalt hatte, wie sie jetzt aussah, sondern so, wie sie in zwanzig Jahren aussehen würde. Er hatte jene andere gemalt, die Frau, die Julia während der Nacht den Befehl, ihn zu töten, gegeben hatte. Die Frau, die Julia selber war. »Das ist… das ist furchtbar«, brach es aus ihr hervor. Henry, Lord of Stanford, wischte sich über die schweißnasse Stirn. In sein aschfahles Gesicht kam wieder ein wenig Farbe. »Gefällt es dir?« fragte er matt. »Das bin nicht ich! Das ist die Frau, die heute nacht in mein Zimmer gekommen ist!« schrie Julia. Er schenkte ihr ein müdes Lächeln. »Aber Julia… du bist ein wenig überspannt. Denke bitte daran, daß Künstler sehr empfindliche Menschen sind. Meinst du wirklich, daß ich dich so schlecht gemalt habe? Sind das nicht deine Augen? Ist das nicht dein entzückendes Kinn? Und die hohe Stirn mit der
kleinen Narbe neben dem linken Auge… Julia, ich bin sehr betrübt.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Henry, du treibst ein übles Spiel mit mir. Du kennst die Frau, die heute nacht bei mir war… sonst hättest du sie nicht so malen können! Es fehlt nur noch das weiße Gewand.« Der Lord stieß ein kurzes Lachen aus. »Julia, du bist reizend. Trägst du denn auf meinem Bild nicht diese elegante Hose und den Pullover? Habe ich ein weißes Gewand gemalt? Ich sehe doch keine Gespenster! Dein Zustand bereitet mir ernsthaft Sorgen, meine Liebe.« Henry packte seine Malutensilien zusammen und hängte ein weißes Leinentuch über das Gemälde. »Bitte, meine Liebe«, ermahnte er Julia, »hebe das Tuch nicht von dem Bild. Das ist mein dringender Wunsch.« Dabei sah er sie so starr an, daß Julia einen Stich im Herzen verspürte. Sie sah auf das verhängte Bild. Weshalb legte Henry so großen Wert darauf, daß es unberührt blieb? Sie spürte, daß irgendein Geheimnis damit zusammenhing. Sie nahm sich vor, Henrys Wunsch nicht Folge zu leisten und noch am selben Tag nachzusehen, ob sich irgend etwas an dem Bild verändert hatte. Henry streifte Julia mit einem Lächeln. »Meine Liebe, ich habe zu tun. Die neuen Schmetterlinge, die ich in dieser Woche gefangen habe, sind noch nicht präpariert worden. Ich erlaube dir gern, dabei zuzusehen… aber ich weiß ja, daß du meine Leidenschaft für Schmetterlinge nicht teilst.« »Ich verabscheue sie!« stieß Julia hervor. »Daß du immer gleich so heftig werden mußt! Das ist nicht fein, meine Liebe.« »Ich brauche deine Ermahnungen nicht, Henry!«
»Es war nicht so gemeint. Es war ein freundschaftlicher Hinweis, Julia.« Damit verließ er den Raum, und Julia blieb allein zurück. In ihren Fingern zuckte es. Sie lauschte in die Stille hinein. Dann hob sie ganz vorsichtig einen Zipfel des Leinentuchs hoch. Das Gemälde zeigte keine Veränderungen. Julia wußte nicht, was sie tun sollte. Schließlich fiel ihr ein, daß sie John einen Brief schreiben könnte. Er würde ihn nicht erhalten, und es war auch gar nicht nötig, daß er ihn las. Sie hoffte, daß der Regen am nächsten Tag aufhören und sie nach London zurückkehren könnte. Sie meinte jedoch, daß das Schreiben sie ablenken würde.
*
Julia stieg die Treppe zum Obergeschoß hinauf und trat in ihr Zimmer. Sie öffnete den Sekretär und zog die eine Schublade heraus, in der Hoffnung, Schreibpapier und einen Stift zu finden. Tatsächlich entdeckte sie mehrere Bogen Papier, in deren linke obere Ecke das Wappen der Grafen von Stanford gepreßt war. Auch ein altmodischer Federhalter und Tinte waren in der Schublade. Als Julia Papier und Federhalter herausnahm, entdeckte sie auf dem Boden der Schublade ein Foto. Mit zitternden Händen griff sie danach. Ihr Atem schien zu stocken. Das Foto zeigte sie, wie sie mit achtzehn Jahren ausgesehen hatte! Zu jener Zeit hatte sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Und sie trug auf dem Foto jenen
afrikanischen Schmuck, den John ihr auf einem Markt gekauft hatte. Es war eines von Johns ersten Geschenken gewesen, und sie hatte den bunten Schmuck wochenlang nicht abgelegt. Julia stöhnte auf. Sie nahm das Foto aus der Schublade und zerriß es in viele Schnipsel, die sie achtlos auf den Boden flattern ließ. Danach wandte sie sich schluchzend ab. Es dauerte lange, bis Julia ihre Beherrschung wiederfand, Draußen regnete es noch immer in Strömen, und es sah nicht so aus, als ob sich das Wetter bald ändern würde. Fieberhaft machte sich Julia daran, ihre Erlebnisse auf Stanford-House niederzuschreiben. Es war ihr jetzt ganz gleichgültig, ob jemand diese Zeilen lesen würde. Mit jedem Wort, das sie niederschrieb, fühlte sie sich besser. Erschöpft ließ sie zwei Stunden später die Feder sinken. Ihr Bericht schloß mit den Worten: Wenn ich Stanford-House verlassen habe, wird nichts als ein böser Traum zurückbleiben. Sie legte sich auf die Seidendecke des Bettes und schloß die Augen. Bald war sie in einen leichten Schlaf gefallen, aus dem sie erst bei Anbruch der Dunkelheit erwachte. Julia verspürte Hunger. Rasch erhob sie sich. Als sie aufgestanden war, fiel ihr das Ölgemälde wieder ein; das Henry, Lord of Stanford, gemalt hatte. Sie betrat den Raum mit den vielen Bildern. Niemand schien in der Zwischenzeit hier gewesen zu sein. Die Staffelei stand noch an derselben Stelle, und das Gemälde war noch immer mit dem schneeweißen Leinentuch verdeckt. Der Raum lag im Halbdunkel. Julia fand eine Kerze und Streichhölzer. Bevor sie die Kerze anzündete, hob sie das Leinentuch hoch. Sie riß nur ein Streichholz an. Es flammte kurz auf und erlosch wieder. Julia hatte nur ihre Hand gesehen, die auf ihrem Knie lag. Entsetzt starrte sie auf diesen Ausschnitt des Gemäldes.
Es war ihre Hand, das wußte sie genau. Aber zugleich war es die Hand einer uralten Frau mit leicht gekrümmten Fingern und welker Haut. Mit einem Ruck riß Julia das Leinentuch herunter. Ihr entrang sich ein spitzer Schrei, als sie das zweite Streichholz anriß. Sie sah eine Frau von siebzig oder achtzig Jahren, das Gesicht voller Runzeln, die Augen tief in den Höhlen. Diese Frau war sie selber… wie sie im Alter einmal aussehen würde! Mit zitternden Fingern versuchte Julia, wieder ein Streichholz anzuzünden. Vielleicht war sie von dem Licht genarrt worden? Ihre Hände zitterten aber so sehr, daß das nächste und auch das übernächste Streichholz abbrachen und sie erst das dritte an den Docht der Kerze halten konnte. Nein, sie hatte sich nicht geirrt. Die Frau auf dem Bild war sie, wie sie in fünfzig Jahren aussehen würde. Julia stürzte aus dem Zimmer und schrie in der Halle gellend nach dem Lord. Sie bekam keine Antwort. »Henry, Lord of Stanford! Henry, der Scharlatan!« schrie Julia außer sich vor Wut. Gleich darauf, während Julia noch dem Klang ihrer Stimme lauschte, trat der Diener aus dem Speisesalon, Sie lief an ihm vorüber, weil sie meinte, der Lord sei im Eßsaal zu finden. Aber sie irrte sich. Der riesige Tisch war nur für eine Person gedeckt. Sie sah Pasteten und kaltes Geflügel. Julia goß sich hastig Wein aus einer Kristallkaraffe in einen hochstieligen Kelch. Blutroter Wein schnappte dabei über ihre Finger. Sie achtete nicht darauf. Sie hob das Glas an ihre Lippen und trank es leer. Danach fühlte sie sich ein wenig besser. Sie war es nicht gewohnt, Wein oder anderen Alkohol zu trinken, und deshalb tat der Wein bei ihr sogleich seine Wirkung.
Bunte Pünktchen begannen vor ihren Augen zu tanzen. Sie trank ein zweites Glas leer und goß sich noch ein drittes Glas ein. Es war wundervoll zu spüren, wie der Wein durch ihren Körper rann, wie sie leicht und schwerelos wurde. Alles, was sie auf Stanford-House erlebt hatte, war nur ein Traum. Ein seltsamer, düsterer Traum! Julia fühlte, wie sich die Wände um sie herum zu drehen begannen. Sie drehte sich mit, in der einen Hand die Karaffe, in der anderen Hand den Weinkelch. Plötzlich drehten sich auch der Fußboden und die Lampe über dem Tisch. Julia blieb taumelnd stehen. Die Karaffe entglitt ihrer Hand und zerbrach am Boden. Glas splitterte. Der Diener erschien im Türrahmen. »Der stumme Diener! Jederzeit parat!« rief Julia spöttisch. Henry deutete eine Verbeugung an, dann kam er auf Julia zu und hob sie auf seine Arme. »Lassen Sie mich sofort los! Was fällt Ihnen ein! Sie sollen mich loslassen!« schrie sie wütend und schlug mit ihrer Faust auf ihn ein. Der Diener zeigte ein unbewegliches Gesicht. Er trug sie die Treppe hinauf und brachte sie in ihr Zimmer. Dort ließ er sie auf ihr Bett gleiten und verließ dann den Raum. Julia hatte das Gefühl, als drehte er sich im Rausgehen wie ein Kinderkreisel. »Der stumme und ewige Diener«, murmelte sie noch, ehe sie einschlief.
*
Kurz nach Mitternacht erwachte Julia. Sie war nicht einmal erstaunt, als sie die Stimme der anderen Frau wieder hörte. »Julia, du hast meinen Auftrag nicht erfüllt.« »Nein«, erwiderte Julia trotzig wie ein Kind. »Ich habe Geduld mit dir, Julia. Aber nicht mehr lange. Du hast vor ihm gestanden und du hast gezögert, Julia. Du hast die Sekunde versäumt und hast nicht zugestoßen. Das darf nicht wieder passieren.« Julia gab keine Antwort. Sie zitterte unter ihrer Bettdecke. »Du begehst keinen Mord, Julia«, fuhr die Stimme fort. »Du erfüllst nur Henrys tiefsten Wunsch.« »Er will leben… so wie ich leben will!« rief Julia atemlos. »O nein. Er will sterben, er sehnt sich nach Ruhe! Er will dorthin zurückkehren, wo er hergekommen ist. Erfülle ihm diesen Wunsch…« »Und wenn ich mich weigere?« »Was dann geschieht, weißt du, Julia. Ich war heute noch einmal geduldig mit dir. Morgen werde ich die Geduld nicht mehr aufbringen. Geh jetzt, und tue, was ich dir aufgetragen habe.« »Ich bin doch keine Mörderin!« begehrte Julia auf. »Julia!« klang es zurechtweisend. Julia spürte den Griff des Stiletts in ihrer Hand. Dann hörte sie wieder die Schritte von bloßen Füßen auf dem mit Teppichen ausgelegten Boden. Eine Tür knarrte. Julia hatte den Eindruck, daß es nicht die Tür war, durch die sie diesen Raum betrat oder verließ, sondern eine andere Tür. Sie erhob sich. Und alles, was sie schon einmal erlebt hatte, geschah auch in dieser Nacht. Vor der Tür fand sie die brennende Kerze. Henrys Schlafzimmer war nicht verschlossen. Im Raum herrschte tiefe Dunkelheit. Mit vorsichtigen Schritten näherte Julia sich dem Bett.
Diesmal zögerte sie nicht eine Sekunde. Sie hob das Stilett. Als sie es mit aller Kraft in Henrys Brust stoßen wollte, hörte sie einen Schrei. Sie spürte eine Hand, die ihren Arm wie eine eiserne Faust umklammerte. Das Stilett fiel aus ihren verkrampften Fingern auf die weiche Bettdecke. Gleich darauf wurde eine Kerze angezündet, und Julia starrte in das vor Schreck verzerrte Gesicht Henrys. Er hielt eine Hand hoch. Blut quoll aus der Wunde, die sie ihm beigebracht hatte. Es tropfte auf den Fußboden, sickerte in den hellen Teppich. Grauen ergriff sie. Der böse Zauber, der sie gefangen gehalten hatte, wich von ihr. Sie erkannte in diesem Augenblick die schändliche Gemeinheit ihrer Tat. Sie war im Begriff gewesen, einen schlafenden Menschen zu töten! Henry, Lord of Stanford, starrte sie an. Maßloser Haß spiegelte sich in seinem Blick wider. Julia glaubte, er würde gleich aufspringen, das Stilett ergreifen und sie töten. Sie riß ein Stück vom Bettuch ab und verband Henrys Hand. Er ließ es geschehen, den haßerfüllten Blick noch immer auf sie gerichtet. »Mörderin«, sagte er plötzlich mit rauher Stimme. Julia hatte das Gefühl, als habe ein Peitschenschlag sie getroffen. »Mörderin! Stümperhafte Mörderin!« stieß er hervor. Julia wand sich unter diesen Worten. Sie begann zu weinen, und als der Lord immer wieder dieses eine Wort »Mörderin« wiederholte, ging ihr Weinen in lautes Wimmern über. Er umklammerte mit seiner gesunden Hand ihre Schulter und schüttelte sie. »Sieh mich an!« schrie er. Julia hatte ihn noch nie schreien hören. Es war schlimmer als alles, was sie jemals erlebt hatte. Ihr Magen krampfte sich vor
Entsetzen zusammen. Sie meinte, ihr Herz höre auf zu schlagen. Gequält senkte sie den Kopf und schloß die Augen. »Sieh mich an!« schrie er und rüttelte sie an der Schulter. Ganz langsam hob Julia ihren Blick zu ihm auf. Sie sah in seine grauen Augen, die sie in einen endlosen Abgrund zu ziehen schienen. »Bitte, bitte nicht«, flüsterte sie. Er stieß sie so heftig von sich, daß sie zu Boden fiel. Sie sah sein verzerrtes Gesicht dicht über sich. »Mörderin!« zischte er noch einmal. Dann wandte er sich ab. Er riß den Verband, den Julia angelegt hatte, herunter und befahl ihr: »Geh! Verlaß sofort dieses Zimmer!« Julia erhob sich. Rückwärts wich sie zur Tür. Bis sie die Tür erreichte, vermochte sie keinen Blick von dem Lord zu wenden. Aber kaum hatte sie die Tür geschlossen, als sie über den langen Gang zu ihrem Zimmer hetzte. Sie warf die Tür ins Schloß. Dann trug sie alles, was sie in der Dunkelheit finden konnte, vor die Tür. Stühle, Kästen und Tische. Dann warf sie sich auf ihr Bett. Sie begann wieder zu schluchzen. Die Angst und das Grauen schüttelten sie. Erst als der Morgen graute, fiel Julia in unruhigen Schlaf, aus dem sie erst am frühen Nachmittag erwachte. Alles, was sie während der Nacht vor ihrer Tür aufgebaut hatte, stand noch da. Aber neben ihrem Bett sah Julia wie an den Tagen zuvor eine Tasse mit heißem Kakao. Die Waschschüssel war wieder mit frischem Wasser gefüllt, und ein Vorhang war an ihrem Fenster zurückgezogen. Julia stürzte zum Fenster und riß auch die anderen Vorhänge auf. Es regnete noch immer, wenn auch nicht mehr so stark.
