Simone Pfeffer Krankheit und Biographie
Simone Pfeffer
Krankheit und Biographie Bewältigung von chronischer Krankhei...
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Simone Pfeffer Krankheit und Biographie
Simone Pfeffer
Krankheit und Biographie Bewältigung von chronischer Krankheit und Lebensorientierung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Diss., 2008 Dissertationstitel: Krankheit und Biographie Wie bewältigen chronisch erkrankte Menschen ihr Leben auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung? Eine empirische Studie
Gefördert durch ein HWP-Stipendium
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Katrin Emmerich / Marianne Schultheis VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16950-7
Danksagung
Zunächst einmal gilt mein Dank all jenen Menschen, die bereit waren, mir ihre Lebensgeschichte zu erzählen und mir gestatteten, diese für Forschungszwecke zu verwenden. Ihre Biographien bilden die empirische Basis und somit die Grundlage der vorliegenden Arbeit. Weiterhin fühle ich mich der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zu Dank verpflichtet, die mir mit einem Stipendium im Rahmen des Hochschul- und Wissenschaftsprogramms (HWP) „Chancengleichheit für Frauen in Forschung und Lehre“ diese Arbeit ermöglichte. Herrn Prof. Dr. Michael von Engelhardt danke ich herzlich für die Betreuung des Projekts, die für mich verschiedene Aspekte von Unterstützung, konstruktiver Kritik, Ermunterung und Wertschätzung beinhaltete. Ebenso bedanke ich mich bei Frau Prof. Dr. Elisabeth Beck-Gernsheim für die Bereitschaft, als Zweitgutachterin zu fungieren. Im Prozess von der Idee bis zur Fertigstellung dieser Dissertation gilt mein Dank weiteren Personen. Zunächst sind hier Frau Dr. Konstanze Schardt und Herr Prof. Dr. Thomas Müller-Schneider zu nennen, die mich zum Beginn dieses Projektes motivierten und mich von der Machbarkeit überzeugten. Darüber hinaus haben mich während der Phase der Umsetzung Frau Dr. Sabina Enzelberger und Frau Dr. Renate Liebold in fachlichen und menschlichen Belangen in vielfältiger Weise kollegial unterstützt. Schließlich danke ich meiner Familie und meinen Freunden sowohl für die inhaltliche Auseinandersetzung mit Aspekten der hier bearbeiteten Thematik als auch für die Geduld und Unterstützung, die mir in verschiedenen Bereichen entgegengebracht wurde.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung ……………………………………….………………………………….
11
1 Zur Entwicklung der Fragestellung und zum Stand der Forschung …….….
13
1.1 Chronische Krankheit und Gesellschaft ……………………………………….
13
1.2 Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff ………………………………….…. 1.2.1 Sinnkonzepte in der Soziologie ………………………………………… 1.2.2 Der Sinnbegriff aus etymologischer Perspektive ………………………. 1.2.3 Die Sinnfrage in der Philosophie ....…………………………………….. 1.2.4 Der Sinnbegriff in der Psychologie ……………………………………..
17 18 20 20 22
1.3 Konkretisierung der Fragestellung ……………………………………...……..
23
1.4 Stand der Forschung zur Krankheitsbewältigung …………………………….. 1.4.1 Historische Entwicklungslinien ………………………………...…….... 1.4.2 Inhaltlicher Überblick über die Bewältigungsforschung ………………. 1.4.3 Geeignete oder ungeeignete Bewältigung? …………………………….. 1.4.4 Die soziologischen Konzepte der Patientenkarriere und der Verlaufskurve ………………………………………………..… 1.4.5 Krankheitsbewältigung und Zeit ……………………………………..… 1.4.6 Lebensorientierung, Sinn und Krankheitsbewältigung ……………........ 1.4.7 Exkurs zum Begriff Identität ……………………………………………
24 25 26 28
1.5 Zusammenfassung ……………………………………………………………..
42
2 Untersuchungsansatz und Forschungsprozess …………………………….....
43
2.1 Der Untersuchungsansatz ……………………………………………………...
43
2.2 Der Forschungsprozess ………………………………………………………... 2.2.1 Die Bestimmung der Stichprobe ……………………………………….. 2.2.2 Der Kontakt zu den Interviewpartnern …………………………………. 2.2.3 Die Erhebung der Daten ………………………………………………... 2.2.4 Die Auswertung der Daten ……………………………………………... 2.2.4.1 Die Fallanalyse ……………………………………………………... 2.2.4.2 Der Fallvergleich …………………………………………………… 2.2.4.3 Die Typenbildung ……………………………………………….…..
45 47 47 48 50 50 52 53
30 32 33 39
8
Inhaltsverzeichnis
2.3 Reflexion über die eigene Rolle und forschungsethische Gesichtspunkte …….
54
3 Empirische Ergebnisse …………………………………………………………
56
3.1 Überblick über die Ergebnisse ………………………………………………...
56
3.2 Falldarstellung und Fallvergleich ……………………………………………...
59
3.2.1 Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) ….…... 3.2.1.1 Biographisches Porträt 1: WANDA HAUPT ……………………..... 3.2.1.2 Biographisches Porträt 2: NORA SEUBERT …………….………... 3.2.1.3 Biographisches Porträt 3: VERENA PETERS ……….…………….. 3.2.1.4 Zusammenfassender Fallvergleich ……………………………….....
60 60 77 85 87
3.2.2 Bruch und Neuorientierung im Leben (Typus B) ……………………… 3.2.2.1 Biographisches Porträt 4: JELKA UHL …………………………..... 3.2.2.2 Biographisches Porträt 5: HERBERT STEFFEN ………………….. 3.2.2.3 Biographisches Porträt 6: PAUL ADAMS ………………….……... 3.2.2.4 Biographisches Porträt 7: SONJA TOMMS ……………………….. 3.2.2.5 Zusammenfassender Fallvergleich ………………………………….
89 90 108 116 124 126
3.2.3 Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) ... 3.2.3.1 Biographisches Porträt 8: MARGARETE RIES …………………… 3.2.3.2 Biographisches Porträt 9: TONI SIEVERS ………………………… 3.2.3.3 Biographisches Porträt 10: BARBARA NIBUR …………………… 3.2.3.4 Biographisches Porträt 11: KARL WITTKO ………………………. 3.2.3.5 Zusammenfassender Fallvergleich ………………………………….
128 128 146 154 165 166
3.2.4 Bagatellisierung bei generell problembestimmter Lebensorientierung (Typus D) …………………………………………. 3.2.4.1 Biographisches Porträt 12: KLAUS MELZER …………………….. 3.2.4.2 Biographisches Porträt 13: SVEN HERBIG …………………...…... 3.2.4.3 Biographisches Porträt 14: WERNER BRAUN ……………...……. 3.2.4.4 Zusammenfassender Fallvergleich ……………………………….....
170 170 186 197 199
3.3 Quervergleich …………………………………………………………………..
203
3.3.1 Überblick über die Interviewpartner ……………………………………. 3.3.2 Krankheit und Zeit ……………………………………………………… 3.3.2.1 Die Bedeutung der Lebensphase …………………….……………... 3.3.2.2 Krankheit in der Alltagszeit ………………………….….………….. 3.3.2.3 Krankheit und Lebenszeit ……………………………… ….……….
204 211 211 215 217
3.3.3 Krankheit und Person …………………………………………………... 3.3.3.1 Art, Schwere und Verlauf der Erkrankung …………………………. 3.3.3.2 Potenziale und Hypotheken …………………………………………
225 225 229
Inhaltsverzeichnis 3.3.3.3 3.3.3.4 3.3.3.5 3.3.3.6
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Bewältigungsstile …………………………………………………... Theorien über die Krankheitsursache …...………………………….. Religiöse Bezüge und lebensphilosophische Ansätze …...…………. Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit …………………..……...……..
232 233 235 238
3.3.4 Krankheit und soziale Interaktion ………………………………………. 3.3.4.1 Krankheit in den verschiedenen Lebensbereichen ………………..... 3.3.4.2 Interaktionen im Zusammenhang mit dem professionellen medizinischen System ……………………………………………… 3.3.4.3 Soziale Unterstützung und Isolation ………………………………... 3.3.4.4 Soziale Wahrnehmung und Stigmatisierung ………………….……. 3.3.4.5 Zugehörigkeit zu der Welt der Gesunden oder zu der Welt der Kranken ………………………………….…………….
241 242
3.4 Typologie …………………………………………………………….….…….. 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4
251 254 256 261 264
Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) ….…... Bruch und Neuorientierung im Leben (Typus B) ………………….....… Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) ... Bagatellisierung bei generell problembestimmter Lebensorientierung (Typus D) ……………………………………..…...
264 266 268 270
4 Schluss …………………………………………………..……………………....
272
Literaturverzeichnis ……….……………………………..………………………..
289
Anhang ……….……………………………..………………………………………
298
Einleitung
Wirksame Medikamente, medizinisch-technische Entwicklungen und eine höhere Lebenserwartung – diese Errungenschaften unserer Zivilisation sind daran beteiligt, dass chronische Krankheit und ein häufig über Jahrzehnte währendes Leben mit der Erkrankung zunehmend mehr Menschen über einen längeren Zeitraum hinweg betreffen. Die Frage nach der Bewältigung einer dauerhaften Erkrankung besitzt dadurch eine große persönliche und gesellschaftliche Relevanz. Eine Krankheit kann auf verschiedene Weise in das bisherige Leben einbrechen und den zukünftigen Lebensverlauf beeinflussen. Bisherige und zukünftige Lebensentwürfe und Sinngebungen können dabei zur Disposition stehen. Der Alltag mit der Erkrankung muss bewältigt werden. Die Beziehungen im Privatleben und im Arbeitsbereich werden von der Erkrankung beeinflusst und müssen nun unter Bezugnahme auf die Krankheit und den mit ihr im Zusammenhang stehenden Veränderungen gestaltet werden. Zugleich verlangen die Individualisierungs- und Globalisierungsprozesse und die damit verbundenen gesellschaftlichen Entwicklungen vom Einzelnen auf der einen Seite lebenslaufbezogene Planungen und auf der anderen Seite die nötige Flexibilität, um sich immer wieder an veränderte Bedingungen in der Gesellschaft anpassen zu können. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie chronisch kranke Menschen ihre Situation bewältigen und wie ihre Lage die Lebensorientierung und Lebensgestaltung beeinflusst. Diese Fragestellung bildet den Ausgangspunkt dieser Untersuchung und ist mit weiteren Fragen verbunden: Wie erleben chronisch erkrankte Menschen den Beginn ihrer Erkrankung und den weiteren Bewältigungsprozess im biographischen Verlauf? Können sie ihre bisherigen biographischen Orientierungen fortführen oder erfahren sie einen biographischen Bruch und müssen sich in sinnrelevanten Bereichen teilweise oder umfassend umorientieren? Wie beeinflusst die Erkrankung die alltägliche Lebensführung? Welche Gemeinsamkeiten, welche Unterschiede und welche typischen Merkmale im Bewältigungsprozess finden sich bei Menschen, die von chronischer Krankheit betroffen sind? Die Bewältigung des Einbruchs einer chronischen Erkrankung soll also auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung untersucht werden. Dieser Fragestellung wird in der vorliegenden Arbeit unter biographischer Perspektive nachgegangen. Die Untersuchung fällt somit in die Bereiche der Biographieforschung und der Medizinsoziologie. In einem ersten theoretischen Teil (1) geht es zunächst um grundlegende Betrachtungen zu chronischer Krankheit und Gesellschaft. Es folgt eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Sinnbegriffen aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven, um vor diesem Hintergrund die Fragestellung zu konkretisieren. Anschließend wird der Forschungsstand zur Krankheitsbewältigung aus verschiedenen Perspektiven dargestellt und auf die Fragestellung bezogen.
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Einleitung
Der zweite Teil (2) erläutert den methodischen Ansatz und das empirische Vorgehen. Erst wird der biographietheoretische Hintergrund behandelt und dann die Wahl einer qualitativen Forschungsstrategie in Anlehnung an die Grounded Theorie (Glaser/Strauss 1967; Strauss 1991; Strauss/Corbin 1996) und an Ansätze, die sich mit dem Verhältnis von erlebter und erzählter Lebensgeschichte befassen (v. Engelhardt 1990b, 1996; Rosenthal 1995, 2005), begründet. Im Anschluss daran wird der Forschungsprozess beschrieben. Es folgen Reflexionen zu der eigenen Rolle im Forschungsprozess und zu forschungsethischen Gesichtspunkten. Der dritte Teil (3) beinhaltet die empirischen Ergebnisse der Untersuchung. Nach einem Überblick über die Ergebnisse, der die entwickelte Typologie kurz zusammenfasst, werden ausgewählte Fälle entlang der Typologie in Einzelporträts vorgestellt und miteinander verglichen. Das nun folgende Kapitel des querdimensionalen Vergleichs präsentiert die gezogene Stichprobe in Form einer Synopse und führt die Ergebnisse aus dem Datenmaterial in den Dimensionen von Krankheit und Zeit, Krankheit und Person und Krankheit und soziale Interaktion aus. Im Anschluss daran wird die entwickelte Typologie ausführlich dargestellt. Schließlich werden im Schlussteil (4) die Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und auf den bisherigen Forschungsstand bezogen. Wegen der besseren Lesbarkeit wird bei allgemeinen Aussagen, die männliche und weibliche Personen betreffen, die männliche Form verwendet.
1 Zur Entwicklung der Fragestellung und zum Stand der Forschung
In diesem Kapitel werden zunächst chronische Krankheit und Gesellschaft aufeinander bezogen, im Anschluss daran die Konkretisierung der Fragestellung nach Lebensorientierung und Lebensführung im Zusammenhang mit chronischer Krankheit in der Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff dargestellt und schließlich der Stand der Forschung zur Krankheitsbewältigung unter der Perspektive der Forschungsfrage zusammengefasst. 1.1 Chronische Krankheit und Gesellschaft Krankheit und ihre Bedeutung kann in einer Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Nach Fischer (1985) ist Krankheit ein perspektivischer Begriff, weil sie vom Patienten, vom Arzt und der Gesellschaft aus einem jeweils anderen Blickwinkel wahrgenommen wird. Er bezieht sich auf das relationale Krankheitsmodell von Rothschuh (1975) mit dem Interaktions-Dreieck Patient, Arzt und Gesellschaft, in deren Mitte sich die Krankheit befindet. Dementsprechend stellen sich Bedeutungen und Folgen von Erkrankungen für das betroffene Individuum, für Personen aus dessen näheren und weiteren Umfeld, für medizinische Institutionen oder auch für die Systeme der sozialen Sicherung jeweils anders dar und sind mit unterschiedlichen Erlebnis- und Handlungsweisen verbunden. Durch den Kranken tritt die Krankheit in die Welt, denn dieser fühlt sich krank, empfindet Schmerzen, wird möglicherweise hilfebedürftig. Vom Arzt erwartet er medizinische Deutung, Beratung und Therapie und benötigt vielleicht darüber hinaus noch eine Versorgung und Pflege durch die Mitwelt. Aus der Perspektive des Arztes ergeben sich wiederum andere Relationen. Seine Aufgabe ist es, den Kranken durch seinen Rat und seine Behandlung zu heilen, wozu er Kenntnisse über die Krankheit, über Ursachen und Therapiemöglichkeiten benötigt. Der Gesellschaft ist er als Sachkundiger und Treuhändler in Fragen der Krankenbeurteilung und Krankenversorgung verpflichtet und handelt im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsgesetzgebung. Die Gesellschaft verfügt über Sachmittel und die Verordnungsbefugnisse auf dem Gebiet des Gesundheitswesens. Sie gewährt dem Kranken Hilfe wie beispielsweise in Form einer Versorgung im Krankenhaus, übernimmt Vorsorgeaufgaben, sorgt für die Ausbildung der Ärzte und verleiht die Approbation. Aus dem Blickwinkel der Gesellschaft kann Krankheit soziale Folgen oder gesellschaftliche Ursachen haben, sie kann bestimmte Maßnahmen erfordern, wie zum Beispiel beim Auftreten von Pocken oder dem Vogelgrippevirus, und sie kann, etwa bei hohem Krankenstand, ökonomische Konsequenzen haben. Zugleich wird Krankheit im Rahmen der jeweiligen Gesellschaft sozial konstruiert, denn „wer als krank gilt, die Diagnose, die Therapie und der Umgang mit den Kranken werden von kulturellen, sozialen und ökonomischen Bedingungen mitbestimmt“ (Feldmann 2006, S. 318). Feldmann verdeutlicht am Beispiel der Aids-Erkrankung und den damit verbundenen unterschiedlichen Auswirkungen in Nordamerika oder in Afrika, dass
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Zur Entwicklung der Fragestellung und zum Stand der Forschung
Art, Häufigkeit und Folgen der auftretenden Krankheiten in Zusammenhang mit sozialen Bedingungen stehen. Weiterhin werden Krankheiten je nach Gruppenzugehörigkeit und je nach Art der Krankheit unterschiedlich sozial bewertet, ebenso variieren die Ursachenzuschreibungen je nach kulturellen und sozialen Gegebenheiten in einer Gesellschaft. Krankheit kann also von verschiedenen Gedankenmodellen aus gesehen und beurteilt werden, was auch unter historischer Perspektive und den entsprechenden geistesgeschichtlichen Hintergründen mit wechselnden Krankheitsauffassungen verbunden ist. Es ergeben sich jeweils spezifische Deutungen und Konsequenzen sowohl für den Kranken wie auch für das Umfeld, wenn Krankheit unter metaphysischen, philosophisch-spekulativen oder naturalistischen Gesichtspunkten betrachtet wird. Feldmann beschreibt verschiedene Theorien und Ideologien zur Erklärung von Krankheiten (ebd., S. 321ff), die im Folgenden kurz zusammengefasst werden. Vor dem Hintergrund der „Theorie des Übernatürlichen“ (ebd., S. 321) gehen Menschen davon aus, dass Geister oder Dämonen als Verursacher von Krankheit anzusehen sind oder Krankheit wird als Strafe Gottes verstanden. Soziale Bedingungen von Ungleichheit werden unter dieser metaphysischen Sicht als gottgegeben betrachtet. Die „Ansteckungstheorie“ (ebd.), die bereits in der Antike und im Mittelalter vor der Kenntnis von Bakterien und Viren bekannt war, sah beispielsweise in schlechtem Geruch oder Berührungen eine Ansteckungsgefahr. Dieses Verständnis von Krankheit führte zur Isolation der Kranken von den Gesunden, um eine weitere Verbreitung zu verhindern. Die „Theorie der Keime, Bakterien und Viren“ (ebd.) fußt auf der wissenschaftlichen Entdeckung der Kleinstlebewesen und der Beeinflussung des Alltagsbewusstseins durch dieses Wissen. „Menschen sehen sich, ihr Inneres und ihre Wohnung als Schlachtfeld, Myriaden von bösen Lebewesen sind eingedrungen und werden von den guten eigenen Kräften – oder von medizinischen und hygienischen Hilfstruppen – bekämpft“ (ebd.). Mit der „Theorie des persönlichen Verhaltens und des Lebensstils“ (ebd.) rückt der Glaube an individuelle Freiheit und Selbstbeherrschung in den Vordergrund. Beispielsweise werden im Zeitalter der Individualisierung Stress, Rauchen oder zu fettreiche Ernährung zu zentralen Krankheitsursachen erklärt und der Einzelne wird als verantwortlich für seinen gesundheitlichen Zustand angesehen. Ebenso lassen sich zu dieser Kategorie psychosomatische Konzepte zuordnen, in denen Krankheit beispielsweise als körperlicher Ausdruck verdrängter Konflikte oder nicht ausgelebter Emotionen verstanden wird. Die individualisierte Ursachenzuschreibung begünstigt, so Feldmann, die Ablehnung oder Verdrängung der Suche nach strukturellen gesellschaftlichen Ursachen und rechtfertigt dadurch die soziale Ungleichheit. Eine weitere Kategorie bilden Krankheitsauffassungen auf der Grundlage von „Kosmos- und Umwelttheorien“ (ebd., S. 322), die es in Vergangenheit und Gegenwart in vielfältigen Ausformungen gab und gibt. Ökologische Ansätze, die gesundheitsschädliche Umweltbedingungen problematisieren, stehen in Zusammenhang mit dem Kampf verschiedener Gruppen um Einfluss und Entscheidungsmacht. Schließlich benennt er die „Vererbungstheorie oder die Theorie der Gene“ (ebd.), die wiederum zu anderen Deutungen und Handlungen führt. „Wird der Schwerpunkt auf genetische, ‚innere’ Ursachen gelegt, dann wird von sozialen und anderen Umweltbedingungen abgelenkt, wird privatisiert, isoliert“ (ebd.). Genetische Theorien können aber auch entlasten, wenn die genetische Disposition akzeptiert wird und sich dadurch der Veränderungsdruck vermindert. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die verschiedenen Krankheitsauffassungen zu unterschiedlichen Umgangsweisen des erkrankten Menschen mit sich, seiner Krankheit und seiner Umwelt führen. Ebenso beeinflussen sie in erheblicher Weise, wie sich die An-
Chronische Krankheit und Gesellschaft
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gehörigen, Freunde, Ärzte, Arbeitgeber und andere institutionelle Vertreter gegenüber dem von Krankheit betroffenen Menschen verhalten. Chronische Krankheit Das griechische Wort chronos für Zeit weist auf das wesentliche Charakteristikum der chronischen Krankheit hin: Der Verlauf der Krankheit zieht sich über eine (lebens-)lange Zeitspanne. Das bedeutet, dass im Gegensatz zu einer akuten Erkrankung mit dem Merkmal der Zeitgestalt der Krisis mit anschließender Verbesserung oder Verschlimmerung das Leben mit einer Krankheit und den damit verbundenen Veränderungen dauerhaft bewältigt werden muss. Während aus medizinischer Sicht bei akuten Erkrankungen die ‚Be-handlung’ Aufgabe des Arztes ist, steht bei chronischen Krankheiten die ‚Be-treuung’ im Vordergrund (vgl. Hartmann 1993, S. 48ff). Aus soziologischer Perspektive beeinträchtigt jede Krankheit in jeweils spezifischer Weise die Handlungskapazität des erkrankten Menschen und damit auch seine Interaktionskapazität, das heißt, der Kranke und seine soziale Umwelt sind von der Krankheit betroffen. Fischer bezeichnet "diesen Verlust an Normalität, den beide Seiten in unterschiedlicher Weise zunächst erfahren, als Verletzung der sozialen Leiblichkeit" (Fischer 1985, S. 561), die sich auf die ganze Alltagswelt mit ihren stillschweigenden inhaltlichen und zeitlichen Normalitätsannahmen beziehungsweise Idealisierungen erstreckt. Fischer beschreibt die Verletzung der Idealisierung der Kontinuität (immer-so-weiter), die der körperlichen Autonomie (ich-kann-immer-wieder) und die des Kooperationsvermögens, die als eigentliche soziale Idealisierung die Erwartung von verlässlicher Partizipation in Interaktionssituationen umfasst. Eine Bewältigung von chronischer Krankheit, die die Verletzung der drei normalerweise im Alltag bestehenden Idealisierungen beinhaltet, steht „offenbar vor der Alternative, eine Alltagswelt zu konstituieren, die eben ohne die vorgängig verletzten Idealisierungen auskommt oder Reparaturstrategien einzusetzen, die funktionierenden Ersatz schaffen und somit wieder ein normales Leben ermöglichen“ (ebd., S. 563). Die Phänomene, mit denen bei der Verarbeitung von chronischer Krankheit umgegangen werden muss, sind sehr heterogen. Es können funktionale Einschränkungen sowohl im körperlichen wie auch in geistigen Bereichen, zum Beispiel des Wissens oder der Wissensverarbeitung bei Schlaganfallpatienten, auftreten; die körperliche Erscheinung kann entstellt sein oder äußerlich unsichtbare Schmerzzustände sind zu bewältigen. Eine ungewisse Lebensbedrohung mit oder ohne körperliche Veränderungen oder Einschränkungen oder auch ständige Manipulationen und Eingriffe am eigenen Körper müssen verarbeitet werden, ebenso wie Bedrohungen bezüglich der Arbeitsmöglichkeiten, der Partnerschaft oder auch der bisherigen Sozialkontakte. Dabei kann die veränderte Situation plötzlich und dramatisch hereinbrechen, beispielsweise in Form eines Schlag- oder Herzanfalls oder sie kann als allmählich anwachsende Bedrohung eher sichtbar beispielsweise bei Polyarthritis oder eher unsichtbar beispielsweise bei Diabetes das Leben begleiten. Bei einer chronischen Erkrankung ist in der Regel eine dauerhafte Auseinandersetzung in verschiedenen Lebensbereichen nötig. Einschränkungen und Veränderungen des Körpers wirken sich im Alltag, in der Familie, im Freundeskreis, im Berufsleben, auf den Platz in der Gesellschaft, auf das Selbstverständnis und somit auf die Biographie und Identität aus (vgl. Corbin/Strauss 1993; Gerhardt 1986). Eine chronische Erkrankung betrifft im Kontrast zu kollektiven Ereignissen wie beispielsweise einer Seuche oder einer Umweltkatastrophe nicht viele Menschen eines gemeinsamen Feldes, sondern zunächst das einzelne Individuum. Die
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Zur Entwicklung der Fragestellung und zum Stand der Forschung
Krankheit ist bei ihm lokalisiert und begleitet ihn als neue Voraussetzung der Interaktion. Ausgangspunkt der Bewältigung ist für den Einzelnen also anfangs die individuelle Betroffenheit, die durch den Kontakt zu anderen Betroffenen und entsprechenden Zusammenschlüssen wie beispielsweise Selbsthilfegruppen auch kollektiv bewältigt werden kann. Der Umgang mit chronischen Erkrankungen rückt zunehmend in den Vordergrund der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit, denn der Anteil der chronisch Erkrankten, den Zaumseil (2000, S. 8) mit 10 % der Bevölkerung beziffert, nimmt durch verschiedene Einflüsse wie höhere Lebenserwartung, medizinischen Fortschritt oder Umweltbedingungen immer mehr zu. Demgegenüber sind die Zahlen der Infektionskrankheiten stark rückläufig. „Um 1900 noch waren etwa 85 % aller Krankheiten akute Erkrankungen, um 1980 nicht einmal mehr 10 %“ (Schipperges 1983, S. 9). Die Schwerpunkte der Forschung beginnen, sich analog zu diesem „Panoramawandel der Krankheiten“ (ebd.) zu verlagern. Dabei stehen nicht nur die chronisch Kranken im Zentrum der verschiedenen Untersuchungen (z. B. Beutel 1888; Broda 1987; Filipp 1990a u. b; Heim 1998), sondern auch die Angehörigen, die große Teile der zu leistenden Arbeit übernehmen, sowie die professionell Betreuenden (z. B. Corbin/Strauss 1993; Gerhardt 1986; Hermann/Schürmann/Zaumseil 2000; Mattern 2001). Seit einiger Zeit scheinen sich nach Zaumseil „die Koordinaten unseres Umgangs mit chronischer Krankheit“ (2000, S. 17) von einer demütigen Fügung ins Schicksal zu einer rationalen Bewältigung, einem vernünftigen Management von chronischer Krankheit zu verschieben. „Passivität und Leid sind unmodern, es geht um Fitneß auch im Angesicht des Todes. Behinderte und Kranke erscheinen als die anderen, die außerhalb der gesunden „fitten“ Normalität stehen“ (ebd.). Dieser Wandel hat zwei Seiten: Zum einen setzt er Bewältigungspotenziale beim Einzelnen frei, die mit Begriffen wie Selbstbefähigung und Empowerment beschrieben werden. Zum anderen entstehen Schattenbereiche des Lebens wie beispielsweise Empfindungen von Verzweiflung, Überforderung oder Trauer, die nicht erfahren oder zumindest nicht gezeigt werden sollten. Außerdem verstärkt der Wandel des Bildes vom Umgang mit Krankheit nach Zaumseil die soziale Ungleichheit, denn von Selbstbefähigung und Empowerment profitieren vor allem Menschen aus der Mittelschicht (vgl. auch Jenkel 2000). Auch der mit Begriffen wie Individualisierung (Beck/Beck-Gernsheim 1993, 1994; Berger 1996; Kippele 1998), reflexive Moderne (Beck 1986; Beck/Giddens/Lash 1996) oder Postmoderne (Gergen 1996; Lyotard 1993) beschriebene gesellschaftliche Wandel, der die Herauslösung des Menschen aus traditionellen Strukturen und Bezügen und die zunehmende Konstruktionsleistung des Einzelnen bezüglich seiner Identität beinhaltet, stellt eine Herausforderung in der Bewältigung von Krankheiten dar. Biographie wird zur „Bastelbiographie“ (Beck 1986). Diese Freisetzung aus sozialen Bindungen steht in enger Beziehung zu Entwicklungen des Arbeitsmarkts und ist nicht mit freien Wahlmöglichkeiten zu verwechseln. Fluchtpunkt dieser Entwicklung ist nach Beck die „vollmobile Single-Gesellschaft“ (ebd., S. 199). Auch Kohli verweist auf Veränderungen besonders in familialen und erwerbsbezogenen Bereichen des institutionalisierten Lebenslaufs im Zusammenhang mit Individualisierungsprozessen (1985, 2003), betont jedoch zugleich, dass das erwerbsbezogene Lebenslaufregime trotz der Erosionstendenzen weiterhin von grundlegender Prägekraft in unserer Gesellschaft ist (Kohli 2003). Chronisch kranke und behinderte Menschen stellen nach Weber (2002) eine Problemgruppe auf dem Arbeitsmarkt dar, weil sie aufgrund der gesetzlichen und politisch-normativen Linien dazu gemacht werden. Allerdings
Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff
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wirft er auch die Frage auf, ob langfristig Menschen mit Behinderungen, chronischen Krankheiten oder altersbedingten Defiziten aufgrund der demografischen Entwicklungen wieder interessanter für Arbeitgeber werden. Im Fall einer Berufsunfähigkeit ist durch verschiedene rechtliche Regelungen ein soziales Netz vorhanden, das in Abhängigkeit von der zuvor bestehenden sozialen Lage lediglich eine Grundsicherung oder auch einen weitgehenden Erhalt des bisherigen Lebensstandards ermöglicht. Eine Krankheit, die möglicherweise kurz- oder langfristig darauf hinausläuft, auf Hilfe anderer angewiesen zu sein, ist besonders bedrohlich in einer Zeit, in der sich sowohl familiäre Strukturen als auch Strukturen von Nachbarschaften und kleinen Gemeinden auflösen und Pflege, Hilfe und Versorgung immer mehr in die öffentliche Hand oder an private Träger ausgelagert werden und sich so von der Ebene der Beziehung auf die Ebene des Tauschgeschäfts verlagern. Es ist mehr als fraglich, ob das in der Postmoderne auftretende Phänomen der Suche nach Gemeinschaft, das Baumann (1995) Neotribalismus nennt, tragfähige Beziehungen hervorbringt, die langfristige Unterstützung und Versorgung gewährleisten. Krankheit erinnert an die Möglichkeit der eigenen Hilflosigkeit, an Macht- und Statusverlust und führt die Vergänglichkeit des eigenen Lebens vor Augen. In einer Zeit, in der Wachstum, Jugendlichkeit, Dynamik und Fitness als Idealvorstellungen präsent sind, übernimmt Krankheit genau wie Alter und Tod die Rolle des bedrohlichen Schattens in der Gesellschaft (vgl. Ziegler 1977). Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung richtete sich vor dem beschriebenen Hintergrund auf die Bewältigung des Einbruches einer chronischen Krankheit in die Biographie und damit verbundenen Prozessen von biographisch relevanten Veränderungen im weiteren Lebensverlauf. Die Fragestellung legte einen Untersuchungsansatz auf der Ebene des Individuums nahe, um die biographischen Relevanzsetzungen nachvollziehen zu können. Von Interesse war, wie Betroffene ihre Lebens- und Krankheitsgeschichte schilderten, wie sie ihre Situation erlebten und deuteten und welche weiteren Perspektiven sie für sich in einem Leben mit der Erkrankung sahen. Zunächst wurde dabei die Frage nach Sinnverlust- und Sinnfindungsprozessen formuliert, was eine Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff zur Folge hatte. 1.2 Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff Am Beginn dieses Forschungsvorhabens stand die Frage nach Sinnfindungsprozessen, die im Zusammenhang mit dem Einbruch einer chronischen Krankheit und deren Bewältigung stehen. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Sinnbegriff wurde die Fragestellung dahingehend konkretisiert, dass der Aspekt der Bewältigung auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung ins Zentrum der Untersuchung rückte. Die Auseinandersetzung soll im Folgenden dargestellt werden, indem zunächst der Sinnbegriff in der Soziologie beleuchtet und anschließend das Verständnis von Sinn aus etymologischer, philosophischer und psychologischer Sicht nachvollzogen wird, um schließlich die Forschungsfrage präziser zu bestimmen.
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Zur Entwicklung der Fragestellung und zum Stand der Forschung
1.2.1 Sinnkonzepte in der Soziologie Im Gegensatz zur Betonung der individuellen Sinngebung, beispielsweise aus existenzphilosophischer Sicht, ist Sinnkonstitution in der Soziologie eng verwoben mit gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten und Bedingungen. Handeln ist nach soziologischer Definition im Unterschied zum Verhalten auf einen Sinn hin ausgerichtet. Sinn verweist dabei auf das Einzelwesen als „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ (Marx, zit. nach Schäfers, 1998, S. 21), denn er beinhaltet Motive, Ziele und Zwecke, Normen und Werte und diese können nur in einer aufeinander bezogenen Gemeinschaft hervorgebracht werden. Von soziologischem Interesse ist für Max Weber (1972) der subjektive Sinn des Einzelnen, da Institutionen, Gemeinschaften und Gruppen nicht aus sich heraus in ihren Funktionen verstehbar sind, sondern nur der Einzelne verstehbarer Träger von sinnhaft orientiertem Handeln sein kann (vgl. Morel u. a. 1999, S. 22). Dem idealtypischen zweckrationalen Handeln steht das empirisch gegebene soziale Handeln gegenüber und kann im Vergleich zum ersteren als traditional, affektiv, wertrational oder eben zweckrational gedeutet werden (vgl. Mikl-Horke 1994, S. 120). Über diesen Handlungsbegriff geht Talcott Parsons (1937) hinaus, indem für ihn Handeln sowohl als von den Subjekten und ihren Motiven als auch von der Situation, in der sich das Subjekt befindet, abhängt (vgl. Richter, 2001). Der Sinnbegriff wurde durch verschiedene andere soziologische Denker aufgegriffen, hinterfragt und weiterentwickelt. Alfred Schütz (1960) kritisiert, dass Weber weder zwischen dem Sinn des Erzeugens und dem des Erzeugnisses einer Handlung unterscheide noch zwischen dem Verstehen eigener und fremder Erlebnisse, dem Selbstverstehen und dem Fremdverstehen, auch werde die Intersubjektivität des gemeinten Sinnes nicht deutlich genug (vgl. Schäfers 1998, S. 23). Für ihn, der die phänomenologische Soziologie mitbegründet hat und wesentlich von Weber und Husserl geprägt ist, bezieht sich Sinn allein auf die sinnkonstituierenden Bewusstseinsprozesse bei der reflexiven Zuwendung zu vergangenen Ereignissen, die von attentionalen Modifikationen abhängen und sich auf einen Vorrat an bereits gemachter Erfahrung und gesammeltem Wissen gründen. Erlebniszusammenhänge bilden wiederum abgeschlossene Sinnbereiche, begrenzte Sinnprovinzen, die in sich Konsistenz und Verträglichkeit aufweisen wie beispielsweise der Sinnbereich des Alltags, der Sinnbereich des Traumes, der Sinnbereich der Wissenschaft und der Sinnbereich der Kunst. Ein anderes Verständnis von Sinn hat Niklas Luhmann, denn er konzipiert ihn „subjektlos“ (Schützeichel 2003, S. 32). Als ein Vertreter der Systemtheorie versteht Luhmann soziale Systeme als komplexe, in sich strukturierte, gegen ihre Umwelt relativ abgeschlossene Sinnzusammenhänge von sozialen Handlungen. Sinn bezeichnet keinen bestimmten, tatsächlichen Sachverhalt, sondern die Ordnungsform menschlichen Erlebens, wird also funktional aufgefasst. Das Erleben ist durch eine Überfülle an Möglichkeiten gekennzeichnet, die nicht einmal teilweise oder nacheinander „in den engen Belichtungsraum der Bewußtheit eingebracht werden kann“ (Habermas/Luhmann 1971, S. 32). Zum Auswählen dient der Sinn, Erleben und Handeln ist also Selektion nach Sinnkriterien. Sinn definiert Luhmann als Unterschied zwischen Aktualität und Potenzialität, sodass das Aktuelle immer umgeben ist von Verweisen auf andere Möglichkeiten des Erlebens und Handelns. Die Reduktion der Komplexität ist hier das zu lösende Problem, die durch die Selektion mittels Sinn möglich wird.
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Eher pragmatisch identifiziert Georg Herbert Mead (1975) Sinn als zentralen Faktor der gegenseitigen Anpassung von Handlungen verschiedener Menschen und unterscheidet zwei Merkmale von Sinn, die „Mitteilbarkeit“ und die „Teilnahme“ (ebd., S. 121). Einmal dient Sinn einer handelnden Person als Selektion, um ihre Handlung für andere verständlich zu gestalten. Die Person wählt aus vielen Möglichkeiten diejenigen Symbole, zum Beispiel Gesten oder Worte aus, die dem Empfänger der Botschaft eine eindeutige Decodierung erlauben. Zum anderen wird Sinn durch Handeln produziert und reproduziert, wodurch der einzelne Mensch ständig zur Erschaffung der Kultur beiträgt (vgl. Schäfers 1998, S. 23). Nach Mead sammelt das Individuum mittels Perspektivenübernahme Bedeutungen – bedeutungsvoll wird mit sinnhaft gleichgesetzt – in seinem Bewusstsein, die dadurch nicht nur individuelle, sondern auch soziale Bedeutungen sind. Um die Bedeutungsverleihung zu entschlüsseln, muss sie wahrgenommen werden und daraus ergibt sich die Frage, wie Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und wie sie Zeichen als bedeutungsvoll identifizieren können (Richter 1995, S. 62ff). Dies ist der Ansatz des symbolischen Interaktionismus, den Richter auf die Formel bringt: „Verstehen, auch wissenschaftliches Verstehen, ist Nachvollzug der Bedeutungsverleihung“ (ebd., S. 60). Die Frage nach der Wahrnehmung von Situationen verweist auf das Thomas-Theorem von Thomas und Thomas (1928, S. 572), das ausdrückt, dass Menschen der Situation gegenüber entsprechend der Definition, die sie ihr geben, handeln. Der Mensch handelt also aufgrund dessen, was er als real definiert, die Definition von Realität findet in seinem Bewusstsein statt. Herbert Blumer (1973) fasste die Ideen Meads zusammen und brachte sie auf drei Axiome, die besagen, dass erstens Menschen Dingen gegenüber aufgrund der Bedeutung handeln, die diese Dinge für sie haben, zweitens diese Bedeutung in einem Interaktionsprozess entsteht und drittens sie historisch wandelbar ist. Für Berger und Luckmann (1995) konstituiert sich Sinn im menschlichen Bewusstsein, dass immer Bewusstsein von etwas und damit ausgerichtet und relational ist. Dabei ist der Sinn des aktuellen Handelns prospektiv sinnhaft, es wird im Blick auf ein vorentworfenes Ziel hin gelenkt, während eine vollzogene Handlung retrospektiv sinnhaft ist. Sie kann mit anderen Handlungen, Handlungsmaximen oder Normen verglichen werden. Berger und Luckmann beschreiben verschiedene Sinnschichten. „Einfachere Schichten von Sinn können in der subjektiven Erfahrung einer Person entstehen. Höhere Schichten von Sinn und eine komplexere Sinnstruktur setzen jedoch Objektivierungen subjektiven Sinns im gesellschaftlichen Handeln voraus“ (ebd., S. 13f.). Aber auch die untersten Sinnschichten sind von Sinnelementen aus dem gesellschaftlichen Wissensvorrat wie beispielsweise Typisierungen, Klassifikationen, Erfahrungsmuster und Handlungsschemata beeinflusst. Der objektive Sinn, der durch gesellschaftlich bearbeiteten Handlungssinn entstanden und in den gesellschaftlichen Wissensvorrat u. a. als Wertekonfigurationen eingegangen ist, wird von Institutionen verwaltet und vermittelt und befindet sich in ständiger Wechselwirkung mit subjektiver Sinnkonstitution und individuellem Handlungsentwurf. Aus medizinsoziologischer Perspektive betont Antonovsky (1997) im Konzept der Salutogenese den Aspekt des subjektiven Erlebens von Sinn. In ihm geht es um ein gefühlsmäßiges Wahrnehmen von Sinn, um das „Ausmaß, in dem man das Leben als emotional sinnvoll empfindet“ (ebd., S. 36). Auf dieses Konzept wird an späterer Stelle noch einmal ausführlicher im Zusammenhang mit der Bewältigung von Krankheit eingegangen. Die bisherigen Ausführungen zeigen auf, dass der Sinnbegriff in der Soziologie vielfältige Aspekte beinhaltet und in unterschiedlicher Weise verstanden und verwendet wird.
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Im Folgenden soll der Begriff weiter untersucht und geklärt werden, indem er aus der Sicht anderer Wissenschaftsdisziplinen betrachtet wird.
1.2.2 Der Sinnbegriff aus etymologischer Perspektive Etymologisch lassen sich zum Begriff Sinn zwei Bedeutungsgruppen ausmachen (vgl. Duden 2001; Brockhaus 1998): Das mittelhochdeutsche und althochdeutsche „sin“, das im althochdeutschen Sprachgebrauch „Verstand“ und „Wahrnehmung“ bedeutet. Diese Abstammung verweist auf die Fähigkeit des Organismus, innere und äußere Reize über die Sinnesorgane wahrzunehmen und diese Wahrnehmungen einzuordnen und zu verstehen, sie zu verarbeiten. In einer älteren althochdeutschen Bedeutung steht „sinnen“ für „streben, begehren“ oder „gehen, reisen“. Die germanische Wortgruppe beruht auf der indogermanischen Wurzel „sent“, die „gehen“, „reisen“, „fahren“, „eine Richtung nehmen“ bedeutet. Hieraus erklärt sich auch der übertragene Sinngehalt des Wortes Sinn als „geistig oder gedanklich einer Sache nachgehen, auf sie ausgehen, ihr zustreben“ (vgl. Heyde, 1960, S. 70ff). Diese Wortabstammung verdeutlicht die zukunfts- und zielorientierte Konnotation des Begriffes, bei der Aspekte der Bewegung, der Dynamik und der Motivation sowie eine Orientierungsfunktion in den Vordergrund treten.
1.2.3 Die Sinnfrage in der Philosophie In einem weiten Verständnis war die Sinnfrage schon immer ein zentrales Anliegen von philosophischen Strömungen. Obgleich diese Frage thematisch bereits sehr alt ist, ist der Ausdruck „Sinn des Lebens“ jedoch erst seit dem 19. Jahrhundert gebräuchlich (vgl. Gotthold/Thies 2003, S. 12). Eine umfassende Betrachtung der Sinnfrage aus philosophischer Sicht würde den Rahmen dieser Arbeit bei weitem übersteigen, daher werden im Folgenden einige Ansätze und Überlegungen aus der Philosophie ausgewählt, die helfen können, den Begriff „Sinn“ zu verdeutlichen und die im Bezug zu der Themenstellung der vorliegenden Arbeit von Interesse sind. Auch auf den Bereich der Theologie, in dem das Sinnthema eine bedeutende Rolle spielt, wird hier wegen der Komplexität des Themas nicht eingegangen. Sinn als Begriff ist grundsätzlich nicht als ein gegebenes Phänomen zu verstehen, sondern als philosophische Frage, die an ein gegebenes Phänomen gestellt wird. Um der Frage nach dem Sinn weiter auf den Grund zu gehen, ist eine Klärung der Intention nötig, mit der die Frage gestellt wird. Nach Schaeffler (1974) lassen sich zwei übergeordnete Intentionen unterscheiden. Zum einen ist die Sinnfrage als Prüfung der Funktionsfähigkeit einer Sache, eines Ablaufs, einer Beziehung oder ähnlichem zu verstehen. Die Tauglichkeit zur Erfüllung einer Funktion steht im Mittelpunkt, dabei kann Sinn als Zweckdienlichkeit oder als Bedeutung geprüft werden. Mit der Frage: „Wozu dient es?“ oder „Was soll das bewirken?“ wird die Funktionsfähigkeit eines Mittels im Dienst von Zwecken geklärt. Eine andere Art von Funktionstüchtigkeit ist die eines Bedeutungsträgers, Auslegung zu veranlassen und zu steuern. „Sinn hat, ‚was etwas bedeutet’. Sinnlos ist im Gegensatz dazu etwas, das keine Auslegung gestattet“ (ebd., S. 1330). Bezeichnend ist hierbei die Vermittlung einer Erkenntnis, das Erkennbarwerden einer Bedeutung. In der Regel ist dafür der Kontext eine Voraussetzung, denn ein Zeichen ist häufig nur deutbar und eindeutig im Rahmen
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eines Kontextes, in dem es steht. So hat beispielsweise ein Buchstabe oder eine Silbe ohne entsprechenden Kontext keine sinnvolle, d. h. erkennbare Bedeutung, im Rahmen eines Satzes trägt das Zeichen jedoch zum Verständnis bei und ist dadurch sinnvoll. Eine zweite Intention ist mit der Sinnfrage als Frage nach dem „Sinn des Lebens“ verbunden. In dieser Fassung der Sinnfrage wird nicht eine Funktionstüchtigkeit überprüft, „sondern eine Forderung aufgestellt“ (ebd., S. 1335). Es ergeben sich zwar auch die Fragen nach Lebenszweck und Lebensbedeutung, sie beinhalten aber noch zusätzlich eine Forderung, denn das Leben „’soll’ etwas zu verstehen geben, was bejaht werden kann; es ‚soll’ in einem Dienst von solcher Art stehen, dass dieser ‚das Leben lohnt’“ (ebd., S. 1336) Erst wenn diese Forderung erfüllt wird, „verdient das Leben Bejahung“ (ebd.). Dieses Verständnis von Sinn rückt auf der einen Seite eine biographische Perspektive und auf der anderen Seite eine bestimmte Qualität des Lebens in den Blick. In der von ihm begründeten Phänomenologie kommt Husserl zu dem Schluss, dass es einen allen Bewusstseinsakten gemeinsamen Grundzug der Gerichtetheit gibt, für den er den Begriff „Intentionalität“ prägt (Wuchterl 2000). Die Existenzphilosophie, die u. a. mit Heidegger und Sartre seinen Ansatz weiterverfolgt, geht davon aus, dass der Mensch die Freiheit besitzt, seine Seinsmöglichkeiten zu wählen, was gleichzeitig bedeutet, dass er auch die Verantwortung trägt, sein Leben zu gestalten. Der Mensch muss seine Lebenskonzeption selbst entwerfen, auf die er seine Ziele und Handlungen ausrichten kann und verleiht so seinem Leben bzw. seinem Sein einen Sinn. Sinn wird aus existenzphilosophischer Sicht als Sinngebung verstanden, was die Frage nach dem Stellenwert von Sinngebung und Sinnfindung aufwirft, die Schaeffer (1974) jedoch als Scheinproblem identifiziert. Er beschreibt die Wechselwirkung von Denken und Wahrnehmung, die sich strukturell aneinander entwickeln. Das Denken verleiht dem Wahrgenommenen erst Bedeutung, gleichzeitig können Einsichten aus der Erfahrung des Wahrgenommenen wiederum zum Umdenken und zu einer neuen Bedeutung führen. Sinn wird sowohl gestiftet, „weil das Denken und der Wille die Struktur einer möglichen Erfahrung vorzeichnen müssen“, als auch gefunden, „weil das Denken und der Wille sich nicht nur die Inhalte ihrer Erfahrung ‚geben lassen’ müssen, sondern auch die Struktur ihrer Antizipationen erst unter dem Anspruch des Erfahrenen entwickeln“ (ebd., S. 1340). Einen bedeutsamen zeitgeschichtlichen Aspekt im Zusammenhang mit Entwicklungen in der Moderne beinhaltet die Feststellung von Gotthold und Thies (2003), dass die Diskussion über den Verbleib der Seele nach unserem Tod verschwunden ist und eine Verschiebung der Sinnfrage stattgefunden hat. „Unser Interesse richtet sich nicht auf das, was nach dem Tode sein wird, sondern darauf, ob das, was vor dem Tode ist, einen Sinn hat. Nicht mehr die Existenz der Seele im Jenseits, sondern unser leibliches Wohl im Diesseits steht im Mittelpunkt des metaphysischen Fragens“ (ebd., S. 19). Als ein weiteres Kennzeichen des philosophischen Diskurses der Moderne beschreiben die Autoren die Ablösung der „vita contemplativa“ als höchste Lebensform durch die „vita activa“. Es gilt die Zeitspanne zwischen Geburt und Tod nicht nur zu betrachten, sondern auch zu gestalten, denn die Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten (und -zwänge) haben sich durch die Freisetzung aus traditionellen Bindungen und vielfältigen anderen Entwicklungen stark erhöht. Der Sinn, der in der Metaphysik gesucht wird, so die Autoren, dient neben der Legitimation des Negativen und der Deutung des Ganzen auch der praktischen Orientierung in unserem Leben.
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1.2.4 Der Sinnbegriff in der Psychologie Themenstellungen wie Sinn, Sinnerleben, Sinnfindung und Lebenssinn finden sich überwiegend im Rahmen der humanistischen Psychologie. Nach Becker (1982) lassen sich Modelle der Selbstaktualisierung (Maslow 1981; Rogers 1961) und solche der Sinnfindung (z. B. Adler 1973, 1994; Jung 1954; Frankl 1972, 1981, 1994) unterscheiden. Bei Ersteren ist die Entwicklung der Potenziale des Menschen ein zentrales Anliegen, Letztere rücken die Selbsttranszendenz in den Vordergrund. Nach Adler bezieht sich jedes Weltbild „auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Jeder Mensch legt sich seine eigene Antwort auf diese Frage zurecht, und diese Frage wird von seinem Lebensstil geprägt, sodass er durch alles, was er tut und unterlässt, durch sein ganzes Leben, dieses Bild erkennen lässt. (...) jeder Mensch (ist) gezwungen, dem Leben einen Sinn zu geben, denn so lange der Mensch lebt, muss er auch handeln. Ohne Richtung, ohne Sinn ist keine Handlung möglich“ (Adler 1994, S. 182). Adler unterscheidet beim „Sinn des Lebens“ zwei Bedeutungen, eine psychologische und eine metaphysische. Zum einen ist der Sinn gemeint, den jedes Individuum in seinem Leben sucht und findet, den es in Abhängigkeit von seinen Erfahrungen in seiner spezifischen Erlebniswelt schöpferisch konstruiert. Zum anderen beschreibt Adler einen allgemeingültigen, wahren Sinn des Lebens, der im Beitrag des Einzelnen für die Höherentwicklung der gesamten Menschheit oder in der Leistung zum Wohle der Allgemeinheit liegt und einen ethisch-normativen Charakter hat. Auch für Jung war neben der Individuation die Frage nach dem Lebenssinn von besonderer Bedeutung. Überlegungen zu seelischem Leiden und dessen tiefster Bedeutung führen ihn dazu, die Psychoneurose als „ein Leiden der Seele, die ihren Sinn nicht gefunden hat“ (Jung 1986, S. 13f.) zu beschreiben. Ausführlich beschäftigt sich Frankl mit der Sinnthematik (1972, 1981, 1994), die die Grundlage seines Modells und einer eigenen Therapieschule der Logotherapie darstellt. In seinem motivationstheoretischen Ansatz vertritt Frankl die Ansicht, dass jedem Menschen ein Wille zum Sinn innewohnt. Er sieht es als ein Grundbedürfnis des Menschen an, über sich hinauszureichen, indem er sich in den Dienst einer Sache stellt oder es vermag, eine andere Person zu lieben (vgl. Frankl 1994). Dieses „über sich hinausreichen“ oder auch die Hingabe an eine Sache oder einen Menschen bezeichnet er als Fähigkeit zur Selbsttranszendenz. Glück, Selbstverwirklichung und Lust sind in seinem Modell nicht direkt erzielbar, sondern Folgezustände der Selbstvergessenheit, des sich Hingebens. Die Vorannahme, dass das Leben bis zum letzten Augenblick, bis zum letzten Atemzug nicht aufhört, einen Sinn zu haben, ist die Grundthese der Logotherapie. Er kritisiert ein in der heutigen Zeit beziehungsweise im zwanzigsten Jahrhundert zunehmendes Sinnlosigkeitsgefühl und führt es auf den Reduktionismus zurück. Nach Frankl beinhaltet jede Situation einen Sinnanruf an uns, sie zu gestalten. Auf die Frage „Warum soll ich denn weiterleben?“ von Menschen, die mit Krankheit, Verstümmelung oder anderen Herausforderungen zu kämpfen haben, antwortet er, dass es darum geht, einen Sinn in seinem Leben zu sehen und zu verwirklichen (vgl. ebd.). Sinn als „Sinn im Leben“ ist hier die fundamentale, motivationstheoretische Orientierung. Interessant ist die Sicht Frankls, dass das Leben eine Sinnanforderung an uns stellt. Während in einigen philosophischen Ansätzen, die bereits oben angesprochen wurden, der Mensch eine Forderung an das Leben stellt – das Leben soll sinnvoll
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sein, damit es bejaht werden kann –, betont Frankl die Sinnanforderung, die das Leben an den Menschen stellt, das Leben als Aufgabe, die es durch den Menschen zu gestalten gilt. Erikson (1966) greift Sinn als Krisenthema und Herausforderung des späten Erwachsenenalters in seinem Stufenmodell der Persönlichkeitsentwicklung auf. Die Aufgabe des älteren Menschen ist die Ableitung eines Gefühls der Ganzheit und Sinnhaftigkeit aus der Fülle seiner Erfahrungen und Erinnerungen, die Herstellung einer „Ich-Integrität“. Hier gewinnt die Sinnfindung erst in einer späten Lebensphase gewissermaßen als Bilanzierung des eigenen Lebens an Bedeutung. In diesem Modell erfolgt die Sinnfindung in der Auseinandersetzung mit Verlusten und Einschränkungen in einem vergleichsweise höheren Alter. Menschen mit chronischen Krankheiten erleben unter Umständen die Auseinandersetzung mit Einschränkungen und Verlusten zu einem Zeitpunkt im Leben, an dem diese normalerweise noch nicht erwartet wurden. Im Anschluss an Eriksons Modell der lebensphasenspezifischen Entwicklungsstufen könnte eine Bilanzierung und eine Auseinandersetzung mit Sinn als zu bewältigende Krise durch die besonderen Herausforderungen einer chronischen Erkrankung bereits in ein früheres Lebensalter vorverlegt sein. Ein komplexes Modell zur Sinnthematik stellte Dittmann-Kohli (1995) Mitte der neunziger Jahre mit ihrem Konzept des persönlichen Sinnsystems vor. Sie beschreibt es als wichtigsten Bestandteil der im Bewusstsein repräsentierten menschlichen Persönlichkeit, das sowohl motivationale Kognitionen als auch die Repräsentation des Selbst im engeren Sinne umfasst. Das persönliche Sinnsystem, so die Autorin, sei ein organisiertes Wissenssystem, in dem eigene Erlebnisse und Erfahrungen mit kulturellen Konzepten verknüpft und interpretiert werden. Das Konstrukt von Dittmann-Kohli versucht unter Beachtung und Einbeziehung von gesellschaftlichen und kulturellen Determinanten verschiedene, bisher isolierte Forschungsrichtungen der Psychologie zu verbinden. Dabei knüpft es an den sozialen Konstruktivismus (Gergen 1985) an, der die Bedeutung der gesellschaftlichen und zeitgeschichtlichen Komponenten bei der Konstruktion von Selbst- und Menschenbildern hervorhebt. Unter anderem kommen hier kulturelle Erfüllungskonzeptionen und Angebote zur Definition der Deutung der Lebensphasen und das verbreitete Wissen über die normale Lebensdauer ins Spiel, das in Zusammenhang mit der Einschätzung der eigenen Zukunft und der verbleibenden Möglichkeiten der Selbstrealisierung steht. Durch den Einbruch einer chronischen Erkrankung in die Biographie können die letztgenannten Aspekte als selbstverständliche Orientierungsfolien und die vermeintliche Sicherheit, die aus diesem Wissen über den Normallebenslauf, die Normallebensdauer und die Normalleistungsfähigkeit entsteht, in hohem Maße fraglich werden. 1.3 Konkretisierung der Fragestellung Ausgangspunkt der Fragestellung dieser Arbeit war der Einbruch einer chronischen Krankheit in das Leben eines Menschen und die Auswirkungen in der Sinndimension. In der Auseinandersetzung mit den beschriebenen Konzeptionen von Sinn wurde deutlich, wie vielschichtig und vieldeutig der Sinnbegriff ist und in welchen unterschiedlichen Zusammenhängen er verwendet wird. In den verschiedenen Ansätzen beinhaltet er beispielsweise Motive, Ziele, Normen und Werte einer Gesellschaft, ist als „subjektiver Sinn“ zweck- oder wertrational handungsorientierend, wird durch reflexive oder prospektive Bewusstseinsprozesse konstituiert, dient als Kriterium zur Selektion, um die Komplexität zu
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reduzieren, wird als zentraler Faktor zur gegenseitigen Anpassung von Handlungen verschiedener Menschen verstanden, indem die auf Symbole bezogenen Bedeutungsverleihungen auf der einen Seite entschlüsselt und auf der anderen Seite produziert und reproduziert werden. Sinn kann als Emotion der Erfüllung im Sinne eines lohnenswerten Lebens definiert oder als metaphysischer Bezugsrahmen verstanden, Sinngebung als Freiheit und als Aufgabe gesehen werden. Angesichts dieser Vielfalt an Bedeutungen und Verwendungszusammenhängen musste in einem nächsten Schritt geklärt werden, welcher Aspekt von Sinn bei Menschen, die von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, im Rahmen dieser Arbeit untersucht werden sollte. Der in verschiedenen Sinnkonzepten enthaltene Aspekt der Ausrichtung und der Orientierung entsprach dem Erkenntnisinteresse, da im Zusammenhang mit dem Einbruch einer chronischen Erkrankung in den Lebensverlauf neben einer Veränderung der alltäglichen Lebensführung biographisch relevante Orientierungsprozesse und deren Ausdruck in der Lebensführung erwartet wurden. Die Fragestellung wurde also dahingehend konkretisiert, dass nach bisherigen und zukünftigen Ausrichtungen und Orientierungen mit biographischer Relevanz und deren Veränderungen gefragt wurde. Das heißt, die Bewältigung des Einbruchs einer chronischen Erkrankung sollte auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung untersucht werden. Bei der Frage nach der Lebensführung ging es darum, auf der alltäglichen Handlungsebene nachzuvollziehen, wie sich ein Gleichbleiben oder eine Veränderung der Lebensorientierung umsetzte. Darüber hinaus zielte diese Fragestellung auch darauf ab, die Bedingungen im alltäglichen Umgang mit der Krankheit und ihrer Bewältigung zu erfassen und in Beziehung zu Prozessen der Orientierung zu setzen. Im Folgenden soll nun der Forschungsstand zur Krankheitsbewältigung gesichtet und in Bezug auf die Fragestellung analysiert werden. 1.4 Stand der Forschung zur Krankheitsbewältigung Die Begriffe „Krankheitsbewältigung“ und „Coping“, auch „Krankheitsverhalten“ und „Krankheitsverarbeitung“ werden in der deutschsprachigen Literatur nicht klar gegeneinander abgegrenzt und häufig synonym verwendet (vgl. Heim 1998, S. 321) und sollen daher auch hier nicht weiter differenziert werden. Krankheitsbewältigung ist ein Forschungsgegenstand verschiedener Wissenschaftsdisziplinen. Mit der Bewältigung von Krankheit beschäftigen sich die Medizin und Psychosomatik (z. B. Hartmann 1993; Heim 1979), die Psychologie (z. B. Beutel 1988; Broda 1987; Hermann/Schürmann/Zaumseil 2000), die Soziologie (z. B. Corbin/Strauss 1993; Gerhardt 1986, 1999; Gerdes 1986), die Pädagogik (z.B. Mattern 2001) oder auch die Pflegewissenschaften (z.B. Moers/Lensing 1999; Rice 2005). Bis heute gibt es eine Vielzahl von Untersuchungen, jedoch keine einheitliche Theorie der Krankheitsbewältigung (vgl. Wagner 2004). Im Folgenden sollen zunächst historische Entwicklungslinien aufgezeigt und ein inhaltlicher Überblick über das Thema gegeben werden. Untersuchungen, die Sinn und Orientierung sowie zeitliche Verläufe thematisieren, werden anschließend beleuchtet.
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1.4.1 Historische Entwicklungslinien Im historischen Rückblick sind in der Entwicklung der Forschung über die Bewältigung von Krankheiten verschiedene Wurzeln zu erkennen. Ein wesentlicher Ursprung liegt in tiefenpsychologischen beziehungsweise psychoanalytischen Theorien und ist verbunden mit der Entdeckung der Abwehrmechanismen durch Freud, die er unter anderem in Verdrängung, Regression, Verschiebung, Reaktionsbildung, Projektion und Isolierung unterscheidet (1978). Seine Tochter Anna Freud (1959) erweitert, systematisiert und beschreibt in ihrem Werk die Abwehrmechanismen, die in der psychoanalytischen Abwehrlehre weiter ausdifferenziert werden (vgl. Beutel 1988; Steffens/Kächele 1988). In den 50er Jahren ist das „Krankheitsverhalten weitgehend gleichgesetzt mit einem Teil der Abwehrlehre“ (Heim 1998, S. 321), wodurch die Rolle unbewusster Prozesse bei der Krankheitsverarbeitung hervorgehoben werden (Wagner 2004). Eine zweite Quelle für Untersuchungen zur Krankheitsverarbeitung bildet die durch das Stresskonzept von Seyle (1957) begründete Stressforschung. Selye versteht Stress zunächst als Reaktion auf noxische Reize oder auf Stressoren aus der Umwelt und untersucht die Stressreaktionen des Körpers auf diese Stressoren. Später bezieht er auch psychologische Abläufe in seine Arbeit ein. Zum komplexen Wissensstand der Stressforschung gibt Cooper (1996) einen Überblick. Ausgehend von der Stressforschung entwickelt sich im „sogenannten Paradigmenwechsel“ (Muthny 1994, S. 17) oder der „Kognitiven Wende“ (Wagner 2004, S. 13) die Bewältigungsforschung weiter. Die Aufmerksamkeit verlagert sich von Stressreizen und Stressreaktionen hin zu den Bewertungsprozessen, es rücken nun also zunehmend interne Prozesse der Informationsverarbeitung in den Vordergrund. Maßgeblich an dieser Entwicklung beteiligt ist die Berkeley Gruppe um Lazarus (Lazarus 1966; Lazarus/Folkman 1984). Stress wird nun als Ergebnis einer Transaktion zwischen Person und Umwelt angesehen. Coping (engl. to cope: handeln, kämpfen mit) wird als Sammelbegriff für das Spektrum aller Reaktionen einer Person, die sie in belastenden oder bedrohlichen Situationen zeigt, verstanden (Silver/Wortmann 1980) oder als Summe aller problemlösenden Anstrengungen, die einer Person zur Verfügung stehen, bezeichnet (Lazarus/Launier 1978). Heim (1998) verweist auf eine weitere Entwicklungslinie, die sich aus der Soziologie (Mechanic 1974) ableitet und Coping als Teil eines interaktiven Anpassungsvorgangs beschreibt, der darauf ausgerichtet ist, die Anforderungen des sozialen Umfeldes zu erfüllen. Mechanic kritisiert, dass sich die bisherige Stress- und Copingforschung zu einseitig mit den Fähigkeiten des Individuums beschäftigt, schwierige Situationen zu meistern. Sozialstrukturelle Variablen würden bei dem Anpassungsprozess zu wenig einbezogen. Darüber hinaus merkt er an, dass Stress überwiegend als Einzelereignis betrachtet wird und nicht als komplexes Gefüge von Bedingungen, die sich verändern und die eine Geschichte und eine Zukunft haben. Er hebt also die Beziehung zwischen Sozialstruktur und Bewältigung sowie den Aspekt der Zeit und den damit verbundenen Prozesscharakter der Anpassung hervor, die in die weitere Bewältigungsforschung einfließen. In die gleiche Zeit fällt die Entstehung der Lebensereignisforschung, die sich zunächst unter anderem mit dem Zusammenhang von Lebensereignissen und Krankheit befasst und die später bedeutende Beiträge zur Untersuchung von Krankheitsbewältigung leistet (z. B. Filipp 1990a u. b; Meier 1992) und die nach Lazarus (1990) partiell identisch mit der Stressforschung ist.
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1.4.2 Inhaltlicher Überblick über die Bewältigungsforschung Eine ausführliche Darstellung der unterschiedlichen theoretischen Ansätze zur Klassifikation von Krankheitsverarbeitung findet sich in der umfassenden Beschreibung von Bewältigungsprozessen bei chronischen Erkrankungen bei Beutel (1988), einen zusammenfassenden Überblick über den Erkenntnisstand der 90er Jahre zu Coping gibt Heim (1998). Wagner (2004) analysiert kritisch den Stand der bisherigen Krankheitsbewältigungsforschung. Während verschiedene Ansätze die Konzepte von Abwehr und Coping voneinander abgrenzen und Merkmalsunterscheidungen herausarbeiten (z. B. Beutel 1990; Haan 1977; Prystav 1981), in denen Coping beispielsweise häufig mit bewusstem, Abwehr mit unbewusstem Verhalten verbunden wird, vertreten andere eine integrative Sichtweise, die Überschneidungen und Ähnlichkeiten in den Vordergrund rückt (z. B. Cohen/Lazarus 1980; Kächele/Steffens 1988). In Anlehnung an Lazarus definiert Heim Coping in Bezug auf Krankheit als das Bemühen “bereits bestehende oder zu erwartende Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln zu reduzieren, auszugleichen oder zu verarbeiten" (1988, S. 9). Dabei wird nicht automatisch davon ausgegangen, dass die von der Person gezeigten Verhaltensweisen erfolgreich oder hilfreich sein müssen, was im übrigen eine Klärung erfordern würde, was diese Begriffe in dem Zusammenhang bedeuten und wer die Bedeutung definieren würde. Auf den hier angesprochenen Aspekt der Effektivitätsmessung wird unten noch einmal eingegangen. Die gängigste Unterteilung von Copingformen stammt von Lazarus und Folkmann (1984), die zwischen problemfokussierten und emotionsfokussierten Copingbemühungen unterscheiden. Zu problemfokussierenden Bewältigungsstrategien gehören Anstrengungen, das Problem zu definieren, Alternativlösungen zu finden, Aufwand und Nutzen verschiedener Maßnahmen gegeneinander abzuwägen, das Veränderbare zu verändern oder sich gegebenenfalls neue Kompetenzen anzueignen. „Problemfokussierende Anstrengungen können nach außen gerichtet sein, um einen Aspekt der Umwelt zu verändern, oder nach innen, um das gleiche mit einem Aspekt des Selbst zu tun“ (Rice 2005, S. 35). Emotionsfokussierende Strategien dienen dazu, die emotionale Belastung abzumildern. Dazu zählen beispielsweise „Distanzierung, Vermeidung, selektive Aufmerksamkeit, Beschuldigung, Verniedlichung, Wunschdenken, Gefühlen Luft machen, Streben nach sozialem Rückhalt, körperliche Betätigung und Meditation“ (ebd.). Diese Aufzählung verdeutlicht, dass Lazarus bereits in seinen frühen Konzepten zu Coping (1966) das Abwehrkonzept integriert hatte, während Haan (1977) Abwehr von Coping abgrenzt und darüber hinaus in ihrer Arbeit auf ein Verhältnis zwischen Belastung und Bewältigungsmöglichkeiten verweist. Ein anderer Ansatz analysiert Verarbeitung auf den unterschiedlichen Ebenen der Handlung, Kognition und Emotion (Heim/Augustiny/Blaser 1983). Ansätze von Cronkite und Moos (1984) oder Filipp und Klauer (1988) heben den Aspekt der Zu- und Abwendung zur Belastung hervor. Das Transaktionsmodell von Lazarus und Folkman (1984) geht abweichend von einer früheren Betonung der Verarbeitung als Persönlichkeitsdimension davon aus, das auch situative Faktoren entscheidend für Verarbeitungsbemühungen sind. Es stellt das Prozessverständnis in den Vordergrund und bezieht die Beteiligung des sozialen Umfeldes in die Betrachtung mit ein (vgl. Muthny 1994). Bezüglich der Frage, ob die Persönlichkeit oder die Belastungssituation bestimmend für die Auswahl eines Copingverhaltens sei, vertritt Lazarus (1993) die Ansicht, dass Coping als Eigenschaft und als Prozess betrachtet werden kann. Es kann
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daher sowohl stabil als auch variabel sein (vgl. auch Heim 1998; Kollmar 2003). Felton und Revenson (1984) und Feifel, Strack und Tong (1987) kamen ebenfalls zu dem Schluss, dass neben situativen auch persönlichkeitsabhängige Kriterien von Bedeutung und damit die jeweiligen Bewältigungsformen multifaktoriell bestimmt sind (vgl. auch Heim 1998). In den vielfältigen Bewältigungsformen von chronisch erkrankten Menschen lassen sich persönlichkeitsspezifische Muster erst durch die qualitative Analyse von individuellem Verhalten erkennen (ebd.). Entsprechende Untersuchungen zeigen individuell bevorzugte Copingmuster auf (z. B. Muthny/Koch 1997; Weis/Koch u. a. 1998), die im Verlauf der Zeit auch variieren können (vgl. Heim 1998). In einer Untersuchung von Morbus Crohnpatienten stellen Norman und Kordy (1991) fest, dass die uniforme Krankheitserwartung der neu Erkrankten zu einer starken Homogenität des Copingmusters beiträgt. Die Copingmuster bei den chronisch Kranken sind im Kontrast dazu viel heterogener, was mit der individuell entwickelten Bewältigungserfahrung über die Zeit erklärt wird (vgl. Heim 1998). Diese Ergebnisse verweisen auf Lernprozesse im Umgang mit der Krankheit im biographischen Verlauf. Nach einer Analyse der Coping-Literatur benennt Muthny (1994, S. 20) folgende Dimensionen als wichtigste Wege der Krankheitsverarbeitung: Informationssuche, Wahrnehmungsabwehr bzw. Vermeidung, Wunschdenken, Selbstanschuldigung (vs. Schuldabwehr), Problemanalyse und Bewertung, planvolles Handeln, Gefühle ausleben, Kontrolle der Gefühle und des Ausdrucks, Spannungsreduktion, Ersatzbefriedigung, Carpe-diem-Haltung, Auflehnung und Selbstmitleid, Optimismus-Strategien, Selbstaufwertung, Ablenkung, Akzeptieren, depressive Verarbeitung/Resignation, Sinngebung, Religiosität, Compliance-bezogene Strategien, Misstrauen gegenüber den Ärzten, Altruismus, Zweckpessimismus/Galgenhumor, Relativierung durch Vergleich, regressive Wünsche, Inanspruchnahme sozialer Unterstützung und sozialer Rückzug. Im Hinblick auf die Frage, ob Krankheitsverarbeitung eher krankheitsspezifisch oder aber generalisierbar ist, stellt Heim (1998) tendenziell fest, das besonders in Bezug auf chronische Erkrankungen eine weitgehende Übereinstimmung der Bewältigungsmuster besteht, die unabhängig von der untersuchten Krankheitsform ist. In einer vergleichenden Studie an Nierenkranken, Apoplexiepatienten, Krebskranken und Patienten mit rheumatoider Arthritis untersuchte Broda (1987) die Bewältigung von unterschiedlichen chronischen Erkrankungen und fand kaum Unterschiede im Bewältigungsverhalten. Auch andere Forscher bestätigten in ihren Untersuchungen dieses Ergebnis (z. B. Feifel/Strack/Tong 1987; Klauer/Ferring/Filipp 1989; Muthny/Koch 1997) und zeigten sich überrascht, dass Patienten mit so unterschiedlichen Diagnosen wie koronarer Herzkrankheit, Niereninsuffizienz, Krebsformen unterschiedlicher Lokalisation, multipler Sklerose und rheumatischen Krankheiten überwiegend ähnliche und nur wenige spezifische Copingformen aufwiesen. Für die vorliegende Untersuchung bildete die Feststellung einer weitgehenden Übereinstimmung des Bewältigungsverhaltens unabhängig von der spezifischen Erkrankungsart den Hintergrund der Entscheidung, Interviewpartner mit unterschiedlichen Erkrankungen für eine Befragung auszuwählen. In einem Überblicksmodell zur Copingstruktur aus medizinhistorischer Perspektive von Dietrich v. Engelhardt (1983) wirken sowohl die kulturhistorisch ausgeformten und die aus der Erziehung resultierenden als auch die in den gegenwärtigen Umständen des Krankseins gegebenen Einflüsse auf den erkrankten Menschen und sein Verhalten ein. Er reagiert mit Wahrnehmungen, Bewertungen und Verhalten auf die Bereiche „Krankheit“, „Medizin“ und „Leben“. Im Bereich der Krankheit beschreibt v. Engelhardt vier Reaktionsfor-
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men: den Aggravierer, der die Krankheit übertreibt, den Minimisierer, der sie unterschätzt, den Negierer, der sie verleugnet und den Akzeptierer, der sie annimmt (ebd., S. 86). Im Bereich der „Medizin“ reagiert der erkrankte Mensch auf den Arzt, die pflegenden Personen und die medizinischen Institutionen. Hier können kooperatives und unkooperatives Verhalten unterschieden werden. Der dritte Bereich schließlich beinhaltet „die Reaktion auf das Leben, auf die durch die Krankheit verursachten sozialen und beruflichen Veränderungen, auf das durch die Krankheit betroffene Selbstverständnis. In diesem Bereich finden sich die Extreme des konstruktiven und destruktiven Verhaltens: Dem Kranken kann die Integration gelingen, er kann aber auch scheitern und in seinem Leben keinen Sinn mehr erblicken und es sogar beenden“ (ebd. S. 87). Im Zusammenhang mit der dargestellten Strukturierung weist v. Engelhardt auf die Grenzen jeder Typisierung hin, betont jedoch auch die in ihnen vorhandenen Anhaltspunkte und die durch sie mögliche Verdeutlichung wesentlicher Unterschiede. Als Voraussetzungen der Copingprozesse benennt er neben historischen, ethnischen und sozialen Faktoren das Alter, das Geschlecht und die Persönlichkeit. Abgesehen von der Dimension der biographischen Zeit bezieht dieses Modell vielfältige Aspekte in den Prozess der Krankheitsbewältigung ein und führt die Komplexität des Themas vor Augen. Wie oben bereits deutlich wurde, kann sich die Krankheitsverarbeitung oder bewältigung sowohl auf das Individuum selbst wie auch in systemischer Betrachtung auf eine Sozialstruktur beziehen (vgl. Muthny 1994). Unter der zuletzt genannten Perspektive untersucht beispielsweise Gerhardt die Patientenkarriere und das sozialökonomische Coping bei Familien mit einem von Niereninsuffizienz betroffenen Mitglied (1986) sowie die Handlungsrationalität von Herzpatienten am Scheideweg zwischen Beruf und Berentung (1999), Mattern die Situation der Angehörigen von an Multipler Sklerose erkrankten Personen (2001), Goffman die Patientenkarriere von psychisch Kranken im Zusammenhang mit totalen Institutionen (1972) sowie die Stigmatisierung durch Krankheit und Formen der Krankheitsbewältigung (1975). Glaser und Strauss befassen sich mit Krankenerfahrungsprozessen und deren Bewältigung bei Betroffenen und dem Krankenhauspersonal (1968, 1974) sowie Corbin und Strauss (1993) mit Bewältigungsprozessen bei Betroffenen und ihren Familien. Auf einige der genannten Untersuchungen wird unten noch einmal ausführlicher eingegangen. Darüber hinaus sind hier die Arbeiten von Fischer (1985, 1986) zu nennen, in denen er sich mit Zeit, Krankheit und Reparaturstrategien im Zusammenhang mit einer Verletzung der Zeit- und Erwartungsstrukturen durch die Erkrankung auseinandersetzt und die unten im Zusammenhang mit Zeit und biographischer Perspektive beleuchtet werden. Weiterhin werden Arbeiten im Zusammenhang mit der Bewältigungsforschung, die explizit Sinn und Lebensorientierungen thematisieren (z. B. Antonovsky 1987a u. b, 1997; Gerdes 1986; Haase 2000; Meier 1992), unten in einem eigenen Kapitel behandelt. Zunächst soll jedoch der Frage nachgegangen werden, wann eine Bewältigung als geeignet oder als ungeeignet erscheint.
1.4.3 Geeignete oder ungeeignete Bewältigung? Filipp (1990b) benennt zwei Schwierigkeiten bei der Messung von Krankheitsbewältigung. Als „Abgrenzungsproblem erster Ordnung“ (ebd., S. 25) führt sie die Schwierigkeit an,
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dass viele Erscheinungsformen von Verhalten, die im Zusammenhang mit Bewältigung auftreten, gleich oder ähnlich sein können mit Erscheinungsformen von Verhalten, die nicht im Dienst von Krankheitsbewältigung stehen. So kann beispielsweise das Neuordnen von Prioritäten im Leben sowohl im Zusammenhang mit den Herausforderungen einer Krankheit erfolgen als auch Phasen erhöhter Selbstreflexivität markieren. Daher, so Filipp, konstituiert sich der Gegenstand „Krankheitsbewältigung“ durch sein relationales Gegenüber, also durch die je individuell vorfindbaren Anforderungen. Das Problem der Effektivitätsmessung in Verbindung mit Bewältigung wirft Filipp als „Abgrenzungsproblem zweiter Ordnung“ (ebd., S. 26) auf, indem sie fragt, wann und unter welchen Bedingungen ein Bewältigungsverhalten als gelungen gelten könne und nach welchen Zielkriterien und zu welchem Zeitpunkt dies messbar sein könnte. Ob Bewältigungsverhalten erfolgreich ist, „lässt sich jeweils nur im Hinblick auf die Bewältigungsaufgaben und avisierten Zielzustände, nie aber in einem umfassenden Sinne bestimmen“ (ebd., S. 27f.). Auch Heim (1998) verweist auf die Schwierigkeit, allgemeine Aussagen zu gelungenem oder weniger gelungenem Bewältigungsverhalten zu machen. Nach Sichtung der Literatur zur psychosozialen Anpassung bei Krebserkrankungen, in deren Bereich die meisten Arbeiten vorliegen, kommt er zu folgender Einschätzung: „Gutes oder geeignetes Coping setzt ein aktives, zupackendes Verhalten des Patienten voraus, verbunden mit der Befähigung, soziale und emotionale Ressourcen zu mobilisieren, d. h. vom Umfeld Unterstützung zu erwirken. Eine realistische Einschätzung der Problemsituation und der sich daraus ergebenden Optionen trägt ebenso zur geeigneten Anpassung bei wie ein Akzeptieren unveränderlicher Bedingungen. Phasenbezogen kann auch Verleugnen oder Ablenken entlastend wirken“ (ebd., S. 329). Heim betont, dass diese Aussage nicht abschließend oder generalisierbar verstanden werden darf, sondern lediglich einen Trend aufzeigt. Zugleich gibt er zu bedenken, dass im Hinblick darauf, was geeignete oder erfolgreiche Bewältigung meint, die individuellen Unterschiede viel größer sein dürften als im Vergleich zu einer ungeeigneten oder nachteiligen Bewältigung. In Bezug auf letztere gelangt er zu folgenden allgemeinen Zusammenhängen. „Nachteilig oder ungeeignet ist passives Coping im Sinne von Resignation, Aufgeben, Hoffnungslosigkeit, sozialem Isolieren, Grübeln und Selbstanklage. Verleugnung, die über die Initialphase hinausdauert, kann (muss aber nicht) nachteilig sein, wie auch u. U. Ablenken (von den Chancen und Aufgaben des Heilungsprozesses) ungünstig auf die psychosoziale Adaption wirkt“ (ebd., S. 329). Diese aus der Analyse empirischer Untersuchungen abgeleiteten Aussagen entsprechen theoretischen Effektivitätsbestimmungen, in denen das realitätsbezogene, situationsflexible Herangehen an Probleme als effektiv gilt, das mit einer Emotionskontrolle gepaart ist, die es ermöglicht, die Probleme zu bearbeiten. Dagegen wird passiv-resignatives, der Realität entfliehendes, defensives und emotionsbetontes Verhalten als dysfunktional gewertet (ebd., S. 329). Bezogen auf die Effektivitätsmessung von Coping gelangt Heim zusammenfassend zu dem Schluss, das zwar Gruppentendenzen darüber, was geeignete oder ungeeignete Bewältigung sei, zunehmend ersichtlich werden, jedoch über die individuellen Zusammenhänge noch zu wenig Wissen vorhanden ist (ebd., S. 333). Ebenfalls ist die Bewertung der Krankheitsbewältigung im Zusammenhang mit dem Zeitpunkt der Beobachtung zu sehen. Auf der einen Seite kann sich das Bewältigungsverhalten in verschiedenen Phasen des Krankheitsverlaufs wandeln, wenn sich die jeweiligen Bedingungen des Lebens mit der Krankheit verändern. Auf der anderen Seite muss die Form der Bewältigung in Bezug auf die veränderten Bedingungen unter Umständen anders bewertet werden. Dies gilt sowohl für kurzfristige als auch für
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langfristige Wandlungsprozesse. Aus biographischer Sicht sind beispielsweise bei einem Vergleich einer Untersuchung nach fünf Jahren mit einer weiteren Untersuchung nach 20 Jahren in Abhängigkeit von verschiedenen Faktoren wie beispielsweise Krankheitsverlauf, Persönlichkeit oder soziale Unterstützung deutliche Differenzen vorstellbar. Darüber hinaus ist jeweils kritisch zu prüfen, aus welcher Perspektive die Effektivität bewertet und wie Fremd- und Selbsteinschätzung aufeinander bezogen werden. Beurteilt der behandelnde Arzt, der Forscher, der von Krankheit betroffene Mensch oder auch seine Familie, ob die Bewältigung eher gelungen und geeignet oder ob sie ineffizient und ungeeignet ist? Ebenso kann der inhaltliche Aspekt von „Erfolg“ bei Professionellen als auch bei Laien weit gefasst sein (vgl. Muthny 1994) und bedarf jeweils einer eigenen Bestimmung. Schließlich ist zu bedenken, dass es in einem vorgestellten Kontinuum mit den Polen einer „guten“ oder „schlechten“ Krankheitsbewältigung viele Zwischentöne gibt. Diese Ausführungen verdeutlichen, wie komplex und vielschichtig der Bereich der Effektivitätsbestimmung ist und sollen auf die Problematik der Bewertung und Beurteilung von Krankheitsbewältigung hinweisen.
1.4.4 Die soziologischen Konzepte der Patientenkarriere und der Verlaufskurve Der Begriff der Karriere wurde Ende der 50er Jahre von Goffman bei der Analyse der „moralischen Karriere“ von psychiatrischen Patienten verwendet. In seiner Untersuchung vertritt er die These, dass nicht die Krankheit der wichtigste Faktor ist, von dem der psychiatrische Patient geprägt wird, sondern die totale Institution der Klinik, der er ausgeliefert ist. „Jede moralische Karriere und darüber hinaus jedes Selbst entwickelt sich im Rahmen eines institutionellen Systems, sei dies eine soziale Institution, wie eine Heilanstalt, oder ein Komplex von persönlichen und beruflichen Beziehungen“ (Goffman 1972, S. 166). Das Selbst wird konstituiert in einem sozialen System und ist daher weniger „Eigentum der Person, der es zugeschrieben wird, sondern sitzt eher in den Mustern sozialer Kontrolle, nach denen sich der Einzelne und die Personen seiner Umgebung verhalten“ (ebd.). In seinen Arbeiten über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität durch Stigmatisierung, die unter anderem auch im Zusammenhang mit Krankheit auftritt, führt Goffman die Auseinandersetzung mit Normalität und Anderssein weiter. Ein Stigma beeinflusst in verschiedener Weise soziale Situationen und führt zu entsprechenden Bewältigungsstrategien beim Träger des Stigmas, aber auch bei den normalen, nicht mit einem Stigma versehenen Personen, die an der Situation beteiligt sind. Normale üben eine Vielzahl an Diskriminationen aus, durch die die Lebenschancen von stigmatisierten Individuen wirksam, wenn auch oft gedankenlos, reduziert werden (vgl. Goffman 1974, S. 13). Aus dieser Feststellung von Goffman ergibt sich im Rahmen dieser Arbeit die Frage, in welcher Weise eine Stigmatisierung und die mit ihr verbundenen reduzierten Lebenschancen Einfluss auf die Lebensorientierung und die Lebensführung von erkrankten Menschen haben. Die Bewältigung einer Erkrankung und ihrer Folgen ist nicht nur von dem erkrankten Individuum, sondern auch von dessen Familie zu leisten. Um diesen Aspekt geht es bei der Untersuchung von Gerhardt (1986) zur Patientenkarriere und dem sozialökonomischen Coping bei Familien mit einem chronisch erkrankten Mitglied. In Anlehnung an Goffman wird von ihr die Patientenkarriere „im Schnittpunkt von Selbst und Gesellschaft als jene Stelle erkannt, an der das Typische und Strukturelle einer gesellschaftlichen Ordnung mit
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dem Biographischen oder Individuellen ineinander greift“ (ebd., S. 24). Gerhardt zeigt, „daß bei einer chronischen Erkrankung einer oder mehrere Status bedroht sind“ (ebd., S. 25) und nennt dabei den sozialökonomischen bzw. beruflichen Status, den finanziellen Status und den Familienstatus. Glaser und Strauss untersuchten ebenfalls die komplexen Bedingungen von Krankenerleidungsprozessen, insbesondere bei sterbenden Patienten, im Zusammenhang mit der professionellen Arbeit von Ärzten und Krankenschwestern (Glaser/Strauss 1968; Strauss/Glaser 1975). Zunächst beschreiben sie verschiedene parallele Karrieren wie die Krankenhauskarriere oder die persönliche Krankheitserfahrungskarriere bei den Kranken, dem Personal oder den Familienangehörigen und entwickelten daraus das Konzept der Verlaufskurve. In ihm verweisen die Autoren auf zwei Grundaspekte sozialer Prozesse des Erleidens: auf die zeitliche Ordnung von Erleidensprozessen und auf die wechselseitige Durchdringung von Abläufen professionell-organisationsinterner Arbeit zur Prozessierung von Erleidensvorgängen und subjektiven Erfahrungsabläufen bei den Betroffenen und dem Personal. Schütze greift dieses Konzept auf und verallgemeinert Verlaufskurven als interaktive und biographische Entfaltungsmechanismen des Erleidens als Pendant zu den biographischen Handlungsschemata und integriert sie in sein Konzept der Prozessstrukturen des Lebenslaufs (vgl. Schütze 1981, S. 97). Er kritisiert das Karriere-Konzept in Zusammenhang mit Krankheiterleben als „zu stark an jenes Paradigma rationalen sozialen Handelns gefesselt“ (Schütze 1981, S. 95) und favorisiert das Konzept der Verlaufskurve, da es seiner Meinung nach das Erleiden in den Vordergrund der Analyse rückt. Relevant für die soziologische Perspektive sei nicht die Kontinuität zu den erlebten Realitäten aus der Zeit vor der Erkrankung, sondern der Bruch des gewohnten Orientierungsrahmens. Gerhardt (1986) hält dem entgegen, dass für die Karriere des Kranken zwei gegenläufige Elemente strukturbildend seien. „Zum einen wirkt das Erleiden als Zerfall der unfragwürdigen sozialen Identität und Zukunftsorientierung, zum anderen wirkt das Handeln als sich gegen den Statusverlust stemmender Drang zur Wiederherstellung der gesellschaftlichen Verortung. Diese Duplizität von Handeln und Erleiden setzt voraus, dass beide analytisch auf einem Kontinuum angeordnet gedacht werden und Krankenkarrieren an verschiedenen Punkten ihres Ablaufs mehr oder weniger beides enthalten“ (ebd., S. 30). Corbin und Strauss (1993) untersuchen auf der Basis des Konzeptes der Verlaufskurve, wie Familien und Paare mit chronischer Krankheit umgehen und wie sich die Krankheit auf ihr Leben auswirkt. Ihr zentrales Konzept der Verlaufskurve bezieht sich auf den physischen Krankheitsverlauf und auf die Arbeit, die aufgrund der Krankheit notwendig ist und integriert daher Prozesse des Erleidens und des Handelns. "Zu einer Verlaufskurve gehören Verlaufskurvenphasen, Vorstellungen vom Krankheitsverlauf und vom Arbeitspensum sowie persönliche Lebensentwürfe für die nahe und die ferne Zukunft. Eine Verlaufskurve ist begleitet von unzähligen Konsequenzen für die Biographie des Menschen; z. B. verändert sich seine Beziehung zu seinem Körper, zum Selbst, zum Gefühl für biographische Zeit. Bei einer chronischen Krankheit ist der Körper behindert oder von einer Behinderung bedroht, was sich auf die Aktivitäten des Betroffenen auswirkt, manchmal auch auf seine äußere Erscheinung. In einer solchen Situation muß der Kranke viel ‚biographische’ Arbeit leisten, d. h. er muß die Krankheit in sein Leben integrieren, sich mit seiner Krankheit abfinden, seine Identität wiederherstellen bzw. seine Biographie neu entwerfen" (ebd., S. 11). Innerhalb der Verlaufskurve unterscheiden Corbin und Strauss verschiedene Verlaufskur-
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venphasen und beschreiben sie als Phasen der Renormalisierung, als stabile und instabile Phasen, als Phasen der Verschlechterung und als Phasen des Sterbens. Ein wesentlicher Aspekt innerhalb einer Verlaufskurve ist die Arbeit, die geleistet werden muss, wenn die Krankheit bewältigt werden soll. Die Arbeit findet in komplexen Zusammenhängen statt und wird von den Autoren in den drei Arbeitslinien „Krankheit“, „Alltag“ und „Biographie“ analysiert. Bei Überlegungen, nach welchen Mechanismen die Arbeit abläuft, wird das soziologische Konzept der Ausrichtung zugrunde gelegt. „Dem chronisch Kranken kann bei seinem Handeln die Richtung verloren gehen, so daß er seine Handlung neu ausrichten muß – was nicht nur durch Interaktion mit anderen Menschen, sondern auch durch die Interaktion mit dem eigenen Selbst geschieht“ (ebd., S. 12). Im Anschluss an den Bereich der biographischen Arbeit, den Corbin und Strauss als einen bedeutsamen Teil der Krankheitsbewältigung ansehen, soll im Mittelpunkt dieser Untersuchung der Prozess der biographischen Ausrichtung, der eventuell mit einer Umorientierung und einer Veränderung der Lebensentwürfe verbunden sein kann, stehen.
1.4.5 Krankheitsbewältigung und Zeit Die Dimension der Zeit stellt besonders bei einer chronischen Erkrankung einen bedeutungsvollen Aspekt dar, da die Krankheit in die gesamte Biographie bis zum Lebensende hineinwirkt. Der Aspekt der Zeit findet sich wieder in den oben angesprochenen Begriffen „Karriere“, „Verlauf“ oder „Prozess“ und den damit verbundenen Konzepten, denn diese beinhalten eine zeitliche Ersteckung. Ergänzend sind hier noch die Arbeiten von Fischer (1985, 1986) zu nennen, in denen er sich mit Zeit, Krankheit und Reparaturstrategien im Zusammenhang mit einer Verletzung der Zeit- und Erwartungsstrukturen durch die Erkrankung auseinander setzt. Er beschreibt die oben bereits dargestellte Verletzung der Idealisierung der Kontinuität, der Idealisierung der körperlichen Autonomie und der Idealisierung der sozialen Kooperation. Darüber hinaus befasst er sich mit chronischer Krankheit und deren Auswirkung auf die Alltagszeit und auf die Lebenszeit. In seiner Untersuchung von Personen, die von Arthritis oder von Nierenversagen betroffen sind, kommt er in Bezug auf die Alltagszeit zu dem Schluss, dass im Anschluss an die Auflösung der alltagszeitlichen Routinen und Rhythmen mit dem Auftreten der Erkrankung neue Routinen und Handlungsfrequenzen entwickelt werden. Da sich diese durch temporale Dauer und ständige Wiederkehr auszeichnen, handelt es sich nach Fischer formal um dieselben alltagszeitlichen Strukturen wie vor der Erkrankung, die lediglich verschiedene Inhalte aufweisen (vgl. Fischer 1986, S. 161). Diese Alltagsstruktur kann jedoch in Abhängigkeit von dem Krankheitsverlauf prekär und beispielsweise durch die Unsicherheit über die körperliche Verfassung des nächsten Tages latent unterbrochen sein. Die lebenszeitliche Struktur kann mit dem Auftreten akuter Krisen, im Verlauf der Entwicklung der Symptome und den sich daraus ergebenden Konsequenzen fraglich werden. Aus der Perspektive einer neuen Gegenwart konstituieren sich gegebenenfalls auch die Inhalte der Vergangenheit und der Zukunft neu in einer Bestimmung der personalen und sozialen Identität. Im Zusammenhang mit der Verletzung der Lebenszeitstruktur beobachtet er verschiedene Reparatur-Strategien. Eine Gruppe von Strategien nennt er „Reparatur durch Verschiebung der zentralen Lebensperspektive“. Die Lebenszeit schrumpft auf eine „Gegenwart ohne Zeitperspektiven zusammen, damit scheint Lebenszeit in der Alltagszeit aufgehoben zu sein“ (ebd., S. 168)
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oder die zentrale Lebensperspektive wird in die Vergangenheit verschoben. Als eine zweite Strategiegruppe zur Reparatur der lebenszeitlichen Zukunftslimitierung bezeichnet er die Technik des Einklammerns, bei der die betroffene Person lebt und plant, „als ob“ sie immer lebte (vgl. ebd.).
