Band 31
Keine Zeit für die Liebe
von Elizabeth Ashton
Bitter enttäuscht von der Treulosigkeit ihres Freundes Ray be...
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Band 31
Keine Zeit für die Liebe
von Elizabeth Ashton
Bitter enttäuscht von der Treulosigkeit ihres Freundes Ray beschließt Imogen, sich nie wieder zu verlieben. Ihr Vorsatz gerät jedoch bald ins Wanken, als sie dem erfolgreichen Skisportler Christian Wainwright begegnet. Aber er interessiert sich offensichtlich mehr für seine Wettbewerbe und Medaillen als für sie. Trotzdem nimmt sie seinen Vorschlag, als Kindermädchen zu seiner Schwester nach Schweden zu ziehen, an. Unvermutet taucht dort auch Ray auf, und beide werden von Christian überrascht. Jetzt scheint Imogens Liebe erst recht hoffnungslos…
© by Elizabeth Ashton
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Mills & Boon, London.
Deutsche Übersetzung © 1974 by KORALLE VERLAG Berlin Hamburg.
Alle Rechte vorbehalten.
1. KAPITEL „Es schneit schon wieder“, bemerkte Vivien, als sie die Vorhänge zurückzog und draußen ein Gestöber von weißen Schneeflocken erblickte, die aus einem grauen Himmel fielen. Sie war ein großes Mädchen, eine dunkelhaarige Schönheit. Ihr scharlachroter Morgenmantel stand in heiterem Kontrast zu dem kalten, grauen Morgen. Ihre Freundin Imogen rekelte sich auf einer Bettcouch vor der Heizung und dachte nun wohl schon zum hundertsten Mal, wie hübsch Vivien mit ihrem nachtschwarzen Haar und den großen dunklen Augen war. Vivien wandte sich vom Fenster ab und blickte mitfühlend zu ihr herüber. „Wie fühlst du dich heute morgen?“ „Oh, schon viel besser“, antwortete Imogen schnell. Damit schob sie das Frühstückstablett von sich weg. „Du solltest mich nicht so verwöhnen, Vivien, mir geht es wirklich schon recht gut – außer, daß ich immer noch im Bett bleiben muß.“ Imogen Sinclair war an Masern erkrankt und befand sich jetzt auf dem Weg der Besserung. Als Kind war sie davon verschont geblieben, aber nun hatte es sie erwischt. Und das ausgerechnet, als sie sich gerade ein sehr begehrtes Fernsehengagement erkämpft hatte! Imogen war Tänzerin. Obwohl sie nicht als klassische Tänzerin galt, hatte sie doch Glück und konnte nach der Ausbildung in verschiedenen Musicals auftreten. Vivien zuckte die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Sie gehörte ebenfalls zum ShowBusineß und trat in einem Stück am Westend in einer kleinen Rolle auf. „Da ich die meisten Vormittage daheim bin, kannst du dich ruhig von mir pflegen lassen“, meinte sie leichthin. „Du siehst noch längst nicht gesund aus.“ Sie lächelte, und ihr Blick drückte echte Zuneigung aus. Imogens Erscheinung war weniger auffallend als die ihrer Freundin. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und war nicht so groß gewachsen. Ihr kastanienbraunes Haar wirkte im Schatten fast schwarz, im Sonnenlicht aber schimmerte es rötlich. Schön waren die großen grünen Augen unter schwarzen, leicht gewölbten Brauen, die in einem Aufwärtsschwung endeten. Besonders anziehend machten sie ihre Vitalität und ihr Temperament, doch beides hatte die Krankheit gedämpft. Jetzt lag sie blaß und gleichgültig in ihren Kissen. Vivien wußte allerdings, daß ihre Mattigkeit weniger den Masern als vielmehr einem Kummer zuzuschreiben war. Neben Imogen und Vivien lebte noch eine dritte mit ihnen in dieser Wohnung. Louise Lambert. Sie war Sekretärin, ihr Job schien weit weniger interessant als der ihrer Gefährtinnen. Die Mädchen hatten diese Wohnung im obersten Stock eines alten Viktorianischen Hauses gemietet, das irgendwo zwischen Kilburn und Hampstead lag. Sie hielten sich für glücklich, daß sie eine so zentral gelegene Wohnung gefunden hatten, die sie auch bezahlen konnten. Allerdings besaß diese Wohnung nur zwei Räume, außerdem eine kleine Küche und ein Bad. Es gab also nicht viel Platz. Daher teilten sich Vivien und Louise das kleinere Zimmer, während Imogen auf einer Bettcouch im gemeinsamen Wohnraum schlief. Auch jetzt lag sie dort. „Ist schon Post gekommen?“ fragte sie. „Drei Briefe. Alle für dich.“ Vivien zog die Post aus der Tasche ihres Morgenmantels. Sie hatte sie zurückgehalten, bis Imogen mit dem Frühstück fertig war. Den Absender eines dieser Briefe hatte sie sofort an der kühnen Schrift erkannt und fürchtete daß der
Inhalt dieses Schreibens ihrer Freundin noch den letzten Rest von Appetit verderben mochte. Imogen griff nach der Post und rief: „Von Ray, endlich!“ „Wurde auch Zeit“, meinte Vivien trocken, nahm das Tablett mit dem Frühstücksgeschirr und trug es in die Küche. Dann schloß sie nachdrücklich die Tür hinter sich. Mit zitternden Fingern riß Imogen den grünen Umschlag mit seinem vielfarbigen Muster auf. Raymond Benito liebte exotisches Briefpapier, wenn er schon mal zur Feder griff. Imogen mußte über diesen Zug lächeln, übrigens war Benito sein Künstlername. Sie kannte ihn so gut, weil sie bereits seit ihrer Kindheit miteinander befreundet waren. Damals hatte sie sich immer bemüht, an seinen Jungenspielen teilzunehmen. Er ließ sie Bälle holen oder auf die Mäntel aufpassen, wenn er mit seinen Kameraden Fußball spielte. Die anderen Jungen hatten ihre Gegenwart geduldet, und sie himmelte den hübschen Raymond an. Das stärkste Band zwischen ihnen aber war die Liebe zum Tanz. Schon von frühester Jugend an hatten sie geplant, darauf eine Karriere aufzubauen. Ihre beiden Eltern hatten keine Einwände erhoben, und so trainierten Imogen und Raymond gemeinsam und suchten sich danach ihre Engagements in Revuen, Musicals und EisShows. Sie versprachen sich gegenseitig, daß keiner ohne den anderen ein Engagement annehmen würde. Sie waren beide in sehr gehobener Stimmung, als sie dann den Fernsehjob erhielten. Es handelte sich dabei um das tänzerische Rahmenprogramm für einen Gesangsstar. Unglücklicherweise wurde das Programm live gesendet, und Imogens Krankheit bedeutete, daß ein Ersatz für sie auftreten mußte. Von Ray wußte sie, daß er Krankheiten haßte und sich vor Ansteckung fürchtete. Sie hatte nicht erwartet, daß er sie besuchen würde. Zwar hatte er Masern schon gehabt, doch eine neuerliche Ansteckung war immer noch möglich. Er hatte ihr Blumen geschickt, als er von ihrer Krankheit erfuhr. Aber seitdem rief er sie weder an noch schrieb er. Auf ihre Bitte hin hatte Vivien versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg, er war niemals daheim. Vivien hatte sie seltsam angesehen, als sie sagte: „Er wird auch nicht öfter an dich denken, wenn du ihm nachläufst. Irgendwann wirst du schon wieder von ihm hören. Er ist wohl nur ein SchönwetterFreund, nicht?“ „Du denkst von allen Männern stets das Schlechte“, hatte Imogen erwidert. „Er wird zu beschäftigt sein.“ Aber sie war über seine Vernachlässigung doch sehr verletzt. Raymond bedeutete ihr ja weit mehr als ein Freund. Voller Zuversicht hoffte sie, daß ihre berufliche Verbindung eines Tages im Ehehafen münden würde. Sie liebte ihn, und er hatte ihr gesagt, daß auch er sie liebe. Niemals hatte sie einen anderen Jungen auch nur angesehen, obwohl es viele gab, die sich für sie interessierten. Sie faltete den Brief auseinander und begann ihn hastig zu lesen. Sie hatte schon früher Briefe von Ray bekommen, während der wenigen Gelegenheiten, bei denen sie für Tage voneinander getrennt waren. Es waren leidenschaftliche Liebesbriefe gewesen. Nie hatte sie daran gezweifelt, daß sie auch aufrichtig gemeint waren. Dieser Brief jedoch war eine einzige Enttäuschung. Er begann mit ein paar scherzhaften Fragen über ihre Masernflecken und mißachtete völlig den Ernst ihrer Krankheit. Immerhin hatte der Arzt sie ins Krankenhaus einweisen wollen. Raymond schrieb dann weiter, daß er ein Engagement für ein Musical erhalten
habe. Chefin sei eine gewisse Janice Webster. Jetzt ging die Fernsehserie zu Ende, und er würde für sechs bis acht Wochen eine Tournee durch Australien antreten. Er bedaure sehr, daß er ihre Genesung nicht abwarten könne. Doch in ihrem unsicheren Beruf müsse man eben die Chancen ergreifen, wie sie sich bieten. Die Proben hätten schon begonnen. Er sei furchtbar eingespannt und da sie ja wohl immer noch in Quarantäne liege, sei es ihm unmöglich, sich von ihr zu verabschieden. Imogen ließ den grünen Briefbogen sinken. Das Herz krampfte sich ihr zusammen. Ihre Isolierung sollte demnächst aufgehoben werden. Jedenfalls war das Risiko der Ansteckung nur noch gering, und sie erkannte, daß Raymond es bloß als Ausrede gebrauchte, sie nicht zu besuchen. Für fast zwei Monate fuhr er weg. In ihr wuchs die Überzeugung, daß dies das Ende sei. Sie starrte auf das helle Quadrat des Fensters, hinter dem immer noch der Schnee fiel. Ihre Zukunft erschien ihr trostloser als dieser graue Tag. Vivien kam ins Zimmer zurück. Ein einziger Blick auf Imogens Gesicht sagte ihr, daß sie endlich alles wußte. Sie hatte diese Stunde kommen sehen; denn in den Garderobenräume waren schon lange allerlei Gerüchte über Janice Webster und ihre jungen Tänzer im Umlauf. Raymond Benito galt als ihre letzte Eroberung. Vivien hatte ihn nie gemocht. Sie spürte, daß er trotz seines guten Aussehens und seines Charmes ein unzuverlässiger, leichtsinniger Bursche war. Ihrer Meinung nach war Imogen für ihn zu schade. Längst hatte sie geahnt, daß er sie unweigerlich früher oder später verlassen würde. Doch Vivien war zu klug, ihn vor ihrer Freundin zu kritisieren. Sie wußte, daß Liebe blind macht. Selbst jetzt hielt sie sich noch zurück und wartete darauf, daß Imogen zu sprechen begann. „Er geht weg“, sagte Imogen tonlos. „Es ist unsere erste lange Trennung, seit wir uns kennen, und… O Vivien ich fürchte, er kommt nicht zurück!“ Vivien setzte sich auf den Rand der Bettcouch, entschlossen, keine falschen Hoffnungen zu wecken. * „Es tut mir so leid, Imogen“, begann sie vorsichtig. „Ich habe es kommen sehen.
Er ist kein guter Kerl, Liebes, und diese Janice hat ihn fest in ihren Fängen. Sie
ist eine Blutsaugerin, wenn es um junge Männer geht.“
„Aber wie ist das möglich, Vivien? Sie ist doch so viel älter als er!“
„Junge Männer fühlen sich öfter von älteren Frauen angezogen“, betonte Vivien
und setzte bitter hinzu: „Ich wünschte, er hätte die Hölle bei ihr. Und so wird es
auch sein.“
Imogen war immer noch schwach und begann verzweifelt zu schluchzen.
„Ich möchte am liebsten tot sein“, meinte sie.
„Du bist ja verrückt!“ fuhr Vivien sie an. „Für so einen Hallodri sterben wollen! Du
hast dein ganzes Leben noch vor dir. Du bist erst neunzehn. Du wirst Ray schon
vergessen, er war sowieso nicht gut genug für dich. Du bist so hübsch, Imogen,
die Männer mögen dich. Du wirst bestimmt einen besseren bekommen als Ray,
obwohl sie letztlich alle gleich sind. Aber einen schlechteren hättest du gar nicht
erwischen können.“
„Für mich war er gut genug“, beharrte Imogen und fuhr sich mit dem
Taschentuch über die Augen. „Ich wollte niemals einen anderen Mann.“
„Die meisten führen dich an der Nase herum.“ Vivien suchte nach ihren
Zigaretten, sie war eine starke Raucherin. „Ich dachte damals auch, der Himmel
stürzt ein, als es mit mir und Bill auseinanderging. Aber ich habe weder einen
Selbstmordversuch unternommen, noch bin ich Nonne geworden. Du weißt ja, daß wir uns auch seit unserer Kindheit kannten, wie du und Ray. Wie eine Idiotin bestand ich mit achtzehn darauf, ihn zu heiraten. Unsere Eltern waren nicht gerade entzückt, erhoben aber keine Einwände. Damals glaubte ich auch noch, daß so eine Liebe ewig dauert.“ Sie zündete sich ihre Zigarette an und blies eine große Rauchwolke in die Luft. „Natürlich waren wir viel zu jung und erkannten dann auch ziemlich schnell unseren Irrtum. Jetzt weiß ich es besser. Männer können sehr gefühllos sein – aber manchmal auch ganz nett. Nach unserer Scheidung schwor ich mir, mich niemals wieder gefühlsmäßig an einen Mann zu binden. Und ich habe meinen Schwur gehalten. Wenn sie sich gefühlsmäßig binden, haben sie Pech. Ich sehe in Männern nur freie Mahlzeiten und Tanzpartner, und wenn es zum Bruch kommt, bin nicht ich es, die im Stich gelassen wird.“ Nachdem Vivien ihre Philosophie erläutert hatte, stand sie auf und suchte nach einem Aschenbecher. Imogen sah ihr verwundert nach. Vivien war ein ungemein hübsches Mädchen und zu ihr so herzlich. Aber wenn es um das andere Geschlecht ging, wirkte sie hart wie ein Felsblock. Imogen war immer ein wenig entsetzt über Viviens materialistische Einstellung ihren zahlreichen Verehrern gegenüber. Doch sie wußte ja von ihrer mißlungenen Ehe, und so sah sie ihr manches nach. Jetzt aber, wo sie mitten in ihrem eigenen Liebeskummer steckte, empfand sie den Zynismus ihrer Freundin fast tröstlich. Freilich wußte sie auch, daß Vivien trotz all ihrer Courage unglücklich war. Sie selbst würde es außerdem nie fertig bringen, ihre Freunde so auszunutzen. Wie nur konnte sie jemals wieder an die Aufrichtigkeit eines anderen Mannes glauben? „Du glaubst nicht mehr an Liebe, Vivien, oder?“ fragte Imogen. „Bestimmt nicht. Sentimentales Mondscheingeflüster! Bill und ich waren sicher, daß wir uns liebten, und zuletzt stritten wir nur noch wie Katze und Hund. Liebe ist Verblendung. Eines Tages wachst du auf und erkennst, daß sich der Mann, der dir so wundervoll erschien, als ein ganz normaler Mensch mit einer Menge ärgerlicher Angewohnheiten und Fehler entpuppt. Und ihm ergeht es genauso mit dir. So lange du verliebt bist, kannst du eine Menge hinnehmen. Aber ich war nicht mehr verliebt. Du hast großes Glück gehabt, glaube mir. Denn Ray hätte einen schlimmen Ehemann abgegeben, Imogen. So lange du vernarrt in ihn warst, habe ich darüber nur nicht gesprochen…“ „Er – er hat auch seine guten Seiten“, unterbrach Imogen ihre Freundin in dem schwachen Versuch, für Ray eine Lanze zu brechen. „Daß ich nicht lache! Ich habe keine entdeckt. Er wäre noch nicht einmal ein verläßlichen Ernährer geworden. Und wenn ich je so verrückt sein sollte, ein zweites Mal zu heiraten, so würde ich nur noch darauf achten. Luxus kann für eine ganze Menge Kummer entschädigen. Hab’ es um Gottes willen nur nicht eilig – eine Heirat soll man nicht übers Knie brechen! Sieh dich um und genieße das Leben. Und wenn ein Mann gewisse ernsthafte Andeutungen macht, zeig’ ihm die Tür.“ Sie lachte etwas bitter und setzte hinzu: „Denn wenn sie anfangen, von Liebe zu reden, dann meinen sie nämlich etwas ganz anderes.“ Vivien mußte es wissen. Sie zog die Männer an wie ein Honigtopf die Wespen. Selten war sie ohne Begleiter, hatte aber niemals lange den gleichen. Imogen bewunderte ihre kühle Selbstsicherheit. Manchmal fragte sie sich, ob sie es ihr wohl je gleichtun könnte. Im Augenblick jedenfalls war sie ziemlich sicher, daß sie für niemanden mehr etwas empfinden würde. Das war abgestorben in ihr, für immer! Alles was sie noch wollte, war ein Zufluchtsort, wo sie sich verkriechen und ihre Wunden lecken konnte.
„Da sind übrigens noch zwei Briefe“, erinnerte Vivien sie. Imogen öffnete sie ohne großes Interesse. Der eine war die übliche wöchentliche Litanei ihrer Mutter. Die Sinclairs waren ein etwas weltfremdes älteres Ehepaar, Imogen ihr einziges Kind. Ihr Vater war Pastor, beide lebten nur für die Gemeindearbeit. Bei dem winterlichen Wetter hatte ihr Vater sich erkältet, und Mrs. Sinclair beklagte die Tatsache, daß sie deswegen nicht in der Lage sei, ihre Tochter in der Stadt zu besuchen. Sobald es Imogen wieder besser ginge, solle sie unbedingt zur endgültigen Erholung zu ihnen nach Hause kommen. Die Einladung klang indessen nicht sehr nachdrücklich. Imogen glaubte, zwischen den Zeilen zu lesen, daß ihre Mutter sich davor fürchtete, zwei Kranke im Haus zu haben. Sie liebte ihre Eltern. Aber da der kleine Ort voller Erinnerungen an Ray war, lockte es sie ohnehin nicht heimzufahren. Und dann sah sie noch den hingekritzelten Nachsatz: Lettice Wainwright habe angerufen und vorgeschlagen, daß Imogen sie in Derbyshire besuchen solle. Mrs. Sinclair schrieb weiter: „Wenn sie ihre Einladung schriftlich bestätigt, dann solltest du sie annehmen.“ Der dritte Brief war dann die Einladung von Lettice selbst. Die Wainwrights waren alte Freunde der Sinclairs. Bevor sie nach Norden zogen, hatten sie in der gleichen Stadt gelebt. Lettice war eine lebensfrohe junge Frau, die Imogen als Teenager sehr verehrt hatte. Sie war richtig traurig gewesen, als die Familie mit ihren beiden Kindern fortzog. „Ich weiß, es ist nicht gerade die ideale Jahreszeit, um nach Derbyshire zu kommen“, schrieb Lettice, und Imogen las es Vivien vor. „Aber da deine Mutter mit deinem kranken Vater alle Hände voll zu tun hat, wäre es für dich eine gute Gelegenheit. Wir würden uns über deinen Besuch jedenfalls sehr freuen. Unser Haus ist warm und nicht so zugig wie euer unmöglich großes Pfarrhaus. Ich weiß, daß du die Kinder magst, unsere beiden sind jetzt in einem sehr niedlichen Alter und werden dir alle deine trüben Gedanken nehmen.“ „Das klingt ja genau richtig für dich“, meinte Vivien, als Imogen ihr Vorlesen beendet hatte. „Viel besser als nach Hause zu fahren, wo – entschuldige, daß ich das sage – deine Mutter nur ihre eigenen Probleme auf dich abwälzt. Du brauchst fröhliche Gesellschaft und Kinder können ein großer Trost sein. Du magst diese Wainwrights?“ „Ja, sehr. Joe ist wesentlich älter als Letty, aber auch nett. Sie ist seine zweite Frau, lustig und temperamentvoll.“ „Dann fahre hin“, drängte Vivien. „Es ist schön weit weg. Dort gibt’s keinerlei Erinnerungen wie in eurem Nest.“ Es sprach nichts dagegen, außer daß Imogen lustlos war und keine Anstrengungen unternehmen wollte. Natürlich hoffte sie im stillen, daß Ray im letzten Augenblick doch noch zu ihr käme. Sie konnte einfach nicht glauben, daß er sie aufgegeben hatte. Vivien durchschaute, weshalb Imogen in London bleiben wollte und seufzte über ihre Unvernunft. Ein zufälliges Zusammentreffen mit Raymond setzte Vivien in die Lage, ihre Freundin von der Nutzlosigkeit ihres Wartens zu überzeugen. Sie traf ihn eines Tages auf dem Bahnsteig der UBahn, als sie beide auf einen Zug warteten. Raymond tat zwar so, als ob er sie nicht gesehen hätte, doch sie trat auf ihn zu und sagte ihm offen ins Gesicht, was sie von seinem Verhalten dachte. Er lachte sie aus und erwiderte: „Du brauchst dich gar nicht so aufzublasen. Aus kalter Asche kann man keine Glut mehr entfachen. Früher war ich in Imogen verliebt, jetzt bin ich erwachsen.
Aber sie lebt immer noch in der Gefühlswelt eines Schulmädchens. Sie wird bald darüber hinweg sein. Ich jedenfalls brauche etwas Reiferes.“ Dabei war er nur zwei Jahre älter als Imogen! „Dich reizt jetzt das andere Extrem, wie?“ versetzte Vivien ironisch. „Janice Webster ist gewiß kein Schulmädchen, nicht?“ „Wer sagt denn etwas von der?“ gab er zurück und sah dabei schuldbewußt aus. „Mach’s gut, Vivien – wir sehen uns eine Weile nicht. Und mach Imogen klar, daß es zu Ende ist.“ In einer milderen Version gab Vivien den Kern dieser Unterhaltung an Imogen weiter. „Fahr doch nach Derbyshire und vergiß ihn!“ schloß sie. Doch es war nicht so leicht, eine Verbindung zu vergessen, die so viele Jahre gehalten hatte. Louise trug unbewußt dazu bei, Imogen aus der Wohnung zu vertreiben. Sie war schon längere Zeit mit einem Angestellten aus ihrem Büro befreundet. Jetzt verkündete sie, daß sie sich mit Godfrey verlobt habe, und er natürlich häufig zu ihnen in die kleine Behausung kommen würde. Louise konnte manchmal taktlos sein. Ihr Verlobter paßte zu ihr. Er war klein, strohblond, bedeutungslos, und Vivien sagte etwas mokant zu Imogen: „Weder du noch ich hätten ihn jemals beachtet, aber ich glaube, er war das beste, was sie bekommen konnte.“ Louise jedenfalls war mit ihrer Eroberung zufrieden. Sie lief mit verträumtem Blick herum und zeigte jedem ihren Ring. Besonders freute sie sich, daß ihr Verlobter in der Nähe war, während der von Imogen sich auf Tournee befand. „Das ist eben das Schlimme am Theaterleben“, bemerkte Louise selbstzufrieden. „Ihr seid ständig getrennt. Kein Wunder, daß die Scheidungsrate in eurem Beruf so hoch ist. Godfrey hat wenigstens einen festen Job und wird niemals ohne mich irgendwohin gehen.“ Sie war insgeheim ein wenig neidisch auf den attraktiven Beruf ihrer Freundinnen. Aber im Grunde war sie ein gutherziges Mädchen und hätte sicher auch nicht so taktlose Bemerkungen gemacht, wenn sie die ganze Wahrheit über Raymond und Imogen gekannt hätte. Endlich faßte Imogen also den Entschluß, Lettice Wainwrights Einladung anzunehmen. * An ihrem Abreisetag schneite es noch immer. Es war wirklich ein ungewöhnlich strenger Winter. Seit Weihnachten schneite es unaufhörlich. Und jetzt, mitten im Februar, war das Land unter einer geschlossenen Schneedecke tief gefroren. Wie immer war das arktische Wetter überraschend hereingebrochen. Die Straßen waren kaum passierbar und die Stromversorgung war äußerst angespannt. Der Eilzug war wenigstens geheizt. Aber als Imogen dann umsteigen mußte, wurde es in dem Waggon des Vorortzuges empfindlich kalt. Fest in ihren Mantel gewickelt saß sie am Fenster und starrte in den grauen Februartag hinaus. Die Landschaft lag fußtief unter Schnee begraben. Der Himmel war grau in grau, und Imogen fragte sich, warum, um alles in der Welt, sie das lichterüberflutete London verlassen hatte, um sich in diese froststarre Wildnis zu begeben. Ein Pfeifen erklang, der Zug ratterte durch einen Tunnel. Imogen wandte sich vom Fenster ab und begegnete dem Blick eines jungen Mannes, der ihr gegenübersaß. Seit sie umgestiegen war, hatte sie schon sein Interesse bemerkt, sich aber bemüht, ihn zu übersehen.
Sie hatte keine Lust, ihn näher kennenzulernen. Außerdem war ihre Fahrt ja auch
wohl bald zu Ende.
Immerhin stellte sie dennoch fest, daß der junge Mann dunkle Augen hatte und
ein hageres Gesicht, über seinen Brauen wellte sich dunkles Haar. Etwas an ihm,
ging es ihr durch den Sinn, erinnerte sie an Raymond: Seine Kopfhaltung, der
schmale sehnige Körper und der besondere Haarwuchs. Aber Raymond war ja
nun so ziemlich der letzte Mensch, an den sie erinnert werden wollte.
Auf Viviens Vorhaltungen hin hatte sie beschlossen, jeglichen zukünftigen
Annäherungsversuchen junger Männer kühl zu begegnen. Nach ihrer Krankheit
sah sie noch so blaß und angegriffen aus, daß sie gar nicht auf den Gedanken
kam, es könnte ihr jemand Interesse entgegenbringen. Was sie aber nicht wußte,
war, daß sie in ihrer zerbrechlichen Zartheit überaus reizvoll wirkte und in ihrem
Reisegefährten Beschützerinstinkte weckte.
Die leichte Ähnlichkeit mit Raymond tat ihrem Herzen weh, und sie wandte
betroffen ihren Blick ab. Sie hoffte, rasch ihr Ziel zu erreichen.
Zu ihrer Überraschung beugte sich der Mann vor und sprach sie an:
„Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht Miss Sinclair aus London und wollen die
Wainwrights besuchen?“
Sie nickte verdutzt und wunderte sich, wer er sein könnte.
„Ich bin ein Nachbar der Wainwrights“, erklärte er, während der Zug den Tunnel
verließ und in einen kleineren Bahnhof einfuhr. „Nein, hier steigen wir noch nicht
aus. Erst die nächste Station“, sagte er, als Imogen sich bemühte, den Namen
der Ortschaft zu entziffern.
Im diffusen Licht erhoben sich die schneebedeckten Hänge zu beiden Seiten der
Bahn und machten auf Imogen einen sehr bedrückenden Eindruck.
„Lettice bat mich, nach Ihnen Ausschau zu halten und Sie vom Bahnhof
mitzunehmen. Ich heiße übrigens Peter Lethwaite.“ Er streckte ihr seine schmale,
braune Hand entgegen, die sie zögernd ergriff.
„Es ist heute entsetzlich kalt“, bemerkte sie etwas verlegen, nur um überhaupt
was zu sagen.
„Ja, wir haben außergewöhnlich starken Schneefall – natürlich gut für den
Wintersport“, gab er verbindlich zurück. „Man kann auf den Hängen dort sogar
Ski laufen“, meinte er und wies in die verschneite Landschaft. „Sind Sie schon
Ski gelaufen?“
„Nein, das nicht. Aber ich laufe gut Schlittschuh.“
An einem Weihnachtsfest war sie einmal mit Raymond in einer EisShow
aufgetreten. Warum nur erinnerte sie alles an Raymond?
„Das können Sie gut auf unserem Stausee“, informierte er sie lebhaft.
Der Zug passierte jetzt eine Enge, und die Nacht schien sich aus einem düsteren
Himmel herabzusenken.
Bald darauf fuhr der Zug in den Bahnhof ein. Imogen stand auf und wollte ihren
Koffer aus dem Gepäcknetz heben. Aber Peter Lethwaite kam ihr zuvor.
„Ist das alles oder haben Sie noch Gepäck aufgegeben?“
„Nein, nur diese beiden Koffer hier.“ Ein kleinerer stand neben ihr. „Ich glaube
nicht, daß ich allzulange bleibe.“
„Das wäre aber schade.“ Echtes Bedauern schwang in seiner Stimme. „Nach dem
was Lettice sagte, nahm ich an, Sie würden eine ganze Weile bleiben.“
Er hielt ihr die Tür auf und folgte ihr dann mit den beiden Koffern.
„Mein Wagen steht draußen“, sagte er. „Es sind noch ein paar Kilometer nach
Castleton – zu weit, um zu gehen. Ich arbeite in Chinley, brach aber heute etwas
eher auf, um Sie zu treffen.“
Sein Wagen parkte vor dem Bahnhof, eine Decke lag über der Kühlerhaube.
„Hoffentlich wird er starten“, meinte er besorgt und verstaute die Koffer auf dem Rücksitz. Unterdessen sah sich Imogen um. Das Tal war hier breiter, die Bergkuppen verschwanden in der Nacht. Bleich schimmerte der Schnee. Sie fuhren zunächst über eine geräumte Straße, überquerten danach einen Fluß und begannen, eine Steigung hinanzuklettern. „Kennen Sie diese Gegend?“ fragte Peter. „Nein, ich stamme aus Hertfordshire. Seit die Wainwrights dort weggezogen sind, habe ich sie nicht mehr gesehen.“ „Das hat Letty auch schon gesagt. Es wird Ihnen hier bestimmt gefallen.“ Imogen erwiderte nichts, denn sie bezweifelte diese Behauptung. Castleton war ein kleiner Ort am Fuß eines Berges, er wurde von einer Burgruine überragt. An diesem Abend allerdings sah Imogen nur vage Umrisse der Häuser und schmutzige Schneehaufen längs der Straße. Peter hielt vor einem niedrigen Steinhaus, aus dessen vorhanglosen Fenstern warmes Licht fiel. „So, wir sind da! Das ist das Barley Haus. Ihnen zu Ehren in Festbeleuchtung.“ Imogen kletterte aus dem kleinen Wagen. Sie war steif und kalt von der langen Fahrt und ging vorsichtig den Weg auf das Haus zu. Er war zwar von Schnee geräumt, aber spiegelglatt gefroren. Peter trug ihre Koffer. Man mußte ihr Kommen gehört haben. Die Tür wurde geöffnet, noch bevor Imogen sie erreicht hatte. Lettice erschien im Türrahmen, ihre beiden Kinder klammerten sich an ihre Hosenbeine. Lettice war ein schlankes, zierliches, impulsives Wesen. Sie umarmte die etwas größere Imogen herzlich und zog sie ins Haus. „Mein Gott, du mußt ja erfroren sein!“ sagte sie. „Dieses schreckliche Wetter! Und es soll so bleiben.“ Der letzte Satz klang fast tragisch. „Wärm dich erst etwas auf, bevor du nach oben gehst. Pete“, rief sie dem jungen Mann über die Schulter zu, „bring doch bitte Imogens Koffer hoch. In das blaue Zimmer, ja?“ Sie bat Imogen ins Wohnzimmer, und die beiden Kinder stolperten hinterher. Es war ein langgestreckter, niedriger, gemütlicher Raum mit schon etwas älteren, aber bequemen Möbeln. Lettice drückte Imogen in den mächtigen Sessel vor dem Kaminfeuer. Joseph Wainwright der Gastgeber, kam ihr entgegen, um sie zu begrüßen. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit, denn er hatte vor seiner zweiten Heirat in Hertfordshire gelebt. ,Den schönen Joe’, hatten ihn die späten Mädchen genannt. Seine erste Frau, eine Schwedin, hatte ihn verlassen und war mit den beiden Kindern aus dieser Ehe in ihre Heimat zurückgegangen. Einmal im Jahr besuchten die inzwischen erwachsenen Kinder ihren Vater hier. Joe hatte sich damals scheiden lassen und nach einer längeren Abwesenheit eine um viele Jahre jüngere Frau mitgebracht. Die beiden schienen glücklich zu sein. Lettice schenkte ihm bald darauf in kurzem Abstand zwei Kinder, und wenig später zog die kleine Familie nach Derbyshire. Joe sah immer noch gut aus, obgleich sein Gesicht reifer geworden war, und sich silberne Strähnen durch sein Haar zogen. Er war ein großer, stiller Mann. Herzlich ergriff er Imogens Hand und murmelte ein paar freundliche Worte. Die Kinder betrachteten den Gast eine Weile schweigend. Teddy war sechs, ein kräftiger, hübscher Junge. Seine vierjährige Schwester Pamela hatte lange blonde Haare und strahlend blaue Augen. Sie sah aus wie ein Engel, war aber ein kleiner Teufel. „Hast du uns was mitgebracht?“ fragte Teddy. Seine Eltern fuhren herum und versuchten, den Kindern klarzumachen, daß man solche Fragen nicht stellt. Lettice entschuldigte sich bei Imogen, die Kinder seien
heutzutage so schrecklich verwöhnt. Sie bekämen alles und erwarteten immer
mehr. Imogen, die natürlich für jedes von ihnen eine Kleinigkeit im Koffer hatte,
fand, daß es jetzt nicht der rechte Augenblick sei, ihnen die Mitbringsel zu
übergeben.
In die Gesprächspause, die darauf eintrat, sagte Pamela laut: „Also hat sie uns
nun was mitgebracht?“
Lettice schlug die Hände über den Kopf zusammen: „Ich geb’s auf!“ Und Imogen
meinte diplomatisch: „Na wartet mal ab, wir werden ja sehen.“
„Wie lange müssen wir warten?“ bohrte Pamela weiter. „Bis nach dem Tee?“
„Vielleicht“, erwiderte ihre Mutter. Und als Peter die Treppe herunterkam, rief sie
ihm entgegen: „Peter, bleiben Sie ein bißchen bei uns und trinken Sie mit uns
Tee.“
Peter blickte zu Imogen hinüber. Sie hatte ihren Reisemantel abgelegt und trug
ein grünes Wollkleid. Der Schein des Kaminfeuers spielte in rötlichen Lichtern auf
ihrem Haar.
Ihr kurzer Rock ließ die Knie frei. Sie hatte schlanke Beine mit zarten Knöcheln
und kleine Füße. Peter zögerte zu gehen.
„Eigentlich sollte ich ja nach Hause.“
„Ach, nur auf eine Tasse Tee“, bat Lettice und bemerkte amüsiert seinen Blick
auf Imogen. „Er ist schon fertig.“
Peter zog sich einen Hocker heran und ließ sich zu Imogens Füßen nieder.
Lettice brachte auf einem Teewagen eine kräftige Mahlzeit herein.
„Wir haben ebenfalls noch nicht Abendbrot gegessen“, erklärte sie, „und ich
glaube auch nicht, daß du im Zug etwas gegessen hast.“
Imogen nahm sich ein paar Sandwiches und Tee mit Sahne. Peter trug ihren
Mantel, den sie auf die Sessellehne gelegt hatte, in den Flur hinaus.
Offensichtlich fühlte er sich hier wie zu Hause, stellte sie mit Unbehagen fest.
Sie schien ihm zu gefallen. Aber er war ihr zu jung, zu jungenhaft, um ihn nach
Viviens Rezept einfach nur auszubeuten. Ihr fiel ein, daß auch Raymond sehr
jung gewesen war, und seine Verliebtheit hatte nicht gedauert. Auch Peters
würde nicht dauern, sollte sie schwach genug sein, ihn ernst zu nehmen.
Im Kreis ihrer netten Gastgeber begann sich Imogen langsam zu entspannen. Die
Kinder hatte man an einen kleinen Katzentisch verbannt. Peter brachte Imogen
eine zweite Tasse Tee, sie kaute genüßlich an Toast und hausgebackenem
Kuchen – Letty buk sehr vieles selbst. Man erkundigte sich nach Imogens
Familie, nach ihrer Krankheit und ihrem Leben in London.
„Ich finde es gar nicht so gut, wenn junge Mädchen allein leben“, meinte Letty,
als Imogen von ihren Freundinnen und ihrer kleinen Wohnung erzählte. „Sie
essen einfach zu schlecht.“ Kritisch musterte sie Imogens überschlanke Figur. Sie
schien sich in dem gewaltigen Sessel fast zu verlieren.
„Ich darf nicht dick werden, ich bin Tänzerin“, sagte Imogen.
„Ich hab’ dich übrigens einmal in der Fernsehshow gesehen“, berichtete Lettice.
„Zu schade, daß du die Serie nicht beenden konntest.“
Es gab Imogen einen Stich. Sie war in der Show so glücklich gewesen, ohne auch
nur die geringste Ahnung von all dem Kommenden zu haben. Da aber ihre
Freunde hier Raymond nicht kannten, hatte sie auch keine Lust, von ihm zu
sprechen.
Nach dem Essen wollten die Kinder Fernsehen, was ihnen auch erlaubt wurde,
solange sie den Apparat leise stellten.
„Wir wollen uns nämlich unterhalten“, erklärte Lettice ihnen, und Joe setzte
hinzu: „Fernsehen tötet jegliche Familiengespräche.“
Das Telefon läutete im Flur. Lettice eilte hinaus, obwohl Joe meinte, es könne nur
für ihn sein. Aber Lettice war viel zu unruhig, um lange still zu sitzen.
Imogen sah sich Joe genauer an. Nach außen hin war er ein sehr
zuvorkommender Ehemann, aber was mochte wohl hinter diesem immer noch
hübschen Gesicht vorgehen? Für Männer war es ja so leicht, sich außerhalb des
Hauses hinter ihrer Arbeit zu verschanzen und ein Doppelleben zu führen. Seit
ihren eigenen bitteren Erfahrungen war sie mißtrauisch und überlegte, ob es in
seiner ersten Ehe nicht doch so manche Gründe gegeben hatte, weshalb ihn
seine erste Frau dann schließlich verließ.
„Ich kann auch aufs Fernsehen verzichten“, meinte Imogen lächelnd, „übrigens
schlafe ich schon halb. Das machen die angenehme Wärme und der gute Tee.“
Lettice steckte den Kopf zur Tür herein und fragte: „Weißt du, ob Erica Brayshaw
zu Hause ist?“
„Sie ist übers Wochenende nach Buxton gefahren“, antwortete Joe.
„Mein Gott, das wird Christian aber ärgern“, meinte Lettice und verschwand
wieder hinter der Tür.
„Christian?“ Peter sprang überrascht auf. „Dann ist er also am Telefon? Ich wußte
gar nicht, daß er zurück ist.“
„Die Spiele sind seit letzter Woche zu Ende“, erinnerte ihn Joe und wandte sich
gleich darauf an Imogen. „Mein Sohn Christian macht uns viel Freude. Er hat die
Goldmedaille im Abfahrtslauf errungen. Kennen Sie ihn eigentlich?“
„Nein. Ich habe ihn offenbar immer verpaßt, wenn er nach Hertfordshire kam.“
Christian und seine Zwillingsschwester Greta waren bei ihrer Mutter geblieben,
solange sie lebte. Sie hatten immer zu einer anderen Zeit Ferien gehabt als sie.
Außerdem mußten die beiden auch beträchtlich älter sein, soweit Imogen sich
erinnerte.
Lettice kam freudig erregt zurück und rief begeistert:
„Christian kommt her! Heute abend noch! Ist das nicht toll?“
2. KAPITEL Imogen blickte Letty Wainwright an. Sie mochte ihren Stiefsohn Christian offensichtlich sehr. Auch der kleine Teddy fuhr übermütig vom Fernseher hoch und kreischte: „Chris kommt? Der bringt uns bestimmt was Tolles mit.“ Dabei warf er einen kecken Seitenblick auf Imogen. „Bestechliche Rangen!“ murrte Joseph und wandte sich an seine Frau. „Wie ist es möglich, daß uns Christian mitten in der Skisaison mit seinem Besuch beehrt, Letty? Normalerweise jagt er doch von einem Wettkampf zum andern.“ Imogen wußte, Christian Wainwright hatte von seiner Mutter genügend Mittel geerbt, um sich völlig seinem Sport zu widmen. Seine Kindheit hatte er in Schweden verbracht, wo man schon von früh an, sobald die Kinder nur laufen können, sie auf Skier und Schlittschuhe stellt. Der Skilauf begann, sein ganzes Leben zu beherrschen. „Es muß irgend etwas mit Greta zu tun haben“, meinte Lettice. „Er sagt, er wird es uns hier erzählen.“ Joseph sah betroffen aus. Seit Gretas Heirat und dem Tod ihres Mannes hatte er nur sehr losen Kontakt zu seiner älteren Tochter. „Ich hoffe, es ist nichts Schlimmes“, murmelte er. Peter, für den Greta ebenso nur ein Name war wie für Imogen, warf ein, daß Christian sich vielleicht wegen des starken Schneefalls hier seinem Lieblingssport widmen wolle. „Ich glaube kaum, daß ihm das hier Spaß macht“, lachte Joseph. „Nach den Pisten in der Schweiz und in Österreich werden ihm unsere kleinen Hügel winzig vorkommen. Trotzdem wird er Zeit finden, mit dir zu laufen, Peter, falls du das hoffen solltest.“ Zu Imogen gewandt setzte er hinzu: „Christian hat nichts anderes als Ski im Kopf.“ Aber aus seiner Stimme klang Stolz. „Ich habe mal einen Urlaub an dem Ort verbracht, wo er gerade trainierte“, erzählte Peter. „Er war großartig.“ Imogen spürte, daß man von ihr Bewunderung für einen derartig erfolgreichen Sportler erwartete. Sie hatte aber nicht allzuviel übrig für Sportskanonen. Meistens wurden sie von ihrem Sport völlig aufgefressen, so daß sie für nichts anderes mehr Zeit fanden. „Ich fürchte, ich verstehe überhaupt nichts von Ski“, meinte sie. „Na, dieser Mangel wird hier bald behoben sein“, versicherte Joseph lächelnd. Imogen fand diese Aussicht nicht gerade verlockend. Sie hatte das Gefühl, daß die Familie vielleicht ganz gern ohne sie über Christian und Greta sprechen wollte. Deshalb stand sie auf und entschuldigte sich damit, daß sie ja noch auspacken müsse. „Also dann bis morgen“, rief ihr Peter nach, während Lettice sie begleitete. Auch ihr Zimmer war niedrig, hatte jedoch ein neu eingesetztes breites, modernes Fenster. Die Einrichtung war eine Mischung von alten und neuen Möbeln, aber am auffälligsten waren die strahlenden Vorhänge und die dazu passende Bettdecke. Ein elektrischer Heizofen bemühte sich, gegen die Kälte anzukommen. Nach der Beengtheit ihrer eigenen kleinen Wohnung kam ihr das Zimmer direkt weiträumig vor. „Ich hoffe, du fühlst dich hier wohl“, sagte Letty. „Nebenan ist gleich das Bad. Na, ich bin froh, wenn es endlich zu tauen beginnt.“ „Aber das wäre doch für deinen Stiefsohn sehr enttäuschend“, lächelte Imogen. „Ich glaube nicht, daß er lange bleibt“, erwiderte Lettice. „Barley Haus ist zwar
dem Namen nach sein Zuhause, jedenfalls sagte es Joe ihm, als seine Mutter starb. Aber Christian ist nur sehr selten hier. Ich hoffe, mit Greta ist alles in Ordnung. Seit sie verwitwet ist, kommt sie überhaupt nicht mehr nach England. Sie hat zwei kleine Kinder. Mir gegenüber ist sie immer sehr zurückhaltend gewesen.“ „Mit einer angeheirateten Verwandtschaft ist es wohl nicht immer ganz leicht“, meinte Imogen verständnisvoll. „Mit Christian komme ich großartig zurecht. Wahrscheinlich liegt es daran, daß er ein Mann ist. Er sieht blendend aus, Imogen! Die Mädchen sind ganz verrückt nach ihm, obgleich er keiner zu verstehen gibt, heiraten zu wollen. Greta ist völlig anders. Ich würde sagen, viel schwedischer als er, weniger vertrauensselig, eben kühler. So, jetzt muß ich aber runter, die Kinder ins Bett bringen. Komm doch nachher noch zu uns, wenn du hier fertig bist!“ Damit eilte Letty auch schon davon. Imogen packte langsam ihre Sachen aus, die fast ausschließlich aus Hosen und Pullovern bestanden. Sie zog die schweren blauen Vorhänge zurück und blickte hinaus. Wegen des bewölkten Himmels war nichts weiter zu erkennen als der weiße Schimmer des Schnees unter ihr. Obwohl sich rundum Berge erhoben und Imogen sie fast ahnen konnte, waren sie doch nicht zu sehen. Sie vermochte nicht zu sagen, ob sie Berge liebte. Eigentlich bevorzugte sie die lieblichere Landschaft der Midlands – sie war weniger aufregend. Imogen überlegte, wann Christian wohl erwartet würde. Vielleicht sollte sie sich besser gleich ins Bett legen, um so seiner Begrüßung zu entgehen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß seine Gegenwart sich auf den Frieden ihres Urlaubs störend auswirken könnte. Aber möglicherweise blieb er auch nur über das Wochenende und kümmerte sich ausschließlich um diese Erica. Es wurde sehr spät. Imogen hörte ihn kommen, den Freudenschrei von Lettice und das Begrüßungsgemurmel im Flur. Christians Stimme war tiefer als die seines Vaters, und sein fröhliches Lachen klang unbekümmert. Sie sah ihn förmlich vor sich: Groß, blond, selbstbewußt. Genau der Typ Mann, der sich für ein Geschenk des Himmels an alle Mädchen hält. Schließlich war er noch nicht einmal hier gewesen und hatte sich schon nach dieser Erica erkundigt. Erica! Ein ungewöhnlicher Name. Was mochte sie sein? Sein Schwarm, sein Flirt, vielleicht sogar seine Geliebte? Armes Mädchen, wie oft ließ er sie wohl allein und sie mußte seine lange Abwesenheit ertragen. Eins stand jedenfalls fest für Imogen: Sie selbst hatte im Augenblick mit Männern nichts im Sinn. Das letzte, was sie interessierte, war ein blondes, nordisches Ski As! Und sie würde ihn das beim geringsten Annäherungsversuch auch wissen lassen. Gleich darauf übermannte sie der Schlaf. Ihre Gedanken hatten sich nur um den Neuankömmling gedreht. Kein einziges Mal war ihr Raymond und ihr Kummer mit ihm eingefallen. * Imogen erwachte am nächsten Morgen vom hellen Widerschein des Schnees, noch bevor die Sonne schien. Lettice hatte sie darauf vorbereitet, daß sie am Samstag spät und lange zu frühstücken pflegten. Es hatte die Nacht über noch mehr geschneit. Der Morgen war frostklar, der östliche Himmel überflutet vom gelblichen Lichtschein, dem Vorboten der aufgehenden Sonne. Ihr Fenster gab den Blick über den Garten zum gegenüberliegenden Haus frei, hinter dem sich die Berge mit ihren steilen
Hängen und dem jungfräulichen Schnee zum Himmel reckten.