*
In der dritten Nacht wiederholte die unheimliche Frau ihren Befehl an Julia, Henry, Lord of Stanford, zu töten. Doch wieder verhinderte Henry die Tat. Wie eine Schlafwandlerin kehrte Julia in ihr Zimmer zurück. Am Morgen des vierten Tages hatte ‘es aufgehört zu regnen. Julia war fest entschlossen, das düstere Haus zu verlassen. Sie sagte sich, daß sie allen gesunden Menschenverstand zusammennehmen und vernünftig handeln mußte. Diesmal sollte ihre Flucht gelingen. Julia beschloß, erst einmal zu frühstücken, damit sie genug Kraft für ihren weiten Fußmarsch haben würde. Im Eßsalon traf sie den Lord an. Er stand bei ihrem Eintreten vor seinen Schaukästen mit den toten, aufgespießten Schmetterlingen und wandte ihr den Rücken zu. »Guten Morgen!« sagte Julia kühl. Sie wußte inzwischen, daß er nie auf die Ereignisse der Nacht einging. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte Henry, ohne sich ihr zuzuwenden. Julia war eine derartige Unhöflichkeit nicht gewohnt Sie zuckte die Schultern und nahm Platz. Sie goß sich Tee ein und nahm sich ein Stück Toast. Als sie zu der Orangenmarmelade greifen wollte, sagte eine geisterhafte Stimme: »Wäre das nicht eine ausgezeichnete Gelegenheit, Henry zu töten? Zögere nicht wieder! Steh auf, nimm das Messer, das auf dem Tisch liegt, und stoße es ihm in den Rücken!« Julia starrte auf ihre Hand. Ihre Finger zitterten, als sie auf dem blütenweißen Tischtuch das Stilett sah. Es lag da, als habe es jemand dort für sie hingelegt, damit sie ihre Tat ausführte.
Julia erhob sich wie eine Marionette und ergriff das Stilett. Sie umklammerte es fest und ging zwei Schritte auf Henry zu. Er hatte seine verletzte Hand in die Tasche seiner Jacke gesteckt und hielt den Kopf geneigt. Julia hob ihren Arm. Ihre Nasenflügel bebten. Sie holte tief Luft. Aber in dem Bruchteil der Sekunde, als sie ihren Arm mit dem Messer nach vorn stoßen wollte, drehte Henry sich zur Seite, so daß Julia seinen Hals verfehlte und sie mit dem Stilett das Glas des Schaukastens traf. Es zerbrach. »Aber meine Liebe«, sagte Henry tadelnd. Julia ließ das Messer fallen und schlug die Hände vors Gesicht. Sie wollte sich abwenden, aber Henry umfaßte ihre Schultern und zwang sie, vor ihm stehen zu bleiben. »Was habe ich dir getan? Weshalb haßt du mich so sehr?« fragte er sanft. Sie konnte nur aufschluchzen. »Julia, deine Nerven sind krank. Du mußt dich ausruhen, meine Liebe. Sonst wirst du mich eines Tages wirklich noch töten.« Julia ließ die Hände sinken. »Ich weiß nicht, weshalb ich dich töten muß! Ich will es nicht! Glaube mir, ich will es wirklich nicht, Henry! Es ist diese Frau, die es mir befiehlt! Ihr Wille ist stärker als meiner!« »Es sind nur die Nerven. Sieh dich um… gibt es außer dir und mir noch eine Person im Raum? Julia, du hörst Stimmen, die es nicht gibt.« Er war so liebevoll, so fürsorglich, daß Julia einen Augenblick wirklich davon überzeugt war, in ihm ihre einzige Stütze zu sehen. »Ich habe Angst… schreckliche Angst«, flüsterte sie. »Vor mir?« »Nein! Vor mir selbst. Ich habe Angst, daß ich dich doch töten werde, ohne es zu wollen.«
»Wie kann ich dir nur helfen, meine liebe Julia?« In seinen Augen blitzte es kaum merklich auf, und in dieser Sekunde war Julia davon überzeugt, daß er alles wußte und sie belog. Er spielte Katz und Maus mit ihr. Nicht sie war die Mörderin! Sie war die Verfolgte, die ausführte, was ihr Verfolger ihr auftrug. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück. »Was willst du von mir? Wohin treibst du mich, Henry?« fragte sie flüsternd. Auf ihrem schönen Gesicht lag ein Ausdruck von Grauen. Er gab sich ganz sanft und schüttelte betrübt den Kopf. »Dein Zustand ist doch sehr viel ernster, als ich zuerst vermutete.« In diesem Augenblick ertönte ein schrilles Klingelzeichen. Nicht nur Julia, sondern auch der Lord war zusammengezuckt. Sein Blick hatte etwas Gehetztes. Sein Gesicht wurde grau. Julia merkte, daß er sein Entsetzen nicht spielte, sondern wirklich beunruhigt war. Sie eilte zum Fenster, um zu sehen, ob sie jemanden vor der Tür erkennen konnte. Vor dem halbverfallenen schmiedeeisernen Tor stand ein alter Geländewagen. Julia stockte der Atem. »John!« rief sie erregt. Mehrere Sekunden starrte sie ungläubig auf den Wagen. Dann kam plötzlich Leben in sie. »John!« schrie sie noch einmal und eilte an dem Lord vorbei in die Halle. Der Diener Henry hatte dem ungebetenen und unerwarteten Gast bereits die Tür geöffnet. »John, liebster John!« Julia flog dem Gast an den Hals. Sie küßte ihn, während Tränen über ihre Wangen rannen. »John, ich bin gerettet! Alles war so furchtbar! Die Frau wollte, daß ich Henry töte. John, an den Wänden der Gruft wuchs Moos, glitschiges Moos.
Und ich habe sogar dort unten die Stimme der Frau gehört. John, weshalb siehst du mich so an? Glaubst du mir auch nicht? Henry glaubt mir nicht… Sag, daß du mir glaubst, John!« Ihre Stimme war immer lauter und schriller geworden. John starrte auf Julia, dann auf den Lord of Stanford, der neben sie getreten war. »Können Sie mir bitte eine Erklärung geben, Sir?« fragte er den Lord. »Er lügt, John! Er wird auch dich verhexen, John! Laß uns fliehen. Bitte, John.« Julia begann wieder zu weinen. John nahm sie in seine Arme und strich über ihr glänzendes Haar. Sie schmiegte seine Wange an ihre und flüsterte: »Komm, John… warte nicht länger.« Der Lord machte ein Gesicht, das sein tiefes Bedauern über Julias Zustand ausdrücken sollte. »Es sind die Nerven«, sagte er dann leise. So würdevoll wie möglich entgegnete John: »Meine Braut hat gute Nerven, Sir.« Der Lord schüttelte bedauernd den Kopf. »Sir, Julia ist meine Frau!« erklärte er. John wurde blaß. Er trat einen Schritt zurück, um Julia ins Gesicht sehen zu können. »Ist das wahr?« fragte er tonlos. Sie warf einen bittenden Blick auf den Lord. Ihre Augenlider flatterten. In derselben Sekunde ging eine Veränderung mit ihr vor. Sie ordnete sich Henry wieder unter. Sie verlor ihren eigenen Willen. Ihre Schultern sanken nach vorn, und ihr Gesicht wurde ganz ausdruckslos. »Ja, John, es ist wahr«, antwortete sie so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. »Aber… Julia… das kann ich nicht glauben! Das ist… das ist doch ganz unmöglich!« stammelte John.
Julia hob den Kopf. »Doch, es ist wahr, John. Ich habe Henry geheiratet.« »Aber Julia! Was für ein Unfug!« In ihren Augen blitzte es auf. »John, wie sprichst du über meine Ehe! Hier, sieh meinen Ehering!« Julia hielt John ihren Finger hin, an dem sie einen schlichten goldenen Reif trug. Für einen kurzen Augenblick wurde John unsicher. Aber dann straffte er sich. »Es ist gut, Julia.« Ihm war anzumerken, daß er sehr enttäuscht war. »Ja, John, es ist alles gut.« Sie lächelte so liebreizend, wie sie früher gelächelt hatte. John blickte auf den Lord of Stanford. Henry erwiderte seinen Blick. Es war ein stummes Duell, in dem es keinen Sieger gab. »Dann weiß ich, was ich zu tun habe«, sagte John. Er schlug den Kragen seiner Anzugsjacke hoch und verabschiedete sich von Julia mit den Worten: »Ich komme wieder.« John blickte einen Moment zu Boden. Dann wandte er sich um und öffnete die schwere Eingangstür. »John, sage, daß du mir nicht böse bist!« rief Julia. »Habe ich mich dir gegenüber unhöflich benommen?« »Nein, Julia, das hast du nicht«, antwortete er ernst, und sein Gesicht drückte tiefste Trauer aus. »Dann bin ich froh, John. Es hätte mich sehr betrübt, wenn du mir böse gewesen wärest.« John preßte seine Lippen fest aufeinander. Dann trat er ins Freie. Die schwere Tür fiel krachend hinter ihm ins Schloß. »Henry…«, flüsterte Julia ängstlich. Aber Henry befand sich nicht mehr in der Halle. Julia lauschte in die Stille. »John!« schrie sie dann plötzlich auf. Sie hatte ihn gehen lassen! Was war nur mit ihr geschehen!? Weshalb hatte sie ihn nicht gebeten, sie mitzunehmen? Was war in ihr vorgegangen?
»John!« schrie sie. Sie riß die Tür auf. Der Wind, der über Moor und Heide fegte, fuhr ihr ins Gesicht. »John!« schrie Julia und schluchzte wild. Er saß bereits in seinem Wagen. Sie lief ihm nach. Ein Windstoß fuhr in ihre Haare und wehte sie ihr ins Gesicht. »John! John, warte! John, nimm mich mit!« Aber er hörte sie nicht. Das Geheul des Windes und das Geräusch des Motors übertönten ihre Schreie. John hatte nicht in den Rückspiegel gesehen, sonst hätte er Julia erkannt, die hinter ihm und dem Wagen herlief.
*
Julia war dem Wagen etwa fünfhundert Meter nachgelaufen. Erst dann hielt sie keuchend inne. Die Spur des Autos verlor sich in der Weite der Moor- und Heidelandschaft. Bei der schlechten Wegstrecke wird es etwa eine Stunde dauern, bis John die Landstraße erreicht, überlegte Julia. Eine Stunde, und dann vielleicht noch zwei Stunden bis nach London. London mit seinen Lichtern, den schönen Straßen, den Theatern und Geschäften. Sie hatte das Gefühl unendlicher Verlassenheit. Mit Grauen dachte sie daran, zu dem Lord in die düstere Villa zurückzukehren. Ihr Haß auf ihn und ihre Furcht vor ihm waren grenzenlos. Es gab jetzt keinen Zweifel mehr für sie. Er hatte sie verhext. Er besaß eine unheimliche Macht über sie, für die sie keine Erklärung wußte. Wie war es sonst möglich, daß sie John weggeschickt hatte? Sie liebte ihn doch mit jeder Faser ihres Herzens!
Würde er wiederkommen? Er mußte doch ahnen, daß sie nicht bei Sinnen gewesen war! Vielleicht hielt er sie für verrückt? Aber dann konnte er sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen! Glaubte er allen Ernstes, daß sie den schrecklichen Lord liebte? Julia begann zu weinen. Langsam taumelte sie weiter, halb blind von Tränen. Immer wieder mußte sie sich über die Augen wischen. Sie wußte, daß sie umkehren mußte. Wenn es dunkel wurde, war sie im Moor verloren. Außerdem war der Wind, der über das Land fegte, eiskalt. Plötzlich entdeckte Julia an ihrer rechten Seite einen etwas höheren Pfad. Er führte in den hinteren Teil des Parks. Julia setzte einen Fuß auf den Pfad und merkte, daß sie auch nicht tiefer einsank als auf dem Weg. Nach kurzem Zögern ging sie den Pfad entlang. Sie erreichte den Park an einer Stelle, die sie bisher noch nie gesehen hatte. Etwa hundert Meter rechts von ihr lag eine Kapelle. Durch das Laub der Bäume schimmerte das dunkle Dach. An der linken Seite standen mannshohe Wacholderbüsche. Hinter einer dichten Weißdornhecke war eine halbverfallene Mauer zu erkennen. Julia ging darauf zu. Die Mauer erwies sich als Teil eines Gewölbes. Plötzlich blieb Julia stehen. Sie hörte das dumpfe Geräusch einer zufallenden Eisentür. Rasch trat sie hinter einen schützend Mauervorsprung. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Von dem Gewölbe her kamen Schritte auf sie zu. Julia hielt ihre Arme ganz fest an den Körper gepreßt. Sie hörte jemanden hüsteln. Gleich darauf trat der Diener Henry aus dem Gewölbe. Er ging so dicht an Julia vorbei, daß er sie fast streifte. Sie hielt erschreckt den Atem an.