1.4.6 Lebensorientierung, Sinn und Krankheitsbewältigung In Verbindung mit chronischer Krankheit wird der Begriff Lebensorientierung in allgemeinen Aussagen zu Bewältigungsprozessen (z. B. Zaumseil 2000, S. 14) verwendet. Auch auf Krankheit bezogene Selbsthilfegruppen und Rehabilitationseinrichtungen benutzen ihn in dieser allgemeinen Weise, indem sie die Unterstützung bei der Lebensorientierung als einen Teilbereich ihrer Arbeit im Rehabilitationsprozess benennen. Außerhalb des Kontextes der Krankheitsbewältigung taucht der Begriff Lebensorientierung im Zusammenhang mit Zukunfts- und Berufsorientierung insbesondere bei Jugendlichen auf und darüber hinaus in Arbeiten, die sich mit religiöser Orientierung befassen. Lebensorientierung und Lebensführung werden ebenfalls als Thema der psychosozialen Beratung beispielsweise unter dem Gesichtspunkt der „veränderten Lebensbedingungen der sogenannten postmodernen Gesellschaft“ (Schubert/Busch 2004, S. 9) benannt. Es konnte keine Studie gefunden werden, die explizit die Lebensorientierung im Zusammenhang mit dem Einbruch einer chronischen Erkrankung und Prozessen der Bewältigung untersucht, jedoch ist der Aspekt der Lebensorientierung in einem Verständnis als biographisch relevante Orientierung in einigen Untersuchungen zur Krankheitsbewältigung enthalten. Hier sind zum Beispiel Corbin und Strauss (1993) zu nennen, die die biographische Orientierung als Teil der biographischen Arbeit im Prozess der Bewältigung ausweisen und Gerhardt (1999), die den Übergang in den Rentenstatus beziehungsweise die Fortsetzung der Berufstätigkeit nach einer koronaren Bypass-Operation untersucht. Der Aspekt der Lebensorientierung in einem Verständnis als biographisch relevante Orientierung ist ebenfalls in verschiedenen Untersuchungen enthalten, die Sinn thematisieren. Der Begriff Sinn taucht in Bezug auf Lebensziele, Bewertung der Krankheit, Ursache der Krankheit, Religiosität, Selbstkonzept und Identität in verschiedenen Arbeiten zur Krankheitsbewältigung auf. Sinngebung wird wiederholt als eine Bewältigungsstrategie neben anderen angeführt, selten jedoch genauer beleuchtet. In einigen Ansätzen und Untersuchungen (Antonovsky 1987a u. b, 1997; Gerdes 1986; Haase 2000; Meier 1992; Mehnert 2006) nimmt der Sinnbegriff jedoch eine zentrale Stellung ein. Sie sollen im Folgenden dargestellt werden. Antonovsky (1987a u. b, 1997) entwickelt das Konzept des Kohärenzgefühls als generalisierte Widerstandsressource, die Prozesse des Gesundbleibens oder Gesundwerdens unterstützt. Ausgehend von dem Modell der Salutogenese, das sich im Gegensatz zu einer pathologischen Orientierung mit den Ursprüngen von Gesundheit befasst, fragt er danach, warum Menschen gesund bleiben oder sich auf Gesundheit zubewegen (vgl. Antonovsky 1997, S. 15). Dabei legt er zugrunde, dass Gesundheit und Krankheit die Pole eines Kontinuums bilden, der Mensch also immer mehr oder weniger gesund und krank gleichzeitig ist und die Position auf dem Kontinuum über den gesundheitlichen Gesamtzustand entscheidet. Zu der Frage, was die Position zwischen diesen Polen verändern kann, schreibt er: „Die Antwort, die ich auf die salutogenetische Frage entwickelte, war das Konzept des Kohärenzgefühls (SOC). Das allen generalisierten Widerstandsressourcen gemeinsame – so mein
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Ansatz – ist, daß sie es leichter machen, den zahllosen Stressoren, von denen wir fortlaufend bombardiert werden, einen Sinn zu geben. Dadurch, daß sie einen fortlaufend mit solchen sinnhaften Erfahrungen versorgen, schaffen sie mit der Zeit ein starkes Kohärenzgefühl“ (ebd., S. 16). Dabei will Antonovsky nicht generell auf die pathogenetisch orientierte Fragestellung verzichten, sondern mit der Salutogenese den Blickwinkel in Hinsicht auf die Entstehung von Gesundheit erweitern. Es geht nicht mehr nur um die ausschließliche Bekämpfung von krankmachenden Einflüssen wie Risikofaktoren und Stressoren, sondern der salutogenetische Ansatz setzt zusätzlich auf die Stärkung von Ressourcen, um den Organismus gegen schwächende Einflüsse widerstandsfähiger zu machen. Antonovsky bezeichnet das Kohärenzgefühl – auch „sense of coherence“ – als globale Orientierung oder Grundhaltung, für die er drei Komponenten identifiziert hat, die sowohl kognitive als auch affektiv-motivationale Aspekte vorweisen. Als erste Komponente benennt er das Gefühl von Verstehbarkeit, womit er die Erwartung beziehungsweise die Fähigkeit eines Menschen bezeichnet, Reize als geordnete, strukturierte, konsistente Informationen verarbeiten zu können und nicht mit chaotischen, unerklärbaren und willkürlichen Reizen konfrontiert zu sein. Die zweite Komponente bildet das Gefühl von Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit und beschreibt die Überzeugung eines Menschen, dass Schwierigkeiten lösbar sind. Antonovsky definiert es als das „Ausmaß, in dem man wahrnimmt, daß man geeignete Ressourcen zur Verfügung hat, um den Anforderungen zu begegnen“ (ebd., S. 35). Das Gefühl von Sinnhaftigkeit nennt er als dritte Komponente. Dieser Aspekt des Kohärenzgefühls, den Antonovsky als den wichtigsten ansieht, beinhaltet das Ausmaß, in dem man das Leben als emotional sinnvoll empfindet. "Diejenigen, die nach unserer Einteilung ein starkes SOC hatten, sprachen immer von Lebensbereichen, die ihnen wichtig waren, die ihnen sehr am Herzen lagen, die in ihren Augen 'Sinn machten' – und zwar in der emotionalen, nicht nur der kognitiven Bedeutung des Terminus. Ereignisse, die sich in diesem Bereich abspielten, wurden tendenziell als Herausforderung und als wichtig genug angesehen, emotional in sie zu investieren und sich zu engagieren" (ebd., S. 35). In diesem Verständnis ist Sinn mit Motivation und Engagement in persönlich bedeutsamen Lebensbereichen verbunden. Antonovsky geht davon aus, dass das Kohärenzgefühl im Laufe der Kindheit und Jugend entwickelt wird und eine Veränderung im Erwachsenenalter nur noch begrenzt und meist nur durch eine radikale Veränderung der sozialen und kulturellen Einflüsse oder der strukturellen Lebensbedingungen möglich ist. Es gibt jedoch Hinweise in anderen Untersuchungen, dass das Kohärenzgefühl mit dem Älterwerden eher zunimmt (vgl. Rimann/Udris 1998; Sack/Künsebeck/Lamprecht 1997). Im Hinblick auf die Lebensorientierung könnte das Kohärenzgefühl so verstanden werden, dass es die Fähigkeit beinhaltet, eine Lebensorientierung im Sinne einer gewünschten oder akzeptierten biographischen Orientierung auch bei bedeutsamen Verlusten oder Einschränkungen immer wieder herstellen zu können. Der von Antonovsky entwickelte Fragebogen zum Kohärenzgefühl trägt die Überschrift „Fragebogen zur Lebensorientierung“ (1997, S. 192) und erfragt die Ausprägung der drei oben beschriebenen Komponenten der Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit als grundlegende Einstellung zum Leben beziehungsweise als grundsätzliches Lebensgefühl, er untersucht allerdings nicht den Inhalt oder den Verlauf von biographisch relevanten Orientierungen. In ihrer psychologischen Untersuchung zu Sinnsuche und Sinnfindung im Umfeld eines kritischen Lebensereignisses, hier expliziert in Form einer Krebserkrankung, unter-
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scheidet Meier (1992) zwei Konzeptionen der Sinnfrage. Die „ereigniszentrierte Sinnfrage“ (ebd., S. 43ff) ist auf das Ereignis der Krankheit gerichtet und versucht mit der Frage: „Warum ich?“ die Ursachen zu verstehen und zu klären. Davon ausgehend, dass ein kritisches Lebensereignis wie eine Krebserkrankung zu einer existenziellen Sinnkrise führen kann „umfaßt eine Sinnfindung nicht nur die Klärung der Warum-Frage, sondern eine umfassende Konstruktion resp. Rekonstruktion der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Lebenspraxis im Lichte dieses Ereignisses. Ziel einer solchen Sinnfindung ist die Sicherung oder Wiederherstellung eines persönlichen Lebenssinns“ (ebd., S. 48). Meier konzipiert aus dieser Schlussfolgerung die „existenzielle Sinnfrage“ (ebd.), die Sinnfindung über die „Reformulierung von Lebenszielcommitments“ (ebd.) untersucht. Sie stützt sich dabei auf Klinger, der als Vertreter einer motivationstheoretischen Sicht des individuellen Sinnerlebens (1977) den Prozess des Aufbaus und der Loslösung von Zielbindungen beschreibt. Aus verschiedenen möglichen Anreizen wählt eine Person konkret einige aus, zu denen sie ein Verpflichtungsgefühl, ein Commitment aufbaut. Aus einem Anreiz wird so ein Ziel, durch das die Ausrichtung, die Wahrnehmung, die Erinnerung, die kognitiven Prozesse und die Handlungen der Person beeinflusst werden. Ein Motivationsvorgang ist abgeschlossen, wenn ein Ziel erreicht wird. Wenn dies durch situative Einflüsse nicht mehr oder nur noch teilweise möglich ist, beginnt ein Disengagement-Prozess, der eine Loslösung von nicht mehr erreichbaren Zielen zur Folge hat. Das ist nach Klinger bedeutsam für das individuelle Sinnerleben und macht eine erneute Zielbindung in einer veränderten Ausgangssituation erst möglich. Durch Neukonstruktion von Zielen und durch Zielverschiebungen innerhalb der bestehenden Hierarchie von Zielbindungen kann der Zielverlust kompensiert werden (vgl. Meier 1992, S. 50). Wenn die Kompensation nicht gelingt, kann sich ein Zustand der Sinnlosigkeit einstellen. Meier verweist hier auf das Konstrukt der Hoffnungslosigkeit von Krampen (1979), in dem eine hoffnungslose Person es aufgrund einer negativen Erwartungshaltung unterlässt, Ziele neu zu formulieren. Studien aus der gerontologischen Forschung verweisen ebenfalls auf die Strategie der Angleichung eigener Zielprioritäten älterer Menschen an die veränderten Lebensumstände (vgl. Dittmann-Kohli 1988; Hofstätter 1986). Das „Zufriedenheitsparadox“ besagt, dass sich ältere Menschen trotz häufigerer Konfrontation mit Verlusten in Messungen zum Wohlbefinden nicht signifikant von Jüngeren unterscheiden. Häufig werden dabei nicht mehr erreichbare Ziele abgewertet, während andere, die im Bereich der Möglichkeiten liegen, eine Aufwertung erfahren. Aus der Sicht des von einem kritischen Lebensereignis Betroffenen kann die Auseinandersetzung mit der Situation auch als eine „Sinn-Bereicherung“ (Carter 1985, S. 78) erlebt werden, in der Ziele neu entdeckt oder alte Ziele neu bewertet werden und sich die Chance zu einer neuen Lebensgestaltung bietet (vgl. Meier 1992). In der Untersuchung von Meier wurde unter anderem die Veränderung der Wichtigkeit der Lebensziele mittels eines Fragebogens mit 21 Items aktuell und retrospektiv vor Krankheitsbeginn erfasst. Als Lebensziele konnten beispielsweise materieller Wohlstand/ Sicherheit; Selbstachtung (eigene Wertschätzung); Tüchtigkeit, beruflicher Erfolg; gesellschaftlicher Einfluss und Ansehen; Selbstverwirklichung (Realisierung eigener Wünsche und Fähigkeiten); Vergnügen, Frohsinn (genussreiches, gutes Leben); harmonisches Familienleben u. a. nach persönlicher Relevanz bewertet werden. Zusammenfassend kommt Meier nach der Auswertung der Daten zu dem Schluss, dass die Vergleichsgruppe gesunder Probanten „ihre Vergangenheit eher in der Weise rekonstruiert, daß ein Bild hoher Stabilität resp. personaler Kontinuität in den individuellen Lebenszielcommitments entsteht, während
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die Tumorpatienten im Vergleich dazu deutliche Veränderungen in ihren Lebenszielcommitments aufweisen“ (ebd., S. 141). Inhaltlich lässt sich die Abwertung der Wichtigkeit und der Erreichbarkeit erfolgsorientierter Lebensziele, zu denen sie Beruf, Pflichterfüllung oder materiellen Wohlstand zählt, „am deutlichsten als tumorspezifische Veränderung interpretieren“ (ebd., S. 172). Als weiteres Ergebnis ihrer Untersuchung stellt sie fest, dass durch ihre Daten die von anderer Seite (z. B. Frankl, 1972) angenommene, universelle Aktualität der Sinnsuche besonders in Krisensituationen nicht bestätigt wird, denn „für fast ein Drittel resp. fast die Hälfte der 150 befragten Personen hat die Suche nach Ursachen resp. die Suche nach einer veränderten Lebenssinndefinition weder rückblickend zum Diagnosezeitpunkt noch zum Erhebungszeitpunkt im Aufmerksamkeitsfokus gestanden“ (Meier 1992, S. 163). Allerdings stellt Meier eine signifikant höhere positive Veränderungswahrnehmung der Erkrankten bezüglich Sinnerfüllung gegenüber der Kontrollgruppe bei gleichzeitig höherem Ausmaß an negativen Emotionen und geringerem Vorkommen von positiven Emotionen fest (ebd., S. 168ff). In dem Zusammenhang verweist sie auf eine Untersuchung von Thomas und Weiner (1974), bei der ein signifikant höheres Ausmaß an Sinnerfüllung bei schwer Erkrankten gegenüber einer Gruppe von Patienten mit einer leichteren Erkrankung festgestellt wurde und auf Ergebnisse einer Studie von Sellschopp (1989) über signifikant höhere Zufriedenheitswerte bei Krebspatienten fünf Jahre nach Diagnosestellung im Vergleich zu einer gesunden Kontrollgruppe. Sellschopp kritisiert in dem Zusammenhang, dass dem Konzept der Lebenszufriedenheit „die Dimension fehlt, dass das Leben sinnvoller werden kann, obwohl körperliche Verfassung und Funktionstüchtigkeit abnehmen und eher Schmerz, Trauer, Depression und Angst das Leben bestimmen“ (ebd., S. 11). Die Befunde der angeführten Untersuchungen verweisen erneut auf die bereits oben diskutierte Vielschichtigkeit der Sinnfrage und darüber hinaus auf die Komplexität von Bewältigungsprozessen bei chronischer Erkrankung sowie auf die ebenfalls oben bereits dargestellte Problematik ihrer Bewertung. Aufgrund der Ergebnisse von Meier könnte man zu der Hypothese gelangen, dass sich zwar ein beträchtlicher Teil der Erkrankten nicht bewusst mit der Sinnfrage bezüglich der Ursachen der Erkrankung und neuen Lebenskonzeptionen auseinandersetzt, gleichzeitig aber in vielen Bereichen und Situationen eine Neubewertung von Lebenszielen stattfindet, die mit Prozessen der Reorganisation und Neuorientierung verbunden sind. Die inhaltliche Bedeutung der Items in ihrem lebensweltlichen Kontext und der Prozess der Reorganisation der persönlichen Relevanzsetzungen können in der Anlage der Untersuchung jedoch nicht nachvollzogen werden. Mehnert (2006) befasst sich mit Sinnfindung und Spiritualität bei Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen. Unter anderem fragt sie nach der Bedeutung existenzieller Themen bei chronischer Krankheit, dem Stand der empirischen Forschung zum Zusammenhang zwischen Sinnfindung bzw. Spiritualität und dem psychischen Befinden sowie der Lebensqualität der Patienten, nach Instrumenten zur Erfassung beider Konstrukte und darüber hinaus nach Interventionen für die Praxis, die Patienten in Bezug auf Sinnfindung und Spiritualität unterstützen. Verschiedene, überwiegend in den USA durchgeführte, Untersuchungen verweisen nach Mehnert darauf, dass für einen bedeutenden Teil der untersuchten Personen Sinnfindung, religiöser Glaube und Spiritualität hilfreich bei der Krankheitsbewältigung sind. Beispielsweise wird der Glaube als moralische Stütze gesehen, der religiöse Identität und Sinn vermittelt oder durch die Ausübung von religiösen Ritualen und dem Gefühl der Verbundenheit mit Gott als eine Quelle der Hoffnung be-
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nannt. Die Autorin unterstreicht, dass angesichts der Bedrohlichkeit einer schweren Erkrankung und der Konfrontation mit der Endlichkeit des eigenen Lebens „die Themen Sinnfindung und Spiritualität häufig an Bedeutung“ gewinnen (ebd., S. 782). Zugleich stellt sie in Frage, in wieweit diese Ergebnisse auf Mitteleuropa und insbesondere auf Deutschland übertragbar sind und vermutet, dass die Bedeutung von Spiritualität und Religiosität zur Bewältigung von chronischen Erkrankungen von den Betroffenen hier etwas geringer eingeschätzt wird. Als Hintergrund sieht sie die geringere Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft und die geringere Integration religiöser Rituale in den Lebensalltag in Deutschland im Vergleich zu den USA. Insgesamt kommt Mehnert zu der Einschätzung: “Der Stand der empirischen Forschung zum Zusammenhang zwischen Sinnfindung, Spiritualität und körperlicher sowie psychischer Gesundheit und die hier zugrunde liegenden Mechanismen ist gegenwärtig allerdings unzureichend und lässt kaum belastbare Schlussfolgerungen zu. Mit Blick auf die psychosoziale Versorgung schwer kranker Patienten wurden international vor allem im Rahmen der palliativen Versorgung erste Interventionen entwickelt, die darauf abzielen, diese Menschen darin zu unterstützen, ihr Leben trotz der Erkrankung als sinnvoll zu erfahren und erfüllt zu leben“ (ebd., S. 781). Mehnert schließt in ihre Analyse sowohl Untersuchungen ein, die sich allgemein auf chronische Krankheit beziehen als auch solche, die sich auf schwer kranke Patienten mit palliativer und terminaler Behandlung konzentrieren und bei denen der Prozess des Sterbens im Vordergrund steht. Während bei letztgenannter Gruppe die noch zur Verfügung stehende Lebenszeit eng bemessen und der Übergang vom Leben zum Tod Thema der letzten Lebensphase ist, gibt der allgemeine Begriff der chronischen Erkrankung keinen Aufschluss über die Lebenssituation und lebenszeitliche Perspektive der betroffenen Personen. Das könnte bedeuten, dass sich ein Teil der untersuchten Erkrankten überwiegend mit der Frage „Wie sterben?“ befasst, während sich ein anderer mit dem „Wie leben?“ auseinandersetzt, was möglicherweise mit Unterschieden in der Bedeutsamkeit von religiösen bzw. spirituellen Fragen verbunden sein kann. In ihrer qualitativen Untersuchung zur Krankheitsverarbeitung von Menschen mit der chronischen Hautkrankheit Neurodermitis stellt Haase (2000) primär einen spezifischen Sinnbezug in den Mittelpunkt. Der Sinnaspekt wird von ihr unter der Fragestellung, welchen Sinn die Betroffenen ihrer Krankheit und deren Verarbeitung geben, untersucht. Hintergrund dieser Perspektive auf die Beziehung von Sinn und Krankheit ist eine ganzheitlich-psychosomatische Sichtweise in Anlehnung an von Weizsäcker (1951, 1973). Haase merkt an, dass es ihr bei ihrer Fragestellung nicht wie in vielen anderen Studien zur Krankheitsbewältigung darum geht, den komplexen Prozess der Krankheitsverarbeitung zu zerlegen und sich mit Einzelstrategien zu beschäftigen, sondern stattdessen die Lebenszusammenhänge der Betroffenen in die Untersuchung einzubeziehen. In der Präsentation ihrer Ergebnisse beschreibt sie die Krankheitsverarbeitung als einen ausgeprägt individuellen Entwicklungsprozess und findet eine große Bandbreite an Verarbeitungsmöglichkeiten, die erst mittels Durchdringung der Lebenszusammenhänge sinnhafte Bedeutung erlangen. Die Befragten ihrer Studie „ziehen ihr Resümee im Rückblick auf ihre biographische Entwicklung und geben der Erkrankung einen Sinn darin. Dieser Sinn ist dann jeweils richtungsweisend für die im weiteren angestrebte Entwicklung“ (2000, S. 125). Im Zentrum dieser Studie steht also der Sinn als „Sinn der Krankheit“ im Kontext der Biographie, von dessen Interpretation die weitere persönliche Entwicklung, die Zukunftsentwürfe und somit die Richtung des Prozesses geprägt sind. Haase betont als ein Ergebnis ihrer Arbeit die Sicht
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auf Krankheit und deren Verarbeitung als eine Möglichkeit zu persönlicher Entwicklung, was angesichts des psychosomatischen Hintergrunds naheliegend scheint. Ein psychosomatisches Verständnis von körperlicher Krankheit als seelischer Selbstheilungsversuch (vgl. ebd., S. 126) und der Verweis auf die persönliche Entwicklung in der Auseinandersetzung mit Krankheit auf der Basis dieses Konzeptes eröffnet nach Haase die Chance, über das Kranksein hinauszugehen und nicht nur Einschränkungen, sondern auch Erweiterungen zu erfahren (vgl. ebd., S. 120). Neben dem Aspekt der Erweiterung, den Haase hier herausarbeitet, ist allerdings ebenfalls vorstellbar, dass Probleme entstehen können, wenn jemand dieses psychosomatische Verständnis nicht teilt, es aber an ihn herangetragen beziehungsweise er unter dieser Perspektive von anderen beurteilt wird. Auch der Versuch, unbewusste Inhalte aufzuarbeiten und zugleich mit einem gleich bleibenden oder sich verschlechterndem gesundheitlichen Zustand konfrontiert zu sein, könnte von dem erkrankten Menschen als Misserfolg der eigenen Bemühungen gedeutet und als (zusätzliche) Belastung empfunden werden. Die Krankheitsbewältigung ist in dem Ansatz von Haase verbunden mit einem Verständnis von Krankheit als zu verstehende Botschaft, als sinnvolles Korrektiv oder als Möglichkeit des Erkenntnisgewinns. So steht als eine bedeutsame Lebensorientierung die Aufgabe im Vordergrund, den Sinn der Krankheit in der eigenen Biographie zu entschlüsseln und gemäß der damit verbundenen Lernprozesse Anpassungen in Gegenwart und Zukunft vorzunehmen. Eine andere Forschungsrichtung verfolgt Gerdes (1986). Er untersucht die Lage von krebskranken Menschen aus wissenssoziologischer Perspektive und veröffentlicht seine Thesen unter dem Titel „Der Sturz aus der normalen Wirklichkeit und die Suche nach Sinn“ (ebd., S. 10). Orientiert an dem Ansatz der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Berger und Luckmann (1971) beschreibt er die in Sozialisations- und Internalisierungsprozessen herausgebildete Wirklichkeitssicht und Identität des Menschen, die durch die Erkrankung erschüttert werden. „Mit diesem Einbruch des total Unbeherrschbaren und Unverstehbaren ins Zentrum der eigenen Existenz wird notwendigerweise die gesamte Wirklichkeit, in der man sich bisher so kundig und relativ sicher bewegt hatte, brüchig. Und damit steht man der Welt, die man bisher mit den anderen Menschen bewohnt hat, plötzlich von außen gegenüber, und für die eigene Situation gibt es innerhalb dieser sozial vorgeprägten Welt keine sinnvolle Deutung mehr. Alle Sinnhaftigkeit, die man kennt, bezieht sich auf das Leben in dieser bekannten Welt – und in der ist man plötzlich nicht mehr zu Hause“ (Gerdes 1986, S. 26). Durch den Einbruch der Erkrankung stürzt man aus der bekannten Welt und findet sich im Unbekannten, Fremden wieder, dem (noch) keine Bedeutungen zugeordnet sind, in dem die auftretenden Phänomene den Sinn verloren haben, den sie zuvor hatten. Hier steht also unter anderem die Lebensorientierung deshalb in Frage, weil sie sich auf die bisher bekannte Wirklichkeit bezogen hat, die nun als Bezugspunkt verloren ist. Weiterhin beschreibt Gerdes Probleme der Interaktion und führt sie auf die veränderte Wirklichkeitssicht zurück. Nach dem „Sturz aus der normalen Wirklichkeit“ stehen die Erkrankten in der Kommunikation mit anderen vor einem Dilemma. „Einerseits ist der gewohnten Wirklichkeitssicht einschließlich des eigenen Selbstbildes der Boden entzogen worden, und alles ist auf einmal brüchig und ungewiß und bedrohlich; andererseits gelten auch für einen Krebskranken, der mit anderen Menschen in Interaktion treten will (oder muß), die normalen Regeln sozialer Interaktion: man muß dem anderen eine definierte Identität des eigenen Selbst anbieten, damit er überhaupt etwas hat, auf das
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er sich beziehen kann. Eben diese sozial präsentierbare Identität aber ist zerfallen – jedenfalls in der bisher gewohnten Form; was also soll man jetzt den anderen als Bild des eigenen Selbst zeigen?“ (ebd., S. 30). In diesem Zusammenhang entwickelt Gerdes eine alternative Interpretation dessen, was Nichtbetroffene bei Betroffenen bisher häufig als Krebspersönlichkeit gedeutet haben: „Vielleicht ist das ‚fassadenhafte Selbst’ bei vielen Krebskranken in Wirklichkeit weniger ein Ausdruck der Persönlichkeitsstruktur von Krebskranken als vielmehr ein Ausdruck der versperrten Kommunikation zwischen Betroffenen und Nichtbetroffenen“ (ebd., S. 31). Diese These lenkt den Focus darauf, wie eine durch Krankheit veränderte Situation gesunde und erkrankte Menschen in ihrer Interaktion beeinflusst. Es ist leicht vorstellbar, dass entsprechende Zuschreibungen zu weitreichenden Folgen in verschiedenen Lebensbereichen führen können. Schließlich soll unter dem Gesichtspunkt „Sinn“ beziehungsweise „Lebensorientierung“ noch einmal Bezug auf Corbin und Strauss (1993) genommen werden, auf deren Konzept der Verlaufskurve zur Beschreibung von Krankheitsbewältigungsprozessen oben bereits eingegangen wurde. In ihrem Modell der Verlaufskurve beschreiben die Autoren die biographische Arbeit als einen bedeutsamen Teil der Bewältigungshandlungen, denn für sie sind biographische Prozesse „von zentraler Bedeutung, wenn es darum geht, ein durch eine chronische Krankheit unterbrochenes Leben weiterzuführen. Durch diese Prozesse ist der Betroffene imstande, die Krankheit und die damit einhergehenden Veränderungen in sein Leben zu integrieren und seinem Dasein wieder einen Sinn zu geben" (ebd., S. 43). Die biographische Arbeit bezieht sich auf eine Gesamtkonzeption des Selbst, die Vorstellungen und Bewertungen darüber, wer man ist, über den eigenen Körper und über die eigene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft enthält und die Corbin und Strauss auch mit dem Begriff „Identität“ bezeichnen. Identität verändert sich im Laufe des Lebens ständig und entwickelt sich weiter. Mit unerwarteten, möglicherweise krisenhaften Lebensbedingungen wie beispielsweise einer chronischen Erkrankung können dabei besondere Veränderungen und Entwicklungen verbunden sein. „Wenn eine schwere chronische Krankheit in das Leben eines Menschen einbricht, löst sich seine gegenwärtige Existenz von seiner vergangenen Existenz ab; die Vorstellungen vom Selbst in der Zukunft sind getrübt oder sogar zerstört. Die Identität, die er in der Vergangenheit hatte und in der Zukunft zu behalten gehofft hatte, ist nicht mehr vereinbar mit seiner Identität in der Gegenwart. Aus den Identitätsresten muß er neue Konzeptionen entwickeln: wer er einmal war, wer er jetzt ist und wer er in Zukunft sein wird“ (ebd., S. 41). Die von den Autoren beschriebene biographische Arbeit oder Identitätsarbeit beinhaltet die Auseinandersetzung mit Lebensorientierungen. Bisherige Lebensentwürfe, die Teil der vergangenen und zukünftig erwarteten Identität waren, sind möglicherweise nicht mehr in der vorgesehenen Weise zu realisieren. Sie müssen angepasst oder gänzlich aufgegeben werden und machen eine Neuorientierung nötig. Da Lebensorientierungen einen bedeutsamen Aspekt der Identität darstellen und der Begriff Identität im Zusammenhang mit der Bewältigung von Krankheit immer wieder genannt wird, soll er in folgendem Exkurs kurz umrissen werden.
1.4.7 Exkurs zum Begriff Identität Der Begriff Identität ist abgeleitet von dem lateinischen „idem“ - „dasselbe“ und wird im allgemeinen und philosophischen Sinne als das Gleichbleibende von etwas mit sich selbst
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oder etwas anderem verstanden. Sozialpsychologisch bezeichnet er „die Kontinuität des Selbsterlebens eines Individuums (...) die im wesentlichen durch die dauerhafte Übernahme bestimmter sozialer Rollen und Gruppenmitgliedschaften sowie durch die gesellschaftliche Anerkennung als jemand, der die betreffenden Rollen innehat bzw. zu der betreffenden Rolle gehört, hergestellt wird“ (Fuchs-Heinritz u. a. 1995, S. 286). Erikson siedelte den Prozess, in dem ein Mensch die für sein Leben wichtigsten Rollen wählt und übernimmt, überwiegend in der Adoleszenz an. Wenn diese Aufgabe hier nicht gelöst wird, kann es zu Rollenkonfusion und Identitätsdiffusion kommen, die sich als schwerwiegende Störungen auf das gesamte weitere Leben auswirken können. Er betonte dabei die Wechselwirkung von inneren Prozessen und umgebenden Einflüssen. In Abgrenzung zum psychoanalytischen Identitätsbegriff entwickelte Krappmann (1969) das Konzept der balancierten Identität auf der Basis des Symbolischen Interaktionismus. Grundlage waren hier vor allem die Arbeiten von Mead (1975) zu der Auseinandersetzung von „I“, dem impulsiven Ich, und „me“, dem reflektierten Ich, als Komponenten des Selbst sowie von Goffman (1974), der das Thema Identität unter der Perspektive der Präsentation behandelt (vgl. Abels 2001, S. 201). Krappmann entwirft Identität als eine Balance von persönlicher und sozialer Identität, also als permanente Leistung, die eigenen Bedürfnisse und die Anforderungen der sozialen Umwelt auszubalancieren. Dies ist notwendig, um an Interaktionsprozessen teilnehmen zu können. Krappmann bezieht in sein Konzept die gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch mit ein. „Der hier entwickelte Identitätsbegriff versucht vielmehr dem Erfordernis Raum zu geben, kreativ die Normen, unter denen Interaktionen stattfinden, zu verändern. (...) Tatsächlich kann das Individuum nicht jede ihm erwünschte Neuinterpretation vorgegebener Normen bei seinen Interaktionspartnern durchsetzen, denn es stößt auf widerstrebende Interessen der anderen. Auch sind die Chancen, einer Identitätsbehauptung Anerkennung zu sichern, ungleich, weil von den verschiedenen Positionen eines sozialen Systems aus unterschiedliche Einflussmöglichkeiten bestehen. Nur eine Analyse der jeweiligen sozialen Verhältnisse kann zeigen, welche Interpretationsmöglichkeiten dem Individuum offen stehen und welche Grenzen seiner Bemühung um Identität in einem gegebenen System sozialer Ungleichheit gesetzt sind“ (Krappmann 1969, S. 208f.). Auch Berger, Berger und Kellner (1973) befassen sich mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Identität. Sie meinen „mit ‚Identität’ die Art und Weise, in der der Einzelne sich selbst definiert“ (ebd., S. 69). Identität wird auf der einen Seite vom Individuum konstruiert, auf der anderen Seite ist diese individuelle Konstruktion jedoch davon abhängig, wie in der modernen Gesellschaft Identität typischerweise konstruiert wird. Durch die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit sind auch die Vorstellungen und Präsentationen von Identität durch Sozialisationsprozesse im Rahmen einer sozialen Wirklichkeit bestimmt. Die gesellschaftlichen Bedingungen unserer Zeit sind nach Beck (1986) von einem gesellschaftlichen Individualisierungsschub nach dem zweiten Weltkrieg geprägt. „Auf dem Hintergrund eines vergleichsweise hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebenen sozialen Sicherheiten wurden die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionalen Klassenbedingungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen“ (ebd., S. 116). Beck sieht die Menschen in der Moderne tendenziell dazu gezwungen „sich selbst zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanungen und Lebensführung zu machen“ (ebd., S. 216) und „sich selbst als Hand-
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lungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen“ (ebd., S. 217), um auf diese Weise die eigene Biographie selbst herzustellen. Identität wird also nicht mehr durch traditionelle Zugehörigkeiten zu einer Familie oder einer Gemeinde oder durch den Normallebenslauf mit dem Modell einer lebenslangen Arbeit und der damit verbundenen Berufsrolle getragen, sondern muss immer wieder neu entworfen und aufrechterhalten werden. Im Zusammenhang mit diesen Entwicklungen führt Wagner den Begriff des „unternehmerischen Selbst“ ein (1995, S. 241ff), das Individuum, das sich, einem Wirtschaftsunternehmen vergleichbar, aktiv bei der Gestaltung des eigenen Lebens und seiner sozialen Positionen in einer sich beständig verändernden Umwelt engagieren muss, statt auf einem gesicherten Platz in einer stabilen sozialen Ordnung zu verweilen. Neben Chancen sind mit diesem Prozess vielfältige Risiken verbunden. „Nicht jeder ‚Unternehmer’ hat die Chance, viel zu unternehmen. Es bedarf vielfältiger psychischer und sozialer Voraussetzungen dafür, daß Individuen die Chancenhaftigkeit der historischen Situation subjektiv erkennen und für die eigene Identitätsbildung nutzen können“ (Keupp 1999, S. 73f.). Dazu sind soziale Ressourcen, ein hohes Maß an individueller Gestaltungskompetenz, Kombinationsfähigkeiten sowie das Vermögen, Widersprüchlichkeiten zu tolerieren, nötig. Identität hat, so Keupp, „von allem Anfang an Arbeitscharakter, lebt von einem Subjekt, das sich aktiv um sein Selbst- und Weltverhältnis zu kümmern hat. Es entwirft und konstruiert sich seine Selbstverortung, und es bedarf der Zustimmung der anderen zu seinen Entwürfen und Konstruktionen“ (Keupp 1999, S. 27). Die Herstellung von Identität hat sich also von einem Jugendthema bei Erikson zu einem biographisch offenen, einem lebenslangen Prozess entwickelt. „Der Identitätsprozess ist, so sehen es die meisten neueren Ansätze der Identitätsforschung, nicht mehr nur ein Mittel, um am Ende der Adoleszenz ein bestimmtes Plateau einer gesicherten Identität zu erreichen, sondern der Motor lebenslanger Entwicklung“ (Keupp 1999, S. 190). Dabei beruht die Identität des Menschen als Person auf mehreren ineinandergreifenden Prozessen (vgl. v. Engelhardt 1990). Wenn die klassischen Identitätstheorien, die diese Prozesse in unterschiedlicher Weise aufnehmen, in der Absicht wechselseitiger Ergänzung gelesen werden, ergeben sich dabei folgende übergreifende Bestimmungen. „Die Herstellung und Aufrechterhaltung der menschlichen Identität beruht auf der Fähigkeit zur Selbstreflexivität und vollzieht sich als dreifacher Vermittlungsprozess: als Vermittlung zwischen Person und ihrer sozialen Umwelt; als Vermittlung zwischen den unterschiedlichen inneren Instanzen der Person; und als Vermittlung zwischen den verschiedenen historisch-biographischen Phasen im Lebenslauf des Menschen“ (ebd., S. 69). Die „Identitätsarbeit“ wird als relationale Verknüpfungsarbeit, als Konfliktaushandlung und als Narrationsarbeit (vgl. Keupp 1999) beschrieben, für die entsprechende Fähigkeiten vorhanden sein müssen und in deren Zusammenhang Orientierung und Sinn eine bedeutende Rolle einnehmen. Menschen mit einer chronischen Erkrankung müssen in die vielfältigen Vermittlungsprozesse die Bedingungen ihrer Erkrankung einbeziehen. Keupp vergleicht das Identitätsprojekt, bei dem „entwerfen und leben in eins“ (ebd., S. 83) fallen, mit dem Umbau eines Schiffes auf hoher See. Ein solcher ständiger Umbau wird einerseits zunehmend erschwert, andererseits in besonderem Maße nötig durch Einschränkungen und andere spezifische Lebensbedingungen, die mit einer chronischen Erkrankung verbunden sind.
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1.5 Zusammenfassung Insgesamt ist festzustellen, dass die Auseinandersetzung mit Lebensorientierungen einen bedeutsamen Aspekt bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung bildet. Sie wird als Teil der biographischen Arbeit oder Identitätsarbeit oder im Zusammenhang mit Sinnfindung im Prozess der Krankheitsbewältigung beschrieben. Es liegen jedoch bisher kaum Untersuchungen vor, die sich ausführlich mit dieser Thematik befassen. Gegenstand dieser Untersuchung ist daher die Bewältigung von chronischer Erkrankung auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung. Im Mittelpunkt stehen dabei der Übergang von Gesundheit zu Krankheit und das darauf folgende Leben mit der Erkrankung. Um Orientierungsprozesse zu erfassen, die sich auf ein dauerhaftes Leben mit einer chronischen Erkrankung und dadurch auf die Frage „Wie mit einer Krankheit leben?“ beziehen, wird beim Sample berücksichtigt, als Interviewpartner chronisch erkrankte Personen auszuwählen, die mit mehr oder weniger Hilfe selbstständig in einem eigenen Haushalt leben können. Da sich der Übergang vom Leben zum Tod sowie der Übergang vom selbstständigen Leben zu einem Leben als Pflegefall nicht im Zentrum der Fragestellung befinden, werden Menschen mit terminalen Erkrankungen und Pflegefälle nicht in das Sample einbezogen. Die Problematik, ein Pflegefall zu werden oder vom Tod bedroht zu sein, kann zwar als mögliche Zukunft präsent sein, soll jedoch zum Zeitpunkt der Befragung nicht unmittelbar bevorstehen.
2 Untersuchungsansatz und Forschungsprozess
In diesem Kapitel wird zunächst der theoretische Hintergrund des Untersuchungsansatzes und die Wahl des methodischen Vorgehens und im Anschluss daran der Forschungsprozess im Einzelnen erläutert.
2.1 Der Untersuchungsansatz Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist der Einbruch einer chronischen Krankheit in die Biographie als besonderer Typus eines biographischen Ereignisses. Das zu untersuchende Phänomen ist die Bewältigung des Einbruchs einer chronischen Erkrankung in das Leben eines Menschen auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung im biographischen Verlauf. Um die mit dieser Fragestellung verbundenen lebensgeschichtlichen Prozesse aus der Sicht der Betroffenen nachzuvollziehen wurde für die Untersuchung ein qualitativer biographischer Ansatz gewählt, dem das interpretative Paradigma zugrunde liegt. Nach Matthes wird als interpretatives Paradigma „eine grundlagentheoretische Position bezeichnet, die davon ausgeht, dass alle Interaktion ein interpretativer Prozeß ist, in dem die Handelnden sich aufeinander beziehen durch sinngebende Deutung dessen, was der andere tut oder tun könnte“ (Matthes 1973, S. 201). Das interpretative Paradigma begreift die soziale Wirklichkeit also als eine durch Interpretationshandlungen konstituierte Realität (Lamnek 1995a). Biographietheoretischer Hintergrund ist das Verständnis von Biographie und Lebenslauf als Einheit von personaler, sozialer und historischer Zeit (Neugarten/Datan 1979). Personale Zeit beinhaltet den Prozess der Persönlichkeits- und Identitätsentwicklung der Person im Lebensverlauf, den Erikson (1966, 1988) mit dem Stufenmodell der Entwicklungsaufgaben beschreibt. Nach dem Stufenmodell müssen in der Kindheit zunächst grundlegendes Vertrauen und Basiskompetenzen in der Familie und in der Schule entwickelt werden. In der Adoleszenz geht es um die Herausbildung der eigenen Identität, die eine Identität als Mann bzw. als Frau sowie eine mögliche berufliche und gesellschaftliche Identität und entsprechende Rollenvorstellungen beinhaltet. Im frühen Erwachsenenalter steht der Einstieg ins Berufsleben, die Aufnahme einer festen Partnerschaft und die Familiengründung im Vordergrund. Im mittleren Erwachsenenalter geht es dann darum, die begonnenen Lebenslinien auszubauen und weiterzuentwickeln. Mit dem Auszug der Kinder oder dem Ausstieg aus dem Berufsleben, der im Ablaufmuster des Normallebenslaufs dem beginnenden späten Erwachsenenalter zugeordnet ist, müssen neue Aufgaben bewältigt werden und in einer spätern Phase geht es schließlich um die Bilanzierung des eigenen Lebens (vgl. ebd.). Die Entwicklungsaufgaben stehen in Zusammenhang mit verschiedenen Lebensphasen und beeinflussen die Lebensorientierungen, was bedeutet, dass sich relevante Lebenspläne und Ausrichtungen im Lebensverlauf wandeln.
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Untersuchungsansatz und Forschungsprozess
Eng verbunden mit den phasenspezifischen Lebensthemen der psychosozialen Entwicklung ist die soziale Zeit als Aufeinanderfolge der sozialen Rollen und Lebens- und Arbeitsformen im Lebensverlauf, die von der soziologischen Lebenslaufforschung herausgearbeitet wurde (z. B. Pieper 1978). Im Rahmen von personaler und sozialer Zeit können die private Lebenslinie, die berufliche Linie und die gesellschaftliche Linie als wichtige Handlungs- und Erfahrungsbereiche der Person unterschieden werden (vgl. Roggenthin 2001). Dabei ist der Lebenslauf in unserer Gesellschaft auf das Erwerbssystem bezogen (vgl. Kohli 1985, 2003). Er weist eine Dreiteilung in die Zeit der Ausbildung als vorbereitende Phase, in die aktive Phase der Berufstätigkeit und schließlich in die Ruhephase nach dem Erwerbsleben auf. Die damit verbundene Verzeitlichung und Chronologisierung des Lebensablaufes findet sich in der Normalbiographie als Erwartung eines bestimmten Ablaufmusters wieder, das die zeitliche Dimension des individuellen Lebens ordnet. Obgleich der Individualisierungsschub seit den siebziger und achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts zu Veränderungen und Erosionstendenzen geführt hat, die als Hinweis auf eine Destandardisierung des Lebenslaufs (vgl. Kohli 1985) gedeutet werden können, kommt Kohli (2003) in übergreifender Sicht zu dem Schluss, „dass der institutionalisierte Lebenslauf und die ihn stützenden Strukturen ihre Prägekraft in erstaunlichem Ausmaß behalten haben“ (ebd., S. 538). Die Institution des Lebenslaufs fungiert also als Grobstruktur der wichtigsten Lebensereignisse und Orientierungsmuster und dadurch als biographisches Schema, das Handlungen reguliert und Perspektiven strukturiert (vgl. Wolfrab-Sahr 1993, S. 57). Dabei variieren die Ablaufschemata im Zusammenhang mit Geschlecht, sozialer Lage und kultureller Zugehörigkeit (z. B. v. Engelhardt 1996; Matthes 1984; Wolfrab-Sahr 1993). Diese institutionalisierten Normalitätsmuster sind sozialstaatlich gerahmt und teilweise rechtlich fixiert, was zum Beispiel in dem Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente seinen Ausdruck findet. Die Biographie eines Menschen formt sich durch die Auseinandersetzung der Person mit diesen Mustern, durch den Einbruch von unvorhergesehenen Lebensereignissen (Filipp 1990) wie beispielsweise einer Krankheit und durch die jeweiligen Bedingungen der historischen Zeit, die durch sukzessiven gesellschaftlichen Wandel und durch historische Großereignisse Einfluss auf die personale und soziale Zeit nehmen. Die Belastungs- und Gesundheitsforschung befindet ein qualitatives biographisches Vorgehen aus einer subjektorientierten Forscherperspektive als geeignet, um Bewältigungshandlungen und -prozesse von Betroffenen zu untersuchen. Dadurch ist es möglich, längerfristige Entwicklungsprozesse und die Auseinandersetzung des Subjekts mit den Belastungen zu beobachten und Belastungen in ihrer langfristigen Dimension zu verstehen (vgl. Faltermaier 1989). Vor dem beschriebenen theoretischen Hintergrund wurde eine qualitative Forschungsstrategie gewählt, bei der narrative autobiographische Interviews erhoben und ausgewertet wurden. Hierbei kamen die Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation zur Anwendung, die es der befragten Person erlauben, ihr eigenes Relevanzsystem zu entfalten (Bohnsack 1999; Glaser/Strauss 1967; Strauss/Corbin 1996). Um die Fragestellung angemessen zu behandeln, wurden in den Forschungsprozess verschiedene methodische Anregungen einbezogen. Grundsätzlich orientierte sich das Vorgehen an der Grounded Theorie, die mit ihrem Prinzip der Offenheit dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung entsprach (Glaser/Strauss 1967; Strauss 1991; Strauss/Corbin 1996). Ziel eines Vorgehens nach der Grounded Theorie ist die Generierung einer gegenstandsverankerten Theorie zu einem bestimmten Phänomen. Mit dem Begriff „Grounded Theorie“ wird dabei sowohl die Me-
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thode als auch das erzielte Ergebnis bezeichnet. Im Forschungsprozess stehen Datensammlung, Analyse und Theoriebildung in wechselseitiger Beziehung, denn die gegenstandsverankerte Theorie wird überwiegend induktiv aus der Untersuchung des Phänomens abgeleitet und entwickelt sich durch systematisches Erheben und Analysieren von Daten. Strauss und Corbin betonen, dass am Anfang nicht eine Theorie steht, die anschließend bewiesen werden soll, sondern „vielmehr ein Untersuchungsbereich – was in diesem Bereich relevant ist, wird sich erst im Forschungsprozeß herausstellen“ (1996, S. 8). Das Prinzip der Offenheit kann dabei in verschiedener Weise verstanden werden. In der Anfangsphase der Entwicklung der Methode der Grounded Theorie plädieren Glaser und Strauss (1967, S. 33f.) dafür, ohne vorgefasste Theorie oder Konzepte ins Feld zu gehen. Dagegen lässt sich einwenden, dass Vorannahmen, die unsere Wahrnehmung strukturieren und lenken, immer bestehen (vgl. Meinefeld 2000; Rosenthal 2005; Steinke 1999). Nach Meinefeld muss die grundsätzliche Einschränkung akzeptiert werden, „dass jede Wahrnehmung nur unter Rückbezug auf die je eigenen Deutungsschemata Bedeutung gewinnt, also das Vorwissen unsere Wahrnehmungen unvermeidlich strukturiert und somit als Grundlage jeder Forschung anzusehen ist“ (2000, S. 271f.). Auch Strauss (1991) und Strauss und Corbin (1996) revidieren in der weiteren Auseinandersetzung mit der Methode ihr Verständnis von dem rein induktiven Vorgehen und beziehen nun das theoretische Vorwissen und die persönliche und berufliche Erfahrung bezüglich des Untersuchungsgegenstandes in den Forschungsprozess als Konzept der theoretischen Sensibilität mit ein. Theoretische Sensibilität soll dem Forscher dabei helfen, Theorien in den Daten zu entdecken sowie „die ausgetretenen Wege des Nachdenkens über Phänomene zu vermeiden“ (ebd., S. 57). Steinke (1999, S. 20ff) bezeichnet diesen Güteaspekt qualitativer Forschung als induktionistische Orientierung, die mit einer abduktiven Haltung gepaart ist. Auf der einen Seite geht es also darum, eigene Hypothesen zurückzustellen und mit einer offenen Haltung an den Untersuchungsgegenstand heranzugehen und auf der anderen Seite sollen Vorwissen und Erfahrung beim Erkenntnisprozess genutzt werden. Um sich der angestrebten Offenheit anzunähern, ist es daher nötig, das alltagsweltliche und theoretische Vorwissen zu reflektieren und sich damit verbundene Erwartungen und Annahmen bewusst zu machen (vgl. Meinefeld 2000, S. 273f.). Darüber hinaus ist bei der Auswertung von biographischen Interviews zu beachten, dass diese verschiedene zeitliche Perspektiven beinhalten. In diesem Zusammenhang beschreibt v. Engelhardt im autobiographischen Erzählen eine Doppelung des Ich: „Das Ich der Vergangenheit, von dem erzählt wird, und das Ich der Gegenwart, das erzählt, sich an den Zuhörer wendet, nach Begründungen sucht, Bewertungen vornimmt und sich zuhört, beide sind sowohl voneinander geschieden als auch miteinander verknüpft“ (1990b, S. 77). Diese beiden Perspektiven müssen bei der Auswertung unterschieden und aufeinander bezogen werden. Die im Interview entstandene lebensgeschichtliche Erzählung ist also als doppeltes Dokument zu lesen und zu interpretieren. Auf der einen Seite ist sie als ein unmittelbares Dokument der aktuellen Bewältigung des Lebens mit einer chronischen Erkrankung und auf der anderen Seite als ein mittelbares Dokument der erlebten Lebensgeschichte zu verstehen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt die chronische Erkrankung beinhaltet. Um diese beiden Aspekte bei der Auswertung zu erfassen, orientierte sich ein weiterer Auswertungsschritt an Arbeiten, die sich mit dem Verhältnis von erlebter und erzählter Lebensgeschichte befassen (v. Engelhardt 1990b, 1996; Rosenthal 1995, 2005). Dabei ist
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Untersuchungsansatz und Forschungsprozess
anzumerken, dass die zur Darstellung gebrachte Biographie natürlich nicht als vollkommenes Abbild des vergangenen Lebens gesehen wird, sondern als Dokument des gelebten Lebens, das in einem Prozess des mündlichen autobiographischen Erzählens entstanden ist. Dieser Prozess des Erzählens beruht nach v. Engelhardt auf einer dreifachen Vermittlung. Die biographische Vermittlung zwischen dem erlebenden und handelnden Ich der Vergangenheit und dem erzählenden und reflektierenden Ich der Gegenwart, das sich aus der aktuellen Situation heraus der eigenen Vergangenheit zuwendet, wurde oben bereits thematisiert. Darüber hinaus „ist dieser Vorgang verbunden mit einer psychischen Vermittlung zwischen den verschiedenen, nicht selten widerstreitenden Strebungen, Kontroll- und Beurteilungsinstanzen der erzählenden Person. In bewußten und unbewußten Prozessen erfolgt hier eine Auseinandersetzung darüber, was von der mit Scham und Stolz, Schmerz und Glück erlebten Lebensgeschichte vergessen bleibt oder erinnert wird und in welcher Form es in die Bereiche der expliziten Erzählung Eingang findet. Dabei erfolgt zum dritten eine soziale Vermittlung zwischen der erzählenden Person und ihrer sozialen Umwelt als dem Adressaten der Erzählung, sei dieser nun virtuell vorgestellt oder direkt anwesend. Im Bezug auf diesen Adressaten gestaltet der Erzähler und die Erzählerin das gelebte Leben als Erzählstoff und bedient sich dabei verschiedener kultureller Muster der biographischen Selbstdarstellung und Selbstvergewisserung. So ist das lebensgeschichtliche Erzählen über die dargestellten Inhalte Ausdruck einer gelebten Biographie und der damit verbundenen Identitätsentwicklung“ (v. Engelhardt 1996, S. 370). Verschiedene Bedingungen wie die aktuelle Situation und die aktuelle innerpsychische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, kulturelle Muster und die Interaktion mit dem Adressaten der lebensgeschichtlichen Erzählung wirken also auf die Gestalt der präsentierten Biographie ein. Die Interpretation einer lebensgeschichtlichen Erzählung findet daher unter Berücksichtigung dieser Aspekte statt.
2.2 Der Forschungsprozess Die Planung und Durchführung der vorliegenden Untersuchung orientierte sich an den von Steinke (1999, S. 249ff) für die qualitative Sozialforschung formulierten Gütekriterien der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, der Indikation z. B. bezüglich der Methodenwahl oder der Samplingstrategie, der empirischen Verankerung, der Limitation, der reflektierten Subjektivität, der Kohärenz sowie der Relevanz. Im folgenden Abschnitt soll nun der Forschungsprozess im Einzelnen dargestellt werden. Er beinhaltet die Bestimmung der Stichprobe, den Kontakt zu den Interviewpartnern, die Erhebung der Daten sowie die Auswertung der Daten, die wiederum in Fallanalyse, Fallvergleich und Typenbildung gegliedert ist.
2.2.1 Die Bestimmung der Stichprobe Die Auswahl der Interviewpartner orientierte sich an der schrittweisen Auswahlstrategie des theoretischen Sampling (Glaser/Strauss 1967; Rosenthal 2005; Strauss/Corbin 1996; Strübing 2004). Da nicht vorab bestimmt werden kann, welche Fälle und Merkmale im Einzelnen für die Fragestellung relevant sind, sondern die relevanten Aspekte im Verlauf
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der Untersuchung entdeckt werden sollen, entwickelt sich beim theoretischen Sampling die Zusammensetzung der Stichprobe im Forschungsprozess. Die Auswertung eines Interviews führt zu der Entscheidung darüber, welche Daten als Nächstes erhoben werden sollen und wirkt so auf die weitere Datenerhebung und damit auf die Stichprobe ein. Der Prozess der Stichprobenziehung ist dann beendet, wenn eine theoretische Sättigung erreicht ist, das heißt, „wenn keine neuen Phänomene mehr gefunden werden können, die die bereits rekonstruierten Einsichten modifizieren oder zur Konstruktion neuer Typen führen können, sondern sich die die bisherigen Konzeptionen bestätigenden Phänomene wiederholen“ (Rosenthal 2005, S. 87). Die theoretische Sättigung ist also dann erreicht, wenn im theoretischen Sinne nichts Neues mehr entdeckt wird, wobei zu bedenken ist, dass sich das Kriterium der theoretischen Sättigung am idealtypischen Verlauf einer Forschung orientiert und der Datenerhebung auch Grenzen aus Zeit-, Kosten- und Personalgründen gesetzt werden. In der vorliegenden Arbeit wurden einige Kriterien für die Stichprobe vor den ersten Interviews als gemeinsame Merkmale für alle Interviewpartner festgelegt, um an der Forschungsfrage orientierte grundlegende Gemeinsamkeiten herzustellen und so das thematisch weite Feld zu limitieren. Die gemeinsamen Merkmale waren folgende: Eine chronische Erkrankung sollte seit mindestens fünf Jahren bekannt sein, wobei nur körperliche Erkrankungen einbezogen wurden, die – zum Teil mit medizinischer Unterstützung – nicht final waren. Die zu befragenden Personen sollten noch fähig sein, ohne oder mit Hilfe in einem eigenen Haushalt zu leben. Diese Kriterien basierten auf verschiedenen Überlegungen. Durch die zeitliche Vorgabe von mindestens fünf Jahren eines Lebens mit der Erkrankung sollte eine erste krisenhafte Auseinandersetzung mit der Erkrankung bereits erfolgt sein, falls eine solche Krise stattgefunden hatte. Zudem sollten bereits Erfahrungen über die Entwicklung der Krankheit und über die Handhabung der mit ihr verbundenen Bedingungen bestehen. Zugleich sollte noch eine eigenständige Handlungsfähigkeit in einem gewissen Rahmen möglich sein sowie grundsätzlich die Frage nach dem Leben mit einer chronischen Erkrankung im Vordergrund stehen und nicht die Frage nach dem Tod und dem Sterben, die bei finalen Erkrankungen zunehmend an Bedeutung gewinnt. Darüber hinaus sollten die Interviewpartner aus einem gemeinsamen Kulturkreis stammen. Zusätzliche Auswahlkriterien entwickelten sich gemäß des theoretischen Samplings mit dem Fortschreiten der Untersuchung aus dem Vergleich der Fälle und den daraus entstehenden Überlegungen, Fragen und Entscheidungen, um eine breite Variation zu erhalten und um schließlich zu einer theoretischen Sättigung zu gelangen. Beispiele für solche Auswahlkriterien sind unter anderen: Gleiche Erkrankungen mit unterschiedlichen Verläufen, verschiedene Erkrankungen mit jeweils unterschiedlichen Einschränkungsbereichen, sichtbare und unsichtbare Erkrankungen, ein unterschiedlicher Zeitpunkt des Eintretens der Erkrankung in den Lebenslauf, ein eher abwehrendes oder ein eher konfrontatives Bewältigungsverhalten oder eine bereits vor der Erkrankung problematische oder gebrochene Biographie. Darüber hinaus variieren die Interviewpartner in Bezug auf Geschlecht, Bildungs- und Berufsstatus und Familienstand.
2.2.2 Der Kontakt zu den Interviewpartnern Der Kontakt zu den Interviewpartnern wurde über vermittelnde Dritte hergestellt, die auf der einen Seite im Hinblick auf bestimmte Kriterien gezielt nach Interviewpartnern suchen
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konnten und die auf der anderen Seite Personen, die als mögliche Interviewpartner ausgewählt worden waren, vorab fragten, ob sie zu einem Interview bereit wären. Als Vermittlungspersonen fungierten entweder medizinische Fachkräfte oder andere bereits interviewte Personen, die um ihre Unterstützung bei einer Vermittlung gebeten wurden. Hintergrund dieses Vorgehens war die Überlegung, auf diesem Wege durch den bereits bestehenden Kontakt zwischen der Vermittlungsperson und dem möglichen Interviewpartner leichter eine Vertrauensbasis herstellen zu können. Letzterer sollte die Möglichkeit haben, sich zunächst bei dem Vermittler über ein solches Interview oder über die Person des Interviewers zu informieren. Darüber hinaus sollte so eine Drucksituation vermieden und für den um ein Interview Gebetenen ein Raum geschaffen werden, leichter eine für ihn stimmige Entscheidung für oder gegen ein Interview zu treffen und so dem Prinzip der Freiwilligkeit zu entsprechen. Im Anschluss an die von der Vermittlungsperson signalisierte Bereitschaft nahm ich Kontakt zu den späteren Interviewpartnern auf. In einem in der Regel telefonischen Vorgespräch wurde das Projekt vorgestellt, die Bereitschaft zu einem Interview und der Aufnahme des Interviews auf einen Datenträger geklärt und anschließend ein Termin vereinbart. In der Regel fanden die dem Vermittler zugesagten Interviews statt, in zwei Fällen wurde das Interview jedoch später abgelehnt. Während bei einem Interviewpartner nicht nachvollzogen werden konnte, womit die Ablehnung zusammenhing, wurde in dem zweiten Fall in mehreren Vorgesprächen, in denen es anfangs lediglich um Terminabsprachen ging, deutlich, dass für den Interviewpartner die Vorstellung, über die Krankheit zu sprechen, mit Angst und Stress verbunden war. Vor diesem Hintergrund schien ein Interview aus forschungsethischen Überlegungen nicht mehr angebracht. Auf den Vorschlag, das Interview doch nicht durchführen zu wollen, reagierte die gefragte Person mit Erleichterung, was die Bedeutung der vorangegangenen Überlegungen unterstrich.
2.2.3 Die Erhebung der Daten Als Erhebungsinstrument wurde ein leitfadengestütztes narratives autobiographisches Interview gewählt, um auf der einen Seite eine lebensgeschichtliche Erzählung anzuregen und auf der anderen Seite durch den allgemein gehaltenen Leitfaden grundlegende biographische Informationen zu erhalten. Bei dieser Interviewform wurden Aspekte des narrativen Interviews (Küsters 2006; Schütze 1983) und des qualitativen Leitfadeninterviews (Hopf 1995; Lamnek 1995b) verbunden. Hintergrund dieser Wahl war eine kritische Auseinandersetzung mit dem von Schütze (1983) vorgeschlagenen Verfahren des narrativen Interviews. Grundsätzlich zielen narrative Befragungsformen darauf ab, Erzählungen hervorzurufen. Erzählungen sind besonders geeignet, um zu rekonstruieren, „was Menschen im Verlauf ihres Lebens erlebt haben, und wie dieses Erleben ihre gegenwärtigen Perspektiven und Handlungsorientierungen konstituiert“ (Rosenthal 2005, S. 141). Anders als eine Argumentation, die stärker in der Gegenwart der Gesprächssituation verankert ist, ermöglicht die Erzählung einer Geschichte mit einem hohen Indexikalisierungs- und Detaillierungsgrad “die Annäherung an eine ganzheitliche Reproduktion des damaligen Handlungsablaufs oder der damaligen Erlebnisgestalt“ (ebd.). Das narrative Interview bietet einen Erhebungsrahmen, in dem die Befragten ihre Perspektive erzählerisch entfalten können und weitgehend die Datensammlung strukturieren. Nach einer erzählgenerierenden Anfangsfrage hält sich der Interviewer in der Phase der Haupterzählung zurück und stellt
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Nachfragen erst zu einem späteren Zeitpunkt. Dadurch, dass die Befragten die Erzählung selbst gestalten, werden ihre Erfahrungen, Bedeutungszuschreibungen und Relevanzen transparent. Eine Reaktivität auf vorgefertigte Fragen, die individuellen Relevanzsetzungen wenig Raum geben und die Erzählung der eigenen Geschichte verhindern, soll so vermieden werden. Neben den Stärken des narrativen Interviews ist jedoch auch einzuwenden, dass bei der von Schütze vorgeschlagenen Interviewmethode, die auf der ausschließlichen Eigensteuerung durch den Interviewpartner basiert, die Gefahr besteht, dass durch Erzählkonventionen bedingt relevante Aspekte nicht thematisiert werden (vgl. v. Engelhardt 1996, S. 11; Roggenthin 2001, S. 28). Darüber hinaus kann es bei einer ausschließlichen Eigensteuerung zu einer hohen thematischen Heterogenität zwischen den verschiedenen Interviews kommen, was bei der Auswertung die fallvergleichende Interpretation erschwert. Diese Einwände wurden durch die Einbeziehung eines thematischen Leitfadens berücksichtigt, der dazu dienen sollte, verschiedene Dimensionen des Untersuchungsgegenstandes bei allen Befragten gleichmäßig zu erheben. In der konkreten Erhebungssituation waren die Interviews in einen offenen Hauptteil mit einer Erzählphase und eine Nachfrage- und Reflexionsphase und einen formalisierten Ergänzungsteil gegliedert, jedoch wurde die Abgrenzung der Phasen im Hauptteil flexibel gehandhabt. Während der lebensgeschichtlichen Erzählung wurde der Erzählfluss durch aktives Zuhören unterstützt und nach Bedarf nachgefragt, der überwiegende Teil der Nachfrage fand jedoch häufig statt, nachdem der Interviewpartner seine lebensgeschichtliche Erzählung beendet hatte. Neben Reflexionen entstanden so weitere ergänzende Erzählungen, die in die Auswertung einbezogen wurden. Mit der offenen Anfangsfrage nach der Lebensgeschichte sollte den jeweiligen Personen überlassen bleiben, welche Schwerpunkte sie in ihrer lebensgeschichtlichen Erzählung setzen und auf welche Weise sie die Krankheit thematisieren. Der thematische Leitfaden sollte als Gedächtnisstütze für den Interviewer dienen, um noch ausstehende Themen im Blickfeld zu behalten und gegebenenfalls nachzufragen. Er enthielt Stichpunkte, jedoch keine vorformulierten Fragen und beinhaltete als allgemeine Bereiche der Biographie die verschiedenen Lebensphasen, die private, berufliche und gesellschaftliche Lebenslinie, den Aspekt der Erkrankung, medizinische Hilfen und andere Unterstützung bei der Bewältigung sowie den Aspekt der Zukunft mit der Erkrankung und damit verbundene Vorstellungen und Umgangsweisen. Am Schluss des Interviews wurde gemeinsam ein kurzer Fragebogen ausgefüllt, um sozialstrukturelle und temporale Daten zu erfassen und zu überprüfen. Mit dem beschriebenen Vorgehen wurde die Durchführung des biographischen Interviews einer natürlichen Gesprächssituation angeglichen. Insgesamt wurden 25 Interviews geführt. Den Hintergrund dieser Fallzahl bildeten zum einen die zunehmende theoretische Sättigung im Verlauf der Untersuchung in Bezug auf die entwickelte Typologie, die sich darin zeigte, dass sich hinzukommende Fälle entweder überwiegend einem Typus zuordnen oder sich im Übergang zwischen den Typen verorten ließen, und zum anderen die forschungspraktischen Grenzen dieser Arbeit. Die Interviews fanden in der Regel bei den befragten Personen zu Hause statt. Zwei Interviews wurden bei mir und ein Interview auf der Arbeitsstelle einer Interviewpartnerin durchgeführt. Sie dauerten im Schnitt zwei bis drei Stunden und wurden mit Ausnahme eines Interviews auf Tonband aufgezeichnet. Dieses Interview durfte entgegen der vorherigen Absprache nicht aufgezeichnet werden und wurde daher nur protokolliert. Aus diesem und auch aus weiteren Gründen wie beispielsweise einem nicht erkennbaren Gestaltschlie-
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ßungszwang in Bezug auf die gesamte Lebensgeschichte (vgl. Schütze 1984) und einer damit verbundenen fortlaufenden Erzählung dieses Interviewpartners sowie der Unmöglichkeit, Antworten auf konkrete Fragen zu bekommen, wurde dieses Interview bei der Auswertung nicht berücksichtigt. Es verdeutlichte jedoch im Kontrast zu den übrigen Interviews, wie klar die anderen Interviewpartner ihre Lebenserzählung zu Ende bringen konnten, auch wenn sich deren Erzählungen in Form und Inhalt deutlich voneinander unterschieden. Nach den Interviews wurden jeweils Spontannotizen verfasst, um den ersten Gesamteindruck und situative Besonderheiten festzuhalten. Ab dem dritten Interview wurde auch ein Präskript angefertigt, um Überlegungen und Eindrücke festzuhalten, die aus den schon stattgefundenen Kontakten bei Vorgesprächen zur Klärung der Bereitschaft für ein Interview und Terminvereinbarungen entstanden waren. 21 Interviews wurden vollständig und drei weitere teilweise transkribiert, Pausen und andere deutliche nonverbale Äußerungen wurden in das Transkript aufgenommen, um eine möglichst gute Wiedergabentreue zu erhalten. Die Transkriptionsregeln sind im Anhang aufgeführt. Direkt nach der Transkription eines Interviews fand jeweils die Auswertung des Falls statt.
2.2.4 Die Auswertung der Daten Als drei übergeordnete Analyseebenen im Auswertungsprozess lassen sich die Analyse des einzelnen Falles, der Vergleich der Fälle miteinander und die Herausbildung einer Typologie unterscheiden.
2.2.4.1 Die Fallanalyse Die Fallanalyse gliedert sich in eine erste thematische und formale Sequenzierung (1), eine thematische Analyse durch Kodierungsprozesse (2), eine Analyse der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte (3) und schließlich in die zusammenfassende Analyse der Ergebnisse im Hinblick auf den Verlauf der Lebensorientierung und Lebensführung (4). Die Analyseschritte werden nun im Einzelnen dargestellt. (1) Thematische und formale Sequenzierung In einem ersten Materialdurchlauf wurde eine thematische und formale Sequenzierung des Textes durchgeführt. Kriterien für eine Abgrenzung waren dabei ein Wechsel des Sprechers, ein Wechsel des Themas oder ein Wechsel des Erzählmodus, um Erzählung, Beschreibung und Argumentation zu unterscheiden. Dieser Analyseschritt diente als Vorbereitung der weiteren Analyse und sollte einen ersten Gesamtüberblick über den jeweiligen Fall ermöglichen. (2) Thematische Analyse durch Kodierungsprozesse In einer anschließenden thematischen Analyse wurde der Text kodiert, um die im jeweiligen Fall angesprochenen Inhalte zu erfassen und zu ordnen, thematische Konzepte zu entwickeln und diese in Kategorien zusammenzufassen sowie um Beziehungen zwischen verschiedenen Kategorien zu ermitteln. Das Vorgehen orientierte sich an den in der Grounded
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Theorie unterschiedenen Formen des offenen, axialen und selektiven Kodierens (vgl. Strauss/Corbin 1996; Strübing 2004). Das offene Kodieren beinhaltet den Prozess „des Aufbrechens, Untersuchens, Vergleichens, Konzeptualisierens und Kategorisierens von Daten“ (Strauss/Corbin 1996, S. 43), während es beim axialen Kodieren darum geht, Kategorien zueinander in Beziehung zu setzen und Bedingungen, Kontext, Konsequenzen, Strategien und Interaktionen in Verbindung mit einem Phänomen zu untersuchen. Das selektive Kodieren schließlich soll Kernkategorien entwickeln, die anderen Kategorien dazu in Beziehung setzen, fehlende Informationen ergänzen und Kategorien verdichten. Im Forschungsprozess stand zunächst das offene Kodieren im Vordergrund, später folgte das axiale und mit zunehmender Fallzahl auch das selektive Kodieren. Konkret bedeutete das, dass nach der Transkription des ersten Interviews die Daten ausführlich nach Themen analysiert und entsprechende Konzepte benannt wurden, die aber noch immer eine hohe Komplexität aufwiesen. Um diese zu reduzieren, wurden die Konzepte verglichen und in Kategorien eingeordnet, aus denen sich ein vorläufiger Auswertungsleitfaden herauskristallisierte. Jedes neue Interview wurde bei der Fallanalyse zunächst offen kodiert und in einem nächsten Schritt mit den bestehenden Kategorien des durch vorherige Kodierungen entstandenen Auswertungsleitfadens verglichen. Dieser wiederum wurde ergänzt durch neue Aspekte, die in dem jeweiligen Interview aufgetaucht waren. Der Auswertungsleitfaden sollte neben der systematischen Analyse eines Interviews auch dazu dienen, verschiedene Interviews miteinander zu vergleichen, indem anhand der Kategorien Fragen gestellt wurden. Beispielsweise wurde gefragt, welche Strategien in verschiedenen Interviews zum Einsatz kamen, um mit problematischen Situationen umzugehen, welcher Bewältigungsstil im Vordergrund der Erzählung stand, wie der Prozess der Auseinandersetzung eines Interviewpartners im Vergleich zu einem anderen Interviewpartner aussah oder ob Brüche oder Veränderungen zu verschiedenen Zeitpunkten im Lebensverlauf beschrieben wurden. Grundlegende analytische Verfahren in diesem Prozess waren das Stellen von Fragen und das ständige Vergleichen. Die Ergebnisse der jeweiligen Analyse wurden in schriftlichen Analyseprotokollen, den Memos, festgehalten. Dabei waren die Analyseprotokolle zunächst eng an den Daten des jeweiligen Interviews und an den aus den vorhergegangenen Interviews entwickelten Kategorien des Auswertungsleitfadens orientiert. Darüber hinaus führte die Analyse der Daten auch zu Kategorien, die vom Inhalt des jeweiligen Interviews abgelöst weiter theoretisch auf Eigenschaften und Dimensionen untersucht wurden. Ein Beispiel für dieses Vorgehen bietet die Entwicklung der Kategorie „Verlust“. Hier wurde unter anderem gefragt: Welche Arten von Verlust gibt es? Ist er körperlich, geistig, statusbezogen, sozial oder ökonomisch? Gibt es primäre und sekundäre Verluste? Wie stark (mittel oder schwach) ist der Verlust? Welche Folgen hat der Verlust für bisherige Lebensplanungen? Ist der Verlust für andere wahrnehmbar? Mit welchen Folgen ist das verbunden? Die aus den Fragen entstandenen Hypothesen führten sowohl zur Verdichtung der jeweiligen Kategorie als auch zur Auswahl der nächsten Interviewpartner. Insgesamt zielte dieser Teil der Auswertung darauf ab, Kategorien zu erarbeiten, die relevant zum Verständnis der Bewältigung einer chronischen Erkrankung auf den Ebenen der Lebensorientierung und Lebensführung sein könnten.
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(3) Analyse der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte Um die verschiedenen zeitlichen Perspektiven der erlebten und der erzählten Lebensgeschichte und die Bedeutung von Ereignissen im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Geschichte und des zeitlichen Kontextes erfassen zu können, wurde der Fall auf beiden genannten Ebenen interpretiert. Methodische Anregungen für diese Analyse lieferten v. Engelhardt (1990a) und Rosenthal (1995). Zunächst wurde die Präsentation der Lebenserzählung analysiert, indem der Text auf thematische Schwerpunkte und deren temporale Anordnung, fehlende oder nur knapp angesprochene Themen sowie die Ausprägung von erzählenden, beschreibenden und argumentativen Anteilen in Verbindung mit bestimmten Themen untersucht wurde. Daraus konnten Rückschlüsse auf die aktuelle Bewältigung des Lebens mit der chronischen Erkrankung gezogen werden. In einem nächsten Schritt wurde die Lebensgeschichte in ihrem chronologischen Verlauf rekonstruiert und die Bedeutung von Erlebnissen und Ereignissen in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext nachvollzogen. Bei diesem Interpretationsschritt verhalf die bereits erfolgte Rekonstruktion der aktuellen Bewältigung zu einem kritischen Blick auf die vorliegende Quelle (vgl. Rosenthal 1995). Schließlich wurden durch eine Kontrastierung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte die Entwicklungen, Übereinstimmungen und Differenzen zwischen beiden Perspektiven analysiert. Darüber hinaus wurden Feinanalysen bestimmter Textstellen zur Klärung spezifischer Fragen oder zur Überprüfung von Hypothesen sowohl unter Punkt (2) als auch unter Punkt (3) durchgeführt. (4) Zusammenfassende Analyse in Bezug auf Lebensorientierung und Lebensführung Im Hinblick auf die Fragestellung der Untersuchung erfolgte nun eine zusammenfassende Analyse des Falles in Bezug auf die Entwicklung der Lebensorientierung und der Lebensführung im biographischen Verlauf, bei der die bisherigen Ergebnisse in Beziehung gesetzt wurden. Die daraus entwickelten Überlegungen und Hypothesen leiteten jeweils das weitere Sampling.
2.2.4.2 Der Fallvergleich An die Fallanalyse schloss sich der Vergleich der Fälle an, um Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu ermitteln und so zu Verallgemeinerungen und zu weiteren Kriterien für das theoretische Sampling zu gelangen. Durch ein an dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung (Glaser/Strauss 1967; Rosenthal 2005; Strübing 2004) orientiertem Vorgehen bei der Auswahl der nächsten Fälle wurde sowohl eine Erweiterung und Ergänzung als auch eine Überprüfung der bisherigen Informationen angestrebt. Bei einem minimal konstrastiven Vergleich wurde nach Abschluss einer Fallanalyse ein weiterer Fall ausgewählt, der hinsichtlich des zu untersuchenden Phänomens zumindest oberflächlich dem bereits ausgewerteten Fall ähnlich war. Im Gegensatz dazu wurde für einen maximal kontrastiven Vergleich ein Fall ausgesucht, der eine große Verschiedenheit zu den bisher ausgewerteten Fällen aufwies. Zwischen den Interviewpartnern wurden sowohl die spezifischen Ausprägungen von einzelnen Kategorien verglichen als auch die Gestalt des Verlaufs von einem Leben ohne
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zu einem Leben mit der chronischen Erkrankung und den damit verbundenen Entwicklungen.
2.2.4.3 Die Typenbildung Aus der Analyse der Einzelfälle und den Fallvergleichen entwickelte sich der Prozess der Bildung von Typen, in den methodische Anregungen zur empirisch begründeten Typenbildung von Kluge (1999) einflossen. Mit zunehmender Dichte der Ergebnisse aus den ständigen Vergleichen ließen sich die Fälle nach Merkmalen gruppieren. Die Gruppen wurden in Bezug auf ihre inhaltlichen Sinnzusammenhänge untersucht und sowohl die Fälle innerhalb einer Gruppe als auch die Gruppen miteinander verglichen. Dabei ergaben sich anfangs einige Probleme und Widersprüche, die schrittweise geklärt werden konnten. Als Beleg für einen solchen Ordnungsprozess soll hier ein zunächst widersprüchlicher Aspekt bei der Entwicklung eines Typus angeführt werden. Es handelt sich um das übergeordnete Verlaufsmuster, bei dem nach einer Irritation durch die Erkrankung im weiteren Lebensverlauf zumindest über einen langen Zeitraum hinweg die Kontinuität der Lebensorientierung im Vordergrund steht. Fälle, die dieses Muster aufwiesen, unterschieden sich in anderen Merkmalen wesentlich voneinander. So konfrontierten sich beispielsweise einige Interviewpartner mit diesem Verlaufsmuster der Kontinuität der Lebensorientierung aktiv mit der Erkrankung, während andere die Auseinandersetzung mit der Erkrankung weitgehend abwehrten und im Wesentlichen ihren Alltag fortsetzten. Neben weiteren Unterschieden stellte ein Teil der Interviewpartner ihre Lebensführung frühzeitig und vorausschauend auf die Bedingungen der Erkrankung ein, bei anderen hingegen war die Einstellung der Lebensführung eher schleppend. Die Untersuchung der Sinnzusammenhänge führte zu zwei verschiedenen Varianten des Typus, die sich zwar in Bezug auf das übergeordnete Verlaufsmuster ähnlich waren, sich aber im konkreten Verhalten und den dazugehörigen Hintergründen erheblich unterschieden. Charakteristisch für die eine Variante des Typus war die Einschätzung, nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Erkrankung und ihren Bedingungen die gesundheitliche Situation zumindest über einen langen Zeitraum hinweg kontrollieren und die bisherigen Lebensorientierungen fortsetzen zu können. Eine entsprechende Anpassung der Lebensführung stellte zugleich eine Bedingung dafür und eine Konsequenz daraus dar. Kennzeichnend für die andere Variante war, dass gerade das Abwehren der Auseinandersetzung und der damit verbundenen Vorstellungen und Ängste den Betroffenen die Fortführung der bisherigen Lebensorientierungen über einen langen Zeitraum ermöglichte. Eine reaktive Anpassung der Lebensführung erklärte sich als Konsequenz aus dieser Haltung. Schließlich wurde eine Typologie mit vier empirisch begründeten Typen entwickelt, zu denen sich die Fälle des Samples zuordnen oder zwischen denen sie sich verorten ließen. Charakteristisch für den gesamten Forschungsprozess war, dass Datensammlung und Analyse eng verwobene Tätigkeiten waren und abwechselnd auftraten, da die Analyse das Sampling der Daten leitete. Auch erfolgte bei einem neu entwickelten Aspekt unter Umständen eine neuerliche Untersuchung eines bereits früher analysierten Interviews unter dem neuen Gesichtspunkt, sodass es neben linearen auch vielfältige zirkuläre Analyseprozesse gab.
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Untersuchungsansatz und Forschungsprozess
2.3 Reflexion über die eigene Rolle und forschungsethische Gesichtspunkte Die Subjektivität des Forschers kann als ein Interpretationsinstrument betrachtet werden, denn ich war als Subjekt am Forschungsprozess beteiligt – bei der Durchführung der Interviews als Gesprächspartnerin und bei der Auswertung des Datenmaterials als Interpretin. Daher ist die Reflexion über die eigene Subjektivität, über Vorwissen und damit verbundene Hypothesen sowie über die eigene Rolle in der Interaktion und bei der Interpretation ebenfalls Teil des Forschungsprozesses. Mein theoretisches und alltagsweltliches Vorwissen aus unterschiedenen Perspektiven zu dem hier behandelten Thema führte zu der Fragestellung der vorliegenden Arbeit, wie verschiedene Menschen auf der Ebene der Lebensorientierung und Lebensführung das Krankwerden und das Leben mit der Erkrankung bewältigen. Vor Beginn der Erhebung war die Erwartung vorhanden, dass überwiegend Brucherfahrungen geschildert würden, diese Erwartung wurde jedoch reflektiert und die Frage nach der Bewältigung offen gestellt. Ebenso war es wichtig, vor dem Hintergrund der persönlichen und teilweise sehr schmerzlichen Erfahrungen der Interviewpartner immer wieder die eigene Rolle und die Sicht auf den Untersuchungsgegenstand zu reflektieren sowie die Nähe und Distanz zum Thema auszubalancieren mit dem Ziel, die notwendige kritische Distanz zum Gegenstand der Untersuchung zu wahren und zugleich Vorwissen und Erfahrung bei der Untersuchung einzubringen und zu nutzen. Dass im Forschungsprozess dem Prinzip der Offenheit näherungsweise gefolgt werden konnte, zeigen meines Erachtens die so von mir nicht erwarteten Ergebnisse aus den Analysen der Interviews, die neben dem einen Typus, für den eine Brucherfahrung mit der Erkrankung charakteristisch ist, zu drei weiteren Typen führten, bei denen mit jeweils verschiedenen Hintergründen eher die Kontinuität und Normalität im Vordergrund steht. Bei der Thematisierung einer chronischen Erkrankung kann die Vergegenwärtigung vergangener Erfahrungen, insbesondere aber auch die Auseinandersetzung mit zukünftigen Perspektiven und dem bei einigen Personen deutlich begrenzten Zukunftshorizont, problematisch und heikel sein. Wenn aufgrund des bisherigen Krankheitsverlaufs weitere Einschränkungen und zunehmende Handlungsunfähigkeit in der Zukunft zu erwarten sind, ist in der Regel die Konfrontation mit solchen Vorstellungen, zu der es beispielsweise durch Interviewfragen kommen kann, mit negativen Emotionen verbunden. In einer solchen Situation ging es darum, auch den schwierigen Gefühlen Raum geben, ohne sie die Situation beherrschen zu lassen. In der Interaktion mussten also beide Seiten in einem Prozess des ständigen Balancierens mit diesen Emotionen umgehen. Weiterhin ist es aus forschungsethischen Gründen wichtig, dass sich die befragte Person am Ende des Interviews eher in einer positiven oder zumindest weitgehend neutralen Gemütsverfassung befindet und zum Beispiel nicht in einer angstauslösenden Vorstellung gefangen ist. Um sich von dem Interviewpartner in einer emotional stabilen Lage zu verabschieden wurde daher bei der Interviewführung darauf geachtet, in der Abschlussphase des Interviews aufbauende Themen anzuschneiden wie beispielsweise durch die Frage danach, was die Befragten bei der Bewältigung als hilfreich oder unterstützend erlebten. Die Interviewpartner wurden darüber hinaus gefragt, ob sie selbst noch Fragen hätten oder etwas ergänzen möchten, das für sie wichtig ist und die Möglichkeit eines nochmaligen Kontaktes wurde erörtert. Das abschließende gemeinsame Ausfüllen des sozialstrukturellen Fragebogens half dabei, die häufig
Reflexion über die eigene Rolle und forschungsethische Gesichtspunkte
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dichte Atmosphäre am Ende des Interviews zu versachlichen und mehr Distanz zum Thema und in der Beziehung herzustellen. Für die Präsentation der Fallrekonstruktionen und theoretischen Verallgemeinerungen gilt es auf der einen Seite, das Gütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit zu beachten (vgl. Rosenthal 2005; Steinke 1999). Neben der Dokumentation des Forschungsprozesses beinhaltet das, die Interpretationen anhand von ausgewählten Texten zu belegen und den Auslegungsprozess nachvollziehbar darzustellen. Auf der anderen Seite sind insbesondere bei detaillierten lebensgeschichtlichen Falldarstellungen forschungsethische Gesichtspunkte einzubeziehen. Um den Personenschutz zu gewährleisten werden daher bestimmte biographische Daten maskiert. In der vorliegenden Arbeit wurde die Maskierung nach der Auswertung der Daten vorgenommen, da es sinnvoll schien, Hypothesen aus nicht verfremdeten Daten zu entwickeln. Darüber hinaus war es zu einem späteren Zeitpunkt leichter möglich zu entscheiden, welche Daten verändert werden konnten, ohne die Interpretation zu beeinträchtigen. Zur Anonymisierung der Daten wurden die Personen- und Ortsnamen verändert und spezifische, wieder erkennbare Merkmale wie beispielsweise repräsentative berufliche Positionen verfremdet oder verallgemeinert. Für jeden Einzelfall wurde entschieden, welche Aspekte und Interpretationen präsentiert werden sollten. Einige Aspekte wurden in verallgemeinerter Form im querdimensionalen Vergleich dargestellt, jedoch nicht in die Präsentation des Einzelfalls einbezogen.
3 Empirische Ergebnisse
3.1 Überblick über die Ergebnisse Die vorliegende Arbeit untersucht Bewältigungsprozesse bei chronischer Erkrankung auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der Ebene der Lebensführung. Zentrale Aspekte zur Bearbeitung des Themas sind die Dimensionen der Zeit, der Person und der Umwelt, die auf vielfache Weise miteinander verwoben sind. Die Zeit ist ein zentraler Faktor im Lebensverlauf und im Krankheitsverlauf. Nach einer längeren oder kürzeren Lebenszeit ohne die Erkrankung tritt die Krankheit in einer bestimmten Lebensphase in die Biographie ein. Von diesem Zeitpunkt an begleitet die Erkrankung den Menschen in der Regel bis zu seinem Lebensende in seinem weiteren Lebensverlauf und muss in die Biographie integriert werden. Eine chronische Krankheit wirkt dauerhaft auf den Körper ein und entfaltet ihre zerstörerische Wirkung häufig über einen langen Zeitraum. Die von Krankheit betroffene Person befindet sich zum Zeitpunkt des Eintrittes der Krankheit in die Biographie in einer bestimmten sozialen Lage und sie verfügt über bestimmte Potenziale oder ist belastet durch biographische Hypotheken. Diese Komponenten stellen zum einen die Voraussetzungen der Person für die Bewältigung eines Lebens mit der Krankheit dar und können sich zum anderen im Verlauf des Lebens mit der Krankheit verändern. Die Person nimmt die Krankheit auf ihre Weise wahr, reagiert auf sie mit einem für sie charakteristischen Bewältigungsstil und integriert die Krankheit in einem bestimmten Ausmaß in ihre Identität. Die Krankheit führt zu Veränderungen im Körper, die mit Verlust oder Einschränkung von Funktionen verbunden sind. In der Folge muss von der betroffenen Person oder von medizinischen Institutionen körperbezogene Arbeit geleistet werden, um die Funktionen soweit wie möglich zu erhalten oder sie zu ersetzen. Die Veränderungen des Körpers führen zu Auswirkungen im weiteren Lebensverlauf, die durch den Grad der Beeinträchtigung durch Art, Schwere und Verlauf der Krankheit und durch die Bedeutungen, die die Person und das Umfeld der Krankheit zumessen, beeinflusst werden. Die Krankheit wirkt sich auf die Interaktion mit der Umwelt in privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Bereichen aus. Beziehungen zu bedeutsamen Personen oder Gruppen in den genannten Bereichen können sich verändern, Zugehörigkeiten und Sinnwelten können verloren gehen oder neu entdeckt werden. Neue Lebensbereiche, beispielsweise durch einen notwendigen regelmäßigen Kontakt zum medizinischen System, müssen in den Alltag integriert werden. All diese Aspekte beeinflussen die Bewältigung der Krankheit auf der Ebene der Lebensorientierung und auf der handlungspraktischen Ebene. Unter Lebensorientierungen werden hier biographisch relevante Pläne und Ziele sowie Vorstellungen und Erwartungen über das eigene Leben und über zukünftige Entwicklungen verstanden. Sie können eine konkrete Vorstellung in einem Lebensbereich beinhalten, wofür ein Kinderwunsch beispielhaft ist, oder übergeordneter Natur sein wie beispielsweise der Aspekt der Selbstver-
Überblick über die Ergebnisse
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wirklichung. In den Interviews wird überwiegend von konkreten Lebensorientierungen in privaten, beruflichen oder gesellschaftlichen Bereichen wie Partnerschaft, Familie und Kinder oder der beruflichen Entwicklung berichtet. Darüber hinaus werden auch übergeordnete Lebensorientierungen wie beispielsweise religiöse Bezüge oder ein humanistisches Weltbild, gesellschaftliches Engagement und das Leitmotiv der Selbstverwirklichung angesprochen. In vielen Fällen wird die Orientierung am Normallebenslauf bis zur Erkrankung und häufig auch darüber hinaus deutlich. Die Bedeutung der Arbeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Teilhabe oder einer anderen vergleichbaren sozialen Position tritt besonders hervor. Ebenso haben die Paarbeziehung und weitere soziale Beziehungen einen hohen Stellenwert. Für einige Fälle ist eine Diffusität der Lebensorientierung kennzeichnend. Im Zusammenhang mit dem Auftreten einer chronischen Krankheit kann die Lebensorientierung umfassend in einem oder mehreren Lebensbereichen in Frage stehen, Teilbereiche können sinnlos werden oder die bisherige Lebensorientierung kann beibehalten werden. Die Lebensführung muss sich in Abhängigkeit von Art und Schwere der Erkrankung in einem bestimmten Ausmaß auf Veränderungen durch die Krankheit oder durch eine Umorientierung einstellen. Krankheitsbezogene Arbeit zur Erhaltung von körperlichen Funktionen ist zu leisten. Hier geht es also um erfolgte oder nicht erfolgte Anpassungen auf der handlungspraktischen Ebene und deren Folgen, von denen die Interviewpartner berichten. Im Verlauf der Untersuchung kristallisierten sich vier typische Verlaufsmuster heraus, mit denen die Bewältigungsprozesse beschrieben werden können und die im Folgenden im Überblick dargestellt werden. Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) Krankheit seit einer frühen Lebensphase als Normalität in der Biographie Zunächst einmal unterscheidet sich eine Gruppe der interviewten Personen von den anderen dadurch, dass sie bereits in der Kindheit erkrankt sind und daher die chronische Krankheit von vornherein eine Voraussetzung ihrer Lebensorientierung und Lebensführung bildet. Durch die Erkrankung in einer frühen Lebensphase ist die Bewältigung der Krankheit anfangs eine Aufgabe der Familie und dabei vor allem die Aufgabe der Eltern. Erwachsenwerden bedeutet für Personen dieses Typus unter anderem, auch die Bewältigung der Krankheit selbst in die Hand zu nehmen und in diesem Bereich selbstständig zu werden. Die mit der Krankheit verbundenen Bedingungen und Erfahrungen fließen implizit oder explizit in berufliche oder private Pläne und Wünsche mit ein. Akute Veränderungen der gesundheitlichen Situation können zu Brüchen oder Krisen führen, insgesamt steht aber bei diesem Typus die Normalität eines Lebens mit der Krankheit im Vordergrund des Erlebens. Diese Normalität beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Lebensorientierung und der Lebensführung durch die Bedingungen der Krankheit und durch die Bedingungen der Umwelt. Bruch und Neuorientierung im Leben (Typus B) Krankheit als Wendepunkt in der Biographie Ein zweites typisches Muster zeigt sich bei Personen, die einen umfassenden Bruch von bestehenden bedeutsamen Lebensorientierungen im Zusammenhang mit dem Auftreten der Erkrankung schildern. Die Erkrankung tritt hier erst nach der Adoleszenz überwiegend im frühen und mittleren Erwachsenenalter in die Biographie ein, also zu einem Zeitpunkt, an
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Empirische Ergebnisse
dem sich in der Regel bereits Lebenspläne und bestimmte Ausrichtungen herausgebildet haben und diese zum Teil schon in der Realisierung befinden. Die Erfahrung eines Bruches bisheriger Lebensorientierungen kann einen oder mehrere Lebensbereiche betreffen. Auf die Brucherfahrung und der damit verbundenen Phase der Auseinandersetzung folgt eine Neuorientierung, in der die veränderten Bedingungen durch die Erkrankung miteinbezogen werden. Die Betroffenen blicken aus der neuen Perspektive einer auf Krankheit bezogenen Welt auf die vormals vertraute Normalität, die mit einer auf Gesundheit bezogenen Welt verknüpft war. Zum einen wird eine Brucherfahrung geschildert, wenn die Betroffenen am Ende der Phase der Auseinandersetzung zu dem Schluss gelangen, dass bisherige Orientierungen nicht fortgesetzt werden können, auch wenn sie körperlich zumindest über einen gewissen Zeitraum hinweg dazu noch in der Lage wären. Zum anderen tritt sie ein, wenn die körperlichen Beeinträchtigungen durch die Schwere der Erkrankung so groß sind, dass die bisherigen Lebensorientierungen aus körperlichen Gründen aufgegeben werden müssen. Die Krankheit stellt bei dieser Gruppe also einen Wendepunkt in der Biographie dar. Die Lebensführung wird sowohl bei der einen als auch bei der anderen Variante umfassend auf die neuen Bedingungen eingestellt. Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) Krankheit als für die Ausrichtung untergeordneter Aspekt in der Biographie Im Unterschied dazu stellt die Erkrankung bei einer dritten Gruppe zwar eine Irritation im Leben dar, jedoch nehmen die Interviewpartner nach der Phase der Irritation ihre bisherigen Lebensorientierungen wieder auf oder setzen diese fort. Die Erkrankung tritt hier ebenfalls nach der Adoleszenz im frühen, mittleren und auch im späten Erwachsenenalter in die Biographie ein. Bei der aktiv-konfrontativen Variante dieses Typus setzen sich die Betroffenen mit ihrer Situation auseinander und kommen zu dem Schluss, dass sie trotz der Erkrankung ihre wesentlichen Lebensorientierungen fortsetzen können. Sie passen ihre Lebensführung optimal an ihre veränderten gesundheitlichen Bedingungen an, um das Fortschreiten der Erkrankung zu begrenzen und zu kontrollieren. Bei der reaktiv-abwehrenden Variante werden zu detaillierte Informationen über die Erkrankung und ihre mögliche Entwicklung in der Zukunft abgewehrt bzw. begrenzt. Im Vordergrund der Bewältigung steht, die gegenwärtigen Bezugspunkte zu erhalten. Die Lebensführung wird reaktiv und teilweise schleppend an die Veränderungen durch das Fortschreiten der Erkrankung angepasst. Überwiegender Bezugspunkt bei beiden Varianten bleibt die bisherige Normalität einer auf Gesundheit bezogenen Welt. Die auf Krankheit bezogene Welt kann jedoch durch eine sukzessive Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes schrittweise mehr Raum im Alltag und im Denken einnehmen. Durch das Fortschreiten der Erkrankung kann es zu einem späteren Zeitpunkt im Lebensverlauf zu einem Bruch bedeutender Lebensorientierungen im Zusammenhang mit einem einschneidenden Lebensereignis kommen, wenn beispielsweise der Beruf aufgegeben werden muss oder die Partnerschaft zerbricht. Die Krankheit ist also bei diesem Muster über einen langen Zeitraum hinweg ein für die biographische Ausrichtung unbedeutender Aspekt. Erst mit der Erfahrung eines bedeutenden Verlustes im Zusammenhang mit der Schwere der Erkrankung kommt es in einigen Fällen zu einer Veränderung der bisherigen Lebensorientierung.
Falldarstellung und Fallvergleich
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Bagatellisierung bei generell problembestimmter Lebensorientierung (Typus D) Krankheit als Teilaspekt in einer problematischen Biographie Bei dem vierten Muster ist die Lebensorientierung bereits vor der Erkrankung von Problemen bestimmt und häufig diffus. Die Interviewpartner dieser Gruppe berichten von einer bedeutenden biographischen Hypothek, die ihr Leben früh überschattet. Es gibt bereits bedeutende Brucherfahrungen in der Biographie bevor die Erkrankung in Erscheinung tritt. Das Leben in einer Außenseiterrolle und eine damit verbundene Blickrichtung von außen auf die normale Welt ist ihnen bereits vertraut und stellt keine neue Erfahrung dar, lediglich die Inhalte oder Institutionen einer auf Krankheit bezogenen Welt sind neu. In diesem Muster wird die Krankheit anfangs kaum realisiert sondern bagatellisiert und gewinnt erst mit stärker werdender Symptomatik an Bedeutung. Die Erkrankung reiht sich als weiteres Problem in eine schon bestehende Problemlage ein und wird nicht als ein herausragendes biographisches Ereignis dargestellt. Die Lebensorientierung bleibt weiter diffus und problematisch. Die Lebensführung wird erst mit deutlich zunehmender Verschlechterung des körperlichen Zustandes an die Bedingungen der Krankheit angepasst, was teilweise den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen kann. Die beschriebenen Typen sind als vier Positionen im Raum vorstellbar, zu denen und zwischen denen die Fälle zugeordnet werden können. Einige der Fälle lassen sich klar in der Nähe jeweils eines Typus verorten, andere wieder befinden sich am Übergang zwischen zwei Typen und vereinigen als Mischformen Merkmale des einen und des anderen Verlaufsmusters in verschiedener Ausprägung. Auch im Zeitverlauf können sich Änderungen ergeben. Einige Fälle sind beispielsweise über viele Jahre klar dem Typus C zuzuordnen, für den eine Kontinuität der Lebensorientierung charakteristisch ist. Durch die massive Verschlechterung der körperlichen Situation und dem damit in Verbindung stehenden Verlust eines Lebensbereiches rücken sie zu einem späteren Zeitpunkt näher an den Übergang zu dem Typus B, für den die Brucherfahrung kennzeichnend ist. 3.2 Falldarstellung und Fallvergleich In Einzelporträts werden die individuellen Ausprägungen und Varianten der vier Typen nun vorgestellt. Die Präsentation des Einzelfalles beginnt mit einer kurzen Vorstellung der Person, die Informationen zu Alter und Bildungsabschluss, der aktuellen sozialen Situation, dem Familienstand und der Art und Dauer der Erkrankung beinhaltet. Daran schließt sich die Darstellung des Verlaufs der Lebens- und Krankheitsgeschichte an, die in drei Abschnitte untergliedert ist: die biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung, der Einbruch der Krankheit in das Leben und die erste Auseinandersetzung sowie den weiteren Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart. Im Anschluss daran wird die gegenwärtige Bewältigung des Lebens mit der Krankheit beleuchtet und schließlich der Fall in Bezug auf die Lebensorientierung, Lebensführung und Krankheit im Lebensverlauf analysiert. Jeweils der erste Fall eines Typus wird ausführlicher, die folgenden Fälle werden etwas geraffter präsentiert. Anschließend werden die Fälle zusammenfassend verglichen.
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3.2.1 Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) Charakteristisch für diese Gruppe ist der Eintritt der Krankheit zu einem frühen Zeitpunkt in den Lebensverlauf, wodurch die Krankheit mit ihren spezifischen Bedingungen bereits eine Voraussetzung bei der Lebensplanung und der Herausbildung der Identität in der Adoleszenz darstellt. Folgende Personen werden porträtiert: Wanda Haupt ist bereits von Beginn ihres Lebens an von einer schweren Erkrankung betroffen. Der Umgang mit der Erkrankung ist für sie Teil ihrer privaten und beruflichen Normalität und sie schildert heute im mittleren Erwachsenenalter ihr Leben mit der Krankheitsbewältigung trotz vieler schwieriger Phasen als Erfolgsgeschichte. Nora Seubert hingegen, die in der Vorschulzeit erkrankt und sich heute im frühen Erwachsenenalter befindet, erzählt aus der Perspektive der aktuell bestehenden Lage einer gesundheitlichen Krise, deren eigenständige und von den Eltern unabhängig zu leistende Bewältigung noch neu ist. Obwohl sie sich grundsätzlich in Bezug auf den Umgang mit ihrer Krankheit als Stehaufmännchen bezeichnet, ist die augenblickliche Situation von der Krise geprägt. Verena Peters wiederum ist seit dem Übergang von der Kindheit zur Jugend von einer zwar in der akuten Situation dramatischen, aber im Alltag weniger einschränkenden Erkrankung betroffen. Heute, im frühen bis mittleren Erwachsenenalter, ist die Krankheit zwar immer latent im Hintergrund vorhanden und bildet so auch eine Voraussetzung bei der Lebensplanung, jedoch muss Verena Peters ihre Lebensführung nur partiell auf die Erkrankung einstellen.
3.2.1.1 Biographisches Porträt 1: WANDA HAUPT Wanda Haupt ist zum Zeitpunkt des Interviews 39 Jahre alt und seit frühster Kindheit nierenkrank. Heute lebt sie mit einer Spenderniere. Nach Berufsausbildungen als Kinderpflegerin und als examinierte Krankenschwester arbeitet sie nach entsprechenden Zusatzqualifikationen als Stationsleiterin auf der Dialysestation eines Krankenhauses. Wanda Haupt ist seit 20 Jahren verheiratet. Das Interview fand in dem Krankenhaus statt, in dem sie arbeitet. Es herrschte eine konzentrierte, offene Atmosphäre.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Wanda Haupt wird 1966 in einer Familie der unteren Mittelschicht geboren. Ihr Vater ist Lastkraftfahrer, ihre Mutter arbeitet als Teilzeitbedienung. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung Krankheit in früher Kindheit: „Ich bin 66 geboren und da waren dann schon nach drei Monaten immer wieder Infekte.“ Bereits ab dem Alter von drei Monaten treten bei Wanda Haupt wiederholt Infekte, zumeist Harnwegsinfekte, auf, die mit Penizillin erfolgreich behandelt werden. Im Anschluss an die Behandlung kommt es jedoch jeweils nach kurzer Zeit immer wieder zu einer erneuten Infektion. Als Wanda Haupt drei Jahre alt ist, wird nach einer Röntgenuntersuchung festge-
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stellt, dass beide Harnleiter „massivst“ (Int 22, S. 2) verwachsen sind. Durch diese Verwachsungen wird der Urin in den Nieren gestaut und löst dadurch die immer wieder auftretenden Infekte aus. Als Folge dieser Diagnose werden wiederholt Operationen durchgeführt, um die Nierenfunktion soweit wie möglich zu erhalten. Wanda Haupt erfährt diese erste Zeit der Krankheit als kleines Kind und erlebt sie auf dieser Bewusstseinsstufe im Alltag. Währenddessen übernehmen die Eltern die aktive Bewältigung der Krankheit und stellen ihre Lebensführung auf die besonderen Bedingungen ein, die beispielsweise durch die zahlreichen, zum Teil wochen- und monatelangen Krankenhausaufenthalte der Tochter entstehen. In dieser Zeit wird eine zweite, gesunde Tochter geboren. Es ist davon auszugehen, dass die Jahre bis zur Diagnose und die erste Zeit danach kaum als eigene Erfahrung erinnert werden, sondern sich überwiegend aus Erzählungen der Eltern speisen. Der Übergang in die Krankheit wird nicht bewusst erlebt sondern die unterschiedlichen Bedingungen der Krankheit bilden die Voraussetzung des weiteren Lebens. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Wiederholte Operationen: „Für mich war das schon schrecklich zum Teil.“ In den folgenden Jahren wird Wanda Haupt zwei bis drei Mal pro Jahr operiert und muss bei jeder Operation für mehrere Wochen ins Krankenhaus. Sie berichtet einerseits, dass sie sich „an die Zeit gar nicht mehr so sehr erinnern“ (Int 22, S. 23) kann, aktualisiert aber im Anschluss daran eine belastende Situation kurz vor einer Operation: „Da war ich vielleicht acht oder neun Jahre, da wusste ich, jetzt werde ich wieder operiert morgen. Und das war ja für mich das Schlimmste, operiert zu werden, ich meine, das war damals auch mit den Narkosen, die waren grauenvoll zum Aufwachen und da, weiß ich noch, da bin ich noch im, im, habe ich mich schon so ärgern müssen, ich war ja immer schon kleinwüchsig, ja, und bin halt da mit acht Jahren durchgegangen wie eine Fünfjährige, und dann haben mich die da schon mal in so ein großes Gitterbett gesetzt, mit acht Jahren, mich!, da war ich schon mal angefressen. Und dann hieß es, ja, morgen wieder OP. Und da bin ich da in meinem Gitterbett gehockt und hab mir echt überlegt, wie könnt ich hier jetzt ausbüxen, dem Ganzen entkommen, gell, und, also für mich war das, war das schon schrecklich zum Teil, weil’s einfach so, so ein bisschen ausweglos war.“ (Int 22, S. 23f.)