Imogen huschte schnell ins Bad und hoffte, der Familie damit zuvorzukommen.
Dann schlüpfte sie in ihren smaragdgrünen Pullover, der das Grün ihrer Augen
unterstrich. Auf ein Makeup konnte sie verzichten, die Natur hatte sie mit schön
geschwungenen Brauen und dichten Wimpern ausgestattet.
Als ein Schneeball gegen ihr Fenster prallte, fuhr sie herum und blickte hinaus.
Zwei junge Männer lachten sie vom Garten herauf an. Einer von ihnen war Peter.
Der andere, so vermutete sie, mußte Christian sein. Interessiert musterte sie ihn
und verglich ihn mit dem Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte. Er war
tatsächlich groß und blond, insofern hatte sie ihn sich richtig vorgestellt.
Seine blauen Augen strahlten sie durchdringend an. Er hatte eine Adlernase und
einen festen Mund, er strotzte vor Leben und Energie. Wie ein Blitz durchfuhr es
Imogen, daß er gefährlich anziehend war.
Bei mir wird er aber nicht landen können, dachte sie, er ist ein zu offensichtlicher
Herzensbrecher. Ich überlasse ihn seiner Erica!
Peter rief ihr irgend etwas zu. Imogen öffnete das Fenster, und sofort schlug ihr
die eisige Luft entgegen.
„Kommen Sie herunter“, rief Peter, „und ziehen Sie sich einen Mantel an. Es ist
bitterkalt, aber herrlich.“
Sie fröstelte und rief, daß sie noch nicht gefrühstückt habe.
Christian sah auf seine Uhr. „Es dauert noch ein paar Minuten. Kommen Sie doch
kurz herunter – für eine kleine Erfrischung reicht’s gerade noch.“
Frische, das war das Stichwort! Sie griff nach ihrem Mantel und sagte sich:
Wollen doch mal sehen, was Castleton zu bieten hat. Und mit diesen Gedanken
sprang sie auch schon die Treppe hinunter.
Christian blickte auf, musterte sie und meinte dann: „Ich bin eigentlich ein wenig
enttäuscht, daß Sie mich gestern nicht begrüßten.“
„Ach, das tut mir leid“, erwiderte sie zurückhaltend. „Aber sicher war das
Empfangskomitee auch ohne mich zahlreich genug. Ich war schrecklich müde.“
„Ja, da stimmt“, kam Peter ihr zur Hilfe. „Sei nicht so eingebildet, Christian!
Warum sollte sie auf dich warten?“
„Ist eigentlich wahr – außer sie wäre neugierig gewesen, wie ich unterdessen
gewachsen bin.“
„Aber ich habe Sie doch niemals vorher gesehen“, protestierte Imogen
überrascht.
„Doch, doch, das haben Sie schon! Sie waren damals ein niedliches kleines
Äffchen mit einem Strohdach schwarzer Haare, so ungefähr achtzehn Monate alt.
Sie waren auch noch nicht sehr sicher auf ihren Stelzen. Als ich sie hochnahm,
hatten sie unglücklicherweise etwas gegen meinen Pullover – na, schlicht gesagt,
es wurde Ihnen schlecht. Ihre Mutter hat’s dann wieder in Ordnung gebracht.“
Sie lachten über diese Erinnerungen, und Imogen meinte etwas verschnupft:
„Natürlich kann ich mich daran nicht erinnern – falls es überhaupt geschah.“
„O doch, es war wirklich so! Weshalb sollte ich übertreiben? Sie haben sich gar
nicht geändert. Sie sehen immer noch so reizend aus – wie eine kleine Hexe!“
Stopp, sagte sie sich. Er durfte nicht gleich anfangen zu flirten. „Ich mag keine
zu dick aufgetragenen Komplimente“, versetzte sie reserviert.
„Es sollte auch keins sein. Oder mögen Sie es nicht, eine kleine Hexe genannt zu
werden? So groß, als daß ich Sie nicht mehr hochheben könnte, sind Sie auch
wieder nicht geworden! Nur hoffe ich, Ihnen würde jetzt nicht mehr schlecht
werden.“
„Das ist ja wohl der Gipfel!“ fuhr sie auf. Dann bemerkte sie plötzlich die
Umgebung und rief fast schwärmerisch aus: „Mein Gott, wie großartig!“
Sie hatten während des Gesprächs den Ort hinter sich gelassen, und Imogen konnte nun das ganze Gebirgspanorama bestaunen, das rundum den Horizont abschloß. „Ja, es ist wundervoll hier“, stimmte ihr Peter zu. Interessiert hatte er ihre Widerspenstigkeit während des Gesprächs mit Christian beobachtet. „Sehen Sie mal dort drüben hinter den Bäumen das Schloß! Es ist zwar nur eine Ruine, aber von der Mauer ist noch ein Großteil erhalten. Ich möchte Ihnen das alles einmal an Ort und Stelle zeigen.“ „Aber erst wenn ich wieder fort bin“, warf Christian ein. „Oder wenigstens der Schnee“, setzte er trocken hinzu. „Heute haben wir etwas anderes vor. Gleich nach dem Frühstück werden wir zum Rush Edge Ski laufen gehen!“ Ausgezeichnet, dachte Imogen zufrieden, dann werde ich für eine Weile beide auf einmal los. Irgend etwas beunruhigte und erregte sie in Christians Nähe. Es war kein unangenehmes Gefühl, aber gerade deshalb zog sie es vor, ihr eigener Herr zu bleiben. Es sollte jedoch anders kommen. Sie gingen zum Haus zurück, und Peter verschwand in seiner Wohnung. Er versprach, gleich nach dem Frühstück zurückzukommen. Die Kinder waren wegen des strahlenden Winterwetters völlig aus dem Häuschen. Teddy bettelte: „Bringst du unseren Rodelschlitten den Berg hoch, Chris?“ „O ja, bitte, bitte!“ rief Pamela. Christian lächelte seine Halbgeschwister liebevoll an. „Na, dann packen wir mal euren Rodel in meinen Wagen. Letty, wo sind denn deine Ski?“ „Sie müssen irgendwo rumstehen“, meinte sie vage. „Aber mich bekommt heute keiner auf die Dinger. Vielleicht möchte Imogen gern mit. Sie hat bestimmt meine Schuhgröße und paßt in meine Sachen. Ich werde ihr die Ski leihen.“ Hastig erklärte Imogen, daß sie überhaupt keine Lust verspüre, während Christian sie unschlüssig ansah. „Aber es täte dir bestimmt gut“, versuchte Lettice, sie zu überreden. „Durch dein Tanztraining bringst du alle Voraussetzungen zum Skilaufen mit. Außerdem läufst du ja auch Schlittschuh.“ „Stimmt das?“ fragte Christian gedehnt. Imogen glaubte, seine Zweifel an ihren Fähigkeiten herauszuhören. Auf einmal beschloß sie, ihm zu beweisen, daß sie keine Stubenhockerin war, und sagte schnell: „Ich kann’s ja mal versuchen.“ Joseph mischte sich in die Unterhaltung ein: „Und da Christian vorhat, Skilehrer zu werden, kann er bei Ihnen gleich Erfahrungen sammeln“, meinte er. Imogen blickte Christian herausfordernd an und spottete: „Wenn es Ihnen nicht allzuviel Mühe macht!“ Er grinste. „Ich werde Sie ganz schön rannehmen“, warnte er. „Ich bin nicht ängstlich und vertrage eine ganze Menge“, sagte sie lachend. „Um so besser“, gab er zurück. „Jedenfalls haben wir heute morgen noch viel vor.“ In seiner Stimme schwang ein undeutbarer Unterton mit, und Imogen überlegte, worauf sie sich da wohl eingelassen hatte. Aber wenn er glaubte, sie klein zu kriegen, sollte er sich irren. Lettice’ Skiausrüstung paßte ihr wie angegossen. Lettice hatte einen Skikurs besucht, als sie mit ihrem Mann Wintersportferien auf dem Kontinent machte, aber sie konnte immer noch nicht sehr gut Skilaufen. Imogen fühlte sich in der geliehenen Ausrüstung etwas hilflos und gab sich mit den aufgeregten Kindern ab, bis Christian mit seinem Wagen kam. Es war ein geräumiges Kabriolett, das nicht nur Platz für die ganze Familie bot, sondern
auch für die gesamte Sportausrüstung, einschließlich Rodelschlitten und Ski. Als Peter auf sie zukam, wunderte er sich über Imogens Ausstattung. „Sie fahren also doch Ski?“ „Noch nicht. Christian will es mir beibringen.“ „Aha…“ murmelte er verblüfft. Wenig später saßen sie dann alle in Christians Wagen, und er raste die kurvige Straße zum Mam Tor hinauf. In diesem Winter war sie schon mehrmals gesperrt gewesen, und auch heute war nur eine enge Fahrspur zwischen hohen Schneewehen passierbar. Vom Sattel des Passes an war die Straße nach der Ortschaft Edale vollends zugeschneit. Sie ließen hier den Wagen zurück und marschierten zu Fuß weiter. Wie Spielzeug drückten sich unten im Tal die kleinen Häuser des Dorfes aneinander, mitten in der weiten Schneewüste. Dahinter erhob sich die Steilwand des KinderScout wie ein riesiges weißes Federbett, auf dem nur hier und da ein dunkler Felsbrocken durch den Schnee stieß. Christian drängte zur Eile, obgleich Imogen Stunden damit hätte verbringen können, die Schönheit des Panoramas zu genießen. Christian stapfte ihnen in einer Spur voraus, die schon von anderen Wintersportlern festgetreten war. Ihnen begegneten mehrere Kinder mit ihren Rodelschlitten und Skiern, die die gleiche fröhliche Ausgelassenheit über den starken Schneefall zeigten wie Teddy und Pamela. Christian schulterte seine Ski und die von Lettice. Teddy trug Imogens Stöcke und stocherte während des ganzen Marsches mit ihnen in den einzelnen Schneehaufen herum, während Pamela glückstrahlend auf dem Rodelschlitten hockte und von Lettice und Joseph gezogen wurde. Sie hatten jetzt ihr Ziel erreicht. Peter und Christian schnallten sich ihre Schier an, während Lettice Imogen die Funktion der Sicherheitsbindung erklärte. Joseph ging mit den ungeduldigen Kindern voraus, um für sie eine schöne steile Abfahrt zu entdecken. Lettice und Peter kamen ihnen nach und ließen Imogen unsicher auf ihren langen Skiern zurück, die sich zu ihrem Entsetzen selbständig zu machen drohten. Christian zeigte ihr geduldig, wie man auf der Ebene mit Skiern gleitet. Es war nicht sehr schwierig für Imogen, weil sie gelernt hatte, das Gleichgewicht zu halten, und ihr Körper durchtrainiert war. Nur die Stöcke behinderten sie, bis sie endlich den richtigen Griff für die Schlaufen entdeckte. Als sie Peter in weiten Schwüngen den Abhang hinabgleiten sah, packte sie der Ehrgeiz. * „Kann ich nicht auch da runterfahren?“ fragte sie unternehmungslustig. Einladend erstreckte sich unter ihr die weiße, bis auf ein paar Schlittenspuren unberührte Fläche. „Nein, Sie können noch nicht anhalten. Außerdem hat die Abfahrt sehr viele Buckel.“ „Aber ich habe es satt, so ziellos zu üben, und ich traue mir zu, einen Bogen zu fahren. Ich bin sicher, daß ich es kann.“ „Sie glauben, es zu können“, verbesserte er sie. Ärgerlich wandte sie sich ab, glitt in die Fahrspur und beinahe unmerklich gewann sie an Tempo. Schon nach wenigen Metern hatte sich ihre anfängliche Verkrampfung gelöst. Leicht und locker stand sie auf den Brettern und gab sich ganz der Bewegung hin. Dennoch war sie so beschäftigt, das Gleichgewicht zu halten, daß sie nicht
bemerkte, wie dicht hinter ihr der Schlitten auftauchte. Er raste immer schneller, und die Kinder riefen ihr erschrocken zu, zur Seite zu fahren, weil sie darauf vertrauten, die Vorfahrt zu haben. Aber der Fahrtwind trug ihre Worte davon. Imogen hätte auch gar nicht ausweichen können. Was dann geschah, war eine Sache von Sekunden: Wie ein Sturmvogel brauste Christian heran, schlang seinen kräftigen Arm um ihren Körper, und während er ihr noch zurief, mit fest geschlossenen Beinen auf den Brettern zu stehen, riß er sie seitwärts in den Tiefschnee. Imogen spürte den Luftzug des zu Tal rasenden Schlittens. In einer tiefen Schneewehe kamen die beiden Skifahrer zum Stehen. Schmerzhaft empfand sie Christians festen Griff um ihre Hüfte. Als sie sich umwandte, blickte sie in sein wütendes Gesicht. Schnell versuchte sie, sich aus seinem Arm zu winden. Doch als er sie losließ, fiel sie auf ihr Hinterteil. „Sie sind wohl toll geworden! Das hätte schlimm ins Auge gehen können“, fuhr er sie an. „Ich habe Ihnen doch verboten, diese Abfahrt zu wagen.“ „Ich war doch gar nicht so schlecht“, verteidigte sie sich. „Ich hatte ja keine Ahnung, daß jemand hinter mir kam. Gibt es hier denn keine Verkehrsregeln?“ „Die Kinder haben erwartet, daß Sie aus der Bahn gehen. Sie befanden sich in ihrer Spur.“ „Das wußte ich nicht. Ich konnte mich nicht umdrehen.“ „Auch wenn der Rodel nicht mit Ihnen zusammengestoßen wäre, unten wäre Ihnen ganz sicher etwas passiert. Sie haben noch keine Kontrolle über die Dinger – und können es auch nicht erwarten.“
„Könnten Sie vielleicht Ihre Standpauke aufschieben, bis ich aufgestanden bin?“
meinte Imogen etwas säuerlich, weil sie spürte, daß sie so im Nachteil war. Er
stützte sich auf seine Skistöcke und schimpfte auf sie herunter, während sie auf
ihren Skiern hockte. „Ich finde, Sie sollten mir wenigstens aufstehen helfen“,
fügte sie hinzu. „Ich komme mit diesen Brettern nicht zurecht.“
„Das sieht man.“
Er machte keine Anstalten, ihr zu helfen. Sie versuchte sich aufzurichten, aber
die Skier rutschten bei jedem Versuch nach vorn und ließen sie ständig sich
wieder auf ihr Hinterteil setzen. Zu ihrer maßlosen Entrüstung begann Christian
schallend zu lachen.
„Oh, Sie sind abscheulich“, zischte sie.
„Das Aufstehen muß man auch lernen“, belehrte er sie. „Richten Sie die Bretter
quer zum Hang aus. So – gut! Jetzt stecken Sie Ihre beiden Skistöcke zur
Teilseite in den Schnee.“ Sie befolgte seine Anweisungen. „Jetzt stützen Sie sich
mit beiden Händen fest auf die Stöcke, ziehen die Beine an den Körper und
stemmen sich an den Stöcken hoch. Nein… Mädchen, so nicht… kanten Sie die
Bretter!“
Die letzte Anweisung kam eine Sekunde zu spät. Ihre Skier schienen lebendig zu
werden, glitten nach vorn, und Imogen lag platt wie ein Fisch im Schnee.
„Pech gehabt! Versuchen Sie es noch einmal.“
„Nein, ich will nicht!“
Sie war über und über mit Schnee bestäubt, fühlte sich gedemütigt und blitzte
ihn an:
„Das mag ja für Sie sehr amüsant sein, aber ich habe genug.“
Ungeduldig zerrte sie an der Bindung, zog ihre Stiefel aus der Halterung und
stand auf.
„Ich gehe zu Fuß zurück!“ Damit wandte sie sich ab und wollte den Abhang
hinaufsteigen.
„Und Lettys Skier lassen Sie einfach liegen?“
Sie hatte erwartet, daß er sie ihr nachtragen würde, aber ganz offensichtlich hatte er nicht die Absicht. Sie war wütend, griff nach den Brettern im Schnee und schulterte sie, wie sie es vorher bei anderen Läufern gesehen hatte. „Soll das eine Strafe für meinen Ungehorsam sein?“ fragte sie ihn böse. „Ich finde, Sie benehmen sich gemein.“ „Ich habe Sie zu nichts aufgefordert. Es war Ihre Idee zurückzugehen“, versetzte er kühl. „Sie tragen nur die Konsequenz für Ihren Leichtsinn. Sie brauchen mich gar nicht so anzublitzen – Sie grünäugige kleine Hexe! Einen Skilift kann ich für Sie nicht herbeizaubern. Den gibt es hier nicht.“ Sie errötete bis zu den Haarwurzeln. Wie konnte er sich erdreisten, sie eine Hexe zu nennen! Als sie aufblickte, stellte sie verzweifelt fest, wie weit sie noch vom Gipfel entfernt war. Von Peter war nichts zu sehen. Sie wußte, wäre er in der Nähe gewesen, er hätte sich sicher erboten, ihr die Bretter abzunehmen. Christian aber rächte sich an ihr. Sie war zu stolz, um sich zu beklagen, biß die Zähne zusammen und stapfte weiter aufwärts. Christian hatte seinen eigenen Stil, bergan zu steigen. Voller Neid beobachtete Imogen aus den Augenwinkeln, wie er in weitausholenden Schleifen elegant eine Kehre nach der anderen schwang. Ein Meister seiner Kunst stellte sich in voller Perfektion zur Schau! Es bestand kein Zweifel, er war in glänzender Form. Aber Imogen war nicht in der Stimmung, ihm Anerkennung zu zollen. Es wurde ein sehr langer und ermüdender Anstieg, obwohl der Hang nicht einmal so steil war. Imogen aber wollte sich um keinen Preis blamieren. So hielt sie durch. Christian schwang einige Male an ihr vorbei, und der Wind zerzauste sein Haar. Es war offensichtlich, daß er an seiner Kunst Freude hatte. Imogen glaubte in diesen Augenblicken, niemanden mehr zu hassen als diesen unmenschlichen Christian Wainwright. Als sie endlich völlig erschöpft den Gipfel erreicht hatte, kam Christian neben ihr zum Stehen und sagte zu ihrer restlosen Verblüffung: „Sehr gut gemacht! Sie haben Mumm!“ „Vielen Dank“, gab sie erbost zurück. „Ich hatte ja wohl auch keine andere Wahl, oder?“ „Na, Sie hätten sich zum Beispiel hinsetzen und weinen können. Sowas habe ich schon erlebt.“ „Wirklich? Der Typ des weinenden kleinen Mädchens bin ich aber nicht. Und was hätten Sie in einem solchen Fall gemacht?“ Er stützte sich auf seine Skistöcke und sah sie nachdenklich an. „Ich weiß es nicht. Hätten Sie hysterisch reagiert, hätte ich Sie wohl geohrfeigt. Vielleicht hätte ich aber auch eingesehen, daß man Sie tragen muß.“ „Die Mühe haben Sie sich wenigstens erspart.“ „Vielleicht hätte ich es aber auch als angenehm empfunden.“ In seinen blauen Augen blitzte es gefährlich. Imogen senkte die Lider und fühlte sich unfähig, seinem Blick standzuhalten. „Wenn Sie ein solcher Samson sind, hätten Sie mir wenigstens die Skier tragen können.“ Damit warf sie ihm die Bretter vor die Füße und rieb sich die schmerzende Schulter. „Natürlich hätte ich das können“, sagte er sanft. „Ich habe darauf gewartet, daß Sie mich darum bitten.“ Sie warf den Kopf zurück. „Das würde ich nie getan haben!“ „Sie sind jedenfalls ganz gut damit fertig geworden. Die Übung hat Ihnen gut getan.“ „Nochmals vielen Dank. Aber ich bin eigentlich nicht hierhergekommen, um harte Übungen hinter mich zu bringen“, meinte sie hitzig. In diesem Augenblick
tauchte Peter bei ihnen auf und fragte sie, wie es gelaufen sei.
„Na, für einen Slalom reicht es noch nicht“, meinte Christian grinsend, „ aber die
Abfahrt hat sie schon gewagt.“
Peter sah besorgt aus. „Aber das hast du doch nicht etwa zugelassen?“
„Ich konnte sie nicht aufhalten, Imogen ist zu ungestüm“, entgegnete Christian.
„Aber jetzt bist du ja hier, da werde ich sie dir überlassen. Mal sehen, wie die
Abfahrt runter nach Edale aussieht.“
Damit wandte er sich um und glitt mit weitausholenden Schwüngen auf die
andere Seite des Hanges. Als er bei den Kindern vorbeikam, ließen Teddy und
Pamela ihren Schneemann im Stich, den sie gerade bauten, und stürmten hinter
ihm her.
„Kommen Sie, Imogen“, sagte Peter. „Das müssen wir sehen.“
3. KAPITEL Irgendwie brachte es Imogen fertig, Peter zu folgen und kam gerade noch
zurecht, um zu sehen, wie sich Christian in die Abfahrt schwang. Er schoß mit
halsbrecherischem Tempo den steilen Hang hinab. Es hatten sich jetzt noch
andere Skifahrer zu den Wainwrights gesellt, um ihr SkiIdol zu bestaunen und
seine gewagte Darbietung bewundern zu können.
Christian kam auf den Feldern im Tal zum Stehen und war nur noch ein winziger
dunkler Punkt auf einer makellos weißen Fläche.
„Wie kommt er jetzt zurück?“ wollte Teddy wissen. „Es ist doch so schrecklich
steil.“
„Das wirst du gleich sehen“, meinte sein Vater. Christian war wieder am Hang
unten angelangt und begann, den kürzesten Weg nehmend, aufzusteigen. Schon
wenig später stand er strahlend wie ein Wikingerheld neben seinen
bewundernden Zuschauern. Er sah wirklich blendend aus.
„Ein bißchen bucklig die Abfahrt“, meinte er und glitt aus der Skibindung.
Teddy und Pamela belagerten ihn und drängten, er solle ihnen bei ihrem
Schneemann helfen.
Imogen fühlte sich von ihrem Anstieg noch immer völlig erschöpft. Peter sah ihr
das an und schlug vor: „Wir werden hier warten.“ Damit scharrte er den Schnee
von einem Felsbrocken und breitete seinen Anorak darauf aus.
Zögernd fragte Imogen: „Werden Sie nicht ohne ihn frieren?“
„Nein, nein“, beruhigte er sie. „Es war mir jetzt schon in der Sonne zu warm.“
Da er einen dicken Pullover trug, glaubte ihm Imogen und ließ sich dankbar
nieder.
Die Sonn« brannte aus einem wolkenlos blauen Himmel auf sie herunter. Imogen
war berauscht von der Gebirgswelt. So etwas hatte sie noch nie gesehen.
„Läuft die Freundin auch Ski?“ fragte sie wie nebenbei.
„Ich habe keine Freundin“, antwortete er.
„Ich meine Christians. Das Mädchen, das am Telefon erwähnt wurde.“
„Ach Erica! Nein. Ich glaube, Christian versprach, ihr Skiunterricht zugeben.“
„Aha. Er scheint alle und jeden unterrichten zu wollen.“
„Das ist für ihn Übung.“
„Ja, das glaube ich.“ Sie lachte bei dem Gedanken in sich hinein, daß er bei ihr
wohl doch nicht auf Schwierigkeiten gefaßt gewesen war. „Dann hat er sich wohl
deshalb an mich herangemacht, weil sie noch nicht da ist?“
Peter bemerkte bestürzt ihren bitteren Unterton.
„Hat es Ihnen denn keinen Spaß gemacht?“ fragte er. „Christian gilt als guter
Skilehrer.“
„Mir gefällt aber seine Methode nicht“, erwiderte sie.
„Das tut mir leid. Ich nehme an, er hat keine Rücksicht darauf genommen, daß
Sie ein Mädchen sind.“
Peter sah fast bekümmert aus. „Er wird wohl noch lernen müssen, wie man mit
Frauen umgeht, wenn er mit seiner Skischule Erfolg haben will.“
„Hat er das vor?“
„Ja, wenn er sich mal vom Rennsport zurückzieht. Es ist auch an der Zeit, daß er
seßhaft wird – er geht auf die Dreißig zu.“
„Ein ehrwürdiges Alter“, bemerkte Imogen. Sie wußte, daß Peter erst
zweiundzwanzig war. „Diese Erica ist hoffentlich nicht enttäuscht, wenn sie
merkt, daß sie ihn verpaßte. Aber ihre Verbindung kann ja nicht sehr fest sein,
wenn sie nicht einmal wußte, daß er kommt, oder?“
„Christian gibt immer seinen Augenblickslaunen nach“, erklärte Peter. „Außerdem
ist Erica auch selten fort. Damit konnte Christian gar nicht rechnen.“ „Ist das etwas Ernstes?“ Imogen konnte sich diese Frage nicht verkneifen. Peter zuckte die Achseln. „Christian ist ein verdammt feiner Kerl“, meinte er. „Aber wenn es sich um Mädchen dreht, gehen mit ihm die Pferde durch. Dann läßt er sich vom Mondschein und einem hübschen Gesicht fangen. Und am nächsten Tag überlegt er, wie er ihnen klarmachen kann, daß er das niemals meinte, was er so dahingeredet hat.“ „Ich würde ihm nie etwas glauben“, sagte Imogen impulsiv. „Ich habe gelernt, wieviel die schönen Sprüche der Männer wert sind.“ Das mußte wohl hart und erbittert geklungen haben, denn Peter blickte vorwurfsvoll auf. „Wir sind aber nicht alle wie Christian. Bei mir können Sie sicher sein, daß ich alles so meine, was ich sage.“ „Dann müssen Sie die Ausnahme sein, die die Regel bestätigt“, meinte Imogen leichthin. „Sie haben wohl viele Männer in London kennengelernt? Gibt es da einen besonderen?“ Sie lachte auf, um ihren Schmerz zu verbergen. „Nein, ich bin frei wie ein Vogel.“ Sie sah den Ausdruck von Zufriedenheit auf seinem Gesicht und wußte im gleichen Augenblick, daß sie einen Fehler begangen hatte. Sie hätte ihm sagen müssen, daß sie sich gebunden fühlte, doch jetzt war es für eine Richtigstellung zu spät. Aber bitte, wenn er sich durchaus die Finger verbrennen wollte, war das ja seine Sache, dachte sie und verschloß sich jeder weicheren Regung. Peter beobachtete sie mit Bewunderung. Ihre Wangen waren von der Anstrengung des Berganstiegs gerötet, kleine Locken sahen keß unter ihrer Kappe hervor, und die großen grünen Augen waren strahlend und klar. „Das finde ich unbegreiflich“, sagte er lachend. „Ich hätte gedacht, daß die jungen Männer bei Ihnen Schlange stehen, um sich mit Ihnen zu verabreden.“ „Vielleicht. Nur muß man deshalb noch nicht gleich so interessiert sein. Vergnügen ist ja ganz schön, aber mehr will ich auch nicht. Ich glaube, ich habe keine Gefühle.“ Sie hoffte, er würde diese Warnung verstehen. „Das nehme ich Ihnen nicht ab“, erwiderte er ernsthaft. „Das können Sie mir doch nicht weismachen, Imogen! Wahrscheinlich ist Ihnen der richtige Mann noch nicht begegnet.“ Sie spürte den schmerzhaften Stich und schluckte. Gedankenverloren schweifte ihr Blick über die schneebedeckten Berge. Sie war dem richtigen Mann begegnet – und hatte ihn verloren.
„Entschuldigt, daß ich euch störe“, sagte plötzlich Lettice hinter ihnen. „Wir
müssen zum Essen zurück – wegen der Kinder.“
Sie bemerkte amüsiert Peters Verlegenheit und Imogens verschlossenes Gesicht.
„Leisten Sie uns Gesellschaft, Peter?“
„Ich würde ja gern, aber…“ Da erblickte er Christian, der mit einem leichten
Lächeln auf sie zutrat. „Was hast du jetzt vor, Christian?“ fragte er.
„Ich werde hierbleiben, solange der Schnee noch gut ist,“ kam die prompte
Antwort. „Ein kalter Imbiß genügt mir nachher, wenn ich nach Hause komme,
Letty. Ich glaube nicht, daß sich das Wetter noch lange hält.“
„Es gibt ohnehin nur Eintopf, den kann ich dir dann auch warmen“, meinte Lettice
verständnisvoll. Allzugut kannte sie die Abneigung ihres Stiefsohns Christian
gegen eine Unterbrechung interessanter Beschäftigungen. „Im Wetterbericht hieß
es, die Kälte bliebe.“
„Wetterberichte stimmen ja fast nie. Ich rieche schon das Tauwetter“,
behauptete er. „Sie wollen wohl nicht mehr bleiben, Imogen, nicht?“ „Nein, ich habe für heute genug“, sagte sie. „Auch wenn es vielleicht Ihre erste und letzte Gelegenheit sein sollte?“ forschte er und reichte ihr seine schlanke, gebräunte Hand, um ihr beim Aufstehen behilflich zu sein. Imogen übersah die Geste, stand auf und klopfte sich den Schnee vom Anzug. „Ich glaube nicht, daß ich jemals wieder Ski laufen werde“, entgegnete sie gereizt und setzte für sich in Gedanken hinzu: Mich wird es auch nicht danach drängen. Sie bemerkte Christians prüfenden Blick und fragte sich, was ihn wohl so an ihr interessieren mochte. Allerdings konnte sie im Augenblick nicht allzu attraktiv aussehen. Sicher glänzte ihre Nase und ein Makeup fehlte auch. Der Vergleich mit seiner Erica mußte ja zu ihren Ungunsten ausfallen. Sein zudringlicher Blick brachte sie aus der Fassung. Abrupt drehte sie sich um und ging zum Wagen zurück. Peter hatte sich entschlossen, Christian Gesellschaft zu leisten. Sie wollten dann zu Fuß zurückkommen. So konnte Joseph den Wagen für seine Familie nehmen. „Christian hat sich aber lange mit dir abgegeben“, bemerkte Lettice ein wenig später im Wagen neugierig. „Ich hatte ihn nicht darum gebeten“, gab Imogen zurück. „Das war seine Idee.“ Sie wollte nicht zugeben, daß die meiste Zeit bei dem schrecklichen Anstieg draufgegangen war. Sie überlegte, ob sich Erica jemals weinend hingesetzt hatte, wenn er zuviel von ihr verlangte, und ob Christian sie dann nach Hause gebracht hatte. Dieser Gedanke war ihr nicht sehr angenehm. Lettice begann zu lachen. „Peter hat das übrigens gar nicht gern gesehen. An dem hast du eine Eroberung gemacht, meine Liebe.“ „Das ist ja zum Umfallen komisch“, sagte Imogen ein wenig exaltiert. „Ich kenne ihn doch kaum.“ „Haben Sie schon jemals etwas von Liebe auf den ersten Blick gehört?“ fragte Joseph plötzlich. „Ja, in Büchern und Theaterstücken gibt’s das, aber niemals im wirklichen Leben“, antwortete Imogen gereizt. „Peter hat Wachstumsbeschwerden. Er ist doch noch kein fertiger Mann.“ „Er ist immerhin älter als du“, meinte Lettice freundlich. „Und solche Beschwerden können weh tun.“ Teddy piepste dazwischen: „Was sind Wachstumsbeschwerden, Mami? Habe ich die auch?“ Lettice versuchte sich an einer Erklärung für diese Beschwerden, während Imogen noch über Peter nachdachte. Es sah so aus, als ob der Junge Feuer gefangen hatte, und wenn er entschlossen sein sollte, ihr nachzulaufen, nun gut. Ein kurzer Flirt könnte eine nette Abwechslung bedeuten. Vermutlich war es auch mehr Strohfeuer, ohne richtige Leidenschaft. Bestimmt würde Peter sie ebensoschnell vergessen, wenn sie wieder abgereist war. Sie wollte ja ohnehin nur ein paar Wochen bleiben. * Erst mit einbrechender Dunkelheit kehrten die beiden jungen Männer zurück. Peter war erschöpft und ging gleich in seine Wohnung. Christian schien so frisch wie am frühen Morgen. Er aß in der Küche eine Riesenportion vom Mittagessen, was ihn aber nicht davon abhielt, eine Stunde später gemeinsam mit der Familie Tee zu trinken und eine kräftige Abendmahlzeit einzunehmen.
Im Westen zogen dunkle Regenwolken auf, und die Temperatur stieg an. Der Sprecher von der Wettervorhersage berichtigte sich und verkündete Tauwetter. „Na, Gott sei Dank!“ stieß Lettice aus. „Aber Christian, du bist sicher enttäuscht!“ „Nicht so sehr – höchstens Peters wegen“, erwiderte er. „Das Skilaufen hier ist ohnehin nicht ganz so toll für mich.“ „Aber ohne Ski wirst du dich schrecklich langweilen.“ „Keineswegs. Es gibt ja noch eine Menge anderer Zerstreuungen.“ Bei diesen Worten glitt sein Blick zu Imogen. Sie bemerkte es, und ihr Herz begann unwillkürlich schneller zu schlagen. Das hätte sie warnen müssen. Doch sie war zu überzeugt, daß Raymonds Treuebruch sie gegen Abenteuer unverwundbar gemacht hatte. Christian bedeutete ihr nicht mehr als eine flüchtige Bekanntschaft, wenigstens war er lustig und unterhaltend. Jedenfalls unterhaltender als Peter, und wenn er beabsichtigte, sich mit ihr zu vergnügen, so hatte sie nichts dagegen. Es würde schon der Zeitpunkt kommen, wo sie ihm sagen konnte, was sie von ihm hielt. Das würde er bestimmt nicht gern hören. Ihre grünen Augen blitzten, und ihr Lächeln war herausfordernd. Viviens Ratschläge begannen, Früchte zu tragen. Hatte sie nicht gesagt, daß es mit Männern ganz amüsant sei? Für Imogen war es neu, ihre Geschicklichkeit im Spiel mit dem Feuer zu proben. Am Abend, nachdem die Kinder zu Bett gebracht waren, saßen sie noch gemütlich vor dem offenenen Kamin zusammen. Man sprach von Greta Olsson, Christians Schwester. „Sie fühlt sich nicht sehr wohl“, erzählte Christian, der seine Schwester kürzlich gesehen hatte. „Jämtland ist für sie im Winter zu kalt. Sie möchte die Farm verkaufen und runter nach Stockholm ziehen. Dort kann sie dann vielleicht eine Arbeit annehmen, wenn sie jemanden für die Kinder findet. Ich werde zu ihr fahren und ihr bei der Auflösung des Hausstandes helfen.“ Imogen hörte kaum zu. Diese Greta in dem so entfernten Schweden war nur ein Name für sie. Beiläufig überlegte sie, ob sie ihrem Bruder ähnlich sei. So unwahrscheinlich war das nicht, sie waren ja schließlich Zwillingsgeschwister. „Ich habe meine Enkelkinder schon seit ihrer Babyzeit nicht mehr gesehen“, meinte Joseph und zeigte sich dankbar, daß sich Christian um Greta kümmern wollte. „Der kleine Sven muß doch jetzt fünf Jahre alt sein, nicht? Wollen wir sie mal im Sommer besuchen?“ Fragend blickte er zu Lettice hinüber. Sie nickte. „Aber bis zum Sommer ist es noch weit, auch in Mittelschweden.“ „Arme Greta!“ seufzte Joseph. Imogen stimmte ihm zu. Es mußte dort wirklich ein schreckliches Klima herrschen. Wie Christian schon geahnt hatte: Tauwetter setzte ein. In der Nacht regnete es in Strömen. Am nächsten Tag, dem Sonntag, war es trübe und kalt. Auf den Bergen schmolzen die Schneemassen und drohten, das Tal zu überfluten. Imogen ging mit Lettice und den Kindern in die Kirche. Sie hatte Ted und Pamela heute mit ihren kleinen Geschenken erfreut, obwohl die von Christian natürlich weitaus teurer waren. Am Nachmittag brachte Peter ihr Bücher und lud sie zum nächsten Wochenende zu einem Ausflug über Land ein. Er entschuldigte sich wenig überzeugend, leider nicht die ganze Familie einladen zu können, da sein Wagen für alle zu klein sei. „Ich könnte euch aber alle in meinem Wagen unterbringen“, warf Christian mit leichter Schadenfreude ein und blickte zu Peter. Der wunderte sich. „Bist du denn dann überhaupt noch hier?“ „Ich glaube schon.“ „Das ist ja schön“, sagte Peter mürrisch.
Christian setzte noch hinzu: „Sollte kein Schnee mehr liegen, können wir eine Fahrt durch die Täler und nach Matlock machen. Der dortige Tierpark ist das ganze Jahr über geöffnet.“ „Das ist aber weit“, warf Lettice etwas zweifelnd ein. „Ich habe einen schnellen Wagen.“ Die Kinder gerieten bei der Aussicht, den Tierpark zu besuchen, völlig aus dem Häuschen. „Gibt es dort Löwen?“ wollte Teddy wissen. „Nein, aber eine Wildkatze und eine Menge Bären.“ Imogen empfand so etwas wie Dankbarkeit, weil Christian Peters Versuch, mit ihr allein zu sein, vereitelt hatte. Es sah so aus, als ob er für Christian ein Rivale war, trotz dieser Erica. Dies war der Balsam, den sie brauchte, die seelischen Wunden, die ihr Raymond geschlagen hatte, zu lindern. Ohne sich selbst zu engagieren, machte ihr das Katze und Mausspiel der beiden jungen Männer Spaß. Peter war offensichtlich verdrossen. „Ich dachte eigentlich, Imogen würde sich am nächsten Samstag ganz gern mal von den Kindern erholen“, meinte er. „Aber warum sollen sie nicht auch ihren Spaß haben?“ fragte Christian sanft. „Ich wollte den Kindern einmal eine Freude machen. Wenn es Imogen zuviel wird, kannst du dich ja um sie kümmern, während ich Teddy und Pamela die Tiere zeige.“ Imogen und Peter sahen beide zu gleicher Zeit Christian an. Erst wollte er ein Zusammensein verhindern, und jetzt gab er ihnen die Gelegenheit dazu? Was sollte das? Oder war er sich seines Charmes so sicher, daß er nicht glauben konnte, sie würde mit Peter allein bleiben, wenn er in der Nähe war? Mit einem kleinen herausfordernden Lächeln sagte sie: „Wir sollten alle zusammenbleiben. Ich möchte gern Teddys und Pamelas Reaktion bei den Bären und Wildkatzen sehen.“ In der folgenden Woche war es sonnig und klar, gute Voraussetzungen für ihren Ausflug. Während der nächsten beiden Tage half Imogen vormittags Lettice im Haus und kümmerte sich um Pamela, solange ihr Bruder Teddy in der Schule war. Joseph und Peter gingen ihren Berufen nach, Joseph in Hope und Peter in Chinley. Christian war oft außer Haus, und Imogen überlegte, ob Erica Brayshaw wohl zurück sei. Jedenfalls sprachen weder Christian noch Lettice von ihr. Eines Nachmittags lud Christian sie zu einem Spaziergang zu den Winnats ein. Lettice konnte sie nicht begleiten, sie mußte Teddy von der Schule abholen. Imogen aber war froh über die Ablenkung. Zur Paßhöhe führte eine kleine Privatstraße hoch, die einmal die Hauptstraße gewesen war. An beiden Seiten wurde sie von grauen Felsklippen überragt. Christian erzählte, daß man hier im Sommer herrlich picknicken könne. Die Straße verlief bisweilen steil, war aber doch mit Autos befahrbar. „Damals muß es für die Kutschen eine Schinderei gewesen sein“, bemerkte Christian. „Es gab hier früher keine andere Straße, und die Felsen boten ein gutes Versteck für Räuber und anderes Gesindel.“ Imogen blickte zu den hohen, finsteren Bergspitzen hinauf und erschauerte. Sie murmelte: „Das muß ja hier in der Dunkelheit schrecklich unheimlich sein.“ „Ja, besonders wenn der Wind durch den Paß fegt und heult. Es klingt wie… wie verlorene Seelen.“ Die Paßstraße endete auf einem Hochplateau. Imogen sah sich um: Die zerklüfteten Felsen bildeten auf der Bergseite eine natürliche Schlucht. Als sie dann später die Straße zurückwanderten, im Windschatten vom Mam Tor,
fragte Christian sie, ob sie nicht Lust hätte, die Höhlen mit den Mineralquellen zu besichtigen, zum Beispiel die Treakquelle oder die BlueJohnQuelle. „Im TreakKliff befindet sich die einzige bekannte Quelle vom BlueJohnWasser in der Welt“, erklärte er mit einem gewissen Stolz. „Ich habe schon viel von BlueJohnWasser gehört. Aber was genau ist es nun?“ wollte Imogen wissen. „Es enthält Calcium Fluoride, die von dünnen Ölfilmen gefärbt sind, ferner kommt darin Bitumen vor, da das oxydierte Öl durch die Felsen sickert. In der Tat hat man in der Quelle auch Öl festgestellt.“ Aber als sie die Baracken am Höhleneingang erreichten, mußten sie erfahren, daß die Höhlen bis Ostern geschlossen waren. Unerschüttert begann Christian mit den Wächtern zu verhandeln, drückte ihnen ein Trinkgeld in die Hand mit dem Erfolg, daß man ihnen Eintritt gewährte. Sie durchquerten lange Felsengänge und stiegen glitschige Stufen hinab. Neben den Wasserläufen stießen sie immer wieder auf zahlreiche Stalaktiten und Stalagmiten, Steinsäulen und Tropfsteine. In der hintersten Höhle bildeten sie einen zarten Vorhang, der von’ Scheinwerfern angestrahlt wurde. Imogen hatte kein allzu großes Vergnügen an dieser Expedition ins Berginnere. Sie mußte immer an die ungeheuren Felsmassen über ihrem Kopf denken. Und als sie wieder ans Tageslicht stiegen, atmete sie auf. „Alle diese Berge hier rundum sind von Höhlen und unterirdischen Flüssen durchzogen“, erzählte Christian. „Da gibt es zum Beispiel den Speedwell. Das ist ein überflutetes Bergwerk, das man mit einem Boot befahren kann. Die überraschten Bergleute stießen eines Tages auf einen gewaltigen unterirdischen Wasserfall: Ein Fluß, von dem niemand weiß, woher er kommt und wohin er fließt.“ „Also eine Art Styx?“ fragte sie nervös. „Ich weiß nicht, ich habe nichts übrig für Höhlen. Ich bekomme darin Platzangst.“ Sie stiegen die unzähligen, frostglatten Stufen zum Höhleneingang hinauf, und Christian legte fürsorglich den Arm um sie. „Passen Sie auf!“ warnte er. „Ich passe immer auf“, gab sie zurück und lächelte herausfordernd in sein gebräuntes Gesicht, das so nah dem ihren war. „Ich bin immer sehr achtsam. Ich hoffe, Sie auch!“ Sie war überrascht, mit welcher Leichtigkeit ihr diese schnippischen Worte mit dem versteckten Doppelsinn über die Lippen kamen. Christians Arm brachte sie nicht aus der Fassung, ja sie empfand seine Nähe sogar wohltuend. Angenehme Schauer liefen ihr den Rücken hinunter. Er war verdammt anziehend. Aber sie wußte aus Erfahrung, wie äußerlich und bedeutungslos das war. Nur wenn Liebe hinzukam, konnte eine dauerhafte Bindung entstehen. Christian, so spürte sie jedenfalls, empfand die gleiche Verachtung für Liebe wie sie und Vivien. Er blickte sie mit einem amüsierten Lächeln an. „Und was meinen Sie genau mit diesem Satz?“ „Daß ich niemals zu weit gehe.“ „Vielen Dank für die Warnung“, bemerkte er leichthin und setzte dann etwas ernster hinzu: „Ich hoffe, Sie wollen bei Peter keine Ausnahme machen.“ * „Ach Peter!“ wehrte Imogen ab. Sie waren jetzt an der obersten Stufe angelangt,
und Imogen schob ungeduldig seinen Arm von sich. Sie wollte nicht an Peter
erinnert werden.