Henry wirkte ganz verändert. Auf seinem bleichen Gesicht war ein Ausdruck, der ihr fremd war. Statt seines dunklen Anzuges trug er ausgebeulte, helle Cordjeans und eine Cordjacke, dazu einen dunkelblauen verwaschenen Rollkragenpullover. Neben einem Wacholderbaum blieb Henry stehen. Jetzt erst erkannte Julia, daß er in seiner rechten Hand ein Buch mit einem roten Einband hielt. Es sah aus wie ein Tagebuch. Henry schlug es auf und begann, darin zu lesen. Julia stand reglos da und sah ihn an. Nach einigen Minuten klappte er das Buch wieder zu. Mit weit ausholenden Schritten ging er auf den Weg zu, der durch den Park zum Herrenhaus führte. Julia wartete noch fast eine Viertelstunde. Erst dann wagte sie, aus ihrem Versteck hervorzutreten. Der Wind wehte ihr plötzlich ein Taschentuch vor die Füße. Es war aus feinster Klöppelspitze und blütenweiß. Hatte Henry es verloren? Sie hob es hoch und betrachtete es. In eine Ecke waren die Buchstaben B. o. St. eingestickt. Julia nahm den Duft eines zarten Parfüms wahr, der dem Taschentuch entströmte. Hatte Henry es gar nicht verloren, sondern die Frau, der es gehörte? Julia sah sich um. Sie war ganz allein. Niemand beobachtete sie. Auf dem nassen Weg waren nur Henrys Fußabdrücke zu erkennen. Ein Windstoß fuhr in die Bäume. Graue Wolken trieben über den Himmel. Von der Heide her kam eine Schar Krähen geflogen und ließ sich auf einer der Baumkronen nieder. Die schwarzen Vögel wirkten wie unheimliche Boten. Julia erschauerte. Erst jetzt wurde ihr bewußt, daß sie keinen Mantel trug. Die Kälte drang durch den Stoff ihres Kleides. Julia ließ das Taschentuch fallen und eilte auf den Parkweg zu. Da sah sie, daß der Lord auf sie zukam. Er wirkte besorgt. In der Hand hielt er einen Wettermantel.
»Julia, wie unvernünftig du manchmal bist!« rief er, als er bis auf wenige Schritte herangekommen war. Julia blieb stehen. Wie unsagbar sie diesen Mann haßte! Er hatte ihr Leben zerstört! Welchen schrecklichen Bann übte er auf sie aus? Lord Henry wollte ihr fürsorglich den Mantel um die Schultern legen. »Laß das!« wehrte Julia zornig ab. Seine Stirn runzelte sich. »Was ist denn mit dir?« fragte er. »Ich weiß alles. Du hast eine Frau auf Stanford-House versteckt! Sie ist es, die mich nachts besucht und mich auffordert, dich zu töten!« schrie sie ihm entgegen. Henry tat, als sei er verblüfft. »Eine Frau? Aber Julia! Du bist manchmal wirklich seltsam. Ich sagte es dir schon einmal: Außer dir gibt es auf Stanford-House keine Frau! Du bist sozusagen einzigartig.« Er lachte spöttisch und reichte ihr den Mantel. »Sei vernünftig. Das Wetter ist gefährlich«, bat er wie ein liebevoller Ehemann. »Und John? Was ist mit John?« fuhr Julia ihn an. »Davon wollen wir nicht sprechen. Ich bitte dich.« »Natürlich. Davon willst du nicht sprechen. Ich hätte es wissen müssen!« Julia starrte ihn an. Dann warf sie sich den Mantel um die Schultern. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Vielleicht gab es wirklich nur eine einzige Möglichkeit, sich von Henry zu befreien. Sie mußte ihn töten, wie die Frau es ihr befahl! Sie erschauerte bei dem Gedanken. Zögernd betrat sie hinter dem Lord die Halle. »Ich werde nach meinen Schmetterlingen sehen«, sagte Henry und lächelte sie an.
Julia wandte sich brüsk ab und stieg die breite Marmortreppe hinauf.
*
Nachdem Julia ein Bad genommen und sich ein anderes Kleid angezogen hatte, begab sie sich in ihr Schlafzimmer. Sie wollte ungestört über alles nachdenken. Aber auch dieses Zimmer bedrückte sie. Nervös sah sie sich um. Plötzlich erstarrte sie. Ein Gedanke hatte sie durchzuckt. Mußte es von ihrem Zimmer aus nicht eine Geheimtür geben, von der die geheimnisvolle Frau und wahrscheinlich auch der Diener wußten? Wie wäre es sonst möglich, daß der Bedienstete ihr jeden Morgen Kakao vor das Bett stellte, obwohl sie ihre Tür seit zwei Nächten verbarrikadiert hielt? Und durch welche Tür gelangte die Frau in ihr Zimmer? Sie verließ es, ohne daß ein Knarren zu hören war. Und die Tür, die sie, Julia, immer benutzte, knarrte ganz entsetzlich. Julia schalt sich, daß sie nicht schon eher auf diesen Gedanken gekommen war. Sie erhob sich und betastete die alte, an vielen Stellen verblichene Seidentapete. Plötzlich meinte sie, in der Wand einen Spalt zu fühlen. Julia hielt den Atem an. Sie konnte mit ihrem kleinen Finger an dem schmalen Spalt entlangfahren. Er reichte bis zum Fußboden. Das mußte eine Tür sein. Julia begann erst vorsichtig, dann lauter gegen diese Geheimtür zu klopfen. Nichts rührte sich. Mit beiden Händen tastete sie die Tür ab. Keine Erhebung, keine Vertiefung. Nichts zeigte an, wie die Tür geöffnet werden könnte.
Wieder schlug Julia gegen die Tür, diesmal mit aller Kraft. Es dröhnte, und sie glaubte, daß hinter der Tür ein Gang oder vielleicht auch nur ein Hohlraum war. »Sie muß doch zu öffnen sein«, murmelte sie vor sich hin. Noch einmal strich sie mit beiden Händen über die Tür, und jetzt ertastete sie ganz unten, einen Zentimeter über dem Fußboden, einen winzigen Knopf. Sie drückte mit aller Kraft darauf. Nichts bewegte sich. Sie versuchte den Knopf zur Seite zu bewegen. Und plötzlich, als habe sie ein Zauberwort ausgesprochen, sprang die Tapetentür auf. Julias Herz klopfte bis zum Hals. Sie öffnete die Tür, so weit es ging, und sah in einen langen, dunklen Gang. Dumpfe Luft schlug ihr daraus entgegen. Sie wagte nur zwei Schritte in diesen Gang. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück. Wieder lauschte sie. Als noch immer nichts zu hören war, faßte sie sich ein Herz und tastete sich an den Wänden des Ganges entlang. Als Julia etwa zwanzig Meter weit gekommen war, fühlte sie sich plötzlich von zwei starken Armen umfaßt. Sie schrie auf. Ihr Schrei hallte in einem unheimlichen Echo in dem Gang nach. Julia wand sich, als kämpfe sie um ihr Leben. Aber es war sinnlos. Die Arme, die sie umklammert hielten, gaben sie nicht frei. »Lassen Sie mich los! Bitte, lassen Sie mich los!« schrie sie. Als ihre Schreie in leises Wimmern übergingen, hörte sie die Stimme des Lords. »Aber Julia, meine Liebe, ich bin es doch…« Sofort wurde sie ganz still. Sie wagte kaum zu atmen. »Julia, ich muß dich vor dir selber schützen. Du begehst sonst Dummheiten, meine Liebe.«
»Weshalb machst du kein Licht?« fragte sie ängstlich und starrte in die Dunkelheit. »Es gibt hier kein Licht, meine Liebe.« Nach diesen Worten stieß der Lord mit dem Fuß eine Tür auf und zwang Julia, mit ihm in einen Raum zu treten, der neben ihrem Schlafzimmer liegen mußte. Zitternd stand Julia da, nachdem Henrys Arme sie losgelassen hatten. Wo war sie? War es der Raum, der neben ihrem lag? Sie wußte es nicht. Sie hatte die Orientierung völlig verloren. Im hellen Tageslicht wich Julias Angst. Nur ihr Zorn auf den Lord blieb bestehen. »Jetzt weiß ich alles!« stieß sie hervor. »Was weißt du, meine Liebe?« In seinen Augen blitzte es amüsiert auf. »Du kommst nachts zu mir. Du spielst diese gespenstische Frau! Du verkleidest dich!« Da hörte Julia plötzlich dicht neben sich das helle Lachen der Frau. »Oh Julia, du bist entzückend! Aber leider irrst du dich, meine liebe Julia. Henry hat damit wirklich nichts zu tun«, sagte die Stimme, die sie so gut kannte. Julia stand wie erstarrt. Henry hielt die Lippen fest zusammengepreßt und hatte den Blick unverwandt auf sie gerichtet. »Was war das?« flüsterte Julia entsetzt. Ein mitleidiges Lächeln erschien auf Henrys Gesicht. »Was, meine Liebe? Wovon sprichst du?« »Die Frau! Du mußt sie doch eben gehört haben!« Julia zitterte am ganzen Körper. Henry schüttelte bedauernd seinen Kopf. »Ich habe nichts gehört… ich konnte auch nichts hören, denn es gibt hier keine Frau. Aber ich hörte vorhin, wie du gegen die Tapetentür geschlagen hast. Und weil ich nicht möchte, daß du dich
verletzt, hielt ich es für meine Pflicht, dich vor dir selbst zu schützen. Deshalb habe ich dich auch aus diesem dunklen Gang geholt.« »Du wußtest, daß es ihn gibt?« »Aber natürlich. Weshalb sollte ich es nicht wissen? Ich habe es wirklich versäumt, dir davon zu erzählen? Dann bitte ich dich, mich für meine Nachlässigkeit zu entschuldigen.« Julia starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Henry, was ist mit mir? Das sind nicht nur die Nerven… da ist etwas, was ich nicht verstehe.« Er legte ihr beruhigend seine Hand auf den Arm. »Zum ersten Mal hast du eingestanden, daß du dich in einem kritischen Zustand befindest. Das ist der Beginn der Besserung, meine Liebe. Jetzt kann ich anfangen, dir zu helfen. Komm…« Wieder versuchte Julia sich nicht gegen dieses sie beherrschende »Komm« zu wehren. Sie folgte dem Lord und wußte, daß sie dabei nicht ihrem eigenen Willen gehorchte. Sie traten auf den Flur. Julia schritt hinter dem Lord bis zum Ende des Ganges. Neben der Tür zu seinem Schlafzimmer blieb er stehen und sah sie lächelnd an. »Siehst du, meine Liebe, es gibt außer dem Tapetengang noch andere Orte auf Stanford-House, die du noch nicht kennst.« Damit öffnete er eine schmale Schiebetür, hinter der eine Holztreppe zum Dachboden hinaufführte. Jede Stufe knarrte, und einige waren schon so morsch, daß die Gefahr bestand, sie würden unter ihren Schritten brechen. Die Treppe wurde breiter und endete in einem großen Raum, der die ganze Breite von Stanford-House einnahm. Durch mehrere Dachluken konnte Licht eindringen. Überall standen Schränke, aus denen eine Fülle von alten Kleidern quoll. Daneben halb zerbrochene Marmorskulpturen, die teilweise mit Hüten und Schals drapiert waren. Die Luft war staubig und abgestanden.
In einer Ecke des großen Raumes lagen ausgestopfte Tiere. Füchse, Dachse, Habichte, Wiesel, Marder und sogar ein Igel. »Wie abscheulich!« rief Julia. »Kannst du diesen Plunder nicht wegschaffen lassen?« »Aber meine Liebe! Ausgestopfte Tiere waren die Leidenschaft meines Vaters, des fünfunddreißigsten Lord of Stanford. Ich würde sein Andenken schlecht ehren, wenn ich das, was er einmal liebte, fortwerfen würde.« Mit leiser Verachtung antwortete Julia: »Waren deine anderen Vorfahren auch von derart scheußlichen Leidenschaften besessen?« »Jeder hatte seine Eigenheiten, meine Liebe. Mein Großvater sammelte indianische Giftpfeile, und mein Urgroßvater hatte eine Leidenschaft für seltene Vogeleier.« »Und du sammelst Schmetterlinge«, sagte Julia mit der gleichen Verachtung wie zuvor. »Ja, meine Liebe.« Der Lord lächelte sie an. Julia hatte einen Hut mit einer wunderschönen Reiherfeder entdeckt und ging darauf zu, um ihn genauer zu betrachten. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, daß Henry den Raum verlassen hatte. Die Tür war geschlossen. »Henry!« Julia rannte zur Tür. Sie rüttelte daran, so fest sie konnte, aber die Tür gab nicht nach, obwohl sie in den Angeln krachte und ächzte. Sie war in dem häßlichen Raum gefangen! »Henry! So höre doch!« Julia stürzte zu einer der Dachluken. Als es ihr nicht gelang, sie zu öffnen, zerschlug sie mit dem Absatz eines Schuhs das Glas. »Hilfe! Hilfe… Hilfe!« schrie sie. Aber niemand hörte sie. Einen Augenblick lang glaubte Julia sogar, ein gräßliches Gelächter zu vernehmen. Sie wandte sich um und preßte die Hand vor ihren Mund.