Wanda Haupt bringt in dieser Passage zum Ausdruck, dass die Situation aus unterschiedlichen Gründen für sie belastend ist. Sie hat Angst vor dem – bereits bekannten - schlechten Körpergefühl nach dem Aufwachen, das durch die Narkose verursacht wird. Darüber hinaus empfindet sie die Situation als demütigend, da sie als Folge ihrer Krankheit für ihr Alter relativ klein ist und in ein Gitterbett gesetzt wird, obwohl sie bereits acht Jahre alt ist. In der Formulierung „mit acht Jahren, mich!“ drückt sie ihre Entrüstung über diese Respektlosigkeit aus, über die sie zutriefst verärgert ist. Sie hat sich in der Situation also schon „so ärgern müssen“ und bekommt nun als weiteren von außen bestimmten Eingriff die schlechte Nachricht, dass sie am folgenden Tag wieder operiert wird, was sie zusätzlich belastet. Sie überlegt, wie sie „ausbüxen“ und der Situation „entkommen“ kann, sucht also nach Wegen, sich der Erfahrung des Gefangenseins zu widersetzen. Sie erlebt sich jedoch als ohnmächtig und die Situation als ausweglos. Aus rückwärtiger Sicht bezeichnet sie diese Erfahrung als „schrecklich“. Zugleich begrenzt sie die negative Erfahrung in der Erzählung. Es war nur „zum Teil“ schrecklich, eine Formulierung, durch die Wanda Haupt auf andere neutrale oder positivere Momente hinweist, die die schreckliche Erfahrung relativieren. In
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der Kombination „ein bisschen ausweglos“ wird die Empfindung der Ausweglosigkeit einerseits beschrieben, zugleich aber in ihrem Umfang begrenzt, klein gehalten. Diese Darstellung des ‚begrenzt Schrecklichen und Ausweglosen’ kann als eine Strategie gedeutet werden, negative Erfahrungen zu relativieren und zu verkleinern, um sie besser bewältigen zu können, ist aber auch im Zusammenhang mit der heutigen positiven Lebenserfahrung und einer gelungenen aktiven Bewältigung zu verstehen, die in den weiteren Ausführungen noch deutlich werden wird. Die Situation ist einerseits schlimm, andererseits aber eine bereits bekannte, sich wiederholende Erfahrung und daher in gewisser Weise Normalität in ihrem Leben, was in der Formulierung „morgen wieder OP“ zum Ausdruck kommt. Wanda Haupt wird dialysepflichtig: „Super, jetzt dialysieren wir.“ Die wiederholten Operationen ziehen sich hin, bis im Alter von 13 Jahren der Schaden an ihren Nieren inzwischen so groß ist, dass sie dialysepflichtig wird. Als der zuständige Arzt sie zur Transplantation anmeldet, ist sie „stinksauer“ (Int 22, S. 2), weil sie nicht gefragt worden ist. In der Folge wird das Vorhaben wieder abgesagt. Wanda Haupt setzt ihre Wünsche gegen die übliche medizinische Vorgehensweise durch und bestimmt aktiv den weiteren Behandlungsverlauf mit. Neben ihrem Widerstand gegen die erlebte Bevormundung gibt es noch einen weiteren Grund, weshalb Wanda Haupt „massiv gegen Transplantation“ (ebd.) ist: „Und wie das mit 13 dann so war, wirklich, jetzt müssen wir dialysieren, jetzt geht’s nicht mehr anders, das war für mich ah – super, jetzt dialysieren wir, geh ich da dreimal die Woche hin und da - ja keine OPs mehr und irgendwie war das für mich so, so ein Schnitt, so eine Erleichterung, drum hab ich mich lang nicht transplantieren lassen. Ich mein, ich hätte mir ja viel ersparen können, wenn ich da, wenn ich mich da gleich auf die Liste hätte setzen lassen, dann wäre ich vielleicht mit, mit 15 spätestens transplantiert worden, wäre mir viel erspart geblieben, ich mein, das war ja nicht alles bloß ein Honiglecken.“ (Int 22, S. 24)
In Dialogform stellt Wanda Haupt ihre Sichtweise der Dialysepflichtigkeit im Kontrast zur ärztlichen Perspektive auf die Situation dar. Während von ärztlicher Seite eher eine bedauerliche Notwendigkeit anklingt, ist es für sie „super“, weil sie nicht mehr operiert wird, sondern ‚nur noch’ drei Mal in der Woche an die Dialyse muss. Sie empfindet die neue scheinbar berechenbare Lage ohne Operationen als einen positiven Schnitt, als Erleichterung zu der früheren, von Operationen überschatteten Zeit und lässt sich daher lange nicht transplantieren. Mit 13 Jahren und ihren bisherigen Lebenserfahrungen erscheint ihr die neue Situation als Verbesserung. Mit der späteren positiven Erfahrung der Transplantation und dem Wissen um die verschiedenen Komplikationen an der Dialyse bewertet sie die Situation rückblickend jedoch anders und meint, sie hätte sich durch eine frühere Transplantation viel ersparen können. Die folgenden zwei Jahre wird sie in der Kinderdialysestation der Großstadt N. dialysiert. Dies bedeutet zusätzlich zum mehrstündigen Aufenthalt auf der Dialysestation für sie und ihre Mutter alle zwei Tage eine Fahrzeit von eineinhalb Stunden hin und zurück, bei jedem Wetter, in jeder Verfassung. Wanda Haupt betont, dass ihre Mutter immer fährt und sie sich nicht erinnern kann, dass die Mutter einmal nicht gekonnt hätte. Hier klingt die umfassende Unterstützung durch ihre Familie an, die an anderer Stelle noch mehrfach zur Sprache kommt.
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Probleme in der Hauptschule: „Das hab ich als schlimm empfunden, das muss ich wirklich sagen, weil, also da hat man ja nicht dazugehört.“ Durch die verschiedenen Operationen sind ihre Harnleiter bereits mit zehn Jahren so kurz, dass sie nicht mehr bis zur Blase reichen, sondern nach außen geleitet werden. Bis sie 15 ist trägt sie daher Windeln, dann wird ein Beutel befestigt, der den Urin auffängt. In der Hauptschule wird sie wegen der Windeln von den Mitschülern ausgegrenzt. „Das war eher so ein Problem in der Schule, in der Hauptschule für mich, weil ich ja mit, das darf man gar nicht sagen, aber mit 15 noch mit Pampers rumgelaufen bin, weil es noch keine ordentliche Stoma-Versorgung damals gab und das, ich mein, das kriegen die Mitschüler ja mit dann und, also, das war eigentlich eine Zeit – drum bin ich wahrscheinlich auch so ein bisschen zum Revoluzzer geworden und hab mich so ein bisschen über manche Grenzen hinweggesetzt, also das hab ich als schlimm empfunden, das muss ich wirklich sagen, weil, also da hat man ja nicht dazugehört, das war ja, das war ja was, nix Schönes muss man wirklich sagen (...) also das war schon eine schwierige Zeit, muss ich schon sagen, da denk ich auch nicht gern dran.“ (Int 22, S. 26f.)
In dieser Passage bringt Wanda Haupt zum Ausdruck, wie sie durch die Ausgrenzung ihrer Mitschüler gelitten hat. Dabei werden keine einzelnen Situationen aktualisiert, sondern sie generalisiert die Zeit in der Hauptschule als insgesamt schwierig und hält sie durch einen lebensgeschichtlichen Rückblick aus heutiger Perspektive auf Distanz. Auf der einen Seite findet sich hier der Blick der medizinischen Fachkraft, die die medizinischen Bedingungen von damals sieht und sie aus heutiger Sicht als mangelhaft bewertet („...weil es noch keine ordentliche Stoma-Versorgung damals gab“). Der Hinweis auf ein eigentlich geheimzuhaltendes, peinliches Terrain, der in dem eingeschobenen Satz „das darf man gar nicht sagen“ zum Ausdruck kommt, kann sich ebenfalls auf die altmodische medizinische Versorgung beziehen. Er könnte aber auch auf das Tragen von Windeln im Teenager-Alter bezogen sein, was durch den Einschub bei der Benennung ihres Alters plausibel wäre, und lässt sich daher nicht eindeutig zuordnen. Auf der anderen Seite blickt Wanda Haupt in dieser Passage von heute auf diese Zeit aus selbstbezüglicher Perspektive zurück und reflektiert ihre emotionale Befindlichkeit. Zudem sieht sie in diesen Erfahrungen mögliche Hintergründe für ihre weitere Entwicklung zu einem „Revoluzzer“, der sich über Grenzen hinwegsetzt. Diese eigentheoretischen Überlegungen verweisen auf die für sie typische Reaktionsweise der aktiven Bewältigung, in der sie einer schwierigen Situation mit Aktivität, die unter anderem Kampf oder Konfrontation bedeuten kann, begegnet. In ihrem abschließenden Satz „da denke ich nicht gerne dran“ deutet sich eine Strategie der Begrenzung von negativen Erinnerungen an, die auch in der Präsentation der „schlimmen Zeit“ in dem gesamten zitierten Abschnitt zum Ausdruck kommt. Hier gibt es keine Detaillierung durch die Erzählung von konkreten Situationen, einzelnen Details oder gar der Wiedergabe von Dialogen, die in ihrer Erzählweise in anderen thematischen Sequenzen häufig zu finden sind. Diese negativen Erfahrungen sind zwar da, nehmen aber nur einen begrenzten Raum ein.
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Weitere Erfahrungen in der Jugendzeit: „Ich wollt halt immer, trotz meiner Krankheit, dazugehören.“ Sie findet Anschluss an eine Clique und ist viel unterwegs. Gesundheitlich kommt es gelegentlich zu Komplikationen wie beispielsweise zu einer Lungenentzündung, weil sie ihrem Bedürfnis, dabei zu sein, gegenüber gesundheitlichen Vorsichtsmaßnahmen den Vorzug gibt. „...aber da war ich meistens selber schuld, weil ich ja im Alter von 15 Jahren bis in den Dezember mit dem Mofa rumsausen musste, um nix zu versäumen und so, das war halt so mein..., ich wollt halt immer, trotz meiner Krankheit, dazugehören und da bin ich halt zu einer Clique dazugekommen und die waren, ja gut, da war das gar nicht so bekannt, dass ich eigentlich krank bin, weil ich jeden Scheiß mitgemacht habe und für alles zu haben war dann, und da – ja, ich wohne auf dem Dorf und zu der Clique waren es acht Kilometer, was macht man da, setzt man sich aufs Mofa und wenn’s Dezember, Januar war und dann bin ich halt wieder flach gelegen. Das war mir auch egal, das ist auch nicht so tragisch gewesen, also, muss ich wirklich sagen, das hat dazu gehört.“ (Int 22, S. 25)
Wanda Haupt möchte das Gleiche tun wie die anderen, auch wenn ihre gesundheitliche Lage und ihre jugendlichen Aktivitäten dabei teilweise miteinander in Konflikt geraten. Wichtig ist für sie, „nix zu versäumen“ und sie schildert sich entsprechend aktiv und aufgeschlossen. Sie macht „jeden Scheiß“ mit und ist „für alles zu haben“, weshalb es in der Clique nicht „so bekannt“ ist, dass sie krank ist. Was sich genau hinter dieser Formulierung verbirgt, wird nicht deutlich. Es könnte sein, dass nur einige Personen in der Clique von ihrer Krankheit wissen oder dass die Schwere ihrer Krankheit nicht bekannt ist, da sie von Wanda Haupt als Nebensächlichkeit behandelt wird. Darüber hinaus sind weitere Interpretationen denkbar. In einem anderen Kontext erwähnt Wanda Haupt über den Umgang mit ihrer Krankheit, dass sie sie nicht so „herumposaunt“ (Int 22, S. 49). Das bestätigt den allgemeinen Schluss, dass die Krankheit nicht im Vordergrund von Wanda Haupts Selbstpräsentation nach außen steht. Ihr grundsätzlicher Wunsch ist es, dazuzugehören und auch wenn die Krankheit einen Menschen scheinbar anders macht und mit der Normalität der anderen automatisch in Konflikt steht, bemüht sie sich über die Aktivitäten, so normal wie die anderen zu sein, was ihr auch gelingt („ich wollt halt immer, trotz meiner Krankheit, dazugehören“). Dafür geht sie bis an ihre Grenzen und nimmt gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf, denn das wird durch die positive Erfahrung des Dazugehörens aufgewogen. In ihrer Darstellung erleidet sie die gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht, sondern ist „selber schuld“. Sie erlebt sich als aktiv beteiligt und nicht als ohnmächtig. Berufswunsch Krankenschwester: „Als Dialysepatient kriegt man einfach keine Ausbildung in der Art.“ Wanda Haupt schließt die Hauptschule „nebenbei“ (Int 22, S. 2) ab und nun stellt sich die Frage nach dem weiteren Ausbildungs- und Berufsweg. „Und dann ging's darum, was mach ich jetzt eigentlich. Ich wollt eigentlich einen Beruf erlernen, für mich war immer schon klar irgendwie Krankenschwester so in die Richtung, weil ich einfach nur mit dem Metier zu tun hatte und dann war's aber so, ja + als Dialysepatient kriegt man einfach keine Ausbildung in der Art und da ich ja aus A-Dorf bin, das sind so 20 Kilometer von hier [L-Stadt A.d.V.] weg, haben wir versucht, in L-Stadt diese Kinderpflegefachschule, das
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ist praktisch zwei Jahre nur Schule, dann hat man die Kinderpflegeausbildung, habe ich das angefangen, habe ich gedacht, das mache ich jetzt, bevor ich gar nichts mache.“ (Int 22, S. 2f.)
Die beruflich gewünschte Richtung, in der Krankenpflege zu arbeiten, ist für sie „immer schon klar“. Hier gibt es keinen Zweifel, sondern eine eindeutige Entschiedenheit, in diesem bereits vertrauten Feld zu arbeiten. Auch an anderer Stelle des Interviews wird diese Entschiedenheit präsentiert: „Für mich hat es nix anderes gegeben, das war für mich ganz klar, ich mach das mal“ (Int 22, S. 29). Sie begründet diese Wahl damit, dass sie „nur mit dem Metier zu tun hatte“, also ihr Lebensumfeld von frühester Kindheit an in bedeutsamer Weise von Krankenhaus und Krankenpflege bestimmt war. Neben der Vertrautheit mit diesem Lebensbereich scheint es plausibel, dass es neben den „schrecklichen“ Erfahrungen, die oben beschrieben wurden, auch viele positive Erfahrungen und nachahmenswerte Vorbilder gab, die sie zu diesem klaren Berufswunsch geführt haben, was sich im weiteren Interviewverlauf auch bestätigt. Ihr aus den bisherigen Lebens- und Krankheitserfahrungen entsprungener Wunsch, eine Berufsausbildung als Krankenschwester zu absolvieren, lässt sich aufgrund der Tatsache, dass sie Dialysepatientin ist, jedoch nicht realisieren, denn es nicht möglich, einen entsprechenden Ausbildungsplatz zu bekommen. Da sie aber eine Berufsausbildung machen möchte und dabei ihre Dialysepflichtigkeit berücksichtigen muss, wählt sie die Ausbildung zur Kinderkrankenpflegerin. Diese Ausbildung kommt in Frage, da sie zum einen auf einer Fachschule stattfindet und zum anderen ein Dialyseplatz in der Nähe gefunden werden kann, wie unten noch ausgeführt wird. Sie wird aber nicht aufgrund der Inhalte, sondern auf der Basis ihrer grundsätzlichen Ausbildungsmotivation gewählt, was die Textstelle „das mache ich jetzt, bevor ich gar nichts mache“ unterstreicht. In dem Zitat treten zwei Aspekte in der Wechselbeziehung zwischen Individuum, Krankheit und Umwelt hervor, die von bedeutsamer biographischer Relevanz sind. Auf der einen Seite gibt es bestimmte Begrenzungen in der Umwelt, die eine gewünschte biographische Entwicklung nicht erlauben wie beispielsweise Vorschriften oder Vergabepraktiken von Ausbildungsplätzen oder auch die technischen Voraussetzungen für eine Dialyse in einer erreichbaren räumlichen Umgebung. Auf der anderen Seite gibt es begrenzende Bedingungen der Krankheit beim Individuum, wie beispielsweise das Angewiesensein auf eine Dialyse oder die zeitlichen Aufwendungen, die für die Behandlung bzw. medizinische Versorgung nötig sind. Dies wird auch im weiteren Verlauf deutlich, denn es ist nicht möglich, die Fortsetzung der Dialyse in der Kinderstation in N-Stadt und die Fachschule zeitlich zu koordinieren und so sucht die Familie nach anderen Möglichkeiten. Sie erfahren, dass es in einem kleineren Krankenhaus in L-Stadt ebenfalls eine Dialyse gibt, die zwar keine Kinderdialyse ist, aber ein neuer Arzt dort trotzdem die Dialyse von Wanda Haupt übernehmen würde. Sie setzen sich gegen die Einwände des behandelnden Professors aus N-Stadt durch und Wanda Haupt wechselt an die Dialyse in L-Stadt und beginnt die Ausbildung an der Fachschule. Unterstützung im medizinischen System: „War extra ein Arzt, eine Schwester für mich da.“ Die Ausbildungsstelle und das Krankenhaus mit der Dialysestation liegen nah beieinander, was die Koordination von Schule und Dialyse im Alltag erleichtert. Dabei stellt sich das Krankenhaus auf ihre zeitlichen Bedingungen ein.
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Empirische Ergebnisse „Das war noch damals eine ganz eine kleine Dialyseabteilung, da wurde dann extra eine Schicht für mich eingeplant, ab 16 Uhr, wenn die Schule zu Ende war, bin ich rübergegangen zur Dialyse, war extra ein Arzt, eine Schwester für mich da, das zwei Jahre lang, also das, muss ich sagen, ist, war schon toll!“ (Int 22, S. 3)
In dieser Passage wird die umfassende Unterstützung im medizinischen System deutlich, die Wanda Haupt erfährt. „Extra eine Schicht“ und „extra ein Arzt“ – speziell für ihre Bedürfnisse wird eine entsprechende Schicht mit dem nötigen Personal eingeplant, „extra“ für sie wird all das unternommen und bereitgestellt. Nicht nur die Eltern unterstützen sie, sondern auch das weitere Umfeld der medizinischen Institution, innerhalb derer sie als Person mit ihren spezifischen Bedingungen wahrgenommen und entsprechend behandelt wird. Damals wie heute („ist“ und „war“) bewertet Wanda Haupt diese Unterstützung von medizinischer Seite als „toll“. Diese Unterstützung setzt sich fort und greift auf weitere Bereiche über. Nachdem Wanda Haupt ihre Ausbildung zur Kinderpflegerin abgeschlossen hat, möchte sie immer noch Krankenpflege lernen. Ihr behandelnder Arzt setzt sich „massiv“ (Int 22, S. 3) für sie ein und schreibt verschiedene Stellen an, um ihr diese Ausbildung zu ermöglichen. Die Reaktion auf ihre gemeinsamen Bemühungen fasst sie in der Frage „Die Gesunden kriegen ja nicht mal Arbeit, wieso soll die jetzt da Krankenpflege lernen?“ (ebd.) zusammen, die ausdrückt, wie sie die abweisende Antwort auf ihre Anfrage versteht. Auf diese Weise bringt sie die Haltung einer anonymen, über Ausbildungsmöglichkeiten entscheidenden Institution gegenüber dem Wert und der Gleichbehandlung von Gesunden und Kranken zum Ausdruck. Diese Haltung der Abwehr und Nachrangigkeit von Kranken steht in einem deutlichen Kontrast zu der Unterstützung, die sie von den persönlich bekannten Vertretern der medizinischen Institutionen, wie beispielsweise von Seiten des behandelnden Arztes, erfährt. Beginnende Paarbeziehung „Der hat mich ganz cool gefunden.“ Mit 18 Jahren lernt sie ihren zukünftigen Mann kennen und freundet sich mit ihm an. Zu dieser Zeit hat sie noch den nach außen verlegten Harnleiter, an den der Beutel angeschlossen ist, der den Urin auffängt. Sie erzählt, dass es sie anfangs „schon Überwindung gekostet“ (Int 22, S. 26) hat, ihm so zu begegnen, aber als sie merkt, dass er es akzeptiert, „ist das eigentlich kein so großes Problem mehr“ (ebd.). Im Zusammenhang mit der beginnenden zwischengeschlechtlichen Beziehung berichtet sie nur von diesem Aspekt als für sie problematisch und mit Peinlichkeit oder Unsicherheit verknüpft, wie er darauf reagieren wird. Durch seine Akzeptanz wird aus dem großen ein kleineres Problem, das einer Paarbeziehung nicht im Wege steht. Auf die Frage, wie ihr Freund auf ihr Kranksein reagiert hat und damit umgegangen ist, antwortet sie: „Also ich denke, der hat mich ganz cool gefunden, dass ich also, dass da kein Unterschied zu den anderen war, denk ich mal zuallererst und ja, weil ich wirklich auch alles mitgemacht hab, also es war nicht so, dass ich dann nach der Dialyse gesagt hab, ich bin fertig, ich mach heut nix, sondern ich bin dann nach Hause, geduscht, geschminkt und dann sind wir fortgegangen, also, das war für mich, ich wollt einfach dabei sein, obwohl mir ab und zu wirklich danach war, hinlegen, weil ich Kopfschmerzen hatte oder so, na, da hab ich lieber eine Kopfschmerztablette eingepfiffen und dann, ja, also, da, ich denk schon, dass er da schon ein bisschen beeindruckt war.“ (Int 22, S. 25)
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Sie schildert in diesem Abschnitt ihre Annahme, dass ihr Freund damals von ihr wegen ihres Umgangs mit der Krankheit beeindruckt war. Sie denkt, dass er sie „ganz cool“ fand, weil es keinen Unterschied zu den anderen gab und weil sie beispielsweise trotz der Anstrengung der Dialyse noch abends ausgegangen ist und alles mitgemacht hat. Aus ihrer Perspektive ist er von ihrem aktiven Verhalten beeindruckt, nicht von ihrer Krankheit abgeschreckt. Für sie steht in dieser Zeit im Vordergrund, dass sie alles mitmachen und dabei sein kann. Ihre Rolle als Frau stellt sie dabei im Unterschied beispielsweise zu einer anderen Interviewpartnerin nicht in Frage, die von einem Konflikt zwischen ihrem Frausein und ihrem Kranksein berichtet, der mit Minderwertigkeitsgefühlen im Selbstverständnis als potenzielle Partnerin verbunden ist. Für Wanda Haupt scheint es keinen Widerspruch zwischen ihrer Rolle als Frau und ihrem Kranksein zu geben, im Gegenteil: Sie schminkt sich vor dem Ausgehen, unterstreicht so selbstverständlich ihre Weiblichkeit und präsentiert sich mit einem entsprechenden Selbstbewusstsein als Frau. Arbeitsplatz im Krankenhaus: „Ab da war ich dann in der Dialyse beschäftigt.“ Nach der Ausbildung zur Kinderpflegerin und der Ablehnung ihres Wunsches nach einer weiteren Qualifizierung zur Krankenschwester beginnt sie mit 17 Jahren, in dem Krankenhaus als ungelernte Kraft zu arbeiten, in dem sie auch dialysiert wird, und tippt Anamneseberichte. Das stellt sie allerdings nicht zufrieden, denn sie hat andere Vorstellungen über die Arbeit im Krankenhaus, die sie machen möchte. In dieser Situation kommt ihr das Glück zu Hilfe. „...und dann hat sich von der Dialyseabteilung eine Schwester den Fuß gebrochen, das war ihr Pech, mein Glück, jetzt wurde da ganz schnell Personal gebraucht und, ja, damals war's ja nicht so, dass man da jetzt eine Fachausbildung brauchte oder so, da wurde ich angelernt und, da kannst die anhängen, abhängen, dialysieren, und ja, ab da war ich dann in der Dialyse beschäftigt und habe, ja zum Teil halbtags, zum Teil ganztags, also ich habe immer gearbeitet und mittags dann meine Maschine gerichtet und mich selbst ins Bett gelegt und dialysiert dann.“ (Int 22, S. 4)
Obwohl Wanda Haupt die Ausbildung als Kinderpflegerin hat beginnt sie zunächst, als ungelernte Kraft im Krankenhaus zu arbeiten und verfolgt so weiter ihr Ziel, in diesem Bereich tätig zu sein. Zu ihrer Rolle als Patientin kommt nun eine Position im Bereich der aktiv Tätigen an diesem auf Krankheit bezogenen Ort hinzu, auch wenn sie anfangs eine wenig qualifizierte und nicht befriedigende Tätigkeit ausführt. Von Glück spricht sie, als sie durch einen Zufall die Chance bekommt, auf der Dialysestation zu arbeiten. Nun nimmt sie in Bezug auf die Erkrankung Rollen auf beiden Seiten ein: Die Rolle einer Patientin und die Rolle einer medizinischen Fachkraft, die andere erkrankte Menschen an das Dialysegerät an- und abhängt. Im Anschluss an ihren Arbeitsalltag legt sie sich selbst ins Bett und schließt sich an die Maschine an. Die Krankheit ist Normalität und Arbeitsalltag, Wanda Haupt ist umgeben von anderen Betroffenen oder gesunden Menschen, für die Krankheit den beruflichen Alltag darstellt und dadurch ebenfalls normal ist. Darüber hinaus ist ihre Behandlung in ihre täglichen Abläufe integriert. Durch die berufliche Orientierung auf diesen Bereich ist ihr Leben auf der einen Seite in umfassender Weise auf Krankheit bezogen. Auf der anderen Seite ist die Existenz und Behandlung von Krankheit im Krankenhaus
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normal und alltäglich. Ihre aktive Bewältigung der eigenen Krankheit befindet sich auf einem hohen Niveau und liegt zugleich im Bereich der Alltagsroutine. Ihr früh formuliertes Berufsziel, als Krankenschwester zu arbeiten, hat Wanda Haupt bereits hier – zumindest teilweise – erreicht. Erste Transplantation: „Wenn ich transplantiert bin, dann darf ich die Ausbildung machen.“ Wanda Haupt entscheidet sich nun für eine Transplantation und meldet sich an, um sich auf die Liste setzen zu lassen. Ein Grund für diese Entscheidung ist ihr Freund und zukünftiger Mann, der sie „so ein bisschen sanft in die Richtung geschoben hat, das wär doch ganz toll“ (Int 22, S. 4). Darüber hinaus wird ihr „vom Haus, von der Krankenpflege versprochen, wenn ich transplantiert bin, dann darf ich die Ausbildung machen“ (ebd.), das heißt, mit der Transplantation wird nun also auch ihr Berufswunsch realisierbar. Mit 23 Jahren wird sie das erste Mal transplantiert und nach einem Jahr beginnt sie die Ausbildung zur Krankenschwester, ebenfalls in dem Krankenhaus in L-Stadt. Während dieser Zeit heiratet Wanda Haupt ihren Freund. Am Anfang der Ausbildungszeit geht Wanda Haupt davon aus, dass sie nach der Ausbildung wieder auf die Dialysestation zurückkehrt. Nach den drei Jahren der Ausbildung ist das „überhaupt nicht mehr klar“ (ebd.), nun möchte sie nicht mehr in der Dialyse arbeiten. Nach dem Examen arbeitet sie daher auf der Onkologie, dazu fühlt sie sich nun, wie sie sagt, berufen. Nach vier Jahren auf der Onkologie überlegt sie, wieder in die Dialyseabteilung zu wechseln. „... ich war immer so ein Typ, es reicht mir jetzt nicht, also wenn man dann mal alles konnte, alles wusste von dem Bereich, jetzt mach ich mir wieder was anderes, und ja, Dialyse na ja, Dialyse wäre ja auch nicht wieder mal schlecht, jetzt hat sich ja vieles verändert.“ (Int 22, S. 5)
Wanda Haupt charakterisiert sich als Mensch, der, wenn er in einem Bereich alles kann und weiß, nicht zufrieden ist und verweilt, sondern nach neuen Herausforderungen sucht. Dieses aktive Gestalten drückt sich auch in ihrer Wortwahl aus („jetzt mach ich mir wieder was anderes“). Mit dieser Eigentheorie erklärt sie ihren Wunsch nach einem Wechsel der Abteilung, denn sie ist an einem Punkt, an dem ihr in dem Bereich der Onkologie „alles“ bekannt erscheint. Nun wird für sie der Bereich der Dialyse wieder interessant, da „sich ja vieles verändert“ hat. Was genau sich verändert hat, wird hier jedoch nicht deutlich. Auf diesen Aspekt wird unten noch einmal eingegangen. Zugleich ist es nach den vier Jahren auf der onkologischen Abteilung absehbar, dass Wanda Haupt wieder dialysepflichtig wird, da sich ihre Nierenwerte zunehmend verschlechtern. Organspende von der Schwester: „Die Niere von meiner Schwester war wirklich top.“ Als Wanda Haupt ihrer Schwester von der Verschlechterung ihrer Nierenfunktion erzählt bietet diese ihr an, ihr eine Niere zu spenden. Wanda Haupt findet es schwierig, dieses Angebot anzunehmen, aber die Schwester ist davon überzeugt. Wanda Haupt drängt darauf, dass sich die Schwester mit den Risiken auseinandersetzt, die für sie entstehen könnten und sich informiert, was an Untersuchungen und weiteren Prozeduren auf sie zukommt. Die Schwester ist nach diesen Informationen immer noch bereit, die Niere zu spenden, das einzige Problem für sie ist, dass sie noch Kinder haben möchte. Als es hier von ärztlicher Seite
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keine Hinderungsgründe gibt wird die Nierenspende beschlossen. Nun dauert es weitere sechs Monate, in denen verschiedene Untersuchungen und psychologische Gespräche stattfinden und der Fall auch von einer Ethikkommission gebilligt werden muss. In dieser Zeit ist Wanda Haupt bereits dialysepflichtig, da die erste Spenderniere inzwischen zu schlecht arbeitet. Nachdem die nötigen Schritte vollzogen wurden, findet die geplante Transplantation statt und alles verläuft „ganz glatt“ (Int 22, S. 6). Ihrer Schwester geht es nach der Operation sehr gut und sie kann nach sechs Tagen entlassen werden, was für Wanda Haupt „die Hauptsache“ (ebd.) ist. Wanda Haupt bleibt noch im Krankenhaus, denn bei ihr muss noch die erste transplantierte Niere herausgenommen werden, die etwas Probleme bereitet, aber insgesamt ist sie mit der Situation zufrieden und fasst das Ergebnis mit den Worten „die Niere von meiner Schwester war wirklich top“ (ebd.) zusammen. Die Lebendspende und die gemeinsame Erfahrung verändert das Verhältnis der beiden Schwestern zueinander. Dieser Aspekt wird ebenfalls unten noch ausführlicher beleuchtet. Weitere berufliche Qualifizierung und aktuelle Situation: „Jetzt im Moment mache ich die Fachweiterbildung für Nephrologie.“ Nach der zweiten Transplantation arbeitet Wanda Haupt wieder in der Dialyseabteilung. Nach einiger Zeit wird sie stellvertretende Stationsleitung und beginnt eine zweijährige Weiterbildung zur Stationsleitung. Nachdem sie diesen Kurs erfolgreich absolviert hat nimmt sie die Position als Stationsleitung ein und ist heute bereits seit sieben Jahren wieder in der Dialyseabteilung. Im Augenblick besucht sie wieder einen Weiterbildungslehrgang. „Jetzt im Moment mache ich die Fachweiterbildung für Nephrologie, weil, das reicht ja nicht (lacht), manchmal bereue ich’s schon, weil es wirklich viel Arbeit ist neben dem Job noch Schule, lernen und, aber ich bin einfach nicht der Typ, der stillsitzen kann und mir war immer klar, ich muss was machen.“ (Int 22, S. 6)
Wanda Haupt kann sich weit über ihr gesetztes Ziel als Krankenschwester hinaus für die Leitungsfunktion auf der Station qualifizieren und erreicht einen entsprechenden beruflichen Aufstieg. Auf dieser Position bleibt sie jedoch nicht stehen, “das reicht ja nicht“, wie sie selbstironisch bemerkt, sondern sie sucht die Herausforderung und qualifiziert sich wiederum weiter, indem sie die Fachweiterbildung für Nephrologie absolviert. Zwar bereut sie es gelegentlich, wenn sie die Doppelbelastung von Schule und Beruf als hoch empfindet, im Grunde genommen ist sie aber stolz auf ihre Leistungsfähigkeit und bringt zum Ausdruck, dass es ihrem Naturell entspricht und sie charakterisiert, aktiv zu sein statt „stillzusitzen“ und an einem bereits erreichten Punkt zu verharren. Wanda Haupt betont hier ihre starke intrinsische Motivation („Ich muss was machen“), die sie über ihr gesamtes Leben hinweg („immer“) begleitet hat. Mit der Niere gab es in den letzten sieben Jahren keine Komplikationen und auch keine Verschlechterung der Nierenwerte „gar nix, überhaupt keine Probleme“ (Int 22, S. 7). Gesundheitlich geht es Wanda Haupt heute also gut und auch ihre Prognosen sind relativ gut, wegen der bisherigen positiven Entwicklung mit der Niere und weil die Prognosen für Lebendspenden generell besser sind. Ihre Schwester hat inzwischen zwei Kinder bekommen, worüber Wanda Haupt froh ist und zu denen sie eine positive Beziehung hat. Eigenen Kindern steht sie ambivalent gegenüber. Sie lässt zwar einerseits offen, ob sie und ihr Mann noch Kinder bekommen, glaubt aber auf der anderen Seite nicht wirklich, dass dies noch geschieht und ist auch nicht sicher, ob sie das möchte.
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Empirische Ergebnisse
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Wanda Haupt erzählt ihre Lebensgeschichte zuerst chronologisch von ihrer Geburt bis in die heutige Zeit, um dann einzelne Bereiche teilweise im Zusammenhang mit Fragen zu vertiefen. Insgesamt steht das Krankenhaus als Lebensbereich, in dem ein Großteil ihres Lebens stattfindet, deutlich im Vordergrund. Sie erzählt von dort Geschichten des Erleidens und der positiv erlebten Behandlung, und andere, in denen das Krankenhaus mit ihrem Berufswunsch verbunden ist, ihren Arbeitsplatz darstellt und schließlich den Ort ihrer beruflichen Karriere bildet, währenddessen die eigene Behandlung fast nebenbei und teilweise durch eigene Aktivität erfolgt oder, wenn nötig, von Arbeitskollegen übernommen wird. Die aktuell stabile und erfolgreiche Bewältigung ihres Lebens mit der Krankheit wird in der Erzählung betont. Wanda Haupt erzählt zwar Momente und Phasen des Leidens und stellt sie als zum Leben dazugehörig dar, sie werden von ihr aber als klar begrenzt geschildert und den positiven und aktiven Aspekten der Bewältigung untergeordnet. Ebenfalls deutlichen Raum nimmt thematisch die Unterstützung durch andere ein. Zum einen schildert sie Lebensabschnitte gerafft und stellt Entwicklungen so relativ knapp und neutral dar. Zum anderen gibt sie in ausführlicheren Erzählungen mit teilweise hohem Detaillierungsniveau und der Widergabe von Dialogen Einblick in einzelne Situationen, die sowohl von schwierigen und schmerzlichen als auch von schönen und glücklichen Entwicklungen handeln. Ihre aktive Herangehensweise wird wiederholt argumentativ mit ihrem Typ begründet. Die Vergangenheit wird zum Teil aktualisiert, zum Teil wird aus gegenwärtiger Perspektive auf sie zurückgeblickt. Eine Zukunft, wie beispielsweise bei dem Berufswunsch, kommt selten zur Sprache, ist jedoch implizit zumindest als nahe Zukunft durch die aktive Ausrichtung vorauszusetzen. Als Themen der aktuellen Bewältigung treten die gelungene Auseinandersetzung ihrer persönlichen Betroffenheit mit ihrer beruflichen Rolle, ihr Selbstverständnis als Person, die ihr Leben als Herausforderung ansieht, die Unterstützung durch andere, die positiv und unterstützend erlebte Beziehung zu ihrem Mann, das gewandelte Verhältnis zu ihrer Schwester sowie ihre Zufriedenheit mit der aktuellen Situation hervor, die nachfolgend detaillierter dargestellt werden sollen. Auseinandersetzung mit der eigenen Betroffenheit und den beruflichen Aufgaben: „Also das ist jetzt nicht das Feeling, was ich brauche jetzt hier.“ Als sie im Krankenhaus als ungelernte Kraft eingestellt wird und die Möglichkeit bekommt, auf der Dialysestation zu arbeiten, ist das für sie eine glückliche Fügung. Nach der Transplantation und der Ausbildung ändert sich jedoch ihre Haltung zur Arbeit in dieser Abteilung aufgrund ihrer eigenen Betroffenheit. „Für mich war dann, nachdem ich transplantiert war, die Ausbildung gemacht habe, vorher war noch klar, ich gehe wieder zurück in die Dialyse und danach, oder schon während der Ausbildung war für mich – nein, Dialyse arbeiten nie wieder. Also ich weiß noch eine Situation, ich habe da mal ein Patientin runtergefahren in die Dialyse und da bin ich rein in den Raum, den ich ja eigentlich kannte seit Jahren, auch die Leute alle bis auf ein paar neue, das war für mich, mir ist richtig heiß geworden, ich hab richtig, also so ein bisschen hart, also das ist jetzt nicht das Feeling, was ich brauche jetzt hier, und drum hab ich ja dann nach der Ausbildung gesagt, nein tut mir leid, Dialyse ist jetzt, mach ich jetzt nicht.“
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[I: „Und was war das für ein Gefühl, also wenn Sie das mit einem Wort beschreiben würden, war das eher Angst, oder...“] „Ja, schon, schon, schon die Angst, ein bisschen Panik aufgestiegen auch, weil man einfach doch sehr wieder dran erinnert wird, wie es ja mal war...“ [I: „Ach so“] „...wie man selber dialysepflichtig war. Und das war dann ein paar Jahre später, wo ich mich dann entschieden habe, jetzt reicht's Onkologie, war das ganz weg. Und jetzt, also für mich ist das überhaupt kein Problem nicht. Muss ich ganz ehrlich sagen.“ ( Int 22, S. 11)
Nach der Transplantation und der Erfahrung, ohne Dialyse zu leben und unabhängig zu sein, belastet sie nun plötzlich die Konfrontation mit der Dialysestation. In der konkreten Situation, die sie beschreibt, wird sie an ihre eigene Geschichte an der Dialyse erinnert. Das ist mit Panikgefühlen verbunden, ein „Feeling“, das mit der professionellen Arbeit auf der Station nicht vereinbar ist. Ihre persönliche Betroffenheit gerät also in Konflikt mit ihren beruflichen Aufgaben und sie entscheidet sich, auf einer anderen Station zu arbeiten. Einige Jahre später hat sie scheinbar diese persönliche Betroffenheit überwunden, die störenden Gefühlen sind „ganz weg“. Sie wechselt wieder in die Dialysestation und ihre eigene Erfahrung mit der Nierenerkrankung und den verschiedenen Lebensabschnitten an der Dialyse und mit transplantierter Niere stellen für sie bei der Arbeit heute kein Problem mehr dar. Wanda Haupt schildert einen Prozess der positiven Bewältigung von Angstgefühlen im Zusammenhang mit der eigenen Erkrankung und der Integration von verschiedenen Positionen im Verhältnis zur Krankheit, die ihr heute wieder eine professionelle Arbeit auf der Dialysestation erlauben. Selbstverständnis als Person, die das Leben als Herausforderung ansieht: „Ich mache einfach weiter, so lange ich irgendwie kann.“ In nachfolgendem Zitat bringt Wanda Haupt ein Selbstverständnis ihrer Person zum Ausdruck, in dem sie es als für sie typisch ansieht, sich den Herausforderungen ihres Lebens zu stellen und es soweit wie möglich aktiv zu gestalten. Dieses Selbstverständnis tritt in ähnlicher Weise auch an anderen Stellen des Interviews mehrmals hervor. „Ich wollte mich einfach nicht unterkriegen lassen, das war, das weiß ich, seit ich Kind war (...) ja, ich hätte nie von mir selber gesagt jetzt, aus jetzt, sondern für mich war das klar, ich mache einfach weiter, so lange ich irgendwie kann und nicht nur, was geht, sondern wenn mehr geht, ist auch recht (...) und natürlich, muss ich wieder sagen, das Umfeld einfach, ohne dem geht’s nicht, auch wenn du da keine positive Unterstützung nicht kriegst, weil, wenn die dich jetzt nur einbremsen würden oder, dann hätte man sich auch nicht so entwickeln können, das muss man auch sagen. “ (Int 22, S. 40f.)
Wanda Haupt lässt sich auch von schwierigen Situationen nicht unterkriegen, sondern – folgt man dem Wortbild – kämpft sich immer wieder nach oben. Generalisierend („nie“) lehnt sie es ab, aufzugeben, solange sie noch „irgendwie kann“. Sie betont ihre klare Ausrichtung auf eine aktive Bewältigung. Die Passage „nicht nur, was geht, sondern wenn mehr geht, ist auch recht“ lässt darauf schließen, dass sie dabei bis an die Grenze und noch etwas darüber hinaus geht, um einen bestehenden Rahmen zu erweiten und zeugt von Ehr-
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Empirische Ergebnisse
geiz, Leistungsmotivation und einer kämpferischen Herangehensweise. Zugleich macht sie zum wiederholten Male deutlich, dass ihr Erfolg und ihre positive Entwicklung nur mit der Unterstützung durch das Umfeld möglich waren. Die unpersönliche Formulierung „man“ an dieser Stelle könnte als Distanzierung verstanden werden, deutet aber hier aus dem inhaltlichen Zusammenhang eher darauf hin, dass Wanda Haupt eine allgemeingültige Aussage darüber macht, dass generell die positive Unterstützung im Umfeld eine Voraussetzung für eine „so“ erfolgreiche Entwicklung darstellt. Neben ihrer grundsätzlich aktiven und kämpferischen Haltung thematisiert Wanda Haupt auch Phasen, in denen es ihr schlecht gegangen ist und sie sich zurückgezogen hat. „Ich kenne das auch, es waren oft mal so, oft jetzt nicht, aber waren schon mal so Phasen nach der Transplantation, da wo ich dann nach der OP ja eher nicht so gut, fit dann war und dann eben auch durch die hohen Dosen von Immunsuppressiva eher schlecht beieinander, auch äußerlich nicht gut ausgeschaut, also so einen Schädel auf und auch vom Kortison und so, da war's mir schon dann auch mal danach, dass ich mich wirklich zu Hause ja einsperre und nicht groß rausmöchte und so, und da muss ich schon sagen, da war dann schon immer mein Mann, der hat mich dann immer mal lassen, der hat mich meinen Weltschmerz dann da eben ausleben lassen, aber irgendwann ist dann der Punkt gekommen, wo er gesagt hat, weiß du was und du gehst jetzt ins Bad, du schminkst dich endlich mal wieder und dann fahren wir einen Kaffee trinken, ob du magst oder nicht. Also das hab ich, so einen Arschtritt hab ich dann schon mal wieder gebraucht, muss ich schon sagen, aber eher selten, also da war ich dann schon wirklich schlecht drauf. Hat es aber gegeben so Phasen, muss ich sagen und da ist, war mein Mann dann schon, dass er gesagt hat, und im ersten Moment bist du natürlich angefressen und sauer, aber danach war ich dankbar, weil das hab ich gebraucht, den Schubs, jetzt mach und, das also, das ist halt einfach auch, wenn du körperlich wirklich schlecht beieinander bis, die Phasen waren das, mei, aber sonst, war ich immer. Und ich merk das auch gleich, wenn’s mir gut geht, dann, dann muss ich einfach.“ (Int 22, S. 41f.)
Die Phasen, in denen Wanda Haupt sich als „schlecht drauf“ bezeichnet, schildert sie im Zusammenhang damit, dass sie körperlich „wirklich schlecht beieinander“ ist. Sie stehen also direkt mit ihrer körperlichen Situation in Verbindung und sind nicht typisch für ihr sonstiges Selbstverständnis, bringen es aber durch den Kontrast besonders zur Geltung und führen zu einem Bild der Vollständigkeit („Ich kenne das auch“). In einem solchen Moment zieht sie sich zurück und ergibt sich ihrem „Weltschmerz“. Wanda Haupt schildert, dass ihr Mann ihren Rückzug bis zu einem bestimmten Punkt billigt und sie ihren Weltschmerz ausleben lässt, dann aber mit direktiven Anweisungen eingreift und ihre Rückkehr in die Außenwelt fordert. Dabei bietet er sich unterstützend an und begleitet sie („dann fahren wir einen Kaffee trinken“), duldet aber keinen Widerspruch. Obwohl sie im ersten Moment „angefressen“ ist, erlebt Wanda Haupt diesen „Schubs“ oder „Arschtritt“ als Unterstützung, wenn sie diesen Punkt überwunden hat und ist ihrem Mann dankbar dafür, denn rückblickend ist für sie klar, dass sie diesen scheinbar nicht gerade als zärtlich empfundenen Tritt in der Situation gebraucht hat. Wanda Haupt macht deutlich, dass es diese Phasen gibt, in denen sie „schlecht drauf“ ist, sie allerdings selten und damit untypisch für ihre sonstige Umgangsweise sind. Darüber hinaus stellt sie eine solche Phase als klar begrenzt auf eine bestimmte Zeitspanne dar und rahmt sie auf diese Weise ein, während die sonstige positive Haltung einer aktiven Bewältigung generalisiert („immer“) und als unbegrenzt präsentiert wird. In den Ausführungen
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bringt Wanda Haupt zum Ausdruck, dass ihr Mann einen bedeutsamen Anteil an dem sozialen Sicherheitsnetz hat, von dem sie sich generell unterstützt fühlt. Insgesamt wird ihre aktive und kämpferische Umgangsweise deutlich, in der Wanda Haupt auftretende Probleme als Herausforderungen begreift und sich „nicht unterkriegen“ lässt. In den vereinzelten Situationen, in denen sie „schlecht drauf“ ist, kann sie sich der Unterstützung ihrer sozialen Umwelt sicher sein, die sie auffängt und ihr wieder zurück hilft in ihre positiv orientierte aktive Haltung. Unterstützung im sozialen Umfeld: „Das weiß ich schon zu schätzen, dass ich das nicht allein geschafft hab.“ Die soziale Unterstützung wird im Verlauf des Interviews immer wieder angesprochen und ist mit vielen Geschichten und Erfahrungen verbunden: „...und da muss ich auch sagen, hab ich wahrscheinlich viel zu verdanken, wenn man einfach ein stabiles Umfeld hat, dann also von der F.., angefangen von Eltern, Schwester und dann einen Freund, der zu einem hält auch wenn’s mal nicht so toll läuft, muss man ja auch sagen. Ich mein, es war ja nicht alles supertoll, es waren ja auch mal Phasen dabei, wo es einem nicht so gut ging, also da bin ich schon dankbar und das weiß ich schon, dass ich auch Glück gehabt hab, muss ich schon sagen, (...) das weiß ich schon zu schätzen, dass ich das nicht allein geschafft hab, also wie gesagt, Familie und auch die, angefangen von den manchen Schwestern in der Nstädter Dialyse, also die mich sehr unterstützt haben und dann auch hier weiter also bis heute eigentlich, muss ich wirklich sagen, ja, und ja ich kann nur von Glück reden, also kann so weiter gehen, hmm, so ist es.“ (Int 22, S. 10f.)
Ihre positive Bewältigung sieht Wanda Haupt in engem Zusammenhang mit der sozialen Unterstützung in ihrem stabilen Umfeld. Es ist nicht sie, die ihr Leben allein bewältigt und die anderen, die sie dabei unterstützen, sondern sie bewältigt gemeinsam mit den anderen ihre schwierige gesundheitliche Situation und das Zusammenleben. Alleine, so kommt in der Formulierung zum Ausdruck, wäre eine solch positive Bewältigung nicht möglich gewesen. Sie schildert, dass die Unterstützung durch verschiedene Personen von Anfang an da war und sie durch ihr Leben bis heute begleitet hat. Im privaten Bereich kommen zu den Eltern in der entsprechenden Lebensphase ihr Mann und später noch die Schwester als unterstützende Personen hinzu. Im institutionellen Bereich der medizinischen Versorgung gibt es ebenfalls immer wieder Menschen, die sie unterstützen und auch ihre berufliche Entwicklung fördern. Sie ist dankbar für die Unterstützung und sieht es darüber hinaus als Glück an, dass sie diese Bedingungen hatte und aktuell noch hat und wünscht sich darüber hinaus, dass diese auch weiterhin bestehen. Die Formulierung von Wanda Haupt, dass sie es zu schätzen weiß, dass sie es nicht allein geschafft hat, klingt im ersten Moment paradox. Sie wird jedoch plausibel im Zusammenhang mit ihrer Lebensgeschichte, die sich nur deshalb so erfolgreich entwickeln konnte, weil Wanda Haupt die Bewältigung ihrer Situation nicht allein, sondern gemeinsam mit anderen „geschafft“ hat.
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Empirische Ergebnisse
Die Transplantation führt zu einem neuen Verhältnis zur Schwester: „Da kommt man sich einfach näher.“ Wanda Haupt berichtet von einem veränderten Verhältnis zu ihrer Schwester, das sich in Folge der Lebendspende einer Niere ergeben hat und das von ihr als positive Entwicklung dargestellt wird. „Meine Schwester und ich, wir hatten eigentlich nie so ein besonderes Verhältnis, weil ich war ja vier Jahre älter, also da ist ja schon der Altersunterschied da und dann auch so, wie sie dann, ja, sie 16 war, ich 20, da hat jeder so seinen Bekanntenkreis gehabt, ich bin dann auch schon früh zuhause ausgezogen, also ich war mit 18 dann schon in einer eigenen Wohnung mit meinem Freund und irgendwie, meine Schwester und ich hatten nie so, wir haben halt nie auch die gleichen Interessen gehabt und so und das hat sich dann erst durch diese, diese Transplantation ergeben – da kommt man sich einfach näher, also wir verbringen deshalb auch nicht viel mehr Zeit miteinander, aber man ist sich einfach näher, weil man miteinander einfach was durchgemacht hat, was gemacht hat und sie für mich was getan hat, also das verbindet, da ist einfach was da. Und wenn man sich auch nicht jeden Tag sieht. Wir wohnen nicht weit voneinander, aber das ist, ist einfach gut so, passt (...) es war schon immer so ein bisschen eine Mauer zwischen uns, weil sie, sie hat halt ganz normal gelebt und ich hab halt, ich war halt von irgendwem abhängig und ja, ich bin froh, dass das jetzt so passt, muss man wirklich sagen.“ (Int 22, S. 19f.)
Nachdem das Verhältnis zwischen Wanda Haupt und ihrer Schwester zuvor aus verschiedenen Gründen vorwiegend durch Ferne gekennzeichnet war, ändert es sich durch die Lebendspende der Schwester in umfassender Weise. Für Wanda Haupt gibt es nun eine Verbindung zwischen ihr und ihrer Schwester, die sie begrüßt. Auch in der Erzählweise findet die Nähe und Ferne ihren Ausdruck: Von der Existenz der Schwester wird in dem Interview erst im Zusammenhang mit der zweiten Transplantation erzählt, vorher taucht sie in der Lebensgeschichte der Erzählerin nicht auf. Durch die Lebendspende der Schwester gibt es also zusätzlich zur neuen Lebensmöglichkeit für Wanda Haupt auch noch eine positive Erweiterung in der Familie, die durch die neue Qualität der Beziehung zwischen den Schwestern entsteht. Wanda Haupt verdeutlicht in der Metapher der Mauer, dass die Welten der Schwestern zuvor voneinander getrennt waren. Während die Schwester auf der gesunden Seite lebt ist Wanda Haupt als eine von medizinischer Behandlung abhängige Person auf der anderen Seite in einer auf Krankheit bezogenen Welt zuhause. Die Schwester begibt sich in die Welt von Wanda Haupt und bietet ihr mit der Niere ein Stück von der gesunden Welt und eine Zukunft an. Auf diese Weise entstehen neue Wege zwischen den Welten. Es findet eine Integration statt, die sich beispielsweise in gemeinsam geteilten Erfahrungen zeigt und zu einer Nähe führt, die im Kontrast zu der zuvor existierenden und durch die Mauer symbolisierten Ferne steht. Dieses Beispiel verdeutlicht die enge Verflechtung der verschiedenen Lebensbereiche mit der Krankheit und deren Verlauf und die Wechselwirkungen mit der sozialen Umwelt. Die unerwartete Lebendspende der Schwester verändert die Beziehungen in der Herkunftsfamilie und führt zu einer Bereicherung auf emotionaler Ebene, die vermutlich alle Familienmitglieder erfahren. Mit ihrer aktuellen Situation ist Wanda Haupt beruflich und privat zufrieden. In ihrer Ehe mit ihrem Mann geht es ihr gut, ebenso ihrem gemeinsamen kleinen, aber ausgesuchten Freundeskreis. Die Beziehungen in ihrer Herkunftsfamilie bewertet sie ebenfalls positiv. Die Eltern würden immer noch alles für sie tun, wie sie an einer Stelle bemerkt, und die
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Beziehung zu ihrer Schwester hat sich, wie oben schon ausgeführt wurde, durch die Transplantation deutlich verbessert. Auch im beruflichen Lebensbereich ist sie zufrieden, ihr „taugt der Beruf, auch hier die Anstellung und die Station“ (Int 22, S. 8). Über weitere berufliche Ziele sagt sie: „Ich hab eigentlich keine großen Ziele mehr, also beruflich hab ich jetzt so ziemlich das, was ich, was man erreichen kann, erreicht und also in meiner Situation jetzt speziell.“ (Int 22, S. 8)
Wanda Haupt bringt hier zum Ausdruck, dass sie nicht nur ihr seit ihrer Kindheit bestehendes Ziel erreicht hat, Krankenschwester zu werden, sondern darüber hinaus alles, was „man“ erreichen kann mit ihren Voraussetzungen durch die Nierenerkrankung. Bezogen auf ihren Privatbereich ist es für sie die Hauptsache, „dass niemand groß krank oder schwer krank wird“ (ebd.). Ihre eigene aktuelle gesundheitliche Situation möchte sie möglichst lange so beibehalten und achtet daher auf ihren Körper. Dabei kann sie auf langjährige Erfahrung und ein hohes professionelles Wissen zurückgreifen, was ihr auch einen lockeren und entspannten Umgang erlaubt. „Also so für mich hoffe ich natürlich, dass die Niere lang hält, ganz klar, logisch, (...) drum mag ich mir auch gar keine Gedanken machen, das verdränge ich auch bestimmt ein bisschen, wenn, was wäre wenn, wenn jetzt, ich mein, da muss man ja auch irgendwann davon ausgehen, dass eventuell die Niere dann auch langsam versagt, aber das, denk ich mir, kommt noch früh genug, da kann ich mir dann die Gedanken machen, wenn’s soweit ist und drum lebe ich jetzt ganz normal (...) also ich hab jetzt nicht das Gefühl, ich muss jetzt da zweimal im Jahr in den Urlaub fahren, weil ich das irgendwann eventuell einmal nicht mehr machen kann, das ist für mich nicht wichtig, das ist jetzt nicht, für mich ist einfach ein normales Leben zu führen, also normal in die Arbeit zu gehen, zuhause läuft alles normal, das ist für mich wichtig. (Int 22, S. 8f.)
Obwohl Wanda Haupt die aktuelle Situation sowohl aufgrund des persönlichen Befindens als auch aus professioneller Sicht gesundheitlich positiv bewertet, rechnet sie auch damit, dass die Lage sich in der Zukunft verschlechtern wird. Sie befasst sich bewusst nicht mit Gedanken an eine solche Zukunft, sondern richtet ihre Aufmerksamkeit auf ihre aktuell befriedigende Situation. Es ist ihr nicht wichtig, aus einem möglicherweise erwarteten Mangel heraus heute Dinge zu tun, die sie später vielleicht nicht mehr tun kann. Für sie ist es bedeutsam, die erreichte Normalität aufrecht zu erhalten, die für sie das Ergebnis einer erfolgreichen Bewältigung eines Lebens mit einer schweren Erkrankung darstellt.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Da Wanda Haupt bereits im ersten Lebensjahr von schwerwiegenden Nierenfunktionsstörungen betroffen ist, durchläuft sie alle Lebensphasen bis zum aktuellen mittleren Erwachsenenalter mit der Erkrankung. Die Krankheit muss in allen Lebensphasen bewältigt werden und das bedeutet, dass in der Kindheit und Jugend andere Personen für die Bewältigung zuständig sind. Erwachsen werden bedeutet unter anderem auch, selbst mehr und mehr die Verantwortung für die Bewältigung der Krankheit zu übernehmen. In der Phase der Entwicklung einer eigenen Identität ist die Erkrankung als eine Lebensbedingung bereits vorhanden und fließt entsprechend in den Entwicklungsprozess mit ein.
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Empirische Ergebnisse
Während die Krankheitsbewältigung also anfangs vollständig von den Eltern geleistet wird, übernimmt Wanda Haupt nach und nach die Bewältigung selbst, schätzt in der Jugendzeit ihre Risiken ab, testet ihre Grenzen aus und setzt sich mit dem Umfeld auseinander. Sie entwickelt eine klare berufliche Perspektive und baut im privaten Leben eine dauerhafte Partnerschaft auf. Eine Familiengründung wird nicht aktiv angestrebt, aber auch nicht definitiv ausgeschlossen. Sie erfährt überwiegend Unterstützung in ihrer sozialen Umwelt und bewältigt aktiv und erfolgreich ihr Leben mit der Krankheit als ein normales Leben. Trotz schwieriger gesundheitlicher Ausgangsvoraussetzungen schafft Wanda Haupt durch eine fortgesetzte Qualifizierung einen beruflichen Aufstieg bis an den höchsten Punkt, der ihr aufgrund ihrer Interessen und ihrer „speziellen Situation“ vorstellbar erscheint und der über ihren ursprünglichen Berufswunsch hinausreicht. Die angestrebte berufliche Lebensorientierung kann mit Erfolg umgesetzt und als normales Leben erfahren werden. Ihre mittleren bis hohen persönlichen Potenziale entwickeln sich im Verlauf des Lebens mit der Krankheit und mit der Unterstützung durch ihr soziales Umfeld. Von einer biographischen Hypothek im Sinne eines belastenden sozialen oder familiären Umfeldes wird nicht berichtet, sondern im Gegenteil davon, dass die Eltern ihre Tochter in hohem Maße unterstützen. Diese soziale Unterstützung setzt sich durch das Klinikpersonal und später auch durch ihren Lebenspartner fort und hilft ihr bei der Realisierung ihrer Wünsche und Vorstellungen. Wanda Haupt muss sich auch mit problematischen Kontakten und Ausgrenzung aufgrund ihrer Erkrankung auseinandersetzen, im überwiegenden Erleben berichtet sie jedoch von unterstützenden Kontakten. Wanda Haupt ist von einer schweren Erkrankung betroffen, die weitreichende Konsequenzen in der Lebensführung mit sich bringt. Aufgrund der medizinischen Möglichkeiten gibt es in ihrem Lebensverlauf neben Phasen der Verschlechterung der Nierenfunktion und Phasen der Abhängigkeit von dem Dialysegerät auch Phasen der deutlichen Verbesserung ihrer Lage aufgrund einer Transplantation. Die Lebensführung und teilweise auch die Lebensorientierung im Zusammenhang mit Lebenschancen sind eng mit diesen wechselnden Bedingungen verflochten. Dies zeigt sich beispielhaft an der Ausbildung zur Krankenschwester, die nur dann von institutioneller Seite möglich ist, wenn sie nicht auf die Dialyse angewiesen, sondern transplantiert ist. Die auf Krankheit ausgerichtete Welt ist ihr von Anfang an vertraut, bedeutsame Lebensorientierungen, wie beispielsweise der Berufswunsch, sind auf sie bezogen. Sie kennt die Welt der Krankheit aus der Perspektive einer Betroffenen und darüber hinaus auch als professionell in ihr agierende Fachkraft mit dem entsprechenden Expertenwissen und Handlungsvermögen, was mit einer hohen Autonomie bei der Bewältigung der Krankheit verbunden ist. Zugleich sucht Wanda Haupt aus einer überwiegend auf Krankheit bezogenen Welt heraus die Normalität der anderen, auf Gesundheit bezogenen Welt und die Zugehörigkeit zu ihr, sodass zu ihrer Normalität beide Welten gehören. Die Krankheit ist von Anfang an integrierter Bestandteil ihrer Biographie. Wanda Haupt schildert eine kontinuierliche Entwicklung ihres Lebens, bei der die Bewältigung der Krankheit einen normalen Bestandteil bildet, je nach Krankheitsverlauf variiert und eng mit der Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen verflochten ist. Da die Krankheit das Leben von Wanda Haupt von frühster
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Kindheit an begleitet, bildet sie eine normale Ausgangsvoraussetzung für ihre spätere Lebensorientierung und Lebensführung.
3.2.1.2 Biographisches Porträt 2: NORA SEUBERT Nora Seubert ist zum Interviewzeitpunkt 27 Jahre alt und wird aktuell regelmäßig dialysiert. Nach einem Nierenversagen im Alter von fünf Jahren muss sie seit 22 Jahren ihre eigene Nierenfunktion durch ein Transplantat oder durch regelmäßige Dialyse ersetzen. Sie hat die Ausbildung zur Zahnarzthelferin abgeschlossen, ist momentan nicht berufstätig und bekommt eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Nora Seubert ist ledig, wohnt bei ihren Eltern im Haus und befindet sich in einer festen Partnerschaft. Während des Interviews ist neben der Normalität des Themas zugleich auch die aktuelle Betroffenheit bei Nora Seubert durch die derzeitige problematische Situation präsent.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Nora Seubert wird 1978 als gesundes Kind geboren. Ihre Mutter ist gelernte Frisöse und als Verkäuferin tätig, ihr Vater ist Schlosser und arbeitet in seinem Beruf. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung Im Alter von fünfeinhalb Jahren bekommt Nora Seubert eine schwere Bronchitis und wird mit Antibiotikum behandelt. Die Mutter entdeckt einen Ausschlag auf den Augenlidern ihrer Tochter, geht zum Arzt, weil sie eine Unverträglichkeit des Medikaments vermutet und wird mit der Tochter in das Klinikum in R-Stadt überwiesen. Dort wird ein totales Nierenversagen festgestellt, das aus ärztlicher Sicht daher rührt, dass sich die Bakterien der Bronchitis auf die Nieren niedergeschlagen und diese angegriffen haben. Nora Seubert muss die nächsten eineinhalb Jahre an die Dialyse. Etwas über ein Jahr wird sie in einem weiter entfernt gelegenen Krankenhaus dialysiert, die letzten Monate stellt die Familie auf Heimdialyse um, die wegen des beginnenden Schulbesuchs von Nora Seubert nötig wird. Mit siebeneinhalb Jahren bekommt sie eine Spenderniere. Die Eltern von Nora Seubert nehmen also die ersten Krankheitszeichen wahr und leisten die weitere Krankheitsbewältigung, während Nora Seubert die veränderte Situation aus der Sicht eines Kindes in einer eher passiven Rolle erlebt und in ihren Alltag integriert. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Nach der Transplantation kommt es zu einer weitgehenden Normalisierung ihres alltäglichen Lebens. „Es hat dann mehr oder weniger auf Anhieb alles hingehauen, ja außer ein paar, immer wieder mal Abstoßung oder irgendwelche Probleme oder Nierenbeckenentzündung so, nennen wir's jetzt mal Kleinigkeiten (lacht), was halt die Niere immer wieder ein bisschen geschwächt hat und so, aber mehr oder weniger habe ich dann meine ganze, ja, Kindheit und Jugendzeit und so weiter recht gut leben können, außer dass ich in der Früh und auf die Nacht Medikamente habe einnehmen müssen, habe aber sonst alles gemacht, was, glaube ich, jeder andere auch macht, al-
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Empirische Ergebnisse so bin fortgegangen, habe mal geraucht, habe mal wo einen Rausch gehabt (...) also einfach halt ganz normal.“ (Int 23, S. 3)
Die Spenderniere verträgt sie relativ gut, aber von Zeit zu Zeit treten Komplikationen auf, die sie mit einem Lachen als „Kleinigkeiten“ bezeichnet. Zu dieser Kategorie zählt sie gesundheitliche Probleme wie beispielsweise Abstoßungsreaktionen oder eine Nierenbeckenentzündung und macht auf diese Weise deutlich, dass es sich im Verhältnis zu der Nierenerkrankung nicht um bedeutende Erkrankungen handelt. Die Bewältigung dieser ‚Begleiterscheinungen’ ist in den normalen Alltag integriert, ebenso dazugehörig sind die Medikamente, die sie täglich einnehmen muss. Darüber hinaus unterscheidet sich in ihrer rückwärtigen Sicht ihr Leben kaum von dem der anderen Kinder und Jugendlichen. Sie sieht eher die Übereinstimmungen und hebt die Normalität ihrer Kindheit und Jugend hervor. Ihre sozialen Beziehungen in der Schulzeit schildert Nora Seubert als positiv. Sie berichtet von einem großen Freundeskreis, in dem sie akzeptiert wird. Auch bei ihren ersten Beziehungen zum anderen Geschlecht sieht sie keine Probleme und erläutert dazu: „Dass da irgendwer Schluss mit mir gemacht hätte wegen dem, auch nicht“ (Int 23, S. 24). Nach dem Abschluss der Realschule beschreibt sie verschiedene Optionen für den weiteren Berufsweg. Es gibt die Überlegung, Bankkauffrau zu werden, die sich aber „schnell erledigt“ (Int 23, S. 3), da die Banken keine Auszubildenden suchen und sie auch „nicht wirklich das Genie im Kaufmännischen“ (ebd.) ist. Die von ihren Lehrern empfohlene Option, Sport zu studieren und Tanzlehrerin zu werden, scheitert daran, dass sie „Keine zum Studieren“ (ebd.) ist und ein weiterer Schulbesuch mit einem anschließenden Studium für sie nicht in Frage kommt. So absolviert sie eine Ausbildung als Zahnarzthelferin, obwohl sie das, wie sie mitteilt, nie werden wollte. Im Kontrast zu Wanda Haupt äußert Nora Seubert keinen klaren Berufswunsch und keine gewünschte berufliche Richtung, sondern scheint diesbezüglich eher passiv und ungerichtet. Sie beschreibt mögliche Orientierungen, gegen die sie sich abgrenzt oder die aus äußeren Gründen nicht möglich sind, formuliert aber keine Ziele, die sie erreichen möchte. Mit dem Übergang in die Ausbildung und später in die Berufstätigkeit beginnen aus ihrer Sicht die Probleme im Zusammenhang mit ihrer Krankheit. Als problematisch beschreibt sie ihre häufigen Fehlzeiten, da sie alle drei Wochen nach R-Stadt zu Untersuchungen fahren und wegen Komplikationen „halt mal wieder für ein paar Tage ins Krankenhaus“ (Int 23, S. 8) muss oder sie Krankheiten wie Grippe und ähnliche Infekte wegen ihrer Immunsuppression „gescheit“ (ebd.) bekommt. Nach der Ausbildung wird sie gleich ausgestellt, da ihr Chef „mit dem nicht zurechtgekommen ist, dass ich von Zeit zu Zeit einfach nicht da bin“ (Int 23, S. 3). Nora Seubert beginnt nun als Bäckereiverkäuferin in der Bäckerei einer Bekannten der Mutter zu arbeiten. Es ist ihr wichtig, erst einmal Geld zu verdienen, um sich ein Auto leisten oder in den Urlaub fahren zu können. Sie hat dort eine verantwortungsvolle Position als Filialleiterin inne und verdient daher auch entsprechend mehr. Da die Chefin mit ihrer Mutter befreundet ist, kennt sie Nora Seubert von klein auf und weiß um ihre Erkrankung und deren Bedingungen. Das findet Nora Seubert an dieser Arbeitsstelle optimal, und obwohl „Semmeln verkaufen“ (Int 23, S. 27) keine Erfüllung für sie darstellt, hätte sie es in rückwärtiger Sicht „nicht besser erwischen können“ (ebd.). Dadurch, dass die Chefin sie kennt, muss sie sich nicht ständig rechtfertigen, „warum ist man jetzt krank, warum hat man jetzt das“ (ebd.). Durch das Wissen und die Akzeptanz der Chefin ist es für sie leichter, die Berufstätigkeit und häufigere Fehlzeiten durch die Erkran-
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kung zu verbinden. Ab 2001 bekommt sie eine Berufsunfähigkeitsrente, darf aber auf 400 Euro-Basis arbeiten. In der Bäckerei ist sie bis zum vergangenen Jahr tätig. Mitte letzten Jahres wird Nora Seubert an der Nebenschilddrüse operiert, die als Folge der Nierenerkrankung nicht mehr richtig arbeitet. Zu dem Zeitpunkt ist ihre transplantierte Niere nach 19 Jahren “nicht mehr die Beste“ (Int 23, S. 4), arbeitet aber noch ausreichend. Nach der Operation infiziert sich die Wunde und sie wird mehrmals nachoperiert. In der Folge gibt es eine deutliche Verschlechterung der Nierenwerte und die Ärzte empfehlen die Rückkehr an die Dialyse. Nora Seubert hofft jedoch, dass sich die Niere regeneriert und hält noch ein Jahr ohne Dialyse durch. In diesem Jahr ist ihr Körper schon so geschwächt, dass sie ständig krank ist. Seit Mitte dieses Jahres geht sie in einer Arztpraxis in relativer Nähe zum Wohnort wieder regelmäßig an die Dialyse. Zu der schwierigen gesundheitlichen Situation von Nora Seubert gesellen sich weitere problematische Faktoren, die die gesamte Familie betreffen. Der Vater von Nora Seubert ist zu Beginn der gesundheitlichen Krise seiner Tochter bereit, eine Niere für sie zu spenden. Nachdem alle Untersuchungen durchgeführt sind und der Operationstermin für letzten Herbst bereits festgelegt ist, möchte er jedoch wegen eines Herzklappenfehlers, der von den Ärzten als „nicht dramatisch“ (Int 23, S. 6) eingeschätzt wird, noch eine Herzuntersuchung machen lassen. Dabei wird festgestellt, dass der Herzfehler doch größer ist und eine sofortige Operation notwendig macht. In Folge seiner Herzoperation wird die Nierentransplantation abgesagt. Nach der Operation und Genesungszeit geht es ihm zwar wieder gut und die Ärzte befinden, dass eine Nierenspende grundsätzlich möglich ist, aber, so Nora Seubert, „seine Psyche haut nicht mehr so hin“ (Int 23, S. 6). Er denkt jetzt anders, sodass eine Lebendspende für die Tochter nun nicht im Bereich des Möglichen für ihn liegt. Nora Seubert muss ihre Hoffnung auf die Spenderniere und damit eine Zukunftsperspektive aufgeben. „Jetzt hab ich mich auf die Transplantationsliste wieder setzen lassen und hoffe halt da auf irgendwas, wann auch immer. Genau. Hmm. Und wie es weiter geht, weiß ich noch nicht. Wahrscheinlich jahrelang Dialyse.“ (Int 23, S. 6f.).
Nach der zerstörten Hoffnung auf die Niere des Vaters versucht sie den Weg über die Transplantationsliste, um eine Spenderniere zu bekommen, was jedoch häufig mit langen Wartezeiten verbunden ist. Die Lage wird als in negativer Weise offen und unkalkulierbar erlebt. Nora Seubert hofft auf „irgendwas, wann auch immer“. Es ist für sie nicht möglich, sich auf eine bestimmte Entwicklung einzustellen. Kalkulierbar scheint lediglich, jahrelang auf die Dialyse angewiesen zu sein, was für sie eine belastende und nach der Hoffnung auf die Lebendspende durch den Vater eine besonders frustrierende Vorstellung zu sein scheint. Weitere sich aufschichtende Schwierigkeiten sind unter anderem mit dem Umzug der Familie im letzten Jahr verbunden. Die Familie ist aus O-Dorf in einen anderen nahegelegenen Ort umgezogen. Das Haus befindet sich zu der Zeit noch im Umbau, der von dem Vater und dem Bruder von Nora Seubert durchgeführt wird. Da der Vater durch die Herzoperation eine längere Zeit verhindert ist, muss nun der Bruder viel Arbeit allein übernehmen und reagiert überfordert. Zusätzlich zu den bestehenden Problemlagen erleidet die Mutter in dieser Zeit einen Zusammenbruch wegen eines Magengeschwürs, was die Situation weiter erschwert. Darüber hinaus muss Nora Seubert kurz vor dem Interviewtermin wegen einer akuten Problematik ins Krankenhaus.
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Über die aktuelle Situation berichtet sie, dass sich augenblicklich alles wieder etwas beruhigt. Ihr Freundeskreis und ihr Freund halten zu ihr und unterstützen sie. Der Freund wohnt noch in O-Dorf, dessen vertraute Atmosphäre und bekannte Menschen Nora Seubert vermisst, und baut gerade an seinem Elternhaus einen eigenen Wohnbereich aus. Nora Seubert rechnet damit, dort mit ihm zukünftig gemeinsam wohnen zu können und auf diese Weise nach O-Dorf zurückzukehren.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Nora Seubert erzählt ihre Lebensgeschichte am Zeitverlauf orientiert. Sie fasst die Entwicklungen zuerst relativ knapp zusammen und erläutert im Anschluss daran bestimmte Lebensbereiche und Lebensphasen genauer. Kindheit und Jugend werden überwiegend als normal und positiv auch im Zusammenhang mit der Erkrankung geschildert. Deutlich mehr Raum nehmen Erzählungen ein, die problematische Inhalte der späten Jugendzeit und des frühen Erwachsenenalters wie die Ausbildungszeit, der Übergang in die Berufstätigkeit und die Verschlechterung der transplantierten Niere und andere gesundheitliche Probleme behandeln. Diese Erzählungen weisen einen höheren Detaillierungsgrad auf. Die Unterstützung durch die Eltern wird ebenfalls mehrfach geschildert. Erzählungen aus der Kindheit und Jugend werden nur selten aktualisiert, sondern überwiegend aus heutiger Sicht zusammengefasst dargestellt. Auf die Zukunft bezogene Vorstellungen gibt es kaum. Es entsteht der Eindruck der Erzählperspektive einer ausgedehnten Gegenwart. Insgesamt ist die gegenwärtige Bewältigung des Lebens mit der Krankheit von den problematischen Entwicklungen in den letzten eineinhalb Jahren gekennzeichnet. Als Themen der aktuellen Auseinandersetzung treten ihre momentan eher traurige Stimmung, die Unterstützung durch Freunde, den Partner und die Eltern, das Neue und das Vertraute am Kranksein, die aktuelle Gegenwartsorientierung und die Unmöglichkeit, in der akuten Situation Pläne für die Zukunft zu verfolgen, besonders hervor. Diese Themen sollen im Folgenden ausführlicher beleuchtet werden. Nora Seubert teilt zu ihrer aktuellen Situation mit, dass sie seit diesem Jahr wieder dialysiert wird und resümiert, dass ihre bisherige Spenderniere 20 Jahre gehalten hat, was für eine transplantierte Niere eine gute Zeit darstellt. Sie führt weiter dazu aus, was diese Rückkehr an die „Dialysemaschine“ (Int 23, S. 5) für sie bedeutet. „...und jetzt irgendwie in den letzten Monaten wird mir eigentlich erst wieder bewusst, dass ich krank bin. Also muss ich echt sagen, die Jahre davor war mir das nicht bewusst, weil, na, du nimmst deine Tabletten, sogar gesunde Menschen nehmen Tabletten, sag ich jetzt einfach mal, hab ich mir nicht so viel gedacht dabei, weil ich irgendwas machen hab können und jetzt regt's mich auf – arbeiten kann ich nicht, weil immer wenn ich denke, jetzt fange ich wieder an zu arbeiten, dann habe ich irgendwas wie letzte Woche, da bin ich ins Krankenhaus gekommen, na ja irgendwie, dann das Geld geht dir dann doch ab, wenn du nicht arbeitest. Und weg kannst nicht (...) na ja, jetzt ist's halt irgendwie nicht mehr so, zur Zeit bin ich eher traurig als lustig.“ (Int 23, S. 5)
Nora Seubert beschreibt ein neues Bewusstsein darüber, dass sie krank ist. Die akute Situation des Wechsels an die Dialyse und die damit verbundenen Einschränkungen und Ab-
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hängigkeiten stehen im Kontrast zu ihrem vorherigen Kranksein mit der Spenderniere, das sie trotz aller Medikamente und Komplikationen als normal empfunden und bei dem sie sich mit anderen, gesunden Menschen vergleichbar wahrgenommen hatte. Sie schildert ein ‚Gefangensein im Nichtstun’, da jede Aktivität durch ein gesundheitliches Problem verhindert wird. Jeder Versuch einer aktiven Ausrichtung wird gestoppt und hält sie in der Gegenwart fest. Diese augenblickliche Bewegungs- und Richtungslosigkeit ist mit der Erfahrung von Verlust („jetzt ist's halt irgendwie nicht mehr so“) und mit Gefühlen der Trauer verbunden. Es wird deutlich, dass sich Nora Seubert aktuell in einer gesundheitlich und persönlich problematischen Phase befindet, die neben der Normalität der Krankheit zugleich eine neue, noch nicht bewältigte Krise darstellt. Mit dem Satz: „Meine Eltern sind eigentlich heute noch brutal für mich da“ (Int 23, S. 12) verweist Nora Seubert auf die umfassende Unterstützung, die sie durch ihre Eltern erlebt hat und die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Sie zeigt sich auch in der Bereitschaft des Vaters, seiner Tochter eine Niere zu spenden, die bis zu seiner Herzoperation bestand. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass durch die Zurücknahme der Bereitschaft zur Lebendspende problematische Gefühlslagen in der Familie auftauchen. Nora Seubert berichtet davon, dass sie dadurch die Hoffnung auf eine konkrete Möglichkeit, von der Dialyse unabhängig zu werden, verliert. An anderer Stelle verweist sie auf eine mögliche Gefühlslage ihres Vaters, mit der sie sich auseinandersetzen muss. „...so momentan da habe ich mir gedacht, wo ich an der Maschine bin, jetzt bleibst mal an der Maschine, dass sich alles wieder beruhigen kann, dass mein Pa keine Angst hat, er muss mir jetzt eine Niere geben, oder so, aber mich fuchst das an der Maschine auch, also ich habe wirklich andauernd was anderes.“ (Int 23, S. 15)
Nora Seubert äußert in dieser Passage die Vermutung, dass ihr Vater Angst hätte, ihr eine Niere geben zu müssen, und bringt damit zum Ausdruck, dass durch die gegenwärtige Situation sowohl einzelne Mitglieder der Familie als auch die Beziehung zwischen ihnen belastet – unruhig oder aufgewühlt – sind. Sie versucht durch ihr Verhalten, die Akzeptanz der „Maschine“, ihm seine Angst zu nehmen und die aktuelle Situation zu beruhigen. Zugleich belastet sie ihre Lage an der Dialysemaschine, in der permanent Komplikationen auftreten. Verschiedene Bedürfnisse in und zwischen den beteiligten Personen scheinen durch die Entwicklungen im letzten Jahr in Konflikt geraten zu sein. Die Beziehung zu ihrem Freund erlebt sie als positiv und unterstützend. Sie erzählt, dass es ihr noch gut gegangen ist, als sie sich kennen gelernt haben und dann nach einiger Zeit im Zusammenhang mit der Nebenschilddrüsenoperation die verschiedenen Probleme auftauchten. Jetzt habe er sich schon daran gewöhnt, dass von Zeit zu Zeit etwas schief läuft. Zudem hat er ihr versichert, dass es für ihn kein Grund ist, sie zu verlassen, weil sie krank ist oder es ihr schlecht geht, sondern dass er für sie immer da sein wird. Diese Zusicherung kommentiert sie mit den Worten „und ich sag mal, das ist doch schon was“ (Int 23, S. 11) und mit einem Lachen, was einerseits ihre Freude darüber zeigt und andererseits auch als eine Spur Unsicherheit darüber interpretiert werden kann, ob diese Zusicherung auch wirklich langfristig Bestand hat. Auch in ihrem Freundeskreis, in dem viele sie schon von klein auf kennen, erfährt sie Unterstützung und teilweise auch Bewunderung, „weil ich das eben alles so gut wegstecke oder gut verarbeiten tue oder weil ich so normal bin“ (Int 23, S. 25). Diese Aussage über ihren positiven Umgang mit der Krankheit von Menschen, die sie schon lange kennen,
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bildet einen Kontrast zu dem Eindruck einer aktuell problematischen Verarbeitung, der in der Interviewsituation entsteht. Dieser Kontrast ist jedoch nicht unbedingt als Widerspruch zu verstehen, sondern er kann auf ein Leben mit Höhen und Tiefen hinweisen, das sich zum Interviewzeitpunkt durch die bereits beschriebenen Problemaufschichtungen im letzten Jahr und unter dem Eindruck der plötzlichen Krankenhauseinweisung vor zwei Wochen augenblicklich in einem Tief befindet. Über ihr Leben mit der Krankheit führt sie im Zusammenhang mit der Bewunderung durch andere weiter aus: „...muss man dich schon bewundern, das alles so zu verarbeiten und dein ganzes Schicksal und was weiß ich. Wo ich dann immer sage, für mich ist das normal, ich meine, ich war fünf Jahre alt. Mit fünf Jahren bist du Kind, da wenn die Mama sagt, was weiß ich, so ist das, dann ist das so, wenn sie sagt, jetzt tut's weh, dann tut's weh also, du hast ja da dein Leben selber noch nicht so im Griff, du wächst ja mit dem auf, also ist das ja heute nix Neues für mich, dass ich Medikamente nehmen muss und dass ich von Zeit zu Zeit in’s Krankenhaus muss, also das sind, das Einzige, was ich zwar immer gewusst habe, aber jetzt neu ist für mich, ist die Maschine, weil ich kann mich da nicht mehr so wirklich erinnern (...) ich mein sicher, ich weiß das noch, aber so das richtig mitkriegen, was das bedeutet, was das heißt für die Zukunft, das ist halt jetzt erst, aber im Endeffekt ist es nichts Neues für mich. Und wenn ich einmal irgendwo wieder etwas überstanden habe, also wie zum Beispiel an dem Tag, wo's mir schlecht geht, da habe ich natürlich auch die Phase, toll, immer ich und warum und wieso, weh tut's hinten und vorn und so und jetzt mag ich nicht und, aber sobald es wieder bergauf geht, habe ich halt das wieder überwunden und dann passt das wieder und dann ticke ich wieder normal. Und das sage ich denen halt auch, ich kenne es nicht anders, da ist das mehr oder weniger normal.“ (Int 23, S. 25f.)
Hier wird deutlich, dass das Leben mit der Krankheit für Nora Seubert auf der einen Seite normal und gewohnt ist und sie auf der anderen Seite aber ebenso von neuen Erfahrungen überrascht wird. „Das Einzige, was ich zwar immer gewusst habe, aber jetzt neu ist für mich, ist die Maschine“, diese Widersprüchlichkeit bezieht sich einerseits auf den Unterschied zwischen ‚wissen’ und ‚erfahren’ und andererseits auf den Unterschied der Perspektive durch ein verändertes Bewusstsein. Während sie im Alter von fünf bis sieben Jahren mit dem dazugehörigen Bewusstsein und unter der Fürsorge der Eltern, die alles Nötige regeln und entscheiden, die Prozedur an der Dialyse hinnimmt, hat sie als Erwachsene einen gänzlich anderen Blickwinkel. Im Kontrast zu ihrer früheren kindlichen Wahrnehmung der Dialyse befasst sie sich nun beispielsweise damit, was die Dialyse für ihre Zukunft bedeuten kann. Diese bewusste Auseinandersetzung und die aktuelle Situation ist für sie neu, aber zugleich ist das Leben mit der Krankheit und den verschiedenen Höhen und Tiefen, die bewältigt werden müssen, „nichts Neues“ („ich kenne es nicht anders, da ist das mehr oder weniger normal“). Hier wird die grundsätzliche Normalität eines Lebens mit der Krankheit geschildert, das sie und indem sie sich abhängig von der aktuellen körperlichen Befindlichkeit mal mehr und mal weniger normal empfindet („aber sobald es wieder bergauf geht, habe ich halt das wieder überwunden (...) und dann ticke ich wieder normal“). Darüber hinaus bringt sie zum Ausdruck, dass die Erkrankung je nach Alter und der dazugehörigen Lebensphase verschieden wahrgenommen und verarbeitet wird, da gänzlich unterschiedliche Bedingungen herrschen. In dieser Passage dokumentiert sich, dass bei der Erkrankung zu einem frühen Zeitpunkt im Lebensverlauf die selbstständige Bewältigung der Erkrankung ein Teil der Entwicklungsaufgaben beim Übergang von der Jugend ins Erwachsenenalter darstellt.
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Im Umgang mit ihrer Krankheit und ihrem Leben charakterisiert sich Nora Seubert als „Stehaufmännchen“: „...ich bin so ein Stehaufmännchen, also so einen Tag liege ich flach und dann denke ich auch manchmal, es geht dahin mit mir und am nächsten Tag dann fange ich halt wieder irgendwas an, also, weiß auch nicht. Bei mir ist halt, wenn’s mir schlecht geht, dann geht’s mir schlecht und wenn’s irgendwie geht, stehe ich auf und dann geht’s gut.“ (Int 23, S. 12)
Die Metapher des Stehaufmännchens beinhaltet das „Flachliegen“, lenkt den Fokus jedoch auf den Prozess des „Wiederaufstehens“. Sie stellt eine generalisierte Selbstaussage dar, in der sie es als für sich typisch beschreibt, dass auf das „Flachliegen“ unweigerlich das „Wiederaufstehen“ folgt. Bei der Erläuterung, die Nora Seubert zu ihrem Verständnis des Wortbildes gibt, geht sie nicht etwa schnell über die Phase hinweg, in der es ihr schlecht geht, sondern gibt dieser Befindlichkeit einen deutlichen Raum („wenn’s mir schlecht geht, dann geht’s mir schlecht“), obgleich die prinzipielle Richtung der Metapher über diesen negativen Zustand hinaus weist. Mit dem Selbstverständnis als „Stehaufmännchen“ hebt Nora Seubert ihre grundsätzliche Fähigkeit und Bereitschaft hervor, schwierige Situationen aktiv zu bewältigen und nicht nur zu erleiden, räumt jedoch auch der Leidensphase ihren Platz ein. Vor dem Hintergrund der aktuell eher problematischen Situation wird einerseits die Betonung des Erleidensaspekts verständlich, andererseits ordnet Nora Seubert mit dieser Metapher die aktuelle Lage auch in einen Prozess ein, der wieder zum Aufstehen und zu einer Zeit führen wird, in der es ihr besser geht und in der sie wieder aktiver handeln kann. Nach Plänen für die Zukunft gefragt antwortet sie mit folgendem Satz: „Habe ich immer gehabt, aber irgendwann, wenn dir eine Seifenblase nach der anderen platzt, das ist dann irgendwann mal – lebst bloß noch so von heute auf morgen, sage ich jetzt mal.“ (Int 23, S. 8)
Die Zukunft als eine zerplatzende Seifenblase nach der anderen versinnbildlicht die wiederholte Zerstörung von Wünschen oder Träumen, die eng verbunden ist mit ihrer Nierenerkrankung und den daraus resultierenden Komplikationen. Darüber hinaus kann die von ihr mit dem Bild der zerplatzenden Seifenblasen beschriebene Ernüchterung oder Entzauberung zu einem Teil auch im Zusammenhang mit der Lebensphase gesehen werden, denn der Übergang von der Jugendzeit in das frühe Erwachsenenalter beinhaltet häufig auch ein gewisses Maß an Scheitern und Ernüchterung oder Neuausrichtung von Vorstellungen und Träumen. Jedoch bringt Nora Seubert zum Ausdruck, dass speziell die Bedingungen der Krankheit sie im Augenblick daran hindern, sich mit wünschenswerten Vorstellungen auch nur zu befassen. Die Zukunft ist so ungewiss und unberechenbar, dass als Alternative nur noch die Ausrichtung auf die Gegenwart sinnvoll scheint („lebst bloß noch so von heute auf morgen“). Beispielhaft führt sie diese aktuelle Problematik an der Frage nach dem Wunsch, eine Familie zu gründen, aus. Sie erzählt, dass einige ihrer Freundinnen bereits Kinder haben und sie es ebenfalls schön fände, zu heiraten und Kinder zu bekommen. Zugleich denkt sie darüber nach, was sie mit einem Kind machen sollte, wenn sie bei körperlichen Problemen mit sich selbst kaum zurechtkommt wie kürzlich, als sie plötzlich ins Krankenhaus musste. Einerseits, so äußert Nora Seubert, denkt man als Mensch mit einer Erkrankung „ein bisschen anders, andererseits möchte man alles haben, was alle anderen Leute haben, den
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normalen Ablauf oder so“ (Int 23, S. 9). Hier wird das Dilemma deutlich, sich einerseits am Normallebenslauf orientieren zu wollen und andererseits durch die Bedingungen der Krankheit immer wieder daran gehindert zu sein. Sie beschließt die Ausführungen zu dem Thema folgendermaßen: „Na, es ist ein Zwiespalt. Einerseits ja, andererseits nein. Einerseits hat man natürlich Wünsche, (...), momentan denk ich mir eigentlich bloß, dass ich von der Maschine wieder weg, alles andere ist momentan Nebensache irgendwie.“ (Int 23, S9f.)
Mit dieser Zusammenfassung macht Nora Seubert noch einmal ihre momentane Lage deutlich. Der Konflikt zwischen „einerseits“ und „andererseits“ ist derzeit nicht lösbar, sie befindet sich in einer Pattsituation, in der die Beschäftigung mit zukünftigen Lebensplänen problematisch ist. „Man“ hat zwar Wünsche, von diesen distanziert sie sich jedoch momentan, da es für sie in der augenblicklichen Situation nicht möglich ist, diese zu verfolgen. Ihr Aufmerksamkeitsfokus liegt in der Gegenwart, in der sie sich von der „Maschine“ beeinträchtigt fühlt und von ihr „wieder weg“ möchte. Die Beendigung der aktuellen Lage an der Dialyse durch eine Spenderniere scheint die Voraussetzung für eine weitere Orientierung in der Zukunft zu sein.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Nora Seubert erleidet im Vorschulalter ein Nierenversagen und muss dialysiert werden. Während der ersten Zeit an der Dialyse und dem späteren Leben mit einer transplantierten Niere sind überwiegend die Eltern für die Bewältigung der Krankheit zuständig. Nora Seubert schildert ihr Leben mit der Krankheit in der Kindheit und Jugend als relativ normal und unproblematisch, den Übergang in die Ausbildungs- und Berufswelt jedoch als schwierig. Sie erlebt die Krankheit durch die Einschränkungen in der Berufswelt als begrenzend für ihre beruflichen Lebensorientierungen. Neben diesem einschränkenden krankheitbezogenen Aspekt gibt es aber auch verschiedene weitere Gründe, die mögliche berufliche Richtungen ausschließen. In ihrer Erzählung tritt keine bevorzugte berufliche Richtung hervor, für die sie sich ähnlich wie Wanda Haupt aktiv eingesetzt hätte. Heute gibt es für Nora Seubert im beruflichen Bereich mit dem für sie wenig attraktiven Berufsabschluss als Zahnarzthelferin ohne Berufspraxis und der Berufsunfähigkeitsrente mit der Option auf einen 400 Euro-Job kaum eine Entwicklungsperspektive. Die Berufsunfähigkeitsrente im jungen Erwachsenenalter beendet eine normale berufliche Entwicklung bereits am Anfang, stellt jedoch zugleich eine gewisse, wenn auch geringe finanzielle Grundlage dar. In der privaten Linie sind ihr Partnerschaft, Familie und Heimat wichtig. Themen wie Heirat und Familiengründung haben für sie eine hohe Relevanz, sind aber vom Alter her noch nicht absolut dringlich, da sie sich derzeit im frühen Erwachsenenalter befindet. In der aktuell unklaren Situation steht sie der Gründung einer Familie, obwohl prinzipiell gewünscht, ambivalent gegenüber. Die bestehende Situation ist also gekennzeichnet durch eine Warteposition mit offenem Ausgang, deren weitere Entwicklung abhängig vom Erhalt einer Spenderniere ist. Nora Seubert verfügt über geringe bis mittlere Potenziale, die sie bei der Gestaltung der Situation einsetzen kann. Die Möglichkeit, über den Realschulabschluss hinaus die Schule zu besuchen und anschließend zu studieren, ist für sie nicht interessant. Ihre Be-
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rufsausbildung entspricht ebenfalls nicht ihren Interessen, sodass sie im Bereich ihrer Qualifikationen auf wenig Potenzial zurückgreifen kann bzw. möchte. Die Ausübung der Tätigkeit als Verkäuferin und Filialleitung in der Bäckerei weist jedoch auf Potenziale im Bereich der Organisation, der Übernahme von Verantwortung und auf Geschick in der Personalführung hin. Der große Freundeskreis verweist ebenfalls auf Fähigkeiten in Bereichen, die mit Gestaltung von Beziehungen im Zusammenhang stehen. Soziale Unterstützung bekommt sie von den Eltern, ihrem Freundeskreis und ihrem Partner. Auf der einen Seite ist die Nierenerkrankung eine schwere Erkrankung, die mit enger Abhängigkeit von medizinischer Versorgung und häufig mit diversen Komplikationen verbunden ist. Auf der anderen Seite gibt es durch die medizinischen Möglichkeiten, wie beispielsweise durch die Transplantation, bei Nora Seubert im Alter von sieben Jahren lange Phasen eines weitgehend normalen Lebens mit einer Spenderniere. Die Lebensbedingungen können also bei dieser Erkrankung im Lebensverlauf mehrmals schnell und umfassend wechseln. Nora Seubert befindet sich momentan in einer Phase der regelmäßigen Abhängigkeit von dem Dialysegerät mit zusätzlichen Belastungen durch Komplikationen, hofft aber auf eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensqualität durch eine weitere Spenderniere. Zur Zeit steht ihre Gegenwartsorientierung und die Bewältigung der aktuellen Krisensituation im Vordergrund, während ihre längerfristigen Lebensorientierungen entfernt erscheinen, die an einem weiblichen Lebensverlaufsmuster mit Familiengründung und zusätzlicher Teilzeitarbeit ausgerichtet sind. Bezugssysteme bilden für Nora Seubert sowohl eine auf Krankheit als auch eine auf Gesundheit bezogene Welt, sie schildert sich allerdings zur Zeit aufgrund ihrer aktuellen Situation als in der auf Krankheit bezogenen Welt gefangen und von der Teilnahme an der anderen Welt ausgeschlossen. Auf der einen Seite ist die Krankheit integrierter Bestandteil ihrer Identität und Biographie und das Leben mit ihr ist „nichts Neues“ (Int 23, S. 25). Auf der anderen Seite erlebt Nora Seubert die nun geforderte selbstständige Bewältigung des Lebens an der Dialysemaschine als neu. Die Krankheit stellt also eine Normalität dar und bildet zugleich den Hintergrund einer aktuellen Krisensituation mit neuen Erfahrungen bezüglich der Krankheit und des Krankseins. Die Auseinandersetzung mit der aktuellen Situation kann auch als Teil einer lebensphasenspezifischen Entwicklung gesehen werden, denn nun muss sie zum ersten Mal als Erwachsene eine problematische Phase bewältigen, während in der letzten vergleichbaren Situation die Bewältigung überwiegend von den Eltern übernommen wurde. An diesem Fall wird die Krankheits- und Krisenbewältigung als Entwicklungsaufgabe des Erwachsenwerdens bei Menschen deutlich, die bereits in einer frühen Lebensphase von dem Einbruch einer chronischen Krankheit betroffen sind. Lebensorientierung und Lebensführung werden von vornherein in Bezug auf die Bedingungen der Krankheit entwickelt. Sie müssen sich in der Auseinandersetzung mit ihnen und den Möglichkeiten in der Umwelt herausbilden und sich gegebenenfalls veränderten Bedingungen neu anpassen.
3.2.1.3 Biographisches Porträt 3: VERENA PETERS Verena Peters ist zum Interviewzeitpunkt 33 Jahre alt. Seit ihrem zwölften Lebensjahr leidet sie an Asthma. Sie ist Sozialpädagogin und seit zwei Jahren berufstätig. Sie hat einen
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zehnjährigen Sohn, den sie alleine erzieht und befindet sich seit einem Jahr in einer Partnerschaft mit einem Mann, der in einer anderen Stadt lebt. Von diesem Porträt wird aus Platzgründen nur die zusammenfassende Analyse präsentiert.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Die Krankheit tritt im Lebensverlauf von Verena Peters in der späten Kindheit in Erscheinung. Daher ist die Bewältigung der Erkrankung zunächst eine gemeinschaftliche Aufgabe in der Familie, für die überwiegend die Eltern zuständig sind. Erst durch den Umzug in eine andere Stadt übernimmt Verena Peters im frühen Erwachsenenalter die Krankheitsbewältigung vollständig selbst und löst sich von der Fürsorge ihrer Eltern. Die berufliche Entwicklung erfolgt scheinbar unabhängig von den Beeinträchtigungen durch das Asthma. Da die Erkrankung bereits in der späten Kindheit auftritt, werden persönliche Potenziale, die im mittleren bis höheren Bereich liegen, im Lebensverlauf mit der Krankheit entwickelt. Verena Peters erlebt eine intensive soziale Unterstützung in ihrer Herkunftsfamilie. Im partnerschaftlichen Bereich berichtet Verena Peters von wenig Unterstützung in den vergangenen Jahren. Aktuell befindet sie sich in einer Partnerschaft mit einem neuen Partner, den sie als unterstützend erlebt, und möchte die Beziehung langfristig etablieren. Durch das frühe Auftreten der Asthmaerkrankung sind die Erfahrungen mit der Krankheit eng verwoben mit der Entwicklung in den verschiedenen Lebensphasen und der Bewältigung der Übergänge von der Kindheit zur Jugend, zur Ausbildungsphase und zur weiteren beruflichen und privaten Entwicklung. Verena Peters schildert die Krankheit und deren Bewältigung als normalen Teil ihres Lebens, der allerdings wenig bewusste Aufmerksamkeit erhält. Auf der einen Seite beschreibt sie sich als hellhörig, wenn sich eine beginnende asthmatische Problematik abzeichnet, und kann dann entsprechend reagieren und die Situation in einer aktiven Weise bewältigen, auf der anderen Seite hat die Krankheit in der Alltagsgestaltung kaum Bedeutung. Auch in der Zukunftsplanung ist die normale, nicht krankheitsbezogene Planung im Vordergrund, nur in akuten Phasen, wenn es ihr schlecht geht, bezieht sie die Krankheit bewusst mit ein und macht sich Gedanken über gesundheitsunterstützende und vorbeugende Maßnahmen wie z. B. eine regelmäßige sportliche Betätigung. Ein Bruch, den beispielsweise eine Krankheit erzeugen kann, die im mittleren Lebensalter die bisherigen Ziele in Frage stellt und die dadurch eine Umorientierung nötig macht, wird hier nicht geschildert. Interessant ist aber, dass etwa zeitgleich mit dem Auftreten der Krankheit ein Wechsel auf die Realschule und auch ein Wechsel dahingehend zu verzeichnen ist, dass Verena Peters dort keine Ausgrenzung erlebt und sich mit ihrem Körper und seiner Größe wohler fühlt. Hier bieten sich verschiedene Interpretationen an: Diese Veränderung kann als ein Ergebnis intensiverer Kontakte in der Familie durch die gemeinsame Krankheitsbewältigung oder als eine Art unbewusste Aussöhnung mit dem Leben oder dem eigenen Körper verstanden werden. Es könnte sich ebenso um eine zufällige zeitliche Überschneidung handeln oder auch als eine natürliche Entwicklung im Übergang vom Kind zur Jugendlichen interpretiert werden. Vielleicht sind auch mehrere der angesprochenen Aspekte gleichzeitig von Bedeutung.
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Verena Peters erlebt das Asthma in akuten Krisensituationen als schwer und teilweise als lebensbedrohlich. Nach der Überwindung der Krise durch medizinische Hilfe ist die Erkrankung jedoch im Alltag nicht sehr präsent. Es gibt keine besonderen Einschränkungen oder Verluste und die Erkrankung ist für andere nicht sichtbar. Die Fähigkeit von Verena Peters, ihren gesundheitlichen Zustand einschätzen und auf ihn adäquat reagieren zu können ermöglicht ihr, sich mit anderen Themen des Alltags zu beschäftigen. Daher ist sie auf der einen Seite auf die Welt der Krankheit bezogen, die sie kennt und in deren Rahmen sie agieren kann, zugleich aber auch in der auf Gesundheit bezogenen Welt zuhause, die sie im Alltag mit anderen gesunden Menschen teilt. Das Asthma ist ein selbstverständlicher Teil ihrer Identität ebenso wie andere mit Gesundheit identifizierte Aspekte, denn es ist bereits in der Lebensphase, in der die Identitätsentwicklung thematisch in den Vordergrund rückt, Teil ihres Lebens. Sie erzählt ihre Biographie als eine kontinuierliche Entwicklung, von der die Krankheitsbewältigung einen Teil darstellt. Die lebensbedrohlichen Anfälle sind dabei bemerkenswerte Ereignisse, die jedoch nicht mit einer Änderung der Lebensorientierung verbunden sind. Mögliche Auswirkungen der Krankheit auf ihre Rolle und ihren Platz in der Gesellschaft werden in ihrer gesamten Erzählung nicht thematisiert, weder konkret materiell, noch als Identitätsthematik. Neben ihrer Erkrankung zu einem Zeitpunkt, bevor die Aufgabe der Identitätsentwicklung besonders Gewicht erhält, ist dies vermutlich im Zusammenhang damit zu sehen, dass sie sich auf der einen Seite selbst nicht als typisch chronisch krank definiert und die Erkrankung für sie im Alltag wenig präsent ist und sie auf der anderen Seite die Erkrankung als Teil ihres Lebens annimmt. Das Asthma ist zwar permanent, aber häufig im Hintergrund anwesend und fließt in verschiedene Entscheidungen und Planungen implizit mit ein. Kennzeichnend für diesen Fall ist also der Eintritt der Erkrankung in die Biographie zu einem frühen Zeitpunkt und das Leben mit der Krankheit und deren Bewältigung als Normalitätserfahrung. Die Lebensorientierung entwickelt sich im Zusammenhang mit dem Erwachsenwerden. Die Erkrankung und deren Bewältigung ist dabei ein Thema, das implizit, aber nicht explizit in die Zukunftsplanung und mögliche Berufswahl eingeht und in der Lebensführung entsprechend der aktuellen gesundheitlichen Lage und daher nur partiell berücksichtigt werden muss.