„Der Junge ist verwundbar“, meinte Christian.
Sie wollte schreien: Das war ich auch einmal und wurde verwundet. Aber laut
sagte sie: „So sieht er auch aus.“
„Er ist an den Umgang mit flotten jungen Damen aus der Großstadt nicht
gewöhnt.“
„Und warum warnen Sie ihn nicht?“
„Von mir würde er keine Warnung annehmen. Er würde denken, ich sei
eifersüchtig.“
„Und sind Sie es?“ fragte sie und blickte ihn von der Seite an.
„Ich glaube nicht, daß ich dazu Veranlassung hätte.“
Arroganter Bursche! dachte sie. Bildete er sich ein, er könne sie im
Handumdrehen haben? Aber wollte er sie denn haben? Sie musterte ihn unter
ihren langen Wimpern hervor und lächelte ihm verführerisch zu.
„Ich verstehe dieses Spiel auch“, sagte er lächelnd, doch mit Nachdruck. „Aber
Peter begreift nicht, daß es nur ein Spiel ist.“
„Dann wird er es eben lernen müssen“, erwiderte sie sanft.
„Ich möchte Sie bitten, ihn in Ruhe zu lassen.“
Das war unfair. Sie hatte es vermieden, mit Peter allein zu sein und versucht,
ihm keine Hoffnungen zu machen. Christian aber hatte ihre Bemühungen nicht
bemerkt. Natürlich war das auch nicht seine Sache.
„Haben Sie sich vorgenommen, seinen Wächter zu spielen?“ fragte sie
angriffslustig. „Das wird er Ihnen bestimmt nicht danken. Ich vermute, er ist
mündig und hat die Nabelschnur bereits durchbrennt.“
„Aber er ist ein schlichter und aufrichtiger Junge.“
„Ach, und Sie? Sie sind wohl weit weg von jeder Aufrichtigkeit?“
„Ich bin älter und erfahrener, Imogen, ich warne Sie! Wenn Sie Peter leiden
lassen, bekommen Sie es mit mir zu tun.“
„Wie dramatisch!“ stieß sie hervor. „Und was glauben Sie, werden Sie mit mir
machen?“
Sie begegnete dem Blick seiner blauen Augen und wich ihm aus. Sie entdeckte
darin etwas, das ihr das Blut schneller durch die Adern trieb.
„Das werden Sie ja sehen“, antwortete er kühl.
„Ich habe keine Angst vor leeren Drohungen.“ Sie lachte aufreizend. „Und ich
glaube auch nicht, daß Peter Lethwaite der dumme Junge ist, als den Sie ihn
hinstellen.“
Völlig unerwartet fragte er sie: „Sind Sie schon jemals verliebt gewesen?“
„Ach, reden Sie mir nicht von Liebe“, versetzte sie bitter. „Das ist doch ein
Märchen, ein romantischer Traum.“
Sie bemerkte, wie ernst seine Züge auf einmal waren. Beinahe mitleidig sah er
sie an. „Ich glaube, Sie sind einmal sehr verletzt worden.“
Sie zuckte zusammen. Er war bestimmt der letzte, dem sie sich anvertrauen
würde. Sie zweifelte nicht daran, daß sie ihn richtig einschätzte, und sie hielt ihn
für frivol, für hartgesotten. Genauso, wie sie selbst werden wollte. Wenn sie ihm
von Raymond erzählte, würde er sie für eine von diesen sanften, sentimentalen
Typen halten, denen er seinen Willen aufzwingen konnte.
Sie erreichten die Straße. Imogen kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen
zusammen und blickte ihn an.
„Denken Sie, was Sie wollen“, sagte sie kalt. „Aber es ist völlig falsch. Niemand
hat mich verletzt. Niemand wird das je schaffen. Ich bin immer so gewesen und
will auch so bleiben. Ich werde alles mitnehmen, was ich bekomme – und nichts
geben.“
Sie ging schnell weiter und hielt ihren Kopf sehr hoch. Er blieb an ihrer Seite und
sprach in ruhigem Ton:
„Was für einen unangenehmen Charakter geben sie sich selbst.“
„So bin ich eben. Ich war durchaus aufrichtig zu Ihnen.“
Er lächelte vage. „Ist das ein Kompliment – oder eine Warnung?“
„Das können Sie nehmen wie Sie wollen.“ Das Dorf kam jetzt in Sicht, und
Imogen setzte noch hinzu: „Sie sind ja sehr erpicht darauf, Ihren Freund Peter
vor meiner sündhaften Umgarnung zu bewahren. Aber sind Sie etwa besser als
ich? Was ist denn mit Ihren Freundinnen? Von denen sind bestimmt auch einige
verletzbar, oder?“
„Wer spricht denn hier von meinen Freundinnen?“ fragte er belustigt. „Wissen Sie
überhaupt, ob ich welche habe?“
„Es wäre schon höchst eigenartig, wenn Sie keine hätten. Ihre*
Familie sagt…“ Sie zögerte und versuchte sich zu erinnern, was sie gehört hatte.
„Erica! Jedenfalls gibt es doch eine Erica, nicht wahr?“ sagte sie triumphierend.
Er lachte. „Ein unkompliziertes Mädchen – genau wie Sie. Deshalb gibt es auch
keine gebrochenen Herzen.“
„Sie haben aber doch gleich bei Ihrem ersten Anruf nach ihm gefragt“, erinnerte
sie ihn.
„Stimmt. Ich wollte mit ihr etwas besprechen…“ Er schwieg und änderte dann
den Ton, „übrigens mal etwas anderes: Wartet in der Stadt ein Job auf Sie?“
Der plötzliche Gesprächswechsel verwirrte sie, und so antwortete sie ohne
nachzudenken:
„Nein, nichts Besonderes.“ Etwas hastig fügte sie hinzu: „Ich hoffe, daß mein
Agent irgendein Engagement für mich aufgetan hat.“
„Sie haben eigentlich einen sehr unsicheren Beruf“, bemerkte er.
„Ich kann jederzeit nach Hause fahren, wenn ich mal ohne Engagement bin“,
erklärte sie.
„Es macht Ihnen also nichts aus, von Ihren Eltern zu leben?“
Es machte ihr natürlich etwas aus, doch sie erwiderte nur steif: „Das ist doch
wohl meine Sache.“
„Verzeihung, ich wollte nicht unhöflich sein. Ich überlegte nur, ob Sie sich wohl
schon Gedanken gemacht haben, welchen anderen Verdienst Sie in Erwägung
ziehen könnten, sollte es einmal mit dem Theater aus sein.“
„Ich möchte nie etwas anderes tun als tanzen“, betonte sie.
„Dann hoffe ich nur, Sie werden einmal eine zweite Pawlowa. Aber falls Sie doch
mal Ihre Meinung ändern, wüßte ich einen Job für Sie, der Ihnen gefallen
könnte.“
„Vielleicht den, den Sie Erica antragen wollen?“
„Ich glaube, Sie eignen sich dafür besser.“
„Das ist kein Kompliment für mich. Außerdem glaube ich auch nicht, daß mir
irgendein Job von Ihnen überhaupt zusagen würde.“
Er lächelte nachsichtig über Ihre Unhöflichkeit. „Sie wissen ja gar nicht, worum
es geht. Ich kann sehr überzeugend wirken.“
„Daran zweifle ich nicht.“
Er fiel wieder in Schweigen, aber ihre Neugierde war geweckt, und so fragte sie:
„Was ist es also?“
Spöttisch sah er sie an. „Da Sie nicht an meinen Angeboten interessiert sind,
kann ich mir ja meine Worte sparen.“
„Sie sagten doch, Sie könnten sehr überzeugend wirken“, gab sie keß zurück.
„Sie würden also mein Angebot doch in Erwägung ziehen?“
Sie zuckte die Schulter. „Wie kann ich darauf antworten, solange ich nicht weiß,
worum es geht?“
Er lachte. „Tut mir leid, Sie zu enttäuschen. Aber es hat nichts mit Flirt und
Liebelei zu tun, ganz im Gegenteil. Es gibt da ein paar Dinge, die erst geklärt werden müßten.“ „Wollen Sie etwa vorher meine Zustimmung haben?“ fragte Imogen. „Nein. Aber ich möchte Ihnen ein vollständiges Angebot machen. Falls Sie dann ablehnen, könnte ich mich anderweitig umsehen.“ Diese Antwort ärgerte Imogen, und trotzig entgegnete sie: „Ich glaube nach wie vor nicht, daß es mich interessiert.“ Sie sah ihn an. Sie hoffte, daß er noch etwas sagen würde. Doch er ließ das Thema fallen. Lettice war sehr überrascht, als sie von ihrem Besuch an der Quelle hörte. „Mit etwas Bestechung wurden wir eingelassen“, meinte Christian. „Du schaffst doch wirklich alles“, sagte Lettice bewundernd. „Wenn ich es will, schon“, meinte er. „Aber Geld und schöne Worte waren hinausgeworfen. Imogen bekam da unten Platzangst.“ „Es gefiel mir sehr gut“, widersprach sie schnell und wollte nicht undankbar erscheinen. „Es war schon sehr interessant. Vielen Dank für alles. Auch für das Angebot, das Sie mir nicht machten.“ „Schon gut, alles zu seiner Zeit“, meinte er lässig. „Ich werde eben auf den richtigen psychologischen Augenblick warten.“ Obgleich Lettice sofort wissen wollte, worum es ging, erzählte es ihr keiner von beiden. Am nächsten Morgen fuhr Christian für ein paar Tage nach London, und Imogen mußte sich eingestehen, daß sie ihn vermißte. Sie erklärte sich diese Tatsache damit, daß er eine starke Persönlichkeit sei, und seine Abwesenheit deshalb eine Lücke hinterlasse. Sie fühlte sich auch ein wenig befreit, aber vor allem gelangweilt. In Christians Gegenwart kam Langeweile nie auf. Er hatte ihr nicht gesagt, welchen Vorschlag er ihr machen wollte, sondern nur ihre Neugier geweckt. Imogen nahm sich vor, sein Angebot auf keinen Fall anzunehmen, was es auch sei. Christian störte immer mehr ihren Seelenfrieden. Und trotz ihrer vorgegebenen Kühle war sie durchaus nicht sicher, ihm widerstehen zu können. Am Abend kam Peter zu Besuch. Aber sie wich jedem Gespräch mit ihm aus, indem sie vorschützte, fernsehen zu wollen. Es gab das ShakespeareStück „Viel Lärm um nichts.“ Und einige Verse waren ihr aus dem Herzen gesprochen: Seufzet nicht länger, ihr Frauen, denn immer schon waren Betrüger die Männer. Einen Fuß im Meer, und einen an Land, doch keinem Elemente treu. Ja, dachte Imogen, sie würde keinem nachweinen, weder Ray noch Christian. Shakespeare wußte schon, worüber er schrieb. Christian kehrte erst spät am Freitagabend zurück. Imogen war schon zu Bett gegangen. In ihrem Ärger hatte sie nicht einschlafen können, bis sie seine Stimme hörte. Sie redete sich ein, seine Rückkehr nur um der Kinder und des versprochenen Ausflugs willen so sehr gewünscht zu haben.
4. KAPITEL Am Ausflugstag hatten sie Glück mit dem Wetter. Die Sonne schien, und der Schnee war verschwunden. Die Fahrt ging durch Täler, Schluchten und über baumlose Hochmoore. Das Schloß, dem der Tierpark angegliedert war, hatte keine historische Vergangenheit. Es verdankte seine häßliche Existenz dem Spleen eines reichen Mannes. Der Mittelteil war schon verfallen, doch die Ecktürme und Verbindungsmauern standen noch. Dieser merkwürdige Bau befand sich auf einer Anhöhe über dem Tal, und von hier aus hatte man einen großartigen Blick. Fluß, Straßen und Eisenbahnen sahen tief unter ihnen wie Spielzeug aus. Imogen konnte sich kaum losreißen von dem herrlichen Ausblick. Das Schloß war übrigens von einer Gruppe Zoologen übernommen worden, und die hatten hier einen Tierpark angelegt. Es gab eine Menge Vogelarten, Ottern, Biber. Dann die versprochenen Bären, die ruhelos in ihren Gehegen umhertrabten. Schließlich Füchse und eine Wildkatze, die sich enttäuschenderweise zum Schlafen zusammengerollt hatte und wie eine normale sanfte Hauskatze aussah. Lettice hatte einen Picknickkorb gepackt. Da es im Freien aber zu kalt war, aßen sie gemeinsam im Wagen. Anschließend wollten sie sich noch ein wenig die Füße vertreten, wobei Peter verschiedene Versuche unternahm, mit Imogen allein zu sein. Doch Teddy hängte sich an sie, und sie ließ sich geduldig von ihm alles mögliche über die Tiere erzählen. Christian wurde von seiner kleinen Halbschwester in Beschlag genommen, die sich die meiste Zeit von ihm herumschleppen ließ. Imogen spürte, daß sein Blick oft auf ihr ruhte. Doch er unternahm keinen Versuch, sich ihr anzuschließen. Teddy wollte plötzlich den Schloßhof erkunden. Als sie durch das unversperrte Tor eintraten, fanden sie sich auf allen vier Seiten von den zerbröckelnden Gebäudemauern umgeben. Einige Schilder warnten vor dem Betreten der Ruine, und ein paar Krähen, die sich träge in die Luft schwangen, vervollständigten die triste Stimmung. „Können wir nicht hinein?“ wollte Teddy wissen. Imogen schüttelte den Kopf und ging mit ihm zum Eingang zurück. Das Kind war enttäuscht, aber auch beeindruckt. Am Tor kam ihnen Peter entgegen und rief: „Schnell, Teddy, beeil dich! Jetzt werden gerade die Ottern gefüttert.“ Teddy flitzte davon, und im nächsten Augenblick war Peter mit Imogen allein. „Bitte, bleiben Sie!“ bat er. „Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, miteinander zu sprechen. Sie waren ja von diesen Bälgern schrecklich in Anspruch genommen.“ „Ich mag Kinder“, sagte sie zurückhaltend. „Sie wollen damit sagen, Sie ziehen ihre Gesellschaft meiner vor.“ „Aber nein! Seien Sie nicht so empfindlich. Es macht den Kindern doch soviel Spaß.“ Imogen wollte ihn weder verletzen noch ermutigen. Christians warnende Worte hatten eine tiefere Wirkung hinterlassen, als sie sich eingestehen mochte. Dieser junge Mann verdiente wenigstens Aufrichtigkeit. Sie standen mitten im Schloßhof, verborgen hinter einem Mauerrest, als Peter fast anklagend feststellte: „Sie können es doch nicht leugnen, daß Sie mir aus dem Weg gehen.“ „Es ist nur zu Ihrem eigenen Besten“, verteidigte sich Imogen. „Sehen Sie, ich bin doch nicht das richtige Mädchen für Sie. Außerdem kennen Sie mich überhaupt nicht.“
„Ich kenne Sie besser, als Sie glauben“, behauptete er.
„Sie machen sich ein falsches Bild, Peter“, sagte sie freundlich. „Ich bin
oberflächlich und nur gut zum Flirten. Ich will weiter nichts, als mich vergnügen.“
„Sie wollen mich nur abwimmeln. Oberflächliche und vergnügungssüchtige
Mädchen kommen nicht in Orte wie Castleton, und sie geben sich auch nicht mit
Kindern ab. Ich habe genau beobachtet, wie sie sich um Teddy kümmerten.“
Imogen schüttelte den Kopf und lächelte traurig. „Das ist etwas anderes. Ich kam
hierher, weil ich mich nicht besonders wohl fühlte…“ Sie brach ab. Wieder fiel ihr
schmerzhaft ihr Kummer ein. Aber das konnte und wollte sie Peter nicht
erzählen.
„Ich fahre ohnehin bald nach London zurück“, fuhr sie lebhafter fort. „Die vielen
Geschäfte… die Parties… das liebe ich! Sie würden ein solches Leben hassen.“
Zweifelnd sah er sie an.
„Auch von Ihnen glaube ich nicht, daß Sie das mögen“, entgegnete er langsam.
„Der wahre Grund, warum Sie mir aus dem Weg gehen, liegt bei Christian.“
„Christian?“ wiederholte sie und lachte laut auf. „O Gott, Peter, den habe ich
doch kaum angesehen! Seine athletischen Vorführungen interessieren mich
ebenso wenig wie seine Person. Er wäre der letzte, in den ich mich verlieben
könnte. Außerdem gibt’s ja noch diese Erica, nicht?“
Aber Peter war so schnell nicht zu überzeugen. Immerhin glaubte er von seinem
Freund, daß er auf jede Frau unwiderstehlich wirken mußte. Deshalb sagte er,
ohne auf Imogens letzten Satz einzugehen: „Zu schade, daß er gerade
herkommen mußte, wo Sie auch hier sind.“
„Sein Hiersein hat für mich keine Bedeutung“, wehrte Imogen ab. „Bitte, Peter,
verstehen Sie mich doch! Ich mag Sie als Freund. Aber mehr als Freundschaft
kann ich Ihnen nicht geben.“
„Sie mögen mich nicht“, sagte er verstimmt. „Weil ich nur ein kleiner
Büroangestellter bin. Aber ich werde es auch einmal weiterbringen…!“
Imogen berührte sanft seinen Arm. „Das ist doch Unsinn!“
Impulsiv schloß er seine Hand um ihre und drückte sie fest.
„Wir sollten wieder zu den anderen gehen“, drängte sie.
„Nein, bitte noch nicht.“
Sie wandte den Kopf zur Seite, als Peter versuchte, sie an sich zu ziehen und zu
küssen. Im selben Moment sah sie Christian am Eingang zum Schloßhof stehen.
Sie trat rasch einen Schritt von Peter weg und ärgerte sich, daß sie rot geworden
war.
„Letty bat mich, euch zu suchen“, sagte Christian. „Es ist Zeit, nach Hause zu
fahren.“
Peter lachte verlegen und ging etwas unsicher auf Christian zu. „Ich wollte dir
gerade einen Vorschlag machen, alter Bursche: Wie wär’s morgen mit einer
kleinen Bergtour, wenn sich das Wetter hält? Ich habe immer schon mal den
Combes Mos besteigen wollen, habe aber damit gewartet, bis du da bist.“
Christian warf Peter einen ärgerlichen Blick zu. „Was soll das jetzt?“ fragte er.
„Wenn du wirklich morgen dahin willst, können wir ja heute abend noch darüber
sprechen!“
Und das schienen sie auch getan zu haben. Jedenfalls sah Imogen keinen von
beiden am Abend wieder.
„Ich wußte gar nicht, daß die Gegend um Derbyshire soviel Bergtouren bietet“,
sagte sie beim Abendessen zu Joseph.
„Nein? Na ja, in Wales gibt’s natürlich höhere Berge, aber bei uns kann man auch
schon Klettertouren unternehmen. Zum Beispiel der Limestone ist bestimmt
nichts für Unerfahrene. Wollen Sie auch eine Tour machen?“
„Nein, nein, ich wollte es nur einmal wissen.“ „Ach, dann hat wohl Christian mit Ihnen darüber gesprochen. Er hat schon alle Berge rundum bestiegen.“ Imogen fragte sich, ob es wohl eine Sportart gab, die Christian nicht betrieb. Sie befürchtete, daß Peter etwas Spektakuläres vorhabe, um ihr Eindruck zu machen. Doch wenn er sich in Christians Gesellschaft befand, konnte ihm nicht viel geschehen. Die Lust, mit Peter zu flirten, war ihr jedenfalls vergangen. Er war wirklich verletzlich. Vivien mochte vielleicht in der Lage sein, verliebte Männer an der Nase herumzuführen. Aber sie, Imogen, erkannte, daß sie anders war als Vivien. Sie konnte Raymonds Treulosigkeit nicht an Peter rächen. Sie überlegte auch, daß sie den Wainwrights nicht länger zur Last fallen und sich in nächster Zeit um ein Engagement bemühen wollte. Sie fürchtete sich nicht mehr so sehr, in die vertraute Umgebung zurückzukehren. Die Liebe zu Raymond begann zu verblassen. Doch sie mußte auf jeden Fall vermeiden, daß ein neuer Mann in ihrem Leben wieder eine Rolle spielte. So beschloß sie, möglichst bald abzureisen. * Der Sonntag begann mit strahlendem Frostwetter. Peter und Christian waren zu ihrer Bergtour aufgebrochen, obgleich Lettice warnte, daß es in den Bergen nach dem starken Schneefall nicht ganz ungefährlich sei. Die beiden unternehmungslustigen Männer lachten sie aber nur aus. Am späten Nachmittag rief Christian an und bat die Lethwaites, Peters Eltern, ans Telefon. Sie hatten einen Unfall gehabt, und Peter sei in Buxton ins Krankenhaus eingeliefert worden. „Ist es ernst?“ fragte Imogen, als Mrs. Lethwaite nachher mit Joseph im Wohnzimmer sprach. „Ein gebrochenes Bein und ein paar kleinere Verletzungen.“ Joseph sah bestürzt aus, und Imogen empfand so etwas wie Schuld. Sie hatte gefühlt, daß etwas Ähnliches geschehen würde, hatte Peter die Tour jedoch nicht ausreden können. Spät am Abend kam dann Christian zurück. Er meinte, Peter ginge es ganz gut. Aber er mochte sich nicht weiter über den Unfall auslassen, obwohl Lettice ihn mit Fragen bestürmte. Sie bekamen nur soviel heraus, daß Peter leichtsinnig gewesen war und nicht einmal ein Seil benutzt hatte. „Das sieht ihm so gar nicht ähnlich!“ rief Lettice aus. „Er ist doch sonst immer so vorsichtig!“ „Das kann man wohl sagen“, meinte Christian gereizt. „Nur glaubte er, vorsichtig zu sein gilt nicht als mutig.“ Er blickte zu Imogen. „Kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen – allein?“ überrascht folgte sie ihm hinaus in den Flur. Er ging geradewegs in die Küche und schloß die Tür. Sofort begann er ziemlich grob: „Peter hat nach Ihnen gefragt. Ich habe ihm versprochen, Sie morgen zu ihm zu bringen!“ Imogen blickte ihn verblüfft an. „Wenn er mich tatsächlich sehen will, komme ich natürlich mit, aber…“ „Was aber?“ Die Frage kam scharf wie ein Pistolenschuß. „Ich… ich möchte nicht, daß man daraus irgend etwas ableitet“, platzte sie heraus. „Wenn ich ihn im Krankenhaus besuche, was denkt dann seine Familie von mir?“ „Was geht das uns an, was die denken?“ explodierte Christian. „Peter ist gestürzt, weil er versuchte, bei Ihnen Eindruck zu schinden.“
„Aber ich war doch gar nicht dabei…“
„Sie hätten es ja erfahren! Peter wollte Ihnen und sich beweisen, was für ein
toller Bursche er doch ist, genau wie – na sagen wir, wie ich.“
„Das ist aber unfair, mir die Schuld daran zu geben“, verteidigte sich Imogen.
„Damit habe ich nichts zu tun.“
„Verzeihung, aber damit haben Sie sehr wohl etwas zu tun.“
„Nein! Ich mag keine sportlichen Heldentaten – derartige Energien kann man
besser einsetzen, glaube ich.“
Sie bemerkte sofort seinen betroffenen Gesichtsausdruck auf ihre Worte, die
auch an seine Adresse gerichtet sein konnten. Aber entschuldigen wollte sie sich
nicht. Es war ganz gut für ihn zu wissen, daß es wenigstens einen Menschen gab,
den seine Goldmedaillen nicht beeindruckten.
„Was Sie auch immer glauben“, versetzte er brüsk, „Sie können jetzt nicht so
tun, als hätten Sie Peter dazu nicht angestiftet.“
„Das können Sie doch nicht behaupten! Sie sind nicht immer dabei gewesen, und
Peter sollte nicht alles so ernst nehmen. Schließlich kennt er mich ja erst eine
Woche.“
„Männer in seinem Alter fangen über Nacht Feuer“, erklärte Christian aus seiner
um sieben Jahre älteren Erfahrung heraus. „Und Sie verkörpern für ihn den
ganzen Glanz des Theaters, Sie kommen noch dazu aus der Großstadt.“ Sein Ton
klang verletzend ironisch. „Man müßte ihm sagen, daß Schauspielerinnen oft
leichtlebig sind! Sie wissen sehr wohl, was im Schloßhof vorgegangen ist, nicht
wahr? Sie haben doch Ihren Spaß daran, mit Peters Gefühlen zuspielen!“
„Nein, Christian, da irren Sie sich!“ stieß sie hervor.
Mit seinen harten Worten hatte er sie so charakterisiert, wie sie sich ihm
gegenüber gegeben hatte. Aber nun wollte sie nicht länger als diese Art Mädchen
dastehen. Sie mußte ihm klarmachen, daß sie im Grunde ganz anders war. „Es
hat mir keinen Spaß gemacht“, verteidigte sie sich aufgebracht. „Ich habe
versucht, Peter abzuwimmeln. Ich selber habe ihm sogar gesagt, daß ich das bin,
was Sie so charmant als leichtlebiges Mädchen bezeichnen.“
„Wirklich? Und das haben Sie ihm im Schloßhof gesagt?“
„Ja. Ich wollte ihn zu nichts ermutigen.“
Ihr fiel ein, daß Christian sie gerade in dem Augenblick im Schloßhof beobachtet
hatte, als Peter sie an sich ziehen und küssen wollte.
„Für mich sah das aber ganz anders aus“, meinte er trocken. „Doch wie immer es
auch war, morgen kommen Sie mit mir nach Buxton, und wenn ich Sie an den
Haaren hinziehen müßte.“
Das würdest du weiß Gott, dachte Imogen und sagte laut: „Natürlich komme ich
mit, wenn Sie es für richtig halten.“
„Aber gezögert haben Sie erst… Sie suchten nach einer Ausrede.“
„Nur, weil ich keine falschen Hoffnungen wecken möchte.“
„Daran denken Sie ein bißchen spät, finde ich.“ Er sah sie mit
undurchdringlichem Blick an. „Warum können Sie seine Hoffnungen eigentlich
nicht erfüllen? Was stimmt an Peter nicht?“
„Alles stimmt. Er ist ein netter Junge. Nur bin ich nicht im geringsten in ihn
verliebt.“
„Ich bezweifle, ob Sie überhaupt von ganzem Herzen lieben können“, sagte er
mit einem höhnischen Lächeln, das der intensive, etwas fragende Blick seiner
Augen Lügen strafte.
„Ich will es auch nicht“, blitzte sie ihn an. „Liebe kann weh tun.“
„Das weiß ich nicht – habe es noch nicht ausprobiert. Aber Peter ist schon
verletzt. Und nicht nur im Gefühl, wie Sie wissen.“
„Deshalb habe ich ja auch überlegt, wie ich mich am besten verhalte“, sagte sie
ernst.
„Bestimmt? Sind Sie da auch ehrlich? Also gehen Sie zu ihm und seien Sie nett –
wenn Sie können!“
Christian mußte annehmen, daß zwischen ihr und Peter mehr gewesen war,
dachte sie. Und sie konnte ihn nicht überzeugen, daß es nicht so war.
„Ich komme morgen ins Krankenhaus. Aber kann ich nicht den Zug oder den Bus
nehmen?“
„Sie können schon. Nur ist es ein bißchen umständlich und langwierig. Ist Ihnen
meine Gesellschaft so lästig?“
„Wenn Sie so mit mir sprechen wie eben, ja.“
Er lachte. „Sie vertragen keine offenen Worte, schätze ich.“
Er trat einen Schritt auf sie zu und blickte auf sie herunter. „Männer bedeuten für
Sie nur Amüsement, wie? Sie sind lüstern und dauernd auf Eroberungen aus,
nicht wahr? Und Peter ist nicht aufregend genug für Sie.“
Ärger stieg in Imogen auf. Er wurde langsam unerträglich.
„Männer können sehr gut auf sich selbst aufpassen“, sagte sie kalt. „Sie
bekommen das, was ihnen gebührt.“
„Sogar ein gebrochenes Bein?“ fragte er spöttisch. Das brachte Imogen zur
Besinnung. Sie hatte mit ihren Worten ja nicht Peter gemeint.
Plötzlich legte Christian seine Hände auf ihre Schultern und sah sie mit einem so
eigentümlichen Blick an, daß sie völlig aus der Fassung geriet.
„Sie sind eine verdammte kleine Hexe“, sagte er leise. „Kein Wunder, daß sich
Peter bis über beide Ohren in Sie verknallt hat. Aber der arme Junge ist Ihnen ja
gar nicht gewachsen. Sie brauchen Ihren Meister!“
Jäh befreite sie sich aus seinem Griff und schlug ihm mit aller Kraft auf seinen
spöttischen Mund. Seine Reaktion kam schnell und unbarmherzig. Er riß sie an
sich und preßte seine festen Lippen auf ihren weichen Mund. Es gab kein
Entrinnen. Als er sie endlich losließ, taumelte Imogen zurück gegen den
Küchentisch. Ihre Augen sprühten vor Zorn, sie fuhr ihn an: „Wie können Sie es
wagen, mich so zu behandeln!“
Er lächelte. „Ich fürchte mich nicht vor kleinen Tigerkatzen. Aber ich lasse mich
auch nicht von ihnen kratzen.“
Imogen ballte die Hände. „Ich hasse Sie! Und ich verachte Sie!“
„Ganz meinerseits“, funkelte er sie spöttisch an. „Oder genauer gesagt, Sie sind
mir im Augenblick gleichgültig.“
„Und weshalb haben sie mich dann…“ begann sie und verstummte. Ihr wurde
klar, daß er sie nur zur Strafe geküßt hatte, ihre Reaktion aber genau so war, wie
er sie erwartete. Deshalb änderte sie ihre Taktik. Sie gönnte ihm nicht die
Genugtuung, sie entrüstet zu sehen.
„Ihre Methoden sind ein wenig grob“, meinte sie also kühl. „Für Mädchen vom
Lande ist das vielleicht die richtige Art, aber ich bin da an eine raffiniertere
Technik gewöhnt.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Die wesentliche Sache ist immer gleich.“
„Sie meinen Sex?“ fragte sie und hoffte, überlegen genug zu klingen.
„Natürlich“, erwiderte er. „Das ist doch das einzige, was zwischen Ihnen und mir
stattfinden könnte. Allerdings müßten Sie sich noch ein bißchen anstrengen.
Trotzdem, ich glaube nicht, daß Sie immer so ein Eisberg sind!“
Sie trat zum Waschbecken und ließ das kalte Wasser laufen. Sie war bei weitem
nicht so ruhig, wie sie gern erscheinen wollte. Ihr Herz schlug wild und
unregelmäßig, sie war sich seiner Gegenwart nur allzusehr bewußt. Entschlossen
trank sie ein Glas Wasser und wischte sich den Mund ab.
„Ich verstehe schon“, fuhr er fort. „Sie glauben wohl, ich wäre nur ein grober Sportler und hätte nicht die Erfahrung wie Ihre städtischen Freunde. Wahrscheinlich bevorzugen Sie dunkle, südländische Schmalztypen.“ Seine Worte trafen sie unvermutet heftig. Raymond war ein dunkler, südländischer Typ und hatte es immer sehr gut verstanden, sich mit nichtssagender Höflichkeit bei Frauen einzuschmeicheln. Sie schluckte und rief sich schnell in Erinnerung, daß alle Männer Betrüger waren, egal ob Raymond oder Christian. Sie blickte ihn ausdruckslos an. „Ich glaube nicht, daß uns diese Unterhaltung weiterbringt. Gehen wir doch zurück ins Wohnzimmer.“ „Bitte!“ Damit hielt er für sie die Tür auf. „Wenigstens weiß ich jetzt, woran ich bin.“ Lettice blickte ihnen neugierig entgegen, als sie das Wohnzimmer betraten. „Wo wart ihr denn so lange?“ fragte sie. Christian grinste sie an und erwiderte: „Imogen hatte die dumme Idee, nach Buxton mit dem Zug zu fahren. Ich habe sie überredet, daß es mit dem Wagen einfacher ist, und daß sie sich auf meine Fahrkünste verlassen kann.“ Den Rest des Abends verbrachten sie mit Fernsehen. Imogen hielt sich so weit wie möglich von Christian entfernt und starrte angestrengt auf den Bildschirm. Bei dem Gedanken, Peter morgen im Krankenhaus zu besuchen, fühlte sie sich nicht besonders wohl. Sie befürchtete, daß ihr Mitleid mit ihr durchginge und sie sich zu Versprechungen hinreißen ließe, die sie nicht erfüllen konnte, wenn sie ihn dort so elend und verletzt sehen würde. Am nächsten Morgen kam zu ihrer Stimmung noch hinzu, daß Christian sie mißtrauisch beobachtete. Glaubte er, daß sie noch im letzten Augenblick kneifen wollte? So fügte sie sich in das Unvermeidliche. Die Wainwrights betrachteten es ohnehin als selbstverständlich, daß sie mit Christian fuhr. Ihre Hoffnung, daß Peters Eltern vielleicht ebenfalls mitkämen, wurde mit der Nachricht zunichte gemacht, daß sie schon in Buxton waren. Es war wieder strahlendes, frisches Winterwetter, als sie schließlich am Nachmittag aufbrachen. Christian erklärte ihr während der Fahrt die Umgebung und unterhielt sie so unpersönlich, als hätte sich der Vorfall am gestrigen Abend in der Küche niemals ereignet. Obgleich sie sich so sehr gegen seine Gesellschaft gewehrt hatte, war sie ihr jetzt doch nicht mehr so unangenehm. Peter begrüßte Imogen mit einem zaghaften Lächeln, als Christian sie ins Zimmer schob. Ein Bein und sein Kopf waren dick verbunden. Etwas verlegen legte Imogen die mitgebrachten Früchte, Blumen und Zeitschriften aufs Bett. Christian entschuldigte sich und erklärte, Imogen würde ihn zum Ende der Besuchszeit draußen finden. Eine hübsche Krankenschwester betrat den Raum, um die Blumen zu versorgen. Amüsiert bemerkte Imogen, wie Peters Blicke ihr beim Hinausgehen folgten. „Sie ist sehr hübsch“, lächelte Imogen und fragte sich, ob Peters leicht entflammbares Wesen sich bereits von einem anderen Mädchen beeindrucken ließ. Hoffentlich, dachte sie. Es wäre eine große Erleichterung für sie. „Aber längst nicht so hübsch wie Sie“, meinte Peter mit einem hörbaren Seufzer. „Es ist riesig nett, Imogen, daß Sie kamen. Das verdiene ich eigentlich gar nicht – ich Narr.“
„Solche Unfälle können jedem passieren“, versuchte sie zu trösten.
„Aber diesem hätte ich aus dem Weg gehen können. Ich habe mich idiotisch
benommen. Ich wußte doch, daß der Fels mürbe ist. Gott sei Dank war Christian
nicht mit angeschnallt – ich hätte ihn in die Tiefe gerissen. So habe ich nur den
halben Berg mitgenommen.“
„Es war eben Pech“, meinte Imogen.
„Nein, reine Ungeschicklichkeit – ich habe mich leichtsinnig verhalten…“
„Ist ja vorbei…“ schnitt sie ein wenig ungeduldig seine Erklärungen ab. „Wann
kommen Sie wieder nach Hause?“
„Morgen oder übermorgen. Mein Bein bleibt zwar noch in Gips, aber ich kann ja
mit Krücken humpeln. Schrecklich unromantisch!“
„Ach, was macht das schon. Sie sollten dankbar sein, daß Sie noch leben.“
Er schnitt eine Grimasse. „Es hätte mir nichts ausgemacht, wenn alles vorbei
gewesen wäre.“
„Sie versündigen sich“, schalt sie ihn. „Sie sind jung und haben noch das ganze
Leben vor sich.“
Aber sie verstand seine Gefühle. Sie hatte auch einmal so geredet, nachdem
Raymond sie verlassen hatte. Jedoch bei ihr war es schließlich etwas anderes
gewesen. Immerhin hatte Raymond so lange Zeit zu ihr gehört, während Peter
sie gerade erst kennengelernt hatte.
„Ich bin kein Feigling“, sagte er plötzlich. „Aber mit Christian kann ich nicht
konkurrieren.“
„Warum sollten Sie auch?“ versetzte sie heftig. „Im Sport zu glänzen, ist nicht
alles. Sie haben einen viel besseren Charakter.“
„Herzlichen Dank. Aber der gute Charakter imponiert Mädchen nicht“, erwiderte
er bitter. „Stimmt’s?“
Imogen hätte ihn am liebsten geschüttelt. Statt dessen bemühte sie sich, nett zu
antworten: „Aber Peter – Sie wollen doch kein Casanova werden. Eines Tages
läuft Ihnen bestimmt ein schnuckeliges Mädchen über den Weg, das all Ihre
guten Eigenschaften schätzt.“
„Was Sie nicht tun.“
„Doch!“ Sie zeigte nichts mehr von der zynischen Haltung, die sie ihm gegenüber
einmal angenommen hatte. „Lieber Peter, ich wünschte, ich könnte Sie lieben –
aber befehlen kann man so etwas nicht. Ich glaube, ich werde nie wieder irgend
jemanden lieben.“
„Nie wieder?“ fragte er schnell.
Sie lächelte ihn traurig an. „Ich wollte es nicht erwähnen, es ist eine
schmerzliche alte Geschichte. Aber Sie verdienen die erste Liebe eines Mädchens,
und es gibt so viele nette – zum Beispiel diese kleine Krankenschwester hier.“
„Ja, sie ist sehr niedlich“, gab er zu.
„Wie ein Lämmchen, und vielleicht hat sie auch etwas für Sie übrig. So wie sie
Sie vorhin ansah…“ Imogen fiel das Lächeln der jungen Krankenschwester ein,
als sie die Blumen holte. Es schien mehr als ein berufsmäßiges Lächeln zu sein.
Als die Besuchszeit zu Ende war, atmete Imogen auf. Und weil sie Peter trösten
wollte, machte sie noch ein paar unbesonnene Versprechungen, um ihm zu
helfen, schneller gesund zu werden.
Ich weiß jetzt schon, wie es kommt, dachte sie, während sie den Flur
entlangging. Wenn ich Peter nochmals besuche, wird Christian mich
beschuldigen, ihn erneut ermutigt zu haben. Wenn ich es nicht tue, unterstellt er
mir, ich sei herzlos. Was soll ich also machen?
Bezeichnenderweise dachte sie nur an Christians Reaktion und nicht an Peters.
Mit dem Gefühl der Erleichterung, eine schwere Aufgabe gelöst zu haben, trat
Imogen hinaus auf den sonnigen Vorplatz des Krankenhauses.
Christian stand schon wartend neben seinem Wagen und rauchte eine Zigarette.
Sie sah ihn, noch bevor er sie bemerkte. Sein Profil hob sich klargeschnitten
gegen die entfernten Berge ab. Er blickte mit einem weltvergessenen
Gesichtsausdruck zu ihnen hin.
Wahrscheinlich träumt er von kommenden Siegen, dachte Imogen. Sie erkannte
dabei nicht, daß ihre Abneigung gegen seine Abenteuer dem natürlichen
weiblichen Wunsch entsprang, die erste Geige im Leben eines Mannes zu spielen.
Als sie dann im Wagen saßen, schlug Christian vor: „Wie wär’s mit einer Tasse
Tee nach dieser Feuerprobe?“
Das wäre an sich ganz gut, fand sie. Aber mit ihm wollte sie keinen Tee trinken.
„Ich möchte eigentlich direkt nach Hause“, antwortete sie steif.
„Schade. Ich würde gern noch einmal mit Ihnen über meinen Vorschlag
sprechen, wissen Sie…“
Bei ihr war jegliche Neugier darauf seit dem Vorfall in der Küche erstorben.
„Das ist verlorene Zeit“, warf sie ein. „Nichts was Sie mir vorschlagen könnten,
würde mich interessieren.“
„Wie können Sie da so sicher sein, wenn Sie gar nicht wissen, worum es sich
dreht?“ fragte er sanft. Er hielt jetzt auf einem Parkplatz und wandte sich zu ihr.
„Sie benehmen sich wie ein kleines Kind, Imogen. Ich dachte, Sie wären klüger.