Sie war allein mit den grauenvollen ausgestopften Tieren, den alten Kleidern und Statuen. Julia sank zu Boden und verbarg ihr Gesicht in den Weiten ihres Rockes. Sie wünschte sich zu sterben. Hinter einer riesigen Truhe, die reich geschnitzt war, sah sie mehrere lanzenartige Waffen stehen. Sie nahm eine zur Hand und tastete über die Spitze. Würde sie sich hiermit töten können? Nein, sie hatte nicht den Mut dazu. Julia ließ die Lanze sinken und öffnete den schweren Deckel der Truhe. Sie war gefüllt mit den abscheulichsten Foltergeräten, die Julia bisher nur einmal in einem Museum gesehen hatte. Einige von ihnen waren so blankgeputzt, als seien sie gerade benutzt und danach wieder gereinigt worden. Entsetzt ließ sie den Truhendeckel wieder zuklappen. Plötzlich glaubte sie, das Geräusch eines Motors zu hören. Sie lief zur Dachluke, konnte jedoch nichts mehr hören. Ob sie sich getäuscht hatte? »•Hilfe, Hilfe!« schrie sie wieder. Der Wind erstickte ihren Schrei. Julia schrie lauter, aber auch dieser Schrei drang nicht weit. Plötzlich zuckte sie zusammen. Sie hatte sich an der zerbrochenen Scheibe verletzt. Blut rann über ihre Wange. »Hilfe! Hilfe!« schrie sie wieder, so laut es ging. Dabei wußte sie selbst, daß ihr Schrei nicht bis in die Halle dringen würde. Außer sich vor Angst rüttelte sie noch einmal an der Tür. Aber sie ließ sich nicht öffnen. Erschöpft lehnte sich Julia mit den Rücken gegen die Tür. Sie schloß die Augen und gab sich ihrer Verzweiflung hin. Etwa eine halbe Stunde später glaubte sie, wieder Motorengeräusche zu vernehmen. Sie war aber so erschöpft und mutlos, daß sie nicht einmal zur Dachluke ging, um aufs neue um Hilfe zu rufen.
Sie wußte, daß sie verloren war. Sie war in Stanford-House gefangen. Und vielleicht lauerte bereits der Tod auf sie!
*
Der Lord ließ den roten Samtvorhang sinken. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Genugtuung. Also hatte er sich nicht geirrt, als er vermutete, daß John Barrow noch einmal nach Stanford-House zurückkommen würde! Er ging in die Halle, um John Barrow und den Herrn, der neben ihm auf dem Beifahrersitz saß, zu empfangen. Kaum hatte das Schrillen der Glocke die Stille des Hauses zerrissen, da öffnete der Lord den beiden Besuchern selbst die Tür. Finster starrte er sie an. John Barrow deutete mit einer Handbewegung auf den älteren Herrn an seiner Seite. »Sir, darf ich Sie mit Dr. Walter bekannt machen? Ich habe den Doktor gebeten, sich ein Urteil über Julias Gesundheitszustand zu bilden.« »Bitte, treten Sie ein«, bat der Lord of Stanford mit verbindlichem Lächeln. Die Herren traten in die Halle. »Sie wollen sicherlich ablegen«, meinte er und zog an einer Klingelschnur. Gleich drauf erschien der Chauffeur und Diener. »Nein, danke, wir wollen nicht ablegen«, wehrte John ab. »Wie schon gesagt, Dr. Walter möchte sich meine Verlobte ansehen.« »Leider befindet sich meine Frau nicht mehr in StanfordHouse«, entgegnete der Lord mit tiefem Bedauern in der Stimme.
John starrte ihn an. »Was soll das heißen?« »Meine Frau befürchtete, daß Sie den Eindruck gewonnen haben, sie leide an einer Geisteskrankheit. Ich muß ganz ehrlich sein, Mr. Barrow… Ihr Verhalten meiner Frau gegenüber ließ in ihr die Vermutung aufkommen, daß Sie beabsichtigen, sie gewaltsam von Stanford-House zu entführen.« »Alles, was wir jetzt von Ihnen erfahren möchten, ist, wo sich Julia Hartfield in diesem Augenblick aufhält«, mischte sich der Arzt ein. Er war ein Mann mit einem spitzen Kinnbart. In der Hand hielt er einen grauen Hut. Dr. Walter war über die Grenzen des Landes bekannt für seine Heilungserfolge bei Menschen, die unter einer seelischen Krankheit litten. Nachdem John ihm Julias Zustand geschildert hätte, war er sofort bereit gewesen, den jungen Mann zu begleiten, obwohl dringende Arbeiten auf ihn warteten. Der Lord erkannte in dem Arzt einen gefährlichen Feind. Mit einer Gebärde, die seine Hilflosigkeit ausdrücken sollte, breitete er die Hände aus. »Meine Herren, es lag nicht in meiner Macht, meine Frau von dem Schritt, den sie für richtig hielt, abzubringen.« »Bitte, drücken Sie sich deutlicher aus!« forderte der Arzt. Der Lord seufzte tief auf. »Muß ich wirklich noch deutlicher werden, meine Herren? Können Sie nicht erraten, wovon ich spreche?« »Nein. Wo ist Julia Hartfield, Sir?« Johns Gesicht drückte tiefen Haß aus. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Dabei war er sonst ein Mensch, der bemüht war, seine Gefühlsregungen unter einer Maske gleichbleibender Freundlichkeit zu verbergen. Der Lord stieß wieder einen Seufzer aus. »Sie zwingen mich dazu, meine Herren. Julia, meine liebe Frau, war nach dem
Besuch ihres ehemaligen Verlobten völlig durcheinander. Und da sie eine gewisse Verwirrung an sich feststellen mußte, ist sie den Weg ins Moor gegangen.« »Sie Lügner!« schrie John. »Aber Sir!« entgegnete Henry entrüstet. »Sie werden uns ins Moor begleiten, Sir«, förderte der Arzt kühl. Wieder vollführte Henry eine hilflose Gebärde. »Sie kennen das Moor nicht, Sir. Sonst wüßten Sie, wie gefährlich nach dem Regen jeder Schritt abseits des Weges ist. Gestatten Sie mir die Bemerkung, daß ich nicht nur für mein eigenes, sondern auch für Ihr Leben fürchte, wenn wir die Gesetze des Moores mißachten.« John konnte sich nicht länger beherrschen. Er tat, was er noch niemals getan hatte. Er packte den Lord an den Aufschlägen seiner Jacke und schüttelte ihn. »Sie Lügner! Sie verdammter Lügner! Wo haben Sie Julia versteckt? Was haben Sie mit ihr gemacht?« Der Arzt legte beruhigend eine Hand auf Johns Arm, und da ließ er den Lord frei, Henry betrachtete ihn mit unverhohlenem Haß. »Ich werde Sie zwingen, die Wahrheit zu sagen«, stieß John hervor. Lord Henry gab keine Antwort. Er senkte die Lider, als wolle er den Ausdruck seiner Augen verbergen. »Kommen Sie, Doktor«, sagte John, der seiner Erregung kaum Herr werden konnte. Der Arzt deutete eine Verbeugung an, setzte seinen Hut auf und verließ mit John Stanford-House. Reglos stand der Lord da, als der Motor des Wagens aufheulte. Dann fuhr er sich mit der Hand über seine dichten Augenbrauen. Ein böses Lächeln erschien um seine Mundwinkel, und plötzlich sah er grausam und teuflisch aus.
Sein Diener trat aus dem Eßsalon und sah ihn fragend an. »Bereiten Sie alles vor, Henry!« befahl der Lord. Der Diener verneigte sich mit unbeweglicher Miene, dann kehrte er in den Raum zurück, aus dem er gekommen war. Der Lord stieg die Marmortreppe und dann die schmale Holztreppe zum Dachboden hinauf. Durch eine zweimalige Drehung des seltsam geformten Türknaufes öffnete er die Bodenkammertür. Er fand Julia auf dem Holzfußboden hockend. Mit beiden Armen hielt sie ihre Knie umschlungen. In ihren Augen lagen Angst und Verzweiflung. »Meine Liebe, ich kann dir kaum mein Bedauern ausdrücken«, sagte er und ging auf sie zu. »Aber es war notwendig, daß ich dich vor dir selbst schützte.« Julia starrte ihn nur an und fand keine Worte für das, was sie in diesem Augenblick empfand. »Liebe Julia, habe ich dir schon erzählt, daß wir heute nach Anbruch der Dunkelheit in der Familienkapelle eine kleine Feier zum Andenken an die Gründung von Stanford-House begehen wollen?« Wieder gab sie keine Antwort. »Meine Liebe«, fuhr Henry mit einem tiefen Seufzer fort, »ich sehe schlimme Zeiten für dich voraus.« Er sagte Julia noch, daß er sie um neun Uhr aus ihrem Zimmer abholen werde und daß er sie bitte, sich festlich zu kleiden. Dann gab er vor, sich seinen Schmetterlingen widmen zu müssen, und ließ sie zurück. Die Tür stand jetzt weit offen, so daß Julia die Bodenkammer verlassen konnte.
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John hatte seine Zähne aufeinandergebissen. Er umklammerte das Steuerrad des Geländewagens so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Der Arzt auf dem Beifahrersitz steckte sich eine Pfeife an und paffte gleich darauf dicke Rauchwolken vor sich hin. Er hatte seine Augen leicht zusammengekniffen, wie immer, wenn er konzentriert nachdachte. »Und was soll ich jetzt tun?« stieß John nach einer Weile hervor. »Ich weiß, daß dieser Lord lügt! Ich glaube ihm nicht!« »Ich auch nicht«, murmelte der Arzt. Plötzlich brach aus der Kiefernschonung zur Linken des Weges ein Reh hervor. John trat mit ganzer Kraft auf die Bremse. Er konnte aber nicht verhindern, daß das Reh den Kühler streifte. Gleich darauf war das Tier im Dickicht verschwunden. »Auch das noch!« Aufstöhnend legte John den Kopf in den Nacken und wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. »Ich bin ziemlich am Ende«, sagte er leise. »Ich fahre weiter. Aber erst müssen wir nach dem Reh sehen. Ich glaube zwar nicht, daß es verletzt worden ist. Aber nachsehen sollte man«, meinte der Arzt. Sie stiegen aus. Der Arzt bahnte sich mit seinen kräftigen Armen einen Weg durch die Kiefernschonung. John lehnte mit dem Rücken am Wagen und hielt seine Augen geschlossen. Ihm war schwindlig. Seit Tagen hatte er kaum geschlafen. Essen konnte er auch nichts. Dieser Lord… dieser verdammte Mensch, dachte John grimmig. Wie ich ihn hasse. Wie ich dieses düstere Moor hasse! Der Arzt kam zurück. Er zuckte die Achseln. »Dem Reh wird nichts passiert sein. Es ist nirgendwo Blut an den Kiefern zu sehen. Auf dem Boden auch nicht. Aber ich
habe etwas anderes entdeckt. Kommen Sie mal mit!« forderte er John auf. John folgte dem Arzt durch das Dickicht. Nach etwa fünfzig Metern kamen sie an ein Holzhaus, das keine Fenster hatte. »Das sieht aus wie eine Garage«, meinte John. »Es ist eine Garage. Kommen Sie. Sie werden staunen«, meinte der Arzt. Sie gingen um das Holzgebäude herum. An einer Seite war es offen. Ein Wagen stand darin. »Sagten Sie nicht etwas von einem Rolls Royce, in dem ihre Verlobte entführt wurde? Hier, da ist ein Rolls Royce«, erklärte der Arzt und wies auf den Wagen. John strich über das silbergraue Heck des Fahrzeugs. »Ja, ich glaube, das ist er. Aber wie kommt er hierher? Das begreife ich nicht.« Er schüttelte nachdenklich den Kopf. »Das weiß ich allerdings auch nicht. Oder doch! Sehen Sie. Hier am Boden sind noch frische Spuren zu erkennen. Außerdem Abdrücke von zwei Paar Sportschuhen. Der Wagen ist durch die Kiefernschonung gefahren. Und irgend jemand muß einen Sinn darin sehen, ihn hier zu verstecken.« John warf einen Blick in den Wagen und rief: »Sehen Sie hier, Doktor! Auf dem Rücksitz liegt die Ausstattung eines halben Modesalons!« Der Arzt betrachtete die Modellkleider, Röcke und Schuhe, die unordentlich auf den Rücksitzen des Wagens lagen. Seine Stirn hatte sich gerunzelt, und er nagte an seiner Unterlippe. »Könnte das Julia Hartfield gehören?« fragte er John dann. In diesem Augenblick krächzte unmittelbar in ihrer Nähe ein Eichelhäher. John war erschreckt zusammengezuckt. »Ruhe, Sie müssen die Ruhe behalten, John«, ermahnte ihn der Arzt. Er wiederholte die Frage, ob die Kleider Julia gehören könnten.
»Ich weiß es nicht, Doktor. Aber nein… ich habe solch ein Abendkleid nie an ihr gesehen. Julia bevorzugt schlichte Kleider und nicht so grelle Farben. Diese grellen Farben würden ihr nicht gefallen. Nein, nein… wenn ich es mir richtig überlege… die Sachen können nicht ihr gehören. Auf keinen Fall.« Der Arzt versuchte, die Tür des Rolls Royce zu öffnen. Aber sie war verschlossen. John maß den Wagen mit feindlichen Blicken. Da entdeckte er auf dem Fahrersitz eine aufgeschlagene Illustrierte. Ein großes Foto zeigte ihn und Julia kurz vor ihrer Verlobung. Ein Reporter der Gesellschaftspresse hatte es zwei Wochen zuvor aufgenommen. John spürte, wie sein Mund ganz trocken wurde. Der Arzt legte eine Hand auf seine Schulter und sagte: »Ja, das ist sie. Julia Hartfield.« »Ich begreife überhaupt nichts mehr!« schrie John. Verzweifelt schlug er mit beiden Fäusten gegen die Fensterscheibe. »Julia ist nicht tot! Sie begeht keinen Selbstmord!« schrie er wie von Sinnen. »Natürlich nicht«, entgegnete der Arzt mit fester Stimme. »Vielleicht hat dieser Teufel sie dazu getrieben? Was rede ich? Nicht einmal der Teufel selbst könnte Julia zum Selbstmord treiben! Der Lord hat sie in irgendein Verließ gesteckt! Oder er hat sie mit Medikamenten vergiftet! Oder er hat sie verrückt gemacht! Ich weiß es nicht! Aber Julia hat keinen Selbstmord begangen!« John schlug seine Hände vors Gesicht. Der Arzt wartete, bis er sich beruhigt hatte. Dann sagte er sehr sachlich, daß sie jetzt zum Wagen zurückgehen sollten. »Gut. Fahren wir«, antwortete John mit rauher Stimme. Er war plötzlich ganz ruhig. Sein Gesicht war ausdruckslos.