3.2.1.4 Zusammenfassender Fallvergleich Wanda Haupt, Nora Seubert und Verena Peters werden von der Krankheit in der Kindheit betroffen. Zum einen liegt die Bewältigung der Krankheit so über eine längere Zeitspanne vorwiegend in der Verantwortung der Eltern und wird in der Kindrolle innerhalb einer unterstützenden Gemeinschaft erfahren. Zum anderen stellt die Erkrankung und die damit verbundenen Lebensbedingungen dadurch in der Phase der Adoleszenz bereits eine Voraussetzung dar. In dieser Phase geht es um die Entwicklung einer eigenen Identität. Eine eigenständige Lebensorientierung und damit verbundene Vorstellungen vom eigenen Leben beginnen sich mehr und mehr herauszubilden und münden in Ausbildungswege und in mögliche berufliche und private Perspektiven. Diese Entwicklung wird von den Bedingungen der Krankheit begleitet, die entsprechend ihrer jeweiligen Ausprägungen diesen Prozess implizit oder explizit begleiten. Verena Peters ist von einer zwar in der akuten Situation schweren, aber im Alltag wenig einschränkenden Krankheit betroffen und stellt
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Empirische Ergebnisse
nicht explizit eine Verbindung zwischen Berufschancen und Krankheit her. Dagegen beschreiben Nora Seubert und Verena Peters eine solche Verbindung. Beide sind von einer schweren Krankheit betroffen, die je nach aktueller Verlaufsphase regelmäßige Behandlungsphasen erfordert und durch die wegen Untersuchungen oder Komplikationen immer wieder Fehlzeiten am Arbeitsplatz entstehen. Die Interviewpartnerinnen berichten auf der einen Seite von verminderten Chancen und Diskriminierung auf informeller und institutioneller Ebene im beruflichen Bereich und auf der anderen Seite von Chancen, die hier aus persönlichen Beziehungen und sozialer Unterstützung erwachsen. Alle Interviewpartnerinnen berichten von guter bis hoher sozialer Unterstützung. Die Entwicklung einer eigenen Geschlechtsrolle, die Beziehung zum eigenen Körper und die Aufnahme von Partnerschaften wird von den dieser Gruppe zugeordneten Personen als normal und nicht als besonders problematisch in Verbindung mit der Krankheit beschrieben bzw. mögliche Probleme können gemeinsam mit einem Partner bewältigt werden und führen eher noch zu einer vertieften Akzeptanz. Die Probleme im partnerschaftlichen Bereich, von denen Verena Peters berichtet, schildert sie nicht als von der Erkrankung beeinflusst, sondern stellt einen umgekehrten Zusammenhang her. Ihre beeinträchtigte psychische Situation durch partnerschaftliche Probleme wirkt negativ auf ihren gesundheitlichen Zustand zurück. Die präsentierten Fälle variieren in Bezug auf die Lebensbereiche, die für die Lebensorientierung bedeutsam sind. Während Wanda Haupt sich intensiv für ihre berufliche Entwicklung engagiert und hier konkrete Pläne und Wünsche kontinuierlich verfolgt, stellt für sie die Familiengründung keine relevante Lebensorientierung dar. Nora Seubert setzt ihre Schwerpunkte genau umgekehrt. Sie sieht zum einen die krankheitsbedingten Begrenzungen in der beruflichen Welt und äußert zum anderen keinen konkreten beruflichen Wunsch, für den sich ein Engagement gelohnt hätte bzw. lohnen würde. Für sie sind Vorstellungen über Partnerschaft und die Gründung einer Familie biographisch relevanter, zu letzterem Bereich besteht im Augenblick aufgrund der gesundheitlich problematischen Situation jedoch auch eine gewisse Distanz. Nora Seubert orientiert sich also eher an einem weiblichen Lebensverlaufsmuster, während Wanda Haupt mit ihrer kontinuierlichen Konzentration auf die berufliche Linie eher der männlichen Ausprägung des Normallebenslaufes folgt. Verena Peters versucht, ihre Rolle als alleinerziehende Mutter und ihre Weiterqualifizierungswünsche und im Anschluss daran die – durch ihren Status notwendige – Berufstätigkeit zu vereinen und setzt sich mit den dadurch für sie entstehenden Konflikten auseinander. Die drei Gesprächspartnerinnen sind alle noch relativ jung, weisen aber aufgrund ihrer frühen Erkrankung bereits eine lange Dauer von 21, 22 und 39 Jahren des Lebens mit der Krankheit auf. Sie befinden sich zum Zeitpunkt des Interviews jeweils in einer anderen Lebensphase. Wanda Haupt blickt mit 39 Jahren auf eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit ihrer besonderen Lebenslage zurück. Sie konnte für sich bedeutsame Lebensorientierungen entwickeln, diese umsetzen und dabei bis heute mehr erreichen als sie ursprünglich angestrebt hatte. Die Lebensführung mit der Erkrankung bewältigt sie mit hoher persönlicher und professioneller Kompetenz. Dagegen befindet sich Nora Seubert mit 27 Jahren im frühen Erwachsenenalter. Für sie ist die selbstständige Auseinandersetzung mit erkrankungsbedingten Problemlagen noch relativ neu. Sie ist überwiegend mit der Bewältigung des Alltags aufgrund verschiedener Komplikationen beschäftigt und beschreibt sich zum Zeitpunkt des Interviews als in einer Art Warteposition in der Gegenwart fokussiert.
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Die Beruhigung ihrer gesundheitlichen Lage stellt für sie eine Voraussetzung dar, um weitere biographisch relevante Pläne verfolgen zu können. Während Wanda Haupt aus einer Position berichtet, in der wesentliche Lebenspläne bereits erfolgreich umgesetzt und ausgebaut wurden, ist für Nora Seubert die Ausbildung und der Start in die berufliche Linie bisher wenig erfüllend und zur Zeit durch die Erwerbsunfähigkeitsrente bereits wieder beendet. Die bestehende Partnerschaft erweist sich bisher als tragfähig, die Umsetzung weiterer biographisch relevanter Lebenspläne der privaten Linie ist zu diesem früheren Zeitpunkt in der Biographie noch offen. Verena Peters ist in Bezug auf die aktuelle Lebensphase zwischen Wanda Haupt und Nora Seubert zu verorten. Sie befindet sich in einem fortgeschrittenerem Stadium des frühen Erwachsenenalters, hat nach der ersten, wenig zufrieden stellenden Ausbildung weitere Qualifikationswünsche verwirklicht und ist seit kurzem berufstätig. Sie ist bereits seit zehn Jahren Mutter und möchte ihre aktuell bestehende, noch junge Paarbeziehung zu einer langfristig tragfähigen Partnerschaft ausbauen und auf diese Weise den Wunsch nach einer vollständigen Familie verwirklichen. In Bezug auf eine eigenständige Krankheitsbewältigung hat sie die Ablösung von den Eltern bereits erfolgreich vollzogen. Bezüglich Art und Schwere der Erkrankung sind Wanda Haupt und Nora Seubert von der gleichen schweren Krankheit betroffen, befinden sich aber in unterschiedlichen Verlaufsphasen. Während sich Wanda Haupt in einer Phase der Stabilität befindet, erlebt Nora Seubert zum Interviewzeitpunkt eine Phase gesundheitlicher Krisen. Dagegen ist die Erkrankung von Verena Peters in Bezug auf die Einschränkung im Alltag weit weniger schwer und kann von ihr relativ gut kontrolliert werden. Trotzdem ist ihre gesundheitliche Situation prekär, da sie mit akuten Krisen beispielsweise im Zusammenhang mit einer Erkältung rechnen muss. Bei allen drei vorgestellten Fällen wird deutlich, dass die Erkrankung in einer frühen Lebensphase mit einer relativ hohen Normalität im Umgang mit der Krankheit verbunden ist. Sie wird implizit oder explizit in die Lebensorientierung und in die Lebensführung einbezogen, das bedeutet, die jeweiligen Bedingungen der Krankheit fließen in die zukünftige Planung ein und führen zur Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit ihr und zur Kompensation der mit ihr verbundenen Einschränkungen. Die Integration in die Identität ist relativ umfassend, gesunde und kranke Aspekte sind neben- und miteinander möglich. Bezugssysteme sind sowohl eine auf Krankheit als auch eine auf Gesundheit bezogene Welt, die als Teilbereiche in einem übergeordneten Bezugssystem vereint sind. Da wegen des frühen Eintritts der Krankheit in das Leben die Identität noch nicht festgelegt ist und noch keine ausgeprägten Lebensentwürfe bestehen, gibt es auch später kein völlig unvorbereitetes plötzliches Zerbrechen bestehender Lebensorientierungen, obgleich durch akute krankeitsbedingte Entwicklungen teilweise Brüche und Verluste erfahren werden.
3.2.2 Bruch und Neuorientierung im Leben (Typus B) Bedeutsame gemeinsame Merkmale dieser Gruppe sind die Erfahrung eines Bruchs bedeutsamer Lebensorientierungen und eine Neuorientierung im Leben. Dabei treten bei den Interviewpartnern verschiedene Varianten des Zerbrechens bisheriger Lebensorientierungen und der Neuorientierung hervor, die im Folgenden an vier Fällen dargestellt werden.
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Jelka Uhl schildert einen umfassenden Bruch nach der Kenntnis der Diagnose und der Konfrontation mit der möglichen Entwicklung der Erkrankung. Die Krankheitsbewältigung wird von ihr nach einem Prozess der Auseinandersetzung nun als neue individuelle und zugleich als sozialpolitische Aufgabe gesehen, was ihr neue Räume eines gesellschaftlichen Engagements eröffnet. Dagegen erfährt Herbert Steffen das umfassende Zerbrechen von bisherigen Lebensorientierungen durch den plötzlichen Einbruch einer Erkrankung mit einer schweren körperlichen Symptomatik, durch die bisher selbstverständliche Handlungen zunächst unmöglich werden und erst langsam und nur teilweise wieder aufgenommen werden können. Sonja Tomms entscheidet sich nach der Kenntnis von ihrer Erkrankung gegen eine Fortführung ihrer beruflichen Linie und zieht sich auf die private Linie zurück, die sie ausbaut. Paul Adams schließlich berichtet von einem Zerbrechen bisheriger beruflicher Inhalte und beruflichen Selbstverständnisses als Heilpraktiker, der nun selbst von einer Krankheit betroffen ist und orientiert sich in Bezug auf das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und entsprechenden Denk- und Handlungsweisen neu.
3.2.2.1 Biographisches Porträt 4: JELKA UHL Jelka Uhl ist zum Zeitpunkt des Interviews 45 Jahre alt und seit 16 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Sie ist Volljuristin, bereits seit langem in Rente und ehrenamtlich engagiert als erste Vorsitzende eines Selbsthilfegruppenzusammenschlusses. Sie ist seit 21 Jahren verheiratet. Beim Interview herrscht eine offene und intensive Atmosphäre, Frau Uhl erzählt lebendig und engagiert und spricht relativ schnell.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Jelka Uhl wird 1959 geboren und wächst in der Kleinstadt A. als einzige Tochter in einem „gut- oder kleinbürgerlichen Elternhaus“ (Int 7, S. 2) auf. Die bei ihrer Geburt mit 19 Jahren junge Mutter übernimmt die Rolle als Hausfrau, der Vater macht, ausgehend von seiner Volksschulbildung, Karriere als Prokurist. In der Kindheit verbringt Jelka Uhl viel Zeit auf dem kleinen Bauernhof der Großeltern mütterlicherseits, die sie als arme Röhnbauern schildert. Sie beschreibt ihre Kindheit dort als eine traumhaft schöne Zeit, in der sie sich frei und zugleich geborgen fühlt. Auch zuhause in der Stadt erfährt sie viel Freiheit, denn es gibt dort riesige Gärten und eine alte Schreinerei, Räume, in denen man „wunderbar spielen“ (Int 7, S. 4) kann. Ihre Kindheit schildert die Erzählerin lebendig und hebt die Erfahrung von Freiheit und Geborgenheit sowie ihre Aktivität und Unternehmungslust hervor. Diese Aspekte treten in der weiteren Erzählung immer wieder als bedeutsam für ihre Identität hervor. Nach der Volksschule besucht sie ein Mädchengymnasium, in dem sie sich als Klassensprecherin und später als zweite Schulsprecherin engagiert. Ihre Schulzeit und ihre Jugend handelt Jelka Uhl mit wenigen Sätzen ab. Sie berichtet über diese Zeit unter dem Blickwinkel, dass sie und die anderen Mädchen sich für das andere Geschlecht interessierten und – als biographisch bedeutsames Ereignis – sie ihren zukünftigen Mann kennen lernt. Im Zusammenhang mit der Schulzeit schiebt sich beim Erzählvorgang das Gegen-
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warts-Ich massiv in den Vordergrund: Sie ist geschockt darüber, wie wenig sie von der Volksschulzeit, Gymnasialzeit und Studienzeit noch in Erinnerung hat, es erschreckt sie furchtbar, weil sie daran merkt, „wie einem das Leben durch die Hände rinnt, ohne dass man was festhalten kann“ (Int 7, S. 5). Und obwohl sie sich, wie sie ergänzend berichtet, beim Lesen in ihren Tagebuchaufzeichnungen darin wieder entdeckt, ist die damalige Sicht für sie doch heute weit entfernt. Einerseits bleibt sie mit sich identisch, erkennt sich wieder, andererseits betont sie hier auch die weit reichenden Wandlungen, die sich seitdem in ihrer Identität im Lebensverlauf vollzogen haben. Der Schulabschluss, der im Hinblick auf das Studium erfolgreich verlaufen sein muss, wird nicht thematisiert. Es ist zu vermuten, dass er damals den Erwartungen aller Beteiligten entsprach und sich in das institutionelle Ablaufmuster des Ausbildungsweges einfügte und daher nicht hervorgehoben wird. Mehr im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die weitere berufliche Orientierung, mit der Suchprozesse verbunden sind. Sie beschreibt sich als Mensch, der viele Interessen hat, was eine Berufsentscheidung oder berufliche Richtung nach dem Abschluss des Gymnasiums „gar nicht so einfach“ (Int 7, S. 7) macht. Als auslösendes Ereignis für die Wahl ihres Studiums erzählt sie eine Geschichte, in der sie mit ihrem Mann während eines Urlaubs ein College besichtigt und dort in einem leeren Raum am Rednerpult spontan ein Plädoyer hält und daraufhin beschließt, Jura zu studieren. Argumentativ begründet sie diese Wahl mit ihrem „ganz massiven Gerechtigkeitssinn“ (Int 7, S. 10), der sie neben der beruflichen Richtung auch zu weiterem Engagement gebracht habe. In der Studienzeit leben sie und ihr späterer Mann zwar in derselben Stadt, sie teilen aber keine gemeinsame Wohnung. Die in dieser Zeit stattgefundene Heirat erwähnt sie gar nicht. Möglicherweise ist für sie die Heirat im familienzyklischen Ablaufmuster nach einer bereits langjährig bestehenden Beziehung erwartet und wird daher nicht erwähnt. Wenn die oben geschilderte Wohnsituation vor und nach der Statuspassage bestand, was aus der chronologischen Rekonstruktion hervorgeht, könnte die durch die Heirat faktisch unveränderte Situation ein Grund dafür sein, dass die Erzählerin diesen Punkt nicht thematisiert. Aber auch andere Interpretationen sind hier denkbar. Vielleicht gab es im Zusammenhang mit der Heirat Wünsche und Erwartungen an eine Zukunft, die durch die Krankheit unmöglich geworden sind und deshalb nicht erinnert oder thematisiert werden. Als solche Zukunftsentwürfe, die im Zusammenhang mit der Erkrankung bereits aufgegeben wurden oder deren Realisierung heute sehr fraglich ist, wären beispielsweise gemeinsame Kinder vorstellbar oder auch die Erwartung, das Leben zusammen zu verbringen und gemeinsam alt zu werden. Ausgelöst durch die Katastrophe von Tschernobyl engagiert sie sich während ihrer Referendariatszeit als Gründungsmitglied der Greenpeacegruppe in ihrer Heimatstadt. Auch auf die Referendariatszeit geht sie nur am Rande ein. Nach dem zweiten Staatsexamen bewirbt sie sich bei Rechtsanwälten und bei einer Versicherungsgesellschaft. Obwohl sie findet, dass der Beruf der Rechtanwältin gut zu ihr gepasst hätte, entscheidet sie sich für eine Stelle bei einer Versicherungsgesellschaft. Hier lassen ihr die Arbeitszeiten noch genügend Freiheit im Kontrast zu den Bedingungen eines Rechtsanwalts, bei dem sie sich beworben hatte, dessen Bedingungen sie als „reine Versklavung“ (Int 7, S. 11) betitelt und dessen Angebot ihre bisherige Vorstellung von der Rolle eines Rechtsanwalts und den damit verbundenen hohen moralischen Ansprüchen entzaubert. Ihr erfolgreicher Ausbildungsverlauf setzt sich in dem erfolgreichen Übergang in die Berufstätigkeit fort. Zugleich werden an ihren Entscheidungskriterien bei der Stellenauswahl weitere Interessen deutlich.
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Die für Jelka Uhl bedeutsamen Freiheiten verweisen auf Wünsche und Pläne in anderen Lebensbereichen wie beispielsweise Familie, Freunde oder andere relevante Orientierungen, die neben beruflichen Plänen den Bezugsrahmen für ihre Handlungen bilden. Einbruch der Krankheit und erste Auseinandersetzung Erste Verunsicherung durch Symptome: „Meine Füße, die sind irgendwie wie eingeschlafen, irgendwie eigenartig.“ Jelka Uhl arbeitet bereits eineinhalb Jahre bei der Versicherungsgesellschaft, als sie Taubheitsgefühle in ihren Füßen wahrnimmt. „...das weiß ich auch noch wie heut, da bin ich, ja, im Büro gewesen und wir hatten nebendran ne Treppe, die rauf und runter ging, sitz im Büro und merk irgendwie, meine Füße, die sind irgendwie wie eingeschlafen, irgendwie eigenartig und dann bin ich die Treppe immer rauf und runter gesprintet, weil das ist das Erste, an was du denkst, dass du schaust, dass du deinen Kreislauf in Schwung bekommst, ja und da hat sich also nichts geändert, ja und dann bin ich zum Arzt gegangen.“ (Int 7, S. 13)
Erste Anzeichen der Krankheit werden pragmatisch gedeutet und nahe liegende Lösungen für den Umgang mit den Missempfindungen gesucht. Ihre anfängliche Theorie, dass die Füße eingeschlafen sind und sie ein Kreislaufproblem hat, muss sie jedoch nach den erfolglosen Gegenmaßnahmen aufgeben. Nun gibt es keine harmlose Deutung der Symptome mehr. Sie kann die Körperempfindungen nicht mehr einordnen und geht zu einem Fachmann. Die Erinnerung an diese Situation ist präsent. Das kann zum einen mit ihrer Gefühlslage in der Situation zusammenhängen. Diese wird zwar nicht explizit erwähnt, der erzählte Prozess deutet aber auf eine Verunsicherung über den Körper hin, dessen Funktion zuvor als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Es liegt ebenfalls nahe, dass mit der Annahme, dass etwas nicht stimmt, eine bewusste oder unbewusste Angst verbunden ist. Zum anderen markiert diese Erfahrung rückwirkend den bewussten Beginn der Geschichte der Krankheit und wird damit zum Wendepunkt in der Lebensgeschichte, so wie sie auch in der Erzählung als Einleitung der Geschichte von der Krankheit dient. Die Diagnosestellung: „Ich muss einfach wissen, was ich in der Hand hab.“ Sie begibt sich in professionelle Hände. Der praktische Arzt überweist sie zum Neurologen, der verschiedene Untersuchungen durchführt. Relativ schnell vermutet er Multiple Sklerose, teilt ihr diese Diagnose aber erst mit, als sie darauf besteht. „ ... der hat also mich dann rein gebeten und dann so hin- und hergeziepft und er hat gesagt, ja, das ist was, das kann wieder kommen und kann wieder gehen, hab ich gesagt, Mensch, hab ich gesagt, machen se mir doch nicht, ja wie soll ich sagen, ich muss einfach wissen, was ich in der Hand hab, und ich hatte ja schon, das muss man dazu sagen, während meines Studiums Sehbeschwerden (...) und das hat bei mir alles dann in ein Ding reingepasst, ich hab als erstes irgendwo natürlich eher vielleicht an einen Gehirntumor oder irgend so was gedacht, das ist eine automatische Assoziation, die man da irgendwo hat, und dann hab ich ihn so ein bisschen, was heißt gequält, nachdem er nicht so richtig rausgerückt ist, hab ich gesagt, sie, ich will ihnen mal Folgendes sagen, ich bin jetzt 29, ich hab studiert, ich mach mich möglicherweise selbstständig, das war noch in dem Moment gewesen, wo das noch nicht ganz sicher war, ich könnt mich selbstständig machen, ich möchte vielleicht Kinder, ich muss wissen, was los ist, und dann hat
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er zu mir gesagt, den Satz werd ich nie vergessen, ja wenn sie es unbedingt wissen wollen, ein saublöder Satz, wenn sie es unbedingt wissen wollen, also ich vermute, dass sie multiple Sklerose haben, die Ergebnisse schauen auch so aus, es fehlt noch eine abschließende Untersuchung, die müssen wir nicht jetzt machen, da können wir warten, bis wieder was auftritt, bei mir traten relativ schnell wieder Probleme auf, das hat nicht mal ein halbes Jahr gedauert (...) und da war’s dann endgültig gesichert quasi die Diagnose.“ (Int 7, S. 14f.)
In der Gesprächssituation nimmt sie durch das Verhalten des Neurologen die Botschaft auf, dass es sich um eine bedrohliche Krankheit mit weit reichenden Folgen für sie handelt, verbal wird dies jedoch zuerst nicht formuliert. Der Neurologe äußert sich für sie auf unbestimmte Weise zur Ursache der Symptome und spricht seine Vermutung erst deutlich aus, nachdem Jelka Uhl ihn mehrfach dazu auffordert. Sie möchte wissen, was sie in der Hand hat, diese Metapher ist zum einen auf die aktuell unsichere Situation bezogen, deutet aber auch auf eine schon zuvor bestehende Ahnung oder Angst hin. Früher aufgetretene Sehbeschwerden werden nun in einen Zusammenhang mit den aktuellen Symptomen gebracht und daraus eine angsteinflößende Hypothese über einen Gehirntumor als mögliche Krankheitsursache entwickelt. Sie möchte sich der Angst und Unsicherheit stellen und Klarheit über ihre Situation bekommen, muss jedoch ihren Wunsch nach klarer Information massiv einfordern. Sie konfrontiert den Arzt mit ihren möglichen Zukunftsplänen und anstehenden Entscheidungen von biographischer Relevanz und unterstreicht ihre Reife mit dem Hinweis auf ihr Alter und ihren Bildungsstand, während er um die Benennung der Krankheit herumlaviert. Sein Gesprächsverhalten deutet für sie darauf hin, dass er zum einen wesentliche Aspekte ihrer Person und zum anderen ihre lebensphasenspezifische Situation nicht adäquat wahrnimmt. Für sie ist eine Konfrontation mit der Diagnose die Grundlage, auf der sie ihr Leben und ihre Zukunft planen und gestalten kann. Es scheinen auf beiden Seiten sehr verschiedene Vorstellungen darüber zu bestehen, wie eine Diagnose vermittelt werden sollte. Die Erzählung dieser Episode ist von besonderer Intensität. In der Passage kommt zum Ausdruck, dass sie sowohl mit sich selbst als auch mit anderen konfrontativ umgeht. Jelka Uhl betont ihren kämpferischen Charakter und ihre (Durchsetzungs)Stärke in einer Situation, in der auch Gefühle der Angst, Unsicherheit oder Schwäche bestimmend sein könnten. Im Vordergrund steht bei ihrer Darstellung der Kampf um eine Kommunikation auf Augenhöhe und um ihr Recht auf klare Information, die für ihre weitere Lebensorientierung notwendig sind. Das sukzessive Wahrnehmen der Krankheit: „Es kam mir so unwirklich vor.“ Im weiteren Verlauf berichtet Frau Uhl nahestehenden Personen von ihrer Diagnose. Anfangs informiert sie nur ihren Mann, denn sie möchte die Eltern noch nicht beunruhigen. „Ich weiß noch, meinem Mann hab ich die Diagnose da unten auf der Couch eröffnet, da saß ich da unten auf der Couch, es kam mir so unwirklich vor, weil ich hatte nicht gleich ne große Assoziation mit der Diagnose, es war nicht so, dass ich jetzt in meinem Bekanntenkreis jemand mit multipler Sklerose gehabt hätte wo ich jetzt automatisch etwas drauf projiziert hätte, ja, aber ich wusste einfach Unheil, ja, es war riesig viel Unheil im Prinzip und ich weiß noch, wie ich’s meinem Mann da unten gesagt hab und es kam mir so unwirklich vor, weil, das was ich präsentiert hab, war eigentlich die Angst vor dem, was auf mich zukommt, gar nicht die reale Angst, weil ich mich ja eigentlich noch völlig gesund, normal gefühlt hab, außer dass halt ein bisschen was an den Füßen gekribbelt hat, was net weltbewegend war.“ (Int 7, 16f.)
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Sie hat kein Erfahrungswissen über die Krankheit Multiple Sklerose, keine konkreten Bilder, aber das unspezifische Wissen von „riesig viel Unheil“. Eine negative Zukunft, eine andere Zukunft als zuvor erwartet, kommt auf sie zu. Sie verwendet nicht die Formulierung „erwartet sie“ oder „dem geht sie entgegen“, sondern die negative Zukunft kommt auf sie zu, hat eine eigene Dynamik, bricht in ihr Leben ein und beeinflusst sie schon heute. Sie empfindet die Situation als unwirklich, weil sie ihrem Mann die diffuse Angst vor dem, was in der Zukunft sein könnte, präsentiert und nicht eine „reale Angst“. Im Unterschied zur wissensvermittelten Angst vor noch nicht konkretem Unheil in der Zukunft scheint die reale Angst erfahrungsgebunden zu sein, was aber in der Situation noch gar nicht gegeben ist. Sie fühlt sich, abgesehen von einem Kribbeln in den Füßen, gesund. Die Empfindung der Situation als „unwirklich“ weist auf den großen Kontrast zwischen der aktuellen Situation mit dem momentanen überwiegend gesunden Körpergefühl und einer durch Expertenwissen erwarteten negativen Zukunft hin. Das Empfinden als „unwirklich“ deutet auf die Veränderung oder Verunsicherung des bisherigen Wirklichkeitshorizontes hin und kann als Ausdruck des Bruches der bisherigen Orientierung verstanden werden. Durch das Wissen verändert sich bereits die heutige Realität. Durch das Mitteilen wird die Krankheit weiter realisiert und zu einem Teil der gemeinsamen Wirklichkeit. Nach dem Auftreten von neuen Symptomen wird die noch ausstehende Untersuchung im Krankenhaus durchgeführt und bestätigt die Diagnose Multiple Sklerose. Jelka Uhl teilt ihrem Mann und ihren Eltern das endgültige Ergebnis mit. Sie schildert es als ein für sie furchtbares Erlebnis zu sehen, wie betroffen und berührt ihr Mann und die Eltern von dieser Mitteilung sind. „Ich hab dann gesehen, wie er gegangen ist und ich stand oben am Fenster und ich seh noch heut unten, wie er sich die Tränen wegwischt, ne, also so, das war so wirklich so zwei Stockwerke tiefer und ich seh das Bild, ich krieg heut noch eine Gänsehaut, wenn ich das seh, ich könnt heulen, wenn ich da dran denk und das war für mich furchtbar, das war absolut furchtbar für mich und das zweitfurchtbare war dann, wie ich meinen Eltern die Diagnose gesagt hab (...) und das war das zweite furchtbare Bild für mich, meine Eltern richtig als gebrochene Leute die Türe rausgehen sehen.“ (Int 7, S. 18)
Sie führt aus, wie sie ihren Mann und später auch ihre Eltern beobachtet, als sie nach der Mitteilung der Diagnose das Gebäude verlassen und erschließt jeweils an der Gestik und Körperhaltung die Betroffenheit ihrer Familienmitglieder. Sie teilt mit, dass diese Situationen damals für sie eine schlimme und tiefgehende Erfahrung darstellten und auch heute noch darstellen, indem sie sie in der Erzählsituation aktualisiert („ich krieg heut noch eine Gänsehaut, wenn ich das seh, ich könnt heulen, wenn ich da dran denk“). Jelka Uhl führt dazu im Interview weiter aus, dass sie in dem Moment weiß, dass zu der Art, wie die Eltern hinausgehen, das Wort „gebrochen“ passt, sie also neu oder vertieft erkennt, was der Begriff „gebrochen“ bedeutet. Jelka Uhl bringt in dieser Erzählung zum Ausdruck, dass die Diagnose nicht nur zu einem Bruch in ihrem Leben, sondern ebenfalls zu einem Bruch im Leben ihres Mannes und ihrer Eltern führt. Die Krankheit wird als ein über sie hinausgehendes, kollektiv wirkendes Ereignis wahrgenommen. Sowohl die Zukunftserwartungen des erkrankten Menschen als auch die der signifikanten Interaktionspartner, mit denen ausgesprochene oder unausgesprochene Erwartungen verbunden waren, stehen in Frage. In dieser Passage wird ein für sie typischer Aspekt sichtbar: Obwohl die Krankheit mit einem umfassenden Bruch verbunden ist, zerbricht Jelka Uhl nicht an ihr. Nicht sie selbst
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steht im Mittelpunkt ihrer Emotionalität, sondern die Krankheit erschüttert sie über das Leid und die Reaktionen der anderen. Prozess der Konfrontation und Kontrolle: „Jetzt musst du schauen, dass du wirklich so gut wie möglich die Sache irgendwie in den Griff bekommst.“ Ihre eigene psychische Verfassung beschreibt Jelka Uhl – damals wie heute – als relativ stabil. Sie bittet um ein Gespräch mit einem Psychologen oder Klinikseelsorger, denn sie möchte mit jemandem sprechen, auf den sie „keine Rücksicht“ (Int 7, S. 19) nehmen muss, nachdem sie bemerkt hat, wie schwer es ihr gefallen ist, die Reaktion der Eltern und des Mannes zu verkraften. Es gibt eine „eingekleidete Schwester“ (ebd.), die als Ansprechpartnerin Dienst im Krankenhaus hat. „Dann hab ich gesagt, dann schicken sie mir die und mit der war ich sehr gut bedient, das war nämlich ne junge Frau, die einfach professionell war, ja, und die konnt ich, einfach von meinem Gefühl her, die konnt ich volllabern, ja, und das hab ich dann auch gnadenlos (lacht) gnadenlos getan, ja, und ich kam mit der sehr gut klar und das war für mich so was, wie nennt man das, Katharsis oder so ne Reinigung oder irgendwie so was und na ja, und dann, ja, und dann ging’s halt für mich, jetzt musst du schauen, wie du den ganzen Mist irgendwie weiter so arrangierst, dass du damit zurande kommst und das hat sich bei mir im Kopf relativ schnell eigentlich na ja, was heißt geklärt, das ist immer ein Kampf, aber das, sagen wir die grobe Linie hat sich für mich relativ schnell geklärt, mir war klar, ich hab dann also viel gelesen, bin sofort der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft beigetreten, hab mich eingeschüttet mit Information und Material was ich nur kriegen konnte und nachdem ich das alles durch hatte, war mir, war für mich relativ klar, also das ist ne Angelegenheit, damit sitzt jetzt fest, damit sitzt du jetzt definitiv dein Leben fest, wenn du Glück hast, verläuft’s einigermaßen passabel, wenn du Pech hast, ich mein, ich hab natürlich alle üblen Vorstellungen, ich mein, wenn sie den Kopf dazu haben und sie lesen das, dann ist ihnen völlig klar, was da alles im übelsten Fall kommen kann und der übelste Fall ist also absolut übel, d. h. also sprechen, hören, riechen, sehen, bewegen, einfach alles, ja, und das ist schon furchtbar, ja, wenn das einem irgendwo so klar wird, na ja, und dann hab ich für mich irgendwo gesagt, jetzt musst du schauen, dass du wirklich so gut wie möglich die Sache irgendwie in den Griff bekommst, meine Mutter hat damals einen Satz gesagt, den ich ganz schlau fand, die hat gesagt, na ja, das ist jetzt also deine Arbeit so ungefähr im Leben, dass du das irgendwie auf die Schiene kriegst, und da hab ich gedacht, da hat sie irgendwie, hat sie irgendwie recht damit“ (Int 7, S. 19f.)
In dieser Passage schildert Jelka Uhl, dass sie nicht die Kontrolle verliert, sondern engagiert an die Bewältigung herangeht. Sie beleuchtet den Entwicklungsprozess vom Umgang mit ihrer emotionalen Betroffenheit über die Informationssammlung bis zu einem Punkt, an dem sie die neue Lage ungefähr einschätzen kann. Zuerst sorgt sie aktiv dafür, dass sie professionelle Unterstützung bekommt, um ihre Emotionen zu verarbeiten und kann ihre Gedanken und Empfindungen an sicherer Stelle „gnadenlos“ zum Ausdruck bringen, ohne ihre Familie zu belasten. Als Effekt davon beschreibt sie eine Art Katharsis. Dieser Prozess der Emotionsregulation scheint für sie zu einem Zustand zu führen, in dem es ihr möglich ist, sich neu zu ordnen. Auch auf der Textebene wird mit der Formulierung „na ja, und dann, ja, und dann“ die Erzählung der Reinigung beendet und die der Neuordnung begonnen. Sie spricht davon, „den ganzen Mist“ so zu arrangieren, dass sie damit zurande kommen kann, was darauf hindeutet, dass sie sich neu auf ein noch verschwommenes zukünftiges Ziel hin ausrichtet. Mit einer intensiven Informationssuche leitet sie die nächsten Schritte in diese Richtung ein. Sie informiert sich umfassend über die Erkrankung und
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sucht aktiv Kontakt zu anderen von Multipler Sklerose betroffenen Menschen und organisierten Interessensvertretungen. Nachdem sie „alles durch“ hat, also eine Vorstellung von Ursachen, Verlauf und Konsequenzen der Krankheit entwickelt hat, kommt sie zu der Einschätzung, mit der Erkrankung definitiv und lebenslang festzusitzen. Es wird deutlich, dass die Erkrankung bisherige Zukunftsentwürfe zerstört. Sie beginnt, ihre Zukunft zu dimensionieren, also einen Rahmen für ihre mögliche Zukunft aufzuspannen, der auf der einen Seite von einem einigermaßen passablen Verlauf und auf der anderen Seite von dem übelsten Verlauf begrenzt wird. Sie konfrontiert sich also umfassend mit der Problematik und den Zukunftsprognosen, realisiert massive Auswirkungen auf ihr Leben und die definitive, lebenslange Eigenschaft dieser chronischen Erkrankung. Sie beschreibt es als furchtbar, sich über die möglichen Konsequenzen der Erkrankung klar zu werden, kann diese Gefühle der Furcht aber bewältigen und ihre Situation kontrollieren. Es wird deutlich, dass sie an dem Konflikt nicht zerbricht. Mit dem Ziel, die Sache so gut wie möglich in den Griff zu bekommen, beginnt sie, ihre Zukunft neu zu planen und zu gestalten. Ihre Mutter unterstützt sie, indem sie ihr mit den Worten „das ist jetzt also deine Arbeit (...) im Leben, dass du das irgendwie auf die Schiene kriegst“ eine neue Deutung ihrer Lebensaufgabe anbietet, in der es darum geht, das Leben mit der Krankheit so gut wie möglich zu bewältigen. Diese Sinngebung, die implizit bisherige Arbeitsbereiche gegen die Bewältigungsarbeit tauscht und damit Arbeit im gemeinsamen Verständnis neu definiert, kann Jelka Uhl annehmen und, wie sich später noch zeigen wird, umfassend umsetzen. Das Bild der Schiene legt nahe, dass es eine Richtung gibt, in die neu eingespurt werden muss, dann die Fahrt aber wieder losgehen kann. Diese Definition der Mutter weist darauf hin, dass auch bei ihr ein Reorganisationsprozess in Bezug auf Vorstellungen über die Tochter und ihre Zukunft stattgefunden hat bzw. noch im Gange ist. Krankheit wird zwar einerseits durch die Symptome individuell in der erkrankten Person verortet und dort wahrgenommen. Andererseits betrifft sie ebenfalls die anderen für sie bedeutsamen Personen und die Beziehung, durch die sie verbunden sind. Die Deutung und Bewältigung der Krankheit wird in weiten Teilen gemeinsam ausgehandelt. Durch die aktiv vorangetriebenen Lernprozesse entwickelt sich ein umfassendes Wissen über die Erkrankung, das in eine weitgehende, aber schmerzliche Integration der Erkrankung mit ihren wahrscheinlichen Konsequenzen in die Identität führt und die weitere Orientierung und Lebensführung entscheidend beeinflusst. Die Phase der Informationssammlung bis zu einer ersten Einschätzung der neuen Situation und anschließender Umorientierung zeichnet sich in der angeführten Textstelle und auch in weiteren Passagen durch erzählerische Intensität und detaillierte Schilderungen bis hin zu der szenischen Darstellung von inneren Dialogen aus. Das hohe Detaillierungsniveau und die Art und Weise des Erzählens verweisen darauf, dass sie das Vergangenheits-Ich dieser Phase in der gegenwärtigen Situation aktualisiert und emotional stark beteiligt ist, was die hohe biographische Relevanz der Umbruchphase verdeutlicht. Verwerfen von Zukunftsplänen: „Als Erstes hab ich mir eigentlich den Kinderwunsch abgeschminkt.“ Aus der Einschätzung der Situation mit ihren veränderten Bedingungen zieht Jelka Uhl Konsequenzen für ihre weitere Lebensplanung. „Als Erstes hab ich mir eigentlich den Kinderwunsch abgeschminkt.“ (Int 7, S. 20)
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Lebenspläne, die sozialisatorisch entstanden sind, werden verworfen. Der Kinderwunsch wird mit fast schon radikalem Pragmatismus weggewischt. In ihrer Darstellung zerstört nicht die Krankheit diese Option, sondern sie verwirft aktiv eine Zukunft mit Kindern, weil, wie sie an späterer Stelle begründet, die Assoziationen zu dem Krankheitsbild so sind, dass sie die zusätzliche Verantwortung für ein Kind nicht tragen möchte. Die Formulierung „als Erstes“ verweist auf eine Reihe von weiteren Verlusten und auch darauf, dass sie diesen Punkt für so wesentlich hält, ihn an erster Stelle zu entscheiden. Eine weitere Textstelle erklärt diese Dringlichkeit: „...und es war kurz davor, ich hab die Pille abgesetzt gehabt, also, eineinhalb Jahre oder ein Jahr vorher, weil ich mir gedacht hab, die setzt du besser, wenn du vielleicht doch ein Kind willst, ein bisschen vorher ab.“ (Int 7, S. 21)
Hier zeigt sich, dass es nicht nur entfernte Überlegungen, sondern schon seit über einem Jahr vorbereitende Handlungen für eine mögliche Mutterschaft gab. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die Erwartung an eine zukünftige Familiengründung und Übernahme der Mutterrolle vor der Diagnose vorhanden war, d. h., diesem Lebensbereich eine hohe biographische Bedeutung zugemessen wurde. Dies wird unterstrichen durch die bereits begonnene Umsetzung des zukünftigen Plans, die im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der Erkrankung unterbrochen wird. Im Kontrast zu den damaligen Handlungen entsteht in der jetzigen Selbstpräsentation der Eindruck, dieser Lebensbereich war wenig bedeutsam und das Verwerfen dieser Option leicht, Trauer oder Verlust werden nicht geschildert. Eine Erklärung für ihre pragmatische Verarbeitung und Darstellung könnte ihr mehrfach im Interview betonte Grundsatz sein, nicht zu jammern und stattdessen nach vorne zu schauen und aktiv zu werden. Die Abkehr von einem weiblichen biographischen Verlaufsmuster stellt eine bedeutsame Umorientierung dar. Kinder sind ein Aspekt der privaten Lebenslinie, der für viele Menschen in hohem Maße sinnrelevant ist und eine im Normallebenslauf erwartete Komponente darstellt. Die Möglichkeit der Gründung einer eigenen Familie mit den entsprechenden Rollen als Mutter und später vielleicht als Großmutter wird von der Erzählerin im Alter von 30 Jahren komplett gestrichen. Diese Entscheidung betrifft aber nicht nur ihr Leben, sondern gleichermaßen das ihres Partners, der aber in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt. Sie präsentiert den Verzicht auf Kinder als ihre Entscheidung und nicht als Aushandlungsprozess. In einem weiteren Kontext betrifft diese Entscheidung auch das Leben ihrer Eltern, deren Familienlinie nicht mehr weitergeführt wird. Das institutionelle Ablaufmuster des Lebenslaufes, dem Jelka Uhl, wenn auch mit vielen handlungsschematischen Anteilen, bisher gefolgt ist, wird an diesem Punkt unterbrochen. Ihr Bezugspunkt verändert sich. Sie orientiert sich jetzt an den Bedingungen und Möglichkeiten einer auf Krankheit bezogenen Welt. Neuorientierung und Wandel der Lebensführung: „Jedenfalls hab ich mich dann voll in diese Schiene da rein begeben.“ Neben Prozessen der Dekonstruktion von bisherigen Zukunftserwartungen treten neue Optionen in den Vordergrund. Jelka Uhl beginnt, sich thematisch neu zu orientieren und Bereiche, die ihre neue Situation betreffen, zu erkunden. Sie trifft sich mit anderen Betroffenen und nimmt den Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für von Multiple Sklerose Betrof-
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fene auf. Dort wird ihr Potenzial sogleich bemerkt und ist willkommen, was sie mit Stolz präsentiert: „...bin zur MS Gruppe und die hat mich natürlich gleich auf Grund dessen, was sie jetzt unschwer merken, dass ich relativ viel und flüssig reden kann, mich gleich in diese Schublade rein, die können wir gleich, wenn jetzt irgendwas öffentlich wird können wir die dann gleich einsetzen, war dann bei der AOK bei den Gesundheitstagen bei der Vorstellung der Selbsthilfegruppierungen und da hab ich die Selbsthilfegruppe der MS-Gruppe vorgestellt, hatte aber schon, und das ist das, was mich mein Leben bisher immer begleitet hat, ich hab immer Vorstellungen gehabt, fragen sie mich, wo die herkommen, ich weiß es nicht, nennen sie sie Visionen, (lachend) das ist übertrieben, aber es geht in die Richtung, ich hatte immer Vorstellungen, und wie ich damals zur AOK gegangen bin, hatte ich die Vorstellung, Selbsthilfegruppen müssen sich zusammenschließen, man muss gemeinsam irgendwo ne Lobby bilden.“ (Int 7, S. 22)
Jelka Uhl ist offen für neue Möglichkeiten und beginnt engagiert, eine Parallelkarriere aufzubauen. Zum einen wird sie aufgrund der Potenziale und Ressourcen, die sie mitbringt, von der Gruppe als öffentliche Sprecherin eingesetzt. Zum anderen entwickelt sie aber auch eigene „Visionen“ über einen Zusammenschluss von Selbsthilfegruppen zu einer größeren, machtvolleren Interessensvertretung. Hier kommen zwei Potenziale zusammen, die sich gegenseitig unterstützen und die in dieser Situation auch für andere viele Vorteile bringen. Auf der einen Seite verfügt sie über die Fähigkeit „viel und flüssig reden“ zu können, vermutlich im Verbund damit, gut argumentieren und vor Publikum sprechen zu können, beides geschult in der beruflichen Ausbildung, bei der Tätigkeit als Juristin und darüber hinaus in den anderen Bereichen, in denen sie bisher engagiert war. Auf der anderen Seite schildert sie ihre Fähigkeit, Vorstellungen über lohnenswerte Projekte in der Zukunft zu entwickeln, die Energie bei sich und bei anderen mobilisieren zu können. In retrospektiver Sicht stellt sie diese Vorstellungen dabei mit Stolz als etwas für sie Typisches heraus, das sie über ihr ganzes Leben begleitet hat, fast wie eine Gabe, die ihr verliehen wurde. An späterer Stelle wird diese Sicht weitergeführt in der Aussage, dass mit den Fähigkeiten, über die man verfügt, auch die Verpflichtung verbunden ist, sie so gut wie möglich umzusetzen, was ihren Fähigkeiten und ihrem Einsatz einen Sinn in einem höheren Bezugsrahmen gibt. Zugleich wird deutlich, dass nach der Zerstörung von bisherigen Zukunftserwartungen der Aufbau von neuen, lohnenswerten Perspektiven beginnt. Im weiteren Verlauf kann sie ihre Vorstellungen zügig in die Tat umsetzen. In einer ersten Sitzung begründen Vertreter von fünf Selbsthilfegruppen eine Arbeitsgemeinschaft als Zusammenschluss der einzelnen Gruppierungen zu einer gemeinsamen Interessensvertretung. Dynamisch übernimmt sie in dieser Sitzung die Führung. Die anderen Beteiligten bestätigen sie in dieser Rolle und erkennen sie als Sprecherin des Zusammenschlusses an. Die Arbeitsgemeinschaft wird nach ihrer Gründungssitzung sofort tätig, indem sie sowohl konkrete Mängel kritisiert und sich beispielsweise für behindertengerechte Zugänge mit Erfolg einsetzt, daneben aber auch auf gesellschaftspolitischer Ebene versucht, sich mehr Gehör zu verschaffen. Die in ihrem bisherigen Leben entwickelten Potenziale und ihre Vorstellungen machen es der Erzählerin möglich, für sich und gemeinsam mit anderen einen neuen Wirkungsbereich aufzubauen und dort eine führende Rolle zu übernehmen, in dem sie ihre Vorstellungen umsetzen kann.
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Jelka Uhl engagiert sich intensiv in diesem neuen Lebensbereich und baut ihn weiter aus. Relativ bald trifft sie die Entscheidung, in Rente zu gehen, wozu ihr auch andere Betroffene geraten haben. „Jedenfalls hab ich mich dann voll in diese Schiene da rein begeben und da war ich aber noch bei der Versicherungsgesellschaft und da ist mir natürlich die Entscheidung, in Rente zu gehen, ganz leicht gefallen, weil ich wusste, ich hab wahnsinnig viel, was ich machen kann und was ich machen will, ja, und dann, da bin ich dann nicht ausgebremst, weil mein Gesundheitszustand war ja schon so, dass ich also nie eigentlich wusste, wie ich mich am nächsten Tag fühle.“ (Int 7, S. 23)
Der Übergang in den Rentenstatus fällt ihr unter anderem deswegen leicht, weil in der Zwischenzeit schon viel andere Arbeit auf sie wartet, die sie machen kann und machen will. Sie tauscht einen Arbeitsbereich gegen einen anderen aus. Sie gibt sich „voll in diese Schiene da rein“, in dieser Formulierung nimmt sie die Metapher auf, die ihre Mutter verwendet hatte, um die Bewältigung ihrer Situation mit den Worten „das ist jetzt also deine Arbeit so ungefähr im Leben, dass du das irgendwie auf die Schiene kriegst“ (Int 7, S. 20) zu definieren. Die umfassende Umorientierung wird dadurch bekräftigt. Im Rentenstatus ist sie dabei weniger ausgebremst, hat einerseits mehr Zeit und Energie für die neue Arbeit zur Verfügung und kann andererseits mehr auf ihren gesundheitlichen Zustand Rücksicht nehmen. Zugleich legitimiert dieser Hinweis auf ihren Gesundheitszustand das frühe Ausscheiden aus dem Berufsleben, dass sie an anderer Stelle mit der Negativerfahrung einer Juristin kontrastiert, die nach eigenen Aussagen über eine viel zu lange Zeit noch versucht hat, ihre bisherige berufliche Stellung aufrecht zu erhalten und sich dadurch massiv überfordert hat. Rente bedeutet hier also nicht einen Rückzug aus einer gewissen öffentlichen und aktiven Position ins private Leben mit verminderter Aktivität, sondern den Wechsel von einem Aufgabenbereich in einen anderen und ist nicht mit einem umfassenden Verlust der berufsbiographischen Identität verbunden. Ein angesehener, wenn auch nur immateriell anerkannter, gesellschaftlicher Status weit über den einer Rentnerin hinaus bleibt hier erhalten bzw. wird weiter ausgebaut. Die Rente bietet eine Sicherheit, auf deren Basis die neue Tätigkeit professionell durchgeführt werden kann. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Normalisierungsprozesse in der ‚neuen beruflichen’ gesellschaftlich engagierten Lebenslinie: „Das Engagement ist befriedigend wenn man merkt, dass man seine Fähigkeiten ausschöpfen kann und auch weiterentwickeln kann.“ Nach der intensiven Erzählung der Übergangsphase wechselt die Erzählperspektive. Überwiegend ist nun das Gegenwarts-Ich im Vordergrund, das mit der gesellschaftspolitischen Aufgabe und der Welt der Krankheit identifiziert ist. Der neue Bezugsrahmen ist von einer auf Krankheit bezogenen Welt geprägt. Im Vordergrund steht dabei das Engagement für die Bewältigung von Krankheit auf kollektiver Ebene, das sowohl konkrete Maßnahmen wie personenbezogene Hilfe oder städtebauliche Projekte als auch gesellschaftspolitische Aufgaben umfasst. Die Erzählerin wird zur Repräsentantin der Gruppe der kranken Menschen in einer Welt, die überwiegend auf Gesundheit bezogen ist. Durch ihr gesellschaftspolitisches Engagement hat sie – aus einer neuen Position – teil an der normalen Welt mit ihren verschiedenen Interessensvertretungen. Sie nimmt dort einen Platz ein, der von anderen bestätigt und unterstützt wird und über eine gewisse Macht verfügt. Sie ist also
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Empirische Ergebnisse
aus der auf Krankheit bezogenen Welt in der normalen Welt bzw. der auf Gesundheit bezogenen Welt tätig. Im privaten wie im öffentlichen Raum schafft sie Verbindungen zwischen den Welten und setzt sich mit den Grenzen auseinander. Über den weiteren Lebensverlauf werden Erlebnisse der neuen beruflichen Linie erzählt, die von dem Ausbau der Arbeitsgemeinschaft, ihren Erfolgen und von der Auseinandersetzung der Erzählerin mit persönlich schwierigen Situationen in ihrer Funktion als Vorsitzende handeln und viele argumentative und bewertende Anteile enthalten. Sie erlebt ihre neue Tätigkeit als befriedigend, teilweise sogar als „berauschend“ (Int 7, S. 38), da sie ihre „Fähigkeiten ausschöpfen kann und auch weiterentwickeln kann“ (Int 7, S. 37). Dabei steht die Bedeutung der Aufgabe stets im Vordergrund, das persönliche Befinden und ihre körperliche Verfassung tritt dahinter zurück. Jelka Uhl schildert ihren Krankheitsverlauf gerafft als einen Prozess der permanenten Verschlechterung, in dessen Verlauf sie Kapazität um Kapazität verliert. Auf ihre körperliche Situation geht sie konkret an verschiedenen Stellen ein, stellt diese aber nicht in den Vordergrund der Aufmerksamkeit. Normalisierungsprozesse im privaten Lebensbereich: „Er ist unwahrscheinlich normal und das hat mir ganz gewaltig geholfen.“ Obwohl der Partner, das gemeinsame Zusammenleben und die gemeinsame Zukunft in besonderer Weise von diesen Veränderungen betroffen sind, steht in diesem Bereich der privaten Lebenslinie die Kontinuität im Vordergrund der Darstellung. Die Paarbeziehung wird als verlässliche, stützende, tragfähige Beziehung erlebt, in der ihr Mann zu ihr und ihrer Beziehung steht. Ein Beispiel dafür ist folgende Passage, in der es um die Teilnahme der Erzählerin an einem Ausflug mit den neuen Kollegen des Mannes geht. „Wie er hier an die Schule kam und da war ein Lehrerausflug und, Lehrerausflug hieß bloß mit Rollstuhl, anders war überhaupt nicht dran zu denken gewesen, und mein Mann hat sofort gesagt, natürlich gehst du da mit, das war für ihn selbstverständlich, normal und natürlich, für mich nicht so sehr wie für ihn, ja, aber was ich damit bloß gemeint hab, das ist also niemand, der irgendwo einen Rollstuhl nicht zeigen, er ist vollkommen unabhängig von der Sicht der Leute und das war er schon immer.“ (Int 7, S. 48f.)
Da ihre Einschränkungen zu diesem Zeitpunkt bereits so weit fortgeschritten sind, dass sie längere Strecken nur noch mit dem Rollstuhl bewältigen kann, ist ihr Kranksein dadurch für jeden sofort sichtbar und steht als Abweichung von der Normalität im Vordergrund der Wahrnehmung ihrer Person. Das Stigma ihres Krankseins überträgt sich auch auf ihren Mann. Er wird dadurch als Mann mit einer kranken Frau in besonderer Weise von anderen wahrgenommen, etwas, das nur dann selbstverständlich, normal und natürlich sein kann, wenn man „vollkommen unabhängig“ von der Sicht anderer Leute ist. Als Gegenhorizont wird hier auf diejenigen verwiesen, die einen Rollstuhl nicht zeigen, sondern dieses Symbol des Krankseins verstecken, um nicht die Zuschreibungen der Umwelt zu erleiden, sondern weiterhin als normal wahrgenommen zu werden. Nicht nur sie sondern auch ihr Mann muss für eine Normalität der eigenen Person und eine normale Anerkennung ihrer Paarbeziehung kämpfen und sich gegenüber der Sicht anderer Leute behaupten, die die Situation in der Regel als nicht normal und damit erklärungsbedürftig ansehen oder eigene Hypothesen entwickeln. Die Fortführung der Paarbeziehung als bedeutsame Orientierung der privaten Lebenslinie bedarf eines permanenten neuen Aushandelns und muss durch die sich durch die Krankheit verändernden körperlichen Bedingungen und deren Folgen nach innen und
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nach außen bekräftigt werden. Sie versucht, das „gesunde, normale Zusammenleben“ (Int 7, S. 47) mit ihrem Mann fortzuführen und das Eindringen der auf Krankheit bezogenen Welt gering zu halten. Dabei empfindet sie ihn als „unwahrscheinlich normal“ (ebd.), was sie als sehr hilfreich bei der Bewältigung ihrer Lage unterstreicht. Auch im weiteren Lebenskontext versucht sie, ihren bisherigen gesunden Bekanntenkreis zu erhalten. Zugleich knüpft sie neue Kontakte und Freundschaften zu erkrankten und behinderten Menschen. Gegenwärtige Lage: „Mein Leben ist knüllevoll.“ Die nach dem Einbruch der Krankheit entwickelte Orientierung besteht bis heute fort. Sie wird in einzelnen Projekten konkret ausdifferenziert und in der Lebensführung im Alltag umgesetzt, wobei die körperlichen Einschränkungen berücksichtigt werden müssen. Durch den fortschreitenden Krankheitsverlauf kann sie heute nur noch unter großen Anstrengungen wenige Schritte laufen und muss zur Fortbewegung überwiegend einen Rollstuhl benutzen. In Kürze wird sie sich deshalb ihr Wohnzimmer, das eine Stufe hat, auf eine Ebene anheben lassen, auch ein Treppenlift für den ersten Stock ihres Hauses ist in Planung. Finanziell ist sie durch ihre Rente gesichert. Zudem verfügt ihr Mann als Lehrer über ein sicheres Einkommen. Sie hat einen weiten Freundes- und Bekanntenkreis („Bekannte in Massen, in Massen“ Int 7, S. 79) und unterscheidet die Nähe der Beziehungen in Freunde, gute Bekannte, Bekannte und Kontakte. Als Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags kommt regelmäßig jemand ins Haus der putzt, darüber hinaus hilft ihr Mann im Haushalt und ihr Vater fährt sie zur Krankengymnastik. Ohne Hilfe, so sagt sie, wäre der Alltag nur zu bewältigen, wenn sie nichts anderes mehr machen würde, es wäre ihr dann nicht möglich, weitere Aktivitäten zu entfalten. Sie kann aber noch ausdauernd und konzentriert am Computer arbeiten und in vielfältiger Weise kommunizieren, was sie als glücklich und nicht selbstverständlich für das Krankheitsbild unterstreicht. Sie arbeitet sehr viel und sehr engagiert. Ihre Tätigkeit erfüllt und befriedigt sie, aber sie kostet auch viel Kraft und stellt sie teilweise auch vor unangenehme Herausforderungen. Die Arbeitsgemeinschaft, deren Erste Vorsitzende sie ist, vereint inzwischen 13 Selbsthilfegruppierungen unter einem Dach und konnte schon diverse Erfolge verzeichnen, die aus ihren Aktivitäten hervorgegangen sind, wie beispielsweise eine Behindertenbeauftragte und bauliche Veränderungen in der Stadt, durch die nun auch Rollstuhlfahrer bestimmte Strecken bewältigen können. Jelka Uhl arbeitet gerade an der Konstitution eines Behindertenbeirats, für den sie auch Vertreter verschiedener Fraktionen gewinnen will und hat, wie es generell kennzeichnend in ihrem Leben ist, viele „Visionen“ und Vorstellungen. Sie sagt heute „mein Leben ist knüllevoll“ (Int 7, S. 43) und bedauert, dass der Tag nur 24 statt 48 Stunden hat, da in ihr noch so viele Ideen sind, die sie gerne verwirklichen möchte. Nach anfänglichem Abblocken von Zukunftsvorstellungen hat Jelka Uhl Gedanken an die Zukunft im Verlauf der Erkrankung Stück für Stück wieder mehr zugelassen. Vorstellungen über ein gemeinsames Altwerden mit ihrem Mann möchte sie sich jedoch nicht machen. Im Augenblick schiebt sie die Grenze der persönlichen Zukunftsvorstellungen „mal auf 2010“ (Int 7, S. 63).
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT In der Erzählung, die als ein unmittelbares Dokument für die aktuelle Bewältigung verstanden werden kann, werden die verschiedenen Lebensphasen Kindheit, Jugend und junges Erwachsenenalter von Jelka Uhl angesprochen und anhand des institutionellen Ab-
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laufmusters Schule, Studium, erste Berufstätigkeit chronologisch erzählt. Obwohl sie sich mit ihrem vergangenen Ich identifizieren kann, erscheint ihr die Zeit vor der Erkrankung doch auch weit entfernt. Herausgehobene Ereignisse sind die Begegnung mit ihrem Mann und verschiedene gesellschaftspolitische Aktivitäten, also die thematischen Bereiche, die auch heute von zentraler Bedeutung in ihrem Leben sind. Intensiv erzählt wird Einbruch der Krankheit und die Entwicklung bis zu einer neuen Sicht auf das Leben und den damit verbundenen Umorientierungen. Nach dieser prozesshaft und dicht geschilderten Übergangsphase in der Vergangenheit steht in der weiteren Erzählung die gegenwärtige Perspektive im Vordergrund, aus der sie in verschiedenen Entwicklungs- und Auseinandersetzungsgeschichten überwiegend ihr gesellschaftspolitisches Engagement schildert und in argumentativen und evaluativen Teilen begründet. Die Erzählerin nimmt dabei auch Bezug auf private Aspekte wie die bedeutsame Beziehung zu ihrem Mann und auf ihr körperliches Befinden, den Schwerpunkt der Erzählung bildet jedoch ihre öffentliche Rolle und die damit verbundenen Aufgaben, die immer wieder im Gegensatz zu dem körperlichen Befinden stehen. Im Folgenden werden die für Jelka Uhl in der aktuellen Bewältigung im Vordergrund stehenden Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Körper, mit der Partnerschaft, mit ihrem Tätigkeitsbereich und mit der Zukunft näher ausgeführt. Verhältnis zum Körper und zu den körperlichen Veränderungen durch die Krankheit: „Meine armen Füße, ihr gehört zu mir.“ Zu ihrem Körper schildert Jelka Uhl trotz weitreichender Verluste von körperlichen Kapazitäten ein positives Verhältnis und hebt diese Selbstannahme durch einen Vergleich mit anderen Kranken hervor, von denen einige im Gegensatz zu ihr eine Spaltung zu ihrem Körper vollzogen haben, mit diesem sehr unzufrieden sind oder ihn verachten. Vor dieser Kontrastfolie reflektiert sie ihr Verhältnis zu ihrem Körper und gelangt zu einem integeren Selbstbild („Meine armen Füße, ihr gehört zu mir“ Int 7, S. 46). Die körperlichen Einschränkungen und Funktionsverluste kann sie bisher gut in ihre Identität integrieren und so die Integrität ihrer gesamten Person bewahren. Hier kommt ihre Theorie über die Bedeutung einer Ganzheit von Körper und anderen Aspekten des Selbst zum Ausdruck. Sehr spannungsreich erlebt sie jedoch ihre reduzierten körperlichen Kapazitäten im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftspolitischen Tätigkeit. Ihre mentalen Aktivitäten stehen „völlig im Gegensatz“ (Int 7, S. 37) zu dem, was körperlich umsetzbar ist. Die körperliche Bewältigung von Vorgängen wie Treppensteigen oder auch das Wahrnehmen von Terminen kostet sie „unendlich viel Kraft“ (Int 7, S. 37). Diesen Kontrast von Idee und Umsetzung empfindet sie als sehr unbefriedigend. Damit im Zusammenhang steht, dass sie sich überlastet fühlt und mehr Ruhe brauchen würde. Zugleich sagt sie aber auch von sich, sie habe in ihrem Tätigkeitsbereich alles an sich herangezogen, überall die Verantwortung übernommen und dadurch ein entsprechendes Fremdbild der permanenten Stärke unterstützt. „Die Leute, die mich von außen „kennen“ in Anführungszeichen, die assoziieren in mich immer was rein, wo wirklich wieder dieses, was ich schon von Anfang an gesagt hab, Eigenund Fremdbild überhaupt nicht zusammenpassen, die assoziieren in mich eine unendliche Kraft und Power und ich mein, nach außen wirkt es auch so, wenn ich mir das Zeug anschau, was ich gemacht hab, das ist eine Erfolgsliste, wirklich, aber was es mich an Energie kostet...“ (Int 7, S. 41)
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Nach außen sind nur die Erfolge ihrer Arbeit sichtbar, nicht aber ihre Auseinandersetzungen bis zum Erfolg und ebenfalls nicht die Kosten dieser Auseinandersetzungen. Ihre Außenwirkung und ihre Selbstwahrnehmung passen nicht zusammen, die Widerstände, die sie überwinden muss und die Anstrengung bis zum Erfolg bleiben für andere unsichtbar. Der Erfolg überstrahlt ihre persönliche Befindlichkeit, zu der eben auch Gefühle von Schwäche, Müdigkeit und Lustlosigkeit gehören. Die gesetzte Aufgabe der Krankheitsbewältigung auf einer kollektiven Ebene motiviert sie jedoch, sich über ihre persönliche Gefühlslage hinaus zu engagieren. Die handlungsschematische Auseinandersetzung mit der Erkrankung auf kollektiver Ebene, die dazugehörigen Erfolge und die Betroffenheit vieler Menschen stehen im Vordergrund ihrer Aufmerksamkeit und verweisen den persönlichen Prozess des Erleidens der fortschreitenden körperlichen Beeinträchtigung in den Hintergrund. Er wird zwar wahrgenommen und reflektiert, aber Jelka Uhl begrenzt die Zuwendung von Aufmerksamkeit auf ihn durch die Orientierung auf die vielen Aufgaben ihrer gesellschaftspolitischen Rolle. Stigmatisierung durch Krankheit: „Wenn ich rausgehe und auf dem Fahrzeug sitze, werd ich wahrgenommen, ununterbrochen.“ Im Privatleben beklagt sie den Verlust der Anonymität durch die Sichtbarkeit der Krankheit. Sobald sie aus dem Haus geht, hebt sie sich durch ihr Anderssein von den anderen Menschen permanent ab. Das erste, was man von ihr wahrnimmt, ist ihre Krankheit. „Schauen sie, es kostet mich schon Kraft, aus dem Haus raus zu gehen, gehen heißt für mich, vor die Türe, ich geh auf mein Fahrzeug, fahr mit dem Fahrzeug durch die Gegend, ja was glauben sie, wie einen die Leute anschauen, ich kann nicht mehr anonym, wenn sie aus der Haustüre rausgehen und wollen mal ein paar Schritte mal ruhig laufen, laufen sie, sie verschwinden irgendwie in der Masse, nee, ich verschwinde nicht mehr in der Masse, wenn ich rausgehe und auf dem Fahrzeug sitze, werd ich wahrgenommen, ununterbrochen.“ (Int 7, S. 30f.)
Anonymität ist im Zusammentreffen mit anderen unmöglich geworden, auch das ist ein wesentlicher Verlust durch die Erkrankung: Draußen ein paar Schritte ruhig zu laufen, einkaufen zu gehen, in der Masse zu verschwinden und ein Teil von ihr zu sein, diese Qualität ist für sie verloren. Wahrgenommen werden bedeutet auch, der Stigmatisierung und den damit verbundenen permanenten Reaktionen von anderen auf ihre Lage ausgesetzt zu sein und wiederum auf diese reagieren zu müssen. In dieser Situation ist sie mit Zuschreibungen und Emotionen konfrontiert, die nicht in erster Linie sie persönlich betreffen, sondern durch ihr Beispiel als Symbol einer massiv einschränkenden Krankheit bei anderen ausgelöst werden. Durch die Zeichen ihrer Krankheit ist sie anders und dadurch von Zugehörigkeit zu der normalen Welt in einer solchen Situation ausgeschlossen. Normalität in der Partnerschaft: „Dieses gesunde, normale Zusammenleben.“ In ihrer Partnerschaft versucht sie sich mit ihrem Mann die vorhandene Normalität im Zusammenleben zu erhalten. „Mein Mann hat zum Beispiel mit meinen ganzen Erkrankten, mit meinen ganzen Kontakten zu meinen erkrankten und behinderten Freunden relativ wenig zu tun (...) weil ich will uns wirklich dieses gesunde, normale Zusammenleben, das wir hatten oder auch noch haben, das will ich nicht dadurch irgendwie groß beeinträchtigen lassen, die Beeinträchtigungen, die dadurch allein,
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Empirische Ergebnisse dass ich nachts aufsteh meinetwegen und auf die Toilette muss, dass mein Mann den Rollstuhl transportieren muss, dass er akzeptieren muss, dass ich mir dann dies und jenes holen lassen muss, diese Einschränkungen reichen mir komplett, da brauch ich nicht noch zusätzlich ein Eindringen von der ganzen Thematik in unser privates Leben, ne, und, nee, es ist irgendwo ein bisschen schizophren das Ganze.“ (Int 7, S. 47)
Jelka Uhl unterscheidet die Welt der Normalität von einer auf Krankheit bezogenen Welt. Sie gehört zu beiden Welten und kann zumindest partiell kontrollieren, welche gerade im Vordergrund steht, beispielsweise auch dadurch, dass sie das Zusammensein mit ihrem Mann wenig mit dem Kontakt zu erkrankten Freunden verbindet, sondern die Kreise vorwiegend getrennt hält. Obwohl ihre Partnerbeziehung in alltagspraktischer Weise vielfach durch die Erkrankung beeinflusst ist, schafft sie es, das „gesunde, normale Zusammenleben“ und damit eine wichtige Ressource zu erhalten und das Eindringen der Thematik zu begrenzen. Das Bedürfnis nach und auch die Erfahrung von Normalität stehen im Widerspruch zu der allumfassenden Krankheit. Beide Seiten, die Normalität und die Andersartigkeit durch die Krankheit, erfährt und gestaltet sie in den verschiedenen Welten, die nebeneinander existieren. Von ihrem Mann fühlt sie sich vor allem dadurch in hohem Maße unterstützt, dass er sich „unwahrscheinlich normal“ (Int 7, S. 47) verhält und dadurch die Normalität unterstützt und aufrechterhält. Kampf gegen die Ungleichbehandlung: „Man erwartet im Bereich von kranken oder körperbehinderten Menschen immer noch ein bisschen mehr ein Zurücktreten.“ Im Zusammenhang mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement ist Jelka Uhl in besonderer Weise damit konfrontiert, welche Bilder von kranken und behinderten Menschen in einer Gesellschaft vorhanden sind und setzt sich mit den Verhaltenserwartungen an diese Gruppe auseinander („Man erwartet im Bereich von kranken oder körperbehinderten Menschen immer noch ein bisschen mehr ein Zurücktreten“ Int 7, S. 30). Erwartet wird eine zurückhaltende Art, beispielsweise bei der Formulierung von Interessen, und kein selbstbewusstes Auftreten. Während ein gesunder Mensch seine Interessen „knallhart“ (ebd.) vertreten darf, löst dieselbe Vorgehensweise eines Kranken Befremden aus. Selbstbewusstes oder gar aggressives Auftreten von Vertretern dieser Interessensgruppe verstößt gegen unausgesprochene Verhaltenserwartungen von anderen Interessensgruppen. Abhängig von der Zugehörigkeit zu einer Gruppe variieren Vorstellungen über normales Verhalten. Jelka Uhl bezieht sich hier auf Erfahrungen in gesellschaftspolitischen Bereichen, aber auch in privaten Zusammenhängen werden ähnliche Verhaltenserwartungen über passendes und unpassendes Verhalten thematisiert. Jelka Uhl stellt dem erwarteten Bild der ‚zurückhaltenden und dankbaren Behinderten’ als Gegenpart das Bild der ‚aufmüpfigen und fordernden Behinderten’ gegenüber. Sie macht so die Ungleichbehandlung deutlich, gegen die sie sich privat und gesellschaftspolitisch auflehnt. Leitbild und Selbstbild: „All die Kapazitäten und die Fähigkeiten, die ich habe, die will ich ausleben.“ Ihre hohe Motivation und Leistungsbereitschaft bei ihrem Engagement erklärt sie in folgender Aussage. „Ich habe so von Anfang an dann das Gefühl gehabt, also von meiner Erkrankung wie ich dann die Diagnose bekommen habe, ich habe nicht so viel Zeit vielleicht, einmal, also ich ver-
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suche die Zeit, die ich habe, richtig (pustet stark) voll zu füllen, das ist das Eine, und das andere war, dass ich der festen Überzeugung war, ich meine, ich bin kein sehr religiöser Mensch oder vielleicht auch gar keiner, von der Bibel den Spruch mit den Talenten, ja, dass man im Endeffekt seine Talente ausschöpfen muss und aus dem, was man eigentlich bekommt, was machen muss, und wenn man das nicht tut, dass das eigentlich auch ne Sünde ist, ich mein, das ist jetzt nicht so, dass ich das jetzt als Sünde empfinden würde, aber das war da so auch noch so ein Punkt für mich, dass ich gesagt habe, all die Kapazitäten und die Fähigkeiten, die ich habe, die will ich ausleben, ja.“ (Int 7, S. 35)
Seit der Diagnose empfindet sie die Zeit, die ihr zur Verfügung steht, als begrenzt und versucht daher, sie „richtig voll zu füllen“, sie optimal auszunutzen. Im Zusammenhang damit möchte sie ihre Talente einsetzen und ihre Kapazitäten und Fähigkeiten ausleben. Der Bezug auf den Bibelspruch und die Formulierung, dass man „aus dem, was man bekommt, was machen muss“ weist darauf hin, dass sie ihre Fähigkeiten als Geschenk oder als Gabe ansieht, als ein verliehenes Potenzial, das man ausschöpfen sollte. Dieses spirituelle Motto für die Lebensorientierung und Lebensführung könnte auch als Ausdruck einer protestantischen Ethik verstanden werden. Ebenso verweist die Textstelle auf die Selbstverwirklichung als postmoderne Wertorientierung. Jelka Uhl beschreibt die Arbeit für die Arbeitsgemeinschaft als sehr befriedigend, teilweise sogar als berauschend. Grund dafür ist das direkte Umsetzen ihrer Vorstellungen „Eins zu Eins“ (Int 7, S. 39), das möglich ist, da es zuvor in der A-Stadt noch keine vergleichbaren Strukturen gab und alles neu geschaffen werden konnte und musste. Sie verbindet persönliche Ziele mit Zielen, die einer Gemeinschaft dienen und kann auf diese Weise gegenseitige Unterstützungssysteme aufbauen. Einerseits identifiziert sie sich umfassend mit ihrer Krankheit, nimmt in der Öffentlichkeit teilweise auch die Rolle einer symbolischen Kranken mit ihren Handicaps ein, an der Gesunde eine Lernerfahrung im Umgang mit Kranken machen sollen. Zugleich stehen die funktionierenden Anteile im Zentrum der Aufmerksamkeit, d. h. sie präsentiert sich als in hohem Maße kompetent und durchsetzungsstark, als aktiv und als jemand, der Verantwortung übernimmt. Beide stark kontrastierenden Aspekte haben Platz in ihrer Identität, sowohl die kranken, eingeschränkten als auch die gesunden, gut funktionierenden Anteile werden als aktuell vorhandene Seiten ihrer Person präsentiert. Neben dieser relativ gut bewältigten Spannung innerhalb der aktuellen Identität ergibt sich eine weitere Spannungslinie in die Zukunft. Umgang mit Zukunft: „Also das hat seine Grenzen, das ist so ein zaghaftes Zulassen von Zukunft.“ Sowohl im privaten Leben wie auch in ihrem gesellschaftspolitischen Tätigkeitsbereich ist die Zukunft aufgrund des möglichen Krankheitsverlaufs und den damit verbundenen fortschreitenden körperlichen Einschränkungen unsicher. Jelka Uhl betont, dass sie auf mentaler Ebene noch sehr viel leisten kann, was für die Fortführung ihrer Tätigkeit eine wichtige Voraussetzung ist. Durch das „noch“ hebt sie die unsichere Zukunft in Bezug auf ihre Tätigkeit in der Arbeitsgemeinschaft hervor. Ein anderer für sie wesentlicher und langfristig sehr unsicherer Aspekt ist die Zukunft ihrer Ehe. Die Vorstellung, eine gemeinsame Zukunft im Alter mit ihrem Mann zu verbringen, ist für sie „fast nicht möglich“ (Int 7, S. 62), die kann sie „noch nicht haben“ (ebd.). Sie deutet zwar mit dem „noch“ eine Möglichkeit an, die aber nicht innerhalb ihres derzeitigen Vorstellungshorizontes liegt. Die realisti-
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sche Einschätzung ihres Krankheitsverlaufs, die sie aus der Erfahrung der bisherigen Entwicklung ableitet, führt dazu, dass sie sich ihre Situation in 15 Jahren nicht bewusst vorstellen möchte und die Zukunftsvorstellungen, die eher bedrohlich zu werden scheinen, begrenzt. An dieser Stelle werden die Grenzen ihrer grundsätzlich bevorzugten Orientierung auf Vorstellungen und Pläne deutlich. Diese ist nur in Bezug auf wünschenswerte Vorstellungen hilfreich für die Bewältigung. An dem Punkt, an dem negative Vorstellungen und Befürchtungen überhand nehmen, die zu schmerzhaften Empfindungen führen könnten, wird die Vorstellung begrenzt. Das zeigt auch folgende Passage, in der sie die Grenzen ihrer bisherigen Bewältigungsstrategien thematisiert: „In meinem Netz, in dem ich mich absolut wohl fühle, gibt es halt doch einige Stränge, die etwas stärker sind und wenn die reißen, dann wackelts doch ganz gewaltig, das heißt also, meine Eltern oder mein Mann ganz konkret gesprochen + also wie ich dann mit so was zurande käme, ich weiß es nicht und ich versuch mir auch dann da nicht einmal, ich versuch, ich machs nicht, mir keine großen Bewältigungsstrategien zuzulegen, weil das pack ich einfach nicht und das muss dann die Situation irgendwie erweisen, inwieweit die Konzepte und Strategien, die mich bisher eigentlich ganz gut begleitet haben, vielleicht dann auch da ermöglichen, damit zurande zu kommen und wenn nicht, na ja, dann eben nicht, ne, also das ist was, was ich genauso offen halt, dass ich mir sag, ja, vielleicht ist es dann wirklich irgendwann soweit, dass ich mir sag, nö, dann mag ich einfach nimmer, ne.“ (Int 7, S. 56)
Im Vordergrund ihrer aktiven Bewältigungsform stehen neben Aktivität und der Konzentration auf Zielvorstellungen die Planung und Absicherung von Unwägbarkeiten. Jedoch zieht Jelka Uhl auch mögliche Entwicklungen in Betracht, die nicht mehr planbar und kontrollierbar sind. Hier lässt Jelka Uhl die Zukunft bewusst offen. Es gelten dann möglicherweise Bedingungen, die eine neue Bewertung der Situation verlangen. Dieses bewusste Loslassen und Einräumen von aktuell nicht denkbaren Alternativen wie beispielsweise „nicht mehr zu wollen“ und aufzugeben, ist zugleich auch wieder interpretierbar als eine aktive Herangehensweise an eine solche Situation. Jelka Uhl entscheidet darüber, ob sie noch weiter „mag“ oder nicht mehr. Die unkalkulierbare Zukunft wird in der aktuellen Gegenwart handlungsschematisch bearbeitet und so in ihrer Wirkung auf die Gegenwart kontrolliert. In dieser Passage zeigt sich darüber hinaus, wie bedeutsam die Beziehung zu ihrem Mann und zu ihren Eltern für ihre Stabilität und für die Bewältigung der Krankheit ist. Obwohl sie im Interview überwiegend von ihren Aktivitäten in dem neuen Tätigkeitsbereich spricht und gesellschaftspolitische Bezüge thematisiert, macht sie hier und auch an einigen anderen Stellen deutlich, dass der private Lebensbereich mit den für sie bedeutsamen Beziehungen eine wesentliche Sinnwelt für sie darstellt, deren Verlust ihre weitere Orientierung im Leben umfassend in Frage stellen könnte. In der aktuellen Situation steht jedoch die Erfolgsgeschichte der bisherigen Bewältigung im Vordergrund, die sie mit Stolz präsentiert und in folgender Globalevaluation am Ende des Interviews zum Ausdruck bringt. „Ich hab soviel Zeug schon gemacht, irgendwie stark, ich find das klasse.“ (Int 7, S. 77)
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LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF In der lebensgeschlichtlichen Erzählung von Jelka Uhl zeichnet sich eine Form ab, in der die Biographie in zwei Abschnitte mit einer dazwischen liegenden Phase des Umbruchs gegliedert ist. Es gibt einen Lebensverlauf vor der Erkrankung von der Geburt bis in die junge Erwachsenenphase, der dem Orientierungsmuster eines Normallebenslaufs mit akademischer Ausprägung folgt und durch die Vorbereitung auf eine mögliche Mutterschaft auch das weibliche Muster antizipiert. Die Ausbildungsphase ist abgeschlossen und der Berufseinstieg erfolgreich bewältigt. Auch in der privaten Lebenslinie ist mit der Heirat eine langjährige Freundschaft institutionalisiert. Die Biographieträgerin verfügt über gute soziale Kontakte zur eigenen Familie und zu Bekannten. Darüber hinaus engagiert sie sich gesellschaftspolitisch. Die weitere berufliche Entwicklung und die Gründung einer Familie sind zu diesem Zeitpunkt noch offen. In diese Situation tritt die Krankheit mit zunächst noch wenig den Alltag beeinträchtigenden körperlichen Symptomen in das Leben ein. Die Erzählerin konfrontiert sich intensiv mit der Krankheit und setzt sich mit den zu erwartenden Folgen auseinander. In diesem Prozess verändert sich ihr Bezugsrahmen, an dem sie ihre Vorstellungen und Aktivitäten orientiert, umfassend. Im Mittelpunkt stehen nun die Bedingungen und Folgen eines Lebens mit einer Krankheit, wobei sie über das persönliche Befinden hinaus kranke und behinderte Menschen als marginalisierte Gruppe wahrnimmt und sich für deren Belange gesellschaftspolitisch einsetzt. Sie verwirft zuvor bestehende Zukunftspläne von biographischer Relevanz und baut stattdessen den Bereich des gesellschaftspolitischen Engagements mit großer Tatkraft aus. Dabei setzt sie ihre vielfältigen Potenziale umfassend ein. In ihrem aktiven Bewältigungskonzept knüpft sie nicht nur soziale Netze in ihrer nahen Umwelt, die sie bei ihrer persönlichen Krankheitsbewältigung unterstützen, sondern auch weiter reichende Netze als Strukturen von Interessensvertretungen, die gesellschaftspolitisch wirken. Die Krankheitsbewältigung auf persönlicher und kollektiver Ebene wird als neuer Arbeitsbereich verstanden und findet sowohl in eng vernetzter Gemeinschaft als auch in der Konfrontation mit anderen statt. Der Übergang in die Berufsunfähigkeit und den Rentenstatus im jungen Erwachsenenalter ist daher nicht als sozialer Abstiegsprozess oder als Rückzug in den Privatbereich, sondern eher als Wechsel des Tätigkeitsbereiches und als Beginn einer Parallelkarriere zu sehen. Neben der Abwärtskurve des körperlichen Krankheitsverlaufs schildert die Erzählerin zugleich eine Erfolgsgeschichte in ihrem neuen Tätigkeitsbereich, die zwar mit Anstrengung und Auseinandersetzung, aber auch mit dem Gefühl der Erfüllung verbunden ist. Die guten privaten Beziehungen im nahen und weiteren Lebenskontext bleiben über den Wechsel der Lebensorientierung und der Lebensführung hinweg erhalten und werden darüber hinaus ausgebaut. Trotz vieler Pläne und einer generellen Ausrichtung auf zukünftige Möglichkeiten werden diese jedoch zeitlich begrenzt, darüber hinaus ist die Zukunft und damit ihre weitere Lebensorientierung und Lebensführung in allen Lebensbereichen durch den sich permanent verschlechternden Krankheitsverlauf unsicher und bedrohlich. Die aktuelle Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters, in der es in der Regel um Ausbau und Weiterführung bisheriger Lebensorientierungen geht, ist bei ihr verbunden mit besonderem Arbeitseinsatz und Leistungsmotivation zur Verwirklichung ihrer Vorstellungen, da sie die ihr verbleibende Lebenszeit, in der sie handlungsfähig ist, als beschränkt erlebt.
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Empirische Ergebnisse
In einer aktiven Auseinandersetzung integriert Jelka Uhl die Erkrankung umfassend in ihre Biographie. Ihre Sicht auf die Welt ist nach dem Bruch an einer auf Krankheit bezogenen Welt ausgerichtet. Als offizielle Interessensvertretung von erkrankten Menschen erobert sie einen Platz in der vormals für sie normalen, auf Gesundheit bezogenen Welt neu. Der Fall von Jelka Uhl zeigt beispielhaft den Bruch und die Neuorientierung von Lebensorientierungen sowie eine vorausschauende Einstellung der Lebensführung durch die Betroffenheit von einer chronischen Erkrankung und einer aktiv-konfrontativen Auseinandersetzung mit ihr.
3.2.2.2 Biographisches Porträt 5: HERBERT STEFFEN Herbert Steffen ist zum Interviewzeitpunkt 58 Jahre alt. Vor zehn Jahren bekam er im Alter von 48 Jahren einen Schlaganfall. Er ist Studienrat für Mathematik und Physik, erhält heute eine Erwerbsunfähigkeitsrente und ist geringfügig als Nachhilfelehrer tätig. Von seiner Ehefrau, mit der er vier Kinder hat, lebt er getrennt und hat eine neue Lebenspartnerin. Im ersten Moment des Kontaktes mit Herbert Steffen offenbart seine von Sprach- und Grammatikproblemen gekennzeichnete Ausdrucksweise die Folgen seiner Erkrankung. Er erzählt mit großer emotionaler Variation, sucht immer wieder nach Worten und untermalt seine Erzählung mit ausgeprägter Gestik und Mimik.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Herbert Steffen wird im Frühjahr 1945 im Sudetenland geboren. Drei Monate später fliehen seine Eltern mit ihm nach Franken. Wie viele andere Babys ist er durch die schlechte Ernährungslage vom Tode bedroht, überlebt aber die schwere Zeit. Sein Vater und seine Mutter, beide Lehrer, arbeiten auch in der neuen Heimat wieder im Lehrerberuf. Sie haben nur dieses eine Kind. Mit 11 Jahren kommt Herbert Steffen aufs Gymnasium, das er erfolgreich absolviert. Nach dem Abitur 1966 geht er zur Bundeswehr. Er steigt dort bis zum Offizier auf und sollte nach Sicht eines Vorgesetzten dort die „obere Linie“ (Int 2, S. 5) einschlagen, entscheidet sich aber gegen die militärische Laufbahn und für ein Lehramtstudium. Er begründet dies damit, das er kein „Uniformistenmensch“ (ebd.) sei, betont aber, er sei in seiner Gruppe bei der Bundeswehr der Beste gewesen. Er beginnt ein Mathematik- und Physikstudium in Erlangen, schließt es im Vergleich zum Durchschnitt früh ab, wie er unterstreicht, und absolviert anschließend seine Referendariatszeit. Herbert Steffen heiratet bereits im dritten Semester und bekommt seinen ersten Sohn. Die Familie hat wenig Geld und Herbert Steffen beschreibt die Studienzeit als schwere Zeit. Nach dem Referendariat beginnt er, als Studienrat zur Anstellung am Gymnasium zu arbeiten. Er berichtet, dass es normalerweise bis zum Titel „Studienrat“ drei Jahre dauert, er jedoch nach eineinhalb Jahren bereits Studienrat ist. Schnell hat er „schon die nächste Hürde übersprungen“ (Int 2, S. 6) und ist mit 40 Jahren Studiendirektor. Höher geht es nun nicht mehr, es sei denn, er wird selber „Chef“ (ebd.). Herbert Steffen übernimmt in der Schule zusätzliche Aufgaben wie beispielsweise die Organisation eines Festes zum 400jährigen Bestehen seines Gymnasiums und baut noch nebenbei ein Reisebüro auf, das Busreisen nach Griechenland oder zum Skifahren organisiert. Mit seiner Frau hat er inzwischen vier Kinder.
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Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung In dieser aktiven, karriereorientierten Phase erleidet er einen schweren Schlaganfall und findet sich im Krankenhaus wieder. Die Erkrankung bricht plötzlich und unerwartet in sein Leben ein und unterbricht abrupt seinen bisherigen Lebensverlauf. „Ich hab halt alles gemacht, alles, ne, und dann hat halt für mich Schlaganfall bekommen und das war für mich schon, voll fitt und ich kann also alles was da, hab halt alles gemacht, ne, und jetzt von jetzt auf jetzt gar nichts mehr.“ (Int 2, S. 7)
Herbert Steffen sagt von sich, er hat „halt alles gemacht, ne, alles“, beschreibt sich als „voll fitt“ und an diesem Punkt trifft ihn plötzlich mit 48 Jahren ein Schlaganfall und er kann „von jetzt auf jetzt gar nichts mehr“. In extremer Weise – in die Begriffe „alles“ und „nichts“ gefasst – kontrastiert er sein Selbsterleben in der Zeit vor und nach der Erkrankung und bringt so seine umfassende Brucherfahrung durch die Symptomatik der Krankheit zum Ausdruck. Sein Sprachvermögen und die Fähigkeit, Sprache zu verstehen sind ausgefallen, sein Wissen um Mathematik, Physik, Fremdsprachen, seine Erinnerung an andere Menschen ebenfalls. Auch körperlich hat er anfangs leichte Lähmungserscheinungen, die aber relativ bald wieder zurückgehen. Im Krankenhaus erleidet er einen zweiten Schlaganfall, den sein Sohn bemerkt, den jedoch der Arzt zuerst nicht für möglich hält, später aber bestätigen muss. Anfangs erkennt er Bekannte nicht mehr, die ihn im Krankenhaus begrüßen. Seine Ehefrau ist diejenige, an die nun alle Korrespondenz geht, denn er kann nicht mehr kommunizieren. „Also die Ex-Frau, ist die einzige Person, der sie anschreiben von jemandem, net mehr mich, weil ich, ich kann gar nix mehr antworten, gar nix mehr und das vorher kann ich alles und jetzt überhaupt nicht mehr und das ist schon + , wo ich sag, ich muss wieder, muss wieder wenigstens zum Gymnasium, Reisebüro es geht nicht mehr, da muss ich soviel reden, es geht nicht mehr.“ (Int 2, S. 7)
In dieser Passage bringt Herbert Steffen auf der einen Seite seine Betroffenheit über seine Verluste zum Ausdruck, für die er kein passendes Wort findet, sondern den Satz suchend abbricht und mit einer Pause dieses nicht zu formulierende Empfinden unterstreicht. Auf der anderen Seite wird hier sein aktiver und zielorientierter Bewältigungsstil deutlich. Nach der Realisierung der Verluste folgt ein aktiver Impuls zur Bewältigung der neuen Situation, der sich in einem intrinsisch motivieren „muss“ ausdrückt („ich muss wieder“ und „muss wieder wenigstens“). Er erkennt den Rahmen seiner nun begrenzten Möglichkeiten, indem er sich von dem Reisebüro-Projekt verabschiedet, behält aber zunächst das Ziel, die Tätigkeit als Studienrat wieder aufzunehmen, um „wenigstens“ einen Teil seines bisherigen Wirkungsbereichs wieder zu erreichen. Neben den hinzunehmenden Verlusten hofft er anfangs, bedeutende Aspekte seiner Lebensorientierung langfristig erhalten zu können, die aktuell, ebenso wie seine gewohnte Lebensführung, zusammengebrochen sind. Nach sechs Wochen Aufenthalt in der Klinik wechseln sich über einen Zeitraum von rund eineinhalb Jahren ambulante Betreuung und stationäre Heilmaßnahmen ab. Bei seinen ersten Versuchen mit einer Logopädin macht er die Erfahrung, dass er nur ein krächzendes Geräusch hervorbringt, wenn er den Vokal „a“ aussprechen möchte. Er muss also ganz von vorn beginnen, sprechen zu lernen. Einerseits geht es darum, die Tragweite der Verluste festzu-
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stellen und andererseits zu versuchen, sie soweit wie möglich wieder rückgängig zu machen. Dabei unterstützen seine Leistungsfähigkeit und seine Leistungsbezogenheit diesen Prozess in hohem Maße. „Aber ich hab gesagt, mit 48 Jahren auf einmal es geht nicht mehr, also das möchte ich nicht so weiterleben, ne, und hab immer, immer gearbeitet, ich hab also mit diesen Büchern auch, wo hab ich denn das da (sucht etwas im Regal), das da zum Beispiel (zeigt eine deutsche Grammatik), wie sag ich es auf deutsch, ne, ne, das ist so schwer, die deutsche Sprache ist so schwer.“ (Int 2, S. 17)
Herbert Steffen gibt sich nicht damit zufrieden, im Alter von 48 Jahren wesentliche Fähigkeiten für immer verloren zu haben. Ein Leben mit dieser Begrenzung seines Handlungsrahmens ist für ihn nicht lebenswert. Auf diese Bewertung seiner Lage reagiert er mit Aktivität. Die oben bereits beschriebene Zielorientiertheit setzt er jetzt in konkrete Arbeitsschritte um. Er lernt beispielsweise die deutsche Grammatik, die er nach dem Schlaganfall nicht mehr beherrscht, neu aus Lehrbüchern. Dabei kommt ihm vermutlich der Hintergrund seiner Tätigkeit als Lehrer entgegen, die die Erfahrung beinhaltet, wie man mit Erfolg lernt und dass es möglich ist, sich mit intensiver Arbeit deutlich zu verbessern. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Etwa zwei Jahre nach dem Schlaganfall, verschiedenen Aufenthalten in Krankenhäusern und Reha-Kliniken, geht er für eine begrenzte Zeit in eine Lehrerfortbildungsstätte in die Stadt W., denn als Lehrer kann er noch nicht arbeiten. Er übernimmt dort leichte Bürotätigkeiten, die ihn aber nicht auslasten. Er hat ein eigenes Zimmer dort und nutzt die verbleibende Zeit, um den Stoff des Mathematikunterrichts der ersten Klasse wieder neu zu lernen. Er findet den Lernstoff schwer und braucht ein halbes Jahr, bis er ihn annähernd beherrscht, dann lernt er die Inhalte der zweiten Klasse. Nach einem Jahr wird deutlich, dass er vor allem wegen der Sprachprobleme und der Schwierigkeit, in einer Schulklasse mit einer Gruppe arbeiten zu müssen, nicht mehr als Lehrer tätig sein kann und so entscheidet er sich für einen Wechsel in den Ruhestand. Herbert Steffen lernt jedoch den Mathematikstoff weiter bis zur 13. Klasse, um zumindest Nachhilfe in Mathematik geben zu können. Parallel zu diesen Entwicklungen treten durch die Erkrankung die schon zuvor bestehenden Schwierigkeiten in der ehelichen Beziehung stärker hervor. Herbert Steffen macht die nähere Bekanntschaft einer Frau während einer stationären Heilmaßnahme, die seinen Bedürfnissen nach Nähe und Austausch sowohl auf körperlicher als auch auf sprachlicher Ebene entgegenkommt. Rückblickend erklärt er dazu, dass er seine Wünsche und persönlichen Bedürfnisse in der Ehe zurückgestellt hat, um für die Kinder gute Bedingungen zu schaffen, denn als Lehrer hat er oft gesehen, dass Kinder in der Schule Schwierigkeiten bekamen, wenn die Eltern sich getrennt hatten. Er schildert, dass er mit seiner Frau nicht reden kann und sie ihn auch nie in W–Stadt besucht, er aber Gespräche dringend braucht, um die Sprache wieder zu lernen. Auch in W-Stadt hält er den Kontakt zu der Bekannten aus der Klinik aufrecht. Es gibt deshalb Auseinandersetzungen mit seiner Frau, in deren Verlauf er sich von ihr trennt und zu seiner Bekannten zieht, die in S-Stadt wohnt. Nach einem halben Jahr kehrt er wegen der Kinder wieder zu seiner Ehefrau zurück, trennt sich dann aber nach einem heftigen Konflikt endgültig von ihr. Vor eineinhalb Jahren lernt er seine derzeitige Lebensgefährtin Hanna kennen, mit der er heute in getrennten Wohnungen,
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aber gemeinsam in einem Haus wohnt. Mit diesem Arrangement ist er sehr zufrieden. Zu seinen Kindern hat er, zum Teil durch das Erteilen von Nachhilfe, regelmäßigen Kontakt. Neben dem Erlernen des Mathematikstoffs hat er ebenfalls ein intensives Sprachtraining betrieben. Sein Ziel, 70% seiner Sprachfähigkeit wieder zu erlangen, hat er nach seiner Einschätzung heute erreicht. Vor drei Monaten hatte er einen epileptischen Anfall, durch den sich seine Fähigkeit zu sprechen wieder verschlechtert hat. Daher wird er im Sommer zu einer weiteren stationären Heilmaßnahme gehen, hat dort jedoch nicht das Ziel, mehr Neues dazu zu lernen, sondern hofft, das Gelernte tiefer zu verankern.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Herbert Steffen erzählt chronologisch seinen Lebensverlauf entlang seiner Ausbildungsund Berufkarriere als eine Aneinanderreihung von Erfolgen und Beleg seiner hohen Leistungsfähigkeit, die abrupt von dem Schlaganfall unterbrochen wurde. Die Erzählungen über seine Leistungsfähigkeit sind sehr lebendig und detailliert, häufig mit szenischen Passagen. Sie werden wiederholt kontrastiert mit seinem nach dem Schlaganfall bestehenden Unvermögen. Auf diese Weise kommen der plötzliche Bruch, die Unfassbarkeit der neuen Situation und seine Betroffenheit darüber deutlich zum Ausdruck. Auch über die Konflikte mit seiner Ehefrau berichtet er mit hoher Emotionalität. Nach der Zeit des Umbruchs mit vielen Konflikten und Problemen, Neuorientierungen und Anpassungen kehrt wieder Ruhe und relative Stabilität in sein Leben ein, die es nun zu erhalten gilt. Über diese Themen berichtet er weniger detailliert und mit einem eher ruhigen und gelassenen Gefühlsausdruck. Während des gesamten Interviews untermalt er seinen verbalen Ausdruck mit einem starken gestischen Körperausdruck. Diese parasprachliche Ebene unterstützt und verdeutlicht vielfach seine verbale Sprache, die manchmal wegen fehlender Zeitformen, z. B. der Vergangenheit, Vokabeln oder Grammatikproblemen, nicht ganz eindeutig erscheint. Inwieweit diese herausgehobene Körpersprache schon immer Teil seines Ausdrucksverhaltens war oder sich erst durch die verbalen Einschränkungen nach dem Schlaganfall herausgebildet hat, darüber kann hier nur spekuliert werden. Als Themen seiner aktuellen Auseinandersetzung treten die Akzeptanz seines Lebensverlaufs, die problematischen Folgen des Zerbrechens des Familienlebens, sein Stolz auf frühere Leistungen, die Verluste, aber auch Stolz auf seine Leistungen nach dem Schlaganfall sowie die Zufriedenheit mit seiner jetzigen Situation durch die Änderung seines Vergleichsmaßstabes und seine Neuorientierung unter anderen Vorzeichen hervor. Im Folgenden werden die genannten Themen genauer ausgeführt. Am Beginn seiner Lebenserzählung schildert er die problematischen Bedingungen durch die Flucht am Anfang seines Lebens. „Milch bräuchte ich und ich hab nix gehabt, ne, und da ist dann viele Babys schon tot gewesen und ich bin auch schon nah dran, ne, bin aber gesagt, nein, der Herrgott hat gesagt, du musst weiter, ne, na bin dann weiter.“ (Int 2, S. 2)
Geboren am Ende des Zweiten Weltkrieges ist das Leben von Herbert Steffen gleich am Anfang existenziell bedroht. Dabei könnte durch die erste Formulierung „bin dann gesagt“ der Eindruck entstehen, es liege in seiner Entscheidung, ob das Leben weitergeht, aber gerade durch die Verbesserung „nein, der Herrgott hat gesagt, du musst weiter“, wird be-
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tont, dass die Entscheidung zu leben über seine Entscheidungsmacht hinausgeht. Leben ist in einem größeren, über ihn hinausgehenden, Zusammenhang und als Herausforderung zu sehen, die er annimmt, eine Aufgabe, die er übernimmt. Die Schilderung dieser Episode steht am Beginn seiner Lebenserzählung. Durch die Platzierung an dieser zentralen Stelle kann sie als eine Art Lebensmetapher interpretiert werden, mit der er zum Ausdruck bringt, dass es sehr schwierige Umstände gibt, er aber fähig ist, diese zu meistern. Das Bild von einem „Herrgott“, der die Richtung des Lebenswegs lenkt, und dessen Entscheidung über seinen Lebensweg er als Herausforderung begreift und annimmt, wiederholt sich an zwei anderen Stellen. „Ich war wirklich super, ja, das war wirklich super, aber der Herrgott in Anführungszeichen hat halt irgendwas anderes gemacht, ich bin diese Richtung aber mehr andere Linie, bissele Nachhilfe.“ (Int 2, S. 45)
Nachdem er über weite Teile seiner Biographie, bezogen auf seine Leistung, „wirklich super“ war, hat der „Herrgott“ den Verlauf geändert, sodass er heute nur noch ein „bissele Nachhilfe“ gibt. Das Bild des Herrgottes steht auf der einen Seite für einen größeren Zusammenhang, der über seine persönliche Macht hinausreicht und von ihm akzeptiert wird. Auf der anderen Seite glaubt er aber nicht im Sinne einer bestimmten Religion an einen Gott, sondern sieht es als seine Aufgabe an, die Herausforderungen des Lebens anzunehmen und zu meistern. Dies verdeutlicht er hier durch den „Herrgott in Anführungszeichen“, äußert das aber auch an anderen Punkten der Erzählung explizit. In einer weiteren Passage taucht das Bild des Herrgottes auf, an der er deutlich macht, wie er mit seinem Schicksal umgeht. „Könnte ich auch schimpfen gegen den Herrgott, mich fallen lassen so tief +, aber ich net, na +, also ich net, das ist halt so +, aber + + schimpfen, warum schimpfen, warum, nee, ich net (...) Mut immer, Mut immer bei mir, ja (...) ich hab nie gesagt, das geht nicht mehr, immer, das muss weiter und das geht weiter, nie so das geht nicht mehr, nein.“ (Int 2, S. 49)
Herbert Steffen bringt zum Ausdruck, dass er sich nicht damit aufhält, mit seinem Schicksal zu hadern, sondern ihm auf der einen Seite kämpferisch und auf der anderen Seite akzeptierend begegnet. „Schimpfen“ gegen das Schicksal erscheint ihm sinnlos und er bezieht eine identitätsrelevante Gegenposition dazu („schimpfen, warum, nee, ich net“). Mit dieser Art des Umgangs kann er sich nicht identifizieren, sondern grenzt sich dagegen ab, ist anders. Ob das „Schimpfen“, auf das er sich hier als eine mögliche Haltung zur Bewältigung eines Schicksalsschlages bezieht, früher möglicherweise zu seinem eigenen Verhaltensrepertoire gehörte, ob er es in einem anderen Zusammenhang erlebt hat oder es eine allgemeine Kontrastfolie darstellt, wird hier nicht deutlich. „Schimpfen“ kann mit dem Stereotyp des ohnmächtigen Opfers in Verbindung gebracht werden, von dem er sich distanziert und eine betont kämpferische Rolle einnimmt. Dies unterstreicht er noch dadurch, dass er sich als mutig und optimistisch charakterisiert. Auch in dieser Passage werden sein aktiver Bewältigungsstil und seine Strategie, Probleme als Herausforderungen zu sehen, deutlich. Zugleich weist das von ihm verwendete Bild des tiefen Falls darauf hin, dass er die Erkrankung als einen massiven Sturz aus der bisher normalen Welt erlebt. Teilweise problematisch ist für Herbert Steffen das Verhältnis zu seinen Kindern, das unter der Krankheit und den Konflikten der Eltern gelitten hat. Während der älteste Sohn
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bei seinem Schlaganfall bereits 24 Jahre alt war, war die jüngste Tochter zu dem Zeitpunkt erst fünf Jahre und ungefähr sieben oder acht Jahre alt, als er sich von seiner Frau endgültig getrennt und die Familie verlassen hat. Das unterschiedliche Alter der Kinder bei seinem Schlaganfall und die Beziehung, die sie zu ihrem Vater in der davor liegenden, noch von Gesundheit geprägten Zeit aufbauen konnten, übt auch heute einen Einfluss auf die VaterKind-Beziehung aus und wird unter anderem deutlich in der unterschiedlichen Akzeptanz der neuen Lebensgefährtin des Vaters. „Ist schon hart auch, weiß ich jetzt auch, ne, aber damals hab ich gesagt, das muss schaffen, es geht halt nicht mehr, das ist schon viel verdorben, weiß ich (...) die älteren Kindern sagen auch zu Hanna du und gut und so, aber die jüngeren Kinder, die gehen zu mir rüber und wenn die Hanna draußen ist und so weiter, die sagen nicht einmal Grüß Gott +, ne, Nachhilfe zu mir und, wie geht’s denn oder soll ich was machen und so, sagen sie nicht, aber Nachhilfe und also jede Woche kommt einmal rüber, manchmal auch zwei mal, ne, und dann fertig, also kann ich, gleich wieder weg +, ja, das fehlt mir auch, ne, aber + das ist es halt jetzt so.“ (Int 2, S. 19)
Aus heutiger Perspektive bezeichnet er die Entwicklungen damals und die Umstände für die Kinder als „hart“ und sieht, dass „schon viel verdorben“ ist in der Beziehung zu ihnen und auch in der Entwicklung der Kinder, wie er an anderer Stelle ausführt. Aus seiner damaligen Sicht war die Situation jedoch für ihn nicht mehr haltbar und nur auf diese Weise zu „schaffen“, zu bewältigen. Er hadert nicht mit seinem Ich in der Vergangenheit, sondern sieht die jeweiligen Probleme und ihre Folgen in den verschiedenen Zeiten und akzeptiert sie. Dabei bringt er sein Bedauern über die heutige schwierige Beziehung zu den jüngeren Kindern zum Ausdruck, die er beispielhaft mit dem ablehnenden Verhalten dieser Kinder gegenüber seiner aktuellen Lebensgefährtin belegt. Eine bestimmte Nähe, das Interesse füreinander und die Kommunikation in der Beziehung zu den Kindern fehlen ihm. Die Kinder fragen nicht danach, wie es ihm geht und gehen nach der Nachhilfe „gleich wieder weg“. Zugleich akzeptiert er aber diese Situation als heutigen Status Quo. Diese Passage verweist auf die Folgekosten einer schweren Erkrankung in der nahen sozialen Umwelt. Das vor der Erkrankung vorhandene Gleichgewicht der verschiedenen Lebensbereiche, das trotz der bereits bestehenden Problematik in der Paarbeziehung durch die erfolgreiche Kompensation von Bedürfnissen insgesamt zufrieden stellend war, gerät aus der Balance und zerbricht. Die Beziehungen zwischen Familienangehörigen entwickeln sich durch die veränderten Umstände völlig anders als vor der Erkrankung erwartet. Auch in diesem Bereich müssen Verluste verkraftet und neue Vorstellungen von allen Beteiligten entwickelt werden. Herbert Steffen musste bestimmte Vorstellungen über Familie und die Entwicklung der Kinder verwerfen, die für ihn zuvor in bedeutsamer Weise orientierend für seine Lebensgestaltung waren, in der er sich mit seinen nicht befriedigten persönlichen Bedürfnissen in der Paarbeziehung zum Wohle der Kinder arrangiert hatte. Aktuell setzt er sich mit den problematischen Bedingungen heute auseinander und hält die Beziehung über regelmäßige Nachhilfe aufrecht. Mit seiner aktuellen Situation ist er zufrieden, er möchte sein wieder neu erlerntes Sprachvermögen zwar erhalten und vertiefen, aber nicht noch mehr erreichen, um seine Gesundheit weiterhin zu erhalten. Er sagt von sich, er hat 70 % der Sprache wieder erreicht und damit einen Wert, der deutlich höher über dem Wert anderer, in ähnlicher Weise betroffener Menschen liegt. Noch mehr anzustreben birgt für Herbert Steffen die Gefahr des
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„Überstudierens“, was möglicherweise mit für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt verantwortlich sein kann. „Jetzt kann ich unten anrufen und, ja, jetzt schon, damals anrufen, weiß ich nicht, ich möchte, aber es geht net, jetzt kann ich anrufen auch in Allensbach, Appartement oder Ferienwohnung und, ist ja alles weg, alles weg + (lacht), Wahnsinn, jetzt na ja, kein Problem, deshalb also 70 % kann ich wieder, weiß ich auch, aber mehr net, ich möchte net noch mehr da, ist wieder überstudiert, ne.“ [I: „Hmm, also für dich passt das dann auch so, bist auch zufrieden“] „Ja, ja, weil ich weiß, wo ich war, ne, und ich möchte net wieder, mit meinem Anfall, epileptischen Anfall möchte ich also net wieder da +, möchte auch lustig sein und + Ski fahren und Fahrrad fahren, 90 km kein Problem, ne, und auch arbeiten, Nachhilfe zum Beispiel +, ja dann + auch schön Sonne liegen, auch so, ist auch schön, genießen, genießen und für mich ist genießen ist so wichtig.“ [I: „Wichtiger als früher?“] „Na früher hab ich ja nur gearbeitet.“ (Int 2, S. 33)
Vor der Kontrastfolie seines Unvermögens kurz nach dem Schlaganfall bewertet er seine heutigen Fertigkeiten als hoch und ist zufrieden mit seiner Leistung. Obwohl er im Verlauf des Interviews immer wieder den massiven und kaum fassbaren („Wahnsinn“) Bruch zwischen seiner Leistungsfähigkeit vor und nach der Erkrankung und seine starke Betroffenheit über diesen Verlust zum Ausdruck bringt, ist jedoch der Vergleich mit seiner Situation kurz nach dem Schlaganfall der Maßstab für seine heutige Zufriedenheit. Gemessen an dieser Folie gewinnen neue Aspekte im Leben an Bedeutung, die auch seine Vorstellungen über die Zukunft betreffen. In diesen Vorstellungen spielt das früher so bedeutsame Arbeiten eine Rolle, daneben sind aber auch verschiedene Aspekte der Freizeitgestaltung, wie beispielsweise sportliche Aktivitäten und das Genießen der Natur, wichtig. Auf die Frage nach dem Vergleich der Bedeutung dieser Bereiche mit der Vergangenheit hebt er die umfassende Rolle hervor, die der Arbeitsbereich früher innehatte. Dazu erzählt er sogleich eine Situation, in der er eine Matheschulaufgabe innerhalb von eineinhalb Stunden korrigiert und zurückgegeben hatte und in der Lebendigkeit dieser Erzählung drückt sich die Bedeutung dieses Bereiches und sein Stolz über seine frühere Leistungsfähigkeit aus. Diesen Stolz kann er in dieser und ähnlichen Erzählungen immer wieder aktualisieren und neu empfinden, obwohl er diese Fähigkeiten heute verloren hat. Die Leistungsfähigkeit früher, aber auch diejenige nach seinem Schlaganfall, bilden einen bedeutsamen Aspekt seiner Identität. Neben seiner starken Leistungsmotivation, die es ihm auch möglich gemacht hat, wieder so viel neu zu lernen, betont er, dass das Genießen, die Sonne, das Fahrrad fahren und Skifahren jetzt für ihn wichtig sind, während er früher nur gearbeitet hat. Wichtig ist ihm für die Zukunft, sich das, was er sich jetzt wieder erarbeitet hat, zu erhalten, die Nachhilfe, aber nicht nur die Arbeit, sondern auch das Genießen, die Paarbeziehung, gemeinsame Reisen, Fahrradtouren und Malen.