Warum versuchen Sie nicht, erwachsen zu werden?“
Auch diese Bemerkung war nicht dazu angetan, sie milder zu stimmen. Sie
starrte auf die Knöpfe am Armaturenbrett und erwiderte kühl: „Seit gestern
abend möchte ich mit Ihnen nichts mehr zu tun haben, Mister Wainwright, und
auch nur soviel Zeit in Ihrer Gesellschaft verbringen, wie unbedingt nötig.“
Das war wohl deutlich genug, um ihn endlich zu bewegen, schleunigst nach
Hause zu fahren – dachte sie. Statt dessen aber brach er in schallendes
Gelächter aus.
„Mein Gott, können Sie giftig sein! Ihre grünen Augen glitzern wie die einer
Schlange. Sie möchten mich am liebsten vergiften. Glauben Sie wirklich, daß Sie
mir etwas vormachen können, Imogen?“
Wütend starrte sie in seine spöttischen Augen.
„Ich könnte mit Vergnügen zusehen, wie Sie sich in Krämpfen winden.“
„Das könnten Sie nicht, und das wissen Sie auch. Der Anblick wäre nicht sehr
schön. Aber kommen wir noch einmal zum Tee zurück. Ich bin ziemlich sicher,
daß Sie ihn nötig haben und jetzt nur zu trotzig sind, um nachzugeben.“
Er stieg aus dem Wagen, ging zur Beifahrertür, öffnete sie und bat:
„Nun kommen Sie schon! Seien Sie nicht albern!“
Sie begegnete seinem Blick und brach ebenfalls in Lachen aus. Er hatte ja recht,
sie hatte sich kindisch benommen. So würde Vivien sich nie verhalten. Vivien
hätte die Einladung zu der Tasse Tee als Preis für seine groben Scherze
angenommen. Vivien wäre auch über einen Kuß oder auch zwei nicht aus der
Rolle gefallen – denn schließlich, was war schon ein Kuß?
„Mir scheint, Sie kann man nicht bremsen“, sagte sie lachend.
„Aber wenn Sie mir meine Heftigkeit vergeben, komme ich mit.“ Damit stieg sie
aus dem Wagen. „Wohin gehen wir?“
„Hierhinunter.“
Verwirrt ließ sie zu, daß er ihren Ellenbogen ergriff und sie über die Straße
führte. Zu ihrem Ärger reagierten ihre Nerven spontan auf seine Berührung. Sie
wollte ihm gegenüber gelassen bleiben, aber ihr Körper spielte einfach nicht mit.
Ob das irgend etwas mit Chemie zu tun hat, dachte sie, daß die Nähe dieses
Mannes immer eine so merkwürdige Wirkung auf sie hatte?
Um sich wieder zu fangen, schaute sie sich die Umgebung an. Zu ihrer Linken
führte ein Laubengang zu einem grünen Hügel empor. Doch Christian bog mit ihr
in die Hauptstraße ein, die am Ende von einer Eisenbahnbrücke abgeschlossen
wurde.
„Scheint ja ein lebhaftes Städtchen zu sein“, meinte sie beiläufig und wünschte,
er würde seine Hand von ihrem Arm nehmen. Ihr fiel auf, daß jede ihnen entgegenkommende Frau Christian anblickte. „In der Urlaubszeit ist hier eine Menge los, aber die hat ja noch nicht begonnen. Die Quellen dieser Gegend waren schon den alten Römern bekannt. Heutzutage hat der Badebetrieb enorm zugenommen.“ Vor einem Cafe blieb er stehen. „So, hier werden wir ganz hübsch sitzen.“ Damit ließ er ihren Ellenbogen los, und sie traten ein. Zunächst setzte er seinen Vortrag über die Umgebung und ihre Schönheiten fort, bis der Tee mit Kuchen gebracht wurde. Plötzlich aber blickte er sie forschend an und fragte: „Was meinen Vorschlag angeht – können Sie sich wohl ein paar Monate vom Theater losreißen, und hätten Sie Lust, während dieser Zeit im Ausland zu leben?“ Aufgeregt erwiderte sie: „Oh, ich habe mir immer schon gewünscht, Reisen zu machen.“ „Dann wäre das eine gute Gelegenheit für Sie. Schweden ist zwar nicht so romantisch wie die Mittelmeerländer, aber manche Gegenden sind doch sehr reizvoll. Die großen Seen, die riesigen Wälder – außerdem ist es ein so sauberes Land!“ Sie mußte daran denken, daß er ja halber Schwede war. Aber weshalb wollte er, daß sie dorthin führe? Sie fragte ihn danach, und er erklärte ihr geduldig: „Ich möchte gern, daß Sie meiner Schwester Greta helfen. Sie lebt auf einer Farm in Mittelschweden. Sie erinnern sich wohl, daß ihr Mann verunglückt ist. Sie will jetzt die Farm verkaufen und wieder ihren alten Beruf als Lehrerin aufnehmen. Deshalb braucht sie jemand, der sich um ihre Kinder kümmert. Außerdem ist sie schrecklich einsam.“ Er sah sie fast bittend an und setzte noch hinzu: „Letty und Vater wären Ihnen auch sehr dankbar, wenn Sie sich dazu entschließen könnten. Sie bekommen natürlich ein Gehalt, außerdem wäre es mal ein neues Erlebnis für Sie!“ „Das glaube ich gern“, meinte Imogen trocken. „Aber im Haushalt bin ich nicht besonders erfahren. Außerdem – würde Ihre Schwester nicht lieber eine Schwedin haben wollen?“ „Keinesfalls. Schwedinnen sind ihr zu unabhängig. Sie ist ja auch halbe Engländerin und bat Letty schon, jemand für sie zu finden.“ „Aha, und dabei sind Sie auf mich gekommen?“ Imogen fühlte sich keineswegs geschmeichelt. Im Gegenteil, die Situation kam ihr so komisch vor, daß sie trotz ihrer Enttäuschung am liebsten gelacht hätte. Ihre Bemühungen, als superflottes Mädchen aufzutreten, das nur auf Eroberungen aus war, schienen gründlich mißlungen zu sein! Peter wollte sich nicht davon abbringen lassen, daß er ihr warmes Herz entdeckt habe. Und Christian? Er hatte sie zwar Tigerkatze genannt und sie angeblich für leichtlebig gehalten, wollte sie jetzt aber als Haushaltshilfe einsetzen! Lettice mußte ihm erzählt haben, daß sie zur Zeit keinen Job hatte. Vivien wäre so etwas nicht passiert, dachte sie verdrossen. Doch sie selbst hatte einfach nicht das Aussehen und das Auftreten einer Halbweltdame. „Sonderbar“, fuhr sie fort. „Da ich doch Ihre Meinung über mich kenne, erstaunt es mich, daß Sie mich Ihrer Schwester empfehlen wollen.“ „Glauben Sie wirklich, meine Meinung über Sie zu kennen?“ fragte er mit hintergründigem Lächeln. „Ich erinnere mich, daß Sie mich einmal als leichtes Mädchen bezeichneten.“ „Sie würden in Jämtland wenig Gelegenheit haben, so aufzutreten“, meinte er. „Und ihr Liebesieben ist Ihre eigene Angelegenheit. Letty sagt übrigens, Sie seien
zuverlässig und gewissenhaft. Außerdem habe ich so meine eigenen Beobachtungen gemacht.“ „Wirklich?“ Imogen war ärgerlich. „Sie scheinen mich ja schön auseinandergenommen zu haben. Aber vergessen Sie nicht, daß ich Tänzerin bin und eigentlich keine Hausangestellte. Wie kommen Sie bloß darauf, mich für den Job geeignet zu halten?“ „Die Art, wie Sie mit Teddy und Pamela umgehen, brachte mich darauf. Sie mögen und verstehen Kinder. Der arme Sven und seine Schwester Kajsa, Gretas Kinder, sind immer zu kurz gekommen. Ihr Vater hatte etwas von einem Leuteschinder. Er glaubte, Kinder dürfe man zwar sehen, aber nicht hören. Und Greta ließ die Dinge laufen. Ich will sie hier nicht schlecht machen“, beeilte er sich hinzuzufügen. „Sie hat ja auch so schrecklich viel um die Ohren und wenig Zeit. Mir tun nur die Kinder leid, Imogen. Ich bin sicher, Sie würden ihnen eine große Hilfe sein.“
5. KAPITEL Imogen war wirklich sehr erstaunt. Sie hatte nicht geglaubt, daß Christian der Typ Mann war, der sich um Kinder Gedanken machte. Allerdings hatte sie bemerkt, wie er seine Halbgeschwister mochte, von denen man wahrhaftig sagen konnte, daß man sie mehr hörte als sah. Neugierig musterte sie ihn und fragte: „Wollen Sie etwa an meinen Mutterinstinkt appellieren? Ich fürchte nur, der geht mir völlig ab.“ Als modernes, flottes Supermädchen konnte sie auf keinen Fall eine solche Schwäche eingestehen. „Ach, hören Sie doch auf, Imogen!“ Gewinnend lachte er sie an. „So schlimm sind Sie ja gar nicht.“ „Vielen Dank“, meinte sie sarkastisch. „Wenn ich nun diesen – diesen Job annehme, wie geht’s dann weiter?“ „Ich fahre Anfang März zur AreSportWoche nach Jämtland. Der Westen von Jämtland liegt an der norwegischen Grenze. Ich habe mir überlegt, ob ich dort meine Skischule aufbaue, aber es ist doch eine verdammt entlegene Ecke. Ich empfinde so etwas wie Sentimentalität für diesen Platz. Am Areskutan machte ich meine ersten Skiversuche. Ich würde Sie also mitnehmen und bei Greta abliefern, während ich weiter nach Are fahre.“ „Anfang März? Aber wir haben ja jetzt schon Ende Februar – dann bleibt ja nicht mehr allzuviel Zeit.“ „Brauchen Sie Zeit für Ihre Entscheidung?“ „Natürlich. Ich muß nach London zurück nach meiner Wohnung sehen und vieles andere in Ordnung bringen. Sie können wahrscheinlich so plötzlich an das andere Ende der Welt aufbrechen. Aber ich habe Verpflichtungen.“ „Also Verantwortungsgefühl haben Sie auch?“ fragte er lächelnd. Sie errötete, als ob man sie bei einem Verbrechen ertappt habe. Sicher wäre es ganz hübsch, mit Christian nach Schweden zu reisen, aber wäre es auch klug? Sie mochte ihm ja gleichgültig sein. Doch ihre Gefühle ihm gegenüber waren zumindest gemischt. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen und auch wieder abgestoßen. Vielleicht würde die magnetische Anziehung die Oberhand gewinnen, wenn sie ihn so oft sah. So sagte sie nur zurückhaltend: „Ich möchte im Augenblick lieber ablehnen, so daß Sie Gelegenheit haben, jemand anders zu fragen.“ Und dabei verspürte sie Bedauern. „Wenn Sie ablehnen, kann man auch nichts machen“, erwiderte er beiläufig. „Dann muß sich Greta eben ein Mädchen von dort suchen.“ „Mir scheint, ich bin Ihr zweiter Reinfall“, meinte sie nachdenklich. „Hat Miss Brayshaw auch abgesagt?“ „Erica?“ Er zog die Augenbrauen hoch, „Die habe ich gar nicht gefragt.“ „Und warum nicht? Ich dachte, sie wäre die erste, an die Sie sich wenden würden.“ „Nicht ganz unrichtig“, stimmte er zu. „Aber nach kurzer Überlegung habe ich mich anders entschieden. Im Gegensatz zu Ihnen erwecke ich ungern falsche Hoffnungen. Erica für meine Schwester zu engagieren, könnte sie auf falsche Gedanken bringen. Es würde mir nicht schmecken, wenn das als erster Schritt zu einer Erklärung gedeutet werden könnte.“ Imogen fiel ein, was Peter ihr über Christians Erfolge bei Mädchen und über seine Versprechungen im Mondschein erzählt hatte. Ihre Stimme klang etwas vorwurfsvoll: „Sie haben ihr doch sicher ohnehin schon gewisse Hoffnungen gemacht, nicht
wahr?“ „Soweit kam es gar nicht“, erwiderte er ironisch. „Ich bin kein Casanova. Es ist für sie und für mich besser, keine Illusionen großwerden zu lassen.“ „Ach, und bei mir sind Sie sicher, ich mache mir keine Illusionen?“ fragte sie und verzog spöttisch den Mund. „Über mich?“ Er grinste. „Das haben Sie mir doch klar gesagt.“ Ihre Augen glitzerten wie grüne Juwelen. Das Wortgefecht machte ihr Spaß. „Gesagt, gesagt…“ murmelte sie. „Sind Sie sicher?“ „So sicher wie man bei Frauen sein kann. Sie haben mir gesagt, daß Sie mich nicht ausstehen können. Und auf meine Annäherungsversuche haben Sie auch nicht reagiert.“ „Das heißt also… als Sie mich küßten – wollten Sie mich da etwa testen?“ fragte sie empört. „Vielleicht.“ In seinem Blick funkelte Ironie. „Sie eiskalter Rohling!“ Die Worte entschlüpften ihr, ohne daß sie nachdachte. Er brach in Gelächter aus. „Ihre Reaktion jetzt gefällt mir außerordentlich.“ Sie preßte die Lippen zusammen und ballte vor Wut die Hände unter dem Tisch. Sie mußte sich fassen. „Aber in einem haben Sie recht“, sagte sie dann ruhig. „Ich verabscheue Sie wirklich. Und wenn Ihre Schwester Ihnen ähnelt…“ „Sie machen einen Fehler“, unterbrach er sie. „Was Sie an mir nicht leiden können, ist die Tatsache, daß ich ein Mann bin und keiner, den Sie um den Finger wickeln können. Aber wenn ich Sie erst einmal dort abgeliefert habe, werden Sie mich so bald nicht wiedersehen. Nach dem Wettkampf in Are gehe ich zu Weltmeisterschaftskämpfen nach Spanien.“ Sie hatte noch etwas entgegnen wollen. Nun jedoch bestand keine Veranlassung mehr zu weiterem Wortgefecht. Eigentlich hätte seine Gleichgültigkeit sie zufriedenstellen müssen – aber war es so? Neugierig fragte sie ihn: „Haben Sie niemals mit dem Gedanken gespielt zu heiraten?“ „Nein, das hat noch Zeit, bis ich mit dem Rennsport aufhöre. Ich kann nicht erwarten, daß sich eine Frau mit meinen langen Abwesenheiten ohne weiteres abfindet. Zu meinem Training muß ich immer dem Schnee nachjagen. Wenn er Europa verlassen hat, liegt er noch in den Anden. Das letzte Olympische Team hat den ganzen Sommer über in Chile trainiert.“ „Skilaufen bedeutet Ihnen alles, nicht?“ meinte sie gedankenvoll. Für sie war es das Tanzen, aber sie hatte die Chance wohl verspielt. „Das kann man wohl sagen“, stimmte er ihr zu. „Erzählen Sie mir etwas davon“, bat sie ihn und wollte an seinen Interessen teilnehmen. „Ich verstehe eigentlich gar nichts davon. Wie geht das bei so einem Rennen zu?“ „Zunächst einmal gibt es verschiedene Disziplinen – Langlauf, Skispringen, Abfahrtslauf und Slalom. Die beiden letzteren sind meine Spezialität. Beim Abfahrtslauf geht es, wie der Name schon sagt, über jeweils wechselnde Entfernungen bergab. Auf der Piste befinden sich Kontrolltore, die man passieren muß. Auf gerader Strecke habe ich schon Geschwindigkeiten von über hundert Stundenkilometern erreicht. Es ist ein wunderbares Gefühl und kommt dem Fliegen am nächsten.“ Aus seinen blauen Augen leuchtete die Begeisterung. Imogen schien für ihn nicht mehr zu existieren. Er schwelgte nur noch in der Erinnerung an jenen Geschwindigkeitsrausch. Seine Rennleidenschaft war offenbar weit stärker als das Gefühl, das eine Frau jemals in ihm erwecken konnte.
„Dann gibt es noch den Slalom“, fuhr er fort. „Dabei geht es langsamer zu. Eine Slalomstrecke kann bis 73 Tore haben. Diese Tore markieren einen Zickzackkurs und bestehen aus zwei farbigen Stöcken, die in den Schnee gestoßen sind, und zwischen denen der Skifahrer hindurch muß. Es gibt zwei Läufe bei einem Rennen, und es kommt darauf an, nicht zu schnell zu werden, sondern die Bögen in weichen Schwingungen auszulaufen, damit der Bewegungsablauf niemals unterbrochen oder gestoppt wird. Aber das haben Sie ja alles bestimmt schon im Fernsehen gesehen.“ Sie wollte nicht eingestehen, daß sie Sportsendungen nicht anschaute, aber er schien ohnehin keine Antwort zu erwarten. Sein ganzes Gesicht strahlte vor Begeisterung, und unwillkürlich dachte sie, wie unwiderstehlich er wäre, wenn die Liebe ihn in solches Entzücken versetzen würde. Doch schnell ließ sie diesen Gedanken fallen. Die Vorstellung eines verliebten Christian war zu beunruhigend für sie. Und Christian erzählte weiter: „Als ich meine erste Goldmedaille errungen hatte, glaubte ich, ich sei zufrieden. Aber jetzt will ich unbedingt eine zweite.“ Er zuckte die Schulter. „So ist wohl die menschliche Natur“, setzte er entschuldigend hinzu. „Ich hoffe, Sie erringen sie“, wünschte ihm Imogen unbekümmert. „Um auf Ihre Schwester zurückzukommen – das wird wohl nichts. Ich habe in London mit meinen beiden Freundinnen eine Wohnung und möchte sie nicht aufgeben, bevor ich nicht genau weiß, wie mein Leben weitergeht.“ „überdenken Sie alles noch einmal“, schlug Christian vor, „und besprechen Sie es mit Letty.“ Genau das wollte Imogen eigentlich nicht. Aber Lettice brachte das Gespräch auf den Job. * Sie waren beide in der Küche und wuschen gemeinsam das Teegeschirr ab. Die meisten wichtigen Gespräche im Barley Haus wurden in der Küche geführt. Im Wohnzimmer hielten sich ständig irgendwelche Kinder oder männlichen Wesen auf. „Mir wäre es schon sehr lieb, wenn du hinführest, Imogen“, begann Letty. „Joe sorgt sich um Greta – schließlich ist sie ja seine Tochter. Sie hat schon soviel hinter sich. Du weißt vielleicht, wie schwermütig Schweden sein können und wie hoch die Selbstmordrate ist. Das muß wohl an den endlos langen, dunklen Wintermonaten liegen. Du bist genau die richtige, die Greta aufheitern könnte.“ Imogen erklärte, warum sie zögerte, obgleich Lettys Gründe sie erneut schwanken ließen. Die Wainwrights waren so nett zu ihr gewesen, sie wollte ihnen gern gefällig sein. „Offen gesagt, Letty“, beschloß sie ihre Erklärung, „ich verstehe mich mit Christian nicht besonders.“ „Aber du wirst ihn doch dann nicht sehen! Und die Kinder brauchten wirklich jemand wie dich.“ Bittend sah sie Imogen an. „Peter hält dich zurück, stimmt’s?“ „Um Himmels willen nein, Letty! Ich möchte nichts mehr mit Männern zu tun haben. Du weißt doch, Raymond hat mich sitzen lassen. Deshalb war ich in solch einem schrecklichen Zustand und kam her, um alles zu vergessen.“ Doch schon während sie sprach, stellte sie verwundert fest, wie sehr der Schmerz und die Erinnerung an ihn verblaßt waren. In der kurzen Zeit, die sie in Derbyshire war, hatte sie sich so weit von Raymond entfernt, daß sie sich nur mit Mühe sein Bild ins Gedächtnis rufen konnte. Die vielen neuen Eindrücke hatten ihn verdrängt. Doch immer noch hatte sie Furcht, daß London allen Kummer
zurückbringen würde. Ein wenig hoffte sie es beinahe. Denn so leicht zu vergessen, behagte ihr gar nicht. „Ach, du armes Würstchen!“ Lettice wandte sich voller Mitleid vom Abwaschbecken zu ihr um. „Ich habe von Männern genug“, rief Imogen etwas dramatisch. „Aber meine Liebe, du kannst doch nicht von einem Mann auf alle schließen“, meinte Lettice. „Du hast eben Pech gehabt. Aber du kommst schon drüber weg, und du wirst jemanden finden, der dich nicht sitzen läßt.“ „Ich werde nie wieder vertrauen können“, meinte Imogen bitter. „Gebranntes Kind scheut das Feuer.“ „Ich bitte dich, Imogen. Weder Peter noch Christian…“ Doch Imogen unterbrach sie: „Bei denen wird’s gar nicht so weit kommen. Und bei Christian irrst du dich. Er ist genau der Typ, der sein Vergnügen sucht und dann verschwindet.“ „Ich glaube eher, du siehst ihn falsch“, widersprach Letty. „Außerdem sollst du ja mit Greta leben und nicht mit Christian. Die Arme hatte Ehekummer, bevor ihr Mann starb. Du wirst sie sicher auf andere Gedanken bringen. Aber nicht, daß du ihr die Männer ausreden solltest, das wäre ja nicht natürlich, übrigens möchte ich wetten, daß du in einem Jahr verheiratet bist.“ „Wenn ich eine Spielerin wäre, würde ich die Wette halten“, sagte Imogen lachend. „Was Schweden angeht: Falls sich bei meiner Rückkehr nach London noch nichts getan hat und meine Freundinnen jemand anders für die Wohnung finden, kann ich ja mal hinfahren.“ Von Vivien traf am nächsten Tag ein Brief ein, der alle Probleme beseitigte. Ihre Show, so teilte sie mit, war durchgefallen, aber sie hatte sich schon etwas Neues beschafft – eine Tournee für den Frühling und Sommer. Louise wollte heiraten. ,Sie hat es ein bißchen eilig damit’, schrieb Vivien in ihrem schnoddrigen Stil, ,weil es dafür einen dringenden Grund gibt. Wer hätte das von unserer superehrbaren Louise gedacht? Jetzt stehen die beiden natürlich vor dem dringenden Problem, irgendwo wohnen zu müssen. Ich habe ihr gesagt, daß sie das mit dir aushandeln solle, denn du hättest mindestens das gleiche Recht auf die Wohnung wie sie. Immerhin lautet der Mietvertrag sogar auf deinen Namen, und dein Vater hat die Bürgschaft übernommen. Wie willst du dich nun verhalten? Willst du sie ihr überlassen und dich nach was anderem umsehen? Am besten wäre es, du kämst her und brächtest das in Ordnung.’ Imogen war eigentlich ein wenig verärgert über Louise. Es machte fast den Eindruck, als hätten die beiden es darauf angelegt, daß sie die Wohnung räumen mußte. Sie war dort glücklich gewesen, und auf keinen Fall hatte sie jetzt Lust, sich zwei neue Wohnungspartnerinnen zu suchen. Das Schicksal schien darauf zu bestehen, daß sie nach Schweden ging. Sie rief ihren Agenten an, aber er hatte nichts für sie. Sie wußte, daß das keine endgültige Absage war und er trotzdem oft etwas für seine Schützlinge fand. Nur hatte sie ihm gesagt, daß sie einmal ausspannen mußte. Imogen sprach mit Letty über diese neue Wendung und meinte, wenn sich weiter nichts ergeben sollte, würde sie die Stellung bei Greta in Schweden annehmen. Es sei denn, Greta könnte in der Zwischenzeit jemand Geeigneteren finden. „Das ist unwahrscheinlich“, sagte Lettice. „Christian ist fest überzeugt, daß nur du und niemand anders für Greta richtig ist.“ „Aber zuerst kommt mein Beruf“, beharrte Imogen und fragte sich, weshalb Christian so scharf darauf war, sie einzustellen. Es fiel ihr plötzlich ein, daß Christians schreckliche erste Unterrichtsstunde im Skilauf so etwas wie ein Test für ihr Durchstehvermögen gewesen sein mochte.
Schweden im Frühling war bestimmt kein Zuckerschlecken, und Christian hatte gewiß nicht vor, seiner Schwester ein Mädchen zu bringen, das sich bei den ersten auftretenden Schwierigkeiten in Tränen auflöste. Ihm selbst würde es vielleicht Genugtuung bereiten, einem Mädchen die Tränen zu trocknen, aber Greta konnte sicher nur jemanden mit zäher Widerstandskraft gebrauchen. Daß man ihr gewissermaßen Robustheit zutraute, schmeichelte Imogen kaum und machte ihr auch Christian nicht liebenswerter. Trotzdem empfand sie das Angebot als Herausforderung. Sie fürchtete sich weder vor dem Winter, noch vor harter Arbeit. Sie wollte Christian beweisen, daß sie ihnen beiden, seiner Schwester und ihm, gewachsen war. Lettice, die sie beobachtet hatte, meinte: „Ich hoffe nur, daß du nichts anderes bekommst. Tanzen kannst du immer noch, wenn du von Schweden genug hast. Falls du dort bis zum Sommer durchhältst, kommen wir euch im Urlaub besuchen.“ „Das wäre schön“, sagte Imogen freudig. Aber da sie hier in Castleton ständig den schneidenden Wind spürte, schien ihr der Sommer noch unendlich weit. „Jedenfalls muß ich jetzt sofort nach London zurück.“ Da sie noch nicht gepackt hatte, war es heute für eine Abreise zu spät. So wollte sie morgen in aller Frühe aufbrechen. Als Christian von ihrem Entschluß hörte, bot er ihr an, sie im Wagen mitzunehmen, da er ohnehin nach London müßte. „Es ist doch schneller und bequemer, als mit dem Zug zu reisen“, setzte er hinzu. „Vielen Dank, nein“, sagte sie schnell. Ihr war einfach nicht wohl bei dem Gedanken an das lange Alleinsein mit ihm. Die Bahnfahrt mit ihm nach Schweden würde ihr bestimmt reichen, und das war auch noch nicht entschieden. Mit dem Flugzeug wäre es besser, da würden wenigstens fremde Menschen um sie sein. „Warum wollen Sie das Fahrgeld zum Fenster hinauswerfen?“ fragte er praktisch. Und als ob er ihre Gedanken lesen könnte, fuhr er fort: „Wir würden übrigens nicht allein sein. Ich nehme die Brayshaws mit. Erica will mit ihrem Bruder für eine Woche nach London. Sie können also getrost mit von der Partie sein.“ Imogen überdachte noch einmal den Vorschlag. Da sie im Grunde ein bißchen neugierig auf diese Erica war, nahm sie Christians Angebot mit Dank an. An diesem Nachmittag wurde auch Peter aus dem Krankenhaus entlassen. Ein Ambulanzwagen hielt nebenan vor der Haustür. Teddy und Pamela konnten sich vor Aufregung gar nicht fassen. Um besser sehen zu können, stürzten sie in den Garten, noch bevor Imogen sie zurückhalten konnte. Sie selber ging ihnen nicht nach, weil sie glaubte, es wäre Peter peinlich, ihn so hilflos zu sehen. „Er hat ja zwei Holzbeine“, posaunte Pamela mit weitaufgerissenen Augen los, als sie wieder hereinkam. „Das sind Krücken, du Schaf“, belehrte Teddy sie gewichtig. „Darauf stützt er sich.“ Besorgt blickte er zu Imogen: „Muß Peter nun immer damit laufen?“ „Nein, natürlich nicht – nur solange, bis sein Bein wieder in Ordnung ist.“ Obgleich Imogen nicht hinausgesehen hatte, konnte sie sich doch vorstellen, wie Peter auf die Helfer gestützt den Gartenweg entlanghinkte. Sie empfand tiefes Mitleid mit dem Jungen, der für sein Leben gern Ski lief. Es würde eine geraume Zeit vergehen, bis er wieder auf den Brettern stehen konnte. Gegen Abend ging sie zu ihm hinüber, um ihn zu begrüßen. Angezogen ruhte er auf einer Couch, die seine Eltern für ihn ins Wohnzimmer gerückt hatten, so daß er keine Treppen steigen mußte. Seinen Gipsverband verbarg eine Wolldecke. Mrs. Lethwaite bat Imogen herein und klagte, wie schrecklich niedergeschlagen ihr Sohn sei.
Peter legte das Buch aus der Hand, in dem er gerade gelesen hatte, und wollte sich instinktiv erheben. Aber Imogen eilte auf ihn zu, um ihn daran zu hindern. „Bleiben Sie doch, Peter!“ Mit einem verkrampften Lächeln ließ er sich wieder in die Kissen zurückfallen. „Der Versuch war ja wohl auch sinnlos“, murmelte er. Sie kniete sich neben ihn; seine Hilflosigkeit rührte sie hier mehr als im Krankenhaus. Es war schon etwas anderes, in den eigenen vier Wänden fest liegen zu müssen. „Es tut mir so schrecklich leid für Sie, Peter“, sagte sie mit einem warmen kleinen Lächeln. „Na, die sechs Wochen werden mir verdammt lang werden! Nicht mal Sie werden kommen und mich aufheitern. Christian war hier und hat gesagt, daß Sie nach London zurückgehen. Warum, Imogen? Konnten Sie nicht damit warten, bis es mir besser geht?“ „Ich wünschte, ich könnte es“, antwortete Imogen nicht ganz aufrichtig. In seiner jetzigen Verfassung verstrickte Peter sie tiefer, als sie wollte. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß Mitleid mit Liebe verwandt sei. Trotzdem war sie ganz froh, daß Christian zu Peter von ihrer Abreise gesprochen hatte, und sie es nicht selbst tun mußte. Sie erklärte Peter ihre Gründe. Dabei hoffte sie, daß Christian den Schwedenjob nicht erwähnt hatte, denn sie war sicher, daß Peter daraus falsche Schlüsse ziehen würde. Aber offensichtlich hatte Christian nichts davon erwähnt. Ihr Gespräch drehte sich nur um London und ihre möglichen Engagements. „Hoffentlich kann ich Sie bald einmal wieder in einer Fernsehshow bewundern“, meinte Peter. „Das wünschte ich mir auch, es wäre schon schön.“ Aber das war wieder nur die halbe Wahrheit. Ein solches Engagement würde Erinnerungen an Ravmond wecken und sie traurig stimmen. Peter streichelte ihr leicht das Haar, und Imogen ließ ihn gewähren. Er sollte soviel Trost wie möglich aus ihrem Besuch ziehen. Der Schein des Kaminfeuers flackerte auf ihrem weißen Pullover, sie war heute ganz in Weiß gekleidet. Nur die kleine Lampe über der Couch brannte und warf einen sanften Schatten. Die Stimmung war zärtlich und intim. „Ich werde Sie niemals vergessen, Imogen“, sagte Peter ernst. „Obgleich ich nicht glaube, daß ich der richtige Typ für Sie bin.“ Sie hob den Kopf und begegnete dem gefühlvollen Blick seiner braunen Augen. Sie wünschte, er würde sie nicht so sehr an den kleinen Spaniel ihres Vaters erinnern. Unerwiderte Liebe ist eine solche Verschwendung, dachte sie bitter. Ihre zu Raymond und Peters zu ihr. „Sie sind mir ein lieber Freund“, sagte sie ebenso ernst. „Und meine Freunde vergesse ich auch nie.“ „Ach, Freund“, wehrte er ein wenig verstimmt ab. Aber gleich darauf lächelte er wieder. „Ich darf wohl nicht zuviel verlangen, nicht wahr? Werden Sie mir einmal schreiben, wie es Ihnen geht?“ Sie zögerte. „Wenn es Ihnen Freude macht?“ „Nur wenn es Ihnen keine Mühe macht“, erwiderte er schnell. „Ach, das ist es nicht!“ Aber wenn sie nach Schweden ginge, würde er es doch an den Briefmarken erkennen und sie für ihr Doppelspiel verurteilen. Imogen aber wollte kein Eifersuchtsdrama zwischen den beiden Männern riskieren. Dafür gab es ja auch keinen Grund. Sie bemühte sich jetzt, die Atmosphäre aufzuheitern und eine Unterhaltung über die Kinder, ihre Wohnung und ihre Arbeit in Gang zu bringen. Weder sie noch Peter erwähnten Christians Namen. Doch aus beider Gedanken war er wohl nicht
zu verdrängen. Peter schien zu glauben, sie sei restlos verknallt in ihn, während Imogen sich vorstellen konnte, wie Christian nachher ironisch lächelnd fragen würde: ,Ach, und das nennen Sie wohl keine Hoffnung machen?’ Dabei empfand sie doch nur Mitleid für Peter. Wie sollte es auch anders sein? Als sie dann gehen mußte, weil sie ihre Sachen noch packen wollte, bat Peter sie: „Geben Sie mir zum Abschied einen Kuß, Imogen* bitte! Nur dieses eine Mal.“ Es war eine keusche Geste, ein flüchtiges Berühren der Lippen, aber Peter schien es glücklich zu machen. Als sie aus dem Haus trat, sah sie Mrs. Lethwaite ein junges Mädchen begrüßen. Es war die kleine, hübsche Krankenschwester, die Peter im Krankenhaus so nett umsorgt hatte. Lächelnd berichtete sie, daß sie Verwandte in Castleton habe, die sie an ihrem freien Tag immer besuche. Auf dem Rückweg wollte sie nun gern einmal nach ihrem entlassenen Patienten sehen. „Ich möchte mich nur vergewissern, ob er gut zu Hause angekommen ist“, sagte sie etwas verlegen zu Peters Mutter. Mrs. Lethwaite bat sie ins Wohnzimmer, das Imogen gerade verlassen hatte. Sie hörte noch Peters überraschte und freudige Begrüßung. Erleichtert stellte sie fest, daß es wohl nicht lange dauern würde, bis er getröstet wäre. Es schneite jetzt wieder ein wenig. Imogen hoffte nur, daß der Schnee nicht liegen bliebe und ihre Abreise behindern könnte. Schnee war der hervorstechendste Eindruck von Derbyshire für sie gewesen. Sie trug keinen Mantel und eilte schnell den Weg zum Barley Haus hinüber. Atemlos erreichte sie den Flur. Christian legte gerade den Telefonhörer auf. Er wandte sich zu ihr um und mit einem, wie ihr schien, überheblichen Gesichtsausdruck versperrte er ihr den Weg. Prüfend glitt sein Blick über ihre ganz in Weiß gekleidete Gestalt. „Na, war es ein zärtlicher Abschied?“ fragte er mit spöttischem Unterton. „Aber Sie scheinen Peter ja in großer Eile verlassen zu haben.“ Sein Tonfall, seine ganze Art ärgerte sie, weil sie noch vom Abschied befangen war. Und so antwortete sie scharf: „Ich bin gelaufen, weil ich keinen Mantel hatte. Außerdem tut mix Peter leid.“ „Tatsächlich?“ Wieder hatte er diesen schrecklichen ironischen Tonfall. „Ja, tatsächlich“, sagte sie trotzig. „Ich bin nicht herzlos…“ Sie verstummte erschrocken. Sie hatte sich verraten und vergessen, daß sie den beiden jungen Männern einen gefühllosen Vamp vorspielen wollte. „Das freut mich ehrlich“, meinte er aufrichtig. „Warum aber haben Sie dann so ausdauernd dieses hartherzige Wesen zu spielen versucht? Sie sind doch wirklich ein nettes Mädchen.“ Dieser Satz traf sie. Nettes Mädchen! Wie banal das klang. Daß all ihre Anstrengungen ihr weiter nichts eingebracht hatten, als diese lahme Bezeichnung, war demütigend. Sie schob geringschätzig ihre volle Unterlippe vor. „Wenn Sie das wirklich von mir denken, werden Sie bald eine große Überraschung erleben.“ Er zog die Augenbrauen hoch. „Ich glaube nicht, daß Sie mich noch überraschen können, Imogen“, behauptete er. „Na, warten Sie mal ab“, erwiderte sie. „Aber jetzt lassen Sie mich bitte vorbei, ich muß noch packen.“ Er trat zur Seite, und noch immer verärgert ging Imogen an ihm vorbei. Am Fuß der Treppe drehte sie sich noch einmal um: „Sie werden noch erleben, wie herzlich wenig nett ich sein kann, wenn ich will.“ „Das muß ich erst sehen, um es zu glauben“, erklärte er grinsend. Sie wandte sich abrupt um und sprang leichtfüßig die Treppe hinauf. Sein Lachen
schallte ihr nach.
*
Am nächsten Morgen als Imogen das Barley Haus verließ, war der Schnee zwar getaut. Doch es begann im strahlenden Sonnenschein schon wieder zu schneien. Bald darauf jagten Wolkenschatten über die braunen und grünen Berghänge. Lettice und Joseph verabschiedeten sich sehr herzlich, luden sie aufs neue zu sich ein und wiederholten ihre Bitte, sie möge doch das Angebot, nach Schweden zu gehen, annehmen. Im Sommer würde man sich dann wiedersehen. Den Kindern tat der Abschied besonders leid. Sie hatten sich sehr miteinander befreundet; Imogen war für sie eine unerschöpfliche Quelle an Gutenachtgeschichten gewesen. Sie schenkte jedem von ihnen noch ein Silberstück, über das die Kinder sich riesig freuten. Sie überlegten sofort lautstark, was sie damit anfangen könnten und fanden so wenigstens keine Zeit, Tränen bei ihrer Abfahrt zu vergießen. Imogen trug das gleiche grüne Kleid wie bei ihrer Ankunft und ihren kamelfarbenen Reisemantel darüber. Da sie ja nun auch wieder in die Großstadt fuhr, hatte sie Makeup aufgetragen. Sie bemerkte sehr wohl, wie Christian ironisch seinen Mund verzog, als er murmelte: „Miss Sinclair hat ihre Eleganz wieder angenommen!“ Er wirkte auf Imogen fremd in seinem dunklen Anzug und dem wildledernen Autocoat, weil sie ihn bisher nur in legerer Sportkleidung gesehen hatte. Er drängte zur Eile und schob sie ohne langes Gerede auf den Beifahrersitz, während Joe noch ihre Taschen im Kofferraum verstaute. Peter winkte ihnen aus seinem Fenster nach. Dann fuhren sie die Straße nach Hope entlang, um die Brayshaws abzuholen. „Hoffentlich lassen sie uns nicht warten“, bemerkte Christian. „Sind sie denn sonst unpünktlich?“ „Ach, Sie wissen ja, wie Mädchen sind, wenn sie sich anziehen. Kein Zeitgefühl mehr.“ „Ich schon.“ Er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Das muß erst noch bewiesen werden.“ Barley Haus lag jetzt hinter ihnen. Imogen stellte fest, daß sie es in weit besserer Stimmung verließ, als sie dort einmal angekommen war. Ihre Genesung hatte Fortschritte gemacht. Doch was vor ihr lag, war beunruhigend. Ob ihr Agent nun für sie ein Engagement hätte oder sie in ein ihr unbekanntes Land ginge – beide Möglichkeiten waren gleich aufregend. George Brayshaw wartete schon mit einem Stapel Koffer neben sich auf sie, als sie vor dem modernen Bungalow der Brayshaws hielten. „Erica kommt in einer Minute“, sagte er und verstaute die Gepäckstücke. Christian blickte bedeutsam auf seine Uhr und blinzelte Imogen zu: „Zu spät wie gewöhnlich“, meinte er. Nachdem fünf Minuten vergangen waren, drückte Christian auf die Hupe. Das Geräusch ließ Erica herauskommen – sie hatte es aber offensichtlich nicht sehr eilig. Neugierig blickte ihr Imogen entgegen. Es gab nichts besonders Auffälliges an ihr. Sie hatte wie ihr Bruder braunes Haar und braune Augen. Sie war klein und zierlich, aber der rote Hosenanzug war falsch gewählt; ihre Beine waren für Hosen zu kurz geraten. Ihre Zierlichkeit verlangte förmlich nach weiblichen Attributen. Leider war sie so schrecklich geschminkt, daß sie wie eine Puppe aussah. George, der schon auf den hinteren Sitzen im Wagen Platz genommen hatte, öffnete ihr die Tür. Doch Erica zögerte einzusteigen, und warf Christian einen
fragenden Blick zu. Aber alles was er sagte, war: „Nun mach schon, steig ein – wir haben noch eine lange Fahrt vor uns!“ Zögernd und ein wenig schmollend stieg sie ein. Man sah, daß sie erwartet hatte, neben Christian zu sitzen. Imogen fragte: „Vielleicht möchte Miss Brayshaw vorn sitzen?“ Im stillen wünschte sie, den Vorschlag schon während ihres Wartens gemacht zu haben. „Sie sitzt ganz gut da hinten“, gab Christian zurück und startete den Wagen. Er fuhr über Chesterfield, einem kleinen Städtchen inmitten einer Moorlandschaft, das wegen seiner alten Kirche berühmt war. Imogen interessierte besonders der schiefe Turm. Das Fischgrätenmuster des Bleidachs verlieh dem Bauwerk sein interessantes Aussehen. George versicherte ihr, daß dieser schiefe Turm beabsichtigt gewesen sei und brachte dazu einige Theorien vor. Doch Christian widersprach und meinte, es handele sich hier nur um ein Beispiel von primitivem frühen Bauen. Hinter Chesterfield ließen sie dann die Berge zurück und bogen auf die südliche Autobahn ein. „So, jetzt ist’s aus mit der schönen Umgebung“, meinte Christian zu Imogen. „Autobahnen sind zwar schnelle Straßen, aber eben eintönig.“ Und das stimmte. Ein doppeltes Betonband, unterteilt von einem Grünstreifen, bisweilen von Brücken überquert, zog sich Meile um Meile bis scheinbar ins Unendliche hin. George unterhielt sich angeregt mit Christian und Imogen. Erica aber schwieg. Imogen spürte, daß sie immer noch schmollte, denn Christian wandte sich mit keiner Silbe an Erica. Sie saß so hinter ihnen, daß er sie im Rückspiegel sehen konnte. Imogen beobachtete, daß er sie ein paarmal ironisch lächelnd musterte. Auch er bemerkte natürlich Ericas Mißstimmung, aber daran trug vermutlich er selbst die Schuld. Das Mädchen hatte keinen Stolz, stellte Imogen fest. Wenn ihr das passiert wäre, nicht um alles auf der Welt hätte sie ihn spüren lassen, wie verletzt sie war. Christian schien sich sogar über Erica zu amüsieren. George erklärte plötzlich, er habe Hunger, und daraufhin wurde sogar Erica etwas munterer. „Du solltest die Fahrt mal unterbrechen, Christian“, schlug sie vor. „Wir haben schon hundert Kilometer hinter uns, und das dickste Ende bis nach London liegt noch vor uns.“ „Wenn du Hunger hast, dann sag es doch offen“, meinte er gereizt. „Ich kann ohne Pause durchfahren und den Londoner Verkehr auch noch durchstehen. Wie ist das mit Ihnen, Imogen, möchten Sie unterbrechen?“ „Ich hätte nichts gegen eine Pause“, sagte sie. „So eilig haben wir es doch nun auch wieder nicht, oder?“ unterstützte sie George. „Nein, aber ich habe einiges zu erledigen, das ich sobald wie möglich hinter mich bringen will“, entgegnete Christian. Dabei warf er Imogen einen schnellen Blick zu, sah aber sofort wieder auf die Straße vor sich. Imogen mußte insgeheim lächeln. Wenn er glaubte, sie würde ihm zuliebe ihre Angelegenheiten überstürzt klären, dann irrte er. Sie fuhren also von der M1 herunter und in ein kleines Städtchen ein.
6. KAPITEL Wie gewöhnlich war das Parkplatzfinden im Stadtinnern ein Problem. Aber
schließlich fanden sie doch einen und ließen dort den Wagen zurück. Sofort
ergriff Erica von Christian Besitz und hängte sich bei ihm ein, obgleich sie Mühe
hatte, mit ihm Schritt zu halten. Imogen verstand jetzt, was Christian gemeint
hatte, als er sagte, Erica brauche keine Ermutigung.