Im Auto sah John starr vor sich hin. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine steile Falte. Als sie eine ganze Weile gefahren waren, sagte er unvermittelt: »Wenn das noch so weitergeht, brauche ich bald Ihre Hilfe, Doktor.« »Das geht nicht mehr lange so weiter«, antwortete der Arzt. Er sah auf seine Armbanduhr. »In zwei Stunden sind wir in London. Sie müssen etwas unternehmen, John. Sofort. Sie haben keine Zeit mehr zu verlieren, meine ich.« »Nein, ich habe keine Zeit mehr zu verlieren«, wiederholte John mit harter Stimme. Er würde diesen Teufel zwingen zu sagen, wo er Julia versteckt hielt. Er würde sich an ihm rächen… und wenn es sein Leben kostete…
*
Julia hatte in der Halle, versteckt hinter einer zerstörten Götterfigur, eine altmodische Standuhr bemerkt. An diesem Abend hörte sie die Uhr jedoch zum ersten Mal schlagen. Es waren dumpfe, nachhallende Schläge, die das ganze Haus zu erschüttern schienen. Kaum war der letzte Schlag verklungen, als der Lord of Stanford in ihr Zimmer trat. In jeder Hand hielt er eine Kerze, die in einem kostbaren silbernen Leuchter steckte. Er trug eine seltsame Kleidung. Julia sah ein schwarzes, fein gefälteltes Hemd und darüber eine silbergraue Weste aus Seide. Dazu trug der Lord enge schwarze Hosen, seine Füße steckten in altmodischen Schnallenschuhen.
Ein weites Cape aus schwarzer Seide hatte er lässig über die Schultern geworfen. Mit abfälligen Blicken musterte der Lord Julias schlichtes blaues Kleid und ihre einfachen Schuhe. »Hast du das Fest vergessen, meine Liebe?« fragte er freundlich. »Ich werde dich nicht begleiten, Henry!« erklärte sie energisch. »O doch, meine Liebe, du wirst mich begleiten. Komm.« Wieder vermochte sich Julia diesem zwingenden »Komm« nicht zu entziehen. Ob sie wollte oder nicht… sie mußte dem Lord folgen. Diesmal trug er sie nicht von der Haustür bis zum Eingang der Gruft. Die beiden Leuchter mit den flackernden Kerzen hielt er weit von sich gestreckt. Zu Julias großer Verwunderung blies der Wind die Kerzen nicht aus, obwohl sie ein paarmal so heftig flackerten, als würden sie erlöschen. »Fürchte dich nicht, meine Liebe«, sagte der Lord, bevor er mit Julia die Treppen zur »Kapelle«, wie er die Gruft nannte, hinunterstieg. Als Julia stehenblieb und zögerte, sprach er wieder sein »Komm«, und sie folgte ihm gegen ihren Willen. Das Licht der Kerzen beleuchtete die vom feuchten Moos grünen Wände. Jetzt erst bemerkte Julia, daß nicht nur in dem Altarraum, sondern auch hier im Gang mehrere Grabplatten in die Wand eingelassen waren, auf denen in Stein die Gesichter und Gestalten der verstorbenen Lords und Duchesses of Stanford nachgebildet waren. Auch ein Kind von etwa vier Jahren befand sich darunter. Julia hatte das Gefühl, als lege sich eine Zentnerlast auf ihre Brust. Sie konnte kaum atmen. Um ihren Hals schien eine
Schlinge zu liegen, die sich mit jedem Schritt, den sie dem Lord of Stanford in die Gruft folgte, fester zog. Sie kamen zu dem niedrigen schmiedeeisernen Gitter, das heute weit offen stand. Hinter dem Gitter, wo ein paar Tage zuvor der altarähnliche Aufbau gewesen war, befand sich jetzt ein Podest. Und auf dem Podest erkannte Julia zu ihrem Entsetzen ein unförmiges Gefäß, in dessen Mitte ein rotes, herzförmiges Etwas war. Der Lord kniete nieder. Und nachdem er sein zwingendes »Komm« gemurmelt hatte, folgte Julia seinem Beispiel. Mit Grauen wurde ihr klar, daß die herzförmige Form im Glas mit Blut gefüllt war. Irgendein Mechanismus, den sie von ihrer knienden Stellung aus nicht wahrnehmen konnte, trieb das »Herz« zum Pochen an. Der Lord hatte beide Handflächen auf den Bogen gelegt und hielt den Kopf gesenkt. Er schien Julia ganz vergessen zu haben. Sie suchte mit ihren Blicken das Halbrund der Gruft ab. Wieder schien die steinerne Frau auf der ersten Grabplatte zu lächeln. Vielleicht war es aber auch nur der unterste Kerzenschein, der diesen Eindruck erweckte. Julia dachte an den Chauffeur und Diener. Würde er auch diesmal herkommen? Lord Henry begann an ihrer Seite unverständliche Worte zu murmeln, die in einem lang anhaltende Ton endeten. Eine Gänsehaut kroch über Julias Körper. Sie fror entsetzlich, und ihre Angst wuchs. Lange kniete sie an Henrys Seite. Ihre Glieder wurden allmählich steif. Plötzlich hörte sie klar und deutlich, wie die seltsame Frau sagte: »Liebe Julia, dies ist deine letzte Möglichkeit, deine Pflicht zu erfüllen. Wenn es dir jetzt nicht gelingt, Henry, Lord
of Stanford zu töten, wirst du heute nacht sein Opfer werden. Julia, tu ihm doch den Gefallen! Er möchte dorthin kommen, wo seine Vorfahren sind. Weshalb zögerst du?« Die Stimme klang dumpf und eindringlich. Julia war wie gelähmt. »Ich… ich kann nicht«, flüsterte sie unhörbar. »Dann hast du dein Leben verwirkt. Das ist sehr traurig, Julia.« Julia stöhnte leise auf. Sie erkannte wieder, daß sie nur frei werden würde, wenn sie Henry wirklich tötete! Sie mußte es tun… und diesmal mußte es ihr gelingen! Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, erhob sie sich. »Na also, Julia. Du bist sehr klug«, ermunterte sie die Stimme der Frau. »Hinter dem Glas mit dem Herzen findest du das Stilett. Fürchte nicht, daß Henry deine Absichten erkennt. Er ist mit seinem Geist weit weg. Dort, wohin ihm niemand folgen kann. Und nun handele, Julia…« Julia machte vier kleine Schritte. Sie ging auf Zehenspitzen um das Podest herum. Und da sah sie auch wirklich das Stilett, das sie schon mehrmals in der Hand gehalten hatte. Sie umfaßte es mit festem Griff. Vorsichtig kehrte sie dann an ihren Platz zurück. Leise trat sie hinter Henry, der sich nicht bewegte. Julia sah ihren eigenen Schatten überlebensgroß an den feuchten Wänden der Gruft. Sie wirkte wie ein Wesen aus der Unterwelt. Sie sah, wie ihr Schatten den Arm hob. Lang und spitz ragte das Stilett aus ihrer zur Faust geballten Hand. Mit einem lauten Stöhnen, das sich wie ein Schluchzen anhörte, stieß Julia zu. Und diesmal verfehlte sie ihr Ziel nicht! Der Lord saß sekundenlang, nachdem das Stilett seine Kleidung zerfetzt hatte und tief in seinen Rücken gedrungen war, noch aufrecht. Dann sank er ganz langsam vornüber und schlug mit der Stirn auf den Boden.
In derselben Sekunde ertönte aus dem Hintergrund der Gruft ein schallendes, dumpfes Gelächter. Julia vermochte nicht, sich zu bewegen. Sie war wie an den Boden gebannt. Ihr Entsetzen war so groß, daß sie nicht einmal Angst verspürte. Sie war wie zu Stein erstarrt. Das Gelächter war schaurig. Es schien aus den Tiefen der Gruft zu kommen und schallte von den Wänden wider. Es war schlimmer als ein Höllengelächter. Ganz plötzlich brach es ab. Für einen Augenblick herrschte beklemmende Stille. Eine Stille, in der sie ihren Herzschlag wie ein Dröhnen in den Ohren hörte. Der Lord lag noch immer an derselben stelle. Julia starrte ihn voller Entsetzen an. Sie hatte ihn ermordet. Noch immer konnte sie sich nicht bewegen. Sie sah auf das pochende Herz in dem Glas, auf die Grabplatten mit den steinernen Gesichtern und auf die Kerzen, die fast niedergebrannt waren. Dann öffnete sich ihr Mund. Ihre Erstarrung löste sich in einem gellenden Schrei. Immer noch schreiend stürzte sie aus der Gruft. Sie stolperte, raffte sich wieder auf, stieß gegen die moosfeuchten Wände und hastete weiter. Nur fort von diesem Ort des Todes! Dieser Gedanke hämmerte hinter ihrer Stirn. Als sie ins Freie taumelte und zum Himmel aufsah, war er voller Sterne. Bewußtlos sank Julia zu Boden.
*
Julia wußte nicht, wie sie von dem Eingang der Gruft in ihr Schlafzimmer gekommen war.
Als sie Stunden später aus ihrer Bewußtlosigkeit erwachte und die Augen aufschlug, lag sie in ihrem Bett, neben dem ein Leuchter mit fünf brennenden Kerzen stand. Sofort erinnerte sich Julia an alles, was in der Gruft geschehen war. Wieder ergriff sie das Entsetzen. Sie hatte einen Menschen getötet! Sie war zur Mörderin geworden! Henry wußte, daß sie sich der Polizei stellen mußte. Jede Minute, die sie zögerte, ihr Geständnis abzulegen, erschien ihr wie eine neue Schuld. Sie sprang aus dem Bett und bemerkte, daß sie noch das Kleid trug, das sie auf ihrem Weg zur Gruft angehabt hatte. Ihre Schuhe standen ordentlich vor ihrem Bett. Julia zog sie an und verließ, den Leuchter vor sich her tragend, das Schlafzimmer. Sie ging die Marmortreppe hinunter in die Halle. Julia lauschte. Nur das Heulen des Sturmes war zu hören. Niemals würde sie in einer solchen Nacht den Weg durch Moor und Heide finden. Das wurde ihr in diesem Augenblick mit aller Deutlichkeit bewußt. Trotzdem zog sie die schwere Eingangstür auf. Der Sturm riß sie ihr aus der Hand und schleuderte sie gegen die steinerne Brüstung vor dem Haus. »Aber meine Liebe, willst du Stanford-House bei diesem Wetter wirklich verlassen?« hörte Julia in diesem Augenblick die Stimme Henrys, des Lords of Stanford, fragen. Sie preßte eine Hand auf ihr Herz, das vor, Schreck auszusetzen drohte. Ganz langsam wandte sie sich um und sah den lächelnden Henry vor sich stehen. Ihre Lippen öffneten sich. Aus ihrem Gesicht wich alle Farbe. »Was erstaunt dich so sehr, meine Liebe?« fragte er freundlich. »Du… du bist…«, stieß die heiser hervor.
»Ja, meine Liebe, ich lebe. Es tut mir leid, ich sehe dein Erschrecken… aber laß uns nicht weiter über diesen unliebsamen Vorfall sprechen. Henry hat das Abendessen aufgetragen. Zur Feier des Tages habe ich eine Flasche Burgunder öffnen lassen. Mein Großvater hat den Wein während einer Frankreichreise eingekauft. Und er war ein berühmter Weinkenner, meine Liebe.« Mit diesen Worten reichte der Lord Julia seinen Arm. Sie wich zurück. »Nein… nein«, stotterte sie. Er lächelte kaum merklich. »Komm«, sagte er. Seine Stimme klang befehlend. Julia erschauerte. Ihre Schultern sanken vor. Sie hatte wieder einmal verloren. Henry hatte wieder den Sieg über sie davongetragen. »Entschuldige, wenn ich mich ein wenig mühsam bewege, meine Liebe«, bat er und sah sie lächelnd an. »Aber du kennst ja den Grund.« Wie unter einem Zwang schob Julia ihren Arm unter den Henrys. Und so gingen sie in den Eßsalon. Der Diener zündete bei ihrem Eintreten die Wandlampen an. Auf dem riesigen Tisch brannten in silbernen Leuchtern viele Kerzen. Höflich zog der Lord einen Stuhl für Julia zurück und wartete, bis sie Platz genommen hatte. Darm nahm er den Stuhl ihr gegenüber ein. Henry, der Diener, trat ein und schenkte den tiefroten Wein in hochstielige, kostbare Gläser. Der Lord hob sein Glas und sagte liebenswürdig: »Meine Liebe, ich trinke auf dein Wohl… und auf meine baldige Genesung.« Julias Finger zitterten ein wenig, als sie Henry ihr Glas entgegenhielt. Sie trank einen Schluck von dem schweren
Wein und spürte, wie Henry sie über den Rand seines Glases hinweg genau beobachtete. Die geheimnisvolle Frau hatte gedroht, daß sie den Tod finden werde, wenn es ihr nicht gelang, Henry, Lord of Stanford, zu töten. Hatte Henry vor, sie zu vergiften? Bei diesem Gedanken erstarrte Julia. Ihr Gesicht wurde aschfahl. »Was ist, mein Liebe?« fragte Henry und reichte ihr die Schüssel mit der köstlichen Wildpastete. »Oh, es ist nichts, Henry. Überhaupt nichts“…«, murmelte sie. »Du siehst aus wie eine Tote, meine Liebe. Ich hoffe, du fühlst dich wohl? Du nimmst doch nicht an, daß ich dich vergiften will?« »Wie… wie kommst du darauf?« Julias Stimme klang heiser. Er lächelte gönnerhaft. »Nun, ich brauchte dich nur zu beobachten, als du eben das Glas an die Lippen führtest. Du verstehst die Kunst des Verstellens nicht, meine Liebe. Aber das ist kein Vorwurf! Im Gegenteil… du weißt, wie sehr ich es schätze, wenn eine Frau sich so gibt, wie sie wirklich ist.« Er begann zu essen und forderte Julia auf, doch mehr von der ganz vorzüglichen Pastete zu nehmen. In Julias Augen, die sonst verträumt oder verängstigt geblickt hatten, lag ein harter Glanz. In ihrem Kopf arbeitete es fieberhaft. Sie war fest davon überzeugt, daß dieser Mann ein Mensch gewordener Teufel war. Und sie war besessen von diesem Teufel in Menschengestalt. Sie mußte ihn töten. Alle ihre Versuche, ihn mit dem Stilett zu durchbohren, waren fehlgeschlagen. Wie hatte das sein können? Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Gift! Das war es… sie mußte Henry vergiften. Er liebte Wein – und er sollte durch Wein sterben!