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LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Bis zur Erkrankung im mittleren Erwachsenenalter erzählt Herbert Steffen von einem Leben, das von einer erfolgreichen Ausbildungs- und Berufslaufbahn gekennzeichnet ist und sich an einem Normallebenslauf männlicher Ausprägung orientiert, der sich allerdings durch Schnelligkeit und besondere Leistung von anderen abhebt. Fast auf dem Höhepunkt seiner Karriere tritt die Krankheit plötzlich und unvermittelt in sein Leben. Herbert Steffen erfährt einen massiven Bruch seiner Lebensführung durch umfassende körperliche Einschränkungen, die mit dem Schlaganfall verbunden sind. Er schildert das Erleiden eines heftigen Einbruchs der Krankheit mit einer schweren Symptomatik, die anfangs zu totaler körperlicher Hilflosigkeit führt. Er verliert das gesamte Handwerkszeug seines Berufes, die Sprache und das Fachwissen und damit die Fähigkeit zur Kommunikation und Wissensvermittlung. Sobald er nach der ersten Behandlungszeit im Krankenhaus wieder begrenzt handlungsfähig ist, nimmt er die Bewältigung seiner Situation aktiv in die Hand. Anfangs hofft er, zumindest teilweise seine früheren beruflichen Aktivitäten fortsetzen zu können. Als das nicht gelingt, wechselt er in den Ruhestand. Er muss also seine Lebensorientierung im beruflichen Bereich sowohl im Bezug auf seine bestehende Position und damit verbundene Nebentätigkeiten als auch in Bezug auf weitere Karriereoptionen aufgeben. Lediglich durch das Erteilen von Nachhilfe bewahrt er sich einen Teil seiner beruflichen Identität. Auch in der privaten Linie kommt es zu einem Bruch von wesentlichen Lebensorientierungen. Die vor der Erkrankung kompensierbaren Probleme der Paarbeziehung und die durch die Krankheit hinzugekommenen Schwierigkeiten führen zu einer Phase der offenen Auseinandersetzung, die Enttäuschungen und Verletzungen beinhaltet. Nach verschiedenen Problemlösungsversuchen kommt es schließlich zu einer endgültigen Trennung von der Ehefrau und der Familie. Es folgt nun eine Phase der Neuordnung des privaten Lebens mit dem Bestreben, eine neue Partnerschaft aufzubauen, die seinen Bedürfnissen eher entspricht. Im privaten und im beruflichen Bereich folgt auf eine bewegte, wechselhafte Phase mit umfassenden Neuorientierungen eine Phase der Normalisierung und relativen Stabilität. Nach einem Lebensverlauf, der von einem kontinuierlichen beruflichen Erfolg gekennzeichnet war, ist der Einbruch der Erkrankung für den Biographieträger mit einem Abstiegsprozess verbunden, den er als „tiefen Fall“ empfindet. Er verfügt über hohe persönliche Potenziale, um seine schwierige Situation zu bewältigen. Zu ihnen zählen eine ausgeprägte Leistungsbereitschaft sowie seine Sichtweise, Probleme als Herausforderungen zu verstehen. Sein aktiver Bewältigungsstil tritt im Bewältigungsprozess deutlich hervor. In seiner Ehe erfährt er dabei kaum Unterstützung, kann aber im weiteren Umfeld soziale Unterstützung mobilisieren. Die Krankheit tritt im mittleren Erwachsenenalter in sein Leben, zu einem Zeitpunkt, als er bereits wesentliche Lebensorientierungen wie eine Familiengründung oder eine berufliche Karriere realisiert hat, und in beiden Bereichen eine Fortsetzung bzw. ein weiterer Ausbau geplant war. Die Weiterführung der privaten und beruflichen Linie, letztere verknüpft mit gesellschaftlichem Engagement, wird im Zusammenhang mit der Krankheit unterbrochen und kann auch später nicht wieder aufgenommen werden. Der Sturz in die auf Krankheit bezogene Welt wird von dem Erzähler als „tiefer Fall“ beschrieben. Nach anfänglichem Vergleich mit der auf Gesundheit bezogenen Welt ändert er seinen Vergleichsmaßstab. Er vergleicht sich nun innerhalb der auf Krankheit bezogenen Welt mit anderen Betroffenen und erreicht so wieder gute persönliche Ergebnisse im Zusammenhang mit
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seinen Lernfortschritten, auf die er stolz ist. Obwohl auf der einen Seite deutlich getrennt, entwickelt sich auf der anderen Seite im Verständnis von Herbert Steffen eine Verbindung zwischen den beiden Welten, da er zunehmend zu der Sichtweise gelangt, dass „die anderen“ ebenfalls mit Einschränkungen gesundheitlicher oder auch sozialer Natur zu kämpfen haben und daher in einer bestimmten Weise mit ihm gleich sind. Seine Vorstellungen von gesund und krank differenzieren sich auf diese Weise aus und führen zu einem Verständnis, das beide Pole integriert. Insgesamt kann er die Krankheit weitgehend in seine Biographie integrieren. Es gibt ein gesundes Ich vor der Erkrankung und ein von einer schweren Erkrankung betroffenes Ich danach. Beide sind aktuell präsent und bilden integrierte Teile der Identität von Herbert Steffen. In zusammenfassender Sicht schildert Herbert Steffen eine Lebensgeschichte, die vor der Erkrankung von einer erfolgreichen Karriere geprägt ist, durch die Krankheit mit ihrer schweren körperlichen Symptomatik unterbrochen wird und sich nach einer längeren Umbruchphase an veränderten Lebensorientierungen ausrichtet.
3.2.2.3 Biographisches Porträt 6: PAUL ADAMS Paul Adams ist zum Interviewzeitpunkt 56 Jahre und seit zehn Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Nach seinem Hochschulabschluss und diversen Zusatzausbildungen war und ist er selbstständig tätig als Heilpraktiker, Gestalttherapeut und Lehrer für chinesische Medizin. Wegen seiner eingeschränkten körperlichen Situation praktiziert er heute nur noch geringfügig. Er ist geschieden und hat einen erwachsenen Sohn. Paul Adams spricht auf eine ruhige Weise und zugleich mit einer kraftvollen, lebenslustigen, häufig amüsierten Stimme und einer starken Betonung, teilweise erinnert die Art des Erzählens an das Dozieren eines Lehrers. Im Verlauf des Interviews lacht er viel und herzhaft, bringt aber auch die mit negativen Emotionen verbundenen Erfahrungen deutlich zum Ausdruck.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Als Viertgeborener mit drei älteren Schwestern wächst Paul Adams in einer kleinen Stadt direkt am Mittelrhein auf, da sein Vater, einer 300jährigen Familientradition entsprechend, als Lotse auf dem Rhein arbeitet. Er beschreibt die Eltern als extreme Pole, einerseits die streng katholische Mutter und andererseits den Vater als lebenslustigen Mann, der gerne trinkt und feiert und mit Freunden Heiterkeit und Leben ins Haus bringt, und verweist darauf, dass er dieses breite Spektrum der Eltern auch in sich trägt. Nach Beendigung der Schule zieht er in die Großstadt R., um Politik- und Religionswissenschaften zu studieren und begründet die Wahl des Studienortes damit, dass es in dieser Stadt „sehr befreit“ (Int 6, S. 12) zugeht und dort in den Jahren 1968/69 die „Revolution“ (ebd.) stattfindet. Bereits während des Studiums interessiert er sich für chinesische Medizin und bildet sich diesbezüglich weiter. Nach einem interessengeleiteten Studium und dem Abschluss desselben baut er erfolgreich eine selbstständige Existenz auf. Er unterstreicht hinsichtlich seiner Berufswahl explizit, dass eine Beamtenkarriere für ihn nicht in Frage kommt, sondern er sich an einer selbstständigen Tätigkeit orientiert, mit der er sich identifizieren kann und die
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für ihn mit Freiheit verbunden ist, und grenzt diese Art der Tätigkeit von der Gebundenheit in einem Beamten-, Angestellten- oder Arbeiterverhältnis ab. Er arbeitet im Bereich der Erwachsenenbildung und später als Heilpraktiker in eigener Praxis und als Lehrer für chinesische Medizin. Im Vordergrund seiner Erzählung steht jedoch nicht die berufliche Karriere, sondern intensive Erfahrungen in Bezug auf Sexualität und Beziehungen, Tanz, Freundschaft sowie Lernen und Lehren, bei denen private und berufliche Aspekte eng verflochten sind. Selbstverwirklichung und persönliche Freiheit spielen als Werterahmen dabei eine bedeutende Rolle. Die berufliche und private Lebensorientierung folgt also alternativen Lebens- und Arbeitsformen, die im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte und den Bedingungen der Großstadt zu sehen sind, die er speziell wegen den dort vorhandenen alternativen Möglichkeiten als Studien- und Lebensort ausgesucht hat. Beständige Gesundheit und Handlungsfähigkeit werden bei dieser Lebensplanung und Lebensführung implizit in der jeweiligen Gegenwart und Zukunft vorausgesetzt. Paul Adams verfügt durch berufliche und private Interessen und Aktivitäten über einen großen Freundes- und Bekanntenkreis. Er lernt eine Frau kennen und lieben, mit der er eine Familie gründen möchte. Sie bringt in die Beziehung bereits einen Sohn mit, als dessen sozialer Vater er sich bezeichnet. Durch einen gemeinsamen Sohn wird die Familie erweitert. Nach zehn Jahren Partnerschaft heiraten sie. Im Anschluss an die Heirat ziehen sie für zwei Jahre nach Spanien. Kurz vor dieser Zeit hat er mit einigen Kollegen eine Schule für chinesische Medizin in R-Stadt eröffnet und leitet nun unter anderem Seminare, die in Spanien stattfinden. Wie vorgesehen kehrt er nach zwei Jahren nach R-Stadt zurück, seine Frau bleibt jedoch in Spanien und beginnt dort ein Verhältnis zu einem anderen Mann, woraufhin sich Paul Adams von ihr trennt. Kurz darauf verliebt er sich neu, schildert die neue Beziehung aber aus rückwärtiger Sicht als schwierig, weil er nach der kurz zuvor stattgefundenen Trennung von seiner Frau noch nicht frei „für was anderes“ (Int 6, S. 11) ist. Sein leiblicher Sohn kommt kurz darauf ebenfalls aus Spanien zurück, um in R-Stadt das Gymnasium zu besuchen. Neben den Herausforderungen im privaten Bereich gibt es auch in der Schule für chinesische Medizin Probleme. Er möchte nicht in der Weise Akupunktur ausüben, die er in China gesehen hat, und beschreibt, dass der Großteil seiner Kollegen, die akupunktieren, „chinesischer sind als die Chinesen selbst“ (Int 6, S. 19). Es gibt also unterschiedliche Vorstellungen über die Theorie und Praxis der chinesischen Medizin innerhalb der Schule. In dieser Lebenssituation tritt die Erkrankung in Erscheinung. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung Paul Adams ist 49 Jahre, als er die ersten Symptome seiner Erkrankung kurz nach einer Chinareise bemerkt. Beim Hinuntergehen einer Treppe sucht er Halt an einem Geländer. Es ist plötzlich eine Unsicherheit beim Gehen da, die er in China noch nicht wahrgenommen hatte. Allmählich nehmen die Symptome zu, beim Tanzen schlägt er ungewohnt mit dem Fuß auf, schleift beim Gehen seinen Fuß hinterher, kann keine langen Spaziergänge mehr machen. Dann lässt die Feinmotorik der rechten Hand nach, bis er nicht mehr richtig schreiben kann. Anfangs gibt es keine konkrete Diagnose. Der Verdacht, dass es sich um eine „Amöbengeschichte“ (Int 6, S. 2) handeln könnte, wird wieder verworfen, als sich nach einer entsprechenden Behandlung nichts ändert. Obwohl die Tagesform variiert, gibt es doch einen sich ständig verschlechternden Verlauf in dem er „steif und steifer“ (Int 6, S. 4) wird. Es gibt zwar „irgendwie ein Sehen, irgendwie ein Vermuten“ (Int 6, S. 2) bezüglich Multipler Sklerose, aber keine klare Diagnostik, sodass sich die unklare Lage über
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einen längeren Zeitraum erstreckt, von Paul Adams jedoch in rückwärtiger Sicht als kurz zusammengefasster Prozess bis zur endgültigen Diagnose dargestellt wird. Während des Suchprozesses versucht er neben der Behandlung mit chinesischer Medizin weitere Behandlungsmethoden wie Homöopathie, Geistheilungen und Psychotherapie, die jedoch keine Änderung seines gesundheitlichen Zustandes mit sich bringen. Bei einer Lumbalpunktion fünf Jahre nach dem Wahrnehmen der Symptome wird nichts festgestellt, erst eine neuerliche Untersuchung zwei Jahre später bestätigt die Vermutung einer MultipleSklerose-Erkrankung. Zu dieser Zeit nutzt er bereits unterstützend einen Rollstuhl. Im Verlauf des ersten Jahres nach dem Auftreten der Symptome zieht sich Paul Adams aus der Schule für chinesische Medizin zurück, da er dort unter seinen Kollegen für seine Ideen zu wenig Unterstützung findet. Die neue Beziehung zerbricht ebenfalls an den verschiedenen Belastungen. Neben seiner bisherigen Rolle als Heilpraktiker, der selbst kranke Menschen behandelt, erfährt er sich durch die eigene Erkrankung nun selbst in der Rolle des Erkrankten und Hilfesuchenden. Paul Adams schildert, dass er anfangs Scham empfindet, da er als Lehrender und „Daherschwätzer“ (Int 6, S. 28) selbst betroffen ist von einer schweren Erkrankung. „Scham weil ich als Lehrer und irgendwie Daherschwätzer irgendwie sozusagen MS bekommen habe (...), krank wurde, wo ich nie gedacht hätte, das hat was mit mir zu tun, das haben immer nur irgendwie die armen Hilfesuchenden (lacht), so, ne, und plötzlich hatte ich das ganz massiv irgendwie selbst.“ (Int 6, S. 28)
In dieser Passage dokumentiert sich, dass es zuvor eine Vorstellung von dem gesunden Lehrer und Heilpraktiker auf der einen Seite und dem von Krankheit betroffenen Hilfesuchenden auf der anderen Seite gab, zwei Rollen, die sich gegenseitig ausschlossen, eine Polarität, die ihm erst aus der neuen Perspektive deutlich wird. Paul war mit der Rolle als Lehrer und Heilpraktiker identifiziert, der selbst mit Krankheit nichts zu tun hat, sondern heil und gesund ist. Diese Vorstellung über die eigene Identität geht durch die Erkrankung zu Bruch. Die Wahrnehmung der zuvor bestehenden Eindimensionalität und der Kontrast zur heutigen Sicht werden durch die ironischen Formulierungen betont. Scham als soziales Gefühl steht immer in Verbindung mit einem Verbot, einer übertretenen Regel, einem Misserfolg oder einer sozialen Norm, die verletzt wurde. Es gab bei Paul Adams keine Vorstellung darüber, als Heilpraktiker und Lehrer für Heilpraktiker selbst zu erkranken. Die Tatsache, dass sich dies doch ereignet hat, ist mit dem Gefühl der Scham, also mit der Verletzung einer bisher geltenden Norm dieser Gruppe über die Rolle eines Heilpraktikers, verbunden. Hier wird eine Facette der beiden mit vielen Zuschreibungen und Rollenvorstellungen belegten Welten der Gesunden und der Kranken offenbar. Diese Problematik der Polarität der Welten existiert hier nicht nur in Bezug auf die persönliche Identität als Heilpraktiker und Lehrender der chinesischen Medizin und die damit verbundenen Vorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Heilung, sondern betrifft auch die soziale Identität in der Berufsrolle in der Wahrnehmung durch andere. Während die Zugehörigkeit zur Welt der Gesunden als Heilpraktiker normal scheint und Kompetenz signalisiert, fällt die Zugehörigkeit zur Welt der Kranken als unerwartet auf und stellt die Kompetenz als Heilpraktiker in Frage („Daherschwätzer“), die nun in der Außenwelt legitimiert werden muss. Die Veränderung erfährt er auch durch eine neue Wahrnehmung auf körperlich-leiblicher Ebene. Dabei verschmelzen berufliche und private Aspekte, da er Konzepte der chinesi-
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schen Medizin über Leitbahnen, Akupunkturpunkte und Krankheit plötzlich aus neuer Perspektive als Betroffener von innen wahrnimmt. „Ich habe das alles außerhalb gesehen (...) und habe das auch an mir gesehen aber, ne, Körperbewusstsein ist kein Bewusstsein über den Körper, sondern ist ein Bewusstsein des Körpers (...) und das ist, glaube ich, irgendwie der Schritt der MS, dass ich da mitkriege, ach, das rutscht ja sozusagen in mich rein und das bin ich ja und ich bin irgendwie ein Ausdruck davon und ich bin nichts anderes.“ (Int 6, S. 27f.)
Aus rückwärtiger Sicht und durch den Kontrast der jetzigen zur vorherigen Wahrnehmungsweise erkennt er, dass er sowohl körperbezogene Vorstellungen der chinesischen Medizin als auch Krankheit zuvor in einer bestimmten Weise nicht wahrgenommen hatte, die sich durch die eigene Betroffenheit nun erschließt. Statt der Sicht von außen auf Körper und Krankheit tritt nun die Erfahrung, sich als lebendigen Ausdruck dieser Konzepte von Körper und Krankheit zu erleben, was in einer eigentheoretischen Reflexion als mit der MS verbundener Lernschritt interpretiert wird. Zugleich führt die neue Wahrnehmung zu der Erkenntnis, als Heilpraktiker nicht anders als die von Krankheit betroffenen Menschen zu sein und macht ihm die vorher bestehende Trennung zu diesen deutlich. Paul Adams schildert hier die Identifikation mit der Krankheit als Integrations- und Lernprozess und hebt trotz Verringerung seiner körperlichen Möglichkeiten eine Erweiterung seines Verständnisses hervor, die eine neue Erfahrung von Körperbewusstsein sowie die Wahrnehmung und Auflösung der Polarität zwischen dem Kranken und dem Heilenden beinhaltet. Die persönliche (Körper-)Erfahrung ist eng verknüpft mit beruflichen Inhalten, die nun ebenfalls nicht mehr in derselben Weise wie zuvor gelehrt und praktiziert werden können. Mit der beruflichen Rolle als selbstständig tätiger Lehrer und Heilpraktiker stehen sowohl inhaltlich als auch existenziell wesentliche Aspekte der Lebensorientierung in Frage. Die Lebensführung muss sich, entsprechend dem sich relativ schnell verschlechterndem körperlichen Zustand, an die jeweils veränderten Bedingungen anpassen. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Als die Diagnose Multiple Sklerose klar ist, wendet er sich in einem „offenen Brief“ (Int 6, S. 28) an seinen großen Bekannten- und Freundeskreis. Er bekennt sich zu seiner Erkrankung und bittet um Unterstützung. Da er als Selbstständiger nicht in das soziale Sicherungssystem bei Krankheit und Berufsunfähigkeit eingebunden ist, sucht er auf diesem Weg aktiv Hilfe zur Lösung seiner existenziellen Problematik. Er schafft so ein eigenes privates soziales Netz von Unterstützern, die ihn unter anderem per Dauerauftrag mit monatlichen Beiträgen unterstützen. Im Anschluss an die Diagnose entscheidet er sich für eine schulmedizinisch empfohlene Kortisonstoßtherapie, durch die sich sein Zustand massiv verschlechtert. Nun kann er „überhaupt nicht mehr gehen“ (Int 6, S. 3) und ist permanent auf seinen Rollstuhl angewiesen. Die Erfahrung, dass die verschiedenen alternativen und schulmedizinischen Therapien den körperlichen Zustand nicht verbessern, sondern höchstens manchmal die Lage etwas erleichtern können, empfindet er als ernüchternd. Zugleich fördert sie die Auseinandersetzung mit seinen Vorstellungen von Gesundheit, der Rolle als Heilpraktiker und den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, therapeutisch zu agieren. Die Auseinandersetzung führt ihn dazu, zwischen körperlicher Wiederherstellung, psychischer Genesung und einer geistigen Dimension der Heilung zu unterscheiden und mit diesem Hintergrund eine „an-
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dere Form von chinesischer Medizintherapie“ (Int 6, S. 7) zu konzipieren, die er weiterentwickeln und der Öffentlichkeit präsentieren möchte. Seit rund drei Jahren benutzt er nun den Rollstuhl, um sich fortzubewegen. Viel praktische Hilfe und andere soziale Unterstützung erhält er in dem Haus, in dem er schon sehr lange wohnt und in dem er sich verankert fühlt. Er beschreibt eine Gemeinschaft von alten Freunden und Bekannten, „eine studentenbewegte Familie“ (Int 6, S. 8), von denen viele schon bei der Geburt seines leiblichen, heute 25jährigen Sohnes dabei waren. Paul Adams hält sich überwiegend in seiner großen Wohnung auf, ist oft allein, fühlt sich aber nicht einsam wegen der Hausgemeinschaft und der vielen anderen Kontakte, die er durch die chinesische Medizin und durch jahrzehntelanges Praktizieren aufgebaut hat. In geringem Umfang praktiziert er noch als Heilpraktiker, supervidiert eine Gruppe von Heilpraktikern und arbeitet an einem Buch über chinesische Medizin. Zur körperlichen Unterstützung nimmt er regelmäßige Krankengymnastiktermine in Anspruch.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT An den Beginn seiner Erzählung setzt er die Situation, in der er das erste Mal die Symptome seiner Erkrankung wahrnimmt. Daran schließen weitere Situationen an, die die zunehmende Verschlechterung zeigen. Die Zeit der Suche nach der Diagnose und nach hilfreichen Therapiemöglichkeiten bis zur endgültigen Diagnose von Multipler Sklerose und von dort zu seiner heutigen Situation stellt er gerafft dar. Im Anschluss daran folgen Erzählungen zur Kindheit, Jugend, Studienzeit und Übergang in die Berufstätigkeit, wichtigen Beziehungen und dem Freundeskreis. Insgesamt stehen die Intensität von Lebenserfahrungen und das Ausprobieren von verschiedenen Lebens- und Beziehungsformen im Vordergrund der biographischen Erzählung. Im Zusammenhang mit seiner Berufstätigkeit erzählt er detaillierter das für ihn beeindruckende Kennenlernen der chinesischen Medizin und die späteren Auseinandersetzungen mit den Inhalten und Vorgehensweisen der chinesischen Medizin vor der Erkrankung und durch die Erkrankung sowie die Auseinandersetzung mit seiner Berufsrolle im Zusammenhang mit der Erkrankung. Hervorgehoben werden auch der persönliche Lernprozess, die Krankheit als Aufgabe und die Auseinandersetzung mit übergeordneten Religions- und Denksystemen. Erzählungen seiner Erfahrungen und Erlebnisse weisen zum Teil einen hohen Detaillierungsgrad auf. Er reflektiert Entwicklungen, Gefühle und Körperempfindungen und ihre Bedeutung für ihn, eine Praxis der Auseinandersetzung, die für ihn scheinbar gewohnt ist und vermutlich im Zusammenhang mit seinem beruflichen Hintergrund steht. Vergangene positive Erlebnisse kann er intensiv aktualisieren, aber auch seine heutige Situation in positiven und negativen Aspekten intensiv erleben. Das verweist auf eine hohe Integration von seinem vergangenen ‚gesunden Ich’ und seinem heutigen ‚schwer kranken Ich’ in eine umfassendere Identität. Neben der Brucherfahrung und der Teilung der Biographie in die Zeit vor der Erkrankung und die Zeit danach und die damit verbundene Neuorientierung in wesentlichen Lebensbereichen entsteht zugleich der Eindruck der Kontinuität bedeutender Aspekte seiner Persönlichkeit. Er erzählt häufig mit hoher Intensität und Lebendigkeit und vermittelt den Eindruck von einem Mann, der trotz seiner massiven Einschränkungen und seines zwangsweisen Rückzugs von der äußeren Welt in die innere Welt intensiv lebt.
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In der aktuellen Auseinandersetzung geht es darum, die Berufsrolle neu auszufüllen, seine Situation und die Krankheit als Aufgabe anzunehmen, zu erkennen, was zu Ende geht und den Reichtum des bisherigen Lebens und den der aktuellen Situation bewusst wahrzunehmen. Vorstellungen über die Zukunft enthalten sowohl Gedanken über eine weitere Verschlechterung seines körperlichen Zustandes als auch die Hoffnung, eines Tages wieder laufen zu können. Die Themen der aktuellen Auseinandersetzung sollen im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Durch die eigene Erkrankung nun selbst in der Rolle des Kranken erlebt Paul Adams die Reaktion auf seine offensichtliche Krankheit bei anderen Heilpraktikern. Er entwickelt eine neue Vorstellung über den Beruf als Heilpraktiker, die im Kontrast zu seinem früheren Verständnis seiner Berufsrolle steht. „Das begreif ich auch nicht mehr so, dass es die Heiler und heilend gibt, ne, so, sondern dass sie sozusagen, ich einschließlich, wir sozusagen alle unser Päckchen zu tragen haben und kucken müssen, ne (...) ich bin in Rothenburg gewesen, da ist jedes Jahr so ein Treffen von Akupunkteuren und in dem ersten Jahr sozusagen, als ich im Rollstuhl saß, kamen alle mehr oder weniger auf mich eingestürzt und haben immer schon gewusst, was gut und was richtig ist, ne, und was wichtig ist, ne, und was ich machen soll, ja, gut, ok (...) ne, dem noch so strotzenden Heiler irgendwie zu sagen, ja das ist ganz gut, aber ich möchte nicht mit dir tauschen, das hat mich irgendwie vor vielem bewahrt, diese Haltung, ne, und dass ich gemerkt hab, also, dass sie gemerkt haben, dass ist ja nicht ein armer Tropf, der da sitzt, ein armer, verkümmerter, elender, hilfesuchendes Nichts, ne, so, sondern das ist jemand, der einfach sagen kann und, ja, das haben sie irgendwie schon gemerkt, im zweiten Jahr kamen schon erheblich weniger.“ (Int 6, S. 29f.)
Er erfährt durch die Reaktion von anderen, aber auch durch die eigene Erfahrung und seine veränderte Perspektive, die zweigeteilte Welt von Krankheit und Heilkunde, auf der einen Seite der kranke „arme Tropf“, auf der anderen Seite der „wissende, helfende Heiler“. Dies führt zu der neuen Wahrnehmung von einem als Heilpraktiker agierenden Menschen, der selbst wie alle anderen sein „Päckchen zu tragen“ hat und gleich betroffen ist wie alle anderen. Es findet eine Integration statt zwischen der einen gesunden, mit heilerischer Kompetenz ausgestatteten und der anderen kranken, „Päckchen tragenden“ Person. Er akzeptiert nicht mehr die scheinbar dem normalen Verständnis des Heilpraktikers zugrunde liegenden Definitionen von krank und unwissend auf der einen Seite und gesund und wissend auf der anderen Seite, sondern gelangt zu einer umfassenderen Sichtweise, die die verschiedenen Aspekte integriert. Die Formulierung „dass ich gemerkt hab, also, dass sie gemerkt haben“ weist auf einen Prozess der Auseinandersetzung hin, in dem sich die Annahme seiner Krankheit und das Bewahren seiner Kompetenz und seines Selbstwerts in ihm vollzieht und auch nach außen in konfrontativer Präsentation der Selbstannahme durchgesetzt wird. Durch die Krankheit bekommt er eine veränderte Rolle von seinen Kollegen zugewiesen. Seine erkrankte Seite ist für die anderen sichtbar und wird von ihnen wahrgenommen, seine Kompetenz und sein Selbstwertgefühl hingegen muss er aktiv sichtbar machen und gegen die stigmatisierenden Zuschreibungen der anderen Heilpraktiker behaupten. In vielfältigen Prozessen der Auseinandersetzung verbindet er also die beiden vorher getrennten Welten von Gesundheit und Wissen in Abgrenzung zu Krankheit und Unwissen. Paul Adams hebt hervor, dass die chinesische Medizin und die mit ihr verbundene Weltsicht ihm viel bei der Annahme und Bewältigung seiner Situation geholfen hat und sie für ihn einen geistigen Bezugsrahmen darstellt, auf den er sich stützen kann. In Kontrast
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dazu setzt er eine christliche Sicht von Krankheit, in der er „ein armer Sünder“ (Int 6, S. 31) wäre und eine buddhistische Sicht, nach der er „irgendwie ein schlechtes Karma“ (ebd.) hätte. Mittels dieser Kontrastfolien zeigt er eine Verbindung von Schuld und Strafe mit Krankheit in bestimmten religiösen Denksystemen auf und grenzt die annehmende Haltung der chinesischen Medizin dagegen ab, was ihm hilfreicher zur Bewältigung einer solchen Lebenslage erscheint. Zugleich macht er deutlich, dass er aktiv wählen, über die Bewertung seines Krankseins entscheiden und die Bewältigung seiner Situation positiv steuern kann, die er als seine heutige Aufgabe ansieht. „Das ist meine Aufgabe hier und jetzt, jetzt sitze ich im Rollstuhl, na und, ich sitze halt im Rollstuhl, ja, das hat irgendwie viele Konsequenzen, ja, aber ich sitze, ich nehme es an, ich nehme es an + annehmen, ja (...) ich muss mich damit irgendwie auseinandersetzen und kann irgendwie nicht sagen, jetzt ist irgendwie des Leben zu Ende, ne, so, es ist was zu Ende, ja, klar, aber es ist meine Aufgabe, irgendwie rauszukriegen, was ist dann zu Ende, ne, also, ne, das Begehren ist zu Ende, das nach außen gehen ist zu Ende.“ (Int 6, S. 31f.)
Paul Adams benennt hier explizit die aktive Auseinandersetzung mit seiner Situation als Aufgabe, während das Aufgeben seines Lebens als Lösung nicht in Frage kommt. Abgesehen vom Tod gibt es nicht ein allgemeines Ende, sondern das Ende von verschiedenen Einzelaspekten wie „das Begehren“ oder „das nach außen gehen“, das jeweils zu Ende ist und das er annehmen muss. Diese Differenzierung in Einzelaspekte verweist implizit auf andere Bereiche, die noch nicht zu Ende und daher höchst lebendig erfahrbar und gestaltbar sind. Neben der chinesischen Medizin beschreibt er die mit dem Rhein verbundene Naturerfahrung des Wandels, mit dem er aufgewachsen ist und der ihn geprägt hat, als hilfreich, um „jetzt auch mit dieser Erkrankung umzugehen“ (Int 6, S. 5). Er schildert den Fluss, der sich ständig verändert und je nach Jahreszeit, Tageszeit oder klimatischen Bedingungen wie Wind oder Regen jeweils anders aussieht. Der Fluss als Metapher für die Gleichzeitigkeit von Wandel und Kontinuität hilft ihm, den Wandel seines Lebens anzunehmen und in seine Biographie zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit seiner Krankheit und dem Ende des Begehrens führt Paul Adams zu einer Wahrnehmung seiner Vergangenheit aus einer neuen Perspektive. In Zusammenhang damit steht die aktuelle Erfahrung des liebevollen Kontaktes zu seiner ExFrau, der nach wie vor besteht und weit hinaus reicht über die Zeit, in der sie das Bett geteilt haben. „Das ist auch irgendwie eine Konsequenz von dem Rollstuhl, dass ich mitkriege irgendwie, begehrt habe ich irgendwie reichlich, ne, aber geliebt habe ich irgendwie nur zwei Mal (...) ich denke, dass das irgendwie ein ganz großer Reichtum ist.“ (Int 6, S. 17)
Im Rückblick zieht Paul Adams eine Bilanz seines Liebeslebens und differenziert die vielen Beziehungen, in denen er begehrt hat, von den zwei Beziehungen, in denen er geliebt hat. „Nur zwei Mal“ sind für ihn „ein ganz großer Reichtum“. Der Kontrast zwischen den beiden Extremen von wenig und viel hebt die Besonderheit und Kraft der Liebe hervor. Er unterstreicht die Bedeutung, die diese Liebe heute für ihn hat und die Tiefe, mit der er sie empfinden kann. Die Zukunft bezeichnet er als „dunkles Loch“ (Int 6, S. 25), als etwas, von dem er nichts weiß. Er hat einerseits Vorstellungen davon, dass er den Rollstuhl verlassen und
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wieder wandern und tanzen wird, andererseits Vorstellungen darüber, ein Pflegefall zu sein, der bettlägerig ist und gefüttert werden muss. Als Wunsch äußert er, dass er sein Buch über die chinesische Medizin gerne noch zu Ende schreiben würde. Vor dem Sterben als solches hat er keine Angst, aber er sorgt sich, dass er beispielsweise stürzen und verbluten könnte. Er möchte im Bett liegen und sich von seinen Lieben verabschieden können und dann „in Ruhe sterben“ (ebd.). Resümierend über die unbestimmte Zukunft bringt er noch einmal seinen aktiven Bewältigungsstil zum Ausdruck: „Ich will irgendwie mein Bestes tun, ob ich da noch 20 Jahre lebe oder noch zwei Wochen, wer weiß das schon, wer weiß das.“ (Int 6, S. 25)
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Nach dem Abschluss eines Hochschulstudiums baut Paul Adams eine berufliche Existenz als Selbstständiger mit einem angesehenen Status in der alternativmedizinischen Szene auf. Die Erkrankung tritt in der Phase des mittleren Erwachsenenalters in sein Leben, in der er nach der zuvor beendeten langjährigen Paarbeziehung in einer neuen Partnerschaft lebt und mit der Weiterentwicklung seiner beruflichen Vorstellungen beschäftigt ist. Der Erzähler schildert durch die Erfahrung der Krankheit einen Bruch von bedeutsamen Lebensorientierungen, die im Zusammenhang mit seiner Berufsrolle und den entsprechenden Denk- und Handlungskonzepten sowie mit seiner sozialen Identität stehen. Auch seine Körpererfahrung, die eng verbunden ist mit seinen beruflichen Inhalten und Wahrnehmungsgewohnheiten, beschreibt er aus einer neuen Perspektive. Die Symptome der Krankheit werden von ihm deutlich wahrgenommen, können schulmedizinisch aber nicht gleich als Multiple Sklerose diagnostiziert werden. Er beschreibt neben anderen Hypothesen „ein Sehen, ein Vermuten“ bezüglich der späteren Diagnose, was vermutlich im Zusammenhang mit seiner medizinischen Kompetenz zu sehen ist. Zugleich bewahrt er aber auch immer eine Hoffnung auf die Möglichkeit einer Änderung, Heilung oder Linderung und unternimmt Therapieversuche verschiedener Richtungen. Nach einigen Jahren mit einem sich stetig verschlechterndem Krankheitsverlauf zerbricht seine Lebensgrundlage als Selbstständiger, da er immer eingeschränkter in seiner Berufsausübung und als Selbstständiger nicht in die sozialen Sicherungssysteme von sozialpflichtigen Berufen eingebunden ist. Die selbstständige Berufsplanung und -ausübung ohne Sicherungsnetz weist darauf hin, dass die eigene Gesundheit implizit als Basis für die Zukunft vorausgesetzt wurde. Beruflich zeichnet sich hier ein Abstiegsprozess von einem erfolgreichen selbstständig tätigen Alternativmediziner und Lehrer zu einem durch zunehmende Berufsunfähigkeit auf Hilfe angewiesenen Sozialfall ab. Zum einen wird dieser Prozess durch das Fortschreiten der Krankheit erlitten, zum anderen aktiv bewältigt unter Rückgriff auf umfassende persönliche Potenziale und soziale Netzwerke, die im Verlauf von Jahren geschaffen und in der Situation der Bedürftigkeit aktiv von ihm genutzt werden. Der Biographieträger berichtet von einem schnellen und schweren Krankheitsverlauf einer Krankheit, bei der Kapazität um Kapazität verloren geht und die zunehmend in körperliche Handlungsunfähigkeit mündet. Die Krankheit wird als Aufgabe gedeutet, die es anzunehmen und zu verstehen gilt. In seinem Verständnis muss er sich mit der durch sie entstehenden Situation auseinanderset-
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zen und das Beste daraus machen. Neben dem Erhalt der Hoffnung gehört dazu auch das Annehmen der Einschränkungen, das Bitten um Hilfe, der durch die Bewegungseinschränkungen unumgängliche Rückzug von außen nach innen, die Akzeptanz dessen, was zu Ende geht, die Wahrnehmung des inneren Reichtums, aber auch die Entwicklung von neuen Konzepten zur Heilung und als zukünftiges Projekt das Vorhaben, diese zu veröffentlichen. Die auf Gesundheit bzw. auf Krankheit bezogenen Welten empfindet er deutlich und klar getrennt in einem Vorher und Nachher des Körperbewusstseins und in der Rolle als Helfender und Hilfsbedürftigen. Persönliche und berufliche Aspekte sind dabei eng verflochten. Aus dieser bestehenden Kluft gelangt er in einem Prozess der Auseinandersetzung zu einer umfassenden Integration beider Seiten in einer neuen Identität, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht. Die Krankheit kann mit Hilfe der Auseinandersetzung und aktiven Neuorientierung und dem damit verbundenen Wandlungsprozess umfassend in die Biographie integriert werden. Neben Auseinandersetzungen im privaten Bereich führt hier der Lernprozess in beruflichen und weltanschaulichen Bereichen zur Auflösung und Integration einer Polarität, die als solche im zuvor gültigen Bezugssystem nicht wahrgenommen wurde. Erst von außen, von der anderen Seite, ist sie wahrnehmbar. Zusammenfassend bringt die Lebenserzählung von Paul Adams eine mit der Krankheit verbundene Brucherfahrung bedeutsamer Lebensorientierungen zum Ausdruck, auf die Neuorientierungsprozesse folgen. Die Lebensführung stellt er, auch bedingt durch den schnellen progredienten Verlauf und die damit verbundene Schwere seiner Erkrankung, umfassend auf die sich neu entwickelnde Lage ein.
3.2.2.4 Biographisches Porträt 7: SONJA TOMMS Sonja Tomms ist zum Interviewzeitpunkt 37 Jahre alt. Im Alter von 21 Jahren wurde bei ihr Diabetes diagnostiziert. Seit 16 Jahren spritzt sie regelmäßig Insulin und hat bisher keine Folgeerkrankungen. Sie hat einen Fachhochschulabschluss als Diplom-Sozialpädagogin, ist aber nicht berufstätig. Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Dieser Fall wird ebenfalls aufgrund der Datenfülle als zusammenfassende Analyse präsentiert.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Als Sonja Tomms erkrankt, befindet sie sich in der ersten Hälfte ihres Fachhochschulstudiums und im Übergang vom Jugendalter ins frühe Erwachsenenalter. Der Einbruch der Erkrankung wird von ihr als Einschnitt und Knick im Lebensverlauf dargestellt und unterbricht deutlich die bisherige Lebensführung und Lebensorientierung. Ihr Wert als zukünftige Partnerin und damit verbunden die bisher verfolgte private Linie stehen für sie als Erstes in Frage. Diese bedeutsame Lebensorientierung kann jedoch durch die Akzeptanz des Partners, der sich für die Beziehung mit ihr unter den veränderten Vorzeichen der Krankheit neu entscheidet, fortgesetzt werden. Der aktiv-konfrontative Bewältigungsstil von Sonja Tomms wird deutlich in der Phase der Auseinandersetzung mit der Krankheit und der Konfrontation mit möglichen Spätfolgen, in deren Verlauf sie Pläne über weitere Ausbildungsvorhaben verwirft und nur noch die bisherige Ausbildung beendet. Die beruf-
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liche Linie wird auch im weiteren Lebensverlauf nicht weiter verfolgt, die private Linie dagegen durch Heirat und Familiengründung ausgebaut. Nachdem sie, wie sie beschreibt, in der Zeit vor Beginn der Erkrankung Mut und Sicherheit aufgebaut hat, sich zu öffnen und nach außen in die Welt zu gehen, findet nach dem Einbruch der Krankheit ein Rückzug in den Privatbereich statt. Nach der Umbruchphase und den damit verbundenen Prozessen der Einstellung von Lebensführung und Lebensorientierung gelangt die Biographieträgerin im Alltag zu einer relativen Stabilität, die in ihrem Empfinden jedoch latent bedroht ist und damit prekär bleibt. Durch diszipliniertes Verhalten bezüglich der zu leistenden Arbeit und Kontrolle der körperlichen Funktionen bemüht sie sich, möglichen Folgeschäden der Erkrankung vorzubeugen. Ihre soziale Lage bleibt gleich bzw. verbessert sich geringfügig und wird durch die Position und den finanziellen Hintergrund des Mannes bestimmt und gesichert. Sie verfügt über mittlere bis gute persönliche Potenziale wie Bildung, handwerkliche und künstlerische Fähigkeiten und Fähigkeiten der Beziehungsgestaltung, die sie im privaten Kreis der Familie oder der Freunde einsetzt. Entsprechend groß ist die soziale Unterstützung durch den großen Freundeskreis und ihren Partner. Den Einbruch der Krankheit in die Lebensphase des beginnenden jungen Erwachsenenalters erlebt die Erzählerin als problematisch, da sie sich mit Themen der Begrenzung und Abhängigkeit auseinandersetzen muss, die den Themen dieser Zeit von Freiheit, Aufbruch und offener Zukunft völlig konträr gegenüberstehen. Während „jung und gesund“ für sie eine passende Paarung bilden, scheint der Verbindung von „jung und krank“ ein grundsätzlicher Konflikt innezuwohnen. Zwar ist die Krankheit relativ gut medizinisch kontrollierbar, doch für Sonja Tomms stellt sie eine schwere Erkrankung dar. Dies ist auf der einen Seite begründet in dem Verlust der körperlichen Unabhängigkeit und Freiheit, in der permanent nötigen Kontrolle und Disziplin sowie in der Wahrscheinlichkeit, bedrohliche Spätfolgen zu erleiden. Auf der anderen Seite ist diese Bewertung im Zusammenhang mit ihrer negativen Vorerfahrung bezüglich der Erkrankung und dem frühen Tod ihres Vaters zu sehen. Mit der eigenen Betroffenheit durch die Erkrankung stürzt sie aus ihrer zuvor an Gesundheit orientierten Welt in eine auf Krankheit bezogene Welt. Sie setzt sich intensiv mit den neuen Bedingungen auseinander und konfrontiert sich und andere mit ihrem veränderten Blickwinkel („was will der Thomas eigentlich noch mit so einer Freundin, die jetzt Diabetes hat“). Die Krankheit, mit ihr verbundene Bedrohungen und die permanente Arbeit, die mit dieser Krankheit geleistet werden muss, sind von außen in der Regel nicht sichtbar, jedoch in ihrer Erfahrung präsent (“diese Spätfolgen, die sind ja tagtäglich in deinem Hirn drin“). Sie erfährt heute eine relativ stabile und positive Gegenwart, die aber unterschwellig permanent begleitet ist von verschiedenen Aspekten der Krankheit. Sonja Tomms kann die Krankheit einerseits weitgehend in ihre Biographie integrieren, sagt aber andererseits von sich, dass sie sie nicht akzeptiert, sondern hinnimmt, weil es keine andere Möglichkeit gibt. Heute befindet sie sich im mittleren Erwachsenenalter und blickt insofern zufrieden auf ihr Leben nach dem Beginn der Erkrankung zurück, als sie bisher noch keine Folgeschäden durch die medizinisch relativ gut zu kontrollierende Krankheit erleiden musste und sie auch die Entwicklung ihres privaten Lebens positiv bewertet. Zugleich ist sie zurückhaltend bei zukünftigen Planungen.
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Zusammenfassend sind für die Erzählung von Sonja Tomms der Bruch von bisherigen Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung, eine Neuorientierung und die umfassende vorausschauende Einstellung der Lebensführung auf die veränderten Bedingungen charakteristisch.
3.2.2.5 Zusammenfassender Fallvergleich Die Interviewpartner dieser Gruppe teilen die biographisch einschneidende Erfahrung eines Bruches bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit dem Auftreten der Krankheit. Sie setzen sich aktiv-konfrontativ mit der Erkrankung, mit Therapiemöglichkeiten und Prognosen zum Krankheitsverlauf auseinander und orientieren sich in einem oder mehreren Lebensbereichen neu. Daran schließt sich eine Phase einer gerahmten Stabilität an, die jedoch durch einen sich ständig verschlechternden Krankheitsverlauf oder durch die Angst vor möglichen weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen permanent bedroht ist. Jelka Uhl, Sonja Tomms und Paul Adams erleben und vollziehen den Bruch zuerst auf der mentalen und emotionalen Ebene. Die Perspektive, aus der sie das Leben deuten, ändert sich und damit verbunden verändern sich auch ihre Vorstellungen über die Zukunft. Bei Herbert Steffen hingegen tritt die Krankheit mit so massiven Symptomen in Erscheinung, dass der Bruch zuerst durch umfassende körperliche Einschränkungen erfahren wird. Hier steht der Bruch also im Zusammenhang mit der Handlungsunfähigkeit beziehungsweise mit Handlungseinschränkungen auf der physischen Ebene. Jelka Uhl und Sonja Tomms sind im frühen Erwachsenenalter von der Krankheit betroffen und haben relevante Lebensorientierungen bezüglich der Familiengründung und der weiteren beruflichen Entwicklung bisher nur teilweise realisiert. Bei beiden findet eine Auseinandersetzung mit diesen beiden Themen im Zusammenhang mit der Krankheit statt. Sonja Tomms entscheidet sich für eine Familiengründung und gegen eine weitergehende Investition in die beruflichen Line, Jelka Uhl entscheidet sich gegen eine Familiengründung und etwas später auch gegen eine weitere Berufstätigkeit und baut stattdessen einen Bereich des gesellschaftlichen Engagements aus. Beide investieren jeweils nur in eine Lebenslinie und verwerfen die andere aus Sorge, wegen der Erkrankung langfristig beruflichen und familiären Ansprüchen nicht gewachsen zu sein. Paul Adams und Herbert Steffen sind in einer späteren Lebensphase von der Krankheit betroffen. Sie haben bereits eine Familie gegründet und eine berufliche Richtung gewählt. Bei ihnen geht es um die Weiterführung oder den Bruch von bereits getroffenen biographischen Festlegungen. Alle Interviewpartner berichten von bedeutsamen Änderungen ihrer bisherigen beruflichen Pläne bzw. weiteren Ausbildungs- und Karriereoptionen, die Hintergründe und Ausformungen sind dabei jeweils individuell verschieden. Jelka Uhl beendet ihre bisherige berufliche Ausrichtung, indem sie frühzeitig die Rente beantragt. Für sie steht nun die individuelle und kollektive Krankheitsbewältigung als relevante Lebensorientierung im Mittelpunkt und sie engagiert sich in quasi-beruflicher Weise im ehrenamtlichen Bereich für diese Aufgabe. Sonja Tomms entscheidet sich für die Option eines weiblichen Lebensverlaufsmusters als Hausfrau und Mutter und führt die berufliche Linie nicht weiter. Paul Adams und Herbert Steffen sind durch körperliche Einschränkungen nicht mehr in der Lage, ihren Beruf wie zuvor auszuüben, versuchen aber, ihn, und damit verbunden eine berufliche
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Identität, durch eine geringfügige Tätigkeit im Ansatz zu erhalten. Bei Paul Adams tritt zudem eine inhaltliche Veränderung der Ausrichtung seiner Tätigkeit und seines Selbstverständnisses in der Berufsrolle hervor. Vor dem Krankheitsbeginn gibt es bei den Interviewpartnern Pläne zur weiteren Qualifikation oder sie erwarteten einen weiteren beruflichen Aufstieg. Diese mit einem hohen Ausbildungsniveau verbundenen Pläne oder Erwartungen zerbrechen im Zusammenhang mit dem Auftreten der Krankheit. Die vorhandenen mittleren bis hohen Potenziale werden von den Betroffenen aktiv bei der Bewältigung des Lebens mit der Erkrankung eingesetzt und weiterentwickelt. Ebenfalls bedeutsam für eine überwiegend produktive Krankheitsbewältigung ist für die Interviewpartner eine hohe soziale Unterstützung, die sie erhalten bzw. für die sie selbst sorgen. Für Jelka Uhl wird das Schaffen und Nutzen eines Unterstützungsnetzes Teil ihrer neuen Aufgabe, um sich und andere bei einer produktiven Krankheitsverarbeitung zu unterstützen. Große Unterschiede gibt es in der Art, der Schwere und dem Verlauf der Krankheiten der Interviewpartner dieser Gruppe. Während die Multiple Sklerose-Erkrankung von Jelka Uhl und Paul Adams anfangs noch mit geringen körperlichen Einschränkungen verbunden ist, die im weiteren Verlauf in jeweils verschiedener Geschwindigkeit zunehmen, ist Herbert Steffen durch den Schlaganfall plötzlich umfassend körperlich eingeschränkt und kann seine körperlichen Funktionen bis zu einem gewissen Punkt wieder verbessern. Sonja Tomms schließlich kann nach der Diagnose der Diabetes-Erkrankung ihre körperliche Situation mit medizinischen Mitteln weitgehend kontrollieren und stabil halten. Das bedeutet, dass die Brucherfahrung mit einer massiven Symptomatik und der Erfahrung von einem Verlust der Handlungsfähigkeit in bestimmten Lebensbereichen verbunden sein kann. Sie kann aber ebenso im Zusammenhang mit einer Veränderung der Perspektive auf das weitere Leben durch das Wissen über die Erkrankung stehen, das in der Auseinandersetzung mit ihr oder im Kontakt mit anderen von Krankheit betroffenen Personen erworben wurde. Die Erfahrung eines Bruches kann also sowohl erfahrungsgebunden und von der Schwere der Krankheit beeinflusst sein, als auch wissensgebunden durch den Wechsel des Orientierungsrahmens erfolgen. Der Wechsel des Orientierungsrahmens von einer auf Gesundheit bezogenen Welt zu einer auf Krankheit bezogenen Welt wird bei allen Interviewpartnern deutlich. Von dort aus wird der Kontakt mit der vormals normalen, auf Gesundheit bezogenen Welt und deren Repräsentanten gestaltet, z. B. in der Position als Interessensvertretung für Kranke oder auf Konfrontationskurs, um Gesunden ihre einseitige und damit beschränkte Sicht und ihre Vorurteile vor Augen zu führen. Ebenso gibt es bei nicht sichtbaren Krankheiten wie Diabetes die Möglichkeit, sich zwar innerlich auf die Welt der Krankheit zu beziehen, dies aber mit Ausnahme von wenigen Eingeweihten nach außen nicht zu vermitteln. Eine weitere Möglichkeit ist es, sich mit anderen, der normalen gesunden Welt angehörenden Personen auf eine Stufe zu stellen, indem deren Probleme als einer Krankheit vergleichbar interpretiert werden. Die Lebensführung wird von den Vertretern dieser Gruppe vorausschauend und umfassend auf die Bedingungen der Krankheit und die neuen Lebensorientierungen eingestellt. Weitere gesundheitliche Verschlechterungen sollen auf diese Weise vermieden oder vermindert werden. Ebenso wird beispielsweise durch eine Entfernung von Barrieren das Lebensumfeld angepasst, um die Fortführung von Aktivitäten weitgehend zu sichern.
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3.2.3 Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) Charakteristisch für diese Gruppe ist die Weiterführung der bisherigen Lebensorientierung. Die Zusammenhänge, die hinter dieser Weiterführung stehen, variieren jedoch erheblich und sollen in den nachfolgenden vier Falldarstellungen verdeutlicht werden. Für die ausführliche Darstellung des Verlaufsmusters wurde der Fall von Margarete Ries ausgewählt, obwohl sie sich aktuell in einer Bruchphase befindet und damit gegenwärtig am Übergang von diesem Muster (Typus C) zu dem Muster des biographischen Bruchs (Typus B) steht. Gerade durch den Kontrast des aktuell erfahrenen Bruchs zu ihrem vorhergehenden Leben, den sie beschreibt, wird deutlich, dass sie ihre relevanten Lebensorientierungen mit einer schweren chronischen Erkrankung und einem sich ständig verschlechternden Verlauf über einen Zeitraum von 24 Jahren aufrecht erhalten konnte. Erst als ihre Partnerschaft zerbricht, kommt es auch zu einem umfassenden Bruch einer bedeutsamen Lebensorientierung. Daher verdeutlicht ihr Fall über eine ausgedehnte Lebensspanne hinweg eine typische Ausprägung des Typus C. In einer anderen Weise typisch für diese Gruppe ist der Fall von Toni Sievers. Er kommt nach der Auseinandersetzung mit seiner Situation zu dem Schluss, dass er die Krankheit kontrollieren und seine Lebensorientierungen fortsetzen kann und widmet sich weiter dem Ausbau seiner Lebenslinien im frühen Erwachsenenalter. Die Lebensgeschichte von Karl Wittko zeigt eine weitere Ausprägung dieses Typus. Da der Biographieträger die Krankheit in einer späten Lebensphase bekommt, bleiben viele Aspekte seiner bereits verwirklichten Lebensorientierungen im Lebensverlauf unberührt von ihr. Aufgrund seines Vergleichsmaßstabes, der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und der Gefangenschaft beinhaltet, sieht er die Erkrankung als eine zu bewältigende Aufgabe an und kann sie ohne bedeutsame Brucherfahrung in sein Leben integrieren. Barbara Nibur schließlich vereinigt in ihrer lebensgeschichtlichen Präsentation typische Merkmale der Gruppen B und C, indem sie unter anderem diverse Brüche in eine übergeordnete Kontinuitätserfahrung integriert, und befindet sich damit am Übergang zwischen den beiden genannten Typen.
3.2.3.1 Biographisches Porträt 8: MARGARETE RIES Margarete Ries ist zum Interviewzeitpunkt 52 Jahre alt und seit 25 Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Sie arbeitet als Grundschullehrerin und ist seit 15 Jahren an der gleichen Schule tätig. Sie ist seit 27 Jahren verheiratet, lebt aber seit einem Jahr von ihrem Mann getrennt und hat einen 25jährigen Sohn, der in einer anderen Stadt studiert. Margarete Ries spricht meist langsam und relativ monoton, immer wieder kommt es zu langen Pausen im Gesprächsfluss. Es herrscht der Eindruck vor, dass die Interviewpartnerin aktuell unter einem starken Problemdruck steht.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Margarete Ries wird 1952 als zweites von fünf Kindern geboren. Ihre Eltern sind bei den dicht aufeinander folgenden Geburten der Kinder schon relativ alt. Diese Faktoren, das Alter der Eltern und die dichte Geburtenfolge, hebt die Erzählerin heraus und deutet sie im Rückblick als mögliche Krankheitsursache an, denn nicht nur sie, sondern auch ihre jüngere
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Schwester ist an Multipler Sklerose erkrankt. Ihr Vater arbeitet als selbstständiger Handwerker, während die Mutter das Haus und die Kinder versorgt. In der Werkstatt des Vaters sind ein weiterer Handwerker, ein Fahrer und die Tante für die Erledigung der Büroarbeiten beschäftigt. Die Arbeitsstätte des Vaters liegt direkt neben dem Haus der Familie und ist für die Kinder ein „riesengroßes Spielzimmer“ (Int 13, S. 29). Der Vater ist durch die räumliche Nähe seines Arbeitsplatzes für die Kinder „immer greifbar“ (ebd.), was von der Erzählerin positiv erlebt wird. Rückblickend bezeichnet Margarete Ries ihre Kindheit als normal und auch als wunderschön. Bereits in der Schulzeit hat sie den Berufswunsch, einmal Lehrerin zu werden, den sie später auch verwirklicht. Sie schließt die Schule 1973 erfolgreich ab und beginnt ein Lehramtstudium. Nach dem ersten Staatsexamen heiratet sie und zwei Jahre später wird der gemeinsame Sohn des Paares geboren. Einige Zeit nach der Geburt bemerkt sie Sensibilitätsstörungen und geht zum Arzt als ihr Sohn ein halbes Jahr alt ist. Zu diesem Zeitpunkt ist ihre jüngere Schwester bereits seit einigen Jahren an Multipler Sklerose erkrankt. Einbruch der Krankheit und erste Auseinandersetzung Wahrnehmen von Sensibilitätsstörungen: „Das kommt ja nicht von jetzt auf sofort, das ist ja dann doch ein Prozess.“ Als Beginn der Krankheit benennt sie allgemein Sensibilitätsstörungen, schildert dabei kein bestimmtes Erlebnis, an dem ihr deutlich wird, dass etwas nicht stimmt, sondern einen Zeitraum, in dem sich die Krankheit durch verschiedene Symptome bemerkbar macht, die aber anfangs als einzelne, nicht zusammenhängende Ereignisse wahrgenommen werden. Erst retrospektiv ordnet sie die verschiedenen Symptome als zum Krankheitsbild gehörig zu. „Als ich es bekommen habe, war ich 25 so ungefähr, ja, oder 27, ja, so, man kann das ja nicht so ganz genau sagen, ab welchem Zeitpunkt, ich hab dann nachher so gedacht, na, das war auch schon irgendwie ein Symptom oder das hätte schon darauf hinweisen können, aber das kann man ja dann im Nachhinein nicht mehr sagen, das kommt ja nicht von jetzt auf sofort, das ist ja dann doch ein Prozess.“ (Int 13, S. 5)
Im Rückblick stellt sie die Bewusstwerdung einer zu überprüfenden gesundheitlichen Störung als einen längeren Prozess dar, in dem ab einer bestimmten Schwelle Sensibilitätsstörungen wahrgenommen werden. Den Zeitraum umreist sie mit ungefähr zwei Jahren, was auf eine längere Phase von verschiedenen gesundheitlichen Irritationen hindeutet, denen scheinbar erst einmal keine größere Bedeutung zugemessen wird. Das kann mit einem langsamen Krankheitsverlauf in Zusammenhang stehen, ist allerdings besonders vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass ihre Schwester bereits seit einigen Jahren an Multipler Sklerose erkrankt ist und bei dieser die Diagnose erst nach einer längeren Suche gestellt wurde. Das legt den Schluss nahe, dass Margarete Ries durch die Betroffenheit der Schwester die Krankheit zu einem gewissen Grad bekannt war und die Symptome möglicherweise früher hätten erkannt werden können und von ihr eher verdrängt wurden. Allerdings fallen in diesen Zeitraum auch ihre Schwangerschaft und die Geburt ihres Kindes. Die damit verbundenen körperlichen Veränderungen und möglicherweise auch andere Schwerpunktsetzungen aufgrund dieser Situation könnten ebenfalls dazu geführt haben, dass den Symptomen weniger Aufmerksamkeit zugemessen wurde.
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Die Diagnosestellung: „Der hat es sofort erkannt.“ Margarete Ries möchte die Sensibilitätsstörungen medizinisch überprüfen lassen und geht zu ihrem Hausarzt. Sie hat, wie in der folgenden Passage zum Ausdruck kommt, keine Hypothese darüber, um welche Krankheit es sich handeln könnte, was wiederum verwundert, wenn man die Betroffenheit der Schwester berücksichtigt und daher von einem grundsätzlichen Wissen über die Krankheit und ihre Symptome in der Familie ausgeht. „Es kam bei mir mit Sensibilitätsstörungen und dann bin ich also gleich zu meinem Hausarzt gegangen, also gar nicht so zum Spezialisten oder so, weil ich ja auch nicht wusste, was es war, sondern zum Hausarzt und da muss ich wirklich sagen, dem bin ich sehr, sehr dankbar, der hat es sofort erkannt, der hat mich dann zur Untersuchung in die Nervenklinik geschickt, und er hat es sofort erkannt, ich hab ihm die Symptome beschrieben und + es war also ein sehr langes Gespräch von zweieinhalb Stunden oder so, und dann hat er mich eben in die Nervenklinik überwiesen zur Überprüfung dann und, es war eben auch der Unterschied zu meiner Schwester, bei ihr hat’s Jahre gedauert, ne, und bei mir war das sofort klar dann.“ (Int 13, S. 4f.)
Sie erlebt den Arzt als kompetent, denn er nimmt sich Zeit für ein langes Gespräch und ordnet die Symptomatik gleich richtig ein. Sie ist ihm dafür „sehr, sehr dankbar“, es bleibt allerdings offen, aus welchem Gründen die schnelle Diagnose für sie von besonderer Bedeutung ist. Darüber hinaus wird nicht deutlich, ob sie überwiegend aus retrospektiver Sicht die Dankbarkeit empfindet oder ob sie sie damals ebenfalls schon empfand. Abgesehen von der Dankbarkeit benennt sie keine weiteren Gefühle bei der Schilderung dieser Situation, die vermutlich mit einiger Intensität verbunden war, was die spezielle Thematik und auch die Dauer des Gesprächs nahe legt, die sie mit einer detaillierten Zeitangabe unterstreicht. Betont wird dagegen der Kontrast zwischen ihrer Erfahrung und der entgegengesetzten Erfahrung ihrer Schwester im Zusammenhang mit der Krankheit, auf den die Erzählerin im Verlauf des Interviews wiederholt verweist. Der Krankheitsverlauf, die Erfahrungen und der Umgang der Schwester mit ihrer Krankheit werden als Kontrastfolie herangezogen, gegen die sie ihren weniger schweren Krankheitsverlauf und ihre günstigeren Erfahrungen abgrenzt. Die Schilderung dieser Situation, in der aus dem undifferenzierten körperlichen Empfinden von Sensibilitätsstörungen eine offiziell anerkannte Krankheit mit schwerwiegenden Folgen für den Lebensverlauf wird, wirkt im oben angeführten Zitat fast unbeteiligt. Abgesehen von der Dankbarkeit berichtet die Erzählerin hier einen Sachverhalt. Sie beschreibt im Gegensatz zu anderen Interviewpartnern nicht ihre Emotionen, sondern die Umstände der Situation. Zugleich kann die Auswahl dieses Ereignisses in der lebensgeschichtlichen Präsentation und die Betonung der Dauer des Gesprächs als Hinweis auf eine besondere Bedeutung verstanden werden, die dieses Ereignis für die Erzählerin hat. Keine Auseinandersetzung: „Für mich war das total fremd, von daher hab ich mir da keine weiteren Gedanken drum gemacht.“ Margarete Ries beschreibt, dass nach der Diagnose keine Auseinandersetzung mit der Krankheit stattfindet. „Natürlich am Anfang, man überlegt sich nicht die Konsequenzen oder was da, was weiß ich im Endeffekt, das überlegt man sich nicht, für mich war das total fremd, ich kannte die Krankheit nicht, ja von meiner Schwester, aber na ja, gut, die war halt auch noch in nem Stadium, wo man ihr nichts angemerkt hat so weiter, ansonsten hab ich mich da nie mit beschäftigt und es ist
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mir nie einer, ich bin nie einem begegnet bewusst nie, also dass ich’s gewusst hätte und von daher hab ich mir da keine weiteren Gedanken drum gemacht, jetzt schon (lacht).“ >I: „also damals nicht ?“@ „Ja, also keine größeren, ich hab halt so die direkten Konsequenzen nicht gesehen, das war halt, na ja, das wird schon irgendwie werden.“ (Int 13, S. 5f.)
Sie sieht es als selbstverständlich, als „natürlich“ an, dass „man“ keine Überlegungen über die Folgen einer solchen Diagnose anstellt. Obwohl die Schwester an derselben Krankheit leidet, bleibt ihr die Krankheit „total fremd“. Auf der einen Seite erwähnt sie, dass sie in ihrem Umfeld nie jemandem mit dieser Erkrankung bewusst begegnet ist. Auf der anderen Seite ist im familialen Nahbereich ihre Schwester bereits seit einiger Zeit von Multipler Sklerose betroffen. Diesen Widerspruch glättet sie mit der Erklärung, dass „man ihr nichts angemerkt hat so weiter“, wobei das absolute „nichts“ durch das „so weiter“ relativiert wird und als Hinweis auf kleine wahrnehmbare Krankheitszeichen interpretiert werden kann, die jedoch nicht als bedeutend anerkannt werden. Die Distanz gegenüber der Krankheit drückt sich auch formalsprachlich aus („für mich war das total fremd“, „die Krankheit“). Margarete Ries möchte sich nicht mit der Krankheit „bekannt machen“, sondern eher diesen „fremden“ Status erhalten. Sie setzt sich nicht mit der Krankheit auseinander, sondern hält sie auf Distanz. Sie macht sich keine „weiteren“ oder „größeren“ Gedanken über die Konsequenzen, diese Wortwahl legt nahe, dass es kleinere Gedanken dazu gab, sie diese aber nicht ausweiten wollte. An einer anderen Stelle bestätigt sie diese Interpretation, als sie berichtet, dass sie sich anfangs „so ein bissel, aber nicht so intensiv“ (Int 13, S. 6) damit befasst hat, was sie im Rückblick als Verdrängung deutet. Überlegungen und Ängste über die weitere Entwicklung dieser Erkrankung und eine entsprechende Zukunft hält sie also in dieser Anfangssituation bewusst ab oder verdrängt sie. In ihrer Umwelt und insbesondere bei ihrer Schwester nimmt sie die Erkrankung mit ihren Folgen nicht wahr, womit sie aus rückblickender Sicht legitimiert, sich in der Situation nicht damit auseinanderzusetzen. Deutlich wird durch den Vergleich, den sie aus der gegenwärtigen Perspektive anstellt („jetzt schon“), dass sich Margarete Ries im Gegensatz zu der damaligen Zeit heute durchaus Gedanken um Konsequenzen macht und die aktuelle und zukünftige Situation als problematisch erlebt, hier also ein Wandel ihrer Sicht auf die Krankheit und das weitere Leben mit ihr stattgefunden hat. Welche Bedeutung die oben thematisierte schnelle Diagnose und auch das intensive Gespräch mit dem Arzt für ihre erste Auseinandersetzung mit der neuen Situation haben, ist nicht nachvollziehbar. Reaktionen seitens ihres Mannes, ihrer Schwester oder anderer Personen werden nicht erwähnt, als einziger Interaktionspartner in dieser Zeit wird der Arzt beschrieben. Margarete Ries sieht also in der Anfangszeit der Erkrankung keine größeren Konsequenzen, da eine Auseinandersetzung mit möglichen Folgen der Erkrankung nicht stattfindet bzw. stark begrenzt wird. Sie konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf die unbestimmte Hoffnung, dass alles „schon irgendwie werden“ wird und bringt so eine optimistische Haltung zum Ausdruck. Die Einschätzung ihrer Lage führt dazu, die Zukunft nicht in Frage zu stellen und ihren bisherigen Lebensorientierungen und ihrer gewohnten Lebensführung weiter zu folgen. Es werden keine Planungen, Handlungen und Interaktionen berichtet, die sich auf eine möglicherweise veränderte Zukunft beziehen, sondern bezeichnend ist hier
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eine Strategie der Normalisierung nach einer Irritation durch die Sensibilitätsstörungen und die Diagnose. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Orientierung an den bisherigen Lebensentwürfen: „Das lief halt so weiter alles.“ Der weitere Lebensverlauf folgt den bisherigen Entwürfen. Ihre bisherigen Lebensplanungen, das Abschließen des Lehramtstudiums und der Übergang in die Berufstätigkeit mit dem Ziel der Verbeamtung, die einem klar vorgegebenen Weg in den Lehrerberuf folgen, setzt Margarete Ries weiter um. Sie macht ihr zweites Staatsexamen und nimmt im Anschluss daran eine Vollzeitstelle an. In der Abwesenheit der Eltern kümmert sich eine Kinderfrau um den Sohn, die die Familie zur Unterstützung in dieser Lebensphase beschäftigt. Margarete Ries fasst die ersten Jahre nach der Diagnose folgendermaßen zusammen: „Am Anfang hab ich das ja, ist ja noch alles ganz normal weitergegangen, es hat ja keine Einschnitte gegeben, ich konnte ja alles mit ihm >Ihrem Sohn A.d.V.@ auch machen, also gab’s also keine jetzt großen Änderungen, das lief halt so weiter alles.“ (Int 13, S. 6)
Diese Zeit wird gerafft dargestellt als eine Fortsetzung des bisherigen Lebens. Auf kleine Änderungen, die implizit durch den Vergleichshorizont zu den „großen Änderungen“ ausgedrückt werden, wird nicht eingegangen. Einschnitte, die für sie mit konkreter Begrenzung der Handlungsfähigkeit verbunden sind, gibt es in dieser Zeit nicht, denn die körperlichen Funktionen sind noch nicht oder kaum eingeschränkt. Über Gefühle, Wünsche, Erlebnisse oder Interaktionen mit anderen in dieser Zeit erfährt man, abgesehen davon, dass sie mit ihrem Sohn noch alles machen kann, in dem knappen Bericht nichts. Der erste Satz der Passage hebt mit einer aktiven Ich-Erzählung an, diese Form wird dann jedoch unterbrochen und mit einem entpersönlichten passiven Erzählstil weitergeführt („Am Anfang hab ich das ja, ist ja noch alles ganz normal weitergegangen, es hat ja keine Einschnitte gegeben.... das lief halt so weiter alles.“). Die begonnene Ich-Erzählung könnte beispielsweise wie folgt weitergeführt werden „am Anfang habe ich das ja abwehren, ignorieren, aus meinem Leben heraushalten können“ und verweist in dieser Lesart auf die bereits oben angesprochenen Prozesse der Abwehr und Verdrängung der Krankheit. Der Wechsel zu einer versachlichten passiven Erzählform und die damit verbundene Distanzierung unterstreicht diese Deutung. Margarete Ries stellt also heraus, dass es für sie keine nennenswerten Änderungen oder Einschnitte in die gewohnte Lebensführung gibt. Normalität und bisherige Bezugspunkte werden aufrecht erhalten, die Krankheit scheint wenig präsent im Alltag und im Kontakt mit anderen zu sein. Im Widerspruch zu dieser generalisierten Sicht berichtet Margarete Ries an späterer Stelle im Interview von zwei Fehlgeburten in den Jahren nach der Diagnose und vermutet einen Zusammenhang zwischen ihnen und der Erkrankung. Ob dieser Zusammenhang nur aus der Retrospektive hergestellt wird oder auch damals schon gesehen wurde, wird nicht deutlich. Auf die Frage, ob sie sich mehr Kinder gewünscht hätte, antwortet sie, dass sie gerne noch ein weiteres, vielleicht auch noch zwei Kinder gehabt hätte, äußert sich aber nicht ausführlicher zu dem Thema. Ihr Wunsch nach mehreren Kindern scheitert an der Unmöglichkeit des Körpers, ihn umzusetzen. Es ist naheliegend, dass sie hier nicht nur einen Plan verwirft, sondern das tatsächliche Scheitern eines begonnenen Vorhabens, das erlitten wird, verarbeiten muss. Trauer und Schmerz über die verlorenen Kinder und die verlorene gemeinsame Zukunft, Trauer oder auch Wut über die begrenzte Funktion des
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Körpers können nur vermutet werden. Margarete Ries bringt weder ihre emotionale Verfassung oder die ihres Partners noch ihren gemeinsamen Umgang mit der Situation zum Ausdruck. Die Orientierung auf mehrere Kinder und eine größere Familie als biographisch relevantes Vorhaben und bedeutsame Sinnwelt muss von ihr aufgegeben werden. Dieser umfassende Verlust steht in Opposition zu der Betonung von wenig Änderung und Normalität in den ersten Jahren mit der Erkrankung. Dieser Widerspruch in der Erzählung unterstreicht jedoch ihre vorherrschende Strategie der Bewältigung, emotional zu Belastendes abzuwehren oder auszublenden und sich stattdessen auf Kontinuität und Normalität zu konzentrieren. Begrenzte Information: „Ich wollte so ein Grundwissen haben, aber mehr nicht.“ Zwei oder drei Jahre nach der Diagnose beginnt sie, sich etwas mehr über die Krankheit zu informieren, begrenzt aber dabei die Menge der Informationen. Dieser Informationsprozess wird nach ihrer Aussage durch ihre Schwester angestoßen, steht aber auch in einem zeitlichen Zusammenhang mit den oben dargestellten Versuchen, weitere Kinder zu bekommen. „Das kam, würde ich sagen, auch hauptsächlich durch meine Schwester dann, die hat sich also sehr intensiv von Anfang an eben damit beschäftigt, die ist also sowieso vom Typ her ganz anders und sie muss immer alles ganz genau wissen, also sie hat auch Biologie studiert und von daher kam wahrscheinlich auch die Verbindung eher dann, und sie hat dann also sich, ja, zugeschüttet mit Informationen eigentlich und was mir schon immer, also, naja, ich wollte das gar nicht so, also sie hat da alles was neu auf dem Markt war, das musste sie genau wissen, hat das analysiert und also genau +, das wollte ich eigentlich gar nicht, also sie hat da sich sehr, und dann bin ich dadurch dann auch auf manche Sachen gestoßen, die mich auch interessiert haben und habe das dann eben auch gelesen oder +, also sie hat halt stapelweise die Bücher an den Wänden und, das war mir zu belastend, ich wollt’s eigentlich gar nicht, ich wollt so ein Grundwissen haben, aber mehr nicht.“ (Int 13, S. 7)
Wie schon zuvor bei der Erfahrung mit der Diagnose fungiert die Schwester für Margarete Ries als Kontrastfolie, gegen die sie das eigene Verhältnis zu ihrer Erkrankung abgrenzt. Das Verhalten der Schwester, die sich sehr aktiv informiert und alles genau wissen muss, stellt Margarete Ries als Gegenpol zu ihrer Umgangsweise dar. Durch ihre Schwester wird sie immer wieder mit Informationen zu der Erkrankung konfrontiert. Die Schwester eignet sich Expertenwissen an, während Frau Ries bewusst Laie bleibt. Sie möchte es nicht so „genau wissen“ wie ihre Schwester und versucht, für sich das richtige Maß an Information zu finden. Margarete Ries macht hier deutlich, dass sie das Wissen um die Krankheit bewusst beschränkt, weil es sie sonst zu sehr belasten würde. Aktivität gibt es also im Zusammenhang mit der Abwehr oder Verdrängung, der Umgang mit der Krankheit und ihren möglichen Folgen ist eher passiv und abwartend. Sie lebt im Jetzt und hält sich durch das Nicht-Wissen einen Raum für Hoffnung und Optimismus offen. Für die Orientierung und Lebensführung bedeutet das, dass sie in der aktuellen Situation beibehalten werden können, langfristig jedoch massiv durch eventuell veränderte Bedingungen in Frage stehen. Für diese veränderten Bedingungen werden keine möglichen Konsequenzen bedacht und für deren Integration keine frühzeitigen Vorkehrungen getroffen. Über den Kontakt mit der Schwester hinaus werden keine Aktivitäten einer gemeinsamen Bewältigung, beispielsweise mit dem Partner oder über Hilfsangebote aus der Umwelt, berichtet. Das Eindringen einer auf Krankheit bezogenen Welt in die normale, gesunde Welt wird klar begrenzt.
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Die Krankheit schreitet voran: „Dann wurde es immer mehr, was geblieben ist und immer weniger, was sich wieder regeneriert hat.“ Margarete Ries arbeitet die nächsten Jahre, bis sie verbeamtet wird und nimmt anschließend eine fünfjährige Erziehungspause in Anspruch, um mehr Zeit mit ihrem Sohn zu verbringen. Nach dieser Phase zu Hause arbeitet sie wieder in einer Schule. Die Erkrankung schreitet während dieser Zeit langsam voran, aber die körperlichen Einschränkungen sind lange noch relativ gering und können gut kompensiert werden. Nachfolgend schildert sie ihren progredienten Krankheitsverlauf. „Es kamen halt immer wieder Schübe, also verschiedene, ganz verschiedener Art, also Sensibilitätsstörungen, dann ja, so + Schmerzen, also ganz verschiedene Schmerzen, die nicht weiter diagnostiziert werden konnten, ja, es waren halt so Nervenschmerzen oder wie auch immer, also, dann kam das Laufen, dass das schlechter wurde, dann hatte ich Probleme mit den Augen, dass ich also Doppelbilder gesehen hab und so, diese normalen Sachen, die man immer wieder hört, und zwei Mal im Jahr kam dann was Neues und das ist dann geblieben oder es ist schon wieder ein bisschen zurückgegangen, also am Anfang ist es immer ganz wieder zurückgegangen, also mit den Augen ist Gott sei Dank alles wieder zurückgegangen und später ist immer ein Teil geblieben und der große Teil ist zurückgegangen aber ein bestimmter Teil ist geblieben, na ja und dann, ja, wurde es immer mehr, was geblieben ist und immer weniger, was sich wieder regeneriert hat.“ (Int 13, S. 9)
Im Laufe der Zeit nehmen ihre Einschränkungen durch Entzündungsschübe zu und betreffen immer wieder neue Bereiche des Körpers. Der Prozess der Verschlechterung geht jedoch in kleinen Schritten vorwärts, denn nach Entzündungsschüben gehen die Symptome häufig wieder zurück, sodass es einerseits immer die Hoffnung gibt, dass sich ein aufgetretenes Symptom zurückbildet und sich der Körper regeneriert, andererseits aber auch eine Gewöhnung und Anpassung an die relativ kleinen Einschränkungen, die zurückbleiben, stattfinden kann. Die bleibenden Schädigungen schichten sich im Verlauf der Zeit Schritt für Schritt zu umfassenderen Beeinträchtigungen auf. Auch dieser geraffte Bericht des langfristig negativen Krankheitsverlaufs und den damit verbunden zunehmenden körperlichen Einschränkungen und Problemen weist einen überwiegend unpersönlichen und versachlichten Darstellungsmodus auf. Die neu auftretenden Symptome werden rückblickend als „normale Sachen, die man immer wieder hört“ in einen typischen Krankheitsverlauf eingereiht und so von der persönlichen Erfahrung gelöst. Lediglich in der Passage „also mit den Augen ist Gott sei Dank alles wieder zurückgegangen“ kommt eine emotionale Betroffenheit zum Ausdruck, die durch die präsentierte Erleichterung („Gott sei Dank“) implizit auf Sorge, Angst und emotionale Belastung hindeutet. Margarete Ries berichtet darüber hinaus, dass sie bei aktuellen Schüben Medikamente bekommt, um die Entzündung zu stoppen und so die Auswirkungen der Entzündungsprozesse möglichst gering zu halten. Wie bereits deutlich wurde nimmt jedoch die Krankheit im Verlauf der Jahre schrittweise mehr Raum in ihrem Leben ein. Die Krankheit wird als Stigma erlebt: „Da bin ich lieber zuhause geblieben.“ Nach 13 Jahren mit der Krankheit summieren sich die Auswirkungen der vielen Entzündungsprozesse und haben immer massivere Einschränkungen beim Gehen zur Folge. Margarete Ries benötigt einen Stock zur Unterstützung. Mit diesem Stock kommt sie sich „furchtbar alt“ (Int 13, S. 28) vor, was dazu führt, dass sie lieber zuhause bleibt, als mit
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dem Stock in die Öffentlichkeit zu gehen. Später benutzt sie zwei Krücken als Gehhilfe, eine Lösung, mit der sie sich besser arrangieren kann. „...das waren halt die Krücken, das hab ich anders gesehen, das fand ich lange nicht so schlimm wie mit einem, also ein Holzstock, ahhch (schüttelt sich), ich bin ja dann nicht mehr raus gegangen, weil ich dieses Ding nicht wollte.“ (Int 13, S. 28)
Der Holzstock symbolisiert für sie das Alter und ist so belastend für ihr Selbstbild und ihr gewünschtes Fremdbild, dass sie sich entschließt, sich zurückzuziehen, statt sich mit dem Stock öffentlich zu präsentieren. Ihre Ablehnung gegen den Holzstock bringt sie auch parasprachlich deutlich zum Ausdruck. Lieber verzichtet sie auf Kontakte und Aktivitäten als mit 40 Jahren von sich selbst oder anderen als „furchtbar alt“ (ebd.) wahrgenommen zu werden. Auf die Krücken hat sie eine andere Sicht, diese sind nicht in der gleichen Weise mit einer Bedeutung versehen, die dem Alter und damit der letzten, abschließenden Lebensphase zugeordnet sind. Menschen mit Krücken gibt es in jeder Lebensphase. Die Vorstellungen, die mit ihrer Lebensphase des mittleren Erwachsenenalters verbunden sind und die Bilder, die der Lebensphase des Alters zugeordnet werden, liegen weit auseinander. Sie unterscheiden sich besonders in Bezug auf Orientierungen, Handlungsfähigkeit, Einschränkungen und auf die jeweilige noch zu lebende Zukunft. Durch den Holzstock rücken diese beiden gegensätzlichen Perspektiven plötzlich zusammen und gehen eine Verbindung ein. Das Alter ist bereits in der Gegenwart angekommen. Für Margarete Ries ist das nicht mit ihrer Identität vereinbar und sie meidet die Situation, die sie mit diesen Zuschreibungen und Vorstellungen konfrontiert. Durch die Verschlechterung ihres körperlichen Zustandes ist sie jedoch im Verlauf der Zeit gezwungen, die Einschränkungen schrittweise in ihr Selbstbild zu integrieren, die durch die Hilfsmittel für andere und auch für sie offenbar werden. Verengung der Lebenswelt: „Ich konnte eigentlich nichts mehr machen.“ Weitere drei Jahre später ist sie anfangs nur für längere Strecken, dann immer häufiger auch in Alltagssituationen auf einen Rollstuhl angewiesen. Im Zusammenhang mit dieser Entwicklung beschreibt sie verschiedene Problemlagen. Eine komplexe Problemlage ergibt sich aus ihrer Wohnsituation. Zu dieser Zeit bewohnt Margarete Ries mit ihrem Mann und ihrem Sohn ein eigenes Haus in einem kleinen Ort in der Nähe der Stadt W. Es wird für sie zunehmend unmöglich, sich in dem Haus zu bewegen. Überall sind Schwellen und Treppen, die Barrieren bilden. In der Küche kann sie ebenfalls nichts mehr machen, da die Einrichtung nicht rollstuhlgerecht ist. Sie muss ihren Lebensraum im Haus immer weiter reduzieren, bis sie schließlich nur noch ein Zimmer bewohnt. Die Situation wirkt sich negativ auf ihre Lebensqualität aus, sie wird immer unzufriedener. Darüber hinaus belastet ihre zunehmende Begrenzung in erheblicher Weise die Beziehung zu ihrem Mann. „Ich konnte genau in ein Zimmer gehen (...) ich konnte eigentlich nichts mehr machen, ich hatte irgendwo noch ein Bett stehen, wenn ich dann irgendwelche Kleidung oder so gebraucht hab, holst du mir bitte mal, würdest du bitte mal, ja gleich, ja, wenn du was brauchst, sag’s doch, ja, jeden Abend wieder zu sagen, hilf mir bitte und leg mir meine Sachen dahin, war mir auch zu blöd irgendwann, ja, und immer diese Kniefälle tun, wenn man irgendwas haben will oder machen möchte, das ist dann schon, ja, etwas unangenehm und stressig und jeden Abend
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Empirische Ergebnisse wieder dasselbe oder immer wieder dasselbe sagen müssen, ich denk dann nur, ja, Gott, könntest ja auch mal selber dran denken, aber es kam nie.“ (Int 13, S. 13)
In dieser Situation hat Margarete Ries immer weniger Möglichkeiten, selbstständig zu handeln und ist immer mehr auf Hilfe von anderen angewiesen. Detailliert und teilweise in inneren und äußeren Dialogen schildert sie eine Alltagssituation mit ihrem Mann, in der sie ihn um etwas bittet und er ihr die Hilfe als selbstverständlich zusichert und sie ermuntert, ihn zu bitten. Diese angebotene Hilfsbereitschaft erlebt sie als widersprüchlich zu ihrer Alltagserfahrung, da sie immer wieder neu um das Gleiche bitten muss. Die Wiederholung dieser unbefriedigenden Situation führt zu einem Punkt, an dem es ihr „zu blöd“ wird, also eine Wandlung eintritt. Ihr Verhältnis zu ihrem Mann ändert sich dadurch, dass sie ihn so häufig um Hilfe bitten muss. Sie empfindet ihn als gedankenlos und unachtsam, da er nicht von selbst an die Dinge denkt, die sie regelmäßig braucht. Aus ihrer Sicht muss sie Kniefälle tun, hat also das Gefühl, sich demütigen zu müssen, damit er sie unterstützt, setzt aber zugleich die Unterstützung als normal voraus und ist enttäuscht oder wütend, wenn sie sie erbitten muss. Hier wird eine Spannung von gegensätzlichen Gefühlen in ihr und durch die doppelten Botschaften im Miteinander deutlich. Das Bitten ist nicht wirklich ein Bitten, sondern eine Forderung, die sich aus ihrer Hilflosigkeit ergibt. Die ständige Wiederholung und das damit verbundene Unterstreichen ihrer Hilflosigkeit ist „etwas unangenehm und stressig“, aber auch „zu blöd irgendwann“. Einerseits versucht sie, die Demütigung dieser Situation zu untertreiben, andererseits sich mit Stolz dagegen zur Wehr zu setzen und vermutlich als Folge davon die eigenen Ansprüche immer weiter zu reduzieren. Ihr Mann versucht einerseits, sie zu unterstützen und fühlt sich für ihre Belange zuständig, andererseits ‚vergisst’ er regelmäßige Abläufe, sodass sie ihn immer wieder von neuem bitten muss und enttäuscht von ihm ist. Hier wird die Belastung deutlich, die aus einer Situation erwachsen kann, in der Hilfe dauerhaft innerhalb einer Partnerschaft gegeben werden muss und keine freiwillige Leistung eines Partners mehr darstellt. Andere Personen oder Hilfsinstanzen tauchen in der Erzählung von Margarete Ries nicht auf. Sie beschreibt eine belastende und zermürbende Situation, in der es keinen Hinweis darauf gibt, sich von anderer Seite Hilfe zu holen, die äußere Umgebung besser anzupassen oder durch andere Strategien die Lage zu verbessern. Im Kontrast zu anderen unpersönlich gehaltenen Passagen ihrer Erzählung bringt Margarete Ries in diesem Abschnitt, der von ihrer Beziehung zu ihrem Mann handelt, ihre emotionale Befindlichkeit zum Ausdruck und offenbart durch detailliertere und dialogische Darstellungen ihre Nähe zu diesem Thema. Dies könnte als Hinweis auf eine aktuell bestehende Problematik in Bezug auf den partnerschaftlichen Lebensbereich verstanden werden, eine Interpretation, die im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt wird. In ihrem Haus hat sie „irgendwo noch ein Bett stehen“, ist also durch die Wohnsituation und ihre sehr reduzierten Möglichkeiten an diesem Ort zur Untätigkeit verurteilt. Für sie ist dort, abgesehen von dem Bett, kein Platz mehr, sie ist aus dem übrigen Haus, das früher ihr Zuhause war, ausgeschlossen. Die Lage verschärft sich weiter dadurch, dass sie über ein Jahr krank geschrieben ist und daher zeitweilig nicht mehr zur Arbeit gehen kann. Nun fällt ihr, wie sie sagt, zuhause die Decke auf den Kopf. Es ist für sie unmöglich, alleine aus dem Haus, aus dem Ort und in die Stadt zu kommen und die Isolation wird ihr schmerzhaft bewusst. Die Krankheit bestimmt mehr und mehr ihren Alltag. Die Lebensführung hat sich nicht den veränderten körperlichen Bedingungen angepasst. Das zeigt sich in der einschränkenden Umgebung und im täglichen Miteinander der Ehepartner, die nicht auf die Veränderungen vorbereitet sind und offensichtlich von den sich aufschichtenden Problem-
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lagen zunehmend überwältigt werden. Die Krankheit nimmt als Bezugspunkt für reaktives Handeln inzwischen einen großen Raum ein. Für die weiteren sozialen Kontakte und die kulturellen Interessen von Margarete Ries hat es ebenfalls Folgen, dass ihre Möglichkeiten zur Fortbewegung inzwischen so eingeschränkt sind. So muss sie es beispielsweise aufgeben, an einer Gruppe teilzunehmen, die sich zum Musizieren trifft, da sie den Weg dorthin nicht mehr bewältigen kann. „Als ich dann kein Auto mehr fahren konnte oder nicht mehr gefahren bin, da hat sich das dann erübrigt und das mit der Treppe, das hätte ich überhaupt nicht mehr geschafft da (...) von daher musst ich das dann irgendwann aufgeben, hat mir leid getan, also ich hab’s gern gemacht.“ (Int 13, S. 26f.)