Langsam folgte sie den beiden mit George, der sogleich ein Gespräch begann:
„Sie sind ja nicht allzu lange bei den Wainwrights gewesen. Ich dachte, Sie
würden wenigstens bis Ostern bleiben.“
„Wie kommen Sie denn darauf?“ fragte sie. „Ich habe schließlich einen Beruf und
kann so lange nicht aussetzen. Jetzt heißt es, wieder zurück ins Joch.“
Voller Interesse sah er sie an: „Sie sind von der Bühne, nicht wahr?“
„Wenn ich ein Engagement habe… Es ist ein sehr überlaufener Beruf.“ Von
Schweden erwähnte sie nichts.
Wenig später hatten sie einen kleinen Gasthof erreicht und verzehrten ihr
Roastbeef und den YorkshirePudding. Erica sagte ziemlich laut:
„Ich habe gehört, du hast am Rushup Edge eine tolle Show abgezogen, Christian.
Schade, daß du gerade an dem Wochenende kamst, als ich weg war. Du hättest
mich wirklich vorher anrufen sollen.“
Diese Sätze waren für Imogen ziemlich aufschlußreich. Offensichtlich hatte Erica
ihn seit seinem Eintreffen noch nicht gesehen.
„Ich hatte es ja versucht, aber du warst in Buxton“, erwiderte Christian.
„Wenn du mich dort angerufen hättest, wäre ich doch vorher zurückgekommen.“
„Ich wollte dir dein Wochenende nicht verderben. Deine Freunde hätten mir das
sicherlich nicht vergeben.“
„Du weißt ganz genau, daß ich viel lieber mit dir zusammen bin.“
Christian lächelte sie herausfordernd an und fragte ziemlich direkt: „Hättest du
ihnen das erklären können?“
„Natürlich nicht“, mischte sich George ein. „Sie würden Ericas Vernarrtheit in dich
bestimmt nicht verstehen.“
Erica errötete. „George, du spinnst“, sagte sie erbost. „Christian hat mir
versprochen, mich Skilaufen zu lehren – und schließlich ist hier das Wetter nicht
sehr oft so gut. Das Wochenende war eine einmalige Gelegenheit, die so schnell
nicht wiederkommt.“
„Christian hat es genützt!“ sprach George taktlos weiter. „Er hat eine andere
Schülerin gefunden.“
Jeder Schritt Christians war also in diesem kleinen Nest beobachtet worden, fuhr
es Imogen durch den Sinn.
Erica warf ihr einen giftigen Blick zu. „Ja, das habe ich gehört.“
„Der Unterricht war kein Erfolg“, erzählte ihr Imogen. „Ich hätte es viel lieber
gehabt, Sie wären an meiner Stelle gewesen.“
Ob Christian wohl geduldet hätte, daß diese kleine zierliche Person ihre Skier den
Berg hinauf schleppte? Bestimmt nicht. Trotzdem, sehr verknallt schien er in sie
nicht zu sein – vielleicht hatte er sogar genug von ihr.
Auf der Damentoilette, wo sich Erica und Imogen ihr Makeup erneuerten, meinte
Erica spitz:
„Ich vermute, Sie haben sich in Christian verliebt. Aber Sie wissen hoffentlich
auch, daß er derartige Gefühle niemals erwidern wird.“
„Ich habe kein persönliches Interesse an Mister Wainwright“, versicherte Imogen.
„Es hat sich so ergeben, daß ich gerade da war, und es machte ihm Spaß
zuzusehen, wie ich mich abplagte.“
Verwundert starrte Erica sie an. „Er gehört mir“, stellte sie nachdrücklich fest. „Ich hoffe, Sie haben mich verstanden.“ Imogen war sicher, daß Christian zu diesem Punkt bestimmt seine eigene Meinung hatte, und ihr tat das Mädchen leid. Sie wagte alles, belegte Christian einfach mit Beschlag, obwohl dieser nichts als seine Skier liebte. Imogen kannte ja seine künftigen Pläne und sah Ericas Besitzerklärung lediglich als Gerede an. Immerhin aber mußte Christian ihr dafür Anlaß gegeben haben. Die Männer sind doch alle gleich, dachte sie, alle Betrüger. „Ich wußte, daß er Ihr Freund ist“, sagte sie taktvoll. „Und ich habe bestimmt nicht vor, mich dazwischenzudrängen.“ Auf diese Versicherung hin wurde Erica auf einmal zuckersüß und entwickelte einen fast kindlichen Charme. „Dann ist ja alles in Ordnung“, verkündete sie fröhlich. „Ich wollte nur die Situation klären. Ich werde ein paar Tage in London bleiben, um Sommereinkäufe zu machen. Christian wird mich sicher ausführen, und da wollte ich Sie etwas fragen: Ob Sie uns vielleicht George ein wenig vom Leib halten könnten?“ Imogen war von diesem Vorschlag nicht entzückt. Sie meinte, George könne sich doch sicher selbst beschäftigen, wenn man ihm die Situation klarmache. Erica zuckte die Achseln. „Natürlich kann er das. Aber er mag Sie, und deshalb hielt ich das für die beste Lösung.“ Imogen behauptete, viel zuviel anderes zu tun zu haben. Sie wollte sich keinesfalls mit George abgeben. Christians Meinung von ihr war ohnehin schon angeschlagen und würde sich dann noch mehr verschlechtern. Sie erreichten London gerade noch vor der Hauptverkehrszeit. Aber auch so war es schlimm genug. Imogen bewunderte Christians geschickte Fahrweise. Er setzte die beiden Geschwister vor dem Bloomsbury Hotel ab und überhörte Imogens Einwurf, daß sie dort ebenfalls aussteigen wolle. „Und was wird mit Ihrem Gepäck?“ fragte er. „Ich kann mir ja ein Taxi nehmen.“ „Das ist doch nicht nötig. Zeigen Sie mir lieber, wie ich am besten zu Ihnen komme.“ Imogen gab also seufzend nach und geleitete ihn durch den Verkehr zu ihrem Haus. Christian bestand darauf, das Gepäck die Treppe hochzutragen, so daß sie nicht anders konnte, als ihn in die Wohnung zu bitten. Vivien ruhte in einem eleganten Hausmantel auf der Couch im Wohnzimmer. Als Imogen und Christian hereinkamen, sprang sie überrascht auf. „Hallo! Du siehst ja großartig aus. Und wer ist dieser junge Mann?“ Imogen stellte Christian vor. „Oh, entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug“, sagte Vivien zu Christian. „Ich hatte mich gerade hingelegt.“ Sie musterte ihn mit unverhohlenem Interesse. Vivien sah blendend aus. Ihr farbenfroher Mantel unterstrich die Wirkung ihrer großen dunklen Augen, den seidenen Glanz ihres dichten schwarzen Haars. Ihre etwas orientalische Ausstrahlung kontrastierte mit Christians nordischem Erscheinungsbild. Imogen stellte fest, daß sie sich rein vom Äußeren her niemals ein eindrucksvolleres Paar vorstellen konnte. „Ich möchte mich entschuldigen, daß ich Sie gestört habe“, sagte er höflich und lächelte. „Ihr Morgenmantel ist einfach hinreißend.“ „Er ist von Liberty, ich habe eine Vorliebe für das Exotische. Schön, daß Sie
mitkamen. Ich langweilte mich gerade. Darf ich Ihnen etwas anbieten? Ich fürchte, es ist nur Kaffee und Tee im Haus.“ Aber Christian lehnte dankend ab und meinte, er müsse gehen. Dann wandte er sich an Imogen und fragte sie zu ihrer Überraschung, ob sie mit ihm und den Brayshaws zu Abend essen möchte. Sie vermutete, er wollte sie nur als Partnerin für George haben. Deshalb erfand sie eine Ausrede und bemerkte, wie Vivien verwundert die Brauen hochzog. „Schade“, sagte Christian ungerührt und blickte zu Vivien: „Hätten Sie vielleicht Lust, uns Gesellschaft zu leisten?“ „Aber gern – das heißt, wenn Imogen wirklich nicht mitgehen will.“ „Imogen hat sicher für heute genug von meiner Gesellschaft“, meinte Christian lachend. Er verabredete sich mit Vivien und wandte sich zur Tür. * Als er gegangen war, sah Vivien ihre Freundin fragend an. „Das ist aber ein Prachtexemplar!“ rief sie aus. „Wenn der ein Muster von dem ist, was in Derbyshire herumläuft, gibt es hier für mich kein Halten mehr. Aber warum, um alles auf der Welt, willst du eigentlich nicht mitgehen, Imogen? Wir haben nichts weiter im Haus als gebackene Bohnen.“ „Dann freut es mich, daß du endlich mal eine anständige Mahlzeit bekommst“, erwiderte Imogen. „Nur fürchte ich, Mister Wainwright ist schwer ausgelastet mit dem anderen weiblichen Wesen, das dabei ist. Du bist für ihren Bruder bestimmt.“ „Der dir offensichtlich nicht besonders zusagt“, bemerkte Vivien. „Aber ich gehe ja nur wegen des Essens mit. Obgleich ich glaube, es würde nicht schwierig sein, an deinen Christian heranzukommen, wenn ich wollte.“ „Na ja, aber du willst ja gar nicht, nicht wahr?“ sagte Imogen lachend und dachte an die arme Erica, die auf keinen Fall mit Vivien konkurrieren konnte. Sie war ziemlich sicher, daß Christian bei weitem nicht so verschossen in sie war, wie Erica ihr weismachen wollte. Sie bedauerte das Mädchen; doch sie dachte auch daran, daß Erica vor Kummer bewahrt werden könnte, wenn sie Christian durchschaute, bevor es zu spät war. Für Vivien bestand keine Gefahr, sie hatte ihn jetzt schon richtig eingeschätzt. Während Imogen ihre Sachen auspackte und alles wieder in den Schubladen und im Kleiderschrank verstaute, überfielen sie erneut die alten Erinnerungen an Raymond, vor denen sie davongefahren war. Sie sah ihn im Geist auf der Couch sitzen, wie er zu seiner Gitarre sang. Er war immer der Unterhaltsamste bei ihren kleinen Zusammenkünften gewesen. Sie hatten hier oft zur Musik aus dem Radio getanzt, als ob sie nicht schon in der Woche genug getanzt hätten. Imogen spürte Raymonds Anwesenheit fast körperlich, so daß sie aus dem Zimmer ging. Es bekam ihr gar nicht, so intensiv an diesen Mann erinnert zu werden. Vivien schlüpfte in ihr schwarzes Cocktailkleid – das sprichwörtliche kleine Schwarze – und sah darin aufreizend attraktiv aus. Imogen mußte fast ein wenig schadenfroh daran denken, wie Erica diese Zugabe zum Abendessen wohl aufnehmen würde. Nachdem Vivien gegangen war, fühlte sich Imogen sehr verlassen. Sie versuchte, sich einzureden, daß sie nur müde sei, weil sie vor sich selber nicht zugeben wollte, daß sie die Absage zum Essen jetzt schon bereute. Als Louise aus dem Büro heimkam, begrüßte sie Imogen freudig und war ihr dankbar für die Mahlzeit, die Imogen gezaubert hatte: Omelett mit Pilzen aus der Dose. Louises erste Frage war dann, wie Imogen über das Wohnungsproblem
dachte. „Du kannst sie auf dich oder Godfrey überschreiben lassen“, sagte Imogen. „Ich bleibe hier nicht wohnen, was auch immer ich tun werde.“ „Bist du dir da auch sicher?“ fragte Louise. „Ich meine, wir wollen dich ja nicht hinausdrängen… Aber es wäre schon eine große Erleichterung zu wissen, daß wir ein Dach über dem Kopf haben.“ „Ich möchte hier bestimmt nicht länger bleiben. Zu viele Erinnerungen“, meinte Imogen. „Aber ich habe dir noch gar nicht gratuliert, Louise, wann findet denn die große Feier statt?“ Verlegen sah Louise auf. „Die war schon letzte Woche – auf dem Standesamt. Weißt du, wir dachten, je eher, desto besser.“ „Natürlich, das verstehe ich.“ Herzlich umarmte Imogen ihre Freundin. „Ich finde das gar nicht schlimm, aber vor allem wünsche ich dir, daß du glücklich wirst.“ „Oh, das werden wir bestimmt. Ich habe mir schon immer ein Baby gewünscht. Ich werde schnell Godfrey von der Wohnung erzählen. Aber erst erledigen wir noch den Abwasch, übrigens – Godfrey hat sich wundervoll verhalten.“ Imogen lächelte etwas gequält und dachte, daß er ja genauso verantwortlich für die entstandene Situation sei wie Louise. Danach hatte er sich eben nur so verhalten wie er mußte. Aber laut sagte sie nichts. Wenn Louise sein Benehmen für großartig hielt, um so besser – für Godfrey. Als Louise dann fortstürzte, um ihren Ehemann zu treffen, kehrte wieder dieses schreckliche Einsamkeitsgefühl zurück. Imogen war gerade dabei, auf der Couch ihr Nachtlager zu richten, als sie Viviens Schlüssel im Schloß hörte. Lebhaft und in strahlender Laune trat Vivien ein. Zu Imogens Verblüffung folgte ihr Christian. Er trug einen Pappkarton und ein paar Flaschen. „Christian wollte mit mir kommen, um dich ein wenig aufzuheitern“, rief Vivien fröhlich. „Du hast heute ja auch keinen besonderen Empfang gehabt. Wo ist denn Louise?“ Und wie auf ein Stichwort trat Louise ein. „Godfrey wird dir ewig dankbar sein“, sprudelte sie außer Atem los. Dann erblickte sie den Besucher. Imogen stellte ihr Christian vor. Unsicher blickte Louise ihn an und klapperte mit ihren sandfarbenen Wimpern. Sie war offenbar äußerst beeindruckt. „Setzen Sie sich doch, Christian“, sagte Vivien und deutete auf die Couch. „Ich hole uns ein paar Gläser.“ Lustig zwinkerte sie den beiden Mädchen zu. „Christian wollte gern wissen, wie drei weibliche Wesen es fertig bekommen, friedlich miteinander zu leben. Da habe ich ihn hierher eingeladen. Louise, bring doch bitte den Karton in die Küche!“ Vivien stellte Weingläser auf den Tisch und rief Louise nach: „Ich komme gleich und helfe dir auspacken.“ Es war übrigens Champagner, den er spendiert hatte. Als die beiden Mädchen in der Küche verschwunden waren, sah Imogen vorwurfsvoll zu Christian, der sich gerade mit dem öffnen einer Flasche abquälte. „Wo haben Sie die Brayshaws gelassen?“ wollte sie wissen. „Ich hoffe, sie liegen sicher in ihren Betten“, erwiderte er. „Ich setzte sie am Hotel ab und kam mit Vivien her. Ich hatte ja keine Ahnung, daß Sie hier mit einer so aufregenden Schönheit leben.“ „Hätte ich das sagen müssen?“ „Aber nein. Es hätte ja die Überraschung zerstört.“ Mit einem Knall schoß der Korken aus der Flasche. „Schnell – die Gläser! Wir wollen doch nicht zuviel vergeuden!“
Vivien und Christian mußten einen zu nächtlicher Zeit noch geöffneten
Delikatessenladen in Soho geplündert haben. Bei dem Anblick dessen, was Vivien
jetzt aus der Küche hereinschleppte, verschlug es Imogen die Sprache. Vivien
servierte heiße Ravioli, fremdartig aussehende Würstchen, Chips und gemischte
Salate.
Der Champagner löste ihre Zungen, und Louise wurde albern. Vivien rekelte sich
auf der Couch. Sie hatte einen Arm um Christians Nacken geschlungen und
begann, etwas freie Reden zu führen, die er durch noch kühnere konterte. Louise
kicherte pausenlos.
Nur Imogen nahm an den Blödeleien nicht teil. Es war alles wie früher, mit einem
kleinen Unterschied. Raymond fehlte. Imogen glaubte, deshalb so lahm
dazusitzen, was freilich nicht ganz stimmte. Louise mußte hellsehen können,
denn sie sagte plötzlich:
„Wenn jetzt doch Ray hier wäre – er würde uns etwas vorspielen.“ Sie hatte
immer noch nicht mitbekommen, daß es zwischen ihm und Imogen aus war.
„Ray? Wer ist das?“ fragte Christian plötzlich nüchtern.
„Imogens Freund. Er ist auf Tournee in Australien.“
Christian sah Imogen scharf an. „Von dem habe ich noch nie was gehört.“
„Er ist auch nur einer unter ferner liefen“, erwiderte sie und errötete.
„Na, dann gibt es ja auch keinen Grund für so ein trauriges Gesicht.“ Er griff nach
ihr, zog sie zu sich und drückte sie auf die Couch zwischen sich und die Wand.
„Tut mir leid“, sagte er zu Louise, „hier ist kein Platz mehr. Der Harem ist voll.“
Wieder kicherte die gute Louise.
Imogen wollte etwas weiter wegrutschen, aber Christians Arm hielt sie fest. Sein
blondes Haar war zerzaust, und in seinen Augen glimmte der Übermut. Vivien
fragte scherzhaft:
„Mit welcher seiner Sklavinnen beliebt es unserem Herrn und Gebieter, heute die
Nacht zu verbringen?“
„Das ist eine schwierige Wahl.“ Christian schien nachzudenken. „Sie, meine
Schöne, sind die Königin. Aber diese hier“, sagte er und umschlang Imogens
Taille, „weckt in mir den Teufel.“
Er verstummte, und Imogen spürte seine Lippen auf ihrem Nacken. Winzige
kleine Schauer rannen ihr den Rücken hinunter. Sogar Ray hatte sie nicht so
erregen können. Sie versuchte, wieder etwas abzurücken und murmelte:
„Sie sind betrunken!“
„Das macht der Champagner“, erklärte Vivien lachend. „Ein Mann wird ja wohl
das Recht haben, betrunken zu sein, wenn er Alkohol intus hat.“
„Das ist ja eine richtige Orgie!“ prustete Louise entzückt „Christian, möchten Sie
noch etwas zu trinken?“
Und damit goß sie auch schon sich selbst mit zittriger Hand ein Glas voll.
„Langsam, Kleines“, rief Vivien, „du hast mehr als genug. Das ist nicht gut für
dein Küken.“
„Für was?“ fragte Christian.
„Für mein Baby“, sagte Louise stolz. „Ich bin doch verheiratet.“ Verzückt blickte
sie auf ihren blitzenden Ehering.
„Eine Überraschung nach der anderen!“ meinte Christian gedehnt. „Sie hat euch
beiden Schönen also den Rang abgelaufen und ist als erste vor dem Altar
gelandet.“ Voller Interesse musterte er Louises Durchschnittsgesicht.
„Die beiden sind zu wählerisch“, sagte Louise bescheiden. „Und Viviens Männer
kommen und gehen.“
„Wie meinen Sie das?“
„Ach, wir wollen doch nicht mein Privatleben durchleuchten“, warf Vivien schnell
ein. „Die Männer sind alle Verbrecher.“ Sie zupfte Christian an den Haaren.
„Mein Godfrey nicht“, protestierte Louise.
„Das bleibt abzuwarten“, sagte Vivien düster. „Trinken Sie aus, Christian, es ist
noch genug da. Ertränken wir unsere dunkle Vergangenheit im Sekt.“
Sie blickte zu Imogen.
„Nein, bitte nichts mehr“, lehnte Christian ab, „ich bin im Training.“
Er machte sich von den beiden Mädchen frei, stand auf, richtete sich das Haar
und griff nach seinem Jackett. Er wirkte völlig nüchtern und strafte Imogens
Vorwurf Lügen.
„Ich danke Ihnen, meine Damen, für den reizenden Abend“, sagte er höflich.
„Nein, Louise, vielen Dank! Ich möchte wirklich nicht mehr“, setzte er hinzu, als
sie ihm ein Glas hinüberreichte. „Ich muß ja noch ins Hotel zurück.“
„Sind Sie auch wirklich noch fahrtüchtig?“ fragte Vivien. „Sie können sich die
Couch mit Imogen teilen.“
„Ich wüßte nicht, was ich lieber täte“, lächelte er. „Aber ich muß Sie enttäuschen,
Imogen, so weit ist es noch nicht.“
„Ich bin nicht im geringsten enttäuscht“, versetzte sie giftig. „Ich ziehe es vor,
allein zu schlafen.“
„Wie tugendhaft“, spöttelte er. „Kleiner Eisberg, was? Na schön, dann gute
Nacht, Mädchen!“
Er küßte jede und Imogen besonders lange und innig auf die Lippen. Vivien
begleitete ihn zur Tür und bestand darauf, noch die Treppe mit hinunterzugehen.
Ihre fröhlichen Stimmen drangen bis nach oben. Louise stürzte ans Fenster und
starrte hinunter.
„Schaut, was für ein Monsterding von Wagen! Hoffentlich ist er wirklich noch
fahrtüchtig.“
Wütend meine Imogen:
„Eine Nacht in einer Ausnüchterungszelle täte ihm ganz gut. Er ist ja
gemeingefährlich.“ Ihre Lippen brannten von seinem Kuß. Ihr Körper empfand
noch die Umarmung und den Druck seiner Hände, während ihr Verstand den
Aufruhr in ihrem Blut zu unterdrücken suchte.
Louise wandte sich vom Fenster ab und starrte sie an.
„Was ist denn in dich gefahren? Ich finde ihn einfach toll!“
„Das findet ein Dutzend anderer Mädchen auch“, fuhr Imogen sie schroff an und
sammelte die schmutzigen Gläser ein.
Louise seufzte: „Na, auf jeden Fall war es heute sehr lustig.“
Lustig? In der Tat. Dummes seichtes Geplänkel, vom Champagner beeinflußt,
dachte Imogen. Sie belud das Tablett mit Tellern und Gläsern und trug es in die
Küche. Die Essensreste stellte sie in den Kühlschrank und begann dann
abzuwaschen.
„Nun quäl dich doch nicht damit“, sagte Vivien hinter ihr. „Wir können doch
morgen abwaschen. Meine Proben beginnen nicht vor zehn.“ Sie gähnte.
„Eine gute Rolle?“ fragte Imogen.
„Ja, sehr hübsch.“ Sie musterte ihre Freundin scharf. „Ich habe gehört, unser
Adonis nimmt dich mit nach Schweden? Das ist ja schon eine enorme
Verbesserung zu deinem Verflossenen.“
„Es ist noch nichts entschieden“, wich Imogen aus.
„Wenn die Entscheidung bei dir liegt, dann tu’s! Den Jungen sollte man
festnageln. Mit der kleinen Braunhaarigen, mit der wir aßen, kann er es ja wohl
nicht ernst meinen.“
„Er meint es mit keiner ernst“, behauptete Imogen nüchtern.
„Dann weißt du ja wenigstens, woran du bist und kannst dich mit ihm vergnügen.
Versuch ihn auszunehmen, Schäfchen – er ist sehr spendabel und weint nichts nach.“ Sie griff nach einem halbvollen Glas und leerte es. „Wenn du meinst“, sagte Imogen leise und fuhr mit dem Abwasch fort. Ein klein wenig hoffte sie, sich in Christian zu täuschen. Es wäre zu nervenaufreibend, sich in ihn zu verlieben. Als sie im Bett vor sich hin sann, versuchte sie verzweifelt, sich Rays Gesicht und seine Stimme vorzustellen. Vor diesem Abend mit Christian war es ihr immer noch gelungen. Aber auf einmal entzog sich ihr die Erinnerung an Raymond auch hier in ihrer Wohnung. Nicht mal den Kummer um ihn konnte sie in sich heraufbeschwören. Statt dessen wurde sie vom Blick eines blauen Augenpaars geplagt und von der Erinnerung an einen festen, spöttischen Mund, der den ihren so herausfordernd männlich geküßt hatte. * Imogens Zusammentreffen mit ihrem Agenten war deprimierend. Nicht nur, daß
er für sie kein Engagement auf Lager hatte, er malte ein düsteres Bild der
Situation in ihrem Beruf. Erfahrene Tänzerinnen stünden zu Dutzenden Schlange
bei den wenigen ernsthaften Angeboten.
„Sie sollten sich vielleicht für eine Weile etwas anderes suchen“, schlug er vor.
„Ich benachrichtige Sie sofort, wenn sich etwas ergeben sollte.“
Damit war die Unterredung beendet.
„Ich fürchte, daß damit das Ende unserer netten kleinen Familie gekommen ist,“
meinte Vivien, als sie von Imogens Pech hörte. „Wenigstens weißt du, was du
machen kannst – nichts währt ewig.“
„Na, wollen wir hoffen, daß das nicht für Louises Ehe gilt“, bemerkte Imogen.
„Die wird halten. Er ist genauso ein Alltagsmensch wie sie.“ Lächelnd setzte sie
hinzu: „Vielleicht erwarten wir beide auch zuviel.“
„Ray war alles, was ich wollte“, murmelte Imogen.
„Ach, hör auf, der hätte dich ja gar nicht verdient. Ich hoffe, irgendein
strahlender Schwede wird dir vergessen helfen.“ Sie warf dabei ihrer Freundin
einen schnellen Blick zu. „Übrigens, einen hast du ja schon kennengelernt.“
„Der ist schlimmer als Ray“, sagte Imogen bitter. „Ein Mädchen kann zwar gegen
weibliche Rivalinnen kämpfen, aber nicht gegen Slaloms und Berghänge.“
„Mach dir darüber keine Kopfschmerzen“, meinte Vivien. „Mutter Natur schlägt
immer zu und trifft einmal auch den talentiertesten Athleten.“
Gegen Abend kam Christian, um zu erfahren, wie Imogen mit ihrem Agenten
verblieben war. Kleinlaut erzählte sie, daß nichts zu machen sei und sie bereit
wäre, nach Schweden zu gehen, wenn seine Schwester ihre Dienste noch
benötige.
„Das tut sie“, beteuerte er, „und zwar so bald wie möglich.“
Fast war sie enttäuscht, als er vorschlug, erst in zwei Tagen aufzubrechen. Da sie
einen gültigen Paß besaß, gab es für sie keinen Grund zu warten. Louise erbot
sich, ihre paar Habseligkeiten in ihre Obhut zu nehmen.
Christian widmete dann seine Aufmerksamkeit Vivien, die ihn offenbar sehr in
seinen Bann gezogen hatte.
„Hätten Sie eigentlich auch mich an Imogens Stelle mitgenommen?“ fragte Vivien
schelmisch. „Sie scheint nicht so begeistert zu sein.“
„Ich würde es nicht wagen, Sie mitzunehmen“, erklärte er lachend. „In einem
Land voller Blondinen würde man sich zu sehr um Sie reißen. Die Verantwortung
wäre zu schwer für mich.“
„Aber Imogen ist auch nicht blond.“ „Nein, aber ein Eisblock“, gab er zurück. „Ich vermute, Sie sind das komplette Gegenteil.“ „Sie meinen feurig?“ lachte sie laut. „Sieh nicht so verstört aus, Imogen! Ich eigne mich nicht, anderer Leute Kinder zu hüten. Außerdem gehe ich auf Tournee.“ Imogen war nicht verstört. Sie wußte, daß Vivien nur scherzte – aber trotzdem empfand sie Unbehagen bei Christians und Viviens vertraulichem Ton. Sie war doch nicht etwa eifersüchtig? Sie wußte, es war nur Geplänkel. Was machte es schließlich schon aus, wenn Christian ihre Freundin reizvoll fand! Trotzdem gefiel es ihr nicht. Die folgenden beiden Tage verflogen im Fieber der Reisevorbereitungen. Imogen fuhr zu einer Stippvisite zu ihren Eltern und mußte feststellen, daß Lettice schon alles geschrieben hatte. Sie war also ziemlich sicher gewesen, daß Imogen letztlich den Job annahm. Imogens Eltern waren erfreut, daß ihre Tochter auf diese Weise all die Freundlichkeiten der Wainwrights entgelten konnte. Das war immerhin ein Gedanke, der Imogen noch gar nicht gekommen war. Lettice hatte für Imogen einen Pelzmantel und eine Windjacke beigepackt. Sie meinte, sie hätte dafür keine Verwendung mehr, Imogen jedoch könnte die Sachen sicher gut in Jämtland gebrauchen. Es war jetzt Anfang März, der Schnee im Süden verschwunden. Imogens Gedanken waren eigentlich ganz auf Frühling eingestellt, aber diese Sachen riefen ihr wieder ins Bewußtsein, daß sie in den Winter zurückkehrte. Der Eindruck verstärkte sich noch, als sie am Abreisetag Christian in seinem dicken Mantel auf dem Flughafen traf. Gegen Mittag landeten sie in Stockholm. Die Sonne schien strahlend von einem wolkenlosen Himmel herab. Der Schnee glitzerte auf den Dächern wie Tausende von Edelsteinen. Mit einem Taxi fuhren sie in die Stadt, denn vor dem späten Abend würden sie nicht Weiterreisen. Christian hatte Plätze im Nachtexpress nach Norden gebucht. Gegenüber dem Bahnhof lag ihr Hotel, wo man Christian anscheinend gut kannte. Der Portier erbot sich, ihre Gepäckstücke schon am Bahnhof aufzugeben. Nach dem Mittagessen erklärte Christian, daß er noch mit dem Makler wegen Gretas Wohnung zusammentreffen müsse. Er bat Imogen, bis zu seiner Rückkehr zum Abendessen auf ihn zu warten. Das Hotel war wie alle in Schweden blitzsauber, zentralbeheizt und gut eingerichtet. Aber Imogen war viel zu ruhelos, um hier stillzusitzen, wie es Christian von ihr zu erwarten schien. Sie zog ihren Pelzmantel an und trat hinaus in den Sonnenschein. Sie schlenderte die breite Vasagaten hinunter. Es war kalt, und nur in der Sonne angenehm, über eine kleine Brücke gelangte sie in die Altstadt. Sie sah sich das Schwedische Parlament an. Rechts davon erhob sich der Königspalast. Sie bewunderte die vielen Baustile, den Turm der deutschen Kirche und die schwierig auszusprechenden Straßennamen. Müde und durchgefroren kehrte sie schließlich wieder in das warme Hotel zurück. Ein wenig verschnupft war sie schon, daß Christian sie so allein zurückgelassen hatte. Aber als er dann in dunklem Anzug vor ihr stand, freute sie sich doch, wieder einen Gesprächspartner zu haben, und ihr Ärger war verflogen. Er kam ihr in seinem Mutterland noch schwedischer vor als vorher. Sie stellte auch fest, daß all die weiblichen Wesen in der Hotelhalle große, gutaussehende Blondinen waren, und sie konnte jetzt verstehen, daß er Viviens dunkle Schönheit so attraktiv fand,
übrigens schienen alle sehr selbstbewußte Frauen, die wußten, was sie wollten
und wie sie es erreichen konnten. Ihr kam der Gedanke, daß Christian sie und
ihre Freundinnen ziemlich leichtfertig, wenn nicht sogar kindisch finden könnte.
Er folgte ihrem Blick und sagte: „Ja, ja, die Schweden sind noch sehr
germanische Typen. Ihr in England, ihr seid ja eine Mischung aus Briten, Kelten,
Sachsen und Normannen.“
„Mich stört das nicht“, meinte sie gereizt. „Außerdem haben Sie ja selbst einen
britischen Vater.“
„Gut, daß Sie mich erinnern. Immer wenn ich hierher zurückkomme, gerate ich
in Gefahr, das zu vergessen.“
So war es nicht nur ihre Einbildung gewesen, daß sie seit ihrer Ankunft das
Nordische als beherrschendes Element gespürt hatte. Eine Frage bedrückte sie:
Würde ihr Greta ebenfalls so fremd vorkommen?
Ein junger Mann trat plötzlich auf Christian zu, verbeugte sich und streckte ihm
die Hand entgegen.
„Mr. Wainwright, nicht wahr?“
Christian erhob sich, erwiderte die Begrüßung und machte Imogen mit Erik
Bergquist bekannt.
„Ist die Dame Ihre Verlobte?“ fragte er unverblümt.
„Noch nicht offiziell“, antwortete Christian mit einem verschmitzten Lächeln.
Ihr Gespräch drehte sich um Sport, und Imogen entnahm daraus, daß Erik
Bergquist ein Reporter war, der Christian zu seinen letzten Erfolgen
beglückwünschen wollte und um ein Interview für seine Zeitung bat.
Christian entschuldigte sich etwas abrupt, sie müßten zum Abendessen, weil ihr
Zug bald ginge.
Als sie dann beim Essen saßen, wollte Imogen wissen, warum er dem Mann in
bezug auf sie einen solchen Bären aufgebunden hatte. „Warum konnten Sie ihm
denn nicht sagen, daß ich als Hilfe für Ihre Schwester mitgekommen bin?“
„Warum sollte ich das? Das geht ihn doch nichts an. Außerdem gefiel mir sein
Blick nicht, mit dem er Sie musterte. Ich kenne Sie doch, Herzchen, deshalb
wollte ich ihn nicht noch mehr ermutigen. So nimmt er wenigstens an, daß Sie
ausgebucht sind.“
„Ach, machen Sie sich doch nicht lächerlich“, versetzte sie scharf, durch seinen
spöttischen Ton aufgebracht. „Und vor allem bin ich nicht Ihr Herzchen.“
„Nein?“ Er grinste sie an. „Ich dachte, Sie wollten jedermanns Herzchen sein.“
Ihr schoß vor Wut eine dunkle Blutwelle ins Gesicht.
„Sie brauchen mich gar nicht so anzublitzen“, fuhr er ruhig fort. „Ich muß Sie
dann wohl mißverstanden haben. Sie sind so schrecklich inkonsequent. Imogen…
Aber wenn sich der Reporter Bergquist noch einmal blicken lassen sollte: Ich
möchte keinesfalls, daß er Ihnen nach Jämtland nachreist.“
„Als ob er das vorhätte.“
„Oh, sein Job führt ihn überallhin. Und Sie sind ein seltenes Exemplar unter all
unseren blonden Schönheiten.“
Imogen ging darauf nicht mehr ein. Schweigend widmeten sie sich ihrer Mahlzeit.
Sie war sehr reichhaltig und bestand aus Suppe, einer kalten Platte mit allen
möglichen Vorspeisen; als Hauptgang wurde Huhn in Pilzsoße gereicht. Pilze, so
erklärte Christian ihr, waren ein bevorzugtes Gericht in Schweden und würden
das ganze Jahr über gezogen. Als Nachtisch gab es Halbgefrorenes und Kaffee.
Imogen fühlte sich übersättigt und wäre am liebsten in das nächstbeste Hotelbett
gesunken. Statt dessen mußte sie sich anziehen und hinaus in die kalte,
schwarze Nacht eilen.
Auf dem Bahnhof verschwammen ihr vor Müdigkeit die Lichter vor den Augen.
Sie war von all den neuen Eindrücken unendlich müde.
„Halten Sie sich noch ein wenig auf den Beinen, meine… Ich wollte sagen, Sie
armes Mädchen“, tröstete Christian sie warmherzig. „Bald können Sie lange,
lange schlafen. Vor morgen früh sind wir nicht da.“
Schnell hatten sie ihre Schlafwagenabteile gefunden. Christian murmelte ihr noch
,gute Nacht’ zu und ließ sie allein. Imogen legte nur die Oberkleidung ab, fiel auf
ihr Bett und hatte kaum mit dem Kopf das Kissen berührt, da übermannte sie
auch schon der Schlaf.
7. KAPITEL Mittelschweden ist ein Land der Seen und weiten Wälder. Von den norwegischen Bergen fällt es sanft zur Ostsee hin ab, durchschnitten von zahlreichen Flüssen, auf denen der Holzreichtum des Landes zur See geflößt wird. Da es Nacht war, sah Imogen freilich nichts von dem Land, durch das der Zug raste. Während der ersten paar Stunden schlief sie fest. Doch dann erwachte sie von einer merkwürdigen Nervosität und Spannung. Wie kam sie nur dazu, so überlegte sie, sich in dieses verrückte Abenteuer einzulassen? Allein in der Dunkelheit gestand sie sich die Wahrheit: Es ging ihr nicht um die Arbeit – die hätte sie überall finden können, noch reiste sie den Wainwrights zuliebe hierher. Einzig der Wunsch, Christians Heimatland sowie seine Schwester kennenzulernen, waren die Triebkräfte ihres Tuns. Der unbewußte Drang, die Bindung zwischen ihm und ihr zu verstärken, hatte sie dazu bewogen. Was sie für ihn empfand, war nicht Abneigung sondern Zuneigung, und es war unglaublich kurzsichtig von ihr gewesen, seinem Vorschlag zuzustimmen. Denn durch ihr eigenes Verhalten hatte sie bei ihm alle Zuneigung, die er vielleicht für sie gefühlt haben mochte, zerstört. Sein Verhalten in bezug auf Peter bewies nur zu klar, daß er weiter nichts in ihr sah, als ein Mädchen, das sich amüsieren wollte. Auch der Vorfall mit Erik Bergquist zeigte das. Aber selbst wenn sie ihn dazu bringen könnte, seine Meinung von ihr zu ändern, bliebe die Situation für sie dennoch hoffnungslos. In seinem Sport hatte sie einen weit stärkeren Rivalen, als jede andere Frau es wäre. Weder Ericas kindlicher Charme, noch Viviens Schönheit würden ihn seinen Sport vergessen lassen. Er hatte ihr ja auch offen gesagt, daß er erst dann an Heirat denken könne, wenn er vom Skisport abtrete. Gegen den Reiz eines Abfahrtrennens kam ein normales Mädchen offenbar nicht an. Hier war sie nun eine Fremde in einem fremden Land, und er würde sie nach wenigen Tagen bereits wieder allein lassen. Vielleicht ist es besser so, tröstete sie sich. Ihr schien, als ob die Räder des Zuges die warnenden Worte wiederholten: Männer sind immer Betrüger. Es war noch dunkel, als sie ihren Bestimmungsort erreichten. Nur im Osten zeigte sich schon ein heller Streif am Horizont. Der untergehende Mond warf blasses Geisterlicht über schwarze Fichten und das Eis eines großen Sees, überall lag Schnee, und es war bitterkalt. Ein Auto mit Schneeketten stand für sie bereit. Imogen hüllte sich sofort in die bereitliegende Pelzdecke und dann fuhren sie über die verschneiten Straßen davon. Der stämmige Bauer, der den Wagen fuhr, unterhielt sich mit Christian auf schwedisch. Die unverständlichen Worte unterstrichen noch die Unwirklichkeit der Szene. Das konnte doch wohl nicht sie sein, Imogen Sinclair, die die Zivilisation hinter sich ließ, um auf diesem halbarktischen Außenposten leben zu wollen. So verrückt konnte sie doch gar nicht sein! Sie sahen weder Dörfer, noch einzelne Häuser – das Land schien völlig menschenleer. Plötzlich brach es aus ihr heraus: „Lebt denn hier niemand?“ „Ja, die Gegend hier ist spärlich besiedelt“, gab Christian zu. „Und es wird hoch schlimmer werden. Es zieht eben alle nach Süden.“ „Das überrascht mich nicht“, meinte Imogen und schüttelte sich vor Kälte. Nach einer Weile kamen sie an einem Holzfällerlager vorbei, wo ein knisterndes Feuer die Nacht erhellte. An der Straße lagen die geschlagenen Baumstämme
gestapelt und warteten auf den Abtransport. Auf einer Lichtung standen ein paar Blockhäuser, und ein von einem Schneemobil gezogener Schlitten brachte weitere Baumstämme. Die Holzfäller in ihren Pelzjacken und Parkas wirkten im rötlichen Schein des Feuers wie der Unterwelt entstiegen. Das Kreischen der Kreissägen lieferte dazu die entsprechende Begleitung. „Die Baumstämme werden über eine Rinne zum Fluß hinuntergestoßen“, erklärte Christian. „Dort stapelt man sie, bis das Eis aufbricht, und sie zur Küste geflößt werden können.“ „Heißt das, daß die Leute den ganzen Winter über hier arbeiten?“ fragte Imogen ungläubig. „Ja, der Winter ist die richtige Zeit zum Holzschlagen“, erläuterte er. „Dann steigt kein Saft in den Bäumen auf, und der Schnee erleichtert den Transport. Im Sommer arbeiten diese Jungs in der Landwirtschaft.“ „Zähe Burschen“, meinte Imogen anerkennend. „Wir sind ein zähes Volk“, stimmte er ihr zu. Der Wagen fuhr jetzt durch eine Gegend mit lichterem Baumbestand. Dann kam das Farmhaus in Sicht. Sein Dach war tief heruntergezogen, um Schutz vor Schnee und Kälte zu bieten. Hinter den kleinen Fenstern schimmerte helles Licht, und Imogen seufzte erleichtert auf bei dem Gedanken, daß es hier wenigstens genügend elektrischen Strom gab. Während Christian ihr so betont nordisch vorgekommen war, wirkte Greta ausgesprochen englisch. Dabei sah sie ihrem Bruder sehr ähnlich. Sie begrüßte Imogen herzlich. Die beiden flachshaarigen Kinder jedoch, drei und vier Jahre alt, murmelten nur verlegen ,Valkomna’. Christian hob sie zur Begrüßung hoch und staunte, wie sehr sie gewachsen seien, was Greta lachend abstritt. Solange war es ja nun auch nicht her, seit er sie zum letztenmal gesehen hatte. „Aber ihr müßt doch sterben vor Hunger“, meinte sie dann. „Kommt und eßt erst einmal etwas!“ Greta war eine hochgewachsene, blonde Frau. Sie führte die beiden ins Wohnzimmer, das ganz in Holz gehalten war. Die niedrige Decke wurde von dicken Balken getragen, die Wände bestanden aus poliertem Fichtenholz. Den Fußboden bildeten blanke Dielen, auf denen handgewebte bunte Läufer lagen. An einer Wand befand sich ein riesiger offener Kamin, in dem gewaltige Scheite glühten. Ihm gegenüber stand ein weißer Ofen. Ein roher Holztisch war bereits zum Essen gedeckt. „Legen Sie doch den Mantel ab“, meinte Greta. „Ich werde Ihnen zunächst einmal Ihr Zimmer zeigen.“ Zögernd folgte Imogen und befürchtete, einen eiskalten Raum vorzufinden. Doch das kleine Zimmer, das Greta öffnete, war angenehm erwärmt. Auch hier war alles aus Holz, sowohl die Verkleidung des Raumes wie auch das schlichte Mobiliar. „Bad und Toilette befinden sich gleich nebenan. Unsere Waschgelegenheiten sind zwar nicht ganz so komfortabel wie im Hilton, aber sie reichen aus. Wir haben auch ein Badehäuschen mit Sauna, doch das benutzen wir nur im Sommer.“ Damit ging sie hinaus, und Imogen wurde plötzlich die unwirkliche Stille bewußt, die über dem Haus lag. Mit einer gewissen Erleichterung hörte sie einen Hahn krähen. Als sie in den Wohnraum zurückkehrte, sprachen Greta und Christian wieder einmal über den Sport. „Hoffentlich erwartest du von uns nicht, daß wir nach Are kommen und uns dein Rennen ansehen“, sagte Greta gerade. „Dafür ist es viel zu kalt.“ Sie erblickte
Imogen, die zögernd an der Tür stehengeblieben war. „Kommen Sie doch herein und setzen Sie sich. Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause.“ Dann holte Greta eine große Schüssel Porridge, was ihre Kinder gröt nannten. Normalerweise verabscheute Imogen Porridge, aber jetzt war sie so hungrig, daß sie mit Appetit aß. Danach gab es gebratenen Schinken mit sehr hart und knusprig gebackenem Knäckebrot. „Diese Weiträumigkeit wird dir fehlen“, meinte Christian und sah sich in dem großen Raum um. „Ich habe mir gestern deine Stockholmer Wohnung angesehen. Vier kleine Zimmer und eine Küche, da kannst du keine großen Sprünge machen.“ „Wer will schon große Sprünge machen!“ lachte Greta. „Nach dieser Scheune hier werden wir uns wie im Himmel fühlen, und außerdem haben wir einen Monat eher Sommer.“ Damit wandte sie sich an Imogen und setze hinzu: „Hier wird es nämlich nicht vor Mitte Juni warm.“ Imogen fröstelte bei dieser Aussicht, denn es war immerhin erst März. „Zum Glück“, meinte Christian von seinem Standpunkt aus. „Ich bin nur des Schnees wegen hergekommen.“ „Ich weiß, und deshalb solltest du dich gleich daran machen, deine Skier zu wachsen. Dann stehst du hier wenigstens nicht im Weg herum.“ Christian blickte zu Imogen und sagte komischanklagend: „Hören Sie sich das an! So begrüßt mich meine liebe Schwester nach einer langen Reise!“ „Gerade eben hast du gesagt, du wärst nur des Schnees wegen gekommen“, erinnerte Greta ihn lachend. Ertappt lachte er mit und machte, daß er aus dem Zimmer kam. Imogen half Greta, den Tisch abzudecken, und Greta erzählte dabei: „Er ist wie alle anderen. Heiraten Sie niemals einen Schweden, Imogen! Ich darf Sie doch so nennen? Sie sind alle Egoisten, kalt und unzugänglich. Sie haben nur Sinn für ihre Arbeit und ihre ehrgeizigen Pläne.“ „Ihr Bruder ist aber doch gar kein Schwede“, gab Imogen zurück. „Nein, auf dem Papier ist er Engländer, weil er auf der anderen Seite der Nordsee geboren ist. Aber er hat fast die gleichen Fehler wie mein verstorbener Mann. Ich muß gestehen, daß ich nicht allzusehr um Sven traure. Er sah in mir nichts weiter als eine Haushälterin und Bettgenossin. Das hat mir nicht genügt.“ „Aber die meisten Frauen sind doch auch nicht mehr, oder?“ fragte Imogen, die Gretas Enthüllungen ein bißchen peinlich berührten. „Hören Sie, ich habe eine gute Ausbildung, Imogen. Ich spreche fünf Sprachen, habe eine Ralley mitgefahren und als Hostess gearbeitet. Ich habe einen weiteren Horizont, als man zum Kuchenbacken und Kücheaufwischen braucht. Im Süden unten werde ich meine Talente besser verwerten können.“ „Und die Kinder?“ „Die kommen in einen Kindergarten.“ Imogen war ein wenig erschüttert über diese Erklärung weiblichen Unabhängigkeitsstrebens, doch sie erwiderte nichts darauf. Greta warf ihr einen schrägen Blick zu. „Nun seien Sie nicht so entsetzt“, bat sie lachend. „Schließlich kommen Sie aus der Weltstadt London, da müßten Sie doch Verständnis für mich haben, übrigens hat Christian mir einiges über Sie geschrieben.“ Imogen fürchtete, daß sie bei dieser Bemerkung errötet war. „Ach, wirklich?“ murmelte sie. „Sie haben ziemlichen Eindruck auf ihn gemacht. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Sie wissen, wir leben hier sehr frei, und wenn Sie ein Verhältnis mit
ihm anfangen wollen, dann tun Sie sich keinen Zwang an. Nur heiraten Sie ihn
keinesfalls.“
Diese Vorstellung war so unwahrscheinlich, daß Imogen laut auflachte. „Der
Gedanke wäre ohnehin keinem von uns beiden gekommen“, erklärte sie mit
Nachdruck.