Julia sah die leuchtenden Blüten des Fingerhuts vor sich, die jetzt in der Heide blühten. Große rote Fingerhüte, deren Stiele sich unter den schweren Glocken, die den Tod in sich trugen, seitwärts neigten. »Woran denkst du, meine Liebe?« fragte Henry zwischen zwei Bissen. Prüfend sah er sie an. Julia zwang sich zu einem Lächeln. Es gelang ihr sogar, heiter und gleichmütig zu erscheinen. Sie hatte die Kunst der Lüge und des Verstellens gelernt. »Ich dachte gerade an den morgigen Tag, Henry«, erwiderte sie freundlich. »Es hat aufgehört zu regnen. Meinst du, daß der Boden so fest ist, daß ich einen Spaziergang machen kann?« Der Lord sah auf seine silberne Gabel. »Ich bin davon überzeugt, meine Liebe«, sagte er nach einer Weile. »Und darf ich fragen, wohin du dich begeben willst?« Wieder lächelte Julia, und diesmal gelang es ihr noch besser als zuvor. »Das soll eine Überraschung für dich sein, Henry.« »Vielleicht willst du einen besonders schönen Schmetterling für mich fangen, meine Liebe? Aber denk daran… das Töten von Schmetterlingen kann zu einer Leidenschaft ausarten. Und es ist nie gut, meine Liebe, wenn beide Eheleute von der gleichen Leidenschaft besessen sind.« Julia hob ihm ihr Glas mit dem blutroten Burgunder entgegen. »Ich verrate nichts, Henry. Bitte sei so freundlich und reiche mir etwas von dem kalten Braten. Er ist ganz ausgezeichnet. Ich werde Henry fragen, welche Kräuter er dazu verwendet hat.« »Ja, Henry ist ein ganz besonderer Diener. Man kann ihn zu allem gebrauchen. Er ist in seiner Funktion als Diener sogar ein Genie. Hoffentlich verläßt er uns nie, meine Liebe!« erklärte der Lord. »Das wäre schade, Henry. Ein so hervorragender Diener…«
Julia spürte, wie ihr der Wein zu Kopf stieg. Sie wußte, daß schon eine geringe Menge an Alkohol bei ihr genügte, um sie todmüde zu machen und sie bald in tiefen Schlaf fallenzulassen. Es bestand aber keine Gefahr, daß sie durch Alkohol redselig wurde. Im Gegenteil, sie wurde stumm wie ein Fisch. Lord Stanford schenkte ihr zum drittenmal den kostbaren Kelch voll Wein. »Du bist heute sehr heiter, meine Liebe«, sagte er. »Darf ich den Grund dafür erfahren?« Julia lächelte vieldeutig. »Es gibt Tage der Heiterkeit und Tage der Trauer, Henry!« sagte sie geheimnisvoll. Dann spürte sie, wie ihre Glieder immer schwerer wurden. Bald konnte sie kaum noch den Arm heben, um den Weinkelch an ihre Lippen zu führen. »Du siehst sehr müde aus, meine Liebe«, sagte Lord Henry plötzlich. »O ja… ich bin schrecklich müde«, sagte sie mühsam. »Entschuldige, wenn ich in mein Zimmer gehe, um mich schlafen zu legen, bevor Henry das Dessert bringt.« Der Lord erhob sich sogleich. Er legte die Serviette aus feinstem Batist neben sein Gedeck und schob Julias Stuhl zurück. Er deutete eine förmliche Verbeugung an und öffnete ihr die Tür. »Soll ich dich zu deinem Zimmer begleiten?« fragte er. »Nein, danke, Henry. Die Kerzen brennen in der Halle. Ich kenne den Weg inzwischen.« Wieder verneigte sich der Lord formvollendet. Er sah Julia nach, wie sie die Treppe hinaufstieg. Sie hielt sich sehr aufrecht. Ihre rechte Hand umklammerte das vergoldete Geländer. Kaum hatte sie den obersten Treppenabsatz erreicht, als der vielarmige venezianische Kronleuchter, der nur noch mit
dünnen Drähten an der Decke befestigt gewesen war, mit lautem Getöse zu Boden stürzte. Es gab ein ohrenbetäubendes Klirren, als das Glas zerbrach. Es war fast ein Zentner verarbeitetes Glaswerk. Julia war vom Schreck wie gelähmt. Das Grauen war zu groß. Stanford-House war die Hölle. Und der Lord war der Meister, der in dieser Hölle herrschte. Die vielen Kerzen waren durch den Sturz des Kronleuchters erloschen. Es war stockfinster. Julia klammerte sich noch immer an das Treppengeländer. Plötzlich war ein lautes, tiefes Lachen zu hören. Es war anders als das Lachen der unheimlichen Frau. »Henry?« rief Julia mit bebender Stimme. »Bist du das?« »Ja, meine Liebe! Ich muß so schrecklich lachen. Sage selbst… war das nicht köstlich?« Er eilte in den Eßsalon und kam mit einer Kerze, die er aus einem der fünfarmigen Leuchter genommen hatte, in die Halle zurück. Die Flamme beleuchtete sein fratzenhaft wirkendes Gesicht. Julia entfuhr beim Anblick dieses Gesichtes ein Schreckensschrei. Der Lord hielt die Kerze von sich und rief: »Sieh doch, Julia! Weißt du, daß der Kronleuchter vor vierhundertdreiundzwanzig Jahren von dem vierten Lord of Stanford mit den allergrößten Mühen von Murano nach Stanford-House gebracht wurde? Sollte ich dir wirklich nicht davon berichtet haben? Sogar Richard II, der zu jener Zeit sein Schreckensregiment über England ausübte, soll vor Neid erblaßt sein. Und jetzt… ist das nicht komisch… regt es dich denn gar nicht zum Lachen an? Jetzt liegen Tausende von Scherben auf dem Boden. Vierhundertdreiundzwanzig Jahre hat der Kronleuchter in Stanford-House gehangen. Drei Jahre lang haben fünf venezianische Glasbläser gebraucht, bis sie dieses Kunstwerk fertiggestellt hatten. Und nun… sieh doch,
meine Liebe. Sieh doch!« Wieder brach er in lautes Lachen aus. Angeekelt wandte sich Julia ab. Bevor sie die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich schloß, hörte sie Henry noch einmal gellend schreien: »Sieh doch, meine Liebe! Vierhundertdreiundzwanzig Jahre! Sie liegen in Scherben!« Julia preßte ihre Hände auf die Ohren, um diese furchtbare Stimme nicht mehr hören zu müssen. Dann legte sie sich auf ihr Bett und zog noch die Decke über ihren Kopf. Endlich war Stille. Ich muß aufstehen und mich ausziehen, dachte sie schläfrig. Aber ihre Glieder waren schwerer als Blei. Sekunden später war sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf gefallen. Es war die erste Nacht auf Stanford-House, in der Julia nicht von der seltsamen Frau den Auftrag erhielt, Henry, Lord of Stanford, zu töten.
*
Am folgenden Tag schien eine strahlende Sonne. Am azurblauen Himmel war kein einziges Wölkchen zusehen. Als Julia gleich nach dem Aufstehen aus dem Fenster blickte, war sie davon überzeugt, daß ihr an einem solchen Tag alles gelingen müßte. Der Lord hatte bereits gefrühstückt, als Julia in den Eßsalon trat. Auf seinem Frühstücksteller lagen Toastkrümel, und seine Tasse war noch halb mit schwarzem Kaffee gefüllt. Der Diener Henry räumte das benutzte Geschirr bei Julias Eintreten fort.
»Ich hätte so gern eine Frage an Sie gestellt, Henry«, sagte Julia. Sie zwang sich zur Höflichkeit. »Aber ich unterlasse es doch wohl besser, denn ich werde ja keine Antwort von Ihnen erhalten. Sie haben außerordentliche Vorzüge. Aber ich bin der Meinung, ein Diener sollte ab und zu ein Wort sprechen. Nein, Henry, in meinem Haus, das ich einmal mit John beziehen werde, sind Sie nicht erwünscht. Ich kann stumme Menschen nicht ertragen. Nun sehen Sie mich doch wenigstens an!« Julia stampfte zweimal mit dem Fuß auf, wie sie es früher getan hatte, wenn sie zornig oder ungeduldig gewesen war. Der Diener hatte mit gesenktem Kopf vor ihr gestanden. Jetzt hob er, wie sie es befohlen hatte, seinen Kopf. Der Blick seiner Augen war kälter als Eis. Seine Wangen waren fahl, und sein Mund war schmaler als ein Strich. Welch ein abscheulicher Mensch, dachte Julia. Sie sagte aber nichts, sondern wandte sich ab. Julia begab sich in den Vorraum des Badezimmers, in dem Schränke standen, die voller Kleider, Mäntel und anderer Kleidungsstücke waren. Sie nahm einen Wettermantel heraus und verließ das alte Herrenhaus. Der Wind kam an diesem Tag von der Heide. Er war frisch und belebend und hatte nichts von der feuchten Wärme des Moorwindes. Unwillkürlich lächelte Julia. Sie atmete tief die frische Luft ein. Sie hatte das Gefühl, als habe sich während der vier Tage, die sie in Stanford-House verbracht hatte, in ihrer Lunge Staub angesammelt. Julia hielt ihr Gesicht dem Wind entgegen und ging den Pfad, der etwas abseits des Weges in die Heide führte, entlang. Ein Vogel flatterte dicht vor ihr auf. Irgendwo trällerte eine Lärche.
Nachdem Julia etwa eine Viertelstunde gegangen war, sah sie vor sich die allerschönsten Fingerhüte blühen. Es war wie ein rotes wogendes Meer. Julia eilte darauf zu. Sie begann, die dicksten Stengel zu pflücken. Einige Glocken waren schon verblüht und fielen ab, als sie die Stengel abbrach. Andere waren noch in der Knospe. Henry, Lord of Stanford… ich weiß, daß ich etwas Schreckliches tue, dachte Julia. Aber ich kann nicht anders. Du hast mir keine Wahl gelassen. Glaube mir, ich wollte dich nicht töten. Plötzlich raschelte es dicht neben Julia. Entsetzt sprang sie zur Seite. Drei Schlangen ringelten sich im weißen Heidesand. Die größere der Schlangen glitt auf Julia zu, so daß sie ängstlich die Flucht ergriff. Als sie sich umblickte, konnte sie von den Tieren nichts mehr entdecken. Ihr Herz schlug heftig, und sie zitterte vor Angst. Waren diese Tiere gefährlich? War ihr Biß tödlich? Sie zählte die Anzahl der Blumen in ihrer Hand. Es waren fünf Stengel… zu wenig, um einen tödlichen Sud daraus zu bereiten. Julia wußte nicht einmal mit Sicherheit zu sagen, wie ein Sud aus Fingerhüten wirkte. Irgend jemand hatte ihr einmal auf einer Party erzählt, daß Katharina von Medici, die man während ihrer Zeit nur »die Giftmischerin« genannt hatte, ihren todbringenden Getränken den geschmacklosen Sud von Fingerhüten beigegeben hatte. Julia hatte damals nicht genau zugehört, und das bedauerte sie jetzt sehr. Beschleunigte oder verlangsamte der Saft frisch ausgepreßter Fingerhüte die Herztätigkeit? Sie erinnerte sich aber noch genau, daß der Erzähler ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß die Opfer keine Schmerzen zu erleiden hatten.
Julia sah zu ihren Füßen hinunter. Das dichte Heidekraut enthielt für sie plötzlich tausend unbekannte Gefahren. Hinter jeder Pflanze konnten wieder Schlangen hervorkriechen und sie durch einen Biß töten. Und dennoch… Julia wußte, daß sie die einzige Möglichkeit, Stanford-House zu entfliehen, nur hatte, wenn sie Henry tötete. Es war kein Mord… es war Notwehr. Sie hatte in diesem Haus bereits Schreckliches erlebt. Julia konnte jedoch nicht verhindern, daß es in ihrem Kopf ununterbrochen hämmerte: Mörderin, Mörderin, Mörderin… Ihre Sicherheit war nach dem Auftauchen der Schlangen vergangen. Sie würde wieder von Skrupeln geplagt. Vielleicht würde sie für ihre Tat mit ihrem Leben büßen müssen? Mit zitternden Händen pflückte Julia noch weitere Fingerhutpflanzen ab. Ein Stiel war so zäh, daß sie sich dabei in die Hand schnitt. Unwillkürlich führte Julia die Wunde an ihre Lippen. Gleich darauf ließ sie erschrocken ihre Hand sinken. Wenn das Gift jetzt nicht nur in diesen wunderschönen blutroten Glocken, sondern auch in den dickfleischigen Stengeln war? Wenn sie sich jetzt selbst vergiftet hatte? Kalter Schweiß trat auf Julias Stirn. So schnell sie konnte, lief sie zum Weg zurück. In der Eile trat sie immer wieder in Pfützen, so daß ihre Schuhe ganz durchweicht waren, als sie den festen Boden des Weges erreicht hatte. Ihr Atem ging keuchend. Wenn ihr jetzt der Lord oder der Diener begegneten! Jeder von den beiden würde sofort wissen, was sie mit den Fingerhüten beabsichtigte. Julia war fest davon überzeugt, daß sie nichts vor dem Lord und seinem stummen Diener geheimhalten konnte. Grau schimmerte die Fassade von Stanford-House zwischen dem dichten Blätterwerk der alten Bäume hervor. Wieder
überlegte Julia, wo wohl der Rolfe Royce stehen mochte. Seit sie in diesem Wagen nach Stanford-House gekommen war, hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Hinter dem Haus, fast verdeckt von Strauchwerk, lag die Gruft. Die »Kapelle«, wie Henry, der Lord of Stanford, sie nannte. Als Hintergrund dieser düsteren Silhouette diente das schwarze, tödliche Moor, das sich bis zum Horizont dehnte. Obwohl es ganz ruhig lag, hatte Julia doch das Empfinden, als streckten sich gierige Finger aus dem sumpfigen Boden, die jeden Menschen, der sich in die Nähe wagte, in die tödliche Tiefe zogen. Je mehr sich Julia dem Haus näherte, desto langsamer wurden ihre Schritte. Von dem Lord und seinem Diener war jedoch keine Spur zu entdecken. Trotzdem fühlte Julia ihre prüfenden und beobachtenden Blicke auf sich gerichtet. »Vielleicht bin ich schon verrückt«, murmelte sie vor sich hin. Sie durchquerte den Park und stemmte sich gegen die schwarze, reichgeschnitzte Eingangstür, die sich knarrend öffnete. Bevor Julia die Halle betrat, fiel ihr zum erstenmal im Mauerwerk neben der Tür ein Klingelknopf auf. Er befand sich in dem Kopf eines reißenden Wolfes, der in den Stein gehauen war. Julia hielt inne und preßte, bevor sie überlegte, daß sie damit den Lord oder den Diener herbeirief, ihren Finger auf die Klingel. Je mehr sie darauf drückte, desto stärker traten die Augen des Wolfes, grünschimmernde, mordlüsterne Augen, aus dem Kopf hervor. Erschauernd wandte Julia sich ab und ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Dann blieb sie in der Halle stehen. Sie lauschte in die Stille hinein.