Auch in diesem sozialkulturellen Bereich muss sie ihre bisherige Lebensführung einschränken und auf Aktivitäten und Kontakte verzichten, die bisher für sie bedeutsam waren. Ihre Isolation nimmt weiter zu, da sie bestimmte Orte nicht mehr erreichen kann. Das bedeutet auch, dass sie für die Teilnahme an gesellschaftlichen Aktivitäten durch den Rollstuhl auf bestimmte äußere Rahmenbedingungen angewiesen ist. Veranstaltungen kann sie nur dann noch besuchen, wenn die Orte für sie mit den nötigen Voraussetzungen wie Rampen, Aufzügen und dergleichen ausgestattet sind. Wenn das nicht der Fall ist, ist sie von diesen gesellschaftlichen Ereignissen ausgeschlossen. Auch Treffen mit Freunden kommen nur dann zustande, wenn sie zuvor geplant und organisiert werden. Spontane Besuche sind von ihrer Seite aus nicht mehr möglich. Krankheit als Problem der Partnerschaft: „Als wenn’s ihm peinlich gewesen wäre, da jemand im Rollstuhl zu fahren.“ Ihre Angewiesenheit auf den Rollstuhl führt zu einem weiteren Problem in der Partnerbeziehung. Aus ihrer Sicht ist es problematisch für ihren Mann, sich mit ihr und dem Rollstuhl als sichtbares Symbol der Krankheit in der Öffentlichkeit zu zeigen. In einer Erzählung über einen gemeinsamen Einkauf kommt diese Schwierigkeit zum Ausdruck: „Es fällt ihm schwer, so auch den Rollstuhl mal zu schieben und wenn ich dann gesagt hab, ich möchte mal gern in die Stadt gehen, (...) dann hat er mich geschoben und dann musste ich vorher sagen, wo willst du denn hin, ja in den Laden und da hin, dann musst ich so ungefähr minutenmäßig angeben, wie lang ich da brauch, so mal im Schaufenster schauen oder so, aber es war eigentlich so, dass er nur, also ich hab’s so gefühlt, als wenn er einfach, als wenn’s ihm peinlich gewesen wäre, da jemand im Rollstuhl zu fahren und bloß nicht, dass mich einer sieht, also so hab ich’s empfunden, ob’s so war, weiß ich nicht, also er ist da immer ganz, also wirklich gehastet mit mir da durch die Stadt, so und wo willst du jetzt noch hin und was möchtest du jetzt noch tun und es mussten genau die Punkte, die wurden dann abgehackt, dann hat er immer geschaut, hoffentlich sieht mich keiner, also ich hab’s so empfunden.“ (Int 13, S. 12)
Margarete Ries erzählt hier keine Geschichte von einem gemeinsamen Einkauf als Paar, sondern eine Geschichte über ihre Ablehnung als Person und in der Rolle als Ehefrau, die durch eine sichtbare Krankheit mit einem Stigma behaftet ist. Dieses Stigma färbt auch auf ihren Ehemann ab, wenn er sich mit ihr in der Öffentlichkeit bewegt. Während sie ihre früheren Schamgefühle und den damit verbundenen Rückzug aus der Öffentlichkeit scheinbar überwunden hat und in die Öffentlichkeit möchte, unterstellt sie ihm Scham- und Peinlichkeitsgefühle, wenn er mit ihr im Rollstuhl unterwegs ist und das verletzt sie. Er möchte
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offensichtlich nicht als zu der kranken Frau zugehörig identifiziert werden. Sie deutet sich als Belastung für ihn und als nicht mehr vorzeigbare Partnerin, was sie nicht explizit formuliert, sondern durch eine vorwurfsvolle Haltung mitteilt. Die Passage „also so hab ich’s empfunden, ob’s so war, weiß ich nicht“ legt den Schluss nahe, dass sein Verhalten kein Thema eines Beziehungsgespräches war und im Bereich ihrer Interpretation bleibt. Aus ihrer Sicht steht nicht sie mit ihren Bedürfnissen im Vordergrund dieser Situation, sondern ihre sichtbare und durch den Rollstuhl symbolisierte Krankheit überstrahlt alle anderen Facetten ihrer Persönlichkeit. Im Unterschied zu sonst häufig gerafften Berichten wird diese Situation mit hohem Detaillierungsgrad erzählt und verweist durch diesen Kontrast nochmals auf die aktuelle Problematik des auf Partnerschaft bezogenen Lebensbereiches. Über die Probleme und Konflikte in der Partnerschaft bringt Margarete Ries die für sie bedeutsamen Veränderungen im Zusammenhang mit ihrem Krankheitsverlauf zum Ausdruck. Rückzug ihres Partners: „Und plötzlich war das alles aus, das war alles vorbei.“ In den folgenden Jahren verschlechtert sich die Lage weiter und sie beginnt, eine behindertengerechte Wohnung in W-Stadt zu suchen. Sie möchte wieder so selbstständig wie möglich sein und ohne „dieses Bitten und Betteln“ (Int 13, S. 24) und ohne Schwellen und Stufen und Treppen. Nach zwei weiteren Jahren ist ihre Suche schließlich erfolgreich und sie zieht nach W-Stadt in eine Wohnung, in der sie mit dem Rollstuhl den Alltag alleine bewältigen kann. Da die Wohnung zentral liegt, kann sie Einkäufe alleine erledigen und sich auch sonst in der Stadt bewegen. Nur zum Saubermachen und Fensterputzen benötigt sie eine Hilfe. Das ist für sie sehr positiv, denn sie gewinnt so ein großes Maß an Freiheit und Selbstständigkeit im Alltag zurück. Diese neue positive Lage ist jedoch mit dem Bruch der Partnerschaft verbunden. Margarete Ries bezieht die Wohnung alleine, da sich im Vorfeld ihr Mann von ihr getrennt hat. Es wird in der Erzählung nicht deutlich, ob ihr Mann ihr seine Trennungsabsichten bereits in der Zeit eröffnet, bevor sie beginnt, eine behindertengerechte Wohnung zu suchen, oder ob sie anfangs noch für beide sucht und er sich dann zu diesem Schritt entschließt. Von der Erzählerin werden hier keinerlei Bezüge hergestellt. Sie schildert die Aktivitäten der Suche ausschließlich in der Ich-Form, was dafür sprechen könnte, dass er ihr seine Absichten mitteilte, bevor sie sich zu einem Umzug entschloss. Das würde allerdings bedeuten, dass sie auch durch seine Entscheidung gezwungen gewesen wäre, sich eine Wohnung zu suchen, in der sie ohne ständige Hilfe hätte leben können. Für die andere Variante spricht, dass sie bereits zuvor vielfach von Abläufen oder von sich erzählt, aber selten von anderen Personen berichtet und sie daher für beide gesucht haben könnte, ohne es explizit zu erwähnen. Verwunderlich bleibt die Tatsache, dass hier keinerlei Bezüge zwischen der Trennung und der Wohnungssuche hergestellt werden, denn faktisch erfolgt das getrennte Leben mit ihrem Einzug in die neue Wohnung. Ob ihr Mann weiterhin das ehemals gemeinsame Haus bewohnt oder ebenfalls umzieht, bleibt unerwähnt. Margarete Ries beschreibt zwar die letzten Jahre des Zusammenlebens mit ihrem Mann als problematisch, doch von seinem Trennungswunsch ist sie sehr überrascht. Er kommt für sie scheinbar völlig unerwartet, was ebenfalls die zweite Variante der Interpretation unterstützt. „Ich hab immer gedacht, mein Mann geht da gut mit um und er hat mich auch immer unterstützt und + hat versucht, das also möglichst dann, damit fertig zu werden + + mich einzubezie-
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hen, also später dann, als ich dann auch schon, ja und plötzlich war das alles aus, das war alles vorbei, er fühlte sich total überfordert, er muss sich selbst verwirklichen auf einmal, ja, und dann war’s, war Schluss, ne, und das eben miteinander in Einklang zu bringen ist schon schwer, also er hat vorher wirklich alles gemacht und alles getan und von jetzt auf sofort nix mehr +“ >I: „Hmm, so unerwartet eigentlich auch, hmm“@ „Ja, für mich auf jeden Fall, also ich hätte da ja nie dran gedacht, ne + +, und ich hab zu ihm immer gesagt, es liegt einfach an der Krankheit, es ist einfach, es ist eine Belastung, natürlich für jeden und für jeden, der mit einem kranken Menschen zusammenlebt, ist es eine Belastung.“ (Int 13, S. 11)
Aus ihrer Sicht erscheint sein Trennungswunsch plötzlich und verändert abrupt ihr Leben. Diese Entwicklung ihrer Paarbeziehung wurde von ihr scheinbar bis dahin nicht in Betracht gezogen. In ihrer stark polarisierenden Darstellung kommt zum Ausdruck, dass sie ihren Mann plötzlich als grundlegend verändert erlebt. Sein Verhalten im Zusammenhang mit der Trennung steht für sie in starkem Kontrast zu seinem bisherigen Verhalten im Umgang mit ihrer Erkrankung. Es steht ebenfalls im Kontrast zu den Annahmen, die sie über ihn und über ihre Beziehung bisher hatte. Der problematische Alltag hatte für sie offensichtlich bis dahin keine Auswirkung auf ihre weitere Orientierung an einer langfristigen gemeinsamen Lebensführung. Die Begründung ihres Mannes, sich selbst verwirklichen und daher von ihr trennen zu wollen, legt nahe, dass für ihn eine sinngebende Orientierung in einem Zusammenleben mit ihr nicht mehr möglich ist. Seine Vorstellungen über seine Identität und seine Zukunft lassen sich nicht in Einklang bringen mit ihrer veränderten Situation und einer daraus resultierenden noch möglichen gemeinsamen Zukunft. Aus ihrer Sicht ist der Trennungswunsch des Mannes eine direkte Folge der Erkrankung, da das Zusammenleben mit einem kranken Menschen für den Partner eine hohe Belastung darstellt, die er nicht mehr tragen wollte oder konnte. Nach all den Jahren eines Lebens mit der Erkrankung und den zunehmenden Einschränkungen und Problemen, die mit vielen schrittweisen Veränderungen verbunden waren, erlebt sie die Trennung von ihrem Partner als plötzlichen und bedeutsamen Bruch ihrer bisherigen Orientierung an einem gemeinsamen Leben. Auf eine solche Entwicklung ist sie, ähnlich wie bei der Krankheitsentwicklung, nicht vorbereitet und nimmt sie erst in der massiven Konfrontation wahr. Die gegenwärtige Lage: „Ferien, andere freuen sich drauf, bei mir ist es immer mehr, na ja, nicht so toll eigentlich.“ Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie seit einem Jahr in der neuen Wohnung. Einerseits ist sie wieder viel selbstständiger und hat einen größeren Handlungsspielraum als zuvor, andererseits fühlt sie sich aber auch sehr isoliert. Sie lebt jetzt ohne ihren Mann, hat aber noch regelmäßigen Kontakt zu ihm. Der gemeinsame Sohn ist erwachsen und studiert in einer anderen Stadt. Ihre Arbeit als Lehrerin in der Schule, die sie bis heute fortsetzen konnte, stellt für sie eine bedeutsame Möglichkeit für Kontakt und Bestätigung dar. Das wird ihr besonders in den Ferien deutlich, die sie „nicht so toll“ (Int 13, S. 3) findet, weil für sie eine wichtige Kontaktmöglichkeit, insbesondere zu den Kollegen, unterbrochen ist, während andere – nicht kranke Menschen – sich gerade auf diese Zeit freuen. Mit der Darstellung dieses Kontrasts zu anderen „normalen“ Personen bringt sie ihr aktuelles Empfinden des Andersseins und ihre Isolation zum Ausdruck. Den Weg in die Schule bewältigt sie mit
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Hilfe ihres Mannes, der sie morgens abholt und in die Schule fährt. Mittags bringt eine Kollegin sie nach Hause. Sie beschreibt, dass ihr Freundeskreis kleiner geworden ist, sie den Kontakt jedoch auch intensiver erlebt. Ihren kulturellen Interessen geht sie nach, indem sie Theater- oder Kinovorstellungen besucht und viel liest. Um ihre körperlichen Funktionen so weit wie möglich zu erhalten, geht sie zwei Mal in der Woche zur Krankengymnastik, ergänzt durch unregelmäßige andere Behandlungen wie Lymphdrainage oder Ergotherapie, um speziell die Bewegungsfähigkeit der Hände zu unterstützen.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT An den Anfang der Erzählung stellt Margarete Ries nach der Nennung ihres Geburtsjahrs und der Anzahl ihrer Geschwister die Krankheitsgeschichte ihrer ebenfalls an Multipler Sklerose erkrankten Schwester und deren aktuelle und für die Erzählerin beängstigende Lage. Daran schließt sie mit einer Schilderung ihrer gegenwärtigen Berufstätigkeit und ihrer zunehmenden Isolation an. Über die Kindheit berichtet sie an späterer Stelle, über ihre Jugendzeit und den Übergang ins frühe Erwachsenenalter erfährt man kaum etwas. Bereits der Anfang der Erzählung, die nach zwei Sätzen in der Gegenwart ankommt und sich im Anschluss daran mit einer beängstigenden Zukunft befasst, weist auf eine aktuell bestehende Problemlage hin. Das „Jetzt“ und das aktuelle Leid stehen im Vordergrund der Erzählung, während die Vergangenheit als weit entfernt erlebt wird. Auch im weiteren Verlauf der Erzählung bestätigt sich dieser Eindruck. Über weiter zurückliegende Zeiten berichtet die Biographieträgerin stark gerafft. Einzelne Ereignisse oder Erlebnisse werden in der Regel nicht präsentiert, jedoch tritt die Situation der Diagnosestellung hervor. Bei der Schilderung von problematischen Situationen mit ihrem Mann und zu der Lage ihrer Schwester und deren Umgangsweise mit ihrer Erkrankung sowie bei Ausführungen zu einer zunehmenden Isolation sind die erzählerische Intensität und das Detaillierungsniveau hoch. Positive Ereignisse oder Erlebnisse, von denen im Zusammenhang mit ihrer Berufstätigkeit und mit der Beziehung zu ihrem Sohn berichtet wird, tauchen selten auf. Zwischen den Erzählphasen gibt es viele, teilweise sehr lange Pausen, sodass die gesamte Erzählung eher bruchstückhaft erscheint. Immer wieder musste der Erzählfluss durch Nachfragen und aktives Zuhören in Gang gesetzt werden. Aufgrund der Inhalte und der Form ihrer Erzählung scheint die Erklärung plausibel, dass die aktuelle krisenhafte Situation von dem Bruch wesentlicher Bereiche ihrer bisherigen Orientierung und Lebensführung geprägt ist. Der Schock über den unerwarteten Verlauf der Beziehung zu ihrem Mann, die Erfahrung der Isolation und die Angst vor der möglichen weiteren Krankheitsentwicklung stehen im Vordergrund des aktuellen Erlebens und beeinflussen die Sicht auf die Vergangenheit und die Erzählweise. Die Themen der aktuellen Bewältigung werden im Folgenden genauer ausgeführt. Leiden am Verlust der Paarbeziehung: „Dass man immer abends alleine ist und so, weil das ist dann schon manchmal nicht so einfach.“ Bis zur Trennung vom ihrem Mann, die sich in dem Auszug aus dem Haus und ihrem Alleinleben manifestiert, kann Margarete Ries trotz zunehmender Einschränkungen in der Lebensführung wesentliche Lebensorientierungen fortsetzen. Sie setzt sie auch weit über die Befindlichkeit und Wünsche ihres Mannes hinaus fort, bei dem, so scheint es, bereits an einem früheren Punkt gemeinsame Orientierungen zerbrechen. Die Dekonstruktion einer
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weiteren Zukunft mit ihrem Mann ist kein von ihr aktiv gestalteter Prozess, sondern sie erleidet das Zerbrechen dieser Orientierung durch die Umorientierung ihres Mannes. Die Zeit vor der Trennung fällt mit einem Wechsel der Lebensphase zusammen, in der es für das Paar durch das Erwachsenwerden des Sohnes erforderlich ist, sich neu auszurichten. Hier kann keine neue gemeinsame Ausrichtung und Umgestaltung gefunden werden, in der eine positive Orientierung die Belastung durch die Krankheit aufwiegen könnte. Die vor einem Jahr erfolgte Trennung muss aktuell nach wie vor bewältigt werden. Im Alltag wird die Trennung zu bestimmten Tageszeiten besonders bewusst. „Zu bestimmten Zeiten hat man natürlich seine Probleme damit, das ist schon klar, dass man immer abends alleine ist und so, weil das ist dann schon + + manchmal nicht so + einfach, und wenn dann bestimmte andere Sachen noch dazu kommen, wo’s dann noch verstärkt wird, dann fällt’s dann schon schwer, also dann hm +.“ (Int 13, S. 15)
Gerade abends nimmt sie ihr Alleinsein deutlich wahr, über das sie zugleich aus einer gewissen Distanz berichtet. Nicht sie, sondern „man“ ist abends immer alleine. Wie schwierig, schmerzlich oder deprimierend sie das findet, wird parasprachlich vermittelt, aber nicht benannt. Sie stockt im Sprechen, macht lange Pausen, bricht den Satz ab oder beschreibt mit der Formulierung „nicht so einfach“ ihre negative Empfindung mit einem positiven Begriff, der anschließend verneint wird und verharmlost so ihre Gefühlslage in der Präsentation. Welche anderen „Sachen“ noch hinzukommen und die Situation erschweren, wird nicht deutlich. Diese Passage dokumentiert, dass die Isolation, die aus der Trennung von ihrem Mann resultiert, aktuell nur schwer bewältigt werden kann. Darüber hinaus muss Margarete Ries auch die zunehmende Isolation in anderen Lebensbereichen bewältigen. Wahrnehmung einer zunehmenden Isolation: „Der Kontakt zu Freunden oder so ist halt wesentlich geringer geworden.“ Die Krankheit und ihre damit verbundenen körperlichen Bewegungseinschränkungen treiben die Ausgrenzung aus der gesunden Welt immer weiter voran und führen in eine zunehmende Isolation. Margarete Ries schildert einen Erleidensprozess, der dazu führt, immer weniger teilhaben zu können und immer weiter von der normalen Welt ausgeschlossen zu werden. „Was mir jetzt auffällt, der Kontakt zu Freunden oder so ist halt wesentlich geringer geworden, es ist halt so, dass viele ja denken, nuja, wir haben unsere Freizeit, also ich sag das jetzt so, wir haben unsere Freizeit und da wollen wir tun und lassen, was wir wollen und nicht uns erst Gedanken machen, ja, können wir ja, mich jetzt mitnehmen oder können wir in das Lokal gehen oder zu der Veranstaltung gehen und, ja, + das fällt mir immer mehr auf, dass also so diese Abgrenzung wesentlich mehr geworden ist.“ (Int 13, S. 4)
Ihre zunehmende Isolation sieht sie im Zusammenhang mit ihrer fortschreitenden körperlichen Einschränkung, die nicht mit der Freizeitgestaltung der Freunde zu vereinbaren ist. Diese müssten sich mit ihrer Situation befassen und sich an sie anpassen. Aus der Sicht von Margarete Ries würde das ein gewisses Maß an Arbeit und Einfühlung in ihre Lage erfordern, etwas, das die Freunde bzw. Bekannten nicht zu leisten bereit sind. Dieses für ihre Beteiligung notwendige Einbeziehen ihrer Bedingungen erlebt sie als Behinderung der Freiräume der Bekannten. Dadurch wird sie selbst zur Behinderung für eine freie Gestal-
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tung der anderen, die das mit Ausgrenzung beantworten. In ihrer Darstellung bleibt es den Bekannten überlassen, ob sie sich rücksichtsvoll oder ausgrenzend verhalten, während sie selbst über keine aktiven Gestaltungsmöglichkeiten der Situation verfügt. Aus ihrer Sicht ist für die Freunde ein Kontakt zu ihr weniger bedeutsam als eine ungehinderte Umsetzung der Freizeitinteressen, was für sie mit einem schmerzlichen und enttäuschenden Verlust von sozialem Kontakt und sozialer Unterstützung verbunden ist. Sie betont, dass ihr die Ausgrenzung zunehmend mehr auffällt. Dies kann neben einem Fortschreiten des Ausgrenzungsprozesses auch mit der umfassenderen Isolation durch den Verlust der Partnerbeziehung im Zusammenhang stehen, durch die die Isolation in anderen Bereichen verstärkt wahrgenommen wird. Selbstbild: „Zu mir, was soll ich da sagen, ich bin eben, wie gesagt, noch berufstätig.“ Margarete Ries betont in einer Selbstaussage die Bedeutung der beruflichen Lebenslinie in ihrer Biographie, die mit entsprechenden Anpassungen eine Kontinuität in ihrem Leben darstellt. „...zu mir, was soll ich da sagen, ich bin eben, wie gesagt, noch berufstätig und + ja, würde eigentlich sagen, dass ich in meinem Beruf jetzt doch noch bissel, ja, Bestätigung oder so finde.“ (Int 13, S. 3)
Nach der Überlegung, was es über sie zu sagen gibt, definiert sie sich über ihre berufliche Rolle. Diesen Lebensbereich und ihre berufliche Identität konnte sie bis heute erhalten, während in anderen Lebensbereichen die Möglichkeiten der Teilnahme und Identifikation verloren gingen oder sich sukzessive reduzierten. In ihrem Beruf findet sie „jetzt doch noch bissel“ Bestätigung, hier erlebt sie sich als kompetent und wird von anderen anerkannt. Über den Beruf ist regelmäßiger Kontakt zu anderen gegeben, der sich nicht primär mit ihrer Krankheit, sondern mit der beruflichen Thematik befasst und dadurch Aspekte ihrer Identität, die noch nicht oder nur teilweise von der Krankheit bestimmt sind, stärkt. Die Formulierung legt nahe, dass sie nur noch in diesem Bereich zumindest ein „bissel“ Bestätigung findet, während dies in anderen vormals sinnrelevanten Lebensbereichen nicht mehr möglich ist und verweist auf hohe Verluste im Bereich ihrer sozialen Identität durch die nicht mehr vorhandene Bestätigung oder Akzeptanz durch andere. Ihr Selbstbild in Bezug auf die Erkrankung und ihre Bewältigungsweise wird im Kontrast zur Schwester in einer Gegendefinition zum Ausdruck gebracht. Die Schwester ist „sowieso vom Typ her ganz anders“ (Int 13, S. 6) und im Unterschied zu ihr ist sie „wesentlich schlimmer betroffen“ (Int 13, S. 2), denn sie hat einen konstanten Abwärtsverlauf und die Diagnose wurde bei ihr spät gestellt, sodass sie bestimmte Medikamente nicht frühzeitig nehmen konnte, die den Krankheitsverlauf eventuell gemildert oder verzögert hätten. Bei Margarete Ries ist vieles anders als bei ihrer Schwester, die Erkrankung wird bei ihr relativ schnell diagnostiziert, sie äußert sich in Schüben und verläuft langsamer und leichter im Vergleich zum Krankheitsverlauf der Schwester und die Erzählerin nimmt zu einem früheren Zeitpunkt Medikamente, um die Entzündungen zu mildern. Diese Gegendefinition deutet auf die Hoffnung hin, auch zukünftig im Vergleich zu ihrer Schwester weniger stark betroffen zu sein. Zugleich ist diese Hoffnung in der aktuellen Auseinandersetzung durch die Konfrontation mit ihrer Schwester als Pflegefall und die damit verbundenen Ängste brüchig, wie der nachfolgende Abschnitt zeigt.
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Konfrontation mit einer bedrohlichen Zukunft: „Um Gottes Willen, was kann da alles auf mich zukommen!“ Der erst kürzlich erfolgte Besuch bei ihrer ebenfalls an Multipler Sklerose erkrankten Schwester, die sie seit vier Jahren nicht gesehen hatte, beschäftigt sie sehr. Die Schwester wird in einem Pflegeheim rundum versorgt, da sie sich nicht mehr bewegen, nichts mehr selbstständig machen und kaum noch verständlich sprechen kann. Margarete Ries ist geschockt von dem Anblick, der sich ihr bietet, denn neben der Betroffenheit über das Schicksal ihrer Schwester sieht sie ihre eigene mögliche Zukunft schonungslos vor sich, etwas, das sie bisher eher vermieden oder abgewehrt hat. „Wenn ich mir denke, um Gottes Willen, was kann da alles auf mich zukommen, das ist schon, ich hab sie lange nicht gesehen, also bestimmt vier Jahre oder so hatte ich sie überhaupt nicht gesehen und kam dahin und war also total geschockt, sie sah aus, als wenn sie nicht 50, sondern 90 geworden wäre +, ja, und das ist natürlich ziemlich belastend dann, also wenn das so dann, man wirklich so damit konfrontiert wird und, ich rede mir natürlich immer ein, ja, du hast einen anderen Verlauf gehabt und es wird schon irgendwie, aber im Hinterkopf ist es natürlich.“ (Int 13, S. 3)
Margarete Ries vermittelt hier den Eindruck, dass sie nach 25 Jahren des Lebens mit der Krankheit Multiple Sklerose hier zum ersten Mal mit den schrecklichen Folgen in ihrer Gänze konfrontiert wird. Obwohl sie in der Zeit einen zwar relativ langsamen, aber doch stetigen Abwärtsverlauf mit einem permanenten Verlust von Kapazitäten erleiden musste, war es ihr doch scheinbar möglich, schlimmere Vorstellungen über den weiteren Krankheitsverlauf abzuwehren und sich lediglich mit der aktuellen Lage auseinanderzusetzen und zu arrangieren. Diese Strategie ist auch sprachlich in der Textpassage nachvollziehbar. Margarete Ries bricht den angefangenen Satz ab, wenn sie in der Weiterführung ihre Angst oder Betroffenheit zum Ausdruck bringen müsste und setzt ihre Erzählung an einem anderen Punkt fort („das ist schon, ich hab sie lange nicht gesehen...“). Als sie von ihrer Konfrontation mit der Situation der Schwester berichtet, äußert sie zunächst, sie sei geschockt gewesen, geht dann wieder zum unpersönlichen „man“ über und im Anschluss daran zu ihrer – hier bewusst geschilderten – Abwehrstrategie, sich eine positivere Zukunft „einzureden“, bringt aber auch zum Ausdruck, dass diese Vorgehensweise inzwischen fraglich geworden ist. „Es“, die Angst, die Krankheit, der Schrecken ist zu groß geworden und aus dem Hinterkopf heraus wirksam. Die Welt der Krankheit hat einen großen Einfluss auf die Gegenwart und die Zukunft gewonnen. Die Textpassage verweist auf eine aktuell bestehende Umbruchphase, in der nun eine Konfrontation mit einer negativen Zukunft und dem möglichen Verlust von weiteren Lebensbereichen bis hin zu einer völligen Unselbstständigkeit erlitten wird und nicht mehr oder nur noch teilweise vermieden werden kann. Die Hypothese über das Bestehen einer aktuellen Umbruchsituation und einer hochproblematischen Bewältigungslage wird im weiteren Verlauf des Interviews bestätigt. Sie bietet darüber hinaus eine Erklärung für den stockenden Verlauf des Interviews und die Schwierigkeit, zu Erzählungen zu gelangen. Weitere zukünftige Vorstellungen, die kaum und nur auf Nachfrage thematisiert werden, sind durch zeitlich kurze Schritte gerahmt. In Bezug auf Pläne enthalten sie „im Hinterkopf“ auch immer das, was nicht mehr geht und das, was noch kommen könnte. Im Gegensatz zu früheren Zeiten scheinen die angstauslösenden Vorstellungen näher gerückt zu sein. Sie sind heute ständige Begleiter im Hinterkopf, während sie zu Beginn der Krankheit
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kaum vorhanden waren oder in hohem Maße abgewehrt werden konnten. Wesentlich für diese im Vergleich zu den vorangegangenen Jahren veränderte Sichtweise scheinen die zunehmende körperlich erfahrene Einschränkung durch die Krankheit, das auch symbolisch wirksame Bild ihrer Schwester als Pflegefall und die sich massiv reduzierenden Möglichkeiten zu sein, die bisherige Lebensführung fortzusetzen. Beispielhaft dafür ist der erst kurz zurückliegende Verlust des bedeutenden Sinnbereiches der Partnerschaft. Im Gegensatz zu der anfänglichen eher optimistischen Haltung steht heute eher eine resignative Verarbeitung im Vordergrund.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Margarete Ries orientiert sich an einem weiblichen Muster des Normallebenslaufs mit akademischer Ausprägung. Nach dem erfolgreichen Verlauf der Schul- und Berufsausbildung realisiert sie gegen Ende ihres Studiums durch Heirat und Geburt eines Sohnes die Gründung einer Familie. Als ihr kurze Zeit später die Diagnose Multiple Sklerose gestellt wird, setzt sie sich kaum mit der Erkrankung auseinander, sondern wehrt beängstigende Informationen und Vorstellungen ab. Sie hofft auf eine positive Entwicklung und verhält sich zunächst so, als wäre die Erkrankung wenig bedeutsam für ihre Biographie. Die Irritation der Diagnose bewältigt sie mit einer Strategie der Aufrechterhaltung der bisherigen Normalität. Sie konzentriert sich weiter auf ihre bereits bestehenden Lebensorientierungen und setzt ihre bisherige Lebensführung in der privaten und beruflichen Lebenslinie fort. Auf ihre sich langsam verändernden körperlichen Bedingungen durch die Erkrankung reagiert sie schrittweise. Sie richtet sich nicht in einer vorausschauenden Planung auf mögliche Entwicklungen ein, sondern orientiert sich erst um, wenn die jeweilige Situation zu problematisch wird und sich nicht mehr halten lässt. Auf der einen Seite kann sie so viele sinnrelevante bisherige Realisationen über eine lange Zeit weiterführen. Auf der anderen Seite entstehen durch eine zunehmende Reduzierung ihrer Lebenswelt und Handlungsfähigkeit und durch das Angewiesensein auf Hilfeleistungen anderer massive Belastungen und Unzufriedenheit bei ihr und bei ihrem Partner, wofür die oben ausgeführte Situation der vielen Barrieren im Haus und dem Leben in einem Zimmer beispielhaft ist. Dieser reaktivabwehrende Bewältigungsstil ist also mit einer schleppenden Anpassung an die jeweilige Situation und den daraus entstehenden Problemen, aber auch mit einem gewissen Optimismus und der Hoffnung auf eine positive Entwicklung verbunden. Das Leben mit der Krankheit wird als sukzessive Einschränkung von Lebensqualität geschildert, bei der sich zwar die Lebensführung Schritt für Schritt verengt, die generellen Lebensorientierungen, die schon vor dem Bekanntwerden der Erkrankung bestanden, jedoch beibehalten werden. Die Biographie hat eine kontinuierliche, sich langsam wandelnde Gestalt, bei der die Krankheit anfangs am Rande des normalen Alltags steht und wenig Aufmerksamkeit bekommt, jedoch nach und nach mehr Raum einnimmt und immer mehr Bereiche des Lebens beeinflusst. Nach 24 Jahren mit der Krankheit, in denen das Aufrechterhalten der Normalität im Vordergrund stand, erlebt die Biographieträgerin einen plötzlichen Einbruch durch den Rückzug ihres Mannes, der für sie mit einer erhöhten Isolation und einer neuen Wohnumgebung verbunden ist. Die Trennung von ihrem Mann und die Konfrontation mit ihrer möglichen Zukunft als Pflegefall durch den Besuch bei ihrer
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Schwester sind zwei Komponenten, die die aktuelle Situation kennzeichnen und in der Präsentation der Erzählung zum Ausdruck kommen. Ihre mittleren bis hohen Potenziale durch das Lehrerstudium und den Beamtenstatus helfen ihr dabei, ihren Status der Berufstätigkeit aufrecht zu erhalten, der mit einer sicheren materiellen Existenz, einer beruflichen Identität und mit dem Kontakt zu Kollegen verbunden ist. Auf dieser Ebene bleibt, wenn man von der Einstufung als Behinderte absieht, ihre soziale Lage gleich. Die soziale Unterstützung, die die Erzählerin besonders über ihren Mann und einige Freunde erhält, scheint anfangs relativ hoch, nimmt aber im Verlauf ihrer zunehmenden Einschränkungen ab. In der aktuellen Lage stehen Erzählungen, die von Isolation handeln, im Vordergrund. Der Krankheitsverlauf der Multiplen Sklerose, der bei Margarete Ries durch einen langsamen Abwärtsverlauf gekennzeichnet ist, führt zu einer schrittweisen Abnahme ihrer Kapazitäten. Er beeinflusst im Zusammenhang mit diesen körperlich erfahrbaren Einschränkungen zunehmend ihre Lebensführung und schließlich auch ihre Lebensorientierung, indem bestimmte Lebensbereiche verloren gehen. Die Krankheit und eine auf Krankheit bezogene Welt werden zunächst abgewehrt, der Bezugspunkt bleibt lange die vormals normale, auf Gesundheit bezogene Welt. Erst mit der deutlichen Zunahme der körperlichen Manifestationen der Erkrankung findet eine schrittweise Integration und eine teilweise Orientierung an einer auf Krankheit bezogenen Welt statt. Die Biographie zeichnet sich bis zum Umbruch vor einem Jahr durch eine Form der kontinuierlichen Entwicklung aus, in der die Krankheit zunächst keinen massiven Einbruch, sondern nur eine Irritation darstellt und das bisherige normale Leben über lange Zeit fortgesetzt wird, in dem jedoch die Krankheit im Verlauf der Zeit zunehmend mehr Raum einnimmt. Während die Erkrankung über eine lange Zeit in Form einer schrittweisen Anpassung an die sich verschlechternden körperlichen Bedingungen und durch eine weitgehende Fortführung der bisherigen Lebensorientierung und Lebensführung bewältigt werden kann, wird der Verlust eines bedeutsamen Lebensbereiches durch Trennung vom Mann schließlich als ein umfassender Bruch erlebt. Die Brucherfahrung ist zwar ein wesentliches Merkmal des Typus B, aber bei Margarete Ries handelt es sich nicht um einen Bruch wesentlicher Lebensorientierungen in zeitlich naher Verbindung zur Diagnose, was charakteristisch für die genannte Gruppe ist, sondern um das Zerbrechen eines bedeutenden Lebensbereiches nach einem langjährigen Leben mit der Erkrankung. Für den überwiegenden Teil ihres Lebens mit der Erkrankung ist für ihre Bewältigungsweise das Muster des Typus C bestimmend, in dem die Strategie der Normalisierung im Vordergrund steht, welche erst nach 24 Jahren nicht mehr fortgesetzt werden kann. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Brucherfahrung wird das Muster der Kontinuität der Lebensorientierung mit der jeweils nötigen Anpassung der Lebensführung deutlich, weshalb dieser Fall hier auch ausführlich dargestellt wurde. Die folgenden drei – nun gerafft dargestellten – Lebenserzählungen weisen als Grundmuster ebenfalls die Strategie der Normalisierung auf, allerdings in verschiedenen Varianten und individuellen Ausprägungen.
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3.2.3.2 Biographisches Porträt 9: TONI SIEVERS Toni Sievers ist zum Interviewzeitpunkt 39 Jahre alt und lebt seit 15 Jahren mit Diabetes, das bei ihm im Alter von 25 Jahren diagnostiziert wurde. Er hat ein Studium der Mathematik mit anschließender Promotion erfolgreich absolviert, ist phasenweise als selbstständiger Mathematiker teilzeitbeschäftigt und arbeitet zur Zeit am Auf- und Ausbau einer freien Schule, die er mit seiner Frau gegründet hat. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Toni Sievers wird 1965 in einer Familie der Mittelschicht geboren. Sein Vater ist Kaufmann, seine Mutter Steuerberaterin. Mit seinen zwei Brüdern und den Eltern verbringt er seine Kindheit auf dem Land und beschreibt sie im Rückblick als glücklich oder „immer ok“ (Int 18, S. 2). Die Schulzeit bewertet er ebenfalls als „ok“ (ebd.), denn die Schule ist ihm nie schwer gefallen und er konnte darüber hinaus verschiedenen Hobbys nachgehen. Anders geht es ihm mit der Bundeswehrzeit. Er bezeichnet diese als eine „interessante, unschöne Erfahrung“ (ebd.) und begründet das damit, dass sie „so inhaltsleer“ (ebd.) und „so langweilig“ (ebd.) war. In den Ferien während der Bundeswehr absolviert er einen Steuerrechtskurs, lernt zwei Wochen lang nur Paragraphen und meint, das „hat Spaß gemacht, weil einfach das Andere so leer und stumpf war“ (ebd.). Durch den Kontrast der etwas detaillierteren Darstellung dieser Phase im Vergleich mit der bis dahin telegrammstilartigen Erzählung seiner Lebensgeschichte hebt er die Inhaltslosigkeit der Bundeswehrzeit besonders hervor und verweist darauf, dass persönliche Identifikation mit einer Arbeit und eine gewisse geistige Herausforderung für ihn eine zentrale Bedeutung haben. Im Anschluss an diesen Lebensabschnitt beginnt er, Mathematik zu studieren, um später mit Computern zu arbeiten, etwas, das er schon während der Schulzeit begonnen hat. Das Mathematikstudium fällt ihm „extrem leicht“ (ebd.). Er engagiert sich in der Fachschaft, hat dadurch viele Kontakte und unternimmt viel mit Freunden. Gegen Ende des Studiums lernt er seine zukünftige Frau kennen, die ebenfalls Mathematik studiert, und beginnt 1990, seine Diplomarbeit zu schreiben. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung In dieser Phase im Alter von 25 Jahren machen sich erste Symptome, wie beispielsweise ständiger Durst, bemerkbar. Anfangs denkt sich Tino Sievers nichts dabei, aber nachdem er fünf bis sieben Liter am Tag trinkt ändert sich das. Nun vermutet er, dass irgendwas nicht stimmt. Gemeinsam mit seiner Freundin sucht er nach medizinischer Information und sie haben den Verdacht, dass es Diabetes sein könnte. Ein anschließender Arztbesuch bestätigt mit der Diagnose von Diabetes den bestehenden Verdacht. Seine Reaktion auf die Diagnose fasst er folgendermaßen zusammen: „... habe das aber irgendwie + ja, wie ich eigentlich Vieles versuche anzunehmen einfach, so ein Lebensmotto bisschen ‚kann man machen nix, muss man kucken dumm’ es ist einfach so, ich muss damit klarkommen und das war jetzt irgendwie nicht, dass mich das da in tiefe Betrübnis gestürzt hat.“ (Int 18, S. 3)
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Er nimmt die neue Situation an und konzentriert sich darauf, „damit klarzukommen“. Dabei bleibt er emotional relativ stabil und ist nicht „in tiefe Betrübnis gestürzt“. Seine Reaktion begründet er damit, dass er realisiert, dass eine solche Erkrankung eine Restriktion darstellt, die man nicht verändern kann, sondern mit der man klarkommen muss. Rückblickend sieht er hierin ein Beispiel einer für ihn typischen Herangehensweise, die er in dem „Lebensmotto“ auf humorvolle Weise in Worte fasst. Dieses Lebensmotto scheint die Fähigkeit zu beinhalten, unveränderbare Restriktionen von veränderbaren Problemen zu unterscheiden, um anschließend pragmatisch auf die jeweils vorhandenen Bedingungen zu reagieren. In der Formulierung „habe das aber irgendwie“ kommt zum Ausdruck, dass auch andere Umgangsweisen nach einer solchen Mitteilung denkbar sind, „aber“ nicht für ihn. Er setzt sich hier gegen kontrastierende Vorstellungen ab und unterstreicht seine lösungsorientierte und konstruktive Haltung. Die Textpassage gibt einen ersten Hinweis darauf, dass sein Selbstverständnis durch die Erkrankung nicht erschüttert ist und weder im beruflichen noch im privaten Bereich Wesentliches in Frage steht. Er geht für zehn Tage in die Klinik, damit sein Blutzuckerhaushalt eingestellt werden kann und beginnt, sich gezielt zu informieren und mit der Krankheit und ihren Behandlungsformen auseinander zu setzen. Dort gibt es „schon so ein Nachdenken, was ist denn eigentlich wichtig oder was ist wirklich wichtig“ (Int 18, S. 10). Für ihn wird deutlich, dass ihm die bestehende Beziehung zu seiner Freundin wirklich wichtig ist und er in der Folgezeit forciert, mit ihr in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. In der Phase des Nachdenkens zieht er den Vergleich zu gesunden Menschen und befindet, dass es ihm nicht besser oder schlechter geht als vielen Gesunden, „...weil ja eben andere Dinge viel wichtiger sind, also wenn einer eine böse Frau hat oder so irgendwie ist eigentlich viel schlechter, als wenn einer was weiß ich was für eine Krankheit hat oder so, also deswegen, einfach das zu relativieren, das ist eigentlich kein Wertewandel in dem Sinne, sondern vielleicht nur, dass einem das noch mal klarer geworden ist vielleicht, dass das nicht so wichtig ist, ja.“ (Int 18, S. 10)
Toni Sievers bringt hier zum Ausdruck, dass er als Ergebnis seiner Reflexionen zu dem Schluss kommt, dass die bisher getroffenen Entscheidungen über das, was ihm im Leben wichtig erscheint, auch weiterhin tragen und andere Dinge wichtiger sind als eine Krankheit. Hier zeichnet sich kein Wandel ab, sondern die wesentlichen Aspekte gewinnen an Klarheit und werden bestätigt oder – bezogen auf die Paarbeziehung – forciert. Krankheit wird neben andere schwierige Lebensumstände gestellt, mit ihnen verglichen und dadurch relativiert. Die Krankheit schneidet bei dem Vergleich besser ab als beispielsweise die Option einer konfliktträchtigen, unbefriedigenden Paarbeziehung. Krankheit wird durch den Vergleich mit anderen schwierigen Lebensumständen normalisierend in einer Reihe mit problematischen Ereignissen platziert, die vielen Menschen geschehen und daher zu den normalen Herausforderungen des Lebens gehören. Seine Betroffenheit von einer Krankheit unterscheidet ihn damit aus seiner Sicht nicht von anderen Menschen und die Zugehörigkeit zur normalen Welt, zu der das „Klarkommen“ mit problematischen Umständen gehört, bleibt bestehen. Toni Sievers schildert seinen weiteren Umgang mit der Krankheit fogendermaßen: „...hab dann versucht im Grunde mein Leben so weiter zu leben wie vorher und denk auch, dass mir das eigentlich, ja, nicht denke, das ist einfach so, dass es sich wirklich nicht geändert
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Empirische Ergebnisse hat von dem her, was ich tue, weiter aktiv bin, dass ich Sport mache, dass ich + klar, halt ich natürlich kucken muss, dass eben Insulin und Zucker halt irgendwie so im Gleichgewicht ist und ein paar Mal am Tag messen und spritzen und + ein paar ganz wenige Sachen nicht esse, aber eigentlich im Grunde esse ich alles, also auch da nicht viel umgestellt hab und das halt über das Insulin anpasse und nicht über das Essen.“ (Int 18, S. 3f.)
Nicht nur in übergeordneten Lebensorientierungen, sondern auch in der Alltagsgestaltung muss er aus seiner Sicht nicht viel umstellen. Mit einem aktiven Bewältigungsstil verfolgt er das Ziel, sein Leben „so weiterzuleben wie vorher“ und macht so einerseits deutlich, dass es eine Veränderung und dadurch eine Unterbrechung des bisherigen Lebensverlaufs gab, es ihm andererseits aber gelingt, sein Leben nach einer Phase der Irritation und Information im Wesentlichen in der vorherigen Weise weiterzuführen. Er beginnt mit der Beschreibung in der Vergangenheit nach der Diagnose, um dann aus der Gegenwart rückblickend festzustellen, dass es sich nicht nur um einen Versuch gehandelt hat, sondern dass das bis heute gelungen ist und er bis in die Gegenwart seine Lebensorientierungen und seine Lebensführung fortsetzen kann. Dass er darauf achten muss, dass Zucker und Insulin im Gleichgewicht sind, bezeichnet er als „natürlich“ und erledigt dies als quasi-normale Alltagstätigkeit mit großer Selbstverständlichkeit und scheinbar mit hoher Kompetenz, eine Interpretation, die sich auch im Verlauf des weiteren Interview bestätigt. Dabei ändert er nicht wesentlich seine Essgewohnheiten, sondern nimmt die nötigen Anpassungen über das Insulin vor. Hier wird eine Strategie der Normalisierung sichtbar, die sich unter anderem dadurch zeigt, dass Toni Sievers alles das hervorhebt, was gleich bleibt oder fortgesetzt werden kann sowie die Anpassungen beschreibt, die dafür sorgen, dass wieder Normalität hergestellt wird. Er betont also den Aspekt des Normalen, während er die Veränderungen zum einen als relativ unbedeutend schildert und sie sich zum anderen unter seiner Kontrolle befinden. Die Annahme der Erkrankung, ihre Darstellung als nun alltägliches, leicht zu bewältigendes Problem und der Kompetenzerwerb im Umgang mit ihr verweist auf eine weitgehende Integration der Erkrankung in die Biographie ohne bedeutende Auswirkungen auf Identität und Lebensorientierung. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Toni Sievers schließt seine Diplomarbeit ab und beendet sein Studium erfolgreich. Er entscheidet sich zu einer Promotion, bleibt weitere fünf Jahre mit Hilfe diverser Stellen und Stipendien an der Universität und arbeitet darüber hinaus an selbstständigen Aufträgen. Diese Zeit beschreibt er zusammenfassend als „zähe Geschichte“ (Int 18, S. 4), was er unter anderem damit begründet, dass er viel alleine arbeitet. Die Menschen, mit denen er in der Studienzeit einen guten Kontakt hatte, verlassen nach und nach die Universität und es entstehen keine vergleichbaren neuen Kontakte. Im Anschluss an die Promotion heiratet er seine Freundin und beginnt mit großem Einsatz, gemeinsam mit ihr ein Haus zu bauen. Seine Frau arbeitet bereits seit einigen Jahren und so kann er sich vollständig dem Hausbau widmen. Er arbeitet über den Zeitraum eines Jahres hinweg zwischen 60 und 80 Stunden in der Woche. In dieser Zeit stellt er seine Insulinzufuhr vom „Selbstspritzen“ auf den Gebrauch einer Insulinpumpe um, da die Zuckerwerte im Zusammenhang mit seiner Lebensführung zeitweise relativ schlecht werden. „Das war eigentlich für den Zucker schon eine extreme Mischung von vierzehn-StundenTage auf der Baustelle, Steine schleppen, gleichzeitig dazu dann essen wie ein Scheunendre-
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scher, also einfach um die Energie wieder aufzunehmen, das war eigentlich dann mit noch größeren Schwankungen einfach als sie ja vorher eh schon waren (...) da hat einfach die Pumpe sehr viel geholfen.“ (Int 18, S. 27)
Die unregelmäßige Lebensführung und die extreme körperliche Belastung machen sich in größeren Schwankungen der Blutzuckerwerte bemerkbar. Daraufhin nutzt er hochentwickelte technische Möglichkeiten, um seinen Blutzuckerhaushalt besser zu kontrollieren und anzupassen. Er zieht scheinbar nicht in Betracht, auch seine Lebensführung auf mehr Regelmäßigkeit oder geringere Belastung umzustellen, sondern sucht einen anderen Weg, die Situation zu kontrollieren und zugleich seine Vorhaben ohne Einschränkung in gleicher Weise fortzuführen. Während, wie er berichtet, seine Frau anfangs Vorbehalte gegen die Pumpe hat, weil diese ständig mit dem Körper verbunden ist, stellt das für ihn kein Problem dar. Die Umstellung auf diese Form der Insulinzufuhr ist für ihn mit einer Verbesserung der Werte und einer leichteren Handhabung verknüpft. Aus heutiger Perspektive möchte Toni Sievers die Insulinpumpe nicht mehr hergeben, denn sie bedeutet für ihn mehr Lebensqualität. Nach einem Jahr Hausbau zieht er mit seiner Frau in das noch unfertige, aber schon teilweise bewohnbare Haus ein. Kurze Zeit danach kommt das erste Kind des Paares auf die Welt. Es dauert weitere drei bis vier Jahre, bis „alles so einigermaßen“ (Int 18, S. 6) fertig ist. Nun bekommen sie ein weiteres Kind. Toni Sievers arbeitet bereits wieder als selbstständiger Mathematiker erst an der Fachhochschule, dann von zu Hause aus zehn bis 15 Stunden pro Woche im Auftrag von Firmen, für die er Verfahren entwickelt und programmiert. Er arbeitet am Hausbau weiter und kümmert sich um die Kinder. Seine Frau hat ihre volle Stelle reduziert, hilft ebenfalls beim Bau und teilt sich mit ihm die Kinderbetreuung. Die Kinder gehen in einen Waldkindergarten, der im Vergleich zu herkömmlichen Kindergärten eine alternative pädagogische Richtung verfolgt. Durch die Erfahrungen dort und durch die Kontakte zu anderen Eltern, die bereits Schulkinder haben, entwickelt sich bei ihnen eine schulkritische Haltung und sie suchen für ihre Kinder nach Möglichkeiten eines alternativen Schulbesuchs. Da ihnen der Weg zu einer bestehenden alternativen Schule als zu weit erscheint, gründen sie selbst gemeinsam mit anderen Eltern als maßgebliche Initiatoren und Hauptträger der Arbeit eine Schule. Diese Initiative ist mit viel Arbeit verbunden und als die Firma zum Zeitpunkt der Schulgründung keinen Anschlussauftrag für Toni Sievers hat, begrüßt er das. Er meint, er hätte bestimmt auch einen Auftrag suchen bzw. finden können, aber er muss sich nicht noch „zusätzlich einen Stress machen, das Geld reicht, wir kommen damit aus“ (Int 18, S. 7). Zum Zeitpunkt des Interviews werden in der Schule bereits seit einem Jahr Kinder jeweils von einer Lehrerin und einem Elternteil unterrichtet. Als zweite Kraft neben der Lehrerin sind sowohl er als auch seine Frau an insgesamt vier Vormittagen eingebunden, hinzu kommen viele weitere Aufgaben und Termine, in denen es beispielsweise um pädagogische Planungen, verwaltungstechnische und organisatorische Aufgaben, um das Besorgen von Material oder um Elterngespräche geht. Toni Sievers berichtet häufig von Freunden und Bekannten in Verbindung mit den jeweiligen Aktivitäten und so gibt es aktuell viele Kontakte mit anderen über das Engagement in der Schule. Zusammenfassend ist er zufrieden mit der derzeitigen Situation, was er in folgendem evaluierenden Zitat zum Ausdruck bringt: „Das ist einfach sehr viel, was wir gerade machen, aber irgendwie ist es auch gut“ (Int 18, S. 8). Für die Zukunft verfolgt er keinen besonderen Lebensplan in dem Sinne, dass er etwas Bestimmtes erreichen möchte. Wichtig ist ihm, dass es ihm gut geht und er sich wohl fühlt. Darüber hinaus hat er die Vorstellung,
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dass er irgendwann wieder mehr als Selbstständiger tun wird. Bis heute sind bei ihm keine Spätschäden der Diabeteserkrankung aufgetreten.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT In seiner lebensgeschichtlichen Erzählung fasst Toni Sievers die Kindheit und Jugend kurz zusammen und bewertet sie positiv. Auch die Ausbildungsphase bis zum Ende der Promotion schildert er relativ knapp. Etwas detaillierter treten hier die Erzählungen über das Auftreten der Symptome bis zur Bestätigung des Verdachtes auf Diabetes durch die Diagnose und die weitere Umgangsweise mit der veränderten Situation hervor. Bedeutend detaillierter erzählt er von der Zeit nach der Promotion. Der Hausbau, die Kinder und das Projekt der Schulgründung stehen als Themen im Mittelpunkt seiner Geschichte. Neben einzelnen Projekten, wie beispielsweise der Hausbau oder die Schulgründung, bringt er explizit zum Ausdruck, dass die Beziehung zu seiner Frau eine zentrale Bedeutung für ihn hat. Darüber hinaus weisen auch seine häufig verwendeten „Wir“-Formulierungen darauf hin, dass die Beziehung eine zentrale Grundlage bildet, auf der gemeinsame Projekte verwirklicht und der Alltag bewältigt werden. Die Bewältigung der Krankheit wird als Teil des Alltags dargestellt. Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit der Erkrankung und eines detaillierten Wissens über medizinische Zusammenhänge und biologische Vorgänge im Körper reagiert er schnell und sicher auf die jeweilige Situation. Im Vordergrund der aktuellen Bewältigung stehen die Selbstverständlichkeit des Umgangs, die Nebensächlichkeit der Erkrankung im Verhältnis zur Bedeutung von anderen Aspekten des Lebens und die Relativierung und Normalisierung einer zukünftigen Bedrohung. Diese Themen sollen nun ausführlicher beleuchtet werden. Für die alltäglichen Belastungen im Zusammenhang mit der Erkrankung und der zu leistenden Arbeit findet Toni Sievers eine Metapher der Selbstverständlichkeit: „Das ist irgendwie wie Zähneputzen, ja, + Zeitaufwand ist auch jetzt extrem gering, den ich reinstecke, jetzt gerade denk ich, ja ich mach zu wenig fast, das ist mehr immer gedanklich wo man mehr dabei sein müsste, ich doch öfter vergesse zu spritzen, ich hab jetzt eine Insulinpumpe seit fünf, sechs, sieben Jahren, weiß gar nicht, seit sieben Jahren inzwischen, glaube ich, sodass ich einfach esse und dann eigentlich zum Essen praktisch einfach nur ein paar Knöpfe drücke und dann kommt das Insulin dazu und dann tue ich halt fünf, sechs mal am Tag messen, das dauert fünf Sekunden, die Messung, also rausholen, reintuen, also 20 Sekunden dann muss ich einmal in der Woche das Insulin wechseln in der Pumpe und alle zwei Tage den Katheder, das dauert wieder eine Minute, aber irgendwie, also es ist wirklich nicht viel mehr als Zähneputzen oder so was ich da jetzt rein von den konkreten, hm, ja, direkt Diabetes betroffenen Dingen dann zu tun hab, halt Arztbesuche noch zur Kontrolle, vier Mal im Jahr und Augenarzt und ist auch nicht so wild irgendwie.“ (Int 18, S. 18)
Die Metapher des Zähneputzens verdeutlicht, mit welcher selbstverständlichen Routine er die nötigen Arbeiten vornimmt. Eine Denk- oder Rechenleistung muss er dabei scheinbar nicht leisten, sondern kann sofort das nötige Insulin ergänzen. Er beschreibt hier einen mechanischen, zur Gewohnheit gewordenen Vorgang. Bezogen auf die gesamte krankheitsbezogene Arbeit rechnet er seine Arbeitsleistung in Sekunden aus und bringt damit zum Ausdruck, wie minimal der tägliche Aufwand ist. Diese Schilderung unterstreicht seine Aussage am Beginn seiner Ausführungen zu dem Thema, dass der „Zeitaufwand extrem ge-
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ring“ ist. Die Bewertung als extrem gering steht implizit im Vergleich zu der großen Zeitmenge des Tages, die mit anderen – wichtigeren – Themen gefüllt sind. Toni Sievers verweist so auf die Nebensächlichkeit und den geringen Einfluss der Erkrankung in seiner aktuellen Lebensführung. Die tägliche Bewältigung der Krankheit ist in seinen Alltag integriert und normal. Weitere von der Erkrankung betroffene Bereiche wie beispielsweise der Verlust der Freiheit und Sicherheit, den Sonja Tomms beklagt, finden hier keine Erwähnung. Bei Toni Sievers steht dagegen der Aspekt im Vordergrund, die Situation aktiv und sicher kontrollieren zu können und relativ emotionslos mit ihr umzugehen. Erst in der aktuellen Reflexion über seine tägliche Umgangsweise kommen Toni Sievers Zweifel, ob er sich nicht zu wenig damit befasst. Gerade diese Zweifel in einer aus dem alltäglichen Ablauf herausgehobenen Reflexionsphase unterstreichen seine selbstverständliche und ohne bewusste Aufmerksamkeit stattfindende Handhabung der krankheitsbezogenen Arbeit. Die Insulinpumpe kann er durch einige Knopfdrücke quasi nebenbei bedienen. Diese technische Möglichkeit ermöglicht eine noch unkompliziertere Handhabung der Einstellung des Zuckerwertes. Sie bedeutet für ihn „einfach noch mal ein Stück Lebensqualität“ (Int 18, S. 27) und er möchte sie nicht mehr missen. Wenn er, wie er erzählt, manchmal die Insulingabe vergisst und sein Wert dann kurzfristig hoch ist, nimmt er es relativ emotionslos hin und sagt, er habe gar keine Zeit, sich darüber zu ärgern, „dann ist es halt passiert, dann wird er halt wieder runterkorrigiert“ (Int 18, S. 19). Zusätzlich verweist er darauf, dass sein HP1TWert, ein Wert für Diabetiker, der aussagt, wie gut man eingestellt ist, „meistens sehr gut oder exzellent“ (ebd.) ist. Er führt an dieser Stelle medizinische Nachweise ins Feld die belegen, dass eine weitgehende Kontrolle der Situation auf hohem Niveau besteht, die seine „eigenwillige Art“ (ebd.) rechtfertigt, seinen Diabetes einzustellen, bei der er relativ oft misst und relativ schnell und scharf reagiert. Bezogen auf die Zukunft äußert er, dass es keine Gewissheit über den weiteren Verlauf gibt. „Klar, manchmal denke ich auch, wie sieht es denn aus, so 30, 40 Jahre wäre schon mal nicht schlecht mit Diabetes so gut durchzuhalten, dann bin ich aber erst, was weiß ich, wie alt bin ich dann, 55, 65, hm, eigentlich ist das ja noch kein Alter oder so, wer weiß, so, hm +, würde dann schon gerne noch länger das mit den Kindern oder den Enkeln oder wem auch immer dann auch mitkriegen, das ist dann schon + Thema, aber so richtig viel kann ich auch nicht dran ändern.“ (Int 18, S. 23)
In dieser Passage wird deutlich, dass es durchaus Momente gibt, in denen Toni Sievers die Vorstellung an eine Zukunft mit möglichen Spätschäden belastet, besonders in Bezug auf eine gemeinsame Zukunft mit der Familie und zukünftigen Familienmitgliedern. Zugleich entsteht der Eindruck, dass die Zeit, sich mit solchen Überlegungen und den entsprechenden gefühlsmäßigen Zuständen zu befassen, von ihm begrenzt wird. Darauf deuten das einführende „manchmal“ und die Beendigung des Themas mit der Feststellung, dass er daran nicht viel ändern kann, hin. Hier taucht im übertragenen Sinne wieder sein Lebensmotto auf, das er im Zusammenhang mit dem Beginn der Erkrankung beschrieben hatte. Wenn er nichts an einer Situation ändern kann, lohnt es sich auch nicht, Energie daran zu verschwenden, sondern die Energie wird dann dafür eingesetzt, die Situation so gut wie möglich aktiv zu bewältigen. In Bezug auf Gegenwart und Zukunft geht es auch darum, einen passenden Mittelweg zu finden und die verschiedenen Aspekte und Bedürfnisse auszubalancieren.
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Empirische Ergebnisse „Das muss ich auch abwägen, also ich könnte jetzt natürlich auch oder ich wüsste natürlich auch, wie ich es machen müsste, um permanent einen wunderbaren, gleichmäßigen niedrigen Blutzucker zu haben, aber dann hätte ich nicht mehr mein Leben wie ich es habe, mit allen Aktivitäten, mit allem, wo jeder Tag völlig verschieden ist, wo ich Mal vier mal am Tag Rad fahre, in die Schule, zum Kindergarten abholen und bringen und am anderen Tag nur zu Hause am Computer sitze und da ist der Zucker völlig anders, weil das einfach soviel Unterschied schon macht und auch irgendwie das gehört für mich einfach dazu, dass ich, irgendwie muss sich mein Zucker nach mir richten und nicht anders herum oder, gut, ich muss mich mit meinem Insulin danach richten, aber einfach dass das für mich auch ein Stück Lebensqualität ist, was dazu gehört und dann so in der Theorie zumindest nehme ich dafür in Kauf, dass ich dann vielleicht zwei Jahre früher irgendwelche Dinge nachher kriege und dafür aber vielleicht 30 Jahre besser gelebt habe, ja, wer weiß.“ (Int 18, S. 20f.)
Obwohl er über das Wissen verfügt, seinen Zuckerhaushalt noch perfekter einzustellen, nimmt er doch gewisse Schwankungen in Kauf, um sein Leben in der jetzigen, eher unregelmäßigen Weise zu führen. Die Qualität seiner derzeitigen Lebensführung bewertet er höher als in einer entfernten, nur theoretisch fassbaren Zukunft, zwei Jahre länger ohne Spätschäden zu leben. In der Aussage „irgendwie muss sich mein Zucker nach mir richten“ wird deutlich, dass er seine Maßstäbe über das Diktat der Krankheit setzt, die er natürlich entsprechend berücksichtigen muss, die aber nicht über seine wesentlichen Orientierungen bestimmen darf. Er kontrolliert die Situation und entscheidet auch über zukünftige Verluste, indem er sie – in begrenzter Form – aktiv in Kauf nimmt als Teil einer selbstbestimmten Wahl. Im Gegensatz zu dem Empfinden von Ohnmacht und Abhängigkeit, das einige andere Betroffene schildern, steht bei Toni Sievers die Selbstbestimmung im Vordergrund, die er auch in restriktiven Lagen empfindet, indem er dann seine Aufmerksamkeit darauf richtet, mit der Situation „klarzukommen“ und so bereits wieder aktiv handelt. In zusammenfassender Sicht entsteht der Eindruck, dass er mit seinem Leben insgesamt zufrieden ist und sich erfolgreich der Umsetzung seiner derzeitigen Lebenspläne widmet. Die alltägliche Krankheitsbewältigung ist dabei grundsätzlich wichtig und wird routiniert erledigt, aber sie steht im Hintergrund der Aufmerksamkeit.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Die Krankheit tritt am Ende seiner Studienzeit in die Biographie von Toni Sievers ein. Ein anfänglich noch als normal bewerteter Durst wird von ihm nach einiger Zeit als Krankheitszeichen gedeutet und es erfolgt eine medizinische Abklärung, als deren Ergebnis Diabetes diagnostiziert wird. Nach einer relativ kurzen Phase der Irritation, in der Toni Sievers sich aktiv mit seiner Erkrankung auseinandersetzt, steht eine Strategie der Normalisierung im Vordergrund. Die Normalisierung baut auf einer umfassenden Akzeptanz der neuen Situation sowie auf einer hohen erworbenen Kompetenz im Umgang mit der Krankheit auf, die sich in der Sicherheit der Einschätzung und Kontrolle des jeweiligen körperlichen Zustandes zeigt. Im Zusammenhang mit der Krankheit verändern sich nicht die bestehenden Lebensorientierungen, sondern deren Gültigkeit wird nach einer Reflexion über das, was wichtig im Leben ist, bestätigt. Die nötigen Anpassungen der Lebensführung werden kompetent durchgeführt und als eher gering betrachtet. Die berufliche Qualifizierung wird mit der Erkrankung fortgesetzt. Nach der Promotion gestaltet der Biographieträger seinen weiteren Lebensverlauf auf der Grundlage eines hohen Kompetenzniveaus abweichend von
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einer herkömmlichen Berufskarriere im Sinne seiner Wertvorstellungen erfolgreich, indem er teilweise selbstständig als Mathematiker oder an aufwändigen Projekten wie Hausbau oder Schulgründung arbeitet und die Kinder im Wechsel mit seiner Frau betreut. Er verfügt über hohe persönliche Potenziale, die er flexibel bei der Gestaltung seines weiteren Lebens mit der Erkrankung einsetzt und kombiniert. Neben seinen universitären Abschlüssen und den entsprechenden mathematischen Kenntnissen, die ihm den täglichen Umgang mit der Diabeteserkrankung erleichtern, zählen dazu eine hohe Lernmotivation, praktische handwerkliche Kompetenzen, Selbstvertrauen, Leistungsbereitschaft, Selbstwirksamkeit und die Fähigkeit, Kontakte und Netze zu knüpfen. Die soziale Unterstützung durch die Familie und das soziale Umfeld ist hoch. Zudem kann er soziale Unterstützung in der Phase der Auseinandersetzung durch einen aktiven Austausch im Internet mit einer Gruppe von Betroffenen gezielt generieren. Als die Krankheit auftritt, befindet sich Toni Sievers in der Lebensphase des frühen Erwachsenenalters und befasst sich dementsprechend mit dem Aufbau seiner privaten und beruflichen Linie. Die mit dem Auftreten der Erkrankung zusammenhängenden Reflexionen über das, was ihm im Leben bedeutsam ist, bekräftigen bereits bestehende Lebensorientierungen beziehungsweise forcieren deren weitere Realisierung wie beispielsweise die Entscheidung, mit der Freundin eine gemeinsame Wohnung zu beziehen. In der Regel befindet sich der Erzähler in einer gesundheitlich stabilen Situation, die allerdings einer permanenten Kontrolle und Behandlung bedarf. Der Krankheitsverlauf ist für ihn relativ gut über die Gabe von Insulin kontrollierbar und bisher ohne Spätschäden geblieben. Die Krankheit ist von außen nicht sichtbar, daher gibt es keine Reaktionen der sozialen Umwelt, mit denen er sich auseinandersetzen müsste. Er kann entscheiden, wem und wie er die Erkrankung nach außen mitteilt. Toni Sievers hat sich intensiv mit der Krankheit, ihren Bedingungen und möglichen Folgen befasst und sich dabei mit verschiedenen Aspekten einer auf Krankheit bezogenen Welt auseinandergesetzt. Nach seiner Einschätzung der Auswirkungen der DiabetesErkrankung auf sein Leben orientiert er sich jedoch im überwiegenden Teil seines Lebens an einer auf Gesundheit bezogenen Welt. Er hat die Krankheit und deren praktische Bewältigung umfassend in seinen Alltag und seine Biographie integriert, doch stehen andere Aspekte seines Lebens wie die Familie und gemeinsame Projekte deutlich im Vordergrund seiner Erzählung und bestimmen seine Identität. In der Schilderung seiner Biographie dominiert die Kontinuität der Lebensorientierung und weitgehend auch die der Lebensführung, die beginnende Erkrankung stellt eine Irritation, aber keinen Bruch dar. Die Lebensführung muss zwar auf der einen Seite auf die neue gesundheitliche Lage eingestellt werden, auf der anderen Seite geschieht dies so pragmatisch und medizinisch kompetent, dass die Normalität schnell wiederhergestellt ist. Toni Sievers hebt in seiner Erzählung den Aspekt der Selbstbestimmung bezüglich seiner Lebensführung hervor.
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3.2.3.3 Biographisches Porträt 10: BARBARA NIBUR Bei Barbara Nibur wird im Alter von 21 Jahren eine Nierenerkrankung festgestellt. Nach wechselnden Phasen an der Dialyse und mit transplantierter Niere lebt sie heute im Alter von 52 Jahren mit ihrer zweiten Spenderniere. Als Sozialpädagogin arbeitete sie zuletzt in einer hohen Führungsposition im Jugendhilfebereich und ist seit zwei Jahren berentet. Darüber hinaus ist sie auf der Basis geringfügiger Beschäftigung und ehrenamtlich im Bereich von Coaching und Personalentwicklung tätig. Sie ist geschieden und hat ein erwachsenes Pflegekind. Barbara Nibur erzählt lebendig und häufig humorvoll. Die Atmosphäre beim Interview ist offen, die Stimmung wechselt tendenziell je nach Thema zwischen spielerischer Leichtigkeit und problembeladener Schwere.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Barbara Nibur wird 1952 geboren und wächst gemeinsam mit einem vier Jahre jüngeren Bruder in der Kleinstadt K. auf. Ihre Eltern sind selbstständig und führen ein kleines Unternehmen. Vor ihrer Geburt waren in der Familie bereits zwei Kinder, bedingt durch die Kriegszeiten und schlechte Ernährungslage, gestorben und sie erinnert sich, dass es für die Eltern sehr wichtig war, dass sie überlebt. Barbara Nibur beschreibt sich als „ziemlich selbstständig von Anfang an“ (Int 8, S. 2) und als Kind, das „kaum Probleme machen wollte“ (ebd.) weil sie sieht, wie viel die Eltern „schuften“ (ebd.), um ihre Existenz aufzubauen. In diese Richtung ordnet sie es auch ein, dass sie ihnen nichts von den verschiedenen Wahrnehmungen erzählt hat, die in rückwärtiger Sicht bereits in der Kindheit auf ihre Nierenprobleme hindeuteten, wie z. B. Schmerzen beim Wasserlassen oder ein farblich veränderter Urin. Ihre Kindheit bewertet sie insgesamt als eine glückliche Zeit. Sie engagiert sich als Pfadfinderleiterin und in der Jugendarbeit, organisiert im Alter von 15 Jahren Zeltlager und übernimmt „in Gruppen eine integrative oder irgendwie motivierende Rolle“ (Int 8, S. 3). Sie absolviert mit einer mittleren Reife und einer Lehre als Industriekauffrau zuerst die von den Eltern gewünschte berufliche Richtung. Danach beschließt sie, auf die Fachoberschule zu gehen und möchte im Anschluss daran Sozialarbeit studieren. Obwohl die Eltern „schockiert“ (Int 8, S. 4) sind von diesem Wunsch, unterstützen sie Barbara Nibur finanziell und sie beginnt ein Studium in W. Als sie, nun 21 Jahre alt, zunehmend unter Kopfschmerzen leidet und sich häufiger übergeben muss, denkt sie, es handle sich um Stresszeichen. Bei einer Afrikareise verschwinden diese Symptome weil sie dort wegen der großen Hitze sehr viel schwitzt, was erst aus rückwärtiger Sicht mit dem Wissen um die Nierenproblematik nachvollziehbar wird. Zurück in Deutschland beginnen die Symptome erneut. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung Der Arzt, zu dem sie wegen der Symptome geht, da sie nun meint, eine Tropenkrankheit eingeschleppt zu haben, stellt die Nierenerkrankung fest. Er prognostiziert, dass sie in zwei Jahren an die Dialyse muss, was nach einem einwöchigen Krankenhausaufenthalt nochmals bestätigt wird. Anfangs erfasst sie den schwerwiegenden Charakter der Erkrankung nicht, der ihr auch von ärztlicher Seite nicht näher erläutert wird.
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„Ich hab halt irgendwie versucht, wieder so mit den Medikamenten und dem ganzen Zeug irgendwie klarzukommen und hab einfach weitergelebt +, irgendwie war ich schon depressiv, aber erst im Laufe der, das war wie immer, ich konnte das gut wegschieben und hab halt studiert und so, und hab dann erst im Laufe der Zeit oder auch an den Reaktionen anderer gemerkt, dass das eine schwerwiegendere Krankheit sein wird und hab dann angefangen, mich zu informieren, also da war ich eben 21 und + ja, und dann hab ich gedacht, das muss ja nicht so sein, dass du in zwei Jahren an der Dialyse bist, das kann ja auch ganz anders sein und dann hab ich erst einmal da nicht so viel Wert oder nicht so viel drauf gelegt, sondern hab gedacht, hab mich an dem orientiert, was ich eigentlich wollte, ich wollte weg aus W-Stadt wieder in eine andere Stadt und bin dann nach K-Stadt gegangen, weil da irgendein Astatreffen oder was war, so ein fortschrittlicher Asta in K-Stadt (lacht).“ (Int 8, S. 6f.)
Anfangs erhält sie die bisherige Kontinuität im Alltag überwiegend aufrecht, erwähnt zwar die gefühlsmäßige Betroffenheit und den Versuch, „mit den Medikamenten und dem ganzen Zeug irgendwie klarzukommen“, schiebt die Problematik aber in gewohnter Weise weg. Erst als ihr die Tragweite der Erkrankung durch die Reaktionen anderer bewusst wird, ändert sie ihre Strategie und beginnt, sich zu informieren. Bei der Auswertung der Informationen kommt sie zu dem Schluss, dass es neben dem ihr prognostizierten Verlauf auch noch andere mögliche Entwicklungen geben kann und setzt sich damit in der Einschätzung der Krankheit und ihrer weiteren Entwicklung über die ärztliche Definitionsmacht hinweg. Diese Bewertung der Situation scheint ihr dabei zu helfen, sich wieder an ihren bisherigen Wert- und Zukunftsvorstellungen zu orientieren und dementsprechend zu handeln. Die Erwähnung der Fortsetzung ihrer bisherigen Ausrichtung verweist auf eine Unterbrechung oder Irritation dieser Bezüge. Die in der Zeit der Bewusstwerdung und Information in den Hintergrund gerückten Orientierungen werden nun wieder aufgenommen und weitergeführt. In dieser Textpassage werden nach einer anfänglichen Phase des „Wegschiebens“ der Prozess des langsamen Bewusstwerdens der Bedeutung der Diagnose, die darauf folgende Informationsphase, die eigene Bewertung der Situation sowie die Wiederaufnahme der bisherigen Lebensorientierungen bezüglich des Studiums und des Lebensumfeldes, die auch als Strategie der Normalisierung bezeichnet werden kann, zusammengefasst. Barbara Nibur zieht in die Großstadt K. um und baut sich dort „wieder so etwas (...) wie eine ärztliche Kontrolle“ (Int 8, S. 7) auf. Eine Operation, das Einsetzen einer Plastikklappe, um den Reflux zu verhindern, wird erwogen, in ihrem Fall aber als zu spät verworfen. Sie versucht, durch spezielle Diät der Zerstörung der Nieren entgegenzuwirken. Mit 22 Jahren ist ihr klar, „was da alles kommen könnte“ (Int 8, S. 8), nun sind ihr auch die weitreichenden Konsequenzen dieser Erkrankung bewusst. Barbara Nibur spricht mit anderen nicht über ihre Erkrankung und darüber, wie es ihr geht. Die Freunde wissen zwar, dass ihr etwas fehlt an den Nieren, dass sie ohne Salz isst und ähnliches, aber darüber hinaus gibt es keinen Austausch. „Ich hab das sehr geheim gehalten (...) und >war@ zuerst überhaupt nicht in der Lage, mich zu äußern und hab dann schon angefangen, Menschen daran zu messen, wie die darauf reagieren, insbesondere meine damaligen jeweiligen Freunde und Lebenspartner hab ich im Grunde genommen getestet immer, wie zuverlässig die sind (...) und ansonsten + war’s irgendwie so, dass ich schon irgendwie Minderwertigkeitsgefühl hatte, so als Frau und krank, (...) und so hab ich aber immer in diesem Dilemma gelebt, dass ich mich gesehnt hab in eine Partnerschaft und gleichzeitig immer Angst gehabt, ich find keinen Partner, der mit Krankheit leben kann oder
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Empirische Ergebnisse mag und + das war immer, ist eigentlich heute auch noch ein Problem, jetzt steh ich mehr dazu aber da war das sehr schwierig.“ (Int 8, S. 9)
Barbara Nibur hält ihre Erkrankung „sehr geheim“, sie behält sie für sich und ist „zuerst überhaupt nicht in der Lage“, sich über ihre Situation zu äußern. Das deutet auf der einen Seite darauf hin, dass sie zu dem Zeitpunkt nicht über Strategien verfügt, über ihre (negative) Befindlichkeit und Bedürfnisse zu sprechen, und die aus der Kindheit gewohnte Strategie des Nichtmitteilens anwendet. Auf der anderen Seite lässt dieses Geheimhalten aber auch Rückschlüsse auf negative Zuschreibungen zu, die sie mit Krankheit verbindet und auf eine daraus resultierende Angst vor Ablehnung. Sie verweist in diesem Zusammenhang auf die Rolle als Frau und Partnerin. Besonders in diesem Lebensbereich scheint Krankheit für sie mit einem Makel verbunden zu sein, der verborgen werden muss. „Frau sein“ und „krank sein“, diese beiden Rollenvorstellungen stehen in Opposition zueinander und lassen sich nicht ohne Einbußen für das „Frau sein“ vereinbaren, wie in dem beschriebenen Minderwertigkeitsgefühl zum Ausdruck kommt. Barbara Nibur empfindet es als Dilemma, als permanenten Konflikt, einerseits eine Partnerschaft zu ersehen und andererseits Angst vor Ablehnung zu haben, weil ein Teil, der zu ihrem Leben gehört, kein Platz im Leben eines Partners finden könnte. Freunde, aber vor allem potenzielle Partner, werden daran gemessen, wie sie auf Krankheit reagieren. Der Umgang mit Krankheit ist eine Schwelle, ein Entscheidungskriterium für Zuverlässigkeit und Vertrauen und definiert dadurch in erheblichem Maße die Beziehung. Ihr Maßstab und damit ihre Bewertung der für sie bedeutsamen sozialen Umwelt orientieren sich an einer auf Krankheit bezogenen Welt. Etwas geheim zu halten beinhaltet, Welten zu trennen und ist verbunden mit einer gezielten Informationskontrolle in Bezug auf die Erkrankung. Der Zeitpunkt, an dem die Krankheit durch die Diagnose in die Biographie eintritt, fällt in die Zeit des frühen Erwachsenenalters. In dieser Phase ist die Thematik der Identität als Frau und potenziellen Partnerin lebensphasenspezifisch besonders bedeutsam und daher vermutlich auch in besonderem Maße zu verunsichern. Die Erkrankung hat also Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Barbara Nibur als Frau und auf eine mögliche Partnerwahl und beeinflusst so einen bedeutsamen Teil der Lebensorientierung der privaten Linie. Aus heutiger Perspektive sieht sie eine Entwicklung dahingehend, dass sie im Vergleich zu früher mehr zu ihrer Erkrankung steht, obwohl das Problem immer noch vorhanden ist. Indem sie hier ihr vergangenes Ich mit dem heutigen Ich kontrastiert, berichtet sie von einem Lernprozess, der sie zu mehr Integrität und vermutlich zu einem verbesserten Befinden in diesem Lebenszusammenhang geführt hat, wenn auch der grundsätzliche Konflikt nicht verschwunden ist. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Nach einer gescheiterten Beziehung gerät sie in eine Krise und entschließt sich zu einer Körpertherapie in Kombination mit einer Psychotherapie. Auf diese Weise initiiert sie aktiv eine Auseinandersetzung mit dem Thema und nimmt dabei professionelle Unterstützung in Anspruch, die ihr dabei hilft, „aus dieser Misere raus zu kommen“ (Int 8, S. 10). Während sie den partnerschaftlichen Lebensbereich als problematisch und durch die Erkrankung beeinträchtigt schildert, sind andere Lebensbereiche davon nicht betroffen. Weder Beziehungen zu Frauen sind problematisch, noch die zu Männern, „solange sie Freunde blieben“ (Int 8, S. 10) und nicht als „fragliche Lebenspartner irgendwie auftauchten“ (ebd.). Das Thema „Kinder“, dass zu einem frühen Zeitpunkt auf Anraten der Ärzte durch eine Sterilisation „abgehakt“ (Int 8, S. 14) wird, erwähnt Barbara Nibur nebenbei als Erläuterung eines
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Hintergrunds in Bezug auf ein anderes Thema. Ein Zusammenhang mit dem Zerbrechen einer bedeutsamen Lebensorientierung tritt nicht hervor. Den Umstand, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt ungeplant einen zehnjährigen Jungen als Pflegekind annimmt, bezeichnet sie als Geschenk, also als etwas, das eher unerwartet zum eigenen Leben hinzukommt und es bereichert. Im Berufsleben engagiert sich Barbara Nibur erfolgreich und mit Freude. „Ich hab einfach wahnsinnig viel gearbeitet, weil da schon zwei Aspekte waren, nämlich dass ich einfach gern gearbeitet hab, aber dass ich mir auch beweisen wollte selber, wie gut ich trotz der Krankheit arbeiten kann und dass es mir gelingt mit dieser Krankheit beruflich erfolgreich zu sein, und da ging’s mir weniger um den Erfolg als solchen, sondern einfach um dieses Gefühl, dass ich irgendwas kann, zu erleben (lacht) und das hat mich dann halt einfach dahin geführt und ich war immer mutig genug, obwohl ich auch, wie ich die Amtsleitung übernommen habe, wusste, dass das endlich ist, ja, dass irgendwann die Dialyse kommt, das war absehbar zu dem Zeitpunkt schon, ja, von den Werten her und so, hab ich gedacht, das machst du jetzt und wenn es dann eben nicht mehr geht, dann wird man irgend ne Lösung finden und so ist es dann auch, ich find dann immer irgend ne Lösung, (...) ja, also die Seite hab ich wirklich ausgelebt, die berufliche, und das macht mir auch heut noch Spaß, das ist mein bestes Mittel gegen Depressionen.“ (Int 8, S. 20)
Bei ihrem großen beruflichen Engagement stellt neben der Freude am Arbeiten der Wunsch, sich als kompetent und leistungsfähig zu erleben, einen bedeutsamen Teil der Motivation dar. Dieses positive Potenzial baut sie systematisch aus und die Formulierung „mein bestes Mittel gegen Depression“ lässt darauf schließen, dass sie es – heute und vermutlich auch früher – auch gezielt einsetzen kann, um ihren Zustand zu verändern oder ihre Emotionen zu kontrollieren. Barbara Nibur möchte sich beweisen, wie gut sie „trotz der Krankheit arbeiten kann“ und bringt mit dieser Formulierung ihre kämpferische Haltung zum Ausdruck. Das „trotz“ verweist auf der einen Seite auf eine Gegenbewegung zu den mit Krankheit verbundenen Einschränkungen, die sie als Herausforderungen versteht und aktiv bewältigt. Auf der anderen Seite deutet es aber auch auf stereotypische Vorstellungen und Erwartungen hin, im Zusammenhang mit Krankheit von einer schlechteren Arbeitsleistung auszugehen, gegen die sie sich zur Wehr setzt. Dabei hilft ihr ihre Eigenschaft mutig zu sein, die es möglich macht, verantwortungsvolle Führungsaufgaben zu übernehmen. In dieser Passage wird eine gerahmte Zukunft zum Ausdruck gebracht und der Umgang damit präsentiert. Sie engagiert sich, plant vor, soweit es möglich ist, ergreift Chancen, die sich ihr bieten und nimmt zugleich eventuelle Grenzen wahr. Über diese Grenzen hinaus lässt sie die Zukunft offen und vertraut auf ihre Lösungsfähigkeit. Barbara Nibur ist 35 Jahre alt, als sie die verantwortungsvolle Führungsposition übernimmt. Kurz danach lernt sie ihren zukünftigen Mann kennen. Mit 38 Jahren ist ihre Nierenfunktion so schlecht, dass sie drei Mal in der Woche für jeweils rund fünf Stunden an die Dialyse angeschlossen werden muss. Nach der Blutwäsche ist sie immer sehr erschöpft und dadurch gezwungen, entsprechend ihre Zeit zu planen und ihren Tag zu organisieren. Sie setzt jedoch ihre Arbeit in der Leitungsfunktion mit viel Engagement fort, obwohl die Dialyse eine enorme Anstrengung zusätzlich zu der normalen Arbeitsbelastung bedeutet. Barbara Nibur präsentiert den Übergang in die Dialyse mit 38 Jahren als persönlichen Erfolg, denn trotzdem man ihr zum Zeitpunkt der Diagnose zwei Jahre bis zur Dialyse prognostiziert hatte, hat sie es noch 18 Jahre mit eigener Nierenfunktion „geschafft“ (Int 8, S. 11). Als sie und ihr Mann heiraten, ist sie bereits ein halbes Jahr an der Dialyse. Einige Zeit danach wird ihr eine Niere transplantiert, was ihr wieder einen sehr viel größeren Freiraum
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in der Alltagsgestaltung, aber auch in Bezug auf Reisen verschafft. Die Beziehung zu ihrem Mann beeinflusst ihr Lebensgefühl in bedeutsamer Weise. „Diese ganze Zeit war irgendwie für mich vom Lebensgefühl her so leicht, ich hatte eigentlich, seit ich das erfuhr, dass ich nierenkrank bin, kein leichtes Lebensgefühl, aber da war das unheimlich leicht, weil er war einfach wie ein Fels in der Brandung (...) er hat mir einfach das Gefühl vermittelt, dass er für mich da ist und das war für ihn kein Problem, er ist ein Mensch, die gibt’s scheinbar auch, für die ist das kein Problem und + ja, und da hab ich einfach das Gefühl gehabt, da teilt jemand mit mir die Last und das hat mir einfach dieses wunderbare Lebensgefühl vermittelt und das war auch das Schwierigste, als wir uns getrennt haben, schwerer als was weiß ich was war das, wieder alleine mit dem ganzen Päckchen da zu stehen und da wieder eine Form für mich zu finden, wie das gehen kann.“ (Int 8, S. 13)
Ihr Mann stellt ein Gegenbeispiel zu ihren bisherigen Erfahrungen mit Partnern dar, denn ihre Erkrankung bereitet ihm keine Probleme. Das kann zu einem Teil damit zusammenhängen, dass er als Arzt selbstverständlicher mit Krankheit und der praktischen Handhabung von den damit entstehenden Problemen umgehen kann, wobei das nicht als generalisierbare Eigenschaft von Ärzten verstanden werden kann, besonders dann nicht, wenn es sich um ihr Privatleben handelt. Zum anderen verweist sie mit der Formulierung „er ist ein Mensch, die gibt’s scheinbar auch, für die ist das kein Problem“ eher auf die Besonderheit seiner Persönlichkeit, Krankheit nicht als Beziehungshindernis zu sehen. Sie erfährt im Zusammenleben eine geteilte Last und ein leichtes Lebensgefühl. Diese Leichtigkeit ist für sie mit einer besonderen Lebensqualität verbunden. Der Verlust dieser Qualität der Gemeinsamkeit und der daraus entstehenden Leichtigkeit erlebt sie als besonders schwer, als sie sich nach sieben gemeinsamen Jahren trennen. Sie muss sich nun wieder neu orientieren und eine neue Form finden, in der sie allein mit den Herausforderungen des Lebens umgehen kann. Die freundschaftliche Beziehung zu ihrem ehemaligen Mann bleibt erhalten und in wichtigen Situationen unterstützt er sie weiterhin, aber das, schildert sie, ist für sie etwas anderes als ein gemeinsam geteilter Alltag. Nach sieben Jahren wird die erste, nicht mehr funktionsfähige Niere explantiert und Barbara Nibur muss wieder regelmäßig an die Dialyse. Über ein Jahr ist sie krank geschrieben. In dieser Zeit hält sie engen Kontakt zu ihrer Arbeitsstelle, berät ihre Vertreterin und steuert wesentliche Entscheidungen weiter. Dann gibt es einen Wechsel in der Führungsebene über ihr und sie muss in Rente gehen, da ihre gesundheitliche Situation zu ungewiss für ihren neuen Chef ist. Nach der Verarbeitung dieser neuerlichen Verlusterfahrung orientiert sie sich um und baut daraufhin einen neuen Wirkungskreis aus, in dem sie Coaching, Fortbildungen und Moderationen für die Stadt auf der Basis geringfügiger Beschäftigung übernimmt, die sie an ihre jeweilige gesundheitliche Lage gut anpassen kann. Nach einigen Jahren an der Dialyse bekommt sie 2003 ihre zweite Niere, mit der es allerdings Probleme gibt. Schließlich springt die neue Niere zum spätmöglichsten Zeitpunkt doch noch an. Sie kann die Zeit der regelmäßigen Dialysetermine hinter sich lassen und gewinnt dadurch wesentliche Freiheiten zurück. Es gibt allerdings immer wieder Probleme mit bestimmten Werten, die nicht passen und entsprechende Untersuchungen und Krankenhausaufenthalte zur Folge haben, sodass sich die Situation zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht eindeutig stabilisiert hat.
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GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Barbara Nibur beginnt ihre Lebenserzählung mit ihrer Geburt und setzt sie chronologisch fort. Daran anschließend geht sie auf einzelne Themen ein, die sie sich beispielsweise bei einer Erzählung über ihre Bewältigungsstrategien selber setzt oder die sich im Zusammenhang mit Interviewerfragen ergeben. Herausgehoben sind in der Kindheit und Jugend ihr Engagement für andere, beispielsweise in der Jugendarbeit, und aus rückwärtiger Sicht die verschiedenen Krankheitszeichen, die damals als Einzelerscheinungen von ihr nicht weiter beachtet wurden, aber aus heutiger Sicht als Zeichen eines zusammenhängenden Krankheitsverlaufs interpretiert werden. Die Erzählungen des Erwachsenenalters behandeln detaillierter den Zeitraum, in dem die Symptomatik stärker hervortritt und schließlich als Nierenerkrankung diagnostiziert wird, den Prozess der Bewusstwerdung und Auseinandersetzung mit der neuen Situation, die Fortsetzung des zuvor eingeschlagenen Weges, ihre Probleme mit der Rolle als Frau und mit Paarbeziehungen, die bedeutsamen Erfahrungen mit ihrem Ehemann, den Beginn der Dialyse und den Wechsel von Dialyse und einem Leben mit transplantierter Niere, die Arbeit und das Engagement als wesentlicher Teil ihres Lebens und verschiedene Formen und Wege der Bewältigung sowie Aspekte der Auseinandersetzung mit der medizinischen Welt. Barbara Nibur erzählt einzelne Episoden detailliert und mit szenischen Anteilen, aber auch ihre vielfachen Reflexionen über Zusammenhänge und Entwicklungen werden in ihren Erzählungen deutlich. Ein für sie typischer Fokus ist der Blick auf Lernprozesse, die sie im Umgang mit verschiedenen Problemen sieht. Die detaillierte Schilderung und quantitative Betonung von Bewältigungsmöglichkeiten von Krisen steht vermutlich in Zusammenhang mit ihrer aktuellen, noch unklaren Situation in Bezug auf ihre neue Niere, die immer wieder Werte produziert, die behandlungsbedürftig sind. Als Themen der aktuellen Auseinandersetzung treten besonders die Lernprozesse in Bezug auf ihren freieren Umgang mit ihrem Kranksein gegenüber anderen Menschen, ihr verbessertes Selbstbewusstsein sowie die Bewältigung von Krisensituationen hervor. Darüber hinaus wird ihre positive Sicht auf ihr Leben, aber auch die mit der Krankheit verbundene Arbeit und Anstrengung deutlich. Eine Auswahl der genannten Themen soll im Anschluss ausführlicher dargestellt werden. Als Ergebnis aus einem 30jährigen Lernprozess kann Barbara Nibur nun im Gegensatz zu früher, als sie in dieser Hinsicht „mehr so eine Auster war“ (Int 8, S. 13), auch offensiv mit der Krankheit umgehen und „einfach damit spielen“ (Int 8, S. 12). Sie kann überlegen, wann oder ob sie etwas sagt oder ob sie es lässt und auf diese Weise den Informationsfluss in ihrem Sinne frei kontrollieren. Sehr gefordert, aber auch unterstützt wurde sie durch ihren Mann in diesem Prozess, denn er hat ihr beigebracht, sich „offensiv mit der Krankheit nach außen zu wenden“ (Int 8, S. 12), etwas, das sie bei aller Trauer über die spätere Trennung heute resümierend als wichtigen Heilungseffekt der Beziehung betrachtet. Während sie sich bei ihrer ersten Nierentransplantation durch die bestehende Paarbeziehung mit ihrem Ehemann unterstützt und daher nicht allein fühlt, besteht die Paarbeziehung bei ihrer kürzlich stattgefundenen zweiten Transplantation nicht mehr und auch wenn ihr Ex-Mann sie aktuell immer noch unterstützt, beschreibt sie sich jetzt als „allein und krank“ (Int 8, S. 15) und fürchtet die Situation. In dieser Lage macht sie im Krankenhaus eine neue Erfahrung. „...dafür hab ich jetzt andere Sachen gelernt, dadurch, dass ich jetzt alleine bin, was ich ja immer gefürchtet hab, allein und krank (lacht), tja und siehe da, es sind einfach Menschen ir-
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Empirische Ergebnisse gendwie gekommen, die + die jetzt so nah sind und mir irgendwie helfen in tragischen gesundheitlichen Situationen und das war die Erfahrung jetzt bei der Transplantation, das war für mich so eine zentrale Lebenserfahrung, dass da einfach Menschen aufgetaucht sind aus ganz unterschiedlichen Ecken, die ich alle gut kannte, aber wo nie irgendwas abgesprochen oder gedacht oder sonst was war, die waren einfach da, die sind gekommen, immer wenn’s gebrannt hat, haben sich gegen irgendwelche Doktors oder Schwestern, die gesagt haben, ihnen dürfen wir nichts verraten oder so, da durchgesetzt und waren einfach da und die haben sich abgewechselt und das war für keinen zuviel, und das war einfach ein total tolles Erlebnis, fünf Leute waren das und der Konrad war einer davon.“ (Int 8, S. 15)
Die Angst, alleine eine schwierige gesundheitliche Situation bewältigen zu müssen, wandelt sich durch die für sie „zentrale Lebenserfahrung“, dass Menschen von sich aus kommen und da sind, um sie zu unterstützen, dass diese mit ihr befreundeten Menschen sich selbstständig untereinander koordinieren und sich auch für sie mit den Autoritäten im Krankenhaus auseinandersetzen. Eine Situation, in der sie dachte, alle Last alleine tragen zu müssen, wandelt sich in eine des Vertrauens, in der sie einen Teil der Verantwortung an andere abgeben kann und diese sich intensiv um sie sorgen. Das „total tolle“ Erlebnis, in dieser schwierigen Situation nicht allein sondern von anderen umsorgt zu sein, entmachtet die Angstvorstellung „allein und krank“. Es wird zu einer „zentralen Lebenserfahrung“ und etabliert sich zu einem neuen, einflussreichen Deutungsmuster. Ihr Mann ist einer der unterstützenden Menschen, nun ist er jedoch nicht mehr die Sicherheit vermittelnde zentrale Gestalt, der „Fels in der Brandung“ (Int 8, S. 13) wie zuvor, sondern Teil einer Gruppe von fünf Personen aus ihrem Freundeskreis. Diese Geschichte weist darauf hin, dass Barbara Nibur zuvor in umfassender Weise freundschaftliche Beziehungsnetze aufgebaut haben muss, die dann in einer so schwierigen und belastenden Phase selbstständig über längere Zeit hinweg tragen und soziale Unterstützung auf hohem Niveau garantieren. Der wechselhafte Verlauf, der mit dieser Erkrankung durch die Möglichkeit einer Nierentransplantation verbunden sein kann, birgt sowohl Probleme als auch Chancen. Er kann zu umfassenden Brüchen in der alltäglichen Lebensgestaltung führen, auf die sich der Erkrankte und seine Umwelt einstellen müssen. Aber auch in einer Phase der scheinbaren Stabilität können Komplikationen auftauchen, die den Alltag und nahe liegende Zukunftspläne unterbrechen. Die folgende Passage veranschaulicht den Prozess der Unterbrechung vorhandener Pläne durch einen plötzlich notwendig gewordenen Krankenhausaufenthalt und die Suche nach einer neuen Ausrichtung. „...und dann steht das alles irgendwie wieder in den Sternen und dann muss ich mich innerlich davon verabschieden, ja und muss mich innerlich wieder davon frei machen und dann fang ich an, Pläne zu machen, ok, wenn nicht die Toskana, was dann, ein paar schöne Tage in Niederbayern oder ein paar Tage nach Tschechien und da irgendwie, also brauch ich irgendeinen Ersatz, irgendwas, was mir dann auch Spaß macht oder so, um irgendwie was zu haben, auf was ich mich freuen kann, also irgendwas muss dann sein, ich fang dann an, Pläne zu machen, Alternativen aufzubauen, ob die dann wirklich tatsächlich Realität werden, ist ja vollkommen unwichtig, wichtig ist eigentlich nur, dass ich eine Idee hab, was ich mir, was dann Schönes sein könnte und wenn ich irgendwie ein bissel Energie hab, dann realisiere ich irgendwas von diesen ganzen Sachen mit Sicherheit, aber es muss erst einmal, also wenn ich da so irgendwie dann leerer bin innerlich, weil die Tränen irgendwie mich ein wenig erleichtert haben, dann kommen auch wieder so diese Ideen und die Pläne und so, und das ist immer schon der erste Schritt, der Konrad hat immer gesagt, du sitzt im Bett, du hast die schlimmste OP hinter dir, irgendwas ist ganz schrecklich gelaufen und sobald du einen Silberblick am Horizont siehst, da gehst du los
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und machst Pläne und irgendwie hat man das Gefühl, übermorgen stehst wieder auf.“ (Int 8, S. 21)
Wenn „alles wieder in den Sternen steht“, alles offen und fraglich ist, gibt Barbara Nibur als Erstes ihre bisherigen Pläne auf, um wieder frei zu sein. Nach der Trauer über den Verlust ist es für Barbara Nibur wichtig, sofort Alternativen zu entwickeln, auf die hin sie sich positiv ausrichten kann. Im Vordergrund steht anfangs nicht die tatsächliche Umsetzung eines alternativen Planes, sondern die Möglichkeit, sich wieder von der Verlustsituation auf etwas „Schönes“, auf eine wünschenswerte Zukunft hin zu orientieren, auf die sie sich freuen kann. Dies ändert nicht nur ihre Handlungsmöglichkeiten, sondern auch ihren emotionalen Zustand in der konkreten Situation. Barbara Nibur unterstreicht dieses Vorgehen als für sie typisch, indem sie ihren Mann zitiert, der genau diese Strategie bei ihr als besonders hervorhebt. Dieser Prozess der Loslösung, Trauer und Neuausrichtung hilft ihr, „aus diesen Tiefs wieder rauszukrabbeln“ (Int 8, S. 21). Diese Tiefs erlebt sie, wie sie an anderer Stelle ausführt, immer wieder gleich intensiv, jedoch bewältigt sie sie im Vergleich zu früher in zunehmend kürzerer Zeit, was sie als einen Lerneffekt im Bewältigungsprozess interpretiert. Barbara Nibur ist seit 30 Jahren regelmäßig im Kontakt mit dem medizinischen System und verbringt phasenweise längere Zeiten im Krankenhaus. Auf der einen Seite sammelt sie dort vielfältige Eindrücke darüber, wie es anderen Menschen geht, die sich als Patienten mit ihrer Krankheit und in der medizinischen Welt zurechtfinden müssen. Auf der anderen Seite ist sie als Patientin in Beziehung zu den anderen Patienten und erlebt es als belastend, wenn diese wenig Unterstützung von ihren Angehörigen erhalten. „Also ohne Unterstützung von Menschen geht’s nicht irgendwie und das ist was, was ich so eigentlich fürchterlich erlebe, weil wie wenig Menschen haben das in den Kliniken, wenn ich das so sehe, ja (...) es gibt Partner, die hängen sich da rein und machen und tun, aber es ist dieses + seelische Alleingelassensein, was ganz viel ist, das seelische Alleingelassensein, und, klar, den letzten Gang oder letztendlich ist jeder allein, aber es gibt eben diese Momente, wo irgendwie so, ja, wo ich auch denk, wo Heilung stattfindet, ja, wenn man sich so irgendwie anlehnt oder so ein Erkennen oder so eine Hilfe oder irgendwas ist, was glaub ich auch gegenseitig ist, also auch für den anderen, nicht nur für den, der krank ist, und da gibt’s ganz viel seelische Einsamkeit zu beobachten, ganz viel, und davon fühle ich mich immer sehr betroffen, wo ich denk, ok, da sitz ich halt da und wenn jemand irgendwas von mir möchte oder wenn ich irgendwas geben kann, dann mach ich’s halt in dem Moment, aber das ist + sind so unfassbare Sachen, die für jemanden, der gesund ist, so schwer nachvollziehbar sind (...) man merkt, dass ihnen ganz viel fehlt oder dass es ihnen eigentlich nicht gut geht oder dass irgendwie, so eine tragische Geschichte wie vorletzte Woche halt, eine Türkin, die immer in Konflikt mit ihrem Mann lebt, der meint, sie geht absichtlich in die Dialyse, damit sie ihn nicht bedienen muss oder nicht zu Hause sein muss, ja + also + und jetzt will sie sich absichtlich transplantieren lassen, wo die teuren Medikamente von dem Geld bezahlt werden müssen jetzt mit der Gesundheitsreform, + der versteht Null Komma Null.“ (Int 8, S. 59f.)