Greta allerdings schien zu zweifeln. „Obwohl er Sie mit zu mir gebracht hat?“
fragte sie.
Plötzlich fiel Imogen ein, was Christian ihr über Erica gesagt hatte: Sie mit nach
Jämtland zu nehmen, könnte sie auf dumme Gedanken bringen. Aber bei ihr,
Imogen, bestand keine Gefahr der Mißdeutung.
„Ich dachte, ich sollte Ihnen eine Hilfe sein“, erwiderte sie. „Allerdings scheinen
Sie mich kaum zu brauchen.“
„O doch, Sie ahnen gar nicht wie sehr! Allein jemand zu haben, mit dem man
sprechen kann! Außerdem gibt es auch eine Menge zu tun. Vergessen Sie, was
ich über meinen Bruder gesagt habe.“
Imogen nickte ihr lachend zu.
* Gegen Mittag kam die Sonne heraus und tauchte die Landschaft in grelles Licht. In kristallener Klarheit hob sich jeder Birkenzweig vom blaßblauen Himmel ab. Es gab hier nicht den schwachen Dunst, der in England stets den Horizont verwischte. Hier waren alle Konturen scharf umrissen – und weithin glitzerte der Schnee in der Sonne. Trotz der Schönheit der Szenerie betrachtete Imogen sie voll Trübsinn. Sie hatte in diesem Winter genug vom Schnee und sehnte sich nach grünem Gras. Christian dagegen fühlte sich ganz in seinem Element. Das Wetter versprach für einige Zeit schön zu bleiben. So verbrachte er die meiste Zeit des Tages draußen im Schnee und testete seine Ausrüstung. „Ich bin einfach zu lange weggewesen“, beklagte er sich. „Das gute Leben war Gift für meine Form.“ „An deine Form wird in Are niemand heranreichen“, tröstete ihn Greta. „Das weiß doch jeder, daß du nur aus sentimentalen Gründen dahin gehst und weit besseres gewöhnt bist.“ „Na, auf jeden Fall ist es ein gutes Training für Spanien. Außerdem ist mein Trainer auch dort. Morgen muß ich mal einen ernsthaften Trainingstag einlegen, und übermorgen breche ich nach Are auf. Ich muß dort jede Minute guten Wetters nutzen.“ Imogens Stimmung sank auf den Nullpunkt. Die unvermeidliche Trennung rückte näher. Sie hatte jedoch keine Zeit, ihrer Enttäuschung nachzuhängen, denn im Haus gab es zuviel zu tun. Sie mußte sich erst einmal mit den Arbeiten vertraut machen und sich mit Kajsa sowie dem kleinen Sven anfreunden. Die Kinder kamen ihr zu still und gedrückt vor, ganz anders als Lettys lärmende Rangen. Kein Wunder, daß auch Christian sich deshalb Gedanken gemacht hatte. Der Unterschied war zu offensichtlich. Greta jedoch dachte anders darüber. „Es ist nie zu früh für Kinder zu lernen, sich anständig zu benehmen“, behauptete sie. „Was wir hier am meisten verabscheuen, das ist Schmutz, Unordnung und Lärm.“ So klein sie noch waren, so wurden sie doch sofort in den kurzen Sonnenschein hinausgeschickt. Beide waren dick vermummt und zogen jeder seinen Schlitten hinter sich her.
Kajsa rutschte auf einer vereisten Wegstelle aus und fing laut an zu weinen. Ohne Rücksicht auf die Kälte stürzte Imogen hinaus und trug das Mädchen ins Haus. „Ist ihr etwas geschehen?“ fragte Greta. „Ich glaube nicht“, erwiderte Imogen und packte das dicke Bündel aus. „Vielleicht eine Schramme, Sie hat sich nur erschreckt.“ „Dann hör auf zu weinen, Kajsa“, befahl ihre Mutter. „Du hast keinen Grund zu weinen.“ Imogen jedoch las in den tiefblauen Augen die Enttäuschung über den Mangel an Anteilnahme und drückte den kleinen Körper fest in ihren Armen. Mit leiser Stimme tröstete sie das Kind: „Ja, mein Liebling, es war ein böser Sturz, aber jetzt ist alles wieder gut.“ Greta lachte und ging in ihr kleines Büro, wo sie die Buchhaltung der Farm führte. Imogen aber hielt das Mädchen auf ihrem Schoß, und Kajsa legte ihr die Arme um den Hals. Der Schmerz wich aus ihrem Gesicht und machte dem Ausdruck rosiger Zufriedenheit Platz. Da bemerkte Imogen plötzlich, daß Christian hereingekommen war und sie nachdenklich beobachtete. Hastig setzte sie das Kind zu Boden und kleidete es wieder an. „So, jetzt ist alles wieder gut, nicht wahr? Jetzt gehst du wieder hinaus spielen!“ „Sie brauchen nicht verlegen zu werden“, sagte Christian, während seine kleine Nichte in den Schnee hinaus lief. „Was wollen Sie damit sagen?“ forderte sie ihn heraus. „Ich meine, Sie müssen nicht unbedingt ständig die rauhe Seite Ihres Wesens herauskehren!“ „Ich bin normalerweise nicht rührselig“, entgegnete sie hastig, denn eine unerwartete Zärtlichkeit lag in seinem Blick und verwirrte sie. „Aber die Kinder ihrer Schwester scheinen mir nach Liebe und Zuneigung zu hungern.“ „Das hatte ich Ihnen doch gesagt“, erinnerte er sie. „Greta ist ziemlich hart. Aber es ist auch zu begreifen. Sven hat sie hierhergebracht in diese Einöde und sie dann jeden Winter allein gelassen. Alle Welt fragte sich, was er die Zeit über trieb. Er behauptete, mit den Holzfällern zu arbeiten. Aber Greta und ich, wir hatten unsere Zweifel. Es ist keine angenehme Sache, allein hier den Winter zu überstehen, wenn es nur für ein oder zwei Stunden am Tag hell wird und die Temperatur nie über Kuli steigt.“ Gretas verstorbener Mann war also auch nur ein weiteres Beispiel für männlichen Egoismus, dachte Imogen. Den ganzen nächsten Tag über war Christian unterwegs. Erst am Abend kehrte er zurück, sichtlich in guter Laune. Imogen betrachtete ihn nachdenklich. Es würde wohl eine ganze Weile dauern, ehe sie wieder einen Abend gemeinsam verbrachten. Sie merkte, daß auch er sie mit neugieriger Aufmerksamkeit musterte, und fragte sich, worüber er nachdachte. Zweifelte er vielleicht an ihrer Eignung als Haushaltshilfe? Nun, sie hatte nie behauptet, besonders brauchbar zu sein. Sie brachte die Kinder zu Bett. Als sie wieder in den Wohnraum zurückkehrte, legte Christian die Zeitung beiseite und fragte, ob sie Lust hätte, mit ihm noch eine kleine Fahrt zu unternehmen. Erstaunt starrte Imogen ihn an. „Jetzt, in der Nacht? Es ist doch dunkel und eiskalt.“ „Der Mond scheint. Ich dachte, Sie würden vielleicht gern mal eine Schlittenfahrt machen. Sehr romantisch, so eine Fahrt!“ Leicht spöttisch sah er sie an, und sie überlegte, ob er sich mit ihr etwa einen Scherz erlauben wolle, da sie doch mit den Sitten des Landes so wenig vertraut
war.
„Ist das hier üblich?“ fragte sie unsicher.
„Wie in jedem anderen Land mit viel Schnee auch. Aber jetzt verschwinden die
Schlitten immer mehr. Statt dessen treten Schneemobile an ihre Stelle, und Sie
sollten wirklich die Gelegenheit nutzen, solange Gretas Pferde noch nicht zu
Salami verarbeitet sind.“
Greta, die kurz zuvor in den Raum gekommen war, protestierte heftig: „Als ob
ich das jemals dulden würde!“ Dann warf sie Imogen einen bedeutungsvollen
Blick zu und sagte: „Aber da Christian schon einmal seinen freundlichen Tag hat,
sollten Sie wirklich sein Angebot annehmen.“
„Vor einem großen Rennen brauche ich immer ein bißchen Entspannung“,
verkündete Christian doppelsinnig. Da Imogen immer noch zögerte, setzte er
hinzu: „Wer weiß, vielleicht stößt mir beim Rennen etwas zu. Dann wird es Ihnen
leid tun, mir meinen letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben.“
In Imogen stieg bei diesen Worten leise Furcht auf. Skirennen konnten in der Tat
manchmal lebensgefährlich werden, das hatte sie noch gar nicht recht bedacht.
„Also kommen Sie! Ziehen Sie sich warm an, unterdessen spanne ich die Pferde
ein“, drängte Christian und stand auf.
Greta lächelte hintergründig. „Aber seid vorsichtig“, warnte sie. „Mondschein
kann ebenfalls sehr gefährlich werden.“
Vor Imogens geistigem Auge stiegen warme Sommernächte auf, doch jetzt war
es draußen eiskalt.
„In dieser Kälte ist Mondschein ganz ungefährlich“, erwiderte sie leichthin,
während sie sich einmummte. Trotzdem verspürte sie eine angenehme
erwartungsvolle Erregung.
* Mit Pelzstiefeln, Pelzmantel, Fausthandschuhen war sie rund wie eine Kugel und kaum sehr verführerisch. Um das Gesicht hatte sie sich einen dicken Wollschal geschlungen. Doch nahm sie auch nicht an, daß Christian irgendwelche amourösen Absichten verfolgte. Er gab sicher nur einem seiner plötzlichen Einfälle nach. Es hielt ihn einfach nicht im Hause. Immerhin würde sie mit ihm allein sein, vielleicht zum letztenmal, und dafür wollte sie gern Frost und Kälte in Kauf nehmen. So schlimm schien es aber gar nicht zu kommen, denn der Schlitten lag voller Pelzdecken, in die sie sich kuscheln konnte. Zwei norwegische Pferde von einer ungewöhnlichen rötlichweißen Färbung zogen das Gefährt, an dem zu beiden Seiten zwei altmodische Kutscherlampen befestigt waren. „Eigentlich sind sie überflüssig“, meinte Christian und deutete auf die Lampen. „Um diese Nachtzeit werden wir niemandem begegnen.“ Fast lautlos glitt der Schlitten dahin. Auch das Geräusch der Pferdehufe wurde durch den Schnee gedämpft. Der Weg führte sie durch den Wald, dessen Bäume zu beiden Seiten wie stumme schwarze Wächter gegen den hellen Himmel ragten. Kein Windhauch regte sich und die Luft klirrte vor Frost. „Ist es nicht viel schöner als in Svens altem Wagen?“ fragte Christian. „Was haben Sie eigentlich mit Ihrem Wagen gemacht?“ fragte Imogen zurück* ohne ihm eine Antwort zu geben. Sie spürte eindringlich seine Nähe. Stark und kräftig saß er in seinem Pelzmantel neben ihr. Sein kühnes Profil hob sich klar vom Schnee ab, den der Pflug zu beiden Seiten zu hohen Wällen aufgetürmt hatte. „Ich habe den Wagen in der Werkstatt gelassen. Im Sommer bringe ich ihn mit
hierher. Joe kann ihn in seinem Urlaub benutzen. Im Winter aber finde ich Züge bei großen Entfernungen viel bequemer.“ Die Straße führte jetzt einen kleinen Hügel hinan. Dann wurde der Wald lichter, und es ging wieder hinunter zur Bucht eines großen Sees. Wie ein silbernes Tuch lag er vor ihnen, durchlöchert nur von einer Insel, die sich mit schwarzen Kiefern bewachsen vor den Horizont schob. „Für den motorisierten Verkehr bieten die Seen bessere Möglichkeiten als die Straßen“, erklärte Christian. „Soll das heißen, man kann über das Eis fahren?“ „Weshalb nicht – es ist dick genug. Sie können sogar Busse darauf fahren sehen, die dadurch ihre Fahrtstrecken erheblich abkürzen, übrigens sind unsere Elektrizitätswerke unterirdisch gebaut, damit sie die Strömung unter dem Eis ausnutzen können.“ „Die Schweden sind doch tüchtige Leute.“ „Ja, sie sind stolz darauf, wenn alles funktioniert.“ Da erklärte er ihr Land und Leute, und sie hatte auf ein paar persönliche Worte gehofft. Aber sollte er über seine morgige Feuerprobe sprechen? Die wollte er ja jetzt gerade vergessen. Er zog die Zügel an. „Gehen wir ein wenig am See spazieren!“ schlug er vor. Zögernd kroch sie aus den wärmenden Pelzdecken, während Christian die Zügel an einem Baum festband. Er nahm ihren Arm und führte sie an das Seeufer. Die allgegenwärtige Stille hüllte sie ganz in diese Traumwelt der glitzernden Weiße ein. Kein lebendes Wesen regte sich ringsum. Es erschien Imogen, als seien sie die letzten Lebenden auf der Erde. Plötzlich wurden am nördlichen Horizont funkensprühende Lichtstrahlen sichtbar. Sie schossen wie goldene Raketen in den Himmel hinaus. Das gesamte Himmelsgewölbe war grünlich illuminiert. Der seltsame Feuerschein zitterte, ging dann über ins Karmesinrote und Violette und wurde wieder flammend rot. „Was ist denn das?“ flüsterte Imogen und griff nach Christians Arm. Die Erscheinung war ihr unheimlich. „Haben Sie noch nie etwas von der Aurora Borealis gehört?“ „Natürlich, das Nordlicht!“ erwiderte sie. „Schön, daß ich das einmal gesehen habe“, sagte sie leise, „wenn es nur nicht so entsetzlich kalt wäre.“ Er wandte sich zu ihr. Sanft befreite er ihr Gesicht von dem Wollschal. Und plötzlich fühlte sich Imogen von seinen kräftigen Armen umschlossen, sein Mund näherte sich dem ihren. Heftige Erregung packte sie. Sie klammerte sich an ihn und erwiderte seine Küsse, bis ihr bewußt wurde, daß sie in seinen Armen lag, und er zu lachen begann. „Also durch all diese Kleidungsstücke kann ich nun wirklich nicht an dich herankommen“, beschwerte er sich. „Ich hoffe nur, dir ist jetzt wenigstens wärmer.“ Sie spürte einen Kloß im Hals. Spielte er mit ihr? War das seine Art von Entspannung, bevor er zum Rennen aufbrach? Ohne Erfolg versuchte sie, sich von ihm zu befreien. „Imogen“, flüsterte er ihr leise ins Ohr, „kleine, grünäugige Hexe, weißt du, daß du mich verhext hast?“ Er küßte sie wieder. „Könntest du es ertragen, hier immer zu leben?“ „Es kommt darauf an, mit wem“, murmelte sie. „Mit mir natürlich.“ Er zögerte kurz und platzte dann heraus. „Willst du mich heiraten?“ Das konnte er doch nicht wirklich gesagt haben! Seine Worte mußten das
Produkt ihres Wunschdenkens sein. Wie betäubt fragte sie: „Was hast du gesagt?“ „Du hast es doch gehört. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange genug. Aber ist das wichtig, wenn wir so füreinander empfinden?“ Er hatte es also wirklich gesagt! Völlige Verblüffung lähmte sie. Er jedoch stieß die Worte heraus, als ob er sie loswerden wollte, bevor er sie bereute: „Ich warne dich, einen guten Ehemann werde ich nicht abgeben. Ich kann auch nicht versprechen, seßhaft zu werden… im Augenblick. Aber vielleicht werden wir später einmal an einem Ort wie diesem wohnen. Finanziell geht es mir nicht schlecht, es wird dir an nichts mangeln.“ „Ich kann es nicht glauben, daß du mich wirklich heiraten willst“, sagte sie offen. Sie war zu überrascht, um Ausflüchte parat zu haben. „Warum nur?“ „Warum will ein Mann eine Frau wohl heiraten?“ gab er mit rauher Stimme zurück. „Das ist doch der einzige Weg, dich zu bekommen, oder?“ Seufzend wandte sie sich von ihm ab, und er hinderte sie nicht. Die allerletzte Frage war schon so, wie sie es von ihm erwartet hatte. „Mit weniger würde ich mich nicht zufriedengeben“, erklärte sie und fragte sich, ob sie damit die Wahrheit sagte. Sie wußte jetzt, daß sie sich rettungslos verliebt hatte. Wie das Zauberlicht in den Himmel schoß, so plötzlich war sie sich über ihre Leidenschaft klargeworden. Christian bedeutete ihr alles: Beginn und Ende. Ein Leben ohne ihn wäre leer und öd. Ihre Gefühle, die bei Raymond nur wie Kerzenlicht geflackert hatten, waren jetzt zu einem alles verschlingenden Feuer angewachsen. Aber konnte sie es über sich bringen, seine Geliebte zu werden, nur um ihn zu halten? Sie wußte, daß Greta es gut gemeint hatte, als sie riet, sie sollten ihre Verbindung auf ein Verhältnis beschränken. Christian würde ihr nie ganz gehören. Er hatte andere Bindungen, die zu bekämpfen für sie zu schwer war. Ihr Instinkt riet ihr dennoch, alles zu nehmen, was er ihr bot, ihn an sich zu binden, wie auch immer die Sache ausgehen möge. „Vermutlich sagst du so etwas auch nur, weil du glaubst, ich sei leicht zu bekommen“, fuhr sie vorwurfsvoll fort. „So hast du dich mir gegenüber allerdings gegeben. Ich habe es dir nur nicht abgenommen“, sagte er. „Deinetwegen habe ich mich gefragt, ob wir eine dauerhafte Bindung eingehen sollten. Freilich wirst du feststellen, daß es nicht leicht ist, mit mir zu leben. Wollen wir es wagen?“ „Doch, ich würde das Spiel wagen, Christian“, antwortete sie mit glücklichem Lachen. „Nur – meinst du es auch ehrlich?“ fragte sie leise. „Macht das alles nicht nur der Mondschein?“ „Nein, gewiß nicht“, versicherte er fast heftig. „Aber…“ gab er lachend zu, „der Mondschein hilft natürlich. Ich möchte dich besitzen, Imogen, um jeden Preis. Du dachtest damals am Rushup Edge, ich sei ein brutaler Bursche, nicht wahr? Doch da hatte ich bereits entdeckt, daß du viel mehr als nur ein hübsches Mädchen bist. Du hast Entschlußkraft – du bist genau die Frau, die ich mir als Mutter meiner Söhne vorstelle.“ Er mußte es ernst meinen, wenn er schon an Kinder dachte. Aber ein Haken war doch daran. Instinktiv zog sie sich noch weiter von ihm zurück. „Beleidigt dich meine Offenheit?“ fragte er. „Würdest du nicht gern von mir einen Sohn bekommen?“ „Damit er zum SkiAs getrimmt wird?“ versetzte sie mit einer kleinen Spitze. „Das muß nicht sein, obgleich ich ihn natürlich gern als guten Sportler sehen möchte.“ Er zog sie wieder in seine Arme. „Du haßt den Skilauf, was? Aber er ist
mein einziges Laster.“
„Ich hasse ihn nur, weil er dich mir wegnimmt.“
„Aber das kann er doch nicht, Imogen – und mal kommt auch der Zeitpunkt, wo
es mit mir vorbei ist.“
„Ach, und dann kommst du zu deiner Frau zurück?“
„Natürlich!“ Er lachte und überhörte ihren Widerstand. „Ich brauche doch
irgendeinen Ausgleich.“
„Heißt das…“ begann sie, doch Christian schloß ihr den Mund mit Küssen. Und
unter seinen Küssen konnte sie weder denken, noch Einwände erheben.
Schließlich würde sie ihren Ausgleich ja auch bekommen.
Sanft hob er ihren Kopf und fragte: „Wirst du mir jetzt bitte verraten, weshalb du
mir diese Männermörderin vorspieltest, die du nicht bist, und die dir niemand
abnehmen konnte?“
Zögernd erzählte sie ihm von Raymond und von dem Mißtrauen gegen Männer,
das sie durch ihn gelernt hatte. Es kam ihr vor, als berichte sie irgend etwas aus
einem anderen Leben.
Als sie geendet hatte, forschte er ein wenig eifersüchtig: „Hast du ihn wirklich
geliebt?“
„Ich glaubte es“, sagte sie ehrlich. „Aber jetzt weiß ich, daß es nur jugendlicher
Überschwang war. Es war nicht im geringsten das, was ich für dich empfinde.“
„Das hoffe ich.“
Und wieder schlossen seine Lippen besitzergreifend ihren Mund.
Am nördlichen Himmel flammten noch einmal die Lichter auf und erloschen
wieder. Der untergehende Mond lag wie ein Silberstreif über dem Eis. Funkelnde
Sterne erhellten das dunkle Firmament. Es war ein fremdartiger, abenteuerlicher
Rahmen für ihre neu erwachende Liebe.
Unzählige Fragen lauerten in ihrem Unterbewußtsein. Aber in diesem Augenblick
war sie bereit, das Wunder, das mit ihr geschehen war, kritiklos hinzunehmen.
Sie hatte die überwältigende Macht der Liebe entdeckt. Doch leise Zweifel
blieben. Fast angstvoll sagte sie schließlich:
„Man hat mich einmal fallengelassen, Christian. Wirst du mich auch –?“
„Ich bin doch kein Schuft!“ antwortete er kurz.
Er hatte den Arm um sie gelegt und führte sie vom Seeufer zurück zu den
ungeduldig schnaufenden Pferden. Dann half er ihr in den Schlitten und wickelte
sie zärtlich und behutsam in die Decken.
8. KAPITEL Während sie durch die silbrige Schwärze der Nacht nach Hause glitten, stiegen in Imogen Zweifel auf, ob sie Greta von dieser neuen Entwicklung erzählen sollte. Greta hatte sie vor einer Heirat mit Christian gewarnt. Sicher ließ ihr eigenes Pech sie gegen eine Ehe voreingenommen sein. Imogen spürte, daß sie es nicht ertragen würde, ihre neuerwachten Gefühle des Glücks durch einen Außenstehenden zerredet zu sehen. Christian ließ sie allein und konnte sie nicht trösten. „Hör mal“, begann sie, „müssen wir Greta jetzt schon alles sagen? Ich würde damit gern noch… noch eine Weile warten. Schließlich bin ich ja gerade erst angekommen, um ihr zu helfen und nicht um mich mit dir zu verloben.“ „Du bist hierhergekommen, weil ich es wollte“, gestand er. „Warum, glaubst du wohl, habe ich mir die Mühe gemacht, dich nach Jämtland zu bringen? Greta hätte auch ein Mädchen aus der Umgebung gefunden.“ Diese Eröffnung erstaunte sie. „Dann hast du das also immer vorgehabt…?“ sagte sie und schnappte nach Luft. „Sicher. Alles, was ich damals wußte, war, daß ich dich nicht aus den Augen verlieren wollte. Wenn du bei Greta wärst, sagte ich mir, könnte ich dich jederzeit sehen.“ „Du elender Ränkeschmied!“ rief sie lachend. In diesem Augenblick des Glücks fiel ihr nicht auf, daß an seinem nächtlichen Geständnis etwas sehr Wichtiges fehlte. Christian hatte ihr weder seine Liebe erklärt, noch war das Wort Liebe überhaupt ausgesprochen worden. „Du kannst wirklich nicht erwarten, daß deine Schwester für diesen Gesichtspunkt Verständnis hat“, meinte sie. „Nein, vielleicht nicht“, stimmte er zu. „Es kann sein, daß du recht hast, und es für dich besser ist, vorläufig noch nichts zu sagen. Greta könnte versuchen, dich gegen mich aufzubringen.“ „Das würde sie niemals schaffen“, behauptete Imogen. „Unglücklicherweise muß ich dich ja jetzt für eine Weile allein lassen“, fuhr Christian fort. „Aber das weißt du ja. Wenn ich aus Spanien zurück bin, wirst du schon in Stockholm sein. Ich komme dann dorthin, und wir werden unsere Hochzeit planen. Was hältst du davon?“ „So bald?“ fragte sie atemlos. Sie fühlte sich fast überrumpelt. „Gibt es einen Grund zu warten?“ neckte er sie. „Nein, das nicht.“ Nur hatte sie eine solche blitzschnelle Entscheidung nicht vorausgesehen. Hochzeiten benötigten doch Vorbereitung – oder vielleicht nicht? „Und wo werden wir leben?“ „Oh, den Sommer über in einer Hütte in den Wäldern. Das ist guter schwedischer Brauch. Die Wälder hier sind wundervoll. Danach werden wir reisen, vermute ich. Und anstatt zum Training in die Anden zu fahren, werde ich mit dir den Sommer verbringen.“ Seine Zukunftspläne klangen ein wenig ungeordnet, dachte sie, denn sie hatte wie alle Frauen den Wunsch nach einem festen Heim. Doch die Aussicht, mit Christian den Sommer über im Wald zu verbringen, war sehr verlockend. Aber nach dem Sommer kam der Winter, der Schnee… „Das ist ja sehr großzügig von dir“, sagte Imogen mit einem leichten Anflug von Sarkasmus. „Verstehe ich dich richtig, daß du nur ein SommerEhemann sein willst?“ „Aber nein! Du erwartest doch wohl nicht, daß ich den Skisport aufgebe, oder?“ fragte er irritiert.
„Unsinn, Christian. Ich weiß, was er dir bedeutet.“ Aber schon während sie das sagte, empfand sie etwas wie Neid. Würde sie wohl immer nur die zweite Geige spielen? „Du kommst selbstverständlich zu meinen Rennen mit. Du hast ja noch niemals eins gesehen.“ „Ja, das wäre schön.“ Doch ihre Warte klangen nicht sehr überzeugend. Im Augenblick haßte sie seinen Sport. Als sie wieder in der Farm waren, erzählte Imogen aufgeregt von dem Naturwunder, das sie gesehen hatte, erwähnte jedoch nichts von ihrem ganz persönlichen Gespräch. Greta bemerkte natürlich ihre geröteten Wangen und die strahlenden Augen. Sie lächelte verständnisvoll. Beunruhigt fragte sich Imogen, was Greta wohl von ihr denken mochte. Am nächsten Morgen fuhr Christian schon sehr früh ab. Er war während des Frühstücks so kurz angebunden, daß Imogen hätte glauben können, sie habe die kleine Episode am gestrigen Abend nur geträumt. Greta, die Imogens Bestürzung bemerkte, aber natürlich nicht verstand, warum sie so reagierte, flüsterte ihr zu, daß er vor einem Rennen immer so sei. Wieder wurde Imogen daran erinnert, daß Frauen in Christians Leben erst den zweiten Platz einnahmen. Er küßte sie zwar, bevor er ging, aber der Kuß war so brüderlich wie der, den Greta bekam. Die folgende Zeit kam Imogen leer und inhaltslos vor. Sie hatte in der Nacht am See das Glück erlebt. Nun sank ihr Stimmungsbarometer und Zweifel begannen sich zu regen. Christian hätte sie nicht so ohne ein nochmaliges Versprechen, ohne ein paar liebevolle Worte zurücklassen sollen. Daß sie sich den Kummer zum Teil selbst eingebrockt hatte, weil sie Greta nicht einweihen wollte, war auch kein Trost. Fürs erste hatte sie viel mit dem Packen des Hausstandes und den Kindern zu tun. Im Fernsehen, das es wenigstens auf der Farm gab, konnten sie die Veranstaltungen in Are verfolgen. Die meisten davon fand Imogen ziemlich uninteressant. Sie hatte sich noch niemals sehr für Sportsendungen begeistert. Es wurde Eiskunstlauf, Eisstockschießen und Rodeln übertragen. Darauf folgten die Skirennen. Aber Christians Auftritte waren enttäuschend für sie. Vermummt durch einen schwarzen Sturzhelm mit Schutzbrille konnte sie ihn nur an der aufgehefteten Startnummer auf Brust und Rücken erkennen. Er war nichts weiter als eine von zahlreichen Nummern auf Brettern. Danach sah sie Christian im Slalom: Wie ein Schatten, der sich dunkel gegen die Schneemassen abhob und zwischen den Toren hindurchglitt, schoß er mit außerordentlicher Perfektion dahin – genauso, wie er es ihr einmal beschrieben hatte. Imogen richtete sich gespannt in ihrem Sessel auf, während man auf die Ansage seiner Zeit wartete. Aber auch als er als Sieger ausgerufen wurde, nahm er nur seinen Sturzheim ab und schob die Brille hoch. Es hätte ebensogut auch jemand anders sein können. Mitten in der Woche telefonierte er dann. Greta nahm den Anruf im Büro entgegen und rief nach Imogen. „Er möchte dich sprechen.“ Imogen hörte etwas in Christians Stimme, das ihr neu war. „Vermißt du mich?“ fragte er. „Ja, natürlich“, antwortete sie, war aber durch Gretas Anwesenheit so gehemmt, daß sie kameradschaftlich fortfuhr: „Na, wie war’s? Den Slalom haben wir gesehen. Ich gratuliere dir!“ Das war jedoch bei weitem nicht das wichtigste, was sie ihm sagen wollte. „Der Abfahrtslauf ist das größte Ereignis“, meinte er. „Ich trainiere hart, und die Schneeverhältnisse sind einfach Klasse. Ich bin in Areskutan schon in vier
Minuten runtergekommen – wenn ich die Geschwindigkeit gegen die Konkurrenz durchhalte, breche ich den letzten Rekord.“ Unwillkürlich seufzte Imogen. Es gab so viel anderes, das sie gern gehört hätte, aber seine Gedanken kreisten nur um zu brechende Rekorde. „Bist du allein?“ fragte er. „Greta ist hier.“ Greta griff nach dem Hörer. „Ja, Christian?“ rief sie. Imogen trat zur Seite. Falls Christian noch etwas auf dem Herzen gehabt haben sollte, so blieb es für diesmal unausgesprochen. Das große Abfahrtsrennen enttäuschte sie ebenfalls. Auf dem Bildschirm war kaum etwas zu erkennen. Man konnte nur die maskierten Figuren hinunterrasen und am Ziel eintreffen sehen. Eine nach der anderen trafen die schwarzen Gestalten unten ein und warteten auf die Zeitansage, die in vier Sprachen verkündet wurde. Eine spannende Sekunde trat ein, und dann wurde das Ergebnis bekannt gegeben: Christian Wainwright vier Minuten – er hatte gewonnen! Gleich darauf konnte ihn Imogen sehen, wie er Sturzhelm und Brille herunterriß und von begeisterten Anhängern umringt wurde. Sehnsüchtig starrte sie auf dieses strahlende Bild von Mann. In sein Gesicht, das sie so liebte, und das ihr jetzt so fremd vorkam. Fremd wie sein Sieg, an dem sie keinen Anteil hatte. Das war am Nachmittag, und den ganzen Abend über wartete Imogen in fieberhafter Anspannung. Christian hatte ihnen versprochen, vor seiner Abreise nach Spanien noch einmal vorbeizuschauen. Aber der Abend verging, ohne daß er kam oder anrief. „Er ist zu beschäftigt mit Feiern“, meinte Greta. „Er muß den Nachtzug nach Süden genommen haben. Wir werden ihn erst in Stockholm wiedersehen.“ Greta war weder verärgert, noch wunderte sie sich. Christian war eben immer schon unberechenbar gewesen. Aber Imogen war tief verletzt. Ob es möglich war, daß Christian seinen Antrag am See schon wieder bereute? Montagmorgen traf ein Brief ein. Imogen öffnete den Umschlag mit der maschinengeschriebenen Anschrift ohne besondere Neugier. Etwas verdutzt blickte sie auf die ihr fremde Handschrift, bis sie die Unterschrift las. Bei Christians Namenszug wurde ihr wieder einmal überraschend klar, wie wenig sie doch letztlich von ihm wußte. Sie steckte den Brief in den Umschlag zurück und wollte ihn erst lesen, wenn sie allein war. Schnell warf sie einen Blick auf Greta, die aber zu ihrer Erleichterung viel zu sehr mit ihrer eigenen Post beschäftigt war, um sich um Imogen zu kümmern. „Ach, das ist gut!“ rief Greta aus und sah von einem ihrer Briefe hoch. „Die Vorhang und Gardinenfrage in meiner Wohnung ist erledigt, wir können also bald einziehen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie froh ich bin, von hier wegzukommen!“ Imogen sah sich in dem freundlichen holzgetäfelten Raum um und meinte nachdenklich: „Aber es ist doch sehr hübsch hier.“ „Sie haben hier noch keinen November erlebt“, entgegnete Greta, „wenn der erste Schnee fällt, und es niemals richtig hell wird und monatelanger Frost zu erwarten ist. Ich wette, in Stockholm ist jetzt schon der meiste Schnee weggetaut.“ Ja, hier gab es noch mehr als genug davon, und die Kinder vergnügten sich mit ihren Schlittschuhen und Skiern. Was würde man gewinnen und was aufgeben? Es kam Imogen schrecklich lange vor, bis sie sich in ihr Zimmer zurückziehen konnte, um endlich den Brief zu lesen. Er war nicht sehr lang. Christian entschuldigte sich für das Gekritzel und auch dafür, daß er nicht mehr angerufen hatte. Er konnte nicht, weil seine Reisepläne
sich geändert hatten. Sie würden sich also bald in Stockholm sehen, wenn die Skisaison vorüber war. Dann könnten sie in Ruhe ihre Zukunft planen. „Es gibt noch so vieles, was ich dir schreiben möchte, aber meine Zeit ist so knapp“, schloß der Brief und war unterschrieben mit ,dein Christian’. Die beiden letzten Worte waren so hingekritzelt, als sei er plötzlich unterbrochen worden. Für einen ersten Liebesbrief war das enttäuschend. Sie mußte an die leidenschaftlichen Ergüsse Raymonds denken, und traurig steckte sie den Bogen wieder in seinen Umschlag zurück. Raymond und sie waren damals zwar noch sentimentale Teenager gewesen, und Christian war erwachsen. Aber trotzdem, sein Brief wirkte kalt und förmlich. Plötzlich fielen ihr auch wieder Peters Worte ein: ,Er läßt sich vom Mondlicht und von einem hübschen Gesicht mitreißen – und überlegt dann am nächsten Tag, wie er erklären kann, daß er nicht gemeint hat, was er sagte.’ Der Mond hatte geschienen und sogar das Nordlicht war aufgeflammt. Das mußte ihn wohl verhext haben. Imogens Zweifel wurden immer stärker. Das Tageslicht und die Rückkehr zu seinem geliebten Sport hatten seinen Sinn wahrscheinlich gewandelt. Vielleicht fragte er sich inzwischen schon, wie er aus diesem Verlöbnis wieder herausfinden konnte. * Als dann die Wohnung in Stockholm eingerichtet war, kam Imogen der kurze Aufenthalt im hohen Norden nur noch wie ein Traum vor, wie die Erinnerung an ein Stück auf dem Bildschirm oder einer Theaterbühne, während die Nacht am See ihr so unwirklich schien wie ein Märchen. In ihren Träumen sah sie oft den von Flammen illuminierten Himmel, die im Mondlicht glitzernde Eisfläche, die dunklen Schatten der Bäume – aber alles war so unendlich weit entfernt und ungreifbar. Sie glaubte, es niemals erlebt zu haben, nie dagewesen zu sein. Das Leben in einer Mietwohnung war ihr vertraut. Ein vollgestopfter Ort, es gab ja immerhin nur vier kleine Räume außer der Küche und einem Bad. Greta hatte gemeint, wenn sie Besuch bekämen, müßte sie, Imogen, bei den Kindern schlafen. Geschäftsstraßen mit ihren Läden, hier vielleicht etwas anders als in London, hatten nichts Fremdes für sie. Die Woche vor der Abreise war ziemlich unruhig verlaufen. Ein Verwalter sollte bis zum Verkauf der Farm eingearbeitet und vieles andere mußte noch verkauft werden. Dann kam der Abreisetag nach Stockholm. Es war für Imogen schwierig und aufreibend, die übermüdeten Kinder zu besänftigen, deren kleine Welt aus den Fugen geraten war. Sie war völlig erschöpft. Nachträglich verschwammen diese Ereignisse zu wirren Bildern, die ihre Enttäuschung überdeckten, daß Christian sich nicht wieder meldete. Kein Brief für sie traf mehr ein. Die Trainingswoche in Spanien war vorüber, und er kam nicht. Er schickte ihnen wunderhübsche, farbenprächtige Ansichtskarten aus den Bergen. Imogen sah bisweilen im Fernsehen Slalomfahrten, Abfahrten und Skispringen – Veranstaltungen, die sie unterdessen zu verabscheuen begann. Sie waren die Feinde ihrer Liebe. Christian schien sich nur noch mit der Anzahl seiner Siege zu beschäftigen – sie spielte in seinen Gedanken sicher keine Rolle mehr. Imogen bezweifelte sogar, daß er sich überhaupt noch an ihre Existenz erinnerte. Daß er nicht kam, konnte aber auch so zu erklären sein, überlegte sie dann nüchterner, daß ihm vielleicht ihre Anwesenheit zu lebendig in Erinnerung war, und er ihr aus dem Weg gehen wollte. Der Schnee war in Stockholm schon fast weggetaut, und die Wasserwege waren
frei. Doch Greta meinte, es könnte noch einmal zu schneien beginnen. „Wenn ich mich so an meine Kindheit erinnere – ich meine, wir hatten oft noch zu Ostern in England Schnee“, behauptete sie zu Imogens Verwunderung. Die Wohnung war für ihren Einzug renoviert worden, die ganze Einrichtung neu. Greta hatte an Möbelstücken aus ihrer Vergangenheit nichts mitgenommen. Die Zimmer waren sauber und mit hellen Möbeln eingerichtet. Außerdem gab es alle arbeitssparenden Geräte. Imogens Aufgabe bestand nur noch darin, die Kinder zu beaufsichtigen. Sie ging mit ihnen am Nachmittag spazieren. Kajsa und Sven, die an das weite Land in ihrer Heimat gewöhnt waren, verstummten vor Ehrfurcht vor den breiten Geschäftsstraßen, den vielen Menschen und dem starken Verkehr auf den Straßen. Sie wurden niemals müde, sich Geschäfte anzusehen, und nichts konnte sie mehr entzücken, als durch die hellerleuchteten Kaufhäuser zu schlendern. Kajsa staunte dann: „So viele Menschen kann es doch gar nicht auf der Welt geben, um all diese schönen Dinge zu kaufen.“ „Es gibt doch aber hier eine Unmenge von Menschen“, belehrte Sven sie und starrte auf die eilenden Passanten. Beide Kinder wuchsen zweisprachig auf, Englisch war ihre zweite Muttersprache. „Das mußte sein“, erklärte Greta, „niemand außerhalb Schwedens spricht schwedisch; so mußten sie Englisch oder Deutsch lernen. Sie werden dadurch einen guten Start in der Schule haben.“ Eines Nachmittags, als Imogen mit den Kindern von einem ihrer Spaziergänge nach Hause kam, berichtete Greta, daß Christian angerufen habe. Imogen spürte, wie ihr Herz bis in den Hals klopfte. Wann würde er kommen? „Er scheint Sorgen zu haben“, erzählte Greta. „Sein Freund, der ihren gemeinsamen Wagen fuhr, hatte einen Autounfall verursacht und wurde sofort in Haft genommen. Harte Burschen, diese spanischen Polizisten! Christian muß nun als Zeuge auf den Prozeßausgang warten. Er ist ziemlich aufgebracht über die Art, wie man seinen Freund behandelt. Er sagte übrigens“, setzte sie lächelnd hinzu, „daß das Skilaufen in den Bergen immer noch gut sei.“ „Ist er nicht verletzt worden?“ fragte Imogen besorgt. „Nur ein paar Schrammen“, antwortete Greta und half Kajsa, sich auszuziehen. „Er läßt Sie übrigens herzlich grüßen“, richtete sie noch aus. Das war wenigstens etwas, dachte Imogen. Aber Greta verdarb sofort diesen ersten Eindruck und fuhr fort: „Die Engländer bestellen immer gleich sehr herzliche Grüße, während wir das meistens unterlassen. Kajsa, nun steh doch mal still!“ Damit reichte sie Imogen die Anoraks der Kinder. „Ich frage mich, ob vielleicht ein Mädchen dahintersteckt“, redete Greta gedankenlos weiter. „Manche Skiläuferinnen sind ganz hübsch. In dem Fall sehen wir ihn nicht, bevor er sie satt hat und flüchten will.“ Diese Bemerkung erschütterte Imogen natürlich, zumal sie schon bereit war zu glauben, Christian wolle vor ihr flüchten, weil er seine Dummheit bereute. Wenn die Sache mit dem Unfall stimmte, so hätte er ihr doch wenigstens schreiben können. Aber, so sagte sie sich bitter, Briefe könnten ihn ja bloßstellen. Alles was sie dann noch von ihm sah, war eine Karte mit einem hingekritzelten Gruß. Karten waren weniger verfänglich, schoß es ihr durch den Sinn. Sie konnte schließlich nicht erwarten, daß darauf Liebeserklärungen standen; die könnte Greta ja lesen. Das Bild auf der Karte fand sie trostlos: Schneebedeckte Berge unter einem kobaltblauen Himmel – das war die Barriere, die sie voneinander trennte. Sie empfand sie als ein Symbol. Greta gab ihre eigene Erklärung zu dieser Karte zum besten.