Weshalb hatten sich der Herr und sein stummer Diener versteckt? Beabsichtigten sie, sie ihre Tat erst einmal vorbereiten zu lassen, um sie dann um so sicherer überführen zu können? Wollten sie, daß sie, Julia, in ihre Netze ging? Daß sie beobachtet wurde, dessen war sich Julia ganz gewiß. »Henry, Lord of Stanford!« rief sie laut. Weit und breit war niemand zu sehen oder zu hören. »Henry, du stummer Diener!« gellte Julias Ruf. Sie lauschte mit angehaltenem Atem und leicht geöffnetem Mund. Wieder gab ihr niemand eine Antwort. Keine Tür öffnete sich. Sie war und blieb allein in der großen Halle. Die Scherben des Kronleuchters lagen noch da. Der Diener und Chauffeur hatte es nicht für nötig befunden, die unzähligen Glassplitter beiseite zu räumen. Julia zögerte. Sie begann zu überlegen, wo und wie sie am besten den Sud aus den Fingerhüten preßte. In ihrem Schlafzimmer? Da konnte sie zu leicht gestört werden. Im Eßsalon? Das ging auch nicht. Die anderen Räume, die ihr unbekannt waren, wagte sie nicht zu betreten. Also blieb nur noch der Dachboden. Schon bei dem Gedanken an diesen Raum spürte Julia, wie ihre Knie zu zittern begannen. Ihr Magen zog sich krampfartig zusammen. Julia, du hast jetzt keine Angst und tust, was zu tun ist! herrschte sie sich selbst an. Sie ging um den Scherbenhaufen herum und stieg die Marmortreppe hinauf. Vorsichtig schlich sie über den langen Flur und drehte den Türknauf neben der Tür zum Schlafzimmer des Lords zweimal herum, so daß die Tür aufsprang. Vor Julia lag die staubige Bodentreppe. Immer wieder lauschte Julia. Folgte ihr wirklich niemand? Plötzlich sah sie, daß auf den Holzstufen unter ihr zwei Blüten
lagen, die von den Stielen abgefallen waren. Sie erschrak in tiefster Seele. Wenn sie auch auf der Marmortreppe oder in der Halle Blüten verloren hatte? Damit hätte sie ihren Verfolgern eine richtige Spur gelegt! Julias Verwirrung und Angst steigerten sich noch. Sie legte den Strauß auf die oberste Stufe der Bodentreppe und eilte noch einmal in die Halle hinunter. Sie sammelte sechs Glockenkelche auf, die sie verloren hatte. Einer der Kelche hatte auf dem Kinderkopf aus Marmor gelegen, der am ersten Abend ihres Aufenthalts auf StanfordHouse eine so große Erschütterung in ihr ausgelöst hatte. Mit hoch im Hals klopfendem Herzen stürmte Julia zur Bodentreppe zurück. Es war ihr plötzlich gleichgültig, ob sie Lärm verursachte. Sie glaubte nicht mehr an ein Gelingen ihres Planes und führte ihn nur noch mechanisch aus, weil sie darauf so viele Hoffnungen verschwendet hatte.
*
Mit dem Strauß Fingerhüte in der Hand betrat Julia den Bodenraum. Zu ihrem großen Erstaunen war das Glas in der Dachluke, das sie eingeschlagen hatte, durch ein neues ersetzt worden. Das berührte sie um so seltsamer, weil sonst niemand auf Stanford-House einen Schaden reparierte oder auch nur etwas beiseite räumte. Julia schloß nicht einmal die Tür hinter sich. Suchend blickte sie sich nach einem Gefäß oder einem harten Gegenstand um, der dazu geeignet war, den Saft aus den Glocken zu pressen.
Sie fand schließlich eine Tonschale, die Ähnlichkeit mit einem Gefäß besaß, das Julia in einer Ausstellung von ägyptischer Kunst bewundert hatte. Nach längerem Suchen entdeckte Julia auch einen eisernen Mörser mit einem Stößel. Zuerst säuberte sie den Mörser von Schmutz und Staub. Dann stellte sie alles auf eine Marmorplatte, die sie von einem wackligen Tischchen genommen hatte, und begann mit ihrer Arbeit. Als sie die blutroten Kelche von den Stielen der Fingerhüte zupfte, bemerkte sie, daß der Chauffeur und Diener des Lords in der Tür stand. Sofort hielt sie inne. Sie wurde leichenblaß, als habe sie den Saft, den sie aus den Blüten preßte, selbst getrunken. Der Diener maß sie mit unbeweglicher Miene. Auch er war ungewöhnlich bleich. Ganz langsam erhob sich Julia aus ihrer kauernden Stellung. Sie bebte am ganzen Körper. »Was… was tun Sie hier?« flüsterte sie. Der Diener gab keine Antwort, sondern hielt den Blick weiterhin unverwandt auf sie gerichtet. »Sprechen Sie doch! Sagen Sie endlich etwas, Sie seltsames Gespenst! Ich hasse Sie, ich hasse Sie!« schrie Julia außer sich. Sie konnte sich nicht länger beherrschen. Seit Stunden waren ihren Nerven zum Zerreißen gespannt gewesen. Jetzt hielten sie der Belastung einfach nicht mehr stand. Der Diener senkte die blassen Lider. Als Julia sah, daß er sich stumm und mit einem Ausdruck von Verachtung umwenden wollte, stürzte sie ihm nach. »Henry!« keuchte sie. »Sie sind unerträglich!« Er sah sie nur mitleidig an.
»Nicken Sie, wenn Sie stumm sind! Geben Sie irgendein Zeichen, daß Sie mich verstehen! Ich… ich werde sonst verrückt!« Julias Schrei war in ein Flüstern übergegangen. Der Mann erlaubte sich ein kaum merkliches Lächeln, das aber den Ausdruck von Verachtung auf seinem Gesicht nur verstärkte. Dann stieg er die Treppe hinunter, ohne Julias Protest weiter zu beachten. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Sie war zu entsetzt, um Erleichterung in Tränen zu finden. Alles in ihr war wie erstarrt. Außer sich rannte Julia zu den Fingerhüten und ihren Geräten zurück. Wie eine Besessene begann sie, mit dem Stößel die Glocken der Fingerhutpflanzen im eisernen Mörser zu zerstoßen. Bald waren die Blüten nur noch ein klebriger blutroter Brei. Verzweifelt dachte Julia, daß es ihr nie gelingen würde, auch nur ein wenig Saft aus den Blüten zu pressen. Aber sie gab nicht auf. Und wenn ihr Tun sie selbst vernichtete, sie mußte zu Ende führen, was sie sich vorgenommen hatte. Sie konnte nicht anders.
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Fast zwei Stunden blieb Julia in dem Bodenraum. Ohne aufzublicken stieß sie den eisernen Stößel immer wieder in das Gefäß. Ihr Arm schmerzte. Ihr Herz hämmerte fast so laut wie der Stößel, wenn er in den eisernen Mörser stieß. Ihr Atem ging keuchend. In Julias Augen lag ein kalter Glanz. Dann endlich, nachdem sie die letzten Glocken von den Stielen gerupft und zu Brei zerstoßen hatte, konnte sie sechs oder sieben Tropfen Saft von dem Eisenmörser in die Schale schütten.
Jetzt erst merkte Julia, daß ihre Stirn klitschnaß war und ihr Haar an den Wangen klebte. Ihre Hände rochen scheußlich. Sie trug die Schale mit dem Saft in ihr Schlafzimmer und versteckte sie in der Schublade des Sekretärs, in der sie wenige Tage zuvor alte Fotos von sich gefunden hatte. Danach ging sie in das Badezimmer und nahm ein heißes Bad. Sie wusch sich die Haare und kleidete sich mit großer Sorgfalt an. Sie wählte ein tiefrotes Kleid mit rundem Ausschnitt. Um den Hals legte sie einen kostbaren Spitzenschal. Passend zu dem Kleid fand Julia ein Paar rote Sandalen mit halbhohen Absätzen. Ihr Haar ließ sie offen auf ihre Schultern fallen. Sie handelte wie unter einem fremden Willen. Als sie sich im Spiegel betrachtete, kam sie sich ganz verändert vor. Sie überlegte, was diese Veränderung ausmachte. Und plötzlich wußte sie es! Sie war kein unbefangenes, hübsches, junges Mädchen mehr. Ihrem Gesicht war anzumerken, daß sie gelitten hatte. Das Leuchten in ihren Augen war einem harten Glanz gewichen. Sie war während der vier Tage auf Stanford-House zu einer Frau herangereift, die genau wußte, was sie wollte, und die keine Sekunde zögerte auszuführen, was sie für richtig und notwendig hielt. Angst und Grauen waren ihre Lehrmeister gewesen! Als sie wieder in die Halle trat, sah Julia, daß der Diener damit beschäftigt war, im Eßsalon den Tisch für das Dinner zu richten. Er mußte ihre Schritte gehört haben. Doch er wandte sich ihr nicht zu. Julia stieg die Marmortreppe wieder hinauf und holte die Schale mit dem Gift. Sie ging damit dann in den Eßsalon.
Der Diener hatte für zwei Personen gedeckt. In kostbaren Kelchen schimmerte roter Wein. Julia trat hinter den Stuhl von Henry. Hastig sah sie sich um. Dann hob sie ganz langsam die irdene Schale über Henrys Weinkelch und goß den Fingerhutsaft in sein Glas. Dann versteckte sie die Schale auf dem Fußboden hinter einem der schweren Samtvorhänge. Sie betrachtete ihr Werk. An der Farbe des Weines war kein Unterschied zu bemerken. Während Julia noch sinnend vor der Tafel stand, trat der Lord ein. »Entschuldige, daß ich mich verspätet habe, meine Liebe«, sagte er freundlich. »Sieh einmal, ich habe heute einen wahren Schatz gefangen.« Mit diesen Worten öffnete er eine flache, große Schachtel, die er in der Hand gehalten hatte. Julia stieß einen langen Seufzer aus. In der Schachtel lag der schönste Schmetterling, den sie je gesehen hatte. In seinen hauchzarten Flügeln vermischten sich die leuchtendsten Sonnenfarben. Sein Körper war aus reinstem Purpur. »Ein Wesen wie aus dem Paradies«, sagte Henry, Lord of Stanford, ehrfürchtig. »Er lebt ja noch!« rief Julia entsetzt, als sie bemerkte, daß der schöne Schmetterling versuchte, mit seinen sonnenfarbenen Flügeln zu schlagen. »Selbstverständlich lebt er noch, meine Liebe. Alle meine Schmetterlinge haben noch gelebt, bevor ich sie auf die Nadeln steckte. Ach, meine Liebe, du wirst meine Leidenschaft nie nachempfinden können. Ich zeige dir, wie er langsam stirbt.« Mit diesen Worten holte der Lord eine spitze Nadel aus Elfenbein aus seiner Jackentasche. »Nein, bitte nicht!« schrie Julia auf. Tränen traten in ihre Augen und rannen über ihre bleichen Wangen.
»Aber Julia, meine Liebe«, sagte der Lord mit erstauntem Lächeln. »Ich bitte dich sehr… tue es nicht, Henry«, bat sie flehend. Er zuckte die Schultern und ließ die Schachtel zuklappen. »Deine Nerven sind erholungsbedürftig, meine Liebe. Aber ich werde deinen Wunsch erfüllen und den Schmetterling später töten. Ah… Henry hat schon Wein eingeschenkt. Ich bin hungrig und durstig, meine Liebe.« Mit diesen Worten nahm Henry an der Tafel Platz.
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Julia setzte sich dem Lord gegenüber. Sie gab sich alle Mühe, ruhig und gelassen zu erscheinen. Aber um ihre Mundwinkel zuckte es, und ihre Hand zitterte leicht. Henry hielt ihr sein Weinglas entgegen. »Auf das Leben, liebe Julia«, sagte er und sah sie dabei so prüfend an, daß sie meinte, alles Blut weiche aus ihrem Herzen. Sie vermochte nicht zu antworten, und ihr Lächeln geriet zur Grimasse. Der Lord lächelte um so strahlender. Ihm schien nicht aufzufallen, wie verkrampft Julia war, obwohl ihm sonst keine ihrer Regungen entging. Er trank den Weinkelch in einem Zug leer. »Ein köstlicher Burgunder. Mich wundert nur, daß Henry ganz gegen seine Gewohnheit – und gegen meine Anordnung – den Wein schon serviert hatte.« Julia nahm einen einzigen Schluck von dem Burgunder. Sie hatte das Gefühl, reines Gift zu trinken.