In dieser Passage schildert sie ihre Sicht auf andere Patienten und deren Befindlichkeit. Sie ist von der Einsamkeit und dem seelischen Alleingelassensein mancher anderer Patienten betroffen und sieht einen Grund dafür in dem Unverständnis auf Seiten der Gesunden, die – mit graduellen Unterschieden – die Situation der Erkrankten nicht nachvollziehen können. Kranke und Gesunde leben teilweise in verschiedenen Welten. Die Berührbarkeit von Bar-
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bara Nibur in Bezug auf menschliches Leid wird hier deutlich sowie ihre Bereitschaft und ihr Bedürfnis, sich zu engagieren und Hilfe zu leisten. Als einen Aspekt von Heilung definiert sie die Heilung auf seelischer Ebene. Diese Hilfe ist in ihrer Darstellung ein wechselseitiger Prozess, sie kommt beiden Seiten, dem Kranken und dem Angehörigen, zugute. Auch dies ist ein interessanter Ansatz, der in zweifacher Weise verstanden werden könnte. Zum einen heilt oder hilft die gegebene Hilfe auch gleichzeitig dem Gebenden und zum anderen haben auch die Angehörigen Unterstützung nötig. In dieser Denkweise gibt es weniger starre Rollenvorstellungen über Gesunde und Kranke, Gebende und Empfangende. Das türkische Paar als Extrembeispiel des Lebens in zwei unterschiedlichen Welten, die durch Unverständnis weit voneinander entfernt sind, verweist darüber hinaus auf kulturelle Aspekte, die eng mit Vorstellungen über Geschlechterrollen verbunden sind. Der Frage nachzugehen, welches Verständnis von Krankheit in verschiedenen Kulturen zu welchen Konsequenzen nach dem Einsetzen einer chronischen Erkrankung führt, wäre ein sehr interessantes Unterfangen, kann jedoch im Rahmen dieser Untersuchung nur als weiterführende Frage aufgeworfen werden. In einer Gesamtschau auf ihr Leben kommt sie zu folgender Einschätzung: „Es ist schon ein Leben bisher gewesen, das sehr, sehr viel Disziplin erfordert hat und das sehr, sehr viel leben als Außenseiter, also wie lebst du als Außenseiter mit so einer Krankheit und das sehr viel innere Prozesse und Energien gebunden hat, mich immer wieder in ein Stadium zu manövrieren, wo es mir gut geht und wenn ich das rückblickend anschaue, es gibt nicht so viele Phasen, wo ich mich so leicht gefühlt hab, richtig leicht und befreit, nicht so viele. Ich würde sagen, ich habe mein Leben genossen, weil ich auch arbeiten genieße und dies und das, ja, aber es hat bisher sehr viel von mir gefordert, um diese Früchte oder so was zu ernten, ja.“ (Int 8, S. 34)
Barbara Nibur bringt hier in einem resümierenden Rückblick zum Ausdruck, wie viel Kraft und Arbeit sie für ein zufriedenes Leben mit der Krankheit aufbringen musste. Interessant ist hier die Betonung dessen, dass es viel Kraft und Disziplin erfordert, zufrieden zu leben oder sich „immer wieder in ein Stadium zu manövrieren“, in dem es ihr gut geht. Nicht das Leben mit der Krankheit an sich ist anstrengend, sondern die permanente Transformation in ein positives Lebensgefühl kostet Kraft und erfordert viel Disziplin. Auf der einen Seite offenbart diese Passage ihre ausgeprägte Handlungsfähigkeit und lässt vielfältige Potenziale vermuten, die ihr dabei zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite verweist sie auf eine innere Verpflichtung, immer wieder diese Transformation anzustreben, sich in Bezug auf eine bestimmte Qualität hin zu orientieren. Das Leben als Außenseiter, als den sie sich hier durch die Krankheit definiert, bindet viel Energie und macht viele innere Prozesse nötig. Die Position als Außenseiter bezeichnet eine Stellung, von der aus man sich außerhalb von etwas Normalem für die Mehrheit Gültigem befindet. Der Außenseiter steht am Rande und blickt auf die Mehrheitsgesellschaft. Um auch an der Mehrheitsgesellschaft teilnehmen zu können, muss er Perspektiven, aber auch Bezugssysteme und Verhaltensweisen der verschiedenen Welten des Normalen und des Außenseiters kennen und sie flexibel einsetzen können. Dieses Wandeln zwischen den Welten, die dazugehörigen Interaktionen mit anderen und die Regulationen bezüglich der eigenen Identität und dem jeweiligen emotionalen Befinden erfordern zusätzliche Energie. Barbara Nibur hat einen übergeordneten Orientierungsrahmen, den sie als „humanistisches Wertesystem“ (Int 8, S. 31) bezeichnet. Im täglichen Leben bedeutet dies, sich im
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sozialen Bereich, in der Arbeit mit anderen Menschen zu engagieren. In Bezug auf die Zukunft hat sie keine bestimmten Pläne, sie weiß nur, dass sie „engagiert bleiben will und wenn das nicht geht in meinem Beruf dann irgendwo anders bei Amnesty oder sonst wo“ (Int 8, S. 29). Das Engagement bezeichnet sie als festen Bestandteil ihres Lebens und weist so auf einen übergeordneten Aspekt der Lebensorientierung hin. Reisen, Lernen und die Begeisterung für Neues, aber auch das Weitergeben eigener Erfahrungen sind für sie bisher und auch in der Zukunft bedeutsam. Sie wünscht sich weiterhin, noch einmal eine Paarbeziehung aufbauen zu können.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Barbara Nibur schildert eine positive Kindheit und Jugend, in der sie im Rückblick bereits Anzeichen der Symptomatik der Nierenerkrankung erkennt. Als sie sich im Übergang zum frühen Erwachsenenalter befindet, tritt mit der Wahrnehmung von deutlichen Symptomen und anschließenden Arztbesuchen die Diagnose der chronischen Krankheit bewusst in ihr Leben ein. Am Ende einer Phase der Irritation, in der nach einer langsamen Bewusstwerdung der Schwere der Erkrankung eine Auseinandersetzung mit ihr erfolgt, sieht sie neben der medizinischen Prognose über ihre auf zwei Jahre begrenzte Nierenfunktion noch alternative Möglichkeiten. Sie setzt ihren zuvor eingeschlagenen Ausbildungs- und Berufsweg fort und stellt ihre Lebensführung im Bereich der Ernährung auf die Bedingungen der Erkrankung ein, um den weiteren Krankheitsverlauf positiv zu beeinflussen. Es erfolgt also eine Normalisierung des alltäglichen Lebens und eine Wiederaufnahme bisheriger Lebensorientierungen. Allerdings gibt es durch die Krankheit eine Verunsicherung und Problematisierung in Bezug auf ihre Rollenvorstellungen als Frau und Partnerin, die im weiteren Lebensverlauf wiederholt bearbeitet wird und langfristig durch negative und positive Erfahrungen zu mehr Selbstbewusstsein und Integrität in der Rolle als Frau mit einer chronischen Erkrankung führt. Während einer erfolgreichen beruflichen Laufbahn wird 18 Jahre nach der Diagnose die Dialyse unumgänglich. Es gibt einen umfassenden Bruch des alltäglichen Lebens, das völlig neu organisiert und auf die neuen Bedingungen eingestellt werden muss. Auch emotional und auf der Ebene der Identität muss diese neue Situation bewältigt werden. Die übergeordneten Lebensorientierungen der beruflichen und privaten Linie werden jedoch fortgesetzt. Daran schließt sich ein neuerlicher Bruch der Lebensführung durch eine Nierentransplantation an, der nun allerdings mit mehr Freiheit in der Alltagsgestaltung verbunden ist und eine deutliche Verbesserung darstellt. Weitere Brüche folgen. Die Trennung vom Ehemann einige Jahre danach ist mit einer Brucherfahrung verbunden, nun muss die Last der Bewältigung wieder alleine getragen werden. Eine weitere Brucherfahrung folgt, als Barbara Nibur neuerlich dialysepflichtig wird. Auch die berufliche Linie ist dieses Mal mit betroffen, da sie nun die doppelte Belastung nicht mehr bewältigen kann und daher in den Krankenstand geht, aus dem heraus sie ihre Vertreterin allerdings weiter intensiv berät. Als sie die Berufstätigkeit und die damit verbundene Leitungsfunktion ganz aufgeben muss und in den Rentenstatus wechselt, wird dies von ihr als bedeutender Verlust empfunden. Zugleich baut sie eine neue berufliche Perspektive innerhalb ihres bestehenden beruflichen Umfeldes auf. Sie übernimmt beratende und anleitende Funktion im Bereich der Personalentwicklung auf der Basis geringfügiger Beschäftigung neben dem Rentenstatus oder auf ehrenamtlicher Basis, die sie nun als ihre Arbeit bezeich-
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Empirische Ergebnisse
net. Die Transplantation einer neuen Niere ist ein neuerlicher Bruch mit einer Wendung zum Positiven, aber auch mit Komplikationen. Beim Fall von Barbara Nibur könnte man durch die Bedingungen der Erkrankung und ihrer Form der Bewältigung davon sprechen, dass die Brucherfahrung normalisiert wird und sie trotz bedeutender Verluste wesentliche Lebensorientierungen fortsetzen kann, auch wenn sie die Lebensführung immer wieder neu und umfassend auf die veränderten Situationen einstellen muss. Phasenweise schildert sie einen reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil, insgesamt steht jedoch ihr aktiv-konfrontierendes Bewältigungssverhalten deutlich im Vordergrund. In der Biographie der Erzählerin gibt es erst einen beruflichen Aufstieg mit der Krankheit, später dann einen Abstieg durch die Erwerbsunfähigkeit in der zweiten Dialyseperiode. Sie kann jedoch, ähnlich wie Jelka Uhl, eine Parallelkarriere auf der Basis ihrer bisherigen beruflichen Kontakte und Erfolge aufbauen und identifiziert sich nicht mit dem Status als Rentnerin, sondern mit ihrer beruflichen Aufgabe. Sie verfügt über hohe persönliche Potenziale in Form von ausgeprägten Problemlösungsfähigkeiten, Lernbereitschaft, Führungsqualitäten, soziales Engagement und der Fähigkeit, Netze zu knüpfen. Die soziale Unterstützung, die sie zu leisten bereit ist und auch diejenige, die sie selbst erhält, ist hoch und hilft ihr auch in gesundheitlich schwierigsten Phasen umfassend bei der Krankheitsbewältigung. Die Krankheit tritt im frühen Erwachsenenalter in das bewusste Leben der Biographieträgerin ein und trifft dabei auf Orientierungs- und Aufbauprozesse im beruflichen und privaten Bereich. Während der eingeschlagene Weg der beruflichen Entwicklung fortgesetzt wird, beschreibt sie eine Verunsicherung der Identität als Frau und der Interaktion mit potenziellen Partnern. Trotz der prognostizierten Schwere der Erkrankung kann Barbara Nibur den Krankheitsverlauf durch eine angepasste Lebensführung mildern, und erleidet erst nach 18 Jahren massive Einschränkungen durch die Dialyse und daran anschließende Wechsel von Transplantation, Dialyse und neuerlicher Transplantation. Unter Einbeziehung einer auf Krankheit bezogenen Welt findet besonders durch den beruflichen Erfolg eine Durchsetzung in einer auf Gesundheit bezogenen Welt statt. Durch längere Phasen des Krankenhausaufenthalts oder regelmäßige Behandlungen dort ist sie vertraut mit der medizinischen Welt der Krankheit und der Patienten und beschreibt sie als Nebenwelt. In dieser Lebensgeschichte wird eine weitgehende Integration der Krankheit in die Biographie als Ergebnis eines 30jährigen Lernprozesses der Krankheitsbewältigung präsentiert. Die Integration findet in gewisser Weise auch darüber hinaus rückwärtig in die Vergangenheit der Kindheit und Jugend statt, da damalige wiederkehrende Symptome nun in ihrem Zusammenhang als Anzeichen der schon vorhandenen Nierenerkrankung gesehen werden. Im Vordergrund der Lebenserzählung steht die Kontinuität von wesentlichen Lebensorientierungen, zugleich enthält sie aber auch diverse Brüche und Wandlungen, die mit der Erkrankung und ihrem Verlauf im Zusammenhang stehen. Der Wandel stellt eine wiederholte biographische Erfahrung dar und wird mit Hilfe einer relativierenden Sicht (“alles ist relativ“ Int 8, S. 64) als ein normaler Teilaspekt in die Kontinuität des Lebens integriert. Dieser Fall weist also neben wesentlichen Elementen des Typus C zugleich auch einige Elemente des Typus B auf und ist daher am Übergang von Typus C zu Typus B zu verorten.
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3.2.3.4 Biographisches Porträt 11: KARL WITTKO Karl Wittko ist zum Interviewzeitpunkt 78 Jahre alt. Wegen eines Nierenversagens vor acht Jahren ist er seit seinem 70. Lebensjahr auf die Dialyse angewiesen. Karl Wittko verfügt über keine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung und hatte über 40 Jahre die Position eines Schichtleiters in einem Werk inne. Heute ist er Rentner, verheiratet und hat zwei Kinder und zwei Enkel. Sein Fall wird gekürzt als zusammenfassene Analyse dargestellt.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Nach dem Durchlaufen der Lebensphasen der Kindheit, Jugend und des frühen und mittleren Erwachsenenalters erleidet Karl Wittko im späteren Erwachsenenalter ein Nierenversagen, das zu einer lebenslangen Anhängigkeit von der Dialyse führt. Seine berufliche Lebenslinie hat er zu diesem Zeitpunkt bereits seit sieben Jahren beendet. Die chronische Erkrankung tritt plötzlich während eines Krankenhausaufenthaltes wegen einer anderen Problematik auf. Sie tritt als gefährliche gesundheitliche Krise in Erscheinung und kann nach der ersten akutmedizinischen Behandlung mit regelmäßiger Blutwäsche an einem Dialysegerät kontrolliert werden. Nachdem für Karl Wittko klar ist, dass es zu der Dialyse keine Alternative gibt, reiht er dieses Problem zu den anderen Aufgaben, die das Leben stellt, ein, passt seine Lebensführung an die neuen Bedingungen an und setzt seine bisherigen Lebensorientierungen fort. In seiner Erzählung hebt der Biographieträger seinen aktiven Bewältigungsstil in Bezug auf die Erkrankung, aber auch allgemein in Bezug auf die Bewältigung von Problemen sowie seine gute körperliche Konstitution hervor. Im Hinblick auf die soziale Lage des Erzählers gibt es im Vergleich mit seiner Herkunftsfamilie Abstiegsprozesse, die im Zusammenhang mit der Zeitgeschichte, nicht aber mit der Erkrankung stehen. Während seine Familie aus akademischen Kreisen stammt und auch er vor dem Krieg das Gymnasium besucht hatte, schließt er nach dem Krieg weder seine Schul- noch seine Berufsausbildung ab und arbeitet auf Hilfsarbeiterniveau, kann jedoch relativ schnell als Schichtleiter „das Höchste dieser Klasse“ (Int 21, S. 14) erreichen. Es gibt also einen beruflichen Aufstieg, der aber auf diese „Klasse“ beschränkt bleibt. Zugleich tritt in der Erzählung ein Selbstverständnis der Lebenstüchtigkeit hervor, das sich vermutlich durch die Erfahrungen des Krieges und der Gefangenschaft herausgebildet hat. Karl Wittko berichtet nicht von Hypotheken, die ihn beeinträchtigen, sondern grenzt sich von der psychischen Labilität seines Vaters ab und hebt seine Fähigkeiten zur Bewältigung von problematischen Situationen hervor. Die aktuelle soziale Unterstützung innerhalb der Familie ist hoch und scheint auch in der Vergangenheit auf hohem Niveau vorhanden gewesen zu sein. Darüber hinaus gibt es im Bekanntenkreis regelmäßige Kontakte zu Freunden und ehemaligen Kollegen. Durch das Nierenversagen ist Karl Wittko von einer schweren chronischen Erkrankung betroffen, die ihn auf verschiedenen Ebenen beeinträchtigt und im Verlauf der Zeit zusehends schwächt, die er jedoch auch mit Hilfe der medizinischen Möglichkeiten und seiner guten Konstitution relativ gut bewältigt.
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Empirische Ergebnisse
Viele Bereiche der Biographie bleiben von der Erkrankung unberührt, da diese erst zu einem späten Zeitpunkt in das Leben eingetreten ist. Daher bezieht sich der Erzähler in weiten Teilen seiner Identität auf eine Welt, in der er gesund war und die auf Gesundheit bezogen ist. Der heute durch die Dialyse nötige Bezug zu einer Welt, die auf Krankheit bezogen ist, wird als regelmäßiger Dienst verstanden, auf diese Weise normalisiert und umfassend in die Biographie integriert. Gesundheit und Krankheit schließen sich nicht aus, sondern sind zu verschiedenen Zeiten und auch zu verschiedenen Anteilen nebeneinander vorhanden. Darüber hinaus werden körperliche Einschränkungen sowohl im Zusammenhang mit der Erkrankung als auch mit dem Alterungsprozess gesehen. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Karl Wittko mit 78 Jahren in einer Phase des späten Erwachsenenalters, in der in der Regel das eigene Leben bilanziert wird. Auch in seiner Lebenserzählung treten diese Bilanzierungsprozesse hervor, in denen er zu einer positiven Einschätzung seines Lebens im beruflichen und im privaten Bereich und in Bezug auf seine bisherige Krankheitsbewältigung gelangt. Einen bedeutsamen Maßstab bilden dabei seine Erfahrungen der Kriegs- und Nachkriegszeit und sein erfolgreicher Umgang mit verschiedenen schwierigen Situationen, an denen er die Schwere anderer Ereignisse misst und zu der Einschätzung gelangt, dass es sich um lösbare Probleme handelt. Karl Wittko ordnet die Erkrankung als eine zu bewältigende Aufgabe neben anderen im Lebensverlauf ein, sodass die anfängliche Krisensituation zwar eine Irritation darstellt, im Anschluss daran aber neben der Einstellung der Lebensführung auf die Bedingungen der Erkrankung die wesentlichen Lebensorientierungen fortgesetzt werden.
3.2.3.5 Zusammenfassender Fallvergleich Gemeinsam ist Margarete Ries, Toni Sievers, Karl Wittko und Barbara Nibur, dass sie ihre Lebensorientierungen nach der Diagnose über einen langen Zeitraum hinweg bzw. bis zur aktuellen Situation des Interviews fortsetzen können. Diese Kontinuität der Lebensorientierungen, die in den Schilderungen der Interviewpartner im Vordergrund steht, ist für das Verlaufsmuster der Gruppe C charakteristisch. Zwei Varianten mit besonderem Bezug zum jeweils vorherrschenden Bewältigungsstil werden dabei im Vergleich der Fälle von Margarete Ries und Toni Sievers deutlich. Während Margarete Ries die Erkrankung mit einem reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil verarbeitet und ihre Lebensführung eher schleppend an die Bedingungen anpasst, die durch die Krankheit und ihren Verlauf entstehen, setzt sich Toni Sievers aktiv-konfrontativ mit seiner Erkrankung auseinander, reflektiert und bestätigt bisherige Lebensorientierungen und stellt seine Lebensführung in bestimmten Aspekten vorausschauend auf die Erkrankung ein. Auch Karl Wittko und - etwas verzögert nach einer Phase der Abwehr - Barbara Nibur setzen sich mit der Krankheit auseinander und stellen ihre Lebensführung vorausschauend auf die Bedingungen der Erkrankung ein. Die Interviewpartner führen also nach einer Phase der Irritation ihre bisherigen Lebensorientierungen weiter, unterscheiden sich aber darin, dass sie entweder das Thema weitgehend abwehren und ihre bisherigen Lebensorientierungen fortsetzen oder aber nach einer aktivkonfrontativen Auseinandersetzung davon ausgehen, dass sie auch mit der Erkrankung den bisherigen Lebensorientierungen zumindest über eine gewisse Zeitspanne hinweg weiter folgen können und ihnen auch folgen wollen. Dies kann wie im Fall von Toni Sievers oder Barbara Nibur überwiegend durch Wünsche und Vorstellungen begründet sein, bei anderen
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Interviewpartnern des Samples, die ebenfalls dieser Gruppe zugeordnet werden, spielen aber auch praktische und finanzielle Erwägungen eine Rolle. Für sie kommt eine frühe Rente nicht in Betracht, weil sie neben dem Verlust der beruflichen Identität auch finanzielle Einbußen befürchten und dann beispielsweise die Raten für das Haus nicht mehr abgezahlt werden könnten. Die Interviewpartner befinden sich zum Zeitpunkt der Diagnose in unterschiedlichen Lebensphasen, jedoch liegt dieser Zeitpunkt bei allen nach der Lebensphase der Kindheit und der Jugend. Die Erkrankung tritt bei den Repräsentanten dieser Gruppe also im frühen, im mittleren und im späten Erwachsenenalter auf und trifft dort bezüglich der Lebensorientierung auf lebenssphasenspezifisch unterschiedliche Ausgangslagen. Barbara Nibur befindet sich zum Zeitpunkt der Diagnose im Übergang von der Adoleszenz zum frühen Erwachsenenalter und ist mit der Entwicklung ihrer beruflichen Richtung und der Herausbildung ihrer Rolle als Frau und Partnerin befasst. Die berufliche Richtung setzt sie klar fort und betont die kontinuierliche Entwicklung und die Bedeutsamkeit dieses Lebensbereiches. Darüber hinaus thematisiert sie die Verunsicherung ihrer Geschlechtsrolle im Zusammenhang mit der Erkrankung, die sich auf die Partnersuche auswirkt, was wiederum auf die Verortung ihres Falls am Übergang von Typus C und Typus B verweist. Auch Toni Sievers befindet sich im frühen Erwachsenenalter und setzt seine Pläne bezüglich Ausbildung, Beruf, Festigung der Partnerschaft und Familiengründung im weiteren Lebensverlauf um. Bei anderen Fällen dieser Gruppe, die hier nicht einzeln präsentiert wurden, tritt die Erkrankung im mittleren Erwachsenenalter auf, in dem bereits ein Beruf ausgeübt wird und eine Partnerschaft dauerhaft besteht. Hier geht es um die Fortführung der Berufstätigkeit und der Partnerschaft und um eine gemeinsame Bewältigung mit dem Partner oder der Partnerin. Bei Karl Wittko, der in einer späten Lebensphase von der Erkrankung betroffen ist und bei dem die Bilanzierung seines Lebens ein lebensphasenspezifisches Thema darstellt, verschwimmen die Effekte des Alterns und die Effekte der Krankheit. Für seine Erschöpfung und seine verminderten Kapazitäten sieht er die Ursachen sowohl in der Erkrankung als auch im fortschreitenden Alterungsprozess. Die Verschlechterung seines körperlichen Zustands wird vor dem Hintergrund des hohen Lebensalters und seiner positiven Lebensbilanz zu einem Teil als normale Entwicklung interpretiert und akzeptiert. Mit der Äußerung, er habe mit der Krankheit schon acht Jahre geschafft, verweist er auf die Fortführung des Lebens als Ziel und persönliche Leistung. Bei Interviewpartnern, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts geboren wurden, wird ein Zusammenhang zwischen der Perspektive auf die Erkrankung und der Gesellschaftsgeschichte mit dem Großereignis des zweiten Weltkrieges sichtbar. An dem Fall von Karl Wittko lässt sich nachvollziehen, wie die produktive Bewältigung von schwierigen und bedrohlichen Lebensverhältnissen durch Krieg und Gefangenschaft zu Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit führen kann. Die aus der Erfahrung erwachsene Sicherheit, auch schwierige Probleme lösen zu können, steht ihm im weiteren Leben als Potenzial zur Verfügung. Diese zentrale Lebenserfahrung bildet für ihn den Maßstab für die Bewertung der Schwere von Problemen und die Machbarkeit von Lösungen. Gemessen an Kriegs- und Nachkriegserfahrungen und deren Bewältigung scheinen andere Probleme des Lebens, wie beispielsweise eine Erkrankung, weniger gravierend und leichter lösbar zu sein. Die Betroffenen berichten nicht von Hypotheken, die ihr Leben überschatten. Sie können mittlere bis hohe Potenziale bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung einsetzen, die
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Empirische Ergebnisse
vielfach zum Zeitpunkt der Erkrankung schon bestehen, aber auch teilweise im Umgang mit der Erkrankung weiterentwickelt werden. Die Art und der Verlauf der Erkrankung kann die Möglichkeit der Fortführung einer Lebensorientierung beeinflussen. Dabei spielt das Zusammenwirken verschiedener Aspekte eine Rolle. Eine für Margarete Ries zentrale Lebensorientierung neben ihrer Paarbeziehung ist ihre Arbeit als Lehrerin, die mit einem Beamtenverhältnis verbunden ist. Die arbeitsrechtliche Lage und die Art der Tätigkeit ermöglichen ihr, die Arbeit unter Berücksichtigung ihrer zunehmenden körperlichen Behinderung durch die Multiple Sklerose noch über einen langen Zeitraum weiter auszuüben. Als sie nicht mehr gehen kann und sich daher im Rollstuhl fortbewegen muss, kann ihr Arbeitsplatz an ihre körperlichen Bedingungen angepasst werden und steht erst dann in Frage, wenn sie die dafür notwendigen Grundfähigkeiten des Sprechens und des Schreibens verliert. Ein anderer Interviewpartner, der ebenfalls an Multipler Sklerose erkrankt und von Beruf Elektroinstallateur ist, kann nach mehreren Jahren der Krankheit seinen Beruf nicht mehr ausüben, da er für diese Tätigkeit fähig sein muss, sicher eine Leiter hinauf- und hinabzusteigen. Nach einer anfänglichen Phase der Normalisierung und Fortführung der Lebensorientierung muss er schließlich nach zehn Jahren der Erkrankung seine Arbeit wegen der körperlichen Einschränkungen aufgeben und erleidet nun einen bedeutenden Bruch seiner bisherigen Ausrichtung. Obwohl Margarete Ries in vergleichbarer Weise von der Krankheit betroffen ist, kann sie ihren Beruf bis heute ausüben, denn über die dort benötigten Fähigkeiten verfügt sie noch. Bis zum Zerbrechen ihrer Partnerbeziehung durch den Rückzug ihres Partners vor einem Jahr kann sie die für sie wesentlichen Lebensorientierungen in Beruf und Partnerschaft trotz gravierender körperlicher Einschränkungen über 24 Jahre hinweg fortsetzen. Die Verluste durch die Krankheit und die Anforderungen, die nötig sind, um die jeweils bedeutsamen Lebensorientierungen zu realisieren, sowie die Handlungen von biographisch bedeutenden Personen und die Bedingungen des Umfeldes müssen also aufeinander bezogen werden. Eine andere Facette des Verhältnisses von Lebensorientierungen und zunehmenden Einschränkungen durch die Krankheit wird in der Erzählung von Karl Wittko deutlich. Er normalisiert die Einschränkungen teilweise durch seinen Verweis auf sein fortgeschrittenes Alter und durch die Einordnung der Stunden am Dialysegerät als „Dienst“ und ersetzt die nicht mehr möglichen Erfahrungen beim Bergwandern durch das Lesen von Zeitschriften über die Berge und durch die Aktualisierung von Erinnerungen an seine Bergtouren. Auf diese Weise kann er seine wesentlichen Lebensorientierungen im Prinzip fortführen. Für die Interviewpartner dieser Gruppe ist der Bezug zur Welt der Gesunden zumindest über einen langen Zeitraum nach dem Bekanntwerden der Erkrankung der dominante Orientierungsrahmen. Die auf Krankheit bezogene Welt ist in der Regel nur in dem Maße präsent, als es die krankheitsbezogene Arbeit bzw. notwendige medizinische Maßnahmen erfordern. Das bedeutet, der Einfluss dieser Welt auf die Lebensorientierung ist in dieser Gruppe eng verbunden mit der Art der Krankheit, deren spezifischen Bedingungen und dem Krankheitsverlauf. Toni Sievers betont in seiner Erzählung die Geringfügigkeit der krankheitsbezogenen Arbeit, die er zur Kontrolle und Behandlung seiner Diabeteserkrankung aufwenden muss und unterstreicht dadurch den begrenzten Einfluss einer auf Krankheit bezogenen Welt. Dieser geringe Einfluss wird besonders deutlich im Kontrast zu der Erzählung von Sonja Tomms, deren Fall bereits in der Gruppe des Typus B beschrieben wurde. Sie erkrankt ebenfalls im frühen Erwachsenenalter an Diabetes, erlebt dies aber als umfassenden Bruch und schildert im Gegensatz zu Toni Sievers die mit der Erkrankung verbun-
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denen regelmäßigen Kontrollen und Einstellungen von Körperfunktionen sowie Ängste vor möglichen Spätfolgen als permanent präsent und damit die auf Krankheit bezogene Welt als einflussreich in ihrem Alltagserleben. In dieser lebensgeschichtlichen Erzählung ist der auf Krankheit bezogene Orientierungsrahmen in ihrer inneren Welt und im Erleben dominant, auch wenn sie im Alltag überwiegend im Kontakt mit Gesunden und deren Orientierungsrahmen lebt. Eine andere Entwicklung des dominanten Bezugsrahmens in Verbindung mit dem Krankheitsverlauf wird am Fall von Margarete Ries deutlich. Sie konzentriert sich auf die bisherige, auf Gesundheit bezogene Welt, während sich ihr gesundheitlicher Zustand langsam aber kontinuierlich verschlechtert und sie mit einer auf Krankheit bezogenen Welt konfrontiert. Dies geschieht dadurch, dass sie zunehmend unterstützende Behandlungen, Hilfsmittel und Hilfe von anderen Menschen für ihre Alltagsbewältigung benötigt. Darüber hinaus muss sie mit ihren Schmerzen und mit den Reaktionen anderer auf ihren körperlichen Zustand umgehen, sodass diese Welt auf verschiedenen Ebenen mehr und mehr Raum in ihrem Leben einnimmt, während sie sich lange bemüht, diese abzuwehren. Barbara Nibur ist durch die Art ihrer Erkrankung auf häufigen und zeitlich ausgedehnten Kontakt mit Ärzten und dem Krankenhaus angewiesen und durch die ständige Patientenrolle vielfach mit der auf Krankheit bezogenen Welt verbunden. Zugleich behält sie insbesondere im Berufsleben einen starken Bezug zur Welt der Gesunden. Beide Bezugssysteme sind nebeneinander vorhanden und werden von ihr wechselweise ‚betreten’ und ‚verlassen’. Die Integration der Krankheit in die Biographie und Identität verläuft unterschiedlich. Toni Sievers integriert die Erkrankung bereits frühzeitig nach Bekannt werden der Diagnose in seine Biographie, indem er sie als zu bewältigende Alltagsaufgabe akzeptiert, räumt ihr aber keinen bedeutenden Platz in Bezug auf seine Identität und seine Lebensorientierungen ein. Karl Wittko akzeptiert die Bewältigung der Krankheit als Herausforderung seiner jetzigen Lebensphase und blickt zugleich zurück auf ein positiv bewältigtes Leben mit einer guten körperlichen Konstitution. Er integriert die Erkrankung als einen Aspekt in seine Identität und Biographie, der neben anderen Aspekten seinen Platz hat. Margarete Ries dagegen wehrt die Krankheit zunächst ab und integriert sie im Verlauf mit der zunehmenden Verschlechterung ihrer gesundheitlichen Lage schrittweise. Barbara Nibur bringt sowohl Tendenzen der Abwehr als auch der Integration zum Ausdruck, die im Wechsel stattfinden und verschiedene Themen betreffen. Die Bedingungen ihrer Erkrankung führen zu wiederholten Umbrüchen ihrer Lebensverhältnisse, auf die sie sich jeweils neu einrichten und die sie in ihrer Identität bearbeiten muss. Die Integration tritt als übergeordnetes Prinzip hervor, unter das Lernprozesse mit Abwehr-, Vermeidungs- und Integrationshandlungen eingeordnet werden. Charakteristisch für Interviewpartner dieses Verlaufsmusters ist also, dass sie die Kontinuität ihrer Lebensorientierungen über eine lange Zeitspanne hinweg oder dauerhaft fortsetzen können. Einige erleben nach vielen Jahren oder Jahrzehnten der Kontinuität einen Bruch einer bedeutsamen Lebensorientierung und gelangen dadurch in die Nähe des Übergangs zum Typus B. Darüber hinaus kann durch Lernprozesse im Umgang mit wiederholten Brüchen auch wieder Kontinuität entstehen, wie der Fall von Barbara Nibur zeigt.
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Empirische Ergebnisse
3.2.4 Bagatellisierung bei generell problembestimmter Lebensorientierung (Typus D) Die Interviewpartner dieser Gruppe präsentieren problematische Biographien, die von Hypotheken im Zusammenhang mit der Herkunftsfamilie belastet sind. Die Lebensorientierung ist bereits vor der Erkrankung brüchig oder diffus, die Erfahrung eines Außenseiterstatus bekannt. Andere Probleme überlagern den Beginn der Erkrankung, die häufig erst wahrgenommen wird, wenn die Symptomatik massiv zutage tritt. Die Art der Probleme und der Hypotheken bei den Interviewpartnern variieren jedoch stark, was an den Falldarstellungen der folgenden drei Personen exemplarisch verdeutlicht werden soll. Klaus Melzer stammt aus einer vermögenden Familie mit Immobilienbesitz und berichtet von einer Selbstwertproblematik im Zusammenhang mit seiner nicht standesgemäß lebenden Herkunftsfamilie. Im frühen Erwachsenenalter verlässt er die Ausbildungs- bzw. berufsbezogene Lebenslinie und findet seit acht Jahren nicht wieder in den Arbeitsbereich zurück, was er als sein größtes Problem bezeichnet. Die Erkrankung verstärkt seine Problematik, steht aber nicht im Vordergrund der Erzählung. Der 20 Jahre ältere Werner Braun ist als in den Fünfzigerjahren unehelich geborenes Kind einer gehbehinderten Mutter ebenso wie sie bereits früh stigmatisiert. Seine Lebensgeschichte handelt von vielfältigem Scheitern. Die Erkrankung wird anfangs nicht akzeptiert und erst spät als solche wahrgenommen. Sven Herbig schließlich wächst überwiegend bei seiner Mutter auf, nachdem sich seine Eltern bereits während der Schwangerschaft getrennt hatten, und pendelt zwischen einem Leben innerhalb und außerhalb des Normallebenslaufs. Seine Erkrankung nimmt er erst spät wahr. Sie ist heute so weit fortgeschritten, dass er am Ende des frühen Erwachsenenalters eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezieht.
3.2.4.1 Biographisches Porträt 12: KLAUS MELZER Klaus Melzer, der zum Interviewzeitpunkt 33 Jahre alt ist, leidet an zwei rheumatischen Erkrankungen. Eine Hüftarthrose wurde bei ihm vor 16 Jahren und eine chronische Polyarthritis vor neun Jahren diagnostiziert. Er ist angelernter Fotograf ohne offizielle Qualifikation, seit acht Jahren nicht berufstätig und hat seit einem Jahr wieder eine feste Partnerbeziehung. Seine Erzählweise ist eher langsam und nach innen gerichtet.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Klaus Melzer wird 1970 als fünftes von sechs Kindern in P-Stadt, einer süddeutschen Großstadt, geboren. Seine väterlichen Großeltern gehören einer gehobenen, besitzenden Schicht an. In ihrem Besitz befinden sich verschiedene zentral gelegene Immobilien in PStadt. Der Vater von Klaus Melzer arbeitet als Hausverwalter im väterlichen Besitz, während die Mutter die Kinder versorgt und dabei wiederum häufig von ihrer Mutter unterstützt wird. Beide Großelternpaare sind in der Familie präsent. Aus der Sicht von Klaus Melzer treten die väterlichen Großeltern im Zusammenhang mit dem großen Vermögen und mit standesgemäßen Erwartungen „machtvoll“ (Int 5, S. 6) in Erscheinung, bei ihnen muss man „am Kaffeetisch gesittet miteinander sitzen und brav sein“ (ebd.). Die Atmosphäre dort ist
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distanziert, während die Großeltern der mütterlichen Seite weniger machtvolle, aber warme und künstlerische Aspekte repräsentieren. Die Großeltern väterlicherseits haben einen großen Einfluss auf die Familie. Sie erwarten ein standesgemäßes Verhalten ihrer zwei Söhne. Einerseits beschreibt sich Klaus Melzer in seiner Familie mit den vielen Geschwistern als „ganz gut aufgehoben“ (Int 5, S. 3). Er fühlt sich dort wohl und es besteht keine Notwendigkeit für Kontakte zu anderen Kindern. Andererseits empfindet er im Zusammenhang mit seiner Familie aber auch Scham, weil sie so anders ist durch die vielen Kinder, durch das Chaos, das deswegen manchmal zuhause herrscht, weil er alte Kleider auftragen muss oder weil sein Vater „auch ein sehr komischer Typ ist“ (Int 5, S. 3), den manche Leute wegen seiner bedächtigen Art für senil halten. Bedeutsam ist hier die Orientierung an einem gehobenen Lebensstandart und einer standesgemäßen Lebensweise, die über die Großeltern väterlicherseits vermittelt wird. Der Vergleich wird innerhalb des Familiensystems zwischen der Familie des Onkels und des Vaters von Klaus Melzer gezogen. „Ich denke auch, was auch noch eine Rolle spielt, mein Vater und mein Onkel, die leben einen ganz unterschiedlichen Lebensstandard, obwohl sie im Grunde genommen finanziell eigentlich gleichgestellt sind, mein Vater war immer sehr sparsam, mein Onkel hat das Geld rausgehauen wo es ging, war ständig im Urlaub und das ist auch ein Mensch, der sehr viel Stolz ausstrahlt (...) und mein Vater eher so der Arbeiter und mein Onkel derjenige, der die Zeit so verbringt, seine Freizeit so verbringt oder überhaupt sein Leben so gestaltet wie man sich’s vielleicht wünschen würde, wenn man ein kleines Kind ist, dass man einfach sagt, oh, der fährt ein tolles Auto, der ist ständig im Urlaub, hat ein tolles Haus, ja, der strahlt einfach Luxus aus und mein Vater ist genau das Gegenteil, er versucht so bescheiden wie möglich zu sein, obwohl er wirklich eigentlich genug Geld hat, also, + und das denk ich mal hat auch ein bisschen auf uns abgestrahlt, dass wir einfach uns auch insgesamt weniger wert vorkamen als mein Onkel.“ (Int 5, S. 3)
Es gibt einen ständigen Vergleich der Brüder, der zugunsten des eher „standesgemäß“ lebenden Onkels ausfällt. Dieser ist Anwalt und hat eine Sekretärin, an die er viele Arbeiten delegiert, während der Vater als Hausverwalter neben Verwaltungstätigkeiten auch selbst Hand anlegt. Der Vater wird hier dem Stereotyp des Arbeiters zugeordnet und damit abgewertet, während der Onkel einen luxuriösen Lebensstil pflegt, der einer gehobenen Schicht entspricht und mit der dazugehörigen Wertschätzung und Anerkennung verbunden ist. Aus Klaus Melzer’s Sicht gibt es also zwei Klassen in der Familie, die mit entsprechender Achtung und Geringschätzung verbunden sind. Obwohl die Familien ähnlich vermögend sind, „strahlen“ diese verschiedenen Lebensweisen und die damit verbundenen Wertungen auf die Kinder und ihr Selbstwertgefühl „ab“. Hier treten zwei verschiedene Bezugsrahmen von Klaus Melzer hervor, die teilweise im Widerspruch zueinander stehen. Einerseits sind da die Ansprüche und Standards einer gehobenen Schicht mit entsprechendem Standesbewusstsein, der seine Familie durch Geburt und Vermögen, nicht aber durch die - wenig standesgemäße – Lebensweise angehört. Andererseits gibt es den künstlerischen Aspekt, der mit Nähe und Lebendigkeit verbunden ist, aber als wenig machtvoll erlebt wird. Klaus Melzer schildert, dass er sich innerhalb seiner Familie sicher fühlt. Nach außen braucht er jedoch lange, um seine Angst zu überwinden und über das Zusammensein mit seinen Geschwistern und Cousins hinaus Kontakte zu anderen aufzunehmen. In Zusammenhang damit steht die oben beschriebene Scham über seine nicht standesgemäß lebende Familie. Zu den auf seine Familie bezogenen „Schamfaktoren“ (Int 5, S. 3) kommen weitere hinzu, die sich über eine körperliche Symptomatik auf seine Andersartigkeit beziehen
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und dazu führen, dass er sich immer wieder isoliert. Detailliert erzählt er verschiedene Krankheitsepisoden tatsächlicher oder vermuteter Krankheiten, die für ihn mit Scham verbunden waren und auch körperlich verschiedentlich im Schambereich liegen, wie er anmerkt und darauf hinweist, sich dadurch „total abnormal“ gefühlt zu haben. Beispielsweise bekommt er in der Vorpubertätszeit Warzen, was für ihn „halt auch wieder sozial vollkommen beschissen“ (Int 5, S. 12) war, weil die Warzen für andere sichtbar sind und auch zum Gesprächsthema werden. Wiederholt hebt er die Erfahrung hervor, außerhalb der Norm zu stehen, anders und dadurch im Kontakt zu anderen beeinträchtigt und weniger wert zu sein und nicht anerkannt zu werden. Den Anfang der Pubertät schildert er als befreiende Phase, in der er öfter schwimmen geht, den Körper der Sonne und der Öffentlichkeit aussetzt und in der dann auch die Warzen verschwinden. Er fühlt sich gut und schildert, dass er seine Scheu im Kontakt mit anderen weiter ablegen kann. Sein Selbstwert steigt. Kurz darauf hat er seine erste Freundin und kann seine Angst vor Nähe weiter abbauen, entwickelt dann aber aufgrund einer Phantasie die Angst, ansteckend für andere zu sein. Diese Erfahrung und sein Zurückfallen in die Angst vor Nähe werden detailliert geschildert. Ebenfalls detailliert erzählt er die Überwindung dieser Ängste einige Zeit später im Kontakt mit Freundinnen und ersten sexuellen Erfahrungen, die dann dazu führen, dass er die Geschichte der Angst, ansteckend zu sein, im Nachhinein als „Humbug“ (Int 5, S. 16) ansehen kann. In rückwärtiger Sicht findet er es schlimm, dass die Erfahrung von Angst ihn „immer so zur Isolation gebracht hat“ (Int 5, S. 17) oder dass er versucht hat, „die Dinge (...) so auszusitzen und da nichts dran zu ändern“ (ebd.), er sie also erlitten hat und nicht aktiv geworden ist. Im Zusammenhang mit der Schulzeit bringt er sein künstlerisches Interesse zum Ausdruck, das sich in der Oberstufe durch Aktivitäten und Engagement in den Bereichen Kunst und Fotographie umsetzt. In der Erzählung wird deutlich, dass die Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend bereits früher intensiv reflektiert und besonders in Bezug auf Scham, körperliche Symptome und Sexualität unter der Perspektive von psychologischem und psychosomatischem Expertenwissen gedeutet wurden, was der Hinweis auf ein Gespräch mit seinem Therapeuten belegt. Sie werden unter den Überschriften „Isolation“ und „Scham“ zusammengefasst, geordnet und dargeboten. Erzählt wird also eine psychosoziale Problemgeschichte, die aus der familiären Situation resultiert und sich weiter aufschichtet. Im Vordergrund steht dabei seine Außenseiterrolle, seine Problematik, außerhalb seiner Familie anders und nicht normal zu sein und von anderen nicht akzeptiert und anerkannt zu werden. Neben den Potenzialen, die in Form von Schulbildung, materieller Sicherheit durch das Familienvermögen und Unterstützung innerhalb der Kernfamilie vorhanden sind, stehen psychische Probleme als Hypothek im Vordergrund der Erzählung. Sie werden durch die Familienkonstellation erklärt und zeigen sich, so seine Theorie, psychosomatisch und in Form von Scham, Isolation und mangelndem Selbstwertgefühl. Einbruch der Krankheit und erste Auseinandersetzung Die Diagnose Arthrose: „Das habe ich einfach ignoriert.“ Im Alter von 17 Jahren bekommt er Schmerzen durch eine Entzündung im Hüftgelenk und kann sich eine Woche kaum bewegen. Der Arzt diagnostiziert eine beidseitige Arthrose in den Hüften, die von einer bereits seit der Kindheit bestehenden Fehlstellung herrührt. Diese Fehlstellung, so die medizinische Prognose, wird im Verlauf der Zeit die Knorpel der Gelenke so schädigen, dass dann „irgendwann ein künstliches Hüftgelenk fällig“ (Int 5, S. 30)
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ist. Die akute Entzündung heilt ab und die Schmerzen vergehen. Klaus Melzer setzt seine Schullaufbahn fort, ohne sich umfassender mit der Diagnose auseinanderzusetzen und beginnt nach dem Abitur bei einem Fotografen erst als Fotoassistent, später dann als angelernter Fotograf, zu arbeiten. „Weil das mit den Hüften oder so, das war ja ne Sache, die ich am Anfang gar nicht wirklich hm, nicht realisiert aber auch mir gar nicht vor Augen geführt hab, das hab ich einfach ignoriert, ich hab ja dann einfach auch angefangen zu arbeiten in dem Fotostudio wo ich, mir eigentlich der Arzt gesagt hatte, dass ich eher einen sitzenden Beruf ausüben soll und jetzt keine stehende Tätigkeit und Fotoassistent ist auch ein recht anstrengender Beruf, da muss man viel schwere Sachen auch rumschleppen und das hab ich da schon ausgiebigst getan, da hab ich mir sicherlich schon meine Hüften ein bisschen stärker belastet und schneller + zur Artrose gebracht als ich es vielleicht sonst, als es sonst passiert wäre dadurch.“ (Int 5, S. 34)
Klaus Melzer sagt von sich rückblickend, er habe die Diagnose ignoriert und nicht wirklich realisiert. Er beschäftigt sich nicht mit möglichen Konsequenzen der Arthrose in seiner Zukunft und berücksichtigt nicht die Hinweise des Arztes in Bezug auf die Bedingungen seiner Berufswahl. Rückblickend meint er heute, dadurch die Abnutzung in seinen Hüftgelenken beschleunigt zu haben. Im Zusammenhang mit der Diagnose gibt es trotz der Prognose einer Gelenkabnutzung und der möglichen Notwendigkeit von Prothesen keine weiteren Überlegungen zu zukünftigen Entwicklungen oder eine Berücksichtigung der Diagnose bei der weiteren Orientierung oder Lebensführung. Neben der individuellen Umgangsweise kann dies auch im Zusammenhang mit der Lebensphase gesehen werden, in der andere Interessen oder der bevorstehende Schulabschluss im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen. Möglicherweise ist in diesem Lebensalter eine weit entfernt scheinende Zukunft mit massiven Einschränkungen, die aktuell nicht zu spüren sind, noch kaum vorstellbar. Auch in der Erzählung wird diese Diagnose zunächst nur in einem Nebensatz im Zusammenhang mit der später hinzukommenden Polyarthritiserkrankung erwähnt und tritt nicht als bedeutsames Ereignis in der Biographie hervor. Erst auf Nachfrage führt er dieses Thema aus und sieht es in rückblickender Reflexion als einen Aspekt seiner gesundheitlichen Problematik. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit Berufliche Entwicklung: „Da hab ich für mich keine Perspektiven drin gesehen.“ Die Arthrose ist zwar diagnostiziert, wird aber in dieser Phase nach dem Übergang von der Schule in die berufliche Welt nicht beachtet. Anfangs ist die Tätigkeit bei dem Fotograf die Erfüllung seiner Ziele, nach der Schule gleich praktisch zu arbeiten, doch nach einiger Zeit ist er mit seinem – nicht formal qualifizierten - Beruf nicht mehr zufrieden. „Das Problem war halt für mich, dass ich das halt auch nicht weiterentwickeln konnte, die Fotografie, also dass ich nicht einfach wie manch anderer, der sich da und dort bewirbt und einfach die und die und die Erfahrung sammelt, ich bin da dann so festgewachsen (...) da hab ich für mich keine Perspektiven drin gesehen, ich hab mir nicht vorstellen können, selbstständiger Fotograf zu sein, ich hab zwar als Selbstständiger dort gearbeitet, aber quasi diesen ganzen + die ganzen Kundengespräche zu führen, die Akquise, also überhaupt das war was, was ich mir einfach nicht vorstellen konnte.“ (Int 5, S. 28)
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Klaus Melzer kann die Berufstätigkeit als Fotograf nicht in wünschenswerter Weise weiterentwickeln, verschiedene Erfahrungen sammeln und aktiv eine Karriere ausbauen, sondern er verharrt im Fotostudio bei seinem Chef. Dort sieht er den Alltag eines Fotografen und die verschiedenen Aufgaben, die zu einer Tätigkeit als selbstständiger Fotograf auf dieser Ebene gehören und die nicht dem entsprechen, was er sich für seine berufliche Zukunft vorstellen kann. Seine Interessen und Vorstellungen von der künstlerischen Tätigkeit eines Fotografen prallen aufeinander mit den tatsächlichen Notwendigkeiten und Aufgabengebieten eines normalen Berufsfotografen. Es stört ihn, dass „das Thema Werbung immer dahinter steht“ (Int 5, S. 30) und nicht die für ihn bedeutsamen künstlerischen Aspekte im Vordergrund sind. Der Alltag eines Fotografen ist also weit entfernt von seinem künstlerischen Ideal und bietet daher keine berufliche Perspektive mehr. Er überlegt daher, sich weiter zu qualifizieren und ein Medienkunststudium oder eine Fotoakademie zu absolvieren. Auf das Vorhaben, nur noch Teilzeit zu arbeiten und sich bei einer Fotoakademie zu bewerben, lässt sich sein Chef jedoch nicht ein. Diese unbefriedigende Situation wird durch ein weiteres privates Problem belastet. Trennung von der Freundin: „Es war einfach so eine Angst da.“ Als er 24 Jahre ist, trennt sich seine Freundin von ihm. Nach der Trennung bekommt er Ängste und befindet sich bald in einem permanenten Angstzustand. „Es war einfach so eine Angst da, so eine richtig große Angst und so ein ständiges Gedankenkreisen und ich hab einfach die Gespräche, die von außen kamen, einfach überhaupt nicht mehr wahrnehmen können oder nicht mehr als wichtig für mich erachtet, sondern es hat sich nur noch um meine Gedanken alles gedreht.“ (Int 5, S. 21)
Durch die Angst verliert er den Kontakt zur Umwelt und ist ausschließlich mit seiner Angst beschäftigt. Das ständige Gedankenkreisen isoliert ihn, er ist „nur noch in seinem Kopf drin“ (Int 5, S. 20). Es wird nicht deutlich, welche Inhalte seine Angst hat und um welche Art von Gedanken es sich handelt, sondern nur, dass sie ihn besetzen und übermächtig sind. Die Trennung, die von der Freundin ausging, sieht er als Auslöser für die Ängste, berichtet jedoch keine konkreten Ereignisse von dieser Situation oder von der Freundin. Im Mittelpunkt seiner Erzählung steht der Prozess seines Erleidens der Ängste. Aus seiner Sicht knüpfen die Ängste an seine früheren Probleme und Ängste an, sind also in seiner Vergangenheit begründet. Einbruch einer weiteren Erkrankung: „Mit dem Rheuma war es dann schon so, dass ich da schon wirklich eingeschränkt war.“ Kurz nach der Trennung von der Freundin und dem Beginn der massiven Angstzustände macht sich eine weitere Erkrankung bemerkbar. Klaus Melzer bekommt seinen „ersten richtigen Rheumaschub“ (Int 5, S. 21). Mit dieser Formulierung weist er implizit auf Symptome hin, die vorher bereits aufgetreten sind, jedoch als Einzelereignisse wahrgenommen wurden. Zu der bestehenden Hüftarthrose kommt nun eine weitere chronische Erkrankung aus dem rheumatischen Formenkreis hinzu, die ebenfalls die Gelenke betrifft und deren schädigende Wirkung sich zu den Folgeerscheinungen der Artrose addiert, wie an späterer Stelle noch deutlich werden wird. Die rheumatische Erkrankung äußert sich durch massive Symptome. Die Entzündungsprozesse werden durch Schwellungen an typischen Körperstellen wie Fingern und Zehgelenken wahrnehmbar. Anfängliche Hypothesen von profes-
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sioneller Seite, es könne sich um Gicht handeln und daher durch eine angepasste Ernährung kontrollierbar sein, werden schnell verworfen. Mit der Diagnose einer chronischen Polyarthritis ist nach schulmedizinischer Auffassung durch eigene Aktivität wie eine Diät „nichts zu machen“ (Int 5, S. 24), die Krankheit nicht zu bremsen. Der Einbruch der Krankheit wird als plötzlich wahrgenommen, sie kündigt sich „nicht kleinlaut“ (ebd.) an, sondern ist „auf einmal“ (ebd.) da. Im Gegensatz zur Arthrose, die er in den ersten Jahren kaum bemerkt, wird ihm diese rheumatische Erkrankung als wirkliche Einschränkung bewusst. „...mit dem Rheuma war es dann schon so, dass ich da schon wirklich eingeschränkt war einfach dann in der Bewegung also, ich erinnere mich da so an die erste Zeit, wo ich da gearbeitet hab und den Rheumaschub hatte, da hat mir irgendwie mein Chef in der Arbeit halt, wenn wir zum Mittagessen gegangen sind hat der mir mein Schnitzel geschnitten, weil ich einfach das Messer nicht so halten konnte gescheit, dass ich da das Schnitzel selber also einfach schneiden konnte.“ (Int 5, S. 34)
Die Erkrankung ist für ihn in der aktuellen Situation durch die Bewegungseinschränkung und durch die notwendige Hilfeleistung von anderen direkt wahrnehmbar. Im Kontrast zu bisher selbstverständlichen Alltagshandlungen steht plötzlich die Einschränkung, diese nicht mehr alleine durchführen zu können und selbst beim Schneiden eines Schnitzels auf Hilfe angewiesen zu sein. Diese Fertigkeit, die man bereits im frühen Kindesalter erlangt und die in der Regel - wenn überhaupt – im weit fortgeschrittenen Alter erst wieder nachlässt, ist nun im Alter von 24 Jahren und mit ihr die bisherige Normalität zumindest zeitweilig verloren. Die Erfahrung der Krankheit trifft jedoch auf eine Situation, in der Klaus Melzer bereits mit Ängsten, Unsicherheit und Verlust von bisherigen Lebensperspektiven durch das Trennungsereignis und die inzwischen unbefriedigende Berufsperspektive zu kämpfen hat und die Erfahrung von Normalität bereits nicht mehr besteht. Hier findet also eine massive Aufschichtung von verschiedenen Problemlagen statt, die sich gegenseitig verstärken und in der die Krankheit als Teilaspekt zu einer bestehenden Problematik hinzukommt. Dies spiegelt sich auch in der Erzählung wieder. Im Vordergrund der Erzählung von der Phase nach der Trennung von der Freundin steht seine problematische psychische Situation und nicht die Wahrnehmung der Krankheit als besonderes kritisches Lebensereignis. Er beschreibt von diesem Lebensabschnitt überwiegend und ausführlich sein schlechtes psychisches Befinden und seine Angstsymptomatik, während die Erkrankung und die damit verbundenen Beschwerden nur kurz dargestellt werden. Über weitergehende Auseinandersetzungen mit der Erkrankung und ihren möglichen Konsequenzen in der Zukunft zu diesem Zeitpunkt berichtet er nichts. Ob und inwieweit Aspekte, die die Erkrankung betreffen, in die Ängste einfließen, wird ebenfalls nicht deutlich. Der Arzt der Rheumaambulanz, in der seine Symptomatik abgeklärt wird, verschreibt ihm eine Basistherapie. Klaus Melzer setzt diese Mittel jedoch nach kurzer Zeit wieder ab da er sie nicht verträgt und nimmt nur noch antirheumatische Mittel im Bedarfsfall. Dies ist anfangs leicht möglich, da er nicht ständig unter Entzündungen leidet, sondern teilweise über ein halbes Jahr hinweg beschwerdefrei ist und dann für zwei Wochen einen Entzündungsschub hat, der aber wieder zurückgeht.
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Suche nach sozialer Unterstützung: „Das war für mich ein totaler Vertrauensbruch.“ Ein Jahr nach der Trennung von der Freundin besucht er zwei Schulfreunde in der Schweiz. Es geht ihm nicht gut und er hat „einfach so den Drang, jetzt muss der ganze Dreck raus“ (Int 5, S. 18). Daraufhin erzählt er ihnen von seinen verschiedenen Problemen und Ängsten, die er eng in Zusammenhang mit seiner Herkunftsfamilie und den Ängsten und der Erfahrung von Isolation und Scham aus seiner Kindheit und Jugendzeit sieht und über die er bislang noch nicht gesprochen hat. Er schildert dieses „Outing“ (Int 5, S. 25) als bedeutsames Ereignis, bei dem er versucht, sich zu entlasten und bestimmte bisher in sich verborgene Themen anderen Menschen mitzuteilen. „Ich wollte halt irgendwie eine Situation, wo ich jemanden hab, der sagt, hey, ich versteh dich und hey, das ist ja Wahnsinn, was du da mitgemacht hast oder so aber der mich da halt trotzdem akzeptiert, und der eine Freund hat mich akzeptiert und der andere Freund hat mir das halt, der hat wohl Angst gekriegt auch irgendwie und hat das irgendwie so von sich gehalten, hat gemeint, wow, das ist ja schlimm, wie das bei euch abgegangen ist und so und das ist ja total krank und so, der hat mir genau das zurückgegeben, was ich eigentlich nicht hören wollte, wovor ich ja immer Angst hatte und hat das dann quasi mir so schön zurückgegeben (...) das war für mich ein totaler Vertrauensbruch.“ (Int 5, S. 19)
Er sucht Mitgefühl und Verständnis für seine schwierige Situation, möchte mit seiner problematischen Vergangenheit akzeptiert werden und hat konkrete Vorstellungen darüber, wie die soziale Anerkennung aussehen sollte. Einer der beiden Freunde kann ihm die gewünschte Form der Unterstützung und Akzeptanz geben, der andere reagiert jedoch aus der Sicht von Klaus Melzer abwehrend und bestätigt mit seiner Reaktion genau die vorhandenen Ängste des Erzählers, sozial bewertet und als unnormal abgelehnt zu werden. Er fühlt sich abgewertet und alleingelassen durch dessen Reaktion und empfindet einen massiven Verlust an Vertrauen und an Sicherheit, den er als totalen Vertrauensbruch bezeichnet. Obwohl einer der beiden Freunde ihm die Akzeptanz vermittelt, scheitert aus der Sicht des Erzählers diese Öffnung nach außen, mit der er versucht hat, aktiv zu werden, seine Isolation zu überwinden und wieder mehr Kontrolle zu übernehmen. Im Anschluss an dieses Ereignis leidet er für einen längeren Zeitraum an Panikattacken und geht deswegen in eine Gruppentherapie, in deren Verlauf die Panikattacken nach und nach verschwinden. Die szenische Darstellung von inneren Dialogen und der Reaktion des Freundes unterstreicht die Bedeutung dieser Situation für den Erzähler. Sie wird detailliert erinnert, ausführlich erzählt und dabei aktualisiert. Im Mittelpunkt befinden sich die Themen der Abwertung und Anerkennung durch andere. Die Bedingungen und Umstände der Herkunftsfamilie und das Anderssein scheinen ihn stark zu beschäftigen, während Probleme mit der Arthrose oder Arthritis nicht thematisiert werden und scheinbar eher im Hintergrund stehen. Ausstieg aus dem Berufsleben: „Mit diesem Outing da ist im Grunde genommen meine berufliche Aktivität aus gewesen.“ Einige Monate später beendet er die Tätigkeit bei dem Fotografen, da er sie nicht länger aushält und ihm die gesamte Situation, in der sich die verschiedenen Probleme aufgeschichtet haben, zu belastend ist. Obwohl er erst einige Monate nach dem Besuch in der Schweiz seine Arbeit aufgibt, ist das „Outing“ für ihn der entscheidende Bruch- oder Wendepunkt („mit diesem Outing da ist im Grunde genommen meine berufliche Aktivität aus gewesen, weil ich dann danach nicht mehr arbeiten konnte“ Int 5, S. 26). Er befreit sich
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also zunächst aus einer festgefahrenen Situation ohne weitere berufliche Perspektive. Nach einiger Zeit tritt in der neuen Lage ohne die einschränkende berufliche Situation nun die Orientierungslosigkeit hervor. Die „Befreiung“ (Int 5, S. 27), wie er heute ironisch anmerkt, wird nun ihrerseits zum Problem, denn nun ist er arbeitslos und ohne Orientierung für seine weitere Zukunft. „...für mich hat es halt wirklich so eine Phase gegeben, wo ich das hinter mich geschmissen hab, was ich eigentlich schon erreicht hab oder weggeschmissen hab und ich dann + ja einfach dann arbeitslos war und da nicht mehr weitergekommen bin.“ (Int 5, S. 35)
Aus der Retrospektive sieht er positive Ansätze und Erfolge in seiner Vergangenheit, die er jedoch verworfen hat und an die er nicht mehr anknüpfen kann. Seine Befreiung deutet er nun auch als Wegwerfen von Erfolgen. Eine Vergangenheit, die in der Gegenwart weitergeführt werden kann und mit einer Ausrichtung auf eine Zukunft verbunden ist, geht verloren, es gibt keinen Weg mehr, auf dem er „weiterkommen“ kann. In der Passage wird eine Orientierungslosigkeit bei Klaus Melzer deutlich, die eine aktive Gestaltung des Lebens in dieser Phase verhindert. Die problematische Situation der Arbeitslosigkeit ist in einer ausgedehnten Gegenwart präsent, denn an Potenziale aus der Vergangenheit kann nicht angeknüpft werden und eine Zukunft, die zu Handlung motiviert, ist nicht vorhanden. Dabei ist Klaus Melzer aus finanziellen Gründen nicht unter Handlungsdruck, da ihn anfangs sein Vater unterstützt und er später von seinem Großvater ein gewisses Vermögen erbt, von dem er seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Die berufliche Orientierung bleibt jedoch ein zu lösendes Problem. Er möchte sich im künstlerischen Bereich weiter qualifizieren, ist aber noch auf der Suche nach einer konkreten Idee und bereitet sich in einer Malschule auf eine Bewerbung vor. Seine Orientierungslosigkeit über den weiteren beruflichen Weg zeigt sich auch daran, dass er in dieser Zeit eine kaufmännische Ausbildung beginnt, also eine gänzlich andere Richtung einschlägt, um in die „Fußstapfen“ (Int 5, S. 27) seines Vaters zu treten und ihn „irgendwie“ (ebd.) bei der Hausverwaltung unterstützen zu können. Diese Ausbildung bricht er jedoch nach drei Monaten wieder ab, weil das „überhaupt nichts“ (ebd.) für ihn ist. Durch eine Bekannte wird er auf das Studium der Medienkunst aufmerksam, das ihn interessiert. Er bewirbt sich zwei Mal auf einen Studienplatz für Medienkunst, wird aber nicht zugelassen. Seit dieser Zeit stellt das Thema Beruf für ihn ein „riesengroßes Problem“ (ebd.) dar. Im Verlauf der letzten Jahre arbeitet er ehrenamtlich bei zwei künstlerischen Projekten mit, ist aber bis in die Gegenwart nicht mehr erwerbstätig. Dieses Problem wirkt sich auch auf seine sozialen Kontakte aus, denn er meidet Situationen, in denen er gefragt werden könnte, was er arbeitet und nimmt „sehr wenig am Leben teil“ (Int 5, S. 49). Auch zu einer Gruppe junger Rheumatiker, die er einige Male besuchte, geht er aus diesem Grunde nicht mehr. Gegenwärtige Lage: „Einfach wieder so in ein geregeltes Leben zu kommen.“ Seine körperliche Problematik, die sich über eine längere Zeit in bestimmten Grenzen bemerkbar machte, verschärft sich in den letzten Jahren deutlich. Die Rheumaschübe im Frühjahr sind so stark, dass er in den vergangenen zwei Jahren jeweils für drei bis vier Wochen ins Krankenhaus muss. Während er es beim ersten Krankenhausaufenthalt noch abwenden kann, Kortison gegen die Entzündung zu nehmen, wird es ihm von den Ärzten im darauf folgenden Jahr nachdrücklich empfohlen:
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Empirische Ergebnisse „...und dann letztes Jahr war es halt so, dass sie gemeint haben, sie würden mir das jetzt schon anraten und ich soll mir das jetzt überlegen, ob ich das nicht machen will, damit man den Schub irgendwie eindämmen kann und da keine oder nicht zu große Schäden dadurch auftreten, dann hab ich das halt genommen und seitdem komme ich halt von dem Kortison nicht mehr runter, jedes Mal wenn ich irgendwie unter eine bestimmte Dosis gehen will mit dem Kortison, dann kommt der Schub wieder durch und jetzt bin ich halt bei einem anderen Rheumatologen, der hat mir halt eine Basistherapie verschrieben (...) ist eigentlich eine gering dosierte Chemotherapie, also ein Immunsupressivum, genau, und das nehme ich jetzt seit zwei Wochen, also er hat halt gemeint, dadurch könnte man das Kortison reduzieren wieder oder vielleicht sogar ganz ausschleichen dann und das wäre halt seiner Meinung nach eine Basistherapie, die wirkt, die auch was bringt, die für mich auch wirkungsvoller wäre, genau, das nehme ich jetzt.“ (Int 5, S. 24)
Nach der Einnahme von Kortison kommt er in einen Kreislauf, in dem er das Medikament nicht mehr absetzen kann ohne einen neuerlichen Schub zu erleiden. Die Situation hat sich also gewandelt, die Krankheit ist zu einem permanenten Begleiter geworden. Sie muss regelmäßig behandelt, das heißt, die Entzündung muss medikamentös unterdrückt werden. Klaus Melzer beschreibt eine Entwicklung, in der eine immer enger werdende Beziehung zum medizinischen System und die Abhängigkeit von ihm sichtbar werden. Einerseits berichtet er darüber relativ nüchtern, andererseits macht der Wechsel des Rheumatologen deutlich, dass der Erzähler mit der Behandlung des bisherigen Arztes unzufrieden war. Er folgt dem Behandlungsplan des neuen Rheumatologen und hofft auf diese Weise, das Kortison absetzen zu können und auf weitere positive Wirkungen, nimmt allerdings dafür ein anderes starkes Medikament regelmäßig. Verschärft wird die jetzt permanent entzündliche Lage durch die Schäden an den Hüftgelenken, die durch das Zusammenwirken von Arthrose und Arthritis im Verlauf der Jahre entstanden sind und sich bereits so weit manifestiert haben, dass ihm letztes Jahr ein künstliches Hüftgelenk eingesetzt wurde. Dieser massive medizinische Eingriff hat seine Beweglichkeit wieder erheblich verbessert und im laufenden Jahr soll das zweite Hüftgelenk ersetzt werden. Zur weiteren gesundheitlichen Unterstützung geht er regelmäßig zur Krankengymnastik und bekommt dort CraniosacralMassage und ist bei einer Heilpraktikerin, die mit Methoden der chinesischen Medizin behandelt. Darüber hinaus zieht er eine homöopathische Behandlung in Betracht. Gegenwärtig sichert das Erbe des Großvaters seinen Lebensunterhalt. Dieser finanzielle Hintergrund reicht nicht ewig, so Klaus Melzer, jedoch hat er keine Angst, „komplett ohne Geld“ (Int 5, S. 35) dazustehen, da seine Eltern ihn finanziell unterstützen würden. Seine Arbeitslosigkeit und berufliche Perspektivlosigkeit beschreibt er als sein größtes Problem, das er jetzt lösen muss. Das ist ihm wichtig, um wieder zu einer beruflichen Identität für sich und in Kontakt mit anderen zu gelangen. Ein wichtiger Antrieb, um die Klärung seiner beruflichen Situation jetzt anzugehen, ist die seit einem Jahr bestehende Beziehung zu seiner aktuellen Freundin. Um mit ihr eine Zukunft zu haben, möchte er „wieder so in ein geregeltes Leben“ (Int 5, S. 47) zurückfinden. Vor kurzem hat er eine Therapie bei einer Verhaltenstherapeutin begonnen und erwartet hierdurch Unterstützung bei der Lösung seiner Problemlage. Soziale Kontakte meidet er vielfach, hat aber gute Beziehungen innerhalb seiner Familie. Im Zusammensein mit seinen Geschwistern findet eine gegenseitige Unterstützung statt, „weil wir schon so ähnliche Probleme haben und uns da schon sehr gut verstehen können“ (Int 5, S. 45). Mit ihnen erlebt er das Gefühl, akzeptiert zu werden und kann sich unter anderem dort „Kraft und Normalität“ (ebd.) holen. Darüber hinaus spielt er
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Schlagzeug und singt in einem Gospelchor. Diese regelmäßige musikalische Aktivität hat für ihn ebenfalls eine hohe Bedeutung.
GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Klaus Melzer präsentiert seine Lebensgeschichte als Problemgeschichte. Er leitet die Erzählung ein, indem er das Problem der Isolation als Überschrift über sein gesamtes Leben setzt. Von der Kindheit, Jugend und dem jungen Erwachsenenalter werden Geschichten erzählt, die unter dem Blickwinkel der Isolation reflektiert sind und von der Entwicklung und Erfahrung von Isolation oder von der Überwindung von Isolation handeln. Thematisch stehen in der Kindheit und Jugend die Bedingungen der Herkunftsfamilie und verschiedene körperliche Symptome als Probleme in der Beziehung zur Umwelt im Vordergrund, während im jungen Erwachsenenalter das Herausfallen aus der beruflichen Welt das Hauptproblem bildet. Positive Ereignisse oder Personen nehmen in der Erzählung wenig Raum ein. Die rheumatischen Erkrankungen werden am Rande erwähnt und auf Nachfrage in einer Erzählweise näher erläutert, die vorwiegend von einer sachlichen Form bestimmt ist und von praktischer Handhabung handelt. Bei der Schilderung der psychischen Problemerfahrungen stehen Gefühle und Erleidensprozesse im Zentrum der Aufmerksamkeit, das Detaillierungsniveau und die Intensität der Erzählung, die auch viele Argumentationen und Evaluationen aufweist, nimmt zu. Es wird deutlich, dass der Schwerpunkt der Erzählung im Bereich der psychosozialen Erfahrung und Entwicklung liegt. Nachfolgend sollen das Verhältnis zum Körper, die Problematik von sozialen Kontakten, die Paarbeziehung als Motivation zur Problemlösung sowie die Auseinandersetzung mit der beruflichen Situation, dem Selbstbild und der Zukunft als thematische Bereiche beleuchtet werden, die bei Klaus Melzer im Vordergrund der aktuellen Bewältigung stehen. Das Verhältnis zum Körper und zu den Veränderungen durch die Krankheit: „Das geht jetzt schon alles viel besser mit dem einen künstlichen Gelenk und mit dem zweiten wird es dann noch besser gehen.“ Bei der aktuellen Auseinandersetzung von Klaus Melzer mit seinem Körper geht es um die Begrenzung von weiteren Schäden an den Gelenken durch Entzündungsprozesse und um den Erhalt und die Verbesserung der Funktionsfähigkeit durch unterstützende Behandlungen und durch die Gelenksoparationen an den Hüften. Die Entscheidung zu diesem massiven Eingriff, dem ein Prozess der Auseinandersetzung und des Informationssammelns über zwei Jahre vorausgegangen war, trifft er aufgrund der starken Einschränkung seiner Beweglichkeit. Das Ergebnis des Eingriffs bewertet er positiv. „Das hat sich echt um einiges verbessert, die Beweglichkeit, also das merke ich so an meinem täglichen Leben, dass das schon wesentlich weniger umständlich ist, also da hab ich jetzt körperlich einfach nicht mehr so die großen Probleme, wenn es jetzt drum geht, die Strümpfe anzuziehen oder die Schuhe zu schnüren, das geht jetzt schon alles viel besser mit dem einen künstlichen Gelenk und mit dem zweiten wird es dann noch besser gehen.“ (Int 5, S. 31)
Nach der Operation der ersten Hüfte hat sich seine Beweglichkeit bereits spürbar verbessert, was ihn optimistisch auf die Zeit nach der zweiten Operation blicken lässt. Die in dieser Passage angesprochenen Einschränkungen im täglichen Leben, die vor der Operation offensichtlich bestanden, kommen in den vielfältigen Schilderungen seiner Probleme im
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Lebensverlauf nicht zur Sprache. In der konkreten Umgangsweise mit der Krankheit und ihren Symptomen scheint er relativ praktisch orientiert zu sein und einiges an Schmerzen oder Einschränkungen aushalten zu können, ohne das besonders zu thematisieren oder herauszustellen. Andere Aspekte seiner Person als seine körperliche Verfassung stehen im Vordergrund, wenn es um die Wahrnehmung oder Darstellung seiner Probleme geht. Auch über die Vorbereitungen bis zur Hüftoperation und seine Gefühle im Zusammenhang mit ihr wird erstaunlich pragmatisch berichtet. Er schildert zwar die Vorstellung, was bei der Operation mit seinem Körper passiert, als „nicht sehr angenehm“ (Int 5, S. 33), kann die Ängste hier aber kontrollieren, indem er sich das nicht mehr plastisch vorstellt, sondern sich denkt „ich bin in einem guten Krankenhaus und mitkriegen tu ich eh nichts davon“ (ebd.). Die Gelenksprothese aus Metall kann er im Hinblick auf seine verbesserte Beweglichkeit scheinbar gut in sein Körperbild integrieren. Die konkrete körperliche Erkrankung wird zwar einerseits erlitten, aber in einem nächsten Schritt handlungspraktisch bewältigt, indem die notwendigen Informationen eingeholt und Entscheidungen über Behandlungen getroffen werden. Er tut alles Nötige für seine körperliche Behandlung und Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit, nimmt medizinische Hilfe in Anspruch, hinterfragt diese aber auch kritisch und ergänzt sie durch alternative Methoden, der Körper wird also auf hohem Niveau versorgt. Auf die körperliche Erkrankung kann er handlungspraktisch reagieren, während die Ängste und die Selbstwertproblematik auf einer anderen Ebene liegen und er sich hier ohnmächtig fühlt. In Bezug auf eine mögliche Berufstätigkeit werden die Krankheitsfolgen insoweit einbezogen, dass er eher eine Tätigkeit ausführen sollte, bei der er viel sitzen kann und nicht lange stehen oder schwer tragen muss. Sie werden nicht thematisiert im Zusammenhang mit Ausgrenzung und nicht in Bezug auf seine Rolle als Partner oder in Bezug auf Vorstellungen, die die Zukunft betreffen. Während in seiner Kindheit und Jugend körperliche Symptome mit Abweichung von Normalität und Isolation als problematisch geschildert werden, wird dieser Bezug im Zusammenhang mit seiner rheumatischen Erkrankung nicht ausgedrückt. Dies könnte mit einem abwehrenden Bewältigungsverhalten gedeutet werden, das auf diese Weise Distanzierung ermöglicht, weist aber darüber hinaus darauf hin, dass Probleme auf einer anderen Ebene im Vordergrund der Wahrnehmung stehen und Brüche oder Erfahrungen von Ausgrenzung oder Andersartigkeit bereits in anderen Zusammenhängen gemacht wurden. Berufliche Situation als Problem und Ziel: „Also ich bin da einfach rausgeflogen aus der Geschichte und ich komm nicht wieder rein.“ Als sein vordringlichstes Problem beschreibt er die ungelöste berufliche Situation, die er „auf die Reihe“ (Int 5, S. 39) bekommen muss. Dabei geht es jedoch nicht in erster Linie um eine materielle Notwendigkeit, denn seine finanzielle Sicherheit ist durch das Vermögen der Eltern und deren Unterstützungsbereitschaft garantiert, sodass sich für ihn lediglich die Frage stellt, ob er von der Unterstützung durch seine Herkunftsfamilie leben will. Diese finanzielle Grundsicherung ist ein Fundament, das es ihm ermöglicht, sich mit persönlichen Interessen oder auch Problemen zu befassen und nicht aufgrund materieller Notwendigkeiten zu einer wenig attraktiven Arbeit gezwungen zu sein oder die staatlichen sozialen Sicherungssysteme in Anspruch zu nehmen. Im Vordergrund seiner Problematik steht der Verlust des beruflichen Lebensbereiches und der damit verbundenen Lebensorientierung und beruflichen Identität. Seine gesundheitliche Situation verkompliziert die Lage, da er mit Rücksicht auf seine künstlichen Hüftgelenke nicht den ganzen Tag herumlaufen und
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nichts Schweres tragen kann, sondern nur Tätigkeiten in Frage kommen, die das berücksichtigen. Dieser Aspekt steht jedoch nicht im Zentrum der von ihm beschriebenen Problematik. Im Vordergrund stehen sein Alter, seine geringe berufliche Qualifikation, seine inhaltlichen Erwartungen an und seine sehr vagen Vorstellungen von einer Tätigkeit, die in ihrem Zusammenwirken ein komplexes Problem darstellen. „Für mich stellt einfach das Thema Beruf seit der Zeit, es ist für mich ein riesengroßes Problem, also ich bin da einfach rausgeflogen aus der Geschichte und ich komm nicht wieder rein, also das ist halt jetzt echt mein Problem, was sich jetzt über die Jahre hingezogen hat oder und ich kann auch nicht sagen, dass ich wirklich große Versuche unternommen hätte, also mein Problem ist wirklich, das überhaupt anzugehen, also, es ist nicht so, dass ich irgendwo abgeblitzt wäre, sondern einfach die Aktion wieder berufstätig zu werden an sich, das ist einfach was, was ich nicht auf die Reihe kriege.“ (Int 5, S. 27)
Aus dem begonnenen beruflichen Lebensweg mit künstlerischer Ausrichtung ist er „rausgeflogen“ und empfindet sich als außerhalb eines normalen Bereiches der Gesellschaft stehend und ohne klare Perspektive, in diesen Bereich wieder zurückzufinden. Es handelt sich um ein „riesengroßes“ Problem, das so übermächtig und zugleich unkonkret erscheint, dass es kaum greifbar ist. Das findet seinen Ausdruck in Klaus Melzers Beschreibung, dass er bisher kaum Lösungsversuche unternommen hat und dass es sein Problem ist, „das überhaupt anzugehen“. Er verbleibt in der Passivität, ein Wechsel in die Aktivität gelingt bislang nicht. Problematisch scheint neben anderen möglichen Gründen die mangelnde Handlungsmotivation, die im Zusammenhang mit seiner beruflichen Orientierungslosigkeit gesehen werden kann. Ohne klare Zielrichtung ist auch gezieltes Handeln nicht möglich. Darüber hinaus besteht kein existenzieller Zwang, das Problem der Berufstätigkeit schnell zu lösen, und so kann es sich ohne große Auswirkungen auf den materiellen Lebensstil „über die Jahre hinziehen“ und zu einer größer werdenden Hypothek aufschichten. Sein fortschreitendes Alter verschlechtert seine Chancen, durch eine weitere Qualifizierung wieder einen beruflichen Einstieg zu finden. Ebenso beeinflusst die anhaltende Passivität und das Erleiden dieses Problems seine Vorstellung davon, wie andere ihn bei der Suche nach einer Tätigkeit beurteilen und seine Selbstwahrnehmung. „...ich bin ja jetzt nicht jemand, der grade sein Abitur gemacht hat und für den es ganz normal ist, jetzt zu suchen, sondern für mich ist es halt irgendwo schwerer, weil ich halt solange ja nichts gemacht habe (...) ich fühl mich nicht wie so ein Frischling, sondern wie jemand, der halt an irgendwas, der gescheitert ist an einer Sache und seitdem einfach nicht mehr auf die Höhe gekommen ist.“ (Int 5, S. 39)
Im Unterschied zu Schulabsolventen, für die es in ihrer Lebensphase normal ist, den weiteren beruflichen Weg zu suchen, ist es in seinem Alter nicht mehr normal, sondern wird als ein Ausdruck des Scheiterns gedeutet. Zwischen dem erfolgreichen Schulabschluss mit der Qualifikation der allgemeinen Hochschulreife und den damit verbundenen Erwartungen für den weiteren Bildungs- bzw. Berufsverlauf und der heutigen Situation von Klaus Melzer besteht ein großer Kontrast. Das zeigt sich auch im Bild desjenigen, der „nicht mehr auf die Höhe gekommen ist“, welches implizit die Vorstellung von jemandem beinhaltet, der in der Tiefe, am Boden liegt und nicht die Kraft oder die Möglichkeiten hat, wieder aufzusteigen. Die Wahrnehmung als individuelles Versagen unterstützt wiederum das bestehende Problem und unterstreicht die Erfahrung des Scheiterns. Klaus Melzer sieht sich als Außensei-
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Empirische Ergebnisse
ter, da er von dem normalen beruflichen Entwicklungsverlauf abweicht. Er weiß nicht, wie er die Tatsache bei der Suche nach einer Tätigkeit oder einer Möglichkeit zur weiteren Qualifikation „rechtfertigen soll“ (Int 5, S. 39), dass er so lange ohne offizielle Tätigkeit war. Dieser Verstoß gegen die Norm stellt für ihn neben anderen Schwierigkeiten ein großes Hindernis bei dem Zurückfinden in die berufliche Welt dar. Mit der freien Zeit, über die er verfügt, kann er „gar nichts anfangen“ (Int 5, S. 40), denn er fühlt sich gerade dadurch, dass er nicht arbeitet „so anders und so isoliert“ (ebd.). Die Situation belastet ihn ständig, das Problem ist rund um die Uhr präsent. Vermeiden von sozialen Kontakten: „Das bringt mich so zur Isolation auch, weil ich mich eben nicht ebenbürtig fühle.“ Die fehlende berufliche Identität und der nicht vorhandene berufliche Lebensbereich wirken sich auf seine sozialen Kontakte aus und führen dazu, dass er sich zurückzieht und den Kontakt mit unbekannten Menschen meidet. „Also das ist auch das, was mir mein Leben da wirklich schwer macht, weil ich da so ängstlich bin gegenüber Gruppen, neue Leute kennen lernen, einfach immer diese Frage vor Augen zu haben wenn mich jemand fragt, was machst du beruflich und ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll und das ist was, was mein Leben wirklich sehr stark einschränkt, also so die Situation, wie sie ist, könnte ja theoretisch anderes sein, wenn man damit anders umgehen würde oder wenn man da die richtigen Worte parat hätte, aber gerade das macht mich ja irgendwo so, bringt mich so zur Isolation auch, weil ich mich eben nicht ebenbürtig fühle mit den anderen und irgendwie, ich hab da nichts entgegen zu setzen, wenn jemand mich nach meinem Job fragt und mir von seinem erzählt, kann ich einfach nichts dagegen setzen zur Zeit.“ (Int 5, S. 48)
Neuen Kontakten steht Klaus Melzer ängstlich gegenüber, da er damit rechnet, nach seiner Berufstätigkeit gefragt zu werden. Dies bringt ihn in eine Situation, in der er sich nicht „ebenbürtig“ fühlt und „nichts entgegensetzen“ kann, wenn andere von ihrer Arbeit erzählen. Neben seiner wiederholt beschriebenen Selbstwertproblematik aktiviert der Kontakt zu anderen seine Erfahrung, ein Außenseiter zu sein und außerhalb der Normalität zu stehen, also nicht wie die anderen an der Gesellschaft teilzuhaben und durch die gemeinsam geteilte Realität einer beruflichen Welt verbunden zu sein. Theoretisch erwägt er Verhaltensalternativen, mit denen „man“ die Situation anders gestalten oder erleben könnte, betont aber im Kontrast dazu, dass sie ihm aufgrund seines mangelnden Selbstwerts nicht zur Verfügung stehen. Wieder treten seine persönliche Problematik und seine psychologische Sichtweise auf sie hervor. Er muss die Einschränkung in seinem Leben erleiden, da ihm keine anderen Möglichkeiten des Umgangs zur Verfügung stehen, was er wiederum in seinem schlechten Selbstwert begründet sieht, der bereits in den Erfahrungen seiner Vergangenheit angelegt ist. Diesem psychologischen Deutungsmuster folgt auch sein derzeitiger Versuch, die schwierige Situation zu lösen. Nach Gesprächen mit verschiedenen Therapeuten hat er vor kurzem eine Verhaltenstherapie begonnen und hofft, dass er hier grundlegende Hilfe bekommen kann, um wieder ins Arbeitsleben zurückzufinden. Die Paarbeziehung als Motivation: „Jetzt muss ich irgendwie schauen, dass ich das mal geregelt kriege irgendwie, damit sich mein Leben weiterentwickeln kann.“ Im Vordergrund seiner Motivation, jetzt eine Lösung für seine problematische berufliche Lage zu finden, steht die seit einem Jahr bestehende Beziehung zu seiner aktuellen Freun-
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din. Er möchte mit der Freundin „auf der gleichen Ebene“ (Int 5, S. 40) sein, die bereits seit drei Jahren eine Arbeitsstelle hat. Als weiteren Grund führt er an, dass die Lösung dieses Problems für ihn wichtig ist, um über die Gründung einer eigenen Familie nachdenken zu können. „... also, das ist für mich eigentlich auch wirklich der Antrieb zu sagen, so, jetzt muss ich irgendwie schauen, dass ich das mal geregelt kriege irgendwie, damit sich mein Leben weiterentwickeln kann, damit das nicht mehr stagniert, weil ich da halt auch eine Zukunftschance sehe, also, weil sich da wirklich was entwickeln könnte und wir da eventuell auch eine Familie zusammen aufbauen könnten.“ (Int 5, S. 47)
Klaus Melzer bringt in der Passage zum Ausdruck, dass im Zusammenhang mit der Partnerschaft neue Optionen für eine mögliche Zukunft entstehen, die mit einem Wandel von Passivität zu mehr Aktivität verbunden sind. Er hat Vorstellungen darüber, wie sich sein Leben mit der Partnerin weiterentwickeln kann und sieht eine „Zukunftschance“. Der Kontrast zwischen Stagnation und Weiterentwicklung des Lebens korrespondiert mit dem Kontrast der bisher vorherrschenden Orientierungslosigkeit und der sich jetzt darbietenden Zukunftschance. Durch die Beziehung zur Partnerin gewinnt er eine Orientierung im privaten Bereich, die ihn motiviert, sein Leben auch im beruflichen Bereich zu regeln. Die Orientierung beinhaltet das lebensphasentypische Thema der Familiengründung, für das, dem männlichen biographischen Muster gemäß, aus seiner Sicht die beruflichen Verhältnisse geklärt sein sollten. Eine Zukunft für das Paar und eine gemeinsame Familie gibt es also dann, so könnte man schlussfolgern, wenn er die berufliche Situation erfolgreich löst. Diese Interpretation bestätigt er im weiteren Verlauf der Erzählung. Selbstbild: „Dass ich also ein Mensch bin, der sich selbst schon sehr viel isoliert hat.“ An den Beginn seiner Erzählung setzt er sein Leben unter die Überschrift der Isolation. „...da ist mir als erstes mal irgendwie das Stichwort Isolation gekommen, dass ich also ein Mensch bin, der sich selbst schon sehr viel isoliert hat, also nicht unbedingt gezwungenermaßen von außen isoliert worden bin, sondern dass ich immer wieder so Tendenzen hab, in eine Isolation zu geraten (...) dass ich einfach mich ausklinke und das ist eben was, was sich schon eben durch mein ganzes Leben gezogen hat obwohl ich in einer großen Familie aufgewachsen bin eben mit meinen fünf Geschwistern, wo eigentlich sehr viel Kommunikation da war, muss ich das schon vor mir ehrlich zugeben oder einfach + + als ein Wesenszug von mir eben ansehen, dass ich jemand bin, der sich immer gerne oder sich sehr oft ausgeklinkt hat, sich sehr oft isoliert hat“ (Int 5, S. 2)
In seiner eigentheoretischen Aussage schildert Klaus Melzer sich als Mensch, der immer wieder in Isolation gerät, weil er sich selbst „ausklinkt“ und die Kommunikation mit anderen unterbricht. Er beschreibt dies einerseits als aktives Tun, andererseits sieht er es auch als Wesenszug von sich an und als etwas, das sich durch sein ganzes Leben gezogen hat, also als eine für ihn typische Eigenart, der er folgen muss, weil sie in seinem Wesen angelegt ist. Er stellt die Isolation, die immer auf ein soziales Gegenüber verweist, als seine individuelle Eigenart oder Problematik heraus, und verweist so auf ein psychologisches Deutungsmuster in Bezug auf sich selbst und sein Leben. Dies zeigt sich ebenfalls in seiner psychosomatischen Sicht auf die verschiedenen Erkrankungen.
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Empirische Ergebnisse „...also Scham spielt bei mir eine große Rolle, auch in den Krankheiten, die sich später draus ergeben haben, spiegelt sich das wieder, dass das so im Schambereich auch wirklich liegt, also was ich dann für Probleme hatte.“ (Int 5, S. 3)
In einer Gesamtevaluation hebt er die Bedeutung der Scham für sein gesamtes Leben hervor und zeigt in der Spiegelmetapher die psychosomatische Deutung seiner Erkrankungen auf. Seine Eigentheorie besagt, dass sich seine psychischen Probleme mit der Scham auch körperlich im Schambereich manifestieren. Die Krankheit wird so als Ausdruck der seelischen Verfassung gewertet, was wiederum erklärt, dass der Körper zwar entsprechend seiner Situation behandelt und wiederhergestellt werden muss, die eigentliche Problematik aber nur auf einer anderen Ebene behandelt und gelöst werden kann. Dieser Ansatz macht auch deutlich, warum seine Erzählung schwerpunktmäßig von Entwicklungen und Befindlichkeiten auf der psychosozialen Ebene handelt. Inwieweit die Aussage im angeführten Zitat seine rheumatischen Erkrankungen einschließt, die sich im Hüftbereich, aber beispielsweise auch an Knien oder Fingergelenken manifestieren, wird nicht deutlich. Es fällt auf, dass er in keinen anderen Passagen seiner Erzählung psychosomatische Bezüge zu den rheumatischen Erkrankungen herstellt. Die Hüftarthrose wird als Problematik einer Fehlstellung aus der frühen Kindheit erklärt, zu dem Auftreten der Polyarthritis gibt es keinen ursächlichen Bezug. Über diesen Themenbereich berichtet er überwiegend sachlich und auf konkrete praktische Handlungen bezogen. Dies könnte als Bewältigungsstrategie gedeutet werden, mit der Themen, die Angst auslösen, auf Distanz gehalten und Emotionen kontrolliert werden. Auseinandersetzung mit der Zukunft: „Vielleicht war das auch schon immer mein Problem, dass ich mir keine Ziele gesteckt habe.“ In seiner aktuellen Bewältigung steht überwiegend das Problematische im Zentrum der Aufmerksamkeit. Eine Auseinandersetzung mit der Zukunft gibt es kaum, lediglich den unspezifischen Wunsch, wieder ein geregeltes Leben zu führen und einen Weg in die berufliche Welt zu finden. In Bezug auf die Partnerschaft wird eine sehr vage und weit entfernte Zukunftsvorstellung geäußert. Es gibt allgemeine, übergeordnete Wertorientierungen der Weiterentwicklung und des künstlerischen Ausdrucks, sobald es aber um spezifischere Ziele und um konkretere Möglichkeiten der Umsetzung geht, richtet sich die Aufmerksamkeit von Klaus Melzer wieder auf die problematischen Seiten solcher konkreteren Orientierungen. Warum etwas nicht geht, ihm nicht entspricht oder zu schwierig erscheint, wird ausführlich erläutert. Auf die Frage nach der Zukunft antwortet er mit einer Selbstanalyse: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Zukunft in meinen Gedanken zu wenig präsent ist, also dass ich zu wenig plane oder zu wenig Ziele hab, um dann wirklich ganz tatkräftig das umzusetzen, was ich dazu brauche, um diese Ziele zu erreichen, vielleicht war das auch schon immer mein Problem, dass ich mir keine Ziele gesteckt habe.“ (Int 5, S. 40)
Er reflektiert seinen Umgang mit Zukunft und Zielen und theoretisiert über seine diesbezüglichen Mankos. Anschließend äußert er die Vermutung, dass sein geringer Zukunftsbezug mit wenigen Planungen und Zielvorstellungen ein generelles, „schon immer“ vorhandenes Problem von ihm ist, was, so kann man weiter interpretieren, für die heutige problematische Lage mitbestimmend ist. Über eine mögliche Familiengründung hinaus geht er nicht auf weitere zukunftsbezogene Inhalte bei der Beantwortung der Frage ein,
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auch eine möglicherweise bedrohliche Zukunft durch ein Fortschreiten der Erkrankung oder durch Komplikationen mit den Gelenksprothesen thematisiert er nicht. In dieser Passage entsteht wieder der Eindruck, dass dieses Thema - möglicherweise mit professioneller Unterstützung - bereits zuvor reflektiert und auf die prägnante Problemdefinition „zu wenig zukünftige Vorstellungen, zu wenig Ziele“ gebracht wurde. Das hier von ihm definierte „Problem“ kommt in der gesamten Erzählung im Zusammenhang mit seinem Handeln zum Ausdruck. Vielfach reagiert er zwar mit praktischen Handlungen auf sich ändernde körperliche Bedingungen, handelt aber darüber hinaus wenig zielgerichtet und beschreibt vorwiegend seinen Rückzug oder Passivität und Erleiden. Plausibel scheint, dass die unklaren allgemeinen Orientierungen und die starke Ausrichtung auf Probleme und auf Nichterwünschtes eine aktivere Lebensführung schwierig machen. Klaus Melzer betont jedoch auch seine aktuelle, aus seiner Paarbeziehung und den damit verbundenen vagen zukünftigen Plänen resultierende Motivation, seine problematische Situation zu verändern.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Als charakteristisch für seine Biographie sieht Klaus Melzer das Thema Isolation. Er schildert seine Kindheit und Jugend unter diesem Vorzeichen, das er in einen Zusammenhang mit seiner problembelasteten Herkunft stellt. Er entstammt einer gehobenen, besitzenden Schicht und lebt in der Spannung zwischen standesgemäßen Ansprüchen des weiteren Familienkreises und der nicht standesgemäßen Lebensweise seiner Kernfamilie, die er als Ursache seiner Selbstwertproblematik ausmacht. Gegen Ende seiner Schulzeit wird eine Hüftgelenksarthrose diagnostiziert, die er jedoch nicht als bedeutsame Erkrankung realisiert und ignoriert. Nach einer erfolgreich abgeschlossenen Schullaufbahn und anfänglicher Zufriedenheit über den Übergang in die Berufstätigkeit als Fotograf ohne weitere offiziell legitimierte Ausbildung wird die Situation nach einiger Zeit als unbefriedigend und perspektivlos empfunden und die Lebensorientierung wird problematisch. Die Trennung von der damaligen Partnerin erhöht den Problemdruck und führt zu massiven Ängsten. In dieser Phase tritt eine chronische Polyarthritis mit Entzündungsschüben als zusätzliche Komplikation in Erscheinung, verstärkt aber nur die vorhandene Problemlage und steht nicht im Vordergrund der Problemwahrnehmung. Als Folge der massiven Problemaufschichtung beendet er das Arbeitsverhältnis bei dem Fotografen. Er unternimmt den Versuch einer weiteren Qualifizierung für eine berufliche Weiterentwicklung, diese gelingt jedoch nicht und er fällt langfristig aus dem Arbeitsprozess heraus. Der Erzähler verliert durch die Arbeitslosigkeit neben dem beruflichen Alltag auch eine berufliche Identität. Den Widereinstieg in eine berufliche Laufbahn formuliert er heute als sein dringlichstes Problem. Dabei muss er zwar seine körperlichen Bedingungen berücksichtigen, viel problematischer sieht er dabei allerdings sein Alter und das Fehlen einer Qualifikation, auch mangelt es ihm an konkreten Ideen und Vorstellungen über mögliche berufliche Tätigkeiten oder noch offene Ausbildungswege. Er hat bestimmte Erwartungen bezüglich einer interessanten Arbeit, die mit den übergeordneten Orientierungen der Weiterentwicklung und der künstlerischen Verwirklichung in Zusammenhang stehen, denn schon beim Fotografen waren die Arbeitsinhalte für ihn unbefriedigend. Im Kontrast zu seinen gehobenen Ansprüchen steht seine geringe berufliche Qualifikation, die es kaum erlaubt, seine künstlerischen Ambitionen auf dem gewünschten Niveau beruflich umzusetzen. Der progrediente Krankheitsverlauf, der
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mit zunehmenden Bewegungseinschränkungen verbunden ist und zu Hüftgelenksprothesen führt, verschärft zwar die Problemlage, führt aber nicht zu einer umfassend veränderten Sicht auf das Leben. Die Krankheit wird nicht als Wendepunkt in der Biographie dargestellt, sondern reiht sich in schon bestehende Problemkonstellationen ein. Die aktuelle Motivation, sich aus seiner Orientierungslosigkeit zu befreien, stellt er in einen Zusammenhang mit seiner neuen Paarbeziehung, die im Privatbereich mit der Entstehung einer neuen Perspektive verbunden ist, für die jedoch aus seiner Sicht eine berufliche Perspektive die Voraussetzung bildet. Die Darstellung der gegenwärtigen Situation beinhaltet die Hoffnung auf eine mögliche Befreiung aus der Orientierungslosigkeit. Über weite Phasen hinweg zeichnet sich der Umgang von Klaus Melzer mit den Erkrankungen durch einen überwiegend reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil aus. Er verfügt über verschiedene Potenziale in Form von Schulbildung, materieller Sicherheit durch das Familienvermögen und Unterstützung innerhalb der Kernfamilie. Im Vordergrund der Erzählung steht die Hypothek durch die Bedingungen der Herkunftsfamilie, die mit psychischen Problemen und Isolation in Verbindung gebracht werden. Neben den unterstützenden Beziehungen durch die Familie und aktuell auch durch die Freundin schildert er wiederholt Erfahrungen von Isolation, Rückzug und gescheiterter sozialer Unterstützung. Die Diagnose der Hüftgelenksarthrose in der Jugendphase führt nicht zu Veränderungen der Lebensorientierung, die in dieser Zeit dem institutionalisierten Verlauf der gymnasialen Schulausbildung folgen. Beim Auftreten der Polyarthritis im frühen Erwachsenenalter ist die Lebensorientierung durch die Perspektivlosigkeit der beruflichen Lage und die Trennung von der Freundin bereits problematisch, die Erkrankung kommt hier lediglich als weitere Schwierigkeit hinzu. In der aktuellen Lebensphase des beginnenden mittleren Erwachsenenalters hat sich die Problematik durch lange Arbeitslosigkeit, fehlende berufliche Qualifizierung und Fortschreiten der Erkrankung weiter verschärft. Der Kontakt mit einer auf Krankheit bezogenen Welt wird teilweise als unangenehm oder als unbefriedigend, aber nicht in Verbindung mit einer neuen Außenseiterposition oder einer veränderten Sicht auf die Welt dargestellt. Klaus Melzer erlebt sich bereits in seiner Jugend als Person, die außerhalb der normalen Welt steht, sodass der Außenseiterstatus bereits eine bekannte und keine neue Erfahrung ist. Die Erkrankung wird anfangs ignoriert und später mit zunehmender körperlicher Symptomatik schrittweise in die Biographie integriert. Charakteristisch für diesen Fall ist die Erzählung einer problembestimmten Biographie mit einer diffusen Lebensorientierung, in der die Erkrankung in der Anfangsphase bagatellisiert und zunächst in der Lebensführung nicht beachtet wird. Mit zunehmender Verschlechterung der körperlichen Lage wird auf die Erkrankung reagiert.
3.2.4.2 Biographisches Porträt 13: SVEN HERBIG Zum Interviewzeitpunkt ist Sven Herbig 36 Jahre alt und leidet an einer Schrumpfung des Kleinhirns, was sich in Störungen der Motorik, des Gleichgewichtssinnes und der Artikulation äußert. Die Diagnose ist ihm seit ungefähr zehn Jahren bekannt.
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Er ist gelernter Tischler, hat kurz in seinem Beruf gearbeitet und war anschließend im Wechsel mit Phasen der Arbeitslosigkeit überwiegend als Kraftfahrer, aber auch in anderen Jobs erwerbstätig. Seit 1997 bezieht er eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Er ist ledig. Sven Herbig hat als Folge seiner Erkrankung eine undeutliche Artikulation und spricht daher langsam, hat insgesamt jedoch einen lebendigen und emotionalen Ausdrucksstil.
VERLAUF DER LEBENS- UND KRANKHEITSGESCHICHTE Biographische Vorgeschichte bis zur Erkrankung Sven Herbig wird 1967 in der deutschen Großstadt Z geboren. Vor seiner Geburt haben seine Eltern drei Jahre zusammen auf Gomera gelebt. In der Zeit, als die Mutter mit ihm schwanger ist, hat der Vater ein Verhältnis mit einer anderen Frau, was seine Mutter „wiederum nicht so gut fand“ (Int 4, S. 73) und worauf die Scheidung der Eltern folgt. Sven Herbig wächst bei seiner Mutter auf, die ihn in Z-Stadt alleine erzieht. Der Vater war anfangs Kraftfahrer und später „Überlebenskünstler“ (Int 4, S. 82), die Mutter übt eine Bürotätigkeit aus. Auch im weiteren Lebensverlauf tritt der Vater nur sporadisch und unberechenbar in Erscheinung und scheint häufig in anderen Ländern unterwegs zu sein. Bis zur Oberschule, so fasst Sven Herbig seine Kindheit zusammen, „lief eigentlich alles ganz normal, wie es halt bei anderen Kindern auch ist“ (Int 4, S. 9). Für zwei Jahre lebt er bei seinem Vater in einer anderen Großstadt, wird aber von seiner Mutter zurückgeholt und vermittelt von dieser Zeit bei dem Vater den Eindruck eines ungeordneten Lebens. In der Oberschule, einer Gesamtschule, die in Z-Stadt ab der siebten Klasse besucht wird, beginnt für ihn ein anderes Leben. Er trifft Leute, die ihm „Flausen“ (Int 4, S. 9) in den Kopf setzen, die sich, wie er aus seiner heutigen Perspektive mehrfach betont, nachher als gut herausstellen, denn, so argumentiert er, hätte er nicht diese Phase gehabt, in der er alles „auf Teufel komm raus“ (ebd.) ausprobiert hätte, würde er sich heute wesentlich mehr bemitleiden. Diese Phase beschreibt er als Punkzeit, in der er „Z-Stadts längsten Iro“ (Int 4, S. 2) hatte und monatelang auf der Straße oder in besetzten Häusern lebte, dabei „tierisch viel erlebt“ (ebd.) und auch intensive Erfahrungen mit Drogen gesammelt hat. Nach dieser ungefähr vierjährigen Phase im Alter von 14 bis 18 schließt er die Hauptschule ab und macht anschließend eine Tischlerlehre. Als Tischler arbeitet an einem Theater und wird dort wegen einer Auseinandersetzung mit dem Regisseur, den er als eifersüchtig auf ihn beschreibt, weil er sich gut mit seiner Frau versteht, gekündigt. Daraufhin arbeitet er nicht mehr in seinem Ausbildungsberuf, weil er dort keinen „Job“ (Int 4, S. 72) mehr findet, sondern übernimmt Gelegenheitsarbeiten. Er macht einen LKW-Führerschein und arbeitet zeitweise als Kraftfahrer. Seine weitere Berufstätigkeit fasst er in der Äußerung „und dann mal dies und mal jenes, war nie irgendwie was besonders Tolles“ (ebd.) zusammen und macht damit deutlich, dass er in dem beruflichen Lebensbereich keine klare Orientierung verfolgt und aus ihm auch keine Befriedigung zieht. Er bietet für ihn keine Identifikationsmöglichkeit, sondern stellt eine Notwendigkeit dar, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Einen Lieferjob kündigt er weil er von dem Filialleiter sexuell belästigt wird. Mit dieser Geschichte hebt er wie schon zuvor seine sexuelle Attraktivität in dieser Lebensphase hervor. Bei diesem Job trifft er auch Jonas wieder, einen ehemaligen Freund aus seiner späten Kindheit, den er für sein Wissen und seine Unternehmungen bewundert, und intensiviert den Kontakt zu ihm. Verschiedene Jobs und Phasen der Arbeitslosigkeit wechseln sich nun ab. Er bekommt
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in der folgenden Zeit immer wieder vom Arbeitsamt Jobs vermittelt, die er aber nicht „schafft“ (Int 4, S. 14) und deshalb gekündigt wird. Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung In dieser Zeit, Sven Herbig ist jetzt Mitte 20, bemerkt er bestimmte „Anzeichen“ (Int 4, S. 80) der Erkrankung, hofft aber „insgeheim, dass die wieder weggehen“ (ebd.). Die Anzeichen äußern sich beispielsweise in plötzlichen Ausfallschritten oder gelegentlich in einem torkelnden Gang. „Zu dem Zeitpunkt, als ich es die ersten Male so gemerkt habe, da war das ja eigentlich noch nicht weiter wild, da war es ja so wenig wild, dass mir das teilweise auch, es ist mir zwar aufgefallen, aber im nächsten Moment war es schon wieder weg. Es ist mir dann später erst so aufgefallen, nachdem einige von meinen Freunden mal gesagt haben, du hast ja das gemacht oder das oder bist du betrunken oder warum torkelst du so oder so was in der Art halt.“ (Int 4, S. 80f.)
In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Sven Herbig die Symptome seiner Erkrankung nicht als Krankheitszeichen interpretiert oder nicht als solche interpretieren möchte, sondern sie für so „wenig wild“ hält, dass er ihnen zunächst keine Beachtung schenkt. Sie fallen zwar kurz auf, sind aber im nächsten Moment „ schon wieder weg“. Er ignoriert „es“ und realisiert nicht, dass er von einer Erkrankung betroffen ist. Erst später, als ihn Freunde auf offensichtliche Auffälligkeiten ansprechen, fällt es ihm „so“ auf, tritt also scheinbar in seiner bewussten Wahrnehmung deutlicher hervor. Sven Herbig beschreibt allerdings keine weiteren Handlungen oder Reaktionen, die auf die Wahrnehmung folgen, dass sein Körper scheinbar auf unnormale Weise reagiert. Möglicherweise interpretiert er die Symptome auch in Verbindung mit seinem Drogenkonsum, da sie dann verstärkt auftreten. Seine Krankheit wird in einem anderen Zusammenhang als eine solche erkannt, das heißt, offiziell und auch für ihn erkennbar als Krankheit definiert. Vom Arbeitsamt wird er zu einem Vertrauensarzt geschickt, weil das Amt davon ausgeht, dass er simuliert, wenn er die Anforderungen der Arbeit nicht bewältigt oder sich ungeschickt verhält, um nicht arbeiten zu müssen. Der Vertrauensarzt stellt fest, dass eine Erkrankung vorliegt, „der hat die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und gemeint, warum ich denn überhaupt noch zur Arbeit gehe, sie gehören am Besten in’s Bett oder so“ (Int 4, S. 13). Sven Herbig ist von seiner Erkrankung trotz der Anzeichen scheinbar überrascht, denn er beschreibt deren Entdeckung beim Vertrauensarzt als einen „Riesenzufall“ (ebd.). Im Verlauf des folgenden halben Jahres werden eine Reihe von medizinischen Untersuchungen durchgeführt und Sven Herbig erwähnt auch von sich, dass er aktiv nachforscht. Auf einer tomographischen Abbildung wird eine Veränderung des Kleinhirns sichtbar und es wird eine Ataxie, also eine Störung im geordneten Ablauf und in der Koordination von Muskelbewegungen als Folge einer Schrumpfung des Gehirns, diagnostiziert. Sven Herbig setzt sich mit der Erkrankung auseinander, worauf seine Nachforschungen verweisen, und erwirbt medizinisches Fachwissen. Die neue Situation scheint er als gegeben hinzunehmen. Es finden sich keine Hinweise darüber, dass er sie als herausragenden Umbruch seiner Lebensorientierung erlebt, die insgesamt diffus erscheint und eher unspezifisch auf intensive Lebenserfahrungen ausgerichtet ist. Weil er nicht mehr arbeiten kann, erzählt Sven Herbig, ist er „ein paar Jahre lang einfach so rumgekrebst“ (Int 4, S. 4). Dabei wird nicht deutlich, ob mit dem „Rumkrebsen“ bereits die Zeit vor den Arztbesuchen und der Diagnose gemeint ist, in der er häufig arbeitslos ist, oder er sich auf die Zeit nach der Feststellung der Erkrankung be-
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zieht. Die allgemeine und eher ziellos erscheinende Formulierung präzisiert er durch die Schilderung, dass er sich im Computerbereich autodidaktisch fortbildet. Im Zusammenhang damit unternimmt er auch den Versuch, an eine Graphik- und Design-Schule zu gehen, für die man ein Abitur braucht, das er nicht hat. Er gibt trotzdem eine Mappe ab und wird angenommen unter der Voraussetzung, dass das Arbeitsamt die Kosten übernimmt, was dieses aber mit der Begründung, er habe kein Abitur, ablehnt. Dieser Seiteneinstieg in eine institutionelle Weiterbildung scheitert also und Sven Herbig bildet sich außerhalb der anerkannten Institutionen selbst weiter. Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit bis zur Gegenwart Sven Herbig beantragt bei der Landesversicherungsanstalt 1997 die Rente und muss sich dafür erneut untersuchen lassen. Er schildert seinen „trickreichen“ Umgang mit dieser Lage, um seine Rente „durchzuboxen“ (Int 4, S. 22): „...die wollen sie natürlich auch nicht so ohne weiteres zahlen, ist ja klar, also ging noch mal diese Tortur los, bloß mit dem Unterschied, dass die Ärzte, mit denen ich es dann zu tun hatte, um ein Vielfaches schärfer waren als die Ärzte damals, die waren richtig grob, also bei einem hat es, klingt zwar ein bisschen komisch, aber, ich wusste ja, worauf der so in etwa, was der untersuchen sollte und begutachten sollte und aus diesem Grunde, um die Sache noch ein bisschen zu verschlimmern in seinen Augen habe ich vorher dann so ein bisschen rumgetrickst und da hat mir ein Freund einen Haschkuchen gebacken und davon hab ich dann halt ein paar Stücke gegessen, dann war ich halt tierisch breit als ich bei dem Arzt war und konnte halt wirklich kaum noch laufen und meine Mutter hat mich dann da reingeschleppt irgendwie, und der hat dann nur die Hände über dem Kopf, oh, Gott, armer Junge und so, klar kriegst du eine Rente und mein Zuspruch hast du und so, also, das war, glaube ich, nicht ganz unwesentlich (...) ich glaube, wenn der zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, dann hätte es wesentlich länger gedauert, bis alles durchgeboxt gewesen wäre + und so hat er halt einfach nur gesagt, er kann gar nicht verstehen, dass die anderen Ärzte es nicht schon diagnostiziert oder beziehungsweise halt in ihr Urteil einfließen ließen und so.“ (Int 4, S. 21f.)
Der Erzähler setzt sein Wissen über die Erkrankung und über die Kriterien der Begutachtung kombiniert mit seinen Erfahrungen mit Drogen ein, um die Bewilligung seiner Rente zu befördern. Er geht nicht davon aus, dass er diese aufgrund seiner Symptomatik leicht bekommt, sondern davon, dass er seine Ansprüche gegen die Institution durchsetzen muss, weshalb er durch den Konsum von Haschisch seinen Zustand gezielt „verschlimmert“. Während er in der Erzählung seinen Trickreichtum hervorhebt und sich als clever präsentiert, erscheint der institutionelle Vertreter, der eigentlich die in der Gesellschaft erfolgreiche Person repräsentiert, als naiv, gutgläubig und inkompetent, da er als Arzt die Situation nicht erfasst. Sven Herbig kann seine Rente „durchboxen“ (ebd.). Im Kampf gegen die staatliche Autorität trickst er diese von der Position des Außenseiters mit entsprechenden Strategien aus und ist auf diese Weise in der Gesellschaft handlungsfähig. Diese Erzählung ist ein typisches Beispiel für andere Geschichten dieser Art, die von seinen extremen Erfahrungen, von seiner Position außerhalb der normalen Gesellschaft sowie von seiner Cleverness handeln und über die er sich besondert und seine Fähigkeiten belegt. Deutliche Parallelen gibt es zu der Darstellungsweise von Werner Braun, der die Geschichten ebenfalls in unterhaltsamer Weise präsentiert und zum Teil ähnliche Schwerpunkte bei der Auswahl der Inhalte setzt. Sven Herbig beschreibt, dass seine Mutter ihn zum Arzt begleitet und ihn – unter anderem körperlich – stützt. Auch an anderen Stellen der Lebenserzählung wird deut-
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lich, dass seine Mutter ihn bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung unterstützt. Über die Beziehung zu ihr berichtet er in einer ähnlichen Weise wie über den Arzt in dem oben angeführten Textausschnitt. Während er ihr erklärt, wie die tatsächlichen Verhältnisse sind und die jeweilige Situation geistig umfasst, erscheint sie ebenfalls naiv und gutgläubig. Autodidaktisch beschäftigt er sich weiter mit dem Umgang und der Wartung von Computern. Bekannten fällt sein versierter Umgang mit den Geräten auf und er bekommt auf diesem Weg erste Wartungsaufträge. Über Mundpropaganda wird er weiter empfohlen und baut so einen neuen Bereich aus, indem er gelegentlich „schwarz“ Computer wartet und einrichtet und bis heute als Fachmann gefragt ist. Auf diese Weise verdient er sich etwas dazu. Körperlich verschlechtert sich sein Zustand im Verlauf der Zeit. Die feinmotorischen Fähigkeiten nehmen ab und sein Gleichgewichtssinn geht verloren, was zu einem stark eingeschränkten Gehvermögen führt, sodass er bereits seit einiger Zeit einen Rollstuhl zur Unterstützung der Fortbewegung benutzt. Dazu kommen Schwierigkeiten mit der Artikulation, sodass er heute sowohl in logotherapeutischer als auch krankengymnastischer Behandlung ist. Von medizinischer Seite gibt es keine genauen Vorstellungen über den weiteren Verlauf, über Zeiträume von Veränderungen und über die Ursachen der Erkrankung. Die Krankheit ist zwar bekannt, tritt aber normalerweise nur bei alten Menschen auf und ist sehr selten bei jungen Menschen anzutreffen. Sven Herbig schildert, dass er im Laufe der Verschlechterung der Symptomatik seinen Drogenkonsum aufgibt. Im Zusammenhang damit verliert er einige Kontakte zu Bekannten, die überwiegend auf der Grundlage des gemeinsamen Drogenkonsums bestanden und die nach seiner Schilderung keinen Verlust darstellen. Er hat heute einige für ihn bedeutsame Freunde und darüber hinaus einen weiteren Bekanntenkreis. Vor zwei Jahren hat er eine kleine, für ihn besser geeignete Wohnung mit Aufzug bezogen, die besser an seine sich verschlechternde körperliche Situation angepasst ist. Zuvor hatte er in einer größeren Altbauwohnung gewohnt, deren Pflege er im Alltag nicht mehr bewältigen konnte. Die heutige Wohnsituation schätzt er sehr, da die Wohnung eine große Terrasse besitzt, die er als „sein Lebenselixier“ (Int 4, S. 11) bezeichnet. Durch sie kann er nach draußen, ohne das Haus zu verlassen, was ihm beispielsweise bei Straßenglätte gar nicht möglich ist. Er erzählt, dass er sich oft mit Bekannten auf der Terrasse aufhält, dort in der Sonne liegt oder beobachtet, was auf der Straße so vor sich geht. Bei der Alltagsbewältigung unterstützt ihn seine Mutter, darüber hinaus hat er eine Hilfe für die Reinigung der Wohnung. . GEGENWÄRTIGE BEWÄLTIGUNG DES LEBENS MIT DER KRANKHEIT Sven Herbig berichtet kaum von seiner Kindheit, ausführlich dagegen von Begebenheiten in seiner Jugend und im frühen Erwachsenenalter sowie von seiner gegenwärtigen Situation. Die Lebenserzählung erscheint bruchstückhaft und assoziativ, der zeitliche Verlauf ist teilweise schwierig nachzuvollziehen. Erzählungen von Ereignissen und Erlebnissen sind detailreich und beinhalten häufig szenische Darstellungen. Darüber hinaus gibt es viele Argumentationen, die gegenwärtig wie rückblickend sein Verhalten begründen und sein Wissen demonstrieren. Inhaltlicher Schwerpunkt erzählerischer Passagen sind extreme Erlebnisse und Ereignisse aus der Punkzeit, aber auch andere extreme Situationen in der Vergangenheit und Gegenwart, die in den Randbereichen des normalen Lebens spielen
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sowie Erzählungen, die seine Cleverness zum Ausdruck bringen. Die Erzählweise hat einen unterhaltsamen Charakter und ist häufig humorvoll oder ironisch. Das Thema einer Position innerhalb oder außerhalb der Gesellschaft taucht wiederholt auf. Auf der einen Seite präsentiert er sich überwiegend als Person am gesellschaftlichen Rand, die außerhalb des normalen Lebensverlaufs ein intensives Leben führt. Auf der anderen Seite schildert er verschiedene Aktivitäten, über Ausbildungs- und Berufswege wieder in den Normallebenslauf einzusteigen, was zum Teil gelingt (Hauptschulabschluss, Tischlerlehre, LKW-Führerschein) und zum Teil nicht gelingt (Berufsweg, Designschule). In der heutigen Position als chronisch Kranker und Rentner sind beide Aspekte enthalten, die Inklusion über den im Vergleich zum früheren Leben sicheren Status als Rentner und als chronisch Kranker, dem verschiedene Behandlungen und Hilfen zustehen und die Exklusion über die Sichtbarkeit seiner Erkrankung und die Erwerbsunfähigkeitsrente im frühen bis mittleren Erwachsenenalter. Bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung treten einige Themen in seiner aktuellen Auseinandersetzung hervor und sollen im Folgenden ausführlicher behandelt werden. Zu nennen sind hier das Lernen, mit seiner Situation zu leben, das Zehren von seinen früheren extremen Erfahrungen, die Auseinandersetzung mit der Reaktion und der Gedankenlosigkeit von anderen im Zusammenhang mit seiner Erkrankung und seine Freude daran, sein Wissen erweitern. Mit der weiteren Zukunft befasst er sich wenig, die ausgedehnte Gegenwart und kurzfristige Ziele stehen im Vordergrund seiner Aufmerksamkeit. Sven Herbig äußert, dass er versucht, das Beste aus dem zu machen, was ihm zur Verfügung steht. „Klar, alles kann man nicht machen, aber vieles geht schon, muss halt das Beste draus machen.“ (Int 4, S. 11)
Ihm sind die Grenzen seiner heutigen Situation deutlich bewusst, er hebt jedoch im Anschluss daran die verbleibenden Möglichkeiten hervor. Das verweist auf die Annahme seiner eingeschränkten Situation und den Gestaltungsspielraum, den er auch in dem engen Rahmen für sich sieht. Wenn es ihm schlecht geht führt er sich vor Augen, dass es andere gibt, denen es noch viel schlechter geht. Dieser Vergleich ‚nach unten’ baut ihn auf und hilft ihm dabei, die Möglichkeiten zu sehen, die in seinem aktuellen Radius liegen. Auch seine zwei Katzen unterstützen seinen Lebenswillen, denn sie erinnern ihn in Situationen „wo ich halt am liebsten sagen würde, jetzt gibst du auf und so“ (Int 4, S. 40) daran, dass er für sie die Verantwortung übernommen hat und gebraucht wird. Als einen Bruch zu seinem bisherigen Leben beschreibt er in der Gesamtschule den Kontakt mit Punks, die ihm „Flausen“ (Int 4, S. 9) in den Kopf setzen („die haben natürlich da nur rebelliert, die Kids, die haben da nur Scheiße gebaut und so was färbt dann natürlich ab“ ebd.). Aus seiner heutigen Perspektive betont er mehrfach, dass sich der Ausstieg aus dem konventionellen Entwicklungsverlauf und der Einstieg in das extreme Leben als Punk im Nachhinein als besonders positiv herausgestellt haben, denn, so argumentiert er, hätte er nicht diese Phase gehabt, in der er alles „auf Teufel komm raus“ (ebd.) ausprobiert hätte, würde er sich heute wesentlich mehr bemitleiden. Es sei zwar traurig, dass er jetzt nicht mehr so viel machen kann, aber dass er so viel erlebt hat, was andere in ihrem ganzen Leben nicht erleben, gibt ihm eine gewisse Befriedigung. Dazu gehören unter anderem auch Erfahrungen mit Mädchen. Er vermutet, dass er sich „bestimmt tierisch geärgert“ (Int 4, S. 10) und im Nachhinein gesehen „irre viel Zeit verschwendet“ (ebd.) hätte, wenn er entspre-
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chend den Wünschen seiner Mutter nur gelernt und Abi gemacht hätte. So hat er zwar „viel Zeit auf den Kopf geknallt“ (ebd.), dafür aber auch viele Erlebnisse gehabt, die ihn „halt irgendwie weitergebracht haben“ (ebd.). Von diesen Erfahrungen kann er heute zehren. In den weiteren Ausführungen zu dem Thema vergleicht sich Sven Herbig mit anderen, „die halt ihr halbes oder ganzes Leben lang bis jetzt nur studiert und gelernt“ (ebd.) und wenig erlebt haben und schneidet trotz seiner Krankheit besser ab wegen seines reichen Schatzes an Erlebnissen. Der Ausstieg aus dem Normallebenslauf wird hier in der Retrospektive nicht als Scheitern, sondern als Gewinnen von wertvollen Erfahrungen in der Schule des Lebens gewertet und im Rückblick durch seine Erkrankung als besonders sinnvoll legitimiert. Durch das intensiv gelebte Leben und das Reservoir an intensiven Erlebnissen ist sein heutiges reduziertes Leben auch in der Gegenwart noch reich und vielleicht sogar reicher als das Leben manch anderer, die dem konventionellen Weg gefolgt sind. In diesen Ausführungen kommen biographische Bilanzierungsprozesse zum Ausdruck, die Parallelen zu den lebensphasentypischen Themenstellungen des Alters (vgl. Erikson 1966, 1988) aufweisen. Sven Herbig muss sich bei der Bewältigung der Krankheit im Alltag auch mit den Reaktionen von anderen Menschen auseinandersetzen, was für ihn bedeutet, zu lernen, mit der Umgangsweise der anderen zu leben. Über die Reaktionen von anderen erzählt er detailliert verschiedene Geschichten. In der nachfolgenden Geschichte steht die Interpretation der Körpersymptome im Vordergrund. „Eine Zeit lang, als es noch nicht so ganz schlimm war, da war es oft so, da ist man meinetwegen zum Beispiel früher an der Wohnung, wo ich gewohnt habe, da war um die Ecke so ein Cafe und da bin ich halt oft hingelaufen und habe einen Kaffee getrunken und jedes Mal, also mit der Bedienung, wir haben uns halt geduzt und haben uns halt irgendwelche Sachen erzählt, aber jedes Mal kam die Frage von ihr, warum ich denn schon wieder besoffen sei, weil ich so torkle und ich habe es ihr tausend Mal erklärt und dann beim tausendundeinsten Mal habe ich gesagt, weißte was, ich habe Probleme mit meiner Frau, ich brauche das jetzt, lass mich in Ruhe und von da an hat sie mich auch in Ruhe gelassen und solche Dinger sind halt oft passiert, speziell in der Zeit, als das noch so aussah das Krankenbild, als ob ich betrunken wäre, ich habe das mittlerweile schon so krass, dass, also so besoffen kann man schon fast gar nicht mehr sein, da kommt man eigentlich eher auf eine Krankheit und seitdem es halt so schlimm ist, da hab ich halt ein bisschen mehr Ruhe vor Außenstehenden, die halt nicht Bescheid wissen.“ (Int 4, S. 78f.)
Sven Herbig erzählt, dass die äußeren Zeichen seiner Erkrankung, als sie noch nicht so weit fortgeschritten war, häufig von anderen als Alkoholrausch gedeutet wurden. In dem Erlebnis mit der Bedienung bringt er zum Ausdruck, dass seine Bemühungen, seine Symptomatik zu erklären, völlig fruchtlos sind; er wird nicht verstanden und ihm wird nicht geglaubt. Die Person, von der er berichtet, behält ihre Deutung bezüglich der Ursachen seiner Symptome bei. Schließlich gibt er auf und bedient sich jetzt ihrer Interpretation. Er schmückt diese mit dem Stereotyp eines Mannes, der trinkt, weil er Probleme mit seiner Frau hat, als Begründung aus, um in Ruhe gelassen zu werden, was auch gelingt. Die Zuschreibungen und die entsprechenden Reaktionen von anderen, die ihm durch solche Interpretation entgegenkommen, beziehen sich nicht auf seinen tatsächlichen Zustand, sondern gehen in umfassender Weise an seinen momentanen Lebensbedingungen und seiner Befindlichkeit vorbei. Zugleich muss er sich mit den verschiedenen Reaktionen auseinandersetzen. In dieser Passage und auch an anderen Stellen des Interviews entsteht nicht
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der Eindruck, dass es ihn grundsätzlich belastet, für „besoffen“ gehalten zu werden. Diese Erfahrung ist eher vertraut und vermutlich bereits aus früheren Situationen bekannt, in denen er tatsächlich Alkohol und andere Drogen konsumiert hat, und scheint für sein Selbstverständnis kaum problematisch zu sein. Problematisch ist hier die Unmöglichkeit, verstanden zu werden sowie die Beständigkeit bestimmter Deutungsmuster, die auch durch Erklärungen nicht verändert werden können und zu einer Erfahrung des Getrenntseins führen. In seiner Aufgabe des Versuchs, sich zu erklären, wird die Trennung besiegelt. Die anderen sind die „Außenstehenden, die halt nicht Bescheid wissen“, auch in dieser Formulierung kommen die verschiedenen Bezugssysteme der Welt der Gesunden und der Welt der Kranken zum Ausdruck. Erst seitdem sich die Symptome bei Sven Herbig so verschlimmert haben, dass sie leichter als Krankheit erkannt werden, muss er sich weniger mit den auf das „Besoffensein“ bezogenen Reaktionen anderer auseinandersetzen und hat daher „mehr Ruhe“. Dieses Unverständnis beschäftigt ihn jedoch auch aktuell weiter und kommt auch in weiteren Erzählungen zum Ausdruck, die in verschiedener Weise davon handeln, das viele Menschen nur in ihrer Welt denken und handeln und andere Welten, in denen Menschen leben, die zum Beispiel eine starke Gehbehinderung haben, nicht wahrnehmen oder nicht nachvollziehen können oder wollen. Er scheint dabei weniger aufgebracht als vielmehr erstaunt und fassungslos zu sein und bezeichnet diese Außenstehenden als gedankenlos und dumm. Er beschreibt jedoch auch Situationen, in denen die Menschen anders, helfend reagieren, sobald sie eine Krankheit erkennen. Sie erkennen sie aber oft nur an bestimmten markanten Zeichen, wie beispielsweise einem Rollstuhl. Diese Signale sind allgemein verständlich, was auf der einen Seite zu Hilfe, auf der anderen Seite aber auch zu übertriebenen Reaktionen führen kann. Dies zeigt die folgende Erzählung, die davon handelt, dass Sven Herbig in eine Bank geht, um Geld einzuzahlen: „...und da habe ich einen Rollstuhl mitgenommen und früher haben sie mich ein paar Mal in der Bank angemacht, weil ich da so unleserlich geschrieben habe und als ich dann mit dem Stuhl aufgetaucht bin, da, ich habe nur drauf gewartet, dass sie mir die Füße küssen, da haben sie echt alles gemacht für mich und ich finde es halt immer so bedauerlich, dass einem nur geholfen wird, wenn irgendwie ganz offensichtlich ein Rollstuhl in der Nähe ist.“ (Int 4, S. 29)
Hier wird noch einmal deutlich, wie unterschiedlich andere ihm in Abhängigkeit davon begegnen, wie sie verschiedene, von der Norm abweichende Zeichen interpretieren. Sven Herbig kontrastiert seine Erfahrungen bei einem Bankbesuch mit Rollstuhl mit seinen Erfahrungen in der Bank ohne Rollstuhl und stellt extreme Unterschiede im Verhalten der Bankangestellten fest. Während diese, als er im Rollstuhl erscheint, ihn unterstützen und ihm bald „die Füße küssen“, wird er ohne Rollstuhl für seine durch die Störung der Feinmotorik unleserliche Schrift „angemacht“. Der Rollstuhl wird als ein eindeutiges Signal verstanden, er signalisiert Krankheit und Behinderung und löst in diesem Setting Hilfeleistungen aus, während die unleserliche Schrift eher der Schlampigkeit der Person zugesprochen und kritisiert wird. Die Reaktion der anderen variiert also abhängig davon, ob sie Krankheitszeichen erkennen oder nicht erkennen und wie sie die Situation deuten. Das bedeutet zugleich, dass die Bereitschaft zu helfen abhängig ist von dem Vermögen, ein abweichendes Verhalten als eine Krankheit zu erkennen. Sven Herbig deutet zugleich durch seine Wortwahl („die Füße küssen“, „echt alles gemacht“) darauf hin, dass die Hilfe übertrieben sein kann und undifferenziert erfolgt. Die Interpretation des Rollstuhls als Zeichen für eine generalisierte Hilfsbedürftigkeit kann in diesem Fall dazu führen, den Kranken
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wiederum massiv in die Rolle einer Person zu drängen, die umfassende Hilfe benötigt. Mit seinem Bedauern darüber, dass eine Krankheit nur dann erkannt wird, wenn die Zeichen ganz offensichtlich sind, verweist Sven Herbig auf die zwei Welten von Gesundheit und Krankheit und das in ihnen vorhandene Wissen. In der auf Gesundheit bezogenen Welt werden nur sehr offensichtliche Zeichen verstanden, das heißt, häufig ist nur wenig Wissen über Krankheitszeichen vorhanden. Auch gibt es scheinbar nicht die Haltung der Offenheit, die Hintergründe des abweichenden Verhaltens zu klären, sondern ein bereits vorhandenes Deutungsschema, in das das Verhalten eingeordnet wird und eine darauf bezogene Reaktion. Diese passt aus der Sicht des erkrankten Menschen nicht auf die Situation und bewirkt durch die Nichtwahrnehmung sein Fremdsein in der normalen Welt. Das Interesse und Engagement von Sven Herbig, sein Wissen ständig zu erweitern und in verschiedenen Bereichen dazuzulernen, hat er nach eigener Aussage erst seit ungefähr zehn Jahren, also in etwa seit der Zeit, als ihm die Erkrankung durch die Diagnose bewusst wird. Diesen zeitlich naheliegenden Zusammenhang mit der Erkrankung stellt Sven Herbig auch inhaltlich her. „dadurch dass man halt körperlich sowieso eingeschränkt ist, kann man nur durch sein Wissen brillieren und das ist ja nicht von Natur aus einfach da, sondern da muss man was tun für und da mir das halt klar geworden ist, glaube ich, ist das halt einfach so, dass ich eben probiere, mein Wissen ständig zu erweitern (...) irgendwelche Sachen zu lernen und wenn es halt meinetwegen, spanisch ist oder irgendwas, (...) auch wenn es halt so gesehen keinen praktischen Nutzen gibt, aber überhaupt das Gefühl, irgendwas zu lernen, irgendwas, wenn ich jetzt wüsste, ich bin wieder auf Teneriffa, dann könnte ich halt im Restaurant ohne gestikulieren bestellen oder irgendwas in der Art. Und allein das verleiht mir schon ein gutes Gefühl, mag ich. Oder weiß ich, bestimmte physikalische Abläufe, wenn ich die jemand erklären kann, einfach weil mich dieser Vorgang an sich interessiert und ich merke, der andere hat auch was gelernt durch mich, dann verleiht mir das halt einen gewissen Stolz, finde ich schon schön.“ (Int 4, S. 73f.)
Auf der einen Seite, so argumentiert Sven Herbig, kann man, wenn man körperlich eingeschränkt ist, „nur durch Wissen brillieren“, man kann also nur noch in bestimmten Bereichen zu der Anerkennung von anderen gelangen. Wissen muss erworben werden und daher ist er motiviert, ständig dazuzulernen, um sich auszuzeichnen und zu der Anerkennung durch andere zu gelangen. Auf der anderen Seite schildert er seine intrinsische Motivation zu lernen. Der Vorgang des Lernens gibt ihm ein gutes Gefühl, ebenso die Vorstellungen, wie er das Wissen anwenden könnte. Es erfüllt ihn mit Freude, seinen Interessen zu folgen und mit Stolz, anderen etwas vermitteln zu können. Dass Sven Herbig sich diesen Bereich neu erschlossen und ausgebaut hat, ist also unter anderem in Bezug zu seiner Erkrankung und seinen eingeschränkten körperlichen Möglichkeiten zu sehen. Über den Zusammenhang mit der Krankheit hinaus scheint es hier allerdings auch noch weitere bedeutsame Einflussfaktoren zu geben. Sven Herbig berichtet an anderer Stelle davon, dass er seinen Jugendfreund Jonas für sein Wissen bewundert und dieser diesbezüglich ein Vorbild für ihn darstellt. Wie oben schon berichtet hatte er ihn bei einer Tätigkeit als Fahrer wieder getroffen, die er einige Zeit vor der Diagnosestellung ausübte, und seitdem den Kontakt zu ihm ausgebaut. Auch eine lebensphasenspezifische Entwicklung könnte hier beteiligt sein, innerhalb der sich die Interessen nach einer Sättigung durch intensive Erlebnisse in bestimmten Lebensbereichen anderen Bereichen zuwenden.
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Auf die Zukunft angesprochen äußert er, dass er hofft, dass es ihm zumindest in den nächsten Jahren noch nicht viel schlechter geht als jetzt und dass er noch eine Weile Auto fahren kann. Darüber hinaus macht er sich nicht viel Gedanken über die Zukunft, weil er „eh nichts ändern kann“ (Int 4, S. 39) sondern „nur akzeptieren, was halt kommt“ (ebd.). Er hofft, „dass es halt eben noch so gut wie möglich vom Stapel läuft“ (Int 4, S. 40) und bezweifelt, ob er noch einen besonders großen Lebenswillen hätte, wenn er beispielsweise bettlägerig würde. Er vermeidet Gedanken, die sich mit einer weiteren Zukunft befassen und hält die Aufmerksamkeit eher in der Gegenwart oder nahen Zukunft. Mit weiterführenden Plänen beschäftigt er sich nicht, aber setzt und verfolgt kurzfristigere Ziele, indem er beispielsweise Spanisch lernt.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Am Beginn seiner Erzählung präsentiert Sven Herbig eine bereits vor seiner Geburt bestehende Hypothek, als er berichtet, dass seine mit ihm schwangere Mutter und damit auch er von dem Vater wegen einer neuen Freundin verlassen wird. Im weiteren Lebensverlauf scheint sich der Vater ebenfalls kaum um seinen Sohn zu kümmern. Eine deutliche Brucherfahrung beschreibt er lange vor der Diagnose seiner chronischen Erkrankung. Während er seine Kindheit in einem Satz zusammenfasst und die Ähnlichkeit zu den anderen Kindern betont, stellt er den Beginn seiner Pubertät als deutlichen Bruch mit seiner vorherigen, noch von der Mutter und gesellschaftlichen Normen bestimmten Lebensweise und Lebensorientierung dar. Als extremer Vertreter einer Jugendkultur und der Selbstdefinition weit außerhalb des normalen gesellschaftlichen Rahmens, die auch durch Kleidung, Frisur und Lebensweise nach außen dokumentiert wird, ist ihm die Position als Außenseiter bereits früh vertraut. Nach einer vierjährigen Phase dieser alternativen Lebensführung und den damit verbundenen extremen Erfahrungen kehrt er zu der Orientierung am Normallebenslauf zurück, indem er die Schule abschließt und eine Lehre macht. Für kurze Zeit ist er in dem gelernten Beruf tätig, anschließend arbeitet er in wechselnden Jobs oder ist arbeitslos, fällt also zumindest teilweise wieder aus dem Normallebenslauf heraus. Sven Herbig schildert eine problematische Lebensorientierung, für die nicht eine bestimmte Richtung, sondern die Diffusität, eine ungezielt scheinende Suche nach einer Richtung, kennzeichnend ist. Die Aufmerksamkeit ist überwiegend auf die Gegenwart gerichtet, langfristige Planungen werden nicht beschrieben. Dass er von einer Erkrankung betroffen ist, realisiert er spät. Andere weisen ihn auf Symptome hin oder teilen ihm nach einer amtsärztlichen Untersuchung die Diagnose mit, während er zuvor die Symptome nicht weiter beachtet. Im Anschluss an die Diagnose setzt er sich mit seiner gesundheitlichen Lage auseinander und informiert sich, schildert aber keine Konsequenzen in Bezug auf seine bisherige diffuse Lebensorientierung und seine Lebensführung in dieser Phase. Er beschreibt jedoch auch in einem anderen Zusammenhang, dass in diesem Zeitraum das Interesse entsteht, sich in verschiedenen Themenbereichen weiterzubilden. Es entwickelt sich also eine neue Lebensorientierung, die auf Wissenserwerb abzielt und mit einem neuen Lebensbereich verbunden ist. Neben anderen Einflussfaktoren für das Entstehen dieser neuen Ausrichtung gibt es einen Bezug zu der Erkrankung und den zunehmenden körperlichen Einschränkungen.
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Auf der einen Seite wird das Leben des Erzählers von einer Hypothek überschattet, auf der anderen Seite verfügt er über einige Potenziale, die es ihm möglich machen, sich komplexes Wissen autodidaktisch anzueignen sowie über Fähigkeiten der Beziehungsgestaltung, die in Kontakten zu und der Unterstützung durch einige bedeutsame Freunde ihren Ausdruck finden. Durch seine Mutter wird er ebenfalls in relativ hohem Maße sozial unterstützt. Die Krankheit tritt in der bewussten Wahrnehmung in das Leben des Biographieträgers in der Lebensphase des frühen Erwachsenenalters ein. Es scheinen zu diesem Zeitpunkt keine spezifischen beruflichen und privaten Lebenspläne zu bestehen, und es wird auch nicht von einem Zusammenbrechen bisheriger Zukunftsvorstellungen berichtet. Er erfährt im weiteren Krankheitsverlauf, dass seine körperlichen Kapazitäten sich schrittweise verschlechtern. Mit seinem neuen Interesse an dem Erwerb von Wissen orientiert er sich in einen anderen Aktivitätsbereich um. Gedanklich beschäftigt er sich wenig mit der Zukunft, nun jedoch vor dem Hintergrund der Erkrankung und der weiteren negativen Entwicklung seiner gesundheitlichen Lage in der Zukunft. Durch den schweren Krankheitsverlauf mit den hohen Beeinträchtigungen der Motorik, des Gleichgewichtssinnes und der Artikulation hat er aufgrund seiner Erwerbsunfähigkeit bereits im frühen Erwachsenenalter den Status eines Rentners. Vor dem Hintergrund seiner stark eingeschränkten Lage und einer fast auf die Gegenwart begrenzten Zukunft zieht er Bilanz und kommt zu einer positiven Einschätzung seines intensiv gelebten Lebens. Heute im Alter von 36 Jahren zehrt er von seinen früheren Erfahrungen. Durch die massiven körperlichen Einschränkungen rücken Themen in den Vordergrund der Auseinandersetzung, die in der Regel mit einer späten Lebensphase im Lebensverlauf verbunden sind und überlagern bzw. verdrängen altersentsprechende Themen. Die bereits in der Jugendphase und als Arbeitsloser bekannte Außenseiterposition wird nun neben anderen Aspekten auch durch die Erkrankung unterstrichen. Zugleich ist die Erwerbsunfähigkeitsrente mit einem regelmäßigen Lebensunterhalt und mit einem legitimeren und gesellschaftlich akzeptierteren Status verbunden als zuvor seine Rolle als Arbeitsloser und möglicher Simulant. Vor der Erkrankung ist er zwar auf der einen Seite auf die normale, Gesundheit voraussetzende Welt bezogen, nimmt zu ihr aber eine Gegenposition ein. Die Erfahrung, außerhalb der Norm zu stehen, ist ihm daher bereits vertraut. Durch die Krankheit und den schweren Verlauf blickt er nun aus der Perspektive des Kranken und wird auch von anderen zunehmend so gesehen. Er schildert jedoch keine Brucherfahrung, wie sie beispielsweise bei einigen Betroffenen durch das Herausfallen aus der bisherigen gesellschaftlichen Normalität entsteht, was vermutlich damit im Zusammenhang steht, dass er bereits zuvor keinen Anteil an dieser Normalität hatte. Anfangs ignoriert er die Symptomatik und realisiert seine Erkrankung nicht, später kann er sie relativ gut in seine Biographie integrieren. Im Vordergrund der Präsentation seiner Identität stehen jedoch die extremen Erfahrungen früher und heute sowie seine Kompetenz in bestimmten Bereichen, die er beispielsweise mit ausführlichen Schilderungen von technischen Details belegt. Zusammenfassend ist also festzustellen, dass Sven Herbig eine problembestimmte Lebensgeschichte präsentiert, in der verschiedene Brucherfahrungen beschrieben werden, die mit Ausstieg, Scheitern oder Erleiden verbunden sind und sich die Erkrankung neben andere Probleme oder extreme Erfahrungen einreiht, nachdem sie anfangs bagatellisiert wurde. Sie wird nicht in Verbindung mit einer herausragenden Brucherfahrung dargestellt, denn
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die Position außerhalb der Norm ist bereits vor der Diagnosestellung vertraut und darüber hinaus gibt es durch die diffuse Lebensorientierung keine spezifischen Lebensentwürfe, die zusammenbrechen. Zugleich schildert der Erzähler die Entwicklung einer neuen Lebensorientierung im Bereich des Wissenserwerbs, die als Kompensation zu seinen bisherigen körperlichen Möglichkeiten verstanden werden kann. Durch die fortschreitenden Einschränkungen verändert sich schrittweise seine Lebensführung, die er jeweils auf seine Verluste und verbliebenen körperlichen Möglichkeiten einstellt, um den Alltag möglichst selbstständig zu bewältigen. Neben den typischen Merkmalen der hier beschriebenen Gruppe D enthält die von Sven Herbig präsentierte Lebensgeschichte durch die Neuorientierung im Zusammenhang mit der Erkrankung einen bedeutsamen Aspekt, der ein wesentliches Merkmal der Gruppe B darstellt, für die jedoch darüber hinaus noch eine Brucherfahrung in Verbindung mit der Erkrankung typisch ist, von der Sven Herbig nicht berichtet. Der Fall ist daher am Übergang von Typus D zu Typus B zu verorten.
3.2.4.3 Biographisches Porträt 14: WERNER BRAUN Werner Braun, bei dem Diabetes im Alter von 27 Jahren diagnostiziert wurde, ist zum Zeitpunkt des Interviews 57 Jahre alt. Zu der Diabeteserkrankung kommen im Verlauf der Jahre weitere gesundheitliche Probleme mit der Wirbelsäule und den Bandscheiben hinzu. Zum Zeitpunkt des Interviews kann er aufgrund eines als Folge der Diabeteserkrankung teilamputierten Fußes nur mit Krücken laufen, dessen Heilung immer wieder Probleme und weitere Amputationen wahrscheinlich macht. Werner Braun hat keinen Schulabschluss und bezieht nach diversen Hilfsarbeitertätigkeiten heute eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Er ist ledig und hat keine Kinder. Auch seine biographische Erzählung wird als zusammenfassende Analyse präsentiert.
LEBENSORIENTIERUNG, LEBENSFÜHRUNG UND KRANKHEIT IM LEBENSVERLAUF Werner Braun erzählt die Geschichte einer problematischen Biographie, die von Beginn des Lebens an durch eine massive Hypothek belastet ist. Wiederholte Brüche und wiederholtes Scheitern bereits in der Kindheit und Jugend sind für ihn eine normale, da gewohnte Erfahrung im Lebensverlauf. Die Lebensorientierung ist problematisch und diffus, wiederholt erfährt er äußere Eingriffe in seinen Lebensverlauf. Die Mitteilung der Diabeteserkrankung im frühen Erwachsenenalter wird von ihm im Kontrast beispielsweise zu Sonja Tomms nicht als bedeutsames Ereignis wahrgenommen und hat zunächst keinen Einfluss auf seine Lebensführung und diffuse Lebensorientierung. Erst als später im Zusammenhang mit verschiedenen Erkrankungen, die teilweise als Folgeerkrankungen des Diabetes anzusehen sind, körperliche Grenzen erfahren werden, kommt es zu Anpassungen der Lebensführung. Gesundheitliche Probleme reihen sich nun neben den bereits vorhandenen Problemen in die Biographie ein und setzen die Problemkette fort. An die Stelle der über weite Zeitspannen betreuenden Institutionen der Jugendfürsorge oder des Arbeitsamtes treten im Verlauf der Zeit vermehrt Institutionen, die mit Krankheit verbunden sind. Der Krankheitsverlauf steht im Zusammenhang mit dem Lebenswandel
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und dem Ignorieren der körperlichen Situation. Sowohl das Übergewicht als auch die Nichtbeachtung der Zuckererkrankung, der Alkohol und die zeitweise extreme Belastung seines Körpers durch seine Arbeit führen zu einer ständigen Verschlimmerung seines Gesundheitszustandes. Die Nichtanerkennung der körperlichen Grenzen und die fehlenden präventiven bzw. medizinisch-kontrollierenden Maßnahmen haben immer massivere Einschränkungen zur Folge. Mit seinen ständig begrenzter werdenden Lebensbedingungen kann sich der Erzähler aber immer wieder relativ gut arrangieren und sich in den von Verlusten oder Scheitern geprägten Situationen einrichten. Das ist eine für ihn gewohnte Erfahrung, die ihn bereits Zeit seines Lebens begleitet. Er findet sich mit den Verlusten ab und versucht auch in den eingeschränkten Verhältnissen, sein „Leben zu genießen“ (Int 11, S. 56). In der Erzählung von Werner Braun tritt deutlich ein reaktives Bewältigungsmuster hervor, das sowohl in Bezug auf die Erkrankung als auch in anderen Lebenssituationen zu beobachten ist. Er spricht nicht von Plänen oder von Zielen, die er aktiv anstrebt, sondern er reagiert auf Situationen, die auf ihn zukommen. Insgesamt scheint die Fähigkeit, sich Zukunft selbst vorzustellen, zu planen und zu handeln, um diese Pläne dann auch aktiv umzusetzen, kaum ausgebildet zu sein. Zukünftiges spricht er im ganzen Interview selten an. Er beschreibt sich vielfach als Opfer misslicher Umstände oder ungerechter und strenger Behandlung von Seiten anderer, die im Besitz der gesellschaftlichen Macht sind. Stadtvormund, Heimerzieher, Sachbearbeiter des Arbeitsamtes, Ärzte, Pfleger, Krankengymnasten, alle üben Macht über ihn aus, die er auf der einen Seite anerkennt, auf der anderen Seite aber auch immer wieder unterläuft. Auf diese Weise behauptet er sich gegen diese Fremdbestimmung und erhält dadurch seine Autonomie und stärkt sein Selbstwertgefühl. Wiederholt stellt er sich als passiv dar, als Person, der etwas geschieht, jedoch im Zusammenhang mit Regelverstößen charakterisiert er sich als aktiv. Die Aktivität findet allerdings innerhalb eines von außen vorgegebenen Rahmens statt, auf den er sich bezieht und gegen den er sich zur Wehr setzt. Es drängt sich der Vergleich mit der Rolle eines Kindes auf, in der keine oder wenig Verantwortung für die Lebensgestaltung übernommen werden muss oder kann. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass er sich bezüglich seiner biographischen Ausrichtung weniger selbst orientiert, als dass er von außen orientiert wird. Werner Braun verfügt nicht über die Mittel, eine gestaltende Position mit einer gewissen Macht einzunehmen. Er kann weder über Bildungskapital, noch über finanzielles oder soziales Kapital Einfluss nehmen. Er hat also kaum Potenziale, die er nutzen kann, stattdessen aber eine schwere Hypothek, die seine Biographie von Anfang an prägt. Er hat allerdings die Fähigkeit ausgebildet, Scheitern und Verluste gut zu verkraften und situative Möglichkeiten innerhalb eines gewissen Rahmens für sich zu nutzen. Wichtig sind ihm Kontakte und Beziehungen zu anderen Menschen, ein Bereich, den er scheinbar Zeit seines Lebens als sehr unberechenbar und unbeständig erlebt hat. Eine Zugehörigkeit erfährt er erst über Gruppen in Institutionen, dann über Freunde und Bekannte, die sich zum gemeinsamen Alkoholgenuss bei ihm zusammenfinden, während er Alkohol und Zigaretten bereitstellt und weiteres unternimmt, damit andere zu ihm kommen. Diese Art der Lebensgestaltung verändert sich erst lange Zeit nach der Diabetesdiagnose, als körperliche Symptome massiv zunehmen und er auf sie reagieren muss. Als er das Rauchen und Trinken aufgibt, verliert er auch seinen Freundeskreis, die Leute kommen nicht mehr zu ihm und er erlebt eine zunehmende Isolation. Die insgesamt eher geringe soziale Unterstützung erfährt er überwiegend über institutionelle Vertreter.
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Die Diagnose Diabetes wird dem Biographieträger im frühen Erwachsenenalter gestellt. Da er sie zunächst ignoriert, wirkt sie sich auch nicht auf seine diffuse Lebensorientierung und seine Lebensführung aus. Zum Zeitpunkt des Interviews befindet er sich im Übergang vom mittleren zum späten Erwachsenenalter, in dem er von verschiedenen Krankheiten betroffen ist, die zum Teil als Folgeerkrankungen des Diabetes anzusehen sind und nun seine Lebensführung umfassend prägen. Im Gegensatz zum normalen Lebensverlauf, in dem es noch für einige Jahre um die Fortführung der beruflichen Linie und um die Weiterführung der privaten Linie geht, bezieht Werner Braun eine Erwerbsunfähigkeitsrente, lebt sozial relativ isoliert und verfügt aufgrund der Amputationen nur noch über einen eingeschränkten Bewegungsspielraum. Sowohl der berufliche als auch der partnerschaftliche Lebensbereich sind für ihn abgeschlossen und er berichtet aus der Perspektive eines Menschen, der sich in der Endphase seines Lebens befindet. Das Leben wird als eine Problemaufschichtung erzählt, in dem die Krankheit einen Teilaspekt in einer fortlaufenden Problemkette darstellt und nicht als einzelnes Ereignis herausgehoben wird, das mit dem bisherigen Lebensverlauf in einem starken Kontrast steht. Die spezifische Normalität seines Lebens wird durch die Erkrankung nicht unterbrochen, denn es besteht bereits aus wiederholten Brüchen. Erst wird die Krankheit nicht als solche betrachtet und später reihen sich die verschiedenen Erfahrungen von Verlusten und Einschränkungen in die schon bestehende Erfahrungswelt als Benachteiligter oder Außenseiter ein. Mit dem Übergang in den Status als Erwerbsunfähiger ist die Phase der Berufstätigkeit beendet. Diese Veränderung ist nicht als Abstiegsprozess, sondern eher als gleich bleibende soziale Randlage zu werten, da die gebrochene Ausbildungs- und Berufsbiographie bereits typisch für seine Biographie vor der Erkrankung ist. In einer Welt außerhalb des Normallebenslaufes ist er schon Zeit seines Lebens zuhause und wechselt mit der Krankheit nur das Thema, aber nicht wirklich die Position zur Mehrheitsgesellschaft und deren Welt. Daher wird das zunehmende Hineingleiten in eine auf Krankheit bezogene Welt nicht als deutliche Veränderung erfahren, sondern die Perspektive von außen auf die normale Welt ist bereits vertraut. Charakteristisch an diesem Fall ist die Erzählung einer von Problemen bestimmten Biographie, in der die Erkrankung lange bagatellisiert und nicht beachtet wird. Mögliche Lebensentwürfe scheitern bereits im Ansatz und münden in Orientierungslosigkeit bzw. eine diffuse Lebensorientierung. Das Fehlen einer klaren Lebensorientierung und die Erfahrung von Scheitern und wiederholten Brüchen sind kennzeichnend für diese Lebenserzählung.
3.2.4.4 Zusammenfassender Fallvergleich Im Kontrast zu den drei zuvor beschriebenen Gruppen A, B und C tritt in dieser vierten Gruppe D als besonderes Merkmal die Bagatellisierung der Krankheit innerhalb einer problembestimmten Biographie hervor. Die Erkrankung wird in der Regel spät wahrgenommen, teils nach der Diagnose anfangs ignoriert und mit zunehmender Symptomatik in eine schon bestehende Abfolge von Problemen als weiteres Problem eingereiht. Im Vordergrund der Erzählung stehen andere problematische Themen und Entwicklungen, die von Klaus Melzer eher dramatisch, von Sven Herbig und Werner Braun eher unterhaltsam und teilweise als Abenteuer präsentiert werden. In den Lebensgeschichten der drei Erzähler wird die
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Empirische Ergebnisse
Erfahrung von Scheitern und biographischen Brüchen bereits vor dem Auftreten der Krankheit deutlich. Während Klaus Melzer die Schule mit der Hochschulreife abschließt und nach anfänglich als befriedigend erlebter Berufstätigkeit an einer weiteren Qualifizierung scheitert und in dem Zusammenhang seine berufliche Perspektive verliert, scheitert Werner Braun bereits in der Schule und später in verschiedenen Ausbildungsverhältnissen. Sven Herbig wechselt zwischen Anpassung an und Opposition gegen das Muster des Normallebenslaufs, was in einen Berufsabschluss mündet, der für ihn keine bedeutsame Lebensorientierung darstellt. Die Lebensorientierung ist also in allen drei Fällen überwiegend problematisch und diffus. Die Interviewpartner sind vertraut mit der Erfahrung, sich als Außenseiter zu fühlen und auch von anderen so gesehen zu werden bzw. anzunehmen, dass andere sie so sehen. Sie fallen durch die Erkrankung nicht plötzlich aus der normalen Welt heraus, denn dieser Prozess ist bereits früher geschehen. Die Erzähler dieser Gruppe berichten an zentraler Stelle von einer Hypothek in Verbindung mit ihrer Herkunftsfamilie, die ihr Leben frühzeitig überschattet. Die spezifische Thematik der Hypothek ist jeweils verschieden und steht im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Herkunftsmilieus der Interviewpartner. Klaus Melzer entstammt einer vermögenden Besitzschicht und beschreibt eine Hypothek, die aus der schlechteren Stellung seiner Familie im Vergleich zu der Familie seines Onkels herrührt. Die als nicht standesgemäß empfundene Lebensweise seiner Familie ist für ihn mit einer Selbstwertproblematik und dem Gefühl des Außenstehens verbunden. Im Zusammenhang mit seiner Herkunft auf der einen Seite und der Hypothek auf der anderen Seite stehen im weiteren Lebensverlauf bestimmte Ansprüche an ein erfülltes Leben und Probleme bei der Konkretisierung und Realisierung entsprechender Lebensentwürfe. Im Gegensatz dazu entstammt Werner Braun einer Schicht am Rande der Mehrheitsgesellschaft. Seine Mutter ist als gehbehinderte Alleinerziehende in den 50er Jahren, die sich und ihr uneheliches Kind als Näherin über Wasser hält und regelmäßig in Kontakt mit der Jugendfürsorge steht, bereits stigmatisiert. Er ist als Teil des Familiensystems ebenfalls von diesem Stigma betroffen. Sein Ringen um Anerkennung und das wiederholte Scheitern ist im Vergleich mit dem Leben von Klaus Melzer von gänzlich anderen Inhalten und Ansprüchen bestimmt, jedoch ebenfalls mit einer Außenseiterposition verbunden. Sven Herbig schließlich entstammt einer unteren Mittelschichtsfamilie, die alternative Lebensentwürfe auf Gomera erprobt. Nach der Rückkehr nach Deutschland und der Trennung der Eltern während der Schwangerschaft übernimmt seine Mutter die Versorgung und Erziehung des Kindes allein, während sein Vater ein ungebundenes und unverbindliches Leben fortsetzt, das Sven Herbig als außerhalb der Norm stehend charakterisiert. Neben der Überschattung durch die Trennung der Eltern beschreibt Sven Herbig seine Kindheit in den 70er Jahren als normal und kontrastiert sie mit seinem nicht normalen Leben als extremer Vertreter der Punk-Jugendsubkultur mit Beginn der Adoleszenz. Die Suche nach Orientierung im Spannungsfeld innerhalb und außerhalb der Norm setzt sich in seinem weiteren Lebensverlauf fort. Nach dem Hauptschulabschluss und der Tischlerlehre gelingt zunächst ein Berufseinstieg im Lehrberuf, der jedoch nach kurzer Zeit scheitert. Jobs und Arbeitslosigkeit wechseln sich bereits seit einiger Zeit ab, als die Krankheit diagnostiziert wird. Die Erfahrung einer Außenseiterposition und die Stigmatisierung durch andere sind ihm zu dem Zeitpunkt bereits aus verschiedenen thematischen Perspektiven (Betrunkener, Punk, Simulant) vertraut. Eine diffuse Lebensorientierung bzw. die Suche nach Orientierung, das Ringen um Anerkennung und Autonomie, wiederholtes Scheitern, die bereits bekannte Erfahrung mit
Falldarstellung und Fallvergleich
201
einer Position und Perspektive außerhalb der Norm und eine biographische Hypothek als Merkmale dieses Typus finden sich in der Erzählung von Sven Herbig ebenso wie in den Erzählungen von Werner Braun und Klaus Melzer wieder. Der Erkrankungszeitpunkt liegt bei den Interviewpartnern in der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter, die Erkrankung wird teilweise erst lange nach den ersten Krankheitszeichen oder der Diagnosestellung als solche wahrgenommen. Die Art und der Verlauf der Erkrankung sind eng verbunden mit der Wahrnehmung der Krankheit, die teilweise erst durch eine massive Symptomatik und damit verbundene Einschränkungen realisiert wird. Umgekehrt ist auch der Verlauf der Erkrankung mit ihrer späten Realisation verbunden. Werner Braun bringt implizit und Klaus Melzer explizit zum Ausdruck, dass die späte Realisation durch Nichtberücksichtigung der gesundheitlichen Situation im Zusammenhang mit einem schwereren Krankheitsverlauf steht. Die Lebensführung der Interviewpartner passt sich also häufig erst spät und bei einer deutlich einschränkenden massiven Symptomatik an die Bedingungen der Erkrankung an. Deutliche Unterschiede gibt es auf der Ebene der Potenziale und der sozialen Unterstützung. Klaus Melzer verfügt mit der Hochschulreife über einen hohen Schulabschluss, scheitert allerdings bei der weiteren Qualifizierung, sodass die Kluft zwischen den mit Schulabschluss und sozialer Herkunft verbundenen Ansprüchen und der tatsächlich erreichten Qualifikation Teil seiner Problematik ist. Bedeutsame Potenziale sind das Vermögen seiner Herkunftsfamilie und eine Erbschaft des Großvaters, die es ihm ermöglichen, seinen Lebensunterhalt trotz der seit acht Jahren bestehenden Arbeitslosigkeit unabhängig von institutioneller Unterstützung zu bestreiten und die materielle Existenz auch in der Zukunft zu sichern. Auf finanzieller Ebene gibt es für ihn keinen akuten Handlungsdruck. Obwohl er sich, wie er betont, von seiner Umwelt häufig isoliert, erfährt er soziale Unterstützung in seiner Herkunftsfamilie und von seiner Partnerin. Die finanzielle Absicherung und die Unterstützung seiner Familie helfen ihm bei der Bewältigung seiner problematischen Lage. Werner Braun hingegen kann kaum auf Potenziale und soziale Unterstützung zurückgreifen und lebt von seiner geringen Erwerbsunfähigkeitsrente. Die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen mit wenig sozialer Unterstützung und Potenzial sowie die Begleitung durch Institutionen und deren Vertreter ist ihm jedoch bereits lange vertraut und die Herausforderungen durch die Erkrankung und ihre Bewältigung heben sich nicht von den Herausforderungen durch andere Probleme ab. Sven Herbig schließlich erfährt soziale Unterstützung durch Freunde und durch seine Mutter und kann bei der Bewältigung seiner Lage in einem bestimmten Umfang auf Bildungskapital zurückgreifen, während ihm die Erwerbsunfähigkeitsrente auf materieller Ebene eine Grundsicherung garantiert. Er baut verschiedene Bildungsbereiche autodidaktisch für sich aus und entwickelt mit der Ausrichtung auf Wissenserwerb eine neue Lebensorientierung. Da der Aspekt der Neuorientierung ein wesentliches Merkmal der Gruppe B darstellt, ist der Fall von Sven Herbig als Mischform am Übergang von Typus D zu Typus B zu verorten. Die Präsentation der problematischen Biographie und der Blick auf das vergangene und zukünftige Leben weisen bei den drei Erzählern teils Gemeinsamkeiten und teils Unterschiede auf. Werner Braun befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews am Ende des mittleren Erwachsenenalters im Übergang zum späten Erwachsenenalter, das durch seine Erwerbsunfähigkeitsrente und den damit verbundenen frühzeitigen nachberuflichen Status als Rentner betont wird. Er erzählt überwiegend aus der rückblickenden Perspektive eines Menschen, der bereits einen Großteil seines Lebens hinter sich hat und dieses nun bilan-
202
Empirische Ergebnisse
ziert. In seiner Lebenserzählung präsentiert er sein wiederholtes Scheitern und die schwierigen Lebensumstände in Form von Abenteuergeschichten, in denen er sich auf der einen Seite besondert und auf der anderen Seite seine Handlungen im Rückblick zum Teil selbstironisch betrachtet. Gewohnheit im Erfahren von Problemen, Lebenslust und auch Resignation kommen hier zum Ausdruck. Dagegen befindet sich Sven Herbig zum Interviewzeitpunkt zwischen frühem und mittlerem Erwachsenenalter und ist damit rund 20 Jahre jünger als Werner Braun, hat jedoch durch seine massiven körperlichen Einschränkungen ebenfalls bereits den Status eines Rentners durch die Erwerbsunfähigkeitsrente inne. Neben einer starken Gegenwartsorientierung, in der die Wissensaufnahme und -weitergabe im Vordergrund steht, ist die Erzählung von Sven Herbig ebenfalls geprägt von dieser rückblickenden, entscheidende Phasen des Lebens bilanzierenden Perspektive, die beinhaltet, das bestimmte Lebensphasen oder Lebensthemen, wie beispielsweise Beruf oder Paarbeziehung, bereits beendet sind. Vor diesem Hintergrund bewertet Sven Herbig seine extremen Lebenserfahrungen in der Jugendzeit als für ihn wichtig und besonders wertvoll. Die Intensität seiner früheren Erlebnisse kann ihm heute bei der Bewältigung und Akzeptanz seiner eingeschränkten Lage helfen und gibt ihm das Gefühl, auch im Vergleich mit manchen Gesunden wirklich gelebt zu haben. Klaus Melzer befindet sich zum Interviewzeitpunkt ebenfalls am Ende der Phase des frühen Erwachsenenalters, blickt aber aus einer anderen Perspektive auf seine Biographie. Während er den Verlauf seines Lebens bis heute überwiegend als eine Aneinanderreihung von problematischen Entwicklungen schildert und auch die Gegenwart von den aufgeschichteten Problemen bestimmt darstellt, bekundet er zugleich den Wunsch und die Hoffnung, diese Probleme in der Zukunft lösen zu können. Er bringt dadurch eine in seiner Vorstellung noch offene Zukunft zum Ausdruck, die die Option einer positiven Entwicklung, wie beispielsweise den Ausbau der Partnerschaft oder den Aufbau einer Berufstätigkeit, beinhaltet, auch wenn er in seiner Lebenserzählung sonst überwiegend Probleme fokussiert. Er schildert sein Alter als problematisch, um in Bezug auf Ausbildung und Beruf noch einen Anschluss zu finden, formuliert aber zugleich die schon dargestellte und thematisch der Lebensphase des frühen Erwachsenenalters entsprechende Vorstellung einer entwicklungsfähigen Zukunft. Die Krankheit wird bei den Interviewpartnern entsprechend ihrer jeweiligen Spürbarkeit und Sichtbarkeit und den damit verbundenen Entwicklungen schrittweise integriert, im Vordergrund der Präsentation stehen allerdings andere problematische Aspekte. Eine auf Krankheit bezogene Welt, die im Kontrast zu einer normalen Welt steht, wird von den Erzählern dieser Gruppe als eine weitere Außenseiterwelt erfahren. Die bereits zuvor vorhandene Blickrichtung von außen auf die normale Welt ändert sich durch die Erkrankung und deren Fortschreiten nicht grundsätzlich, sondern erfährt lediglich eine thematische Variation. Ergänzend soll an dieser Stelle auf die Biographie von Corina Wibke als weiblicher Fall eingegangen werden, die ebenfalls als Mischtyp sowohl Merkmale der Gruppe D als auch der Gruppe B aufweist und die verschiedene bereits in den Fällen von Klaus Melzer und Sven Herbig beschriebene Aspekte beinhaltet. Corina Wibke entstammt aus der Mittelschicht und berichtet von problematischen Verhältnissen in ihrer Herkunftsfamilie. Nach dem Abitur macht sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau, hat jedoch im Übergang zum Beruf Probleme, die durch das Scheitern einer Beziehung und die Geburt eines Kindes verstärkt werden. Zu den problematischen Entwicklungen einer alleinerziehenden Mutter, die versucht, für ihr Kind zu sorgen, gesellen sich Probleme mit den Eltern und dem Vater
Quervergleich
203
des Kindes. Im Alter von 31 Jahren treten verschiedene gesundheitliche Probleme auf, die als Allergien und als Morbus Crohn diagnostiziert werden. Wie Klaus Melzer deutet sie die Symptomatik psychosomatisch und sieht in ihr eine Manifestation der bereits bestehenden Lebensprobleme. Mit Hilfe eines überwiegend alternativ arbeitenden Arztes kann sie ihre gesundheitliche Lage stabilisieren. Zugleich kann sie durch eine weitere Zusatzausbildung eine Arbeit von zuhause aus aufbauen und mit dieser Neuorientierung auf niedrigem Niveau für sich und ihr Kind sorgen. Kennzeichnend für den Typus D stehen bei Corina Wibke die verschiedenen Probleme des Lebens im Vordergrund der Erzählung, zu denen sich die Erkrankung als weiteres Problem dazugesellt. Auch berichtet sie von einer Hypothek im Zusammenhang mit ihrer Herkunftsfamilie. Darüber hinaus werden bei ihr die Aspekte der aktiven Auseinandersetzung mit der Krankheit und der Neuorientierung deutlich, die charakteristisch für den Typus B sind, sodass ihr Fall ebenfalls als Mischform, wie der Fall von Sven Herbig, am Übergang der beiden Typen B und C zu verorten ist. Als überwiegend weibliche Problemlage tritt hier die Vereinbarkeitsproblematik von Beruf und Kinderbetreuung besonders für Alleinerziehende hervor, die bei Corina Wibke einen bedeutsamen Teil der Problemkette bildet und durch die Erkrankung noch verstärkt wird. Im Vergleich mit den anderen Gruppen A, B und C gibt es bei dem hier beschriebenen Typus D weder einen direkten Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen durch die Krankheit oder umgekehrt die Weiterführung bisheriger Lebensorientierungen, noch ist die Krankheit durch die frühe Betroffenheit im Lebenslauf normaler Bestandteil von Lebensplanungen, sondern die Lebensorientierung ist durch bereits stattgefundene Brüche und Scheitern vor der Erkrankung und im Zusammenhang mit einer Hypothek problematisch und häufig diffus. Verschiedene Probleme stehen im Vordergrund der Lebenserzählung, innerhalb derer sich die Erkrankung als ein weiteres Problem einreiht. Die Diffusität der Lebensorientierung setzt sich fort, während die Lebensführung reaktiv und teilweise schleppend an die körperlichen Veränderungen durch die Erkrankung angepasst wird. 3.3 Quervergleich In dem vorangegangenen Abschnitt wurden – nach Typen geordnet – Lebensgeschichten in Einzelporträts exemplarisch dargestellt, um so auf der einen Seite die gemeinsamen Merkmale eines Typus herauszuarbeiten und auf der anderen Seite die Variabilität innerhalb eines Typus und die individuellen Ausprägungen sichtbar zu machen. In diesem Abschnitt sollen in einem Quervergleich alle bearbeiteten Lebensgeschichten einbezogen und zunächst die Fälle in einer Gesamtschau dargestellt werden. Anschließend folgt eine zusammenfassende Auswertung in den Dimensionen der Zeit, der Person und der sozialen Interaktion. Diese haben sich als zentrale Analysedimensionen herauskristallisiert, denn bei der Bewältigung von chronischer Krankheit auf der Ebene der Lebensorientierung und der Ebene der Lebensführung sind komplexe Wechselwirkungen zwischen der Krankheit in ihrer spezifischen Ausprägung, den persönlichen Voraussetzungen des betroffenen Menschen und seiner sozialen Umwelt zu beobachten. Darüber hinaus spielen verschiedene zeitliche Aspekte eine bedeutsame Rolle im Prozess der Krankheitsbewältigung. In den biographischen Porträts wurden diese Wechselwirkungen bereits jeweils innerhalb einer Biographie dargestellt und mit anderen Fällen verglichen. In diesem Kapitel geht es nun
204
Empirische Ergebnisse
darum, nach einer Überblicksinformation über die Interviewpartner die für die Fragestellung relevanten Aspekte in der zeitlichen Dimension, der persönlichen Dimension und der sozialen Dimension herauszuarbeiten.
3.3.1 Überblick über die Interviewpartner Insgesamt wurden 25 lebensgeschichtliche Interviews geführt. Befragt wurden 13 Frauen und 12 Männer, die überwiegend der oberen, mittleren oder unteren Mittelschicht angehören. Zwei Interviewpartner sind eher sozialen Randschichten zuzurechnen. Bei den Befragten variieren Bildungsstatus und beruflicher Status, es gibt Un- und Angelernte, Absolventen einer Lehre oder Berufsfachschule, Personen mit Fachhochschul- oder Hochschulabschluss sowie Promovierte. Einige Interviewpartner haben mehrere Qualifikationen. In die nachfolgende Synopse der gesamten Stichprobe wurden Informationen und Merkmale aus den lebensgeschichtlichen Darstellungen aufgenommen, die relevant für das Verständnis der Bewältigungsprozesse sind. Die Gesamtschau informiert über das Alter der Interviewpartner zum Zeitpunkt des Interviews, über die jeweilige Art der Erkrankung und den Zeitraum eines (wissentlichen) Lebens mit ihr, über die Lebensphase, in die der Krankheitsbeginn bzw. die Diagnose fiel sowie über den Krankheitsverlauf. Sie gibt weiterhin Auskunft über die in der Präsentation der Lebensgeschichte zum Ausdruck gebrachten Potenziale, über die zentrale Thematisierung von Hypotheken, über den Bewältigungsstil, der im Umgang mit der Erkrankung überwiegend hervortritt und über die Darstellung von sozialer Unterstützung und Isolation. Sie informiert über die Verortung in der beruflichen und der privaten Lebenslinie, über ein gesellschaftliches Engagement und über soziale Aufund Abstiegsprozesse seit Beginn der Erkrankung. Schließlich verweist sie auf den Grad der Einstellung der Lebensführung auf die mit der Erkrankung verbundenen Bedingungen und auf die Präsentation einer die Lebensorientierung betreffende Brucherfahrung im Zusammenhang mit der Erkrankung.
Quervergleich
205
Tabelle 1: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Wanda Haupt (39 J.)
Nora Seubert (27 J.)
Dr. Frank Heuberger (46 J.)
Verena Peters (33 J.)
Art der Krankheit
Nierenversagen
Nierenversagen
Asthma
(Krankheit bekannt)
(seit 39 Jahren)
(seit 22 Jahren)
Schwerhörig, ein Ohr taub, Tinitus (seit 39 Jahren)
Lebensphase zu Beginn der Erkrankung Krankheitsverlauf
Frühe Kindheit
Frühe Kindheit
Mittlere Kindheit
Späte Kindheit
Wechselnd
Wechselnd
Sich langsam verschlechternd
Potenziale
Hoch
Mittel
Hoch
Wechselnd, seit langem stabil Mittel
Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Aktiv- konfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Reaktiv- abwehrend
Soziale Unterstützung und Isolation
Hohe soziale Unterstützung
Aktiv- konfrontativ und reaktivAbwehrend Hohe soziale Unterstützung
Hohe soziale Unterstützung
Hohe soziale Unterstützung
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement) Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder
Berufstätig
Zur Zeit Erwerbsunfähigskeitsrente
Berufstätig
Berufstätig
Langjährige Partnerschaft
Partnerschaft
Partnerschaft, ein Kind
Auf- und Abstiegsprozesse
Aufstieg
Abstieg
Aufstieg
Lange alleinerziehend, neue Partnerschaft, ein Kind Aufstieg
Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung
Umfassend
Umfassend
Partiell
Partiell
Nein
Nein, aber aktuelle Krise
Nein
Nein
(seit 21 Jahren)
206
Empirische Ergebnisse
Tabelle 2: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Sabine Obermeder (46 J.)
Andreas Sommer (53 J.)
Sonja Tomms (36 J.)
Jelka Uhl (45 J.)
Art der Krankheit
(1)Scheuermann (2)Hüftarthrose (1- s. 30 Jahren) (2- s. 14 Jahren)
(1) Gehirnverl. (2) Schlaganfall (1-s. 33 Jahren) (1-v. 4 Jahren)
Diabetes (seit 15 Jahren)
Multiple Sklerose (seit 16 Jahren)
(1) - Adoleszenz (2) - Anf. mittl. ErwachsenenAlter Wechselnd, lange Phasen der Stabilität
(1) Spätes Jugendalter (2) Ende mittl. Erwachsenenalt. Wechselnd, tendenziell schlechter (Folgeschäden) Hoch
Anf. frühes ErwachsenenAlter
Ende frühes ErwachsenenAlter
Stabil
Mittel
Sich schrittweise verschlechternd Hoch
(Krankheit bekannt) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung Krankheitsverlauf
Potenziale
Hoch
Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Aktiv- konfrontativ und reaktiv -abwehrend Mittlere soziale Unterstützung
Aktiv- konfrontativ
Mittel Aktiv- konfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Hohe soziale Unterstützung
Gute soziale Unterstützung
Hohe soziale Unterstützung
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement)
Berufstätig
Berufstätig u. gesellschaftl. Engagement
Nach Beendigung des Studiums abgebrochen
Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder Auf- und Abstiegsprozesse
Langjährige Partnerschaft, drei Kinder Aufstieg
Langjährige Partnerschaft
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder Aufstieg über Status des Partners
Erwerbsunfähigkeitsrente, h. gesellschaftspol. Engagement Langjährige Partnerschaft
Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung
Partiell
Umfassend
Umfassend
Berufl. Abstieg, Aufstieg d. hohen Status im ehrenamtl. Bereich Umfassend
Nein
Ja
Ja
Ja
Soziale Unterstützung und Isolation
Gleichbleibend
Quervergleich
207
Tabelle 3: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Herbert Steffen (58 J.)
Paul Adams (58 J.)
Dr. Toni Sievers (39 J.)
Dr. Stefanie Eckert (43 J.)
Art der Krankheit
Schlaganfall
Diabetes
Schwerhörigkeit
(Krankheit bekannt) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung
(seit 10 Jahren)
Multiple Sklerose (seit 10 Jahren)
(seit 14 Jahren)
(seit 16 Jahren)
Ende mittleres ErwachsenenAlter
Ende mittleres Erwachsenenalter
Mitte frühes ErwachsenenAlter
Ende frühes ErwachsenenAlter
Krankheitsverlauf
Sich schnell verschlechternd
Stabil
Sich geringfügig verschlechternd
Potenziale
Mass. Symptome., Verbesserung, z. Z überwiegend stabil Hoch
Hoch
Hoch
Hoch
Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Aktiv- konfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Soziale Unterstützung und Isolation
Wechselnd, kann fehlende Unterstützung mobilisieren Erwerbsunfähigkeitsrente
Hohe soziale Unterstützung
Gute soziale Unterstützung
Hohe soziale Unterstützung
Minimal selbstständig berufstätig
Berufstätig
Scheidung, neue Partnerschaft, vier Kinder
Berufstätig, hohes ehrenamtliches Engagement Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder Aufstieg
Gleichbleibend
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement) Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder Auf- und Abstiegsprozesse
Abstieg
Seit längerem keine Partnerschaft, ein Kind Abstieg
Langjährige Partnerschaft, drei Kinder
Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung
Umfassend
Umfassend
Partiell
Partiell
Ja
Ja
Nein
Nein
208
Empirische Ergebnisse
Tabelle 4: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Margarete Ries (52 J.)
Petra Stäbler (49 J.)
Hans Schweigert (54 J.)
Barbara Nibur (52 J.)
Art der Krankheit
Multiple Sklerose (seit 25 Jahren)
Multiple Sklerose (seit 19 Jahren)
Multiple Sklerose (seit 22 Jahren)
Nierenversagen
Ende frühes ErwachsenenAlter
Anfang mittleres Erwachsenenalter
Anfang mittleres ErwachsenenAlter
Anfang frühes ErwachsenenAlter
Krankheitsverlauf
Sich schrittweise verschlechternd
Sich schrittweise verschlechternd
Sich schrittweise verschlechternd
Wechselnd
Potenziale
Mittel
Mittel
Mittel
Hoch
Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Reaktivabwehrend
Reaktiv- abwehrend
Soziale Unterstützung und Isolation
Mittlere soziale Unterstützung, später zunehmend Isolation Berufstätig
Gute soziale Unterstützung
Aktivkonfrontativ und reaktiv- abwehrend Gute soziale Unterstützung
Aktiv- konfrontativ und reaktivabwehrend Hohe soziale Unterstützung
Erst berufstätig, dann Erwerbsunfähigkeitsrente
Erst berufstätig, dann Erwerbsunfähigkeitsrente
Langjährige Partnerschaft, Trenn. v. einem Jahr, ein Kind Gleichbleibend
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder
Abstieg
Abstieg
Lange berufstätig, Erwerbsunf.rente, ehrenamtl. Eng. u. geringfüg. B. Langjährige Partnerschaft, Trennung, ein Pflegekind Erst Aufstieg, später Abstieg
Anfangs kaum, heute umfassend
Anfangs kaum, heute umfassend
Anfangs partiell, heute umfassend
Umfassend
Nein, späterer Bruch durch Zerbrechen d. Partnerschaft
Nein, späterer Bruch durch Berufsunfähigkeit
Partiell, späterer Bruch durch Berufsunfähigkeit
Mischform, vereinigt Bruch und Kontinuität
(Krankheit bekannt) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement) Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder Auf- und Abstiegsprozesse Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung
(seit 31 Jahren)
Quervergleich
209
Tabelle 5: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Heinrich Kirschner (78 J.)
Maria Schellinger (79 J.)
Karl Wittko (78 J.)
Thomas Butzeck (57 J.)
Art der Krankheit
Diabetes
Diabetes
Nierenversagen
(Krankheit bekannt) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung
(seit 39 Jahren)
(seit 13 Jahren)
(seit 8 Jahren)
Mittleres ErwachsenenAlter
Spätes Erwachsenenalter
Spätes ErwachsenenAlter
(1) MCS (2)Schlaganfall (1-s. 10 Jahren) (2-s. 5 Jahren) Mittleres ErwachsenenAlter
Krankheitsverlauf
Sich sehr langsam verschlechternd
Stabil
Sich langsam verschlechternd
Potenziale
Mittel
Mittel
Mittel
Zunächst sich verschlechternd, dann Verbesserung, z.Z. stabil Mittel
Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Aktivkonfrontativ
Aktivkonfrontativ
AktivKonfrontativ
Aktiv- konfrontativ
Soziale Unterstützung und Isolation
Hohe soziale Unterstützung
Gute soziale Unterstützung
Gute soziale Unterstützung
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement)
Berufstätig, mit 65 J. in Rente, ehrenamtl. Eng. in Vereinen
Bei Krankheitsbeginn bereits in Rente
Bei Krankheitsbeginn bereits in Rente
Mäßige soziale Unterstützung, teilweise Isolation Berufsunfähig (umweltpolit. u. alternativmed. Engagement)
Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder, Enkel Gleichbleibend
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder, Enkel Gleichbleibend
Langjährige Partnerschaft, zwei Kinder, Enkel Gleichbleibend
Abstieg
Partiell
Partiell
Umfassend
Umfassend
Nein
Nein
Nein
Ja
Auf- und Abstiegsprozesse Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenhang mit der Erkrankung
Langjährige Partnerschaft
210
Empirische Ergebnisse
Tabelle 6: Tabellarischer Überblick über die Interviewpartner Erzähler/in (Alter zum Zeitpunkt des Interviews)
Corina Wibke (39 J.)
Klaus Melzer (34 J.)
Werner Braun (56 J.)
Sven Herbig (36 J.)
Art der Krankheit
Morbus Crohn, Allergien (seit 7 Jahren)
(1) Hüftarthrose (2) Polyarthritis (1-s. 16 Jahren) (2-s. 10 Jahren) (1) - Ende der Adoleszenz (2) - Frühes Erwachsenenalt. Sich schrittweise verschlechternd Mittel
Diabetes (seit 30 Jahren)
Schrumpfung des Gehirns (seit 10 Jahren)
Frühes Erwachsenenalter
Frühes Erwachsenenalter
Sich verschlechternd, Folgeerkrank. Gering
Sich verschlechternd
Mittel bis hoch Aktivkonfrontativ und reaktiv- abwehrend Kaum soziale Unterstützung, Isolation
Hoch Reaktiv- abwehrend
Hoch Reaktiv- abwehrend
Mittlere soziale Unterstützung, Isolation
Kaum soziale Unterstützung, Isolation
Berufliche Lebenslinie (u. gesellschaftliches Engagement)
Berufstätig, selbstständig
Erst berufstätig, dann arbeitslos
Private Lebenslinie Partnerschaft, Kinder Auf- und Abstiegsprozesse
Alleinerziehend, ein Kind
Neue Partnerschaft seit einem Jahr Abstieg, AußenseiterPosition Anfangs nicht, dann zunehmend mehr Nein, Fortsetzung einer problematischen Orientierung
Wechselnd berufst. u. arbeitslos, dann Erwerbsunfähigkeitsrente Keine Partnerschaft
Hoch Reaktivabwehrend und aktivkonfrontativ Mittlere soziale Unterstützung, teilweise Isolation Wechselnd berufst. u. arbeitslos, dann Erwerbsunfähigkeitsrente Keine Partnerschaft
Gleichbleibend AußenseiterPosition Anfangs nicht, dann zunehmend mehr Nein, Fortsetzung einer problematischen Orientierung
Gleichbleibend Außenseiterposition Anfangs nicht, dann zunehmend mehr Nein, Fortsetzung einer problematischen Orientierung
(Krankheit bekannt) Lebensphase zu Beginn der Erkrankung Krankheitsverlauf
Potenziale Hypotheken Bewältigungsstil überwiegend
Soziale Unterstützung und Isolation
Einstellen der Lebensführung auf die Erkrankung Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Zusammenh. mit der Erkrankung
Ende frühes ErwachsenenAlter Sich zunächst verschlechternd, jetzt stabil Mittel
Gleichbleibend AußenseiterPosition Umfassend
Mischform, problematische Orientierung und Bruch
Gering bis mittel
Quervergleich
211
3.3.2 Krankheit und Zeit In Bezug auf die zeitliche Dimension treten in den Lebensgeschichten der Interviewpartner verschiedene Themenbereiche hervor, die im Zusammenhang mit der Lebensorientierung und der Lebensführung bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung relevant sind. Zu nennen sind hier die Bedeutung der Lebensphase, die Krankheit in der Alltagszeit und die Krankheit in Beziehung zur Lebenszeit, die im Folgenden näher erläutert werden.
3.3.2.1 Die Bedeutung der Lebensphase Die Lebensphase ist für die Fragestellung auf zweierlei Weise bedeutsam. Auf der einen Seite spielt der Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung in den Lebensverlauf eine Rolle. Auf der anderen Seite beeinflusst auch die aktuelle Lebensphase, in der sich die Interviewpartner zum Zeitpunkt der Erzählung befinden, die Sicht auf das Leben. Der Zeitpunkt des Eintritts der Krankheit in die Biographie Für das Sample wurden Personen ausgewählt, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten im Lebensverlauf erkrankten. In den Erzählungen derjenigen, die bereits seit ihrer Kindheit oder frühen Jugend von einer chronischen Erkrankung betroffen waren, kommt zum Ausdruck, dass die Erkrankung und der Umgang mit ihr über verschiedene Lebensphasen hinweg als ein Teil ihrer Normalität erlebt wird, auch wenn sich die eigene Normalität von der Normalität anderer unterscheidet. Krankheit wird zuerst aus der Kindperspektive erlebt und akzeptiert. Die Verantwortung für die Krankheitsbewältigung liegt anfangs überwiegend bei den Erziehungspersonen. Bedeutsame Entwicklungsaufgaben und Statuspassagen im Lebensverlauf wie die Übergänge von der Kindheit in das Jugendalter und von diesem in das Erwachsenenalter werden mit der Erkrankung bewältigt, die eine Voraussetzung in den Entwicklungsprozessen darstellt. Dabei kann die Erkrankung entsprechend ihrer spezifischen Art und Ausprägung in verschiedenem Umfang den Alltag beeinflussen. Sie kann permanent Aufmerksamkeit und krankheitsbezogene Handlungen erfordern, wie es das Beispiel der von Nierenversagen betroffenen Wanda Haupt verdeutlicht, oder mehr latent im Hintergrund vorhanden sein und von Zeit zu Zeit durch akute Phasen zur Handlung zwingen, wie dies bei der an Asthma erkrankten Verena Peters der Fall ist. Der frühe Eintritt der Krankheit in das Leben erfordert eine kollektive Bewältigung in der Familie, die über lange Phasen hinweg überwiegend von den Eltern übernommen wird. Demzufolge ist die eigenständige Bewältigung des Lebens mit der Krankheit als eine Aufgabe des Erwachsenwerdens zu verstehen, die von den Betroffenen neben den anderen Aufgaben im Übergang zum Erwachsenenalter übernommen werden muss. Die Herausbildung einer eigenständigen Identität bezieht die Erkrankung mit ihren jeweiligen Implikationen ein. Die Krankheit kommt als ein integrierter Teil der Identität in einem Selbstverständnis zum Ausdruck, das kranke und gesunde Aspekte beinhaltet und in dem, je nach aktueller gesundheitlicher Lage, der eine oder der andere Aspekt mehr in den Vordergrund tritt. Daher stehen die Entwicklung der Lebensorientierung und die Übernahme einer eigenständigen Lebensführung mit der Erkrankung im Zusammenhang mit der Erkrankung in einer frühen Lebensphase und den Erfahrungen aus der damit verbundenen gemeinsamen Bewältigung mit den Erziehungspersonen.
212
Empirische Ergebnisse
Ab dem Ende der Jugendzeit und dem Beginn des frühen Erwachsenenalters und den darauf folgenden Lebensphasen wird das Auftreten der Erkrankung als Bruch oder nur als Irritation des bisherigen Selbstverständnisses und der Lebensplanungen erlebt. Manche Interviewpartner betonen in ihren Lebenserzählungen die Unterbrechung von bedeutsamen Lebensorientierungen und in der Folge Prozesse der Neuorientierung, während bei anderen die Fortführung wesentlicher Ausrichtungen im Vordergrund steht. Lediglich von denjenigen, für die andere Probleme in ihrer Biographie im Vordergrund stehen, wird die Erkrankung zunächst kaum wahrgenommen. Vielfältige Faktoren wirken bei allen auf die Gestaltung der Biographie ein und beeinflussen sich gegenseitig. Die geplante und bereits erfolgte Ausgestaltung der Lebenslinien, die Art und Schwere der jeweiligen Erkrankung und die Lebensbereiche, in die sie eingreift, der persönliche Bewältigungsstil der Betroffenen, die vorhandenen Potenziale und Hypotheken oder auch das Ausmaß der sozialen Unterstützung bei der Bewältigung führen zu verschiedenen biographischen Varianten. Die Personen, die sich zum Zeitpunkt des Erkrankens im frühen und mittleren Erwachsenenalter befinden und von der Fortführung ihrer bisherigen Lebensorientierungen berichten, bringen zum Ausdruck, dass diese Fortführung ihnen nach einer Auseinandersetzung oder aber nach der Abwehr einer intensiveren Auseinandersetzung mit der Erkrankung möglich scheint. Bei Menschen, die im fortgeschrittenen späten Erwachsenenalter von einer chronischen Erkrankung betroffen sind und von einer Fortführung berichten, kommt zu der genannten persönlichen Einschätzung der Situation ein weiterer Aspekt hinzu. Viele für die Lebensorientierung bedeutsame Themen und Bereiche sind hier bereits gelebt und zum Teil schon abgeschlossen worden, daher bleiben das Selbstverständnis und die Lebenserfahrung in diesen Bereichen im Wesentlichen unberührt von der Erkrankung. So ist beispielsweise bei diesen Interviewpartnern die von Erwerbsarbeit bestimmte Lebensphase durch den Wechsel in den Ruhestand beendet bevor die Erkrankung beginnt, die Kinder sind erwachsen und haben selbst Kinder oder die Paarbeziehung besteht schon seit Jahrzehnten und hat sich als tragfähig erwiesen. Darüber hinaus erscheint in diesen Fällen die Krankheit in einer Lebensphase, die im allgemeinen Verständnis eher mit dem Bewältigen von gesundheitlichen Einschränkungen in Zusammenhang gebracht wird. Dies könnte ebenfalls dazu beitragen, dass die Erkrankung leichter akzeptiert und integriert werden kann, da sie weniger im Widerspruch zu den lebensphasenspezifischen Aufgaben und dem bisherigen Selbstverständnis steht. Als Beispiel ist der bereits in den Einzeldarstellungen präsentierte Fall von Karl Wittko zu nennen, der im Alter von 70 Jahren ein Nierenversagen erleidet, sich zuvor jedoch als gesund und robust erlebt hat und zudem verschiedene Lebensphasen wie die Erwerbsarbeit und das Aufziehen der Kinder zufriedenstellend abschließen konnte. Seine bisherige Gesundheit und körperliche Widerstandskraft versteht er als Potenzial, das ihm dabei hilft, die nun vorhandene schwierige gesundheitliche Lage besonders gut bewältigen zu können. In seinem Selbstverständnis aktualisiert er das gleichzeitige Bestehen und Wechselwirken von Gesundheit und Krankheit, die sich nicht widersprechen. Während über lange Zeiten seines Lebens die Gesundheit im Vordergrund stand, muss er sich nun mit der Erkrankung und ihrer Bewältigung auseinandersetzen. Dagegen werden in einigen Fällen, in denen die Krankheit in das frühe oder mittlere Erwachsenenalter eintritt, die Lebensbedingungen durch die Krankheit als zu Aufgaben und Themen der aktuellen Lebensphase im Widerspruch stehend erlebt und deutlich konfliktreicher geschildert. So bringt beispielsweise Sonja Tomms zum Ausdruck, dass die Erwartungen von Spontaneität und Freiheit, die sie mit dem frühen Erwachsenenalter verbindet,
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in Konflikt stehen mit ihrer Krankheitserfahrung der Abhängigkeit von Medikamenten und der begrenzten Möglichkeiten in dieser Lebensphase des beginnenden frühen Erwachsenenalters. Die für sie zur Lebensphase zugehörige Unbefangenheit und der weite Zukunftshorizont sind für sie durch die Erkrankung bereits zu einem frühen Zeitpunkt im Lebensverlauf verloren. Die Einteilung der Phasen und Aufgaben nach Erikson (1966, 1988) und Hurrelmann (2003) spiegeln eine Normstruktur wider, deren tatsächliche Ausgestaltung stark von den individuellen Lebensorientierungen, dem Potenzial und dem bisherigen biographischen Verlauf der einzelnen Person bestimmt wird. Wenn beispielsweise im höheren Alter noch bestimmte Projekte geplant waren oder weitergeführt werden sollten, die durch die Auswirkungen einer Krankheit nicht mehr verwirklicht werden können, kann eine Brucherfahrung entstehen und die bisher als sinnhaft empfundene biographische Gestaltung trotz vieler bereits zuvor umgesetzter Identitätsprojekte fraglich werden. Zusammenfassend ist jedoch festzustellen, dass sich beim Einbruch einer chronischen Erkrankung in der Kindheit, in der frühen Adoleszenzphase und in einem späten Lebensalter direktere Bezüge zu den Entwicklungsaufgaben der jeweiligen Lebensphase und zu den Bewältigungsweisen herstellen lassen. Im frühen und mittleren Erwachsenenalter sind die Einflüsse so vielfältig, dass auch die Varianten eine entsprechende Vielfalt aufweisen und unterschiedlichste Faktoren bei dem Einfluss auf die Lebensorientierung und Lebensführung in mögliche Erklärungsversuche einbezogen werden müssen. Die Lebensphase zum Zeitpunkt der lebensgeschichtlichen Erzählung Die lebensgeschichtliche Erzählung steht in Beziehung zu der Lebensphase, in der sich der jeweilige Gesprächspartner zum Erzählzeitpunkt befindet und den mit ihr verbundenen Themen und Aufgabenstellungen, die in unterschiedlicher Weise und abhängig von verschiedenen Faktoren umgesetzt oder auch nicht umgesetzt werden. Die aktuelle Lebenssituation und damit verbunden die Verarbeitung der aktuellen Lebensphase ist neben anderen biographisch bedeutsamen Faktoren wie der sozialen Herkunft oder der Bildungsbiographie auch von der individuellen Geschichte des bisherigen Lebens mit der Krankheit geprägt. Bei dem hier zugrunde liegenden Sample ist die Person mit der kürzesten Krankheitsdauer vor sieben Jahren erkrankt, während die Person mit der längsten Krankheitsdauer bereits seit 39 Jahren mit der Erkrankung lebt. Die durchschnittliche Dauer des Lebens mit der Krankheit und der damit verbundenen Aufgabe der Krankheitsbewältigung liegt bei rund 20 Jahren, was deutlich macht, dass die Interviewpartner über eine langjährige Geschichte mit der Krankheit verfügen. Den vorläufigen Endpunkt dieser Geschichte bildet die aktuelle gesundheitliche Situation, die als eine stabile Phase, als Phase eines Auf- oder Abwärtsverlaufs oder als akute Krise wahrgenommen werden kann und die Sicht auf und den Umgang mit den lebensphasenspezifischen Themen beeinflusst. Beispielsweise thematisiert eine bereits in der Kindheit erkrankte Interviewpartnerin, die sich zum Zeitpunkt des Interviews im beginnenden frühen Erwachsenenalter befindet, die eigenständige Bewältigung einer aktuellen gesundheitlichen Krise als neue Herausforderung. Zentrale Aufgabe des Erwachsenwerdens ist die Übernahme der Verantwortung für das eigene Leben und damit ein Entwicklungsthema aktuell durchlaufenden Lebensphase dieser Interviewpartnerin. Zusätzlich zu den anderen typischen Entwicklungsthemen des Erwachsenwerdens kommt für sie hier die eigenständige Krankheitsbewältigung, hier in Form der Bewältigung einer gesundheitlichen Krise, hinzu. Bei den Interviewpartnern, die sich zum
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Zeitpunkt des Interviews im fortgeschritteneren frühen Erwachsenenalter und in den verschiedenen Abschnitten des mittleren Erwachsenenalters befinden, gibt es unterschiedliche Wechselwirkungen mit lebensphasenspezifischen Themen und Aufgabenstellungen. Verallgemeinernd lässt sich hier sagen, dass der Einfluss der Erkrankung auf die Bearbeitung von lebensphasenspezifischen Themen als gering dargestellt wird, wenn die Erkrankung als wenig bedeutsam für die eigene Lebensorientierung eingeschätzt wird. Es werden Partnerschaften begonnen oder gefestigt, Familien gegründet und berufliche Karrieren aufgebaut und fortgesetzt, während die praktische Krankheitsbewältigung in den Alltag integriert ist. Im Kontrast dazu ist bei einer starken gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung des Krankheitsverlaufs oder durch eine aktuell vorliegende gesundheitliche Krise die Bearbeitung von lebensphasenspezifischen Themen verändert oder ausgesetzt. Zum Teil rücken Themen, die im allgemeinen Verständnis anderen Lebensphasen zugerechnet werden, näher, wenn beispielsweise im mittleren Lebensalter durch deutlich eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, durch einen auf Erwerbsunfähigkeit basierendem Rentenstatus oder durch drohende Pflegebedürftigkeit Bedingungen bewältigt werden müssen, die normalerweise eher dem hohen Alter zugeschrieben werden. In diesen Fällen kann die ‚normale’ Orientierung an den Phasen eines Normallebensverlaufs nicht aufrecht erhalten werden. Wenn die eigene Situation als kaum vereinbar mit den lebensphasenspezifischen Themen erlebt wird, wird sie konflikthaft verarbeitet oder die Orientierung an diesen Themen und ihrer Abfolge wird aufgegeben. In der Lebenserzählung von Sven Herbig wird die Verschiebung von lebensphasentypischen Themen deutlich. Vor dem Hintergrund seiner körperlich stark eingeschränkten Lage und einer fast auf die Gegenwart begrenzten Zukunft zieht er Bilanz und kommt zu einer positiven Einschätzung seines bisherigen, intensiv gelebten Lebens. Im Alter von 36 Jahren zehrt er von seinen früheren Erfahrungen, die ihm heute und in der Zukunft verwehrt sind. Durch die massiven körperlichen Einschränkungen rücken Themen in den Vordergrund der aktuellen Bewältigung, die in der Regel mit einer späten Lebensphase im Lebensverlauf verbunden sind und überlagern bzw. verdrängen altersentsprechende Themen. Der 78jährige Karl Wittko, der seit kurzem keine Bergtouren mehr machen kann, klingt ähnlich, wenn er darauf hinweist, dass er in seinem Leben bereits viele Bergtouren unternommen hat, aus deren Erinnerung er nun schöpfen kann. Darüber hinaus kann bei der Bearbeitung von den Lebensphasen zugeordneten Themen die körperliche Situation auch von einer bestehenden biographischen Problematik überlagert werden. Ein Beispiel dafür ist der Fall von Klaus Melzer, für den der berufliche Wiedereinstieg gemäß seiner Ansprüche im beginnenden mittleren Erwachsenenalter hoch problematisch ist, da er im frühen Erwachsenenalter eine angelernte Tätigkeit aufgegeben und die weiterführende Etappe der Aus- und Weiterbildung nicht absolviert hat. Daher sind aus seiner Sicht auch in der Folge aktuelle lebensphasenspezifische Themen wie beispielsweise eine Familiengründung nicht zu realisieren, bevor er nicht das berufliche Problem gelöst hat. Im Zusammenhang mit der Bearbeitung der lebensphasenspezifischen Themen steht in seiner Erzählung die bestehende biographische und nicht die krankheitsbedingte Problematik im Vordergrund, auch wenn Letztere die biographische Problematik verstärkt. Bei Interviewpartnern im fortgeschrittenen späten Erwachsenenalter steht die aktuelle Bewältigung des Alltags mit der Erkrankung und die Bilanzierung des eigenen Lebens mit zum Teil detailreichen Erzählungen biographisch bedeutsamer Erlebnisse im Mittelpunkt der Erzählung. Nicht das Erleben eines Konfliktes, sondern die konstruktive Krankheits-
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bewältigung wird hervorgehoben. Dies ist im Zusammenhang mit den lebensphasenspezifischen Aufgaben des Alters nachvollziehbar, die unter anderem das Bewältigen von Einschränkungen und Verlusten und die Bilanzierung des eigenen Lebens umfassen.
3.3.2.2 Krankheit in der Alltagszeit Abhängig von der Art und Schwere sowie der jeweiligen Verlaufsphase der Krankheit ist in einem bestimmten Ausmaß krankheitsbezogene Arbeit zu leisten, um die körperlichen Funktionen zu erhalten, zu verbessern oder die Verschlechterung zu verlangsamen. Für diese krankheitsbezogene Arbeit muss im Alltag regelmäßig oder unregelmäßig Zeit aufgewendet werden. Als Beispiele hierfür sind in Abhängigkeit von den verschiedenen Erkrankungen Arzt-, Krankengymnastik- oder Ergotherapietermine, die Kontrolle des Blutzuckerspiegels mehrfach am Tag und die entsprechende Gabe von Insulin, fünfstündige Dialysezeiten alle zwei Tage oder auch unvorhergesehene Aufenthalte beim Arzt oder im Krankenhaus durch Komplikationen zu nennen. Die Krankheit wirkt also durch Zeitaufwendungen und Terminvorgaben für Behandlungen oder Kontrolle auf die zeitliche Strukturierung des Alltags und dadurch in zum Teil erheblicher Weise auf die Lebensführung ein. In der folgenden Passage schildert Barbara Nibur, in welcher Weise ihre Abhängigkeit von der Dialyse in ihrer zeitlichen Planung des Alltags beachtet werden muss. „...(dass ich) zum Beispiel an der Dialyse ganz anders organisieren und mit meinen Energien ganz anders haushalten musste, also daraus ist dann so was entstanden, dass ich immer schon im Vorhinein genau gewusst habe, diese oder jene Aktivität strengt mich so an, die dauert so und so lang und dann brauche ich so und so lang, bis ich mich wieder stabilisiert habe, um diese oder jene Aktivität überhaupt machen zu können, das geht einem in Fleisch und Blut über (...) aber die Erschöpfungszustände an der Dialyse, das ist schon irgendwie was ganz besonderes, wo du quasi jeden zweiten Tag so erschöpft bist, dass du irgendwie erstmal kucken musst, wie du wieder zu Kräften kommst, und dass du dein Leben so strukturieren musst (...) dort sein um eine bestimmte Uhrzeit und alles, dein ganzes Leben an diesen Geräten ausrichten musst, ganz gleich, ob du Schnupfen hast oder nicht, oder gute Laune oder nicht, oder schlechte Laune oder Besuch oder einen Arm gebrochen, ganz wurscht, du musst an die Dialyse und dass das so ein äußeres Korsett ist, wo ich immer die Fluchten suchen muss dazwischen.“ (Int 8, S. 62f.)
In Bezug auf die zeitliche Strukturierung berichtet Barbara Nibur hier von zwei Aspekten. Einmal gibt es die zeitliche Gebundenheit, das Leben zur Blutwäsche an diesen Geräten ausrichten zu müssen, die sie als ein „äußeres Korsett“ beschreibt. Persönliche Bedürfnisse, Aktivitäten oder andere gesundheitliche Beeinträchtigungen müssen sich dieser zeitlichen Struktur unterordnen und in „Fluchten dazwischen“ realisiert und gepflegt werden. Darüber hinaus sind mit der Dialyse Erschöpfungszustände verbunden, die zur Folge haben, dass die Erzählerin Erholungszeiten einplanen muss, um wieder über ausreichend Energie für andere Aktivitäten verfügen zu können. Sie muss also in vielfältiger Weise Zeit mit dem Energieverbrauch für Aktivitäten und den notwendigen Erholungsphasen in Beziehung setzen und in ihre Alltagsstrukturierung einbeziehen. Dieser als Lernprozess geschilderte Umgang mit ihrer Krankheit in Zusammenhang mit der zeitlichen Gestaltung geht ihr „in Fleisch und Blut über“, wird also zu einem selbstverständlichen Teil ihres Alltagslebens, zu einer Alltagsroutine. Die Bedingungen, die mit einer Nierenerkrankung und regelmäßiger Dialyse verbunden sind, erfordern also, erhebliche Fähigkeiten im Zeitmanagement und der Wahr-
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nehmung und Einschätzung der körperlichen Befindlichkeit und des Energiehaushaltes zu entwickeln. Darüber hinaus ist Energie, Selbstdisziplin