„Christian meint sicher, daß das Telefon die schnellste und wirksamste Verbindung ist. Er hat noch niemals etwas übrig gehabt für irgendwelche unnützen und nichtssagenden Briefe.“ „Er hat Ihnen aber doch geschrieben, als er in Derbyshire war“, erinnerte Imogen sie. „Ja, da gab es aber auch verschiedene Dinge zu besprechen. Wir überlegten zum Beispiel, wo ich mich niederlasse. Außerdem wollte er mich auch aufheitern, weil er wußte, daß ich einsam war“, erklärte Greta. Imogen dachte über diese Worte nach. Es schien ihm nicht in den Sinn zu kommen, daß sie jetzt vielleicht einsam sei und auf einen Trost warte. Er verspürte offensichtlich auch nicht den Wunsch, von ihr zu hören, über Greta am Telefon etwas von ihr zu erfahren, hatte ihm genügt. Seine Schwester bedeutete ihm anscheinend mehr als sie. Die Zeit seiner Abwesenheit kam Imogen schrecklich lang vor. Sie sehnte sich nach einem Zeichen seiner Zuneigung. War er so in seine eigenen Schwierigkeiten verstrickt, daß ihm die Zeit wie im Flug verging? Oder was war wirklich mit Christian? Langsam wurden Imogens Wangen wieder blaß, dunkle Schatten lagen um ihre Augen. Besorgt meinte Greta, daß Stockholm ihr wohl nicht bekomme. Aber Imogen widersprach und meinte, es ginge ihr sicher besser, wenn erst das Wetter wärmer würde und der Frühling käme. Nach und nach begann die Stadt aus ihrem Winterschlaf zu erwachen. Im Hafen lagen viele kleine Schiffe, die den Verkehr zwischen den Schären besorgten, und die Kinder wünschten sich eine Dampferfahrt. In den Parks begann es zu grünen. Die Sonne schien strahlend von einem wolkenlosen Himmel herab. Ab und zu wurde dieses schöne Vorfrühlingswetter zwar noch von Schneeschauern unterbrochen, aber der Schnee blieb nicht mehr liegen. * Eines Nachmittags, als Imogen allein in der Wohnung war, da Greta mit den Kindern Verwandte besuchte, nahm sie die Gelegenheit wahr, um ihre anstehende Post zu erledigen. Sie machte sich an den lange versprochenen Brief an Peter Lethwaite und hoffte, er würde nicht länger unter ihrer Verbindung zu Christian leiden. Wohlweislich erwähnte sie, daß Christian gar nicht da sei. Sie seufzte, schloß den Umschlag und wünschte, sie könnte Christian schreiben. Castleton erschien ihr unendlich weit. Das Läuten der Türglocke unterbrach sie in ihrer Tätigkeit. Freudige Erregung stieg in ihr auf – wie immer, wenn ein unerwarteter Besuch kam. Es konnte ja sein, daß es Christian war. Sie warf hastig einen Blick in den Spiegel und fuhr sich mit dem Kamm durch ihr Haar. Sie war schmaler geworden, ihre Augen wirkten größer. Das weiße Kostüm unterstrich ihre Zartheit. Sie hätte sich zurechtmachen sollen, aber dazu war jetzt keine Zeit mehr. Sie hoffte schmerzlich, daß dieses Läuten mehr bedeutete, als nur eine Nachricht für Greta. Beim zweiten Läuten war sie an der Tür, öffnete – und stand Raymond Benito gegenüber. Sprachlos vor Staunen konnte sie ihn nur anstarren. „Überrascht?“ fragte er mit seinem selbstsicheren Lachen. „Ich rief in eurer Bude an und erfuhr, daß Louise die neue Besitzerin ist. Die alte gute Louise! Sie hat also als erste von euch geheiratet – sie war eben nicht so wählerisch wie du und
Vivien.“ Er redete, um die leichte Verlegenheit, die zwischen ihnen stand, zu überbrücken. „Sie gab mir deine Adresse und erzählte mir, daß du hier arbeitest.“ Als sich Imogen weder rührte noch etwas erwiderte, setzte er besorgt hinzu: „Komme ich vielleicht ungelegen? Darf ich hereinkommen?“ Mechanisch trat sie zur Seite und ließ ihn eintreten. Sie versuchte, sich klarzumachen, daß dieser gutaussehende Mann einst ihr Freund gewesen war – jetzt sah sie in ihm fast einen Fremden. Es hatte mal eine Zeit gegeben, da wäre sie ihm vor überschwenglicher Freude um den Hals gefallen – aber jetzt erweckte er in ihr keine Gefühle, nicht einmal Groll. „Die Familie ist nicht da“, erklärte sie, „ich bin allein im Haus.“ Während sie das Wohnzimmer betraten, fuhr sie mechanisch fort: „Das ist wirklich eine Überraschung! Setz dich doch und erzähl mir, wie du herkommst. Ich glaubte dich am anderen Ende der Welt.“ Raymond ließ sich in den nächsten Sessel fallen und sah sich anerkennend um. „Ich dachte mir, daß du überrascht wärst“, sagte er fröhlich. „Hübsches kleines Nest hast du hier, aber ein bißchen zu perfekt. Darf ich rauchen, oder würde das in dieser makellosen Reinheit stören?“ „Solange du nicht wie früher die Asche auf den Boden fallen läßt, kannst du natürlich rauchen“, erwiderte sie und reichte ihm einen Aschenbecher. Raymond hatte das Bedürfnis, mit einer Zigarette seine leichte Unsicherheit zu überspielen. Der Willkommensgruß war nicht so herzlich ausgefallen, wie er es erwartet hatte. Imogen war noch niemals nachtragend gewesen, aber diesmal wußte er, daß er sie schlecht behandelt hatte. Dennoch hatte er damit gerechnet, daß sie sich über sein Kommen freuen und ihm verzeihen würde. Aber sie hatte sich verändert. Dieses blasse, ruhige Mädchen in dem weißen Hosenanzug kam ihm merkwürdig fremd vor. Ihre grünen Augen strahlten ihn nicht an, sondern musterten ihn beinahe spöttisch. „Darf ich ablegen?“ fragte er. Der wattierte Anorak begann, ihm in dem warmen Raum lästig zu werden. Die Zentralheizung war wie alles in Schweden äußerst wirksam. „Selbstverständlich. Ich werde dir eine Tasse Tee machen, aber erst mußt du mir erzählen, wie es kommt, daß du hier bist.“ Raymonds dunkles, gelocktes Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Auch er war schlanker, als sie ihn in Erinnerung hatte. Irgendwie war es ihm gelungen, sich eine gesunde Bräune anzueignen, falls es nicht Schminke war. Er sah zweifellos gut aus, und er war sich dessen bewußt. „Ich spiele in einem Musical mit, das hier für eine Woche gastiert. Dann geht es nach Berlin weiter. Es ist eine moderne Supershow, Imogen, in der alle Mitwirkenden fast nackt auftreten. Mich hat man ausgesucht, weil ich wohl besonders gut gebaut bin.“ Er sah sie beifallheischend an. Imogen rümpfte leicht die Nase. „Ich schätze diesen verrückten modernen Trend zu Nacktshows nicht“, meinte sie. „Die meisten Menschen sehen ohnehin bekleidet besser aus.“ „Aber nicht eine solche nackte Gruppe wie unsere – die Leute hier sind nicht so prüde“, erwiderte er leichthin. „Sie entledigen sich praktisch zu jeder Gelegenheit ihrer Kleidung, und ich muß schon sagen, die meisten von ihnen sind verdammt gut gebaut. Wie bist du denn eigentlich nach Schweden gekommen?“ Louise hatte ihm zwar die ungefähren Umstände geschildert, jedoch nicht erzählt, was Imogen dort machte. „Ach, das ist eine lange Geschichte“, meinte sie zurückhaltend. „Ich werde dir das beim Tee erzählen.“
Sie ging in die kleine Küche und war froh, für kurze Zeit allein zu sein, um ihre
Gedanken zu ordnen.
Es war eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet jetzt, wo sie so sehr auf
Christian wartete, ihr verflossener Freund auftauchte. Er war ziemlich der letzte,
an den sie gedacht hatte, und sein plötzliches Erscheinen ging ihr nicht nahe.
Ihre Gefühle für ihn waren erstorben. Trotzdem freute sie sich auf eine gewisse
Art, ihn zu sehen. Er bedeutete für sie ein vertrautes Gesicht in der fremden
Stadt. Die Bitterkeit, die sie empfunden hatte, als er sie verließ, fühlte sie
ebenfalls nicht mehr.
Weshalb sollte sie nachtragend sein? Raymond gehörte zu einem Zeitabschnitt in
ihrem Leben, der endgültig vorüber war. Inzwischen war sie reifer geworden,
hatte andere, tiefere Erlebnisse hinter sich. Jetzt erst wußte sie, was Liebe war.
Als sie mit dem Teetablett und dem Gebäck ins Zimmer zurückkam, hatte sie
sich soweit gefangen, daß sie leichthin fragen konnte: „Was war eigentlich mit
deiner AustralienTournee?“
„Die kam gar nicht erst zum Start – wurde im letzten Moment abgesagt. Aber ich
hatte Glück und konnte gleich in diese Show einsteigen.“
„Und Janice hat keine weitere Verwendung für dich?“ erkundigte sie sich ein klein
wenig boshaft.
„Ach, die alte Schachtel“, sagte er wegwerfend. „Ich will sie nie wiedersehen.
Außerdem ist sie pleite, und deshalb sind wir auch nicht nach Australien
gekommen.“
Imogen lächelte traurig. All das Herzweh und der Kummer waren für nichts
gewesen. Noch vor sechs Wochen hätte sie frohlockt zu erfahren, daß Raymond
mit Janice hereingefallen war. Jetzt waren ihr seine Frauengeschichten völlig
gleichgültig. Auch ihr Puls ging nicht mehr schneller, wenn sie seinem
strahlenden Blick begegnete – und er war strahlend, stellte sie unbehaglich fest.
„Ich bin ein schrecklicher Trottel gewesen, Imogen“, begann er auf einmal mit
falscher Demut. „Aber jetzt habe ich mich wieder besonnen. Es war mir nie
jemand außer dir wichtig.“
„Ich fürchte, du bist zu spät zur Besinnung gekommen, wie du es ausdrückst – zu
spät“, sagte sie mit Nachdruck.
„Aber deine Gefühle können sich doch nicht in so kurzer Zeit geändert haben!“
rief er fast erschrocken.
„Warum nicht? Deine Gefühle hatten sich in viel kürzerer Zeit geändert.“
Zeit, fuhr es ihr durch den Sinn, Wochen oder Monate bedeuteten gar nichts.
Was die Erfahrung und die innere Reife anging, so schien sie ein ganzes Zeitalter
von ihrem alten Leben in England zu trennen.
„Aber ich sage dir doch, ich habe mich wirklich geändert“, beteuerte Raymond.
„Imogen, sieh mal, wir sind doch immer zusammen gewesen. Ich glaube, ich
wollte nur – Erfahrungen sammeln, bevor ich mich endgültig festlege. Jetzt habe
ich dich wiedergesehen und weiß, daß du das einzige Mädchen für mich bist.“
„Wie schön!“ meinte sie spöttisch. „Aber was sollte ich eigentlich machen,
während du Erfahrungen gesammelt hast?“
Er brachte es fertig, fast beschämt auszusehen. „Du warst doch immer so treu“,
murmelte er.
„Du hast also wirklich geglaubt, ich warte, bis du mich wieder auflesen würdest“,
sagte sie scharf. „Und wenn du mich nun hier nicht aufgetrieben hättest, Gott
weiß, wann du dann gekommen wärst.“
„Ich schrieb dir, ich hole dich, sobald ich kann. Natürlich nahm ich an, du bleibst
in deiner Wohnung. Wir haben dort eine so schöne Zeit miteinander verbracht –
du kannst doch nicht alles vergessen haben!“
„Nein, ich habe auch nichts vergessen – es wird immer eine schöne Erinnerung bleiben. Aber es ist vorbei, Ray! Wir waren beide Kinder. Jetzt sind wir erwachsen.“ Sie seufzte und wandte den Kopf zur Seite. Ein anderer Mann hatte sie gelehrt, was Liebe war. Ein Mann und kein Junge. Aber kaum hatte sie es erfahren, da verließ er sie. Ray blickte prüfend in ihr Gesicht. „Heißt das, daß es einen anderen gibt?“ fragte er. Sie schüttelte den Kopf und spielte gedankenverloren mit dem Teelöffel. „Mit der Liebe ist es aus, Ray. Können wir nicht Freunde bleiben?“ Jetzt, wo sie nicht mehr für ihn zu haben war, erschien sie ihm begehrenswerter denn je. „Ich hatte offengestanden auf mehr gehofft“, sagte er und warf ihr einen schmelzenden Blick zu. „Nein, Ray, das ist alles, was du erwarten kannst“, rief sie ihn zur Ordnung. „Und auch das halte ich schon für großzügig. Möchtest du noch etwas Tee?“ „Nein, danke.“ Er war gekränkt. „Ich glaube, du hast mir mein Engagement geneidet, bei dem du einmal nicht dabei warst. Aber du weißt doch, daß man in unserem Beruf jede sich bietende Gelegenheit beim Schopf ergreifen muß. Sollte ich vielleicht verhungern, nur weil ich hätte warten müssen, bis du von deiner lächerlichen Krankheit geheilt warst?“ „Du konntest nicht einmal so lange warten, bis du wußtest, ob ich überhaupt gesund werde.“ „Dazu war keine Zeit mehr. Du weißt sehr gut, wenn man einmal eine Chance verpaßt, dann kommt sie nie wieder. Ich bin jedenfalls zurückgekommen, sobald es mir möglich war.“ Ja, als du genug von Janice hattest, dachte Imogen geringschätzig. Sie glaubte ihm seine Entschuldigungen nicht. Er hatte wahrscheinlich nur in ihrer Wohnung angerufen, um herauszufinden, wie sie seine Untreue aufgenommen hatte. Dann war ihm ausgerichtet worden, daß sie nach Stockholm gegangen war. Er kam auf Gastspiel hierher und suchte sie auf, weil er sich fremd fühlte. Und jetzt reizte ihn ihre Gleichgültigkeit. Er stand auf, trat zu ihr und zog sie in seine Arme. „Imogen!“ bat er leise. Voller Gleichmut nahm sie die Umarmung hin. Der Zauber war verflogen. Sogar die Berührung seines Körpers, die sie früher so intensiv empfunden hatte, ließ sie kalt. Dies war der letzte Test: Ihr Körper lehnte seinen ab. Sie war endgültig kuriert. Ray küßte ihren kühlen Mund. „Was ist los mit dir?“ fragte er verstimmt. „Bist du ein Eisblock geworden?“ Sanft versuchte sie, sich aus seiner Umarmung zu lösen. „Es hat keinen Zweck, Ray. Es ist vorbei.“ Keiner von beiden hörte die Wohnungstür aufgehen. Erst beim Klang der vertrauten Stimme fuhr Imogen zurück. Sie errötete bis unter die Haarwurzeln und starrte verstört in Christians eiskalte blaue Augen, während seine Worte ihr in die Ohren dröhnten: „Du bist ja groß in Form, wie ich sehe. Tut mir leid, wenn wir euch gestört haben.“ Und dann war das Zimmer voller Leute, denn Greta und die Kinder kamen herein. Greta rief freudig: „Imogen, stellen Sie sich vor, ich habe Christian auf der Treppe getroffen…“ Jetzt erst fiel ihr Blick auf Raymond und das Teegeschirr. „Oh, wollen Sie uns nicht mit
Ihrem Freund bekanntmachen?“ Raymond verbeugte sich knapp, während Imogen ziemlich undeutlich seinen Namen murmelte. „Frau Olsson gehört diese Wohnung“, erklärte sie und hoffte, daß Ray gleich gehen würde. „Ich arbeite hier als Haushaltshilfe.“ Raymond zog verblüfft die Brauen hoch. „Das ist allerdings eine ziemliche Veränderung“, meinte er, und aus seinem Ton war zu entnehmen, daß er sie als Abstieg in ihrem Leben deutete. „Imogen war nämlich meine Tanzpartnerin“, fuhr er fort und blickte herausfordernd zu Christian hinüber. „Da ich zur Zeit in Stockholm bin, wollte ich sie bei dieser Gelegenheit mal besuchen.“ „Aber natürlich“, stimmte ihm Greta zu. „Ich finde es sehr schön, daß Imogen einmal einen Freund und Kollegen zu Besuch hat. Seien Sie willkommen, Mr…?“ Fragend hielt sie inne, wahrscheinlich hatte sie seinen Namen nicht verstanden. „Nennen Sie mich Ray“, sagte er, „alle tun das übrigens, Imogen und ich sind weit mehr als flüchtige Freunde auf beruflicher Basis. Ich war nur für einige Wochen auf Tournee.“ Er blickte mit schmalen Augen von einem zum andern. „Hoffentlich hat sie sich in meiner Abwesenheit ein wenig amüsiert.“ Er hatte sehr wohl Imogens Verwirrung bemerkt und auch begriffen, daß Christian der Grund dafür war. Mit seiner boshaften Bemerkung wollte er einen Keil zwischen sie und diesen anderen Mann treiben. Imogen warf nur einen kurzen Blick in Christians steinernes Gesicht und erkannte, wie gut ihm das gelungen war. Aber sie wußte nicht, wie sie sich verteidigen sollte. Für Christian stand offensichtlich fest, daß sie gelogen hatte, als sie ihm erzählte, daß zwischen ihr und Ray alles aus sei. Raymond fühlte sich als Herr der Situation und lächelte zufrieden. „Ich muß jetzt leider gehen, wenn ich noch rechtzeitig im Theater sein will. Vielen Dank für den Tee.“ Dabei blickte er zu Greta. Er zog sich seinen Anorak über und meinte beiläufig zu Imogen: „Ich hoffe, ich seh dich morgen!“ Dann machte er eine knappe Verbeugung in Richtung Christian und wandte sich noch einmal an Imogen: „Bring mich doch bitte hinaus, Liebes!“ Imogen aber schüttelte stumm den Kopf. Sie war wie betäubt. Raymond musterte sie eindringlich, bis Christian die Initiative ergriff und ihn zur Tür brachte.
9. KAPITEL Mechanisch begann Imogen, das Teegeschirr zusammenzuräumen. „Sie hatten doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich Besuch empfange?“ fragte sie Greta. „Nein, natürlich nicht. Sie können doch Ihre Freunde empfangen. Ich wußte gar nicht, daß Sie hier jemanden kannten.“ „Sein Besuch kam auch mir überraschend.“ „Ach ja? Wie schön für Sie.“ „überhaupt nicht“, erwiderte Imogen heftig und setzte leiser hinzu: „Es war ein Unglück.“ Sie griff nach dem Tablett und trug es in die Küche. Warum, warum nur war Christian ausgerechnet an diesem Tag zurückgekommen? Wie konnte sie ihn nur überzeugen, daß sie nicht auf zwei Hochzeiten tanzte? Immer war er in Situationen hineingeraten, die einen falschen Anschein boten: Zuerst hatte er zwischen ihr und Peter etwas vermutet, und jetzt die Sache mit Raymond… Sein Gerede war so geschickt gesteuert gewesen, daß Christian annehmen mußte, sie hätte sich nur zum Zeitvertreib mit ihm eingelassen, weil Ray nicht verfügbar war. Gut möglich, daß Christian das von ihr dachte. Obwohl er ihr ihre gespielte Verruchtheit niemals abgenommen hatte, war seine erste Bemerkung doch gerade darauf eine Anspielung: ,Du bist ja groß in Form!’ Die Worte schmerzten sie. Langsam ging sie wieder ins Wohnzimmer zurück, wo Christian mit den Kindern scherzte. Greta sprach sofort lebhaft auf sie ein: „Ach, Imogen, während Sie die Kinder baden, werde ich schnell die Zimmer richten. Sie haben doch nichts dagegen, bei den Kindern zu schlafen, solange Christian bei uns ist, nicht?“ Von dieser Regelung war schon vorher gesprochen worden. Greta benutzte ihr Schlafzimmer noch als Büro. Es quoll über von Papieren und Ordnern, so daß sie auf keinen Fall ihre Sprößlinge bei sich unterbringen konnte. „Nein, nein, bemüh dich nicht, Greta“, warf Christian ein, „ich werde nicht hierbleiben.“ Enttäuscht blickte ihn seine Schwester an. „Aber es macht mir doch keine Mühe! Du hast doch versprochen, hier zu wohnen. Warum hast du dich denn jetzt anders besonnen?“ Er sah zu Imogen und warf ihr den gleichen eiskalten Blick zu, mit dem er sie begrüßt hatte. Sie duckte sich fast unter ihm und wußte, daß sie schuld hatte an seinem baldigen Aufbruch. „Ich möchte dir nicht zur Last fallen“, erklärte er. „Ich kann mir gut ein Zimmer im Hotel nebenan nehmen. Da ich ohnehin nur ein paar Tage hier bin, ist es nicht nötig, alles umzuorganisieren.“ „Nur ein paar Tage?“ Greta sah ihn erstaunt an. „Ja. Ich bin zu den Internationalen Meisterschaften in England gemeldet.“ „Ach ja?“ sagte Greta etwas beleidigt. „Das hast du vorher gar nicht erwähnt.“ Entschuldigend meint Christian: „Das wußte ich auch nicht eher. Ich rücke nach für einen Kameraden, der ausfällt.“ „Kommst du anschließend wieder her?“ „Ich fürchte, nein. Wenn ich erst einmal in England bin, sehe ich mal bei Letty und Joe vorbei. Und dann ist es auch schon wieder an der Zeit, meine Abreise nach SüdAmerika vorzubereiten.“ Bei dieser Eröffnung war es Imogen, als erstarre ihr Herz. Es stimmte also nicht, was er ihr in jener zauberhaften Nacht unter dem aufflackernden Nordlicht gestanden hatte, es war zumindest nicht ernst gemeint gewesen. Seine Pläne
kamen allerdings auch für Greta völlig überraschend, denn sie starrte ihn verblüfft an. „Die englischen Meisterschaften sind etwas ganz Neues, eine tolle Herausforderung für mich – großartige Schneeverhältnisse und schwierige Abfahrten.“ Christian sprach lebhaft, obwohl er wissen mußte, daß all die Einzelheiten seiner Skierlebaisse hier auf geringes Interesse stießen. „Sie waren schon immer sehr erfolgreich. Es sieht so aus, als ob es jetzt eine jährliche Einrichtung werden soll. Außerdem bin ich noch niemals in Schottland gewesen.“ „Ja aber, was du da von Amerika sagst… Ich dachte eigentlich, du hattest vor, den Sommer mit uns zu verbringen“, beklagte sich Greta. Imogen hielt den Atem an, während sie auf seine Antwort wartete. Er hatte versprochen, den Sommer mit ihr zu verbringen. Sorgfältig vermied Christian es, sie anzusehen. Er erwiderte ziemlich schroff: „Ich habe jetzt so entschieden, und es hat keinen Sinn mehr, mich zu bedrängen. Ich muß mich ganz dem Training widmen, um noch eine Goldmedaille zu gewinnen.“ Wenn sich Greta schon enttäuscht zeigte, so war Imogen verzweifelt. Deutlicher konnte er ihr nicht klarmachen, daß er ihr Verhältnis als beendet betrachtete und seinen vorschnellen Heiratsantrag bereute. „Na gut, es ist ja dein Leben“, meinte Greta resignierend. „Richtig“, stimmte er zu und legte lächelnd den Arm um ihre Schulter. „Ich würde meine Kondition verlieren, wenn ich den ganzen Sommer über in deiner Waldhütte faulenzte. Natürlich hat diese Aussicht auch etwas Verlockendes.“ In seiner Stimme schwang ein fremder Unterton mit. Er warf Imogen einen verhangenen Blick zu, in dem Sinnlichkeit glitzerte, und der sie beunruhigte. Diese Andeutung war eine einzige Beleidigung. „Aber ich muß der Versuchung wohl ausweichen“, fuhr er gelassen fort. „Es wäre auch für meine Moral und für die anderer Leute nicht gut. So, jetzt will ich aber gehen. Ich komme morgen vorbei, um dich und die Kinder abzuholen. Dann hat Miss Sinclair Zeit, ihren Freund zu unterhalten.“ Imogen zuckte unter dem spöttischen Ton seiner Stimme zusammen. Wie er ihren Nachnamen aussprach! Greta zog erstaunt die Brauen hoch, doch die Kinder bestürmten sie sofort aufgeregt bei der Aussicht auf einen Ausflug. Laut äußerten sie ihre Wünsche: „Eine Dampferfahrt“, schrie Sven. „Nein, in den Zoo“, trumpfte Kajsa auf. „Eine Dampferfahrt haben wir schon so oft gemacht.“ Greta wollte gerade etwas einwenden, als Christian nachsichtig lachte. „Wir werden mit dem Dampfer zum Zoo fahren“, schlug er versöhnlich vor. „Dann seid ihr alle beide zufriedengestellt, nicht?“ Imogen wurde während des allgemeinen freudigen Ausbruchs überhaupt nicht beachtet. Der Ausflug betraf sie nicht, sie mußte zurückbleiben. Christian konnte ihr weder den scheinbaren Fehltritt mit Raymond verzeihen, noch wollte er ihr die Chance für eine Erklärung geben. Aber vielleicht war es nicht nur das. Seine Pläne hatten sicher schon festgestanden, bevor er sie besuchte. Er konnte in den wenigen Minuten nicht alles ausgeheckt haben. Imogen fürchtete, sich nicht mehr beherrschen zu können. Sie ging in ihr Zimmer, das sie so gern an Christian abgetreten hätte, wenn er nur geblieben wäre. Sie lehnte ihre heiße Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Draußen gab es wenig zu sehen, nur die gegenüberliegenden Mietshäuser mit den gleichen Appartements wie das, in dem sie wohnten. Ein Raum über dem anderen, und jeder beherbergte ein menschliches Wesen mit seinem Anteil an
Schmerz und Freude. Der sehnige, sonnengebräunte Christian hatte sie so verwirrt und ihren Puls schneller schlagen lassen, wie Ray es nicht mehr vermochte. Mit jedem Herzschlag verlangte es sie, zu ihm zu eilen, um ihm entgegenzuschreien, daß ihr Raymond nichts bedeutete, daß nur er, Christian es war, den sie wollte. Aber in Gegenwart der ganzen Familie waren ihr die Hände gebunden. Und es sah auch nicht so aus, als ob er ihr die Gelegenheit geben wollte, mit ihm unter vier Augen sprechen zu können. Aber wenn er es schon nicht wollte, so mußte sie es trotzdem versuchen. So leicht war sie nicht bereit, ihn aufzugeben. Sie mußte mindestens herausbekommen, ob er sie noch haben wollte. Der heiße Blick, den er ihr zugeworfen hatte, sagte ihr, daß es sich so verhielt. Der Vorgeschmack auf einen gemeinsamen Sommerurlaub war die Versuchung, der er jetzt widerstand. Doch vielleicht war es nur der Gedanke an eine feste Bindung, der ihn zurückschrecken ließ. Dann konnte sie seinen Widerstand womöglich überwinden, wenn sie ihm klarmachte, daß sie keine Bedrohung für seinen Skisport darstellte. Sie wollte ihn abfangen, sobald er die Wohnung verließ und eine Auseinandersetzung erzwingen. Wenn sie ihm eine Erklärung schuldete, dann bestimmt auch er ihr. Ganz sang und klanglos ließ sie sich nicht zur Seite schieben, nur weil er vielleicht seinen Sinn geändert hatte. Leise ging sie hinaus in den kleinen Flur und schloß die Wohnungstür auf. Im selben Augenblick, als sie hörte, wie Christian sich verabschiedete, zog sie die Wohnungstür von außen hinter sich zu. Atemlos kam sie unten im Hausflur an. Im gleichen Moment glitt der Fahrstuhl herab, und Christian trat heraus. Er sah ernst und nachdenklich aus. Sein Ausdruck machte sie verzagt. Dann aber nahm sie all ihren Mut zusammen und trat mit klopfendem Herzen auf ihn zu. „Christian!“ rief sie ihn leise an. Er stockte beim Klang ihrer Stimme und blieb wie angewurzelt stehen. Voller Verzweiflung starrte sie ihm ins Gesicht. Er legte den Köpf zurück, sein Tonfall war eisig: „Was wollen Sie, Miss Sinclair?“ „Ich möchte, daß du mir zuhörst“, bat sie und bemühte sich, ruhig zu erscheinen. „Ich habe dir von Raymond erzählt und auch gesagt, daß er mir nichts mehr bedeutet.“ Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Ach wirklich? Sie überraschen mich.“ Christian fuhr in dem gleichen kühlen Ton fort: „Ich fürchte, es war zuviel von Ihnen verlangt, länger als vierzehn Tage treu zu sein. Oder verhielt es sich etwa so, wie Ihr Freund sagt, daß ich nur als Notbehelf diente, bis er wiederkam?“ „Wie kannst du so etwas sagen? Du glaubst, ich belüge dich? Sein Besuch war völlig unerwartet. Ich glaubte ihn in Australien.“ „Ach ja?“ Ihr tat das Herz weh vor Verlangen nach ihm. Sein dicker Wintermantel konnte die Geschmeidigkeit seines Körpers nicht verbergen. Ein Sonnenstrahl lag wie Gold auf seinem Haar. Aber der Blick seiner Augen war kalt und abweisend. „Christian, sag mir die Wahrheit!“ begann sie noch einmal. „Ist Raymond nur ein willkommener Anlaß für dich? Bereust du, was du mir in Jämtland versprochen hast?“ Ungeduldig wandte er sich ab. „Wie kommst du denn darauf?“ Sie schöpfte wieder Hoffnung. „Du hast mir niemals geschrieben.“ „Ich hatte anderes zu tun“, versetzte er grob. „Klar“, rief sie zornig, „das hast du ja Greta schon gesagt: Goldmedaillen sind
alles, was du brauchst. Als du wieder zu deinem Rennen fuhrst, wußtest du doch sicher schon, daß selbst ein einziger Sommer mit mir ein zu großes Opfer für dich wäre. Vielleicht ist dir auch ein anderes Mädchen begegnet – eine olympische Amazone, die ebenfalls mit in die Anden fährt! Und du glaubst, dich mit ihr vergnügen zu können, ohne feste Bindungen eingehen zu müssen. Davor hast du doch Angst, nicht wahr, gebunden zu sein? Mir wirfst du Untreue vor! Aber du bist mindestens so schlimm. Was ist denn mit deiner Erica?“ Er wandte sich zu ihr, die Hände auf dem Rücken, die Lippen so fest zusammengepreßt, daß die Wangenmuskeln hervortraten. Trotzdem klangen seine Worte spöttisch, als er fragte: „Ausgerechnet du willst mir Vorwürfe machen?“ „Ist das alles, was du mir darauf zu sagen hast?“ „Ich habe dir gar nichts zu sagen, Imogen. Ich wüßte auch nicht, warum wir diese unerfreuliche Auseinandersetzung fortsetzen sollten.“ Ihr Zorn verflog und machte tiefster Verzweiflung Platz. Sie interessierte ihn nicht mehr. Aber plötzlich fiel ihr wieder ein, daß er ihr ja auch niemals gesagt hatte, daß er sie liebte. Er hatte sie haben wollen. Das war nicht das gleiche. Und jetzt wollte er nicht einmal mehr das. Sie hatte nichts weiter erreicht als die Bestätigung all ihrer bösen Ahnungen. Weiterzureden würde sie nur noch mehr verletzen. Christian machte einen Schritt in ihre Richtung, er murmelte ihren Namen. Als sie stehenblieb und sich umwandte, blieb auch er stehen. Schweigend musterten sie sich mit einem langen, fragenden Blick. Dann brummte er irgendeine Verwünschung, drehte sich um und verschwand durch die Eingangstür nach draußen. Langsam stieg Imogen die Treppe zur Wohnung hinauf. Ein Tränenschleier trübte ihren Blick. Vereinzelte Tränen rannen ihr die Wangen hinunter – sie weinte über ihren zerstörten Traum. * Leise schlüpfte sie in die Wohnung. In ihrem Zimmer wischte sie sich hastig die Tränen aus dem Gesicht. Greta rief sie, sie möge doch bitte die Kinder baden. Jetzt war Imogen sehr froh, daß Christians Schwester nicht wußte, was zwischen ihr und Christian vorgefallen war. Niedergeschlagen, aber äußerlich gefaßt betrat sie den Wohnraum. Greta sah sich mit einem etwas matten Lächeln in dem kleinen Zimmer um und meinte: „Ich vermute, es war ihm hier zu beengt bei uns. Er kann sich im Hotel mehr ausbreiten. Wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, ähneln wir uns sehr. Aber Bequemlichkeit betrachten wir bestimmt aus verschiedenen Blickwinkeln.“ „Sie meinen, er würde eine Farm vorziehen?“ fragte Imogen und bemühte sich, im normalen Unterhaltungston zu sprechen. Sie war nicht sicher, ob sie nicht auch die großen weiten Räume des Farmhauses diesen kleinen, modernen Löchern vorziehen würde. „Ganz gewiß, aber er hat ja auch nicht die Hausarbeit am Hals“, antwortete Greta seufzend und erzählte dann noch, daß die spanische Angelegenheit mit dem Autounfall ganz friedlich ausgegangen war. Christians Freund sei mit einer kleinen Strafe davongekommen. „Er nahm sich nicht einmal mehr die Zeit zum Telefonieren. Er wollte uns so schnell wie möglich überraschen.“ Darauf sagte Imogen nichts. Alles mögliche fiel ihr wieder ein. Damals auf dem Rückweg von der Heilquelle hatte Christian sie gewarnt, Peter leiden zu lassen.
Sonst werden Sie es mit mir zu tun bekommen’ hatte er ihr böse gedroht. Und genauso kam es wirklich. Ob es ein Plan gewesen war, daß Christian Erwartungen in ihr geweckt hatte, die er aus Rachsucht nie erfüllen wollte? Der Gedanke war so schrecklich, daß sie einen Moment taumelte und sich am Tisch festhalten mußte. So gemein konnte er nicht sein, dachte sie. Und doch würde es sein Benehmen erklären. Wenn auch jeglicher Schmerz, den sie Peter unabsichtlich zugefügt hatte, von ihm bestimmt schon vergessen war. Außerdem ließ er sich nicht vergleichen mit dem, was Christian ihr angetan hatte. „Was ist los?“ fragte Greta. „Fühlen Sie sich nicht gut?“ Imogen lächelte gequält. „Doch, doch, mir war nur einen Moment etwas schwindlig. Es ist schon vorbei.“ Greta bestand darauf, daß Imogen sich setzte. Sie wollte sich selbst um die Kinder kümmern. „Das Klima bekommt Ihnen wohl doch nicht allzugut“, sagte sie. „Aber das Schlimmste haben wir hinter uns. Wir werden einen langen Sommerurlaub in den Wäldern verbringen, um gegen den nächsten Winter gewappnet zu sein.“ „Ja, das wird bestimmt hübsch werden“, stimmte Imogen freudlos zu. Greta scheuchte Sven und Kajsa ins Bad und mußte ihnen beibringen, daß heute abend die GuteNachtGeschichte ausfiel, weil Imogen zu müde war. Imogen fühlte sich schuldbewußt, daß sie ihre Pflichten so im Stich ließ. Sie versuchte, sich von dem Wirrwarr der wilden Mutmaßungen, die das Zusammentreffen mit Christian heraufbeschworen hatte, zu befreien. Einerseits sah sie sich außerstande, mit klarem Kopf zu denken, und doch war sie andererseits froh, daß ihr eine Bilderbuchgeschichte erspart geblieben war. Sie endeten immer glücklich und niemals wie im wirklichen Leben. Auf einmal fiel ihr Blick auf die Schreibmappe, die sie auf dem Fensterbrett liegengelassen hatte, als Raymond gekommen war. Mechanisch nahm sie sie an sich und ging damit in ihr Zimmer. Auf so beengtem Wohnraum mußten alle peinlich Ordnung halten. Da war noch ihr Brief an Peter. Gott sei Dank hatte Christian den wenigstens nicht gesehen, dachte sie. Aber wenn, was hätte es schon ausgemacht? Ironischerweise hätte er nur in das Bild gepaßt, das sie von sich selbst gezeichnet hatte, und an das zu glauben Christian immer so nachdrücklich ablehnte. Oder war auch das nur ein Teil seines Doppelspiels gewesen? Alle seine Aktionen hatten sie in Sicherheit wiegen sollen, bis er zuschlug. Jetzt hatte er hart zugeschlagen. Sich einzubilden, er könnte sich ernsthaft für sie interessieren, schien ihr nachträglich geradezu idiotisch. Mehr als einmal hatte man sie vor ihm gewarnt. Sie wußte sehr gut, daß er in Wirklichkeit nur eine einzige Liebe hatte – seinen Sport. Als Greta sie dann später zum Tee rief, hoffte Imogen nur, daß das Gespräch nicht noch einmal auf Christian käme. Es war das einzige Thema, das sie jetzt nicht ertragen konnte. Sie mußte ihn aus ihren Gedanken verbannen – und aus ihrem Herzen. Greta sprach mit ihr über den morgigen Tag. Sie nahm es als gewiß hin, daß Imogen mit Raymond verabredet war, bis ihr plötzlich einfiel, daß Imogen den Besuch als Unglück bezeichnet hatte. Sie blickte unsicher zu ihr hinüber und fragte taktvoll: „Wie ist das nun? Haben Sie Ihre eigenen Pläne für morgen?“ Einen Augenblick zögerte Imogen. Wenn sie zugab, nichts vorzuhaben, würde Greta ihr vielleicht vorschlagen mitzugehen, und das würde Christian verärgern. Also antwortete sie ruhig: „Ja. Ja, danke.“ Greta wirkte erleichtert. Es war ihr sicher ganz recht, ihren geliebten Bruder für
sich allein zu haben. Christian blieb auch weiterhin der Wohnung fern. Am Tag nach dem Ausflug, von dem die Kinder übrigens aufgeregt und überfroh mit einem Einkaufsbeutel voller Geschenke nach Hause kamen, aßen Greta und Imogen in einem Restaurant. „Schade, daß Sie gestern nicht auch mitkommen konnten“, sagte Greta zu Imogen. „Ich müßte einen Babysitter für solche Fälle haben.“ „Nein, das ist meine Aufgabe“, fand Imogen. „Ich tue ohnehin nicht genug für mein gutes Gehalt.“ „Oh, doch“, protestierte Greta. „Ich betrachte Sie eigentlich mehr als eine Freundin und nicht als Angestellte. Sie sind mir eine große Hilfe.“ Sie blickte Imogen mit einem offenen Lächeln an. „Wissen Sie, Imogen, wir sollten dieses steife Sie fallenlassen, ja? Ich habe in Ihnen wirklich eine so liebe Freundin gefunden, daß es mir lächerlich erscheint, Sie zu siezen. Was meinst du?“ Errötend erwiderte Imogen das Lächeln und nickte. Sie hatte den gleichen Gedanken auch schon gehabt, nur war es natürlich nicht an ihr, einen solchen Vorschlag zu machen – schon gar nicht in ihrer jetzigen Situation, so wie es mit ihr und Christian stand. Etwas zusammenhanglos sagte Greta in ihre Gedanken hinein: „Ich glaubte eigentlich, daß zwischen dir und Christian etwas ist. Er war doch verdammt aufmerksam dir gegenüber. Aber jetzt kommt mir das nicht mehr so vor. Hattest du ihm übrigens etwas von diesem andern jungen Mann erzählt?“ „Ja, das hatte ich“, antwortete Imogen leise. Glücklicherweise war die Familie damals mit ihren eigenen Angelegenheiten so beschäftigt, daß Christians Schwester von sich aus keine Gelegenheit fand, sie nach Raymond zu fragen. Greta musterte sie immer noch eindringlich mit diesen seltsamen Augen vom gleichen Blau wie die ihres Bruders. Es verwirrte Imogen. „Weißt du, es ist immer eine peinliche Situation, wenn sich zwei Liebhaber begegnen, der verflossene und der neue“, meinte Greta lachend. „Hattest du tatsächlich keine Ahnung, daß dieser – wie hieß er doch – auftauchen würde?“ „Nein, das konnte ich nicht wissen.“ „War ein ganz schöner Schlag für dich, was? Sag mal, war Christian für dich also nur ein Lückenbüßer?“ „Glaubt er das etwa von mir?“ Greta zuckte die Achseln. „Ist es wichtig, was er glaubt? Es tut ihm mal ganz gut zu erfahren, daß er nicht immer Sieger ist. Na, wie auch immer, es wird bei ihm wohl nicht tief gegangen sein, so ist er nun mal. Wahrscheinlich findet er in Spanien einen neuen Zeitvertreib. Vielleicht hat sein Freund eine Schwester, die er trösten mußte. Das würde er natürlich niemals erzählen, aber es könnte der Grund für sein verspätetes Heimkommen sein.“ „Christian tritt immer sehr für seine Freunde ein“, bemerkte Imogen bitter und dachte dabei an Peter. „Ja, er ist ein guter Freund“, stimmte Greta zu, „obwohl er sich auch sehr gern vergnügt wie wir alle. Aber er versucht immer auszuweichen, bevor man ihn fassen kann.“ Imogen senkte den Blick. Auch ihr war er ausgewichen, gewandt und aalglatt, wie sie zugeben mußte. Greta setzte dann abschließend hinzu: „Wenn er erst einmal seine Sportschule eröffnet, wird er bestimmt bei seinen Schülerinnen großen Erfolg haben.“ „Ganz bestimmt“, bestätigte Imogen trocken und dachte an ihre ersten Erfahrungen mit ihm. „Wann fährt er ab?“ „übermorgen.“ Obgleich seine Anwesenheit sie jetzt quälte, schmerzte sie doch der Gedanke,
daß er sie so bald allein lassen würde. „Er wird sicher noch einmal vorbeikommen, um sich zu verabschieden“, meinte Greta. Darauf wechselten sie das Thema, und Imogen konnte ihren eigenen Gedanken nachhängen. Am nächsten Tag wurde Christian erwartet, Imogen wählte mit besonderer Sorgfalt ihre Kleidung, obwohl sie genau wußte, damit bei ihm nichts mehr erreichen zu können. Sie trennte sich von ihrem weißen Hosenanzug, der ihr sehr gut stand, weil sie fürchtete, er könnte falsche Erinnerungen wecken. Statt dessen schlüpfte sie in ihr grünes Wollkleid, das sie so oft in Derbyshire getragen hatte. Sie legte Rouge auf, da sie blaß war, und bürstete ihr Haar, bis es glänzte und einige der rötlichen Strähnen aufleuchteten. Irgendwann am Nachmittag kam Christian dann. Seine kraftvolle, strahlende Männlichkeit schien den kleinen Raum auszufüllen. Seine Nichte und sein Neffe stürzten jubelnd auf ihn zu. Imogen bemerkte mit Wehmut und heimlicher Zärtlichkeit, daß Christian viel sanfter mit den Kindern umging als Greta, ihre Mutter. „Ach, Onkel Chris, warum mußt du wieder fort?“ fragte Kajsa traurig. „Weil ich noch einmal viel, viel Schnee sehen möchte“, erwiderte er und ließ sie auf seinen Knien reiten. „Bald wird hier nämlich keiner mehr liegen.“ „Wenn ich einmal groß bin, kann ich dann auch ein Rennläufer werden?“ fragte sein Neffe. „Na, sicher.“ „Ich hoffe es nicht“, warf Greta impulsiv ein. „Für ein Hobby ist es ja ganz nett, aber ich möchte, daß Sven einmal einen ordentlichen Beruf ergreifen und seinen Weg gehen wird.“ „Aus dir spricht eine brave Mutter“, rief Christian lachend. „Siehst du, mein Junge, dein Onkel ist eine Warnung und kein Vorbild.“ „Warum hast du eigentlich keinen Sohn wie mich?“ fragte Sven erfinderisch. „Ja, das ist ein Gedanke.“ Unwillkürlich trafen sich Christians und Imogens Blicke. Schnell wandte sich Christian ab. „Aber zuerst muß ich ja eine Frau haben, nicht?“ „Imogen hat noch keinen Mann“, posaunte Kajsa. „Wäre die nicht was für dich?“ Abrupt stellte Christian seine Nichte wieder auf ihre Füße. Imogen fühlte, es war eine unmögliche Situation. Noch vor gar nicht so langer Zeit hatte Christian ihr gestanden, daß er sie sich als Mutter seiner Söhne vorstellen könnte. „Miss Imogen will ja gar nicht heiraten“, sagte er steif. „Es würde zu ihr passen.“ Kajsa sah ziemlich verwirrt aus, und so setzte er rasch hinzu: „Wer würde denn auf euch achtgeben, wenn eure Mutter arbeitet und Imogen nicht mehr da ist?“ „Sie soll ja nicht fortgehen!“ erklärte Sven und drehte sich zu Imogen um. „Du mußt uns versprechen, niemals zu heiraten, ja?“ „Das kann ich euch versprechen“, antwortete Imogen. „Siehst du, was ich sagte“, meinte Christian und stand auf. Es war das erste und einzige Mal, daß er mit ihr sprach seit ihrer mißlungenen Begrüßung, und es geschah auch nur indirekt. Christian blickte zärtlich auf den Haarschopf seiner Nichte. „Vielleicht bringe ich dir eine neue Tante aus Chile mit – eine braune. Wie würdest du das finden?“ „Red doch keine Unsinn, Christian“, fuhr ihn Greta schroff an. „Kajsa erzählt das den Nachbarn. Was sollen die denn davon denken?“ „Was kümmert die denn das?“ gab er zurück. „So – jetzt muß ich aber los, meine Sachen packen. Auf Wiedersehen, Schwesterlein.“ Er küßte sie, während Imogen mit ihrem Kummer kämpfte. Sie hätte sich am liebsten in seine Arme geworfen und ihm geschworen, daß sie ihn heiraten wollte
– nur ihn! Und daß sie es wundervoll fände, einen Sohn wie Sven zu bekommen. Aber sie mußte sich mit der Tatsache abfinden, daß sie ihm nichts bedeutete und ihn aller Wahrscheinlichkeit nach nie wiedersehen würde. Dabei hatte sie den unbestimmten Eindruck, daß er in seiner Unterhaltung mit den Kindern zu ihr sprach, doch verstand sie nicht, was er ihr mitteilen wollte. Der Abschied von ihr war förmlich. Er ergriff ihre ausgestreckte Hand und verbeugte sich knapp. Bewußt vermied er es, noch einmal ihrem Blick zu begegnen, der verzweifelt in seinem Gesicht nach einem Zeichen von Entgegenkommen suchte. Imogen blieb allein zurück, während Greta und die Kinder Christian zum Fahrstuhl brachten. Zum zweitenmal in ihrem Leben wurde sie verlassen, nur daß es diesmal viel herzzerreißender war. Sie liebte Christian wie eine Frau, mit der ganzen Kraft ihres Körpers und ihrer Seele. Sven warf die Wohnungstür ins Schloß, als die Familie wieder in die Wohnung zurückkehrte. Das Geräusch hatte etwas betäubend Endgültiges. * Am 31. Mai schlossen die Schulen, und die meisten Städter bereiteten ihre dreimonatigen Ferien an den Seen und in den Wäldern vor, mit denen ihr Land so reichlich ausgestattet war. Die Olssons besaßen wie die meisten anderen Familien eine Hütte an einem kleinen See, wo sie jetzt ausspannen wollten. „Als wir noch die Farm hatten, fuhren wir niemals fort“, erzählte Greta. „Aber jetzt bin ich ja eine selbständige Frau und plane meinen Urlaub wie alle anderen auch.“ Der 30. April war ein Feiertag, besonders für die weißbemützten Schüler, die die Feuerprobe des Abiturs hinter sich brachten. Für diesen Tag hatten sie während des ganzen Jahres hart gearbeitet. Er bedeutete für sie den ersten Schritt auf der Straße der weiteren Prüfungen, die den Weg zu ihrer Karriere pflasterten. Der letzte Apriltag war der Vorabend zum Fest von St. Valborg. Imogen nahm an, daß es sich hierbei um die heilige Walpurga handein mußte, die ihren Namen der Walpurgisnacht gegeben hatte. Der Kult um sie war mit vielen heidnischen Riten vermischt, und der 1. Mai war immer schon ein Festtag gewesen. Greta wollte, daß die Kinder in einem der Dörfer die ErsteMaiFeier erlebten. Sie hatte den großen Wagen ihres verstorbenen Mannes weggegeben und einen neuen kleineren gekauft, mit dem sie jetzt, Imogen neben sich und die Kinder auf den Rücksitzen, losfuhren. Es war kühl, sie mußten sich fest in ihre Pelzsachen wickeln. Ein Schneesturm hatte die Landschaft erneut unter kaltem Weiß begraben. Doch in dem Dorf, das sie bald erreichten, war auf dem Marktplatz ein mächtiges Freudenfeuer entfacht, um das sich Einwohner und Besucher versammelten, um gemeinsam in das Lied einzustimmen ,Wie lieblich ist der Sonnenschein des Mai. Wenn man die Schneeflocken betrachtete, die immer dichter um die Menschen wirbelten, so war das schon recht komisch. Greta schüttelte lächelnd den Kopf, zog den Mantel fester um sich und steuerte auf eine Würstchenbude zu. Sie mußte sich an etwas erwärmen. „Es kann nicht mehr allzu lange schneien. Im nächsten Monat wird der Schnee endgültig verschwunden sein“, meinte sie fröstelnd. Der Ausflug wurde zu einem ziemlichen Reinfall, aber Imogen war das völlig gleichgültig. Seit Christian abgereist war, herrschte in ihrem Herzen nur noch Winter.