»Köstlich, nicht wahr, meine Liebe?« fragte Henry und kniff seine Augen zusammen. »Ja«, flüsterte Julia und senkte die Lider. Henry nahm sich von dem Wildschweinbraten und goß aus einer silbernen Soßenschale etwas Cumberlandsauce darüber, die die Farbe von Blut hatte. »Ausgezeichnet, die Sauce«, sagte er dabei. Julia glaubte plötzlich zu bemerken, daß seine Bewegungen langsamer wurden. Sein Gesicht bekam eine fahle Blässe. Sie starrte ihn unverwandt an. »Hörst du es nicht?« fragte er heiser und neigte seinen Kopf zur Seite. Julia schüttelte den Kopf. Ihr Mund war wie ausgetrocknet. »Wir bekommen Besuch«, fuhr Henry, Lord of Stanford, flüsternd fort. Julia gab sich Mühe, irgendein Geräusch zu vernehmen. Es gelang ihr jedoch nicht. »Sie kommen…«, flüsterte Henry. Er sah Julia an, und in seinen Augen lag so abgrundtiefer Haß, daß sie fürchtete, er würde gleich aufspringen und sie töten. Henry sprang tatsächlich auf. Er stieß seinen Stuhl dabei so heftig zurück, daß dieser krachend zu Boden fiel und eine Leiste von der Lehne brach. »Sie kommen!« schrie der Lord jetzt außer sich. Noch immer konnte Julia nichts hören. Sie war fest davon überzeugt, daß das Gift, das Henry mit dem Wein getrunken hätte, seinen Verstand verwirrt hatte. Sie erhob sich ebenfalls. Ihre Knie zitterten, und sie ließ keinen Blick von dem erregten Mann. »Sie kommen! Sie kommen! Henry! Sie kommen!« Henry stürmte in die Halle. Er stieß mit dem Fuß die Glasscherben beiseite, trat auf den kleinen Kinderkopf aus Marmor und
schrie immer wieder: »Henry, Henry! Sie kommen! Henry, sie kommen!« Aber der Diener, der sonst auf den leisesten Wink seines Herrn gehört hatte, ließ sich nicht blicken. Als der erregte Lord einen Augenblick zu schreien aufhörte, glaubte auch Julia, das Geräusch eines nahenden Wagens zu hören. »Henry, sie kommen!« Die Stimme des Lords erstarb bei den letzten Silben und sank zu einem heiseren Flüstern herab. Julia stand noch immer wie erstarrt neben ihrem Stuhl und hielt die Lehne so fest mit beiden Händen umklammert, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Plötzlich kam Henry mit schlurf enden Schritten in den Eßsalon zurück. Seine Augen waren unnatürlich geweitet. Er starrte auf den leeren Weinkelch. In seinem Gesicht zuckte es. Er hob seine Hand an die Wangen, als wolle er diesem Zucken Einhalt gebieten. Aber das Zucken setzte sich über das ganze Gesicht fort. Seine Zähne schlugen plötzlich wie im Schüttelfrost aufeinander. Seine Nasenflügel bebten. Sogar seine Hände, die er zu Fäusten geballt hatte, zuckten. Der Motorenlärm war lauter geworden und schließlich verstummt. Gleich darauf klang das schrille Läuten der Glocke durch die schreckliche Stille des Hauses. »Das… das sind… sie«, hauchte Henry mit bleichen Lippen. Mit aller Kraft, die noch in ihm war, riß er Julia an sich. Sie versuchte, sich zu wehren. Aber Henry hatte noch genug Kräfte, um sie in seiner Gewalt zu halten. Sie vermochte nichts gegen ihn auszurichten. Er zwang sie, ihm in die Halle zu folgen. »Henry!« gellte sein Schrei. Julia zuckte zusammen. Der Lord gebärdete sich wie ein Wahnsinniger.
Aber der Diener erschien nicht. Wieder schrillte die Türglocke, und eine laute Männerstimme rief einen Befehl, der aber nicht zu verstehen war. Der Lord hielt Julias Arm nach hinten. Er schob sie wie einen lebenden Schild vor sich her. Sein heißer Atem streifte ihren Hals, so daß Julia ihren Kopf angeekelt zur Seite neigte. Als jetzt von draußen wieder die gebieterische, tiefe Männerstimme zu hören war, streckte der Lord seinen starken Arm an Julia vorbei und öffnete die schwere Tür einen Spalt. Sogleich wurde sie aufgestoßen, und vier Männer drangen ins Haus ein. Einer von ihnen war John Barrow. »John!« schrie Julia außer sich. »Julia, meine geliebte Julia!« John wollte zu ihr stürzen. Aber plötzlich hielt Henry, Lord of Stanford, eine Pistole in der Hand und richtete sie auf John. »Keinen Schritt weiter«, sagte er leise, als koste es ihn große Mühe. Die Tür fiel hinter den vier Männer ins Schloß. »Julia…«, flüsterte John. Zärtlich streckte er seine Hände nach ihr aus.
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Henry, Lord of Stanford, war weiter in die Halle zurückgewichen. Er stieß gegen einen Arm des heruntergestürzten Kronleuchters und wäre fast mit Julia, die er noch immer an sich gepreßt hielt, zu Boden gestürzt. »Bleiben Sie stehen!« befahl er den vier Männern. Julia erstarrte.
Henry hatte die Stimme der unheimlichen Frau, die wie die ihre, nur etwas dunkler war. »Wir wissen, wer Sie sind, Lord of Stanford!« sagte er Mann, der dem Lord vor der verschlossenen Tür den Befehl zugerufen hatte, sie unverzüglich einzulassen. Doch der Lord lachte heiter und fröhlich auf. Es war das Lachen der Frau, das Julia während der Nacht und in der Gruft gehört hatte. Bewegungslos hing sie in Henrys Armen. Es war zu schrecklich, was sie hörte. John hielt plötzlich ebenfalls eine Pistole in der Hand. »Stecken Sie die Waffe weg, Barrow«, bat der Mann freundlich, der offensichtlich die Befehlsgewalt innehatte. John gehorchte nur widerwillig. Unsagbarer Haß drückte sein schmales, sonst so beherrschtes Gesicht aus. Der unscheinbarste der vier Männer wandte sich an den Lord of Stanford. »Wir sind nicht gekommen, um Ihnen etwas zuleide zu tun. Aber Sie werden sicherlich verstehen, daß wir nach allem, was Mr. John Barrow uns über seine Verlobte erzählt hat, unsere Pflicht erfüllen und Julia Hartfield nach London zurückbringen müssen.« »Wer sind Sie?« keuchte Henry. Er hatte jetzt wieder seine normale Stimme. Milde lächelnd erwiderte der Mann: »Aber Sie wissen doch so gut wie wir, daß wir Kriminalbeamte sind. Wir kennen uns doch, nicht wahr?« Wieder lachte Henry das helle Frauenlachen, das Julia das Blut in den Adern erstarren ließ. »Ach ja, ich erinnere mich jetzt«, rief er mit der Stimme der Frau, »es war während einer Sitzung im Unterhaus, als ich einen Abgeordneten imitierte und große Verwirrung schuf. Das war köstlich, wirklich köstlich!« »Ja, das war wohl köstlich«, stimmte der Mann liebenswürdig zu. »Und es hat lange gedauert, bis wir den
Grund für die allgemeine Verwirrung fanden. Denn wer kam auch schon darauf, daß Sie die Kunst des Bauchredens so vollendet beherrschen?« »Sie unterschätzen mich schon wieder, mein Herr!« rief Lord Henry empört und ahmte wieder die Stimme der Frau nach. »In erster Linie bin ich Hypnotiseur… warten Sie, ich gebe Ihnen gleich einen Beweis meiner Kunst.« Seine Stimme war immer leiser geworden, und Julia merkte, daß der Griff seiner Arme sich lockerte. »Komm… komm mit mir, Julia«, flüsterte er. Aber seine Worte hatten ihre magische Kraft verloren. Julia bewegte sich nicht, und als er sie mit sich ziehen wollte, widerstand sie ihm. Der Lord hielt den Lauf seiner Pistole an Julias Schläfe. »Es… es geht nicht mehr. Ich… ich bin am Ende«, flüsterte er. »Ja, Sie sind am Ende!« bestätigte John laut und machte wieder einen großen Schritt auf ihn und Julia zu. Der Lord lächelte böse. In seinem Gesicht zuckte es. Er taumelte. »Ich schieße… ich schieße«, flüsterte er. Und selbst jetzt gelang es ihm noch, seiner Stimme den hellen, heiteren Klang der Frau zu verleihen. Keiner der Männer wagte sich zu bewegen. »Sie… sie hat mich vergiftet«, keuchte Henry, Lord of Stanford. Julia schrie auf. Der Pistolenlauf preßte sich schmerzhaft an ihre Schläfe. »Es war dein eigener Befehl, dich zu töten!« rief sie, während sie mit weit aufgerissenen Augen auf John starrte. »Ich? Meine Liebe, ich bin kein Gespenst!« In diesem Augenblick wurde eine der Türen geöffnet, die von der Halle abgingen.
Der Diener und Chauffeur trat heraus. Aber er war nicht allein. Ihm folgte eine Frau in einem langen weißen Gewand. Lord Henry stieß einen gurgelnden Laut aus. Seine linke Hand krallte sich um Julias Arm. »Ja, ich bin es, Henry«, sagte die Frau. Sie hatte nicht nur Julias Stimme, sondern sah genauso aus, wie Julia in zwanzig Jahren einmal aussehen würde. Sie war noch immer schön. Ihre schwarzen Haare hatten einen silbernen Schimmer, und über ihr schmales Gesicht hatte sich ein feines Netzwerk von Fältchen ausgebreitet. »Du denkst, du hast mich damals getötet, Henry?« fuhr die Frau fort. Sie schwieg dann für Sekunden, in denen es so still war, daß Henrys Keuchen das einzige Geräusch war. Die Frau lachte leise auf. »Nein, Henry, es ist dir damals in der Gruft nicht gelungen, mich zu töten. Dein Diener hat mich gerettet. Armer Henry. Armer Lord of Stanford… du konntest es nicht verkraften, daß ich nicht dich, sondern deinen Diener liebte.« »Du… du warst das Gespenst…«, stieß Henry hervor. »Natürlich war ich das Gespenst, Henry. Ich wollte, daß Julia dich tötet… aber sie hatte nicht die Kraft dazu. Arme Julia! Was hat sie erleben müssen! Nicht nur mich als Gespenst mußte sie ertragen, sondern auch dich als Bauchredner und Hypnotiseur.« Die Frau lachte hellauf und schmiegte sich in die Arme des Dieners. »Wie schrecklich naiv du doch immer warst, Lord of Stanford«, sagte sie spöttisch. »Ich… ich kann dich töten, Isabel!« stieß der Lord dumpf hervor. Wieder lachte die Frau hellauf. »Armer Henry… wenn du deinen Arm ausstreckst, wirst du merken, wie deine Hand
zittert. Du wirst mich nicht treffen, Henry, Lord of Stanford! Denn das Leben weicht bereits aus dir. Es ist vorbei. Vorbei!« Der Lord streckte seine Arme aus, und er mußte erleben, daß sein Körper ihm nicht mehr gehorchte. Alle Kraft war von ihm gewichen. »Henry, armer Henry«, sagte die Frau mitfühlend. In seiner Wut preßte der Lord den Lauf der Pistole wieder gegen Julias Schläfe. Ein böses Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Dann werde ich sie für dich töten, Isabel«, flüsterte er. »Sie ist dein Ebenbild. In ihr erkannte ich dich wieder. Und deshalb wird sie für dich sterben.« In dieser Sekunde, als Lord Henry abdrücken wollte, trat der Diener und Chauffeur mit weit ausholenden Schritten vor. »Henry!« gellte sein Schrei. Der Lord zuckte zusammen und starrte seinen Diener an. Seine Hand mit der Waffe sank herab. In diesem Augenblick fiel der Schuß. Er traf Lord of Stanfords Fuß. Dann fiel ihm die Pistole aus der Hand. Die drei Kriminalbeamten stürzten zu ihm hin. Julia spürte, wie ihr schwarz vor Augen wurde. Sie taumelte. Dann meinte sie, in ein tiefes schwarzes Loch zu fallen. Sie fühlte noch, wie zwei Arme sie auffingen, und hörte John flüstern: »Julia, liebste Julia.« Dann verlor sie das Bewußtsein. Henry, Lord of Stanford, starb nicht an dem Gift, das Julia in seinen Wein gegeben hatte. In der ersten Nacht seines Gefängnisaufenthaltes stürzte er bei seinem Fluchtversuch aus dem vierten Stockwerk des Untersuchungsgefängnisses und brach sich das Genick. Sein Diener und Chauffeur, dessen richtiger Name Mike Hassat war, und seine Geliebte Isabel Jake, letzte Duchess of Stanford, die den Lord vor zwanzig Jahren geheiratet hatte, wurden einem mehrtägigen Verhör unterzogen.
Dabei kam heraus, daß der Lord of Stanford seine Frau in der Familiengruft erdolcht hatte, sie aber von seinem Diener gerettet worden war. Er hatte sie fast ein Jahr lang versteckt gehalten. Sie war seine Geliebte geworden. Das Paar hatte die Hoffnung gehabt, nach dem Ableben des Lord of Stanford dessen Erbschaft anzutreten. Aus Angst vor einer Verurteilung hatten sie es nicht gewagt, den Lord zu ermorden. Nachdem der Lord in einer Zeitung ein Foto von Julia entdeckt hatte, war er davon überzeugt gewesen, in ihr seine getötete Frau wiederzufinden. Dank seiner Kunst als Hypnotiseur war es ihm gelungen, Julia nach Stanford-House zu locken. Dort war sie von seinem Diener und seiner Frau als Mittel zum Zweck benutzt worden. Julia sollte den Mord an dem Lord ausführen und damit dem Diener und der Duchesse of Stanford die Erbschaft Stanfords sichern. Die Verhandlung gegen Isabel und Henry, den Diener, alias Mike Hassat, dauerte drei Wochen. Schließlich mußten sie freigesprochen werden. An dem Tag, an dem sie das Untersuchungsgefängnis verließen, trat Julia an Johns Seite aus der alten St. HilaryKirche. Sie trug ein wundervolles Kleid aus weißer Spitze, John einen sehr eleganten Frack. Das Brautpaar lächelte sich an, und ihre Blicke offenbarten allen die Liebe, die sie füreinander fühlten.
ENDE