Die Nachrichten von ihm trafen äußerst spärlich ein. Es ging ihm gut. Seine Erfolge wurden in der Sportpresse erwähnt. Es stimmte, daß er für einen anderen Sportler eingesprungen war. Das hatte er natürlich in Jämtland nicht voraussehen können. Aber Imogen war ziemlich sicher, daß er in jedem Fall gefahren wäre, auch wenn sie keinen Krach miteinander gehabt hätten. Für kurze Zeit war er in Derbyshire aufgetaucht. Lettice schrieb ihnen davon. Erica hatte die Hoffnung aufgegeben, ihn einzufangen und wollte sich mit irgendeinem Fremden verloben. Das teilte Lettice mit deutlichem Wohlgefallen mit, diese Miss Brayshaw war ihr für ihren geliebten Stiefsohn wohl nicht gut genug. Peter führte ständig seine Krankenschwester aus, und Imogen hatte von ihm auf ihren Brief auch nur eine Ansichtskarte aus Buxton bekommen. Aber es erleichterte sie zu wissen, daß jemand anders an ihre Stelle getreten war. Als dann endlich der letzte Schnee getaut war, die Tage etwas wärmer wurden und die Knospen aufsprangen, erfuhren sie nichts mehr von Christian. Er war in die Anden abgereist. An einem schönen Sonntag fuhr Greta mit ihnen zu ihrer Hütte, die sie bald beziehen wollten. Sie war an einem Seeufer gelegen, direkt in der Nähe eines Waldes. In dem langgestreckten Wohnraum standen zwei bequeme Sofas. Außerdem gab es ebenerdig noch Bad und Kochnische. Eine schmale leiterähnliche Treppe führte zum ersten Stock empor, und von einer Galerie konnte man den ganzen unteren Wohnraum überblicken. Das Haus war mit breiten Panoramafenstern versehen, die vorgebaute Veranda erhob sich direkt über dem See. „Wenn wir geheizt haben, ist es hier warm genug“, erzählte Greta. „Und später wird es dann so warm, daß wir im See baden können. Es kann hier verdammt heiß werden“, setzte sie hinzu, als sie Imogens zweifelnden Blick sah. „Auch wenn es heute schrecklich kalt ist.“ Imogen konnte es kaum erwarten, bis der Sommerurlaub begann. Der liebliche See und der Wald entzückten sie. Hier, wo es keine so traurigen Erinnerungen gab, hoffte sie, endlich zur Ruhe zu kommen und ihren Kummer zu vergessen. Um eine kleine Vorfreude zu haben, heizte Greta den Ofen an. Dann bereiteten sie den Tee im Wohnraum. Leider konnten sie die Fenster nicht öffnen, dazu war es zu kalt. Und dann kam der große Tag, an dem sie die Tür zu ihrer Stockholmer Wohnung verschlossen und sich im strahlendsten Sonnenschein auf den Weg zum See machten. Imogen empfand nur Erleichterung. Ihr war, als ob sie die Tür zu einer unliebsamen Vergangenheit hinter sich zuwarf. Im Leben wiederholte sich alles, ging es ihr durch den Sinn. Einst hatte sie London verlassen, um in Derbyshire Ruhe zu finden – und war Christian begegnet. Jetzt verließ sie Stockholm, um in den Wäldern Vergessen zu suchen. Sie hoffte nur, dort nicht wieder ein männliches Wesen anzutreffen. Jetzt hatte sie ein für allemal genug von Männern. Es sah auch ganz so aus, als ob ihr Wunsch in Erfüllung ginge. Natürlich gab es genügend junge Männer in den Familien. Aber Greta schien keine Lust zu verspüren, sie kennenzulernen. Die Tage vergingen mit allen Freuden, die diese Landschaft bot. Sie tummelten sich im See, angelten und brieten ihre Fische. Und eines Tages fanden sie auf ihren Streifzügen im Unterholz ein neugeborenes Rehkitz. „Nicht berühren!“ flüsterte Greta. „Seid ganz still!“ Mit angehaltenem Atem starrten sie alle auf das zarte Lebewesen, das sich schwankend auf seine Beine zu stellen bemühte. Es sah die Menschen ohne
Furcht an und stelzte dann zum Muttertier, das es mit ängstlich aufgerissenen
Augen beobachtete und mit hochgestellten Ohren herauszubekommen suchte, ob
die Fremden eine Gefahr darstellten. Es war ein wunderhübsches, idyllisches Bild
inmitten der knorrigen Baumstämme und des frischen Birkengrüns.
„Kann ich nicht so ein kleines Reh ganz für mich allein bekommen?“ fragte Kajsa.
„Es kann ja in einem Karton in meinem Zimmer schlafen.“
„Nein, das geht nun wirklich nicht“, meinte Greta. „Sieh mal, es bleibt ja nicht so
klein. Es wird einmal genauso groß wie seine Mutter.“
Kajsa blickte traurig dem davonhetzenden Wild nach und fand dann auch, daß es
für ihre kleine Wohnung zu groß sei.
Langsam begannen alle Familienmitglieder eine schöne, gesunde Mahagonyfarbe
anzunehmen. Aber von allen Vieren stand Imogen die Bräune am besten. Ihr
Haar hellte sich unter den intensiven Sonnenstrahlen auf, es schimmerte in
einem leuchtendem Siennarot. Ihre Augen wirkten noch grüner.
Eines Tages fragte Greta sie unvermittelt: „Was ist denn eigentlich aus deinem
Freund aus England geworden? So müßte er dich jetzt sehen!“ Bewundernd
musterte sie Imogens schlanke, gebräunte Gestalt.
„Er ist wahrscheinlich zurückgegangen.“ Es gab nichts, was sie weniger
interessierte als Raymond.
„Schreibt er gar nicht?“
„Nein. Es war nur ein oberflächliche Freundschaft.“
Greta warf ihr einen kurzen Blick zu. Für ihr Gefühl schien es mehr gewesen zu
sein. Als sie ihre Meinung auch durchblicken ließ, errötete Imogen flüchtig,
erwiderte aber nichts. Raymond hatte sein Pulver verschossen und war abgereist.
Er wußte genau, daß es nun keine Versöhnung mehr geben konnte.
10. KAPITEL Im August wollten die Wainwrights sie besuchen. Imogen sah ihrer Ankunft mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie freute sich zwar auf alle, fürchtete jedoch, daß Lettice zuviel von Christian sprechen und ihren Seelenfrieden damit stören würde. Greta meinte nachdenklich: „Es ist schon so lange her, seit Vater seine Enkel gesehen hat“, Imogen fiel plötzlich ein, daß Joseph ja auch Christians Vater war. „Die Generationen sind bei uns ein wenig durcheinandergeraten, nicht?“ fuhr Greta lachend fort. „Lettice’ Kinder sind Onkel und Tante von Kajsa und Sven.“ „Ist es für dich manchmal schwierig?“ fragte Imogen zurückhaltend. „Nein, das kann ich nicht sagen. Ich mag Lettice sehr. Sie ist auf keinen Fall eine unangenehme Stiefmutter, und altersmäßig steht sie mir ja näher als Vater, nicht wahr? übrigens hatte meine Mutter schuld an der Scheidung. Es ist immer riskant, in ein anderes Land zu heiraten.“ Während Greta mit den Vorbereitungen für die Ankunft ihrer Verwandten beschäftigt war, kämpfte Imogen mit ihrer übergroßen Empfindsamkeit. Sie mußte es doch ertragen können, Christians Namen zu hören! Lettice deshalb nicht sehen zu wollen, wäre höchst unfreundlich gegen sie und außerdem albern. Als man dann die Familie Wainwright erwartete, hatte sich Imogen soweit in der Gewalt, daß sie beinahe glaubte, Christian sei ihr gleichgültig… Sie sollten auf dem Seeweg in Gothenburg eintreffen und Christians Wagen mitbringen. Imogen fiel ein, daß ihr Christian am See gesagt hatte, Joseph könnte ihn in seinem Urlaub benutzen. Wieder tauchten quälend Erinnerungen auf. Diese Nacht mußte sie aus ihrem Gedächtnis streichen. Die Wainwrights trafen schließlich an einem wunderschönen Mitsommertag ein. Als sie auf einem freien Platz vor der Hütte hielten, spürte Imogen, wie ihr Herz einen Schlag lang aussetzte – gleich darauf schlug es um so heftiger. Nacheinander kletterten alle aus dem Wagen: Joseph, der in seiner Stadtkleidung ein wenig mager aussah, und Lettice, die sich lebhaft wie immer um die Kinder kümmerte, die etwas schüchtern Kajsa und Sven betrachteten. Als letzter erschien Christian. Greta schrie vor Freude und Überraschung auf: „Christian! Ich dachte schon, du wärst im Schnee der Anden verlorengegangen.“ „Ich hatte jetzt genug davon“, sagte er, nachdem er sie herzlich umarmt und geküßt hatte. „Ich nahm das nächste Flugzeug und kam gerade noch rechtzeitig zu diesem Familientreffen. Ich dachte, es würde dich überraschen.“ Sein Blick wanderte zu Imogen mit dem gleichen forschenden Ausdruck, als ob er wieder erwartete, sie mit einem anderen Mann zu sehen. Greta begrüßte jetzt Joseph und Lettice und ließ Imogen mit Christian allein. Mechanisch reichte sie ihm die Hand. „Das ist aber eine große Überraschung“, hörte sie sich sagen und wunderte sich, wie gelassen ihre Stimme klang. Ihrem Tonfall war nicht anzumerken, wie aufgewühlt sie war. Er nahm ihre Hand, während sein Blick sie von Kopf bis Fuß prüfend musterte. In ihrer leichten Bekleidung – Arme, Beine und Rücken waren bloß – sah sie wie eine Waldnymphe aus. Er sagte ihr das auch und setzte sanft hinzu: „Deine Bräune steht dir ausgezeichnet.“ Hoffnungsvoll und mutiger trat sie einen Schritt auf ihn zu. „Können wir nicht wenigstens Freunde sein?“ fragte sie. Sie berührte sanft seinen Arm und sah ihn bittend an. Er zuckte unter ihrer Berührung zusammen und stieß ihre Hand zurück, als sei
sie ein lästiges Insekt. „Nein, Imogen“, sagte er rauh. „Und faß mich nicht an, oder ich kann für nichts garantieren.“ „Bist du da ganz sicher?“ versetzte sie aufreizend. Sie sehnte sich danach, daß er sie küßte. „Laß die Verführungsversuche“, fuhr er sie gereizt an. „Was war eigentlich mit deinem Tanzpartner? Ist er hier noch in der Nähe, oder hat er das Rennen aufgegeben wie der arme Peter?“ „Vergib mir das bitte“, sagte er sanft. „Das war ein Fehler. Ich habe jetzt begriffen, daß ich keinen Augenblick ruhig sein könnte, wenn wir verheiratet wären, und ich unterwegs sein müßte. Ich würde mich ständig fragen, was du nun wieder treibst.“ „Meinst du, ich nicht?“ fuhr sie auf. Sie war tief verletzt von seinem Mißtrauen. „Wahrscheinlich hattest du ein Mädchen in Spanien und nachher in Chile auch.“ Sie hoffte, ihn mit dieser Anschuldigung zu treffen. Er aber lachte nur. „Es gab keine Mädchen, Imogen, du hast eine blühende Phantasie. Ich – ich habe einen anderen Ausgleich.“ „Deinen Skisport, nicht?“ „Ja, natürlich. Du weißt ja, das ist das wichtigste in meinem Leben.“ „Allerdings“, nickte sie und in ihrem Blick stand bitterer Vorwurf, „das weiß ich. Leid tun kann einem die Frau, die du einmal heiratest.“ „Richtig. Deshalb habe ich mich ja auch entschlossen, Junggeselle zubleiben.“ Lastendes Schweigen breitete sich nach dieser Erklärung zwischen ihnen aus. Aus der Hütte der Wainwrights und vom Wasser her drangen fröhliche Stimmen zu ihnen herüber. Imogen und Christian standen hinter einer Gruppe von jungen Birken und Farnkräutern verborgen, eingeschlossen in eine geheimnisvolle Welt in Grün und Gold. Die Stille wurde nur unterbrochen durch das Summen einer Biene, die sich in einer Blüte versteckt hatte, und dem Rascheln kleiner Käfer, die ihren lebenswichtigen Beschäftigungen nacheilten. Imogen lehnte an einem Baumstamm und hielt die Augen fest geschlossen. Christian hatte sie so weit herausgefordert und gedemütigt, daß sie ihm ihre Eifersucht und ihren leidenschaftlichen Kummer um ihn gezeigt hatte. Erbittert dachte sie, daß sie ihn genauso hätte behandeln müssen. Aber dazu fühlte sie sich außerstande. Sie liebte ihn. Ihr war eher danach herauszuschreien, daß es zu ihrem Glück ausreichen würde, wenn sie ihn auch nur einen von zwölf Monaten im Jahr bei sich hätte! Aber auch das wäre ja nutzlos. Er wollte sie mißverstehen. Und nichts, was sie auch vorbringen könnte, würde seine Meinung von ihr ändern. Regungslos stand ihr Christian gegenüber und musterte sie. Er erkannte, wie bedrückt sie war und etwas wie Mitleid stand in seinem Blick. Dann seufzte er schwer und trat auf sie zu. Imogen spürte seine Nähe, und ihr Herz begann wie rasend zu schlagen. Christian umschloß ihr Gesicht sanft mit seinen beiden Händen und wollte ihr in die Augen sehen. Imogen aber hielt die Lider gesenkt, weil sie fürchtete, er könnte in ihren Augen die Liebe und das Verlangen lesen. Sehr, sehr zart küßte er sie auf die Lippen und ließ seine Hände wieder sinken. „Ich dachte, es wäre alles aus zwischen uns, sonst wäre ich nicht gekommen“, murmelte er. Sie riß die Augen auf und fragte atemlos: „Ist es das denn nicht?“ „Offensichtlich nicht“, sagte er nur, aber ob er damit sich oder sie meinte, wußte sie nicht. „Wir werden hier vierzehn Tage lang zusammen sein“, fuhr er fort, „da
sollten wir lieber Waffenstillstand schließen.“
„Bitte, von mir aus“, meinte sie tonlos.
„Gut.“ Er trat einen Schritt zurück und lächelte fast entschuldigend. „Tut mir leid,
daß ich vielleicht Erwartungen in dir geweckt habe, die ich nicht erfüllen konnte.
Aber glaube mir, du bist ganz gut davongekommen. Ich fürchte, ich hatte den
Kopf verloren. Gib die Schuld dem Mondschein und dem Nordlicht.“
„Das habe ich schon.“
Er schien erleichtert. „Dann haben wir uns ja verstanden, nicht? Willst du jetzt
mit zu meiner Familie kommen?“
„Nein, danke. Ich habe noch in unserer Hütte zu tun.“
Natürlich hatte sie nichts zu tun. Aber sie wollte fort von ihm, wollte allein sein.
Sie fühlte sich zu schwach, um das fröhliche Beisammensein der anderen zu
ertragen, die jetzt den Neuankömmlingen alles erklärten.
„Wie du willst“, meinte er.
* Er ließ sie stehen und ging den Waldweg entlang. Die Schatten der Blätter sprenkelten seinen nackten Rücken, und die Sonne schimmerte auf seinem Haar. Aber er blickte sich nicht ein einziges Mal zu ihr um. Imogen sah ihm voller Schmerz und mit Tränen in den Augen nach. Er hatte nichts verstanden. Als sie dann wenig später auf der Veranda saß und in den menschenleeren, rauschenden Wald starrte, überdachte sie immer und immer wieder ihr Gespräch und suchte nach einem Hoffnungsschimmer – aber sie fand keinen. Er hatte zugegeben, den Kopf verloren zu haben, und Raymond hatte ihm die schöne Entschuldigung dafür geliefert, sich zurückzuziehen. Jedenfalls hatte Christian sie niemals geliebt. Sie zweifelte auch daran, daß er überhaupt eine Frau lieben könnte. Die folgenden Tage waren für Imogen voll bitterer Süße. Ständig begegnete sie Christian, der sie nach ihrer Aussprache mit nachlässiger Freundlichkeit behandelte. Er ging ihrer Gesellschaft weder aus dem Weg, noch suchte er sie. Aber er bemühte sich, niemals mit ihr allein zu bleiben. Die Wainwrights hatten sich ein kleines Segelboot gemietet. Nachdem alle Kinder, auch Kajsa, sicher genug schwimmen konnten, verbrachten sie viele fröhliche Stunden auf dem Wasser. Doch auch hier vermieden es Christian und Imogen, gemeinsam segeln zu gehen. Christian schloß sich stets Lettice oder Greta an. Während der langen Stunden in den hellen Mitsommernächten fanden sich alle auf Gretas Veranda ein, entfachten ein wärmendes Holzkohlenfeuer und sangen Volkslieder, die Joe auf seiner Mandoline begleitete. Er besaß einen warmen Bariton. Wenn alle andern schon ermüdet waren, unterhielt er sie mit kleinen gefühlvollen Liedchen, von denen er in allen möglichen Sprachen eine Menge kannte. Während dieser Stunden setzte sich Christian so weit wie möglich von Imogen fort. Er warf ihr aber ab und zu einen neugierigen, fragenden Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Imogen liebte diese Abende. Sie war dann wenigstens in seiner Nähe und konnte mit ihm über unpersönliche Dinge sprechen, während ihr das angenehme Halbdunkel eine Vertrautheit vorgaukelte, von der sie wohl wußte, daß es sie nicht gab. Sie wagte nicht, an die Leere zu denken, wenn er abgefahren wäre; denn die Wainwrights blieben nur zwei Wochen. Danach würden Fremde ihr kleines Haus
beziehen. An diesem Abend sang ihnen Joseph wieder seine traurigen Lieder vor. Der wehmütige Refrain verklang unter einem fahlen Mond und dem schwarzblauen Himmel. Im Wald rauschte und raschelte es. Imogen konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Sie nahm die eingeschlafene Pamela auf den Arm, murmelte eine Entschuldigung und eilte mit dem Kind zum Haus, um es zu Bett zu bringen. Sie fürchtete, sich vor den anderen nicht länger beherrschen zu können. Aber sie kam nicht weit, da war Christian schon neben ihr. „Sie ist doch zu schwer für dich“, sagte er und nahm ihr das kleine Mädchen ab. Imogen schluchzte in sich hinein und war froh, daß er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Als sein Arm sie berührte, wandte sie sich hastig ab und stürzte von ihm fort. Er rief ihr noch nach, ob sie ihm nicht helfen wollte. Aber sie konnte nicht antworten. Niemals wieder wollte sie mit Christian im Mondschein zusammentreffen. Am nächsten Tag wehte ein kühler Wind, und so entschloß man sich, im Schutz des Waldes ein Picknick zu unternehmen. Sie fanden auch eine Lichtung, die sich wundervoll dafür eignete. Die Kinder spielten Trapper und Indianer und tobten durch den Wald. Imogen hatte sich mit Lettice auf einem Baumstumpf niedergelassen und beobachtete Christian, der sich faul vor ihnen im Gras räkelte. Sie mußte daran denken, wie wohl sie sich in Schweden fühlte. Sie hatte noch keine Pläne für die Zukunft, würde aber wahrscheinlich mit Greta und den Kindern nach Stockholm zurückgehen. Noch verspürte sie keine Lust, ihren alten Beruf als Tänzerin wieder aufzunehmen, obwohl die Aussicht, Haushaltshilfe zu bleiben, auch nicht gerade verlockend war. Vielleicht bot sich im nächsten Frühling eine Veränderung. Schon sehr bald verkündete Greta, daß es Zeit zur Heimkehr sei, Imogen ging mit den drei kleineren Kindern zurück und brachte eins nach dem andern zu Bett. Als dann alle eingetroffen waren, stellte man fest, daß Teddy fehlte. Jeder glaubte, er sei mit einem anderen Erwachsenen nach Hause gegangen. Teddy war ein unternehmungslustiger Bursche und blickte schon ein wenig verächtlich auf die jüngeren Spielgefährten herab. Es sah so aus, als ob er allein losgezogen sei und sich verlaufen hatte. Joseph, Greta und Imogen gingen noch einmal zu dem Picknickplatz zurück. Christian war ungeachtet des kalten Windes mit dem Boot hinausgefahren. Von Teddy war natürlich nichts zu sehen. Also entschlossen sich die drei, jeder in einer anderen Richtung nach ihm zu suchen. Imogen lief einen Pfad entlang und rief ab und zu Teddys Namen. Aber nur das Gezwitscher der Vögel antwortete ihr. Der Pfad verlief in Windungen und Krümmungen und wurde immer schmaler, so daß sie sich entschloß umzukehren, nachdem sie fast zwei Kilometer gelaufen war. Sie drehte sich um und stand zu ihrem Entsetzen einem Hirsch gegenüber, der ihr den Weg verperrte. Einige Augenblicke des völligen Schweigens starrten sich Mensch und Tier an. Dann senkte das Tier den Kopf und stampfte mit dem Vorderlauf auf. Das war zuviel für Imogen. Sie wandte sich ab, verließ den Pfad und rannte quer durch den Wald davon. Sie hörte Laute hinter sich und fürchtete, daß der Hirsch sie verfolgte. Als sie dann einen Weg erreichte, stellte sie verzweifelt fest, daß es ein anderer war, als der, auf dem sie gekommen war. Wieder lief sie zurück und bemerkte mit Schrecken, daß die Sonne unterging. Es wurde dunkler und dunkler. Sie
begann zu rennen und rief um Hilfe. Der Weg führte jetzt bergauf an einem
Wasserfall vorbei, Heiß und erschöpft kühlte sie sich Hände und Füße. Hier war
sie noch niemals gewesen – sie mußte sich verlaufen haben.
Ein Rascheln im Unterholz ließ sie hochfahren und weiter bergan laufen. Da
stolperte sie über eine Wurzel und stürzte zu Boden. Sie versuchte aufzustehen,
aber ein scharfer Schmerz machte es unmöglich. Sie hatte sich den Fuß verletzt.
Durch die Bäume entdeckte sie das Glitzern von Wasser. Es mußte der See sein,
sie war offenbar im Kreis gelaufen. Wenn sie es nur bis zum Ufer schaffen würde!
Sie band sich ihr Taschentuch um den Knöchel und humpelte zum Wasser. Voller
Bestürzung stellte sie fest, daß es nicht der ihr bekannte See war, sondern ein
verschilfter Tümpel. Und nirgends Anzeichen von menschlicher Ansiedlung.
Verzweifelt ließ sie sich am Ufer nieder. Sie konnte nur noch warten, bis jemand
sie fand. Sobald würde sie von ihren Bekannten niemand vermissen – die
suchten ja alle Teddy.
Der Schmerz in ihrem Fuß machte sie ganz schwach, und so streckte sie sich mit
geschlossenen Augen auf dem Waldboden aus.
Ein leises Geräusch ließ sie hochfahren. Ängstlich sah sie sich um. Es war Teddy.
Er stand mit einer kleinen Büchse am Tümpel und starrte sie erschrocken an.
„Oh, ich dachte schon, du bist tot“, sagte er.
„Nein, alles in Ordnung.“ Beruhigend lächelte sie ihm zu. „Aber was machst du
denn hier? Alle suchen dich!“
Er trat näher und setzt sich neben sie. „Ich hatte keine Lust mehr, mit den Babys
zu spielen“, erklärte er aus der Sicht seiner sieben Jahre. „Ich habe ein Haus
entdeckt.“
„Ein Haus?“ fragte sie. „Und wer wohnt darin?“
„Niemand. Es steht leer. Ich werde dort wohnen und will hier nur Wasser holen.
Ich mache mir dann ein Feuer und will Tee aufbrühen.“
„Aber Teddy, du kannst doch nicht, ohne ein Wort zu sagen, verschwinden. Deine
Mutter und dein Vater ängstigen sich doch.“
„Die haben doch Pamela. Aber vielleicht werde ich morgen zurückgehen“,
versprach er.
„Könntest du nicht heute schon nach Hause gehen?“ fragte sie ihn.
Wahrscheinlich kannte er ja den Weg. „Ich habe mich verletzt und brauche Hilfe.“
Er seufzte. „Du verdirbst mir alles! Christian sagte auch, Frauen machen eine
Menge Unfug. Ich glaube, er hat recht.“
Er sah bei diesen Worten wie eine Miniaturausgabe seines Halbbruders aus.
Imogen mußte laut lachen. Ein scharfer Schmerz erinnerte sie aber sofort wieder
an ihre Situation.
„Bitte, Teddy, beeil dich doch“, bat sie ihn.
Er blickte unsicher in den finsteren Wald.
„Es ist schon sehr dunkel und noch sehr weit nach Hause. Und sicher gibt es
Wölfe.“
„Aber Teddy, was soll ich machen? Ich kann doch hier nicht die ganze Nacht
liegen,“ sagte sie verzweifelt.
„Vielleicht schaffst du es zu meinem Haus. Ich werde dir einen Stock suchen“,
versuchte er, sie zu trösten.
„Na gut, versuchen wir es“, meinte sie resignierend.
Dann humpelte sie auf Teddy gestützt los. Das Haus lag versteckt hinter Bäumen
und Buschwerk. Es besaß nur einen einzigen winzigen Raum mit einem
zerbrochenen Fenster und einer aus den Angeln fallenden Tür. Drinnen roch es
mächtig muffig.
„Ich werde uns erst ein Feuer und dann Tee machen. Ich habe diese Büchse hier
gefunden und ausgewaschen“, erklärte er stolz.
Voller Verwunderung blickte sich Imogen in dem Raum um. Teddy hatte sich aus
Tannenzweigen ein grobes Lager bereitet, auf das sie sich erschöpft fallen ließ.
Nichts hatte der Junge vergessen: Es gab Tee, Zuckerwürfel, eine Büchse Milch,
Gebäck, ein Stückchen Käse, eine Teekanne mit abgebrochener Tülle und ein
Glas.
„Es ist alles wie bei den Pionieren und besser als bei Robinson Crusoe. Willst du
das Glas oder die Büchse?“
„Vielleicht das Glas“, sagte sie, „nimm du nur die Büchse.“ Sie hatte nichts übrig
für Tee mit Rostgeschmack.
Bald danach erstarb das kleine Feuer, das Teddy entfacht hatte. Ängstlich fragte
er sie: „Kann ich mich neben dich legen? Ich bin schrecklich müde.“
„Natürlich, mein großer Held, ich habe dir ja dein Bett weggenommen.“ Zufrieden
kuschelte sich der Junge neben sie und schlief umgehend ein.
Imogens Fußgelenk begann, sie wieder zu schmerzen. Niedergeschlagen
überdachte sie ihre Lage: Die Zeit schien zu schleichen. Sobald es hell würde,
mußte sie Teddy wecken und ihn dazu bringen, daß er Hilfe holte.
Trotz ihres Schmerzes war sie wohl eingenickt. Das Quietschen der schadhaften
Tür ließ sie hochfahren, und voller Entsetzen stellte sie fest, daß die Tür
aufgestoßen wurde. Irgend jemand kam herein. Sie lag wie erstarrt, bis sie der
Strahl einer Taschenlampe traf und sie Christians Stimme hörte.
„Gott sei Dank, daß ich euch gefunden habe“, sagte er.
Imogen stützte sich auf ihren Ellenbogen und erwiderte: „Ja – das kann man
wohl sagen. Teddy schläft übrigen.“
„Wir werden ihn wecken“, sagte er grob. „Seine Eltern vergehen vor Angst.
Pamela erzählte mir von dieser Hütte. Aber warum hast den den Bengel nicht
zurückgeschickt?“
Wie ein mächtiger Schatten stand er in dem winzigen Raum. Seine Stimme klang
vorwurfsvoll und ärgerlich.
Imogen befand sich kurz vor einem Tränenausbruch. „Bitte, Christian, sei nicht
so grob! Ich habe Teddy nicht gefunden, sondern er mich. Ich habe mir den
Knöchel verletzt.“
Er bückte sich. „Mein Liebling! Ich bin ja nicht grob, nur sehr erleichtert.“ Er
richtete den Schein seiner Taschenlampe auf ihren Fuß. „Sieht ja böse aus“,
meinte er und betastete ihren Knöchel. „Verstaucht… Ich werde dir eine
KaltwasserKompresse anlegen.“ Im Nu zog er eine Binde aus seiner
Jackentasche. „Ich dachte mir, daß ich so etwas gebrauchen könnte.“
„Wasser ist dort in dem Gefäß“, sagte Imogen und deutete in eine der vier
dunklen Zimmerecken.
„Was ist denn das alles? Notvorräte?“ fragte Christian ziemlich verwundert.
„Teddy hat das besorgt. Er wollte ein Pionier sein.“
„Das hat er ja auch geschafft, nicht?“ Er kam mit dem kalten Umschlag zurück
und bandagierte ihr den Knöchel. „Tut mir leid, daß ich dir wehtun muß, Liebling.
Aber es muß so fest sein.“
Schon zum zweitenmal hatte er Liebling gesagt, dachte Imogen verwirrt.
Jetzt fuhr Teddy aus dem Schlaf hoch.
„Ist es schon Morgen?“ fragte er und rieb sich die Augen.
„Bald“, antwortete sein Halbbruder. „Du mußt mir wohl etwas erklären, mein
Bürschchen, nicht?“
Teddy richtete sich auf und sah Christian an. „Wie kommst du denn hierher?“
fragte er.
„Auf meinen beiden Beinen. Pamela hat mir den Tip gegeben. Dir gehört eine
Tracht Prügel, mein Junge, und die würde ich dir am liebsten selbst verpassen.“
„Meine Eltern schlagen aber nicht“, sagte Teddy trotzig.
„Verdienen tätest du’s“, fuhr ihn Christian an.
Hilfesuchend blickte Teddy zu Imogen. „Läßt du das zu?“ fragte er.
Imogen schüttelte den Kopf.
Christian war jetzt mit dem Bandagieren fertig. Er stand auf. „So – Schluß jetzt.
Wir müssen aufbrechen. Du brauchst Pflege, Imogen.“
„Oh, frühstücken können wir doch hier noch“, meinte Teddy. „Wir haben Gebäck
und Käse. Hast du schon gefrühstückt, Chris?“
„Ich frühstücke gewöhnlich nicht mitten in der Nacht“, antwortete Christian. Er
ging zur Tür, stieß sie weit auf und blickte in den Schein der aufgehenden Sonne.
„Ich glaube, wir können jetzt los.“
„Aber Imogen kann nicht laufen“, trumpfte Teddy auf.
„Ich werde sie tragen.“
„Wird sie dir nicht zu schwer werden?“
„Ich glaube nicht.“ Er trat zu Imogen, die sofort heftig zu protestieren begann:
„Das kommt gar nicht in Frage. Du kannst mich nicht den ganzen Weg tragen. Es
wäre doch besser, du würdest Hilfe holen.“
„Und dich hier allein zurücklassen?“
„Mir geht es gut“, sagte sie. „Vielleicht bleibt Teddy hier.“
„Du unterschätzt meine Kräfte“, sagte er lächelnd. „Außerdem können wir ja
unterwegs verschnaufen.“ Er bückte sich und nahm sie auf seine Arme. „Du
Federgewicht, du! Übrigens würdest du es mir erleichtern, wenn du deine Arme
um meinen Hals legtest.“
Scheu gehorchte sie. Er hielt sie in seinen Armen wie eine Mutter ihr Kind, und
sein Gesicht war dem ihren ganz nah. Im fahlen Morgenlicht wirkte es blaß und
streng, auf seinen unrasierten Wangen sprossen feine goldfarbene Häarchen.
* Die Vögel schwiegen jetzt, und Tau bedeckte den Boden. Vom See stieg feiner
Nebel auf. Verhaltene Ruhe lag über der Natur schweigende Erwartung – der
Auftakt für den großen Augenblick des Sonnenaufgangs.
„Ich muß ja schlimm aussehen“, seufzte Imogen.
Christian blickte auf sie herunter. Ihr Haar war voller herabgefallener Blätter, die
Bluse verrutscht und ihr Gesicht zerkratzt.
„Ich habe dich schon hübscher gesehen“, stimmte er zu, „aber niemals
reizvoller.“
Teddy stapfte vor ihnen her. Auf einmal beugte sich Christian vor und küßte sie
auf den Mund.
„Oh, Christian“, murmelte sie ungläubig.
„Imogen, liebst du mich noch?“
„Was bedeutet dir das schon?“ fragte sie traurig. „Du willst doch meine Liebe
nicht!“
„Doch, Imogen. Mehr als alles andere! Gestern abend kam für mich der
Augenblick der Wahrheit. Als ich vom Segeln zurückkam und du nicht im Haus
warst, glaubte ich dich verletzt und in Gefahr. Da wußte ich, wenn* dir etwas
geschehen sein sollte, könnte ich niemals wieder glücklich sein.“
Fassungslos starrte sie ihn an. „Stimmt das, Christian?“
Teddy kam zu ihnen gelaufen und rief: „Beeilt euch doch! Ich habe solchen
Hunger!“
„Geh schon voraus“, sagte Christian. „Du findest doch zurück, nicht? Sag ihnen,
daß wir kommen. Wir müssen noch ein wenig verschnaufen.“
„Ich wußte ja, daß sie zu schwer ist“, meinte Teddy ungalant.
„Es gibt Lasten, die man gerne trägt“, erklärte Christian nachsichtig.
Die Antwort war für Teddy zu schwierig. Verwirrt sah er seinen Halbbruder an,
drehte sich um und lief davon.
Teddy war längst wieder außer Sicht, als sie die Lichtung erreichten, wo sie am
vorhergehenden Tag gepicknickt hatten. Christian setzte sich auf einen
Baumstamm und nahm Imogen auf die Knie.
Die ersten Strahlen schossen jetzt über den Himmel und verkündeten den
Aufgang der Sonne. Christian blickte Imogen an und flüsterte zärtlich:
„Du bist so zerkratzt, mein armer Liebling. Eigentlich hätte ich Teddy doch einen
kleinen Denkzettel verpassen sollen!“
„Nein, so ist es besser“, erwiderte sie. „Er ist ein lieber Junge, und es war ihm
nicht klar, was für eine große Angst er uns eingejagt hat.“
„Na schön“, meinte Christian. „Vielleicht werden wir auch einmal so einen kleinen
Burschen haben.“
Der Sonnenaufgang schien eine ähnlich romantische Wirkung auf Christian zu
haben wie Mondschein.
„Verehrter Mister Wainwright“, sagte sie zärtlich. „Sie nutzen meine Hilflosigkeit
auf unfaire Weise aus! Vielleicht würdest du dich besser ausruhen, wenn du mich
auf den Boden setzt. Außerdem hätte Teddy uns Hilfe entgegenschicken sollen.“
Er lachte leise und drückte seine Wange gegen die ihre.
„Ich brauche keine Hilfe. Weißt du, was jetzt mit dir geschehen wird? Du wirst
dazu verurteilt, allein mit mir auf einer Farm wie Gretas zu leben. Ich gebe den
Rennsport auf. Deine einzige Ablenkung wird sein, das Skilaufen zu erlernen.
Glaubst du, daß du das ertragen kannst?“
„Mit dir könnte ich sogar am Nordpol leben“, erwiderte sie glücklich. „Das
einzige, was ich nicht ertrage, ist dein mangelndes Vertrauen. Du hast mich nicht
erklären lassen, was damals mit Raymond war. Leider tauchst du immer im
falschen Moment auf und ziehst dann die falschen Schlüsse.“
Christian drückte sie fester an sich.
„Das stimmt“, gab er zu. „Aber ich war einfach verrückt vor Eifersucht.
Ich kam zurück, um dich zu heiraten und dann traf ich dich in den Armen eines
andern. Daß ich ihn überhaupt zur Tür begleiten konnte, ohne ihn
zusammenzuschlagen, rechne ich mir hoch an. Ich hatte damals fest vor, dich zu
vergessen. Aber ich konnte es nicht. Deshalb bin ich zurückgekommen, um
unsere Situation zu klären.“
Er küßte sie wieder und fuhr fort: „Als ich dich dann wiedersah, war ich mir
deiner nicht mehr sicher. Ich glaubte, du würdest mich hassen. Ich war ganz
verzweifelt. Du hättest mir wirklich ein Zeichen geben können, wie es um dich
stand.“
„Nein, das konnte ich nicht. Ich war überzeugt davon, daß du deinen Antrag
bereutest und Ray nur als Ausrede gebrauchtest.“
„Aber Liebling, wie bist du denn darauf gekommen?“
„Irgend jemand hat mir erzählt, daß du mit jungen Mädchen bei Mondlicht sehr
leicht den Kopf verlierst und dir am darauffolgenden Tag immer überlegen mußt,
wie du wieder freikommst.“
Er lächelte ein wenig schuldbewußt. „Das kann stimmen – wenn ich den Kopf
verliere. Aber diesmal hatte ich mein Herz verloren.“
Er schwieg nachdenklich. Sie blickte ihn groß an und wartete auf das, was er ihr
noch zu sagen hatte. Fast demütig fragte er: „Es fällt mir sehr schwer, Imogen –
aber könntest du mir verzeihen?“
Sie lachte glücklich auf. Dann hob sie ihr Gesicht dem seinen entgegen und gab ihm ihre Antwort ohne Worte. Im gleichen Augenblick stieg die Sonne in strahlender Pracht über dem Horizont herauf und tauchte die Wälder in goldenes Licht. Ein herrlicher Tag kündete sich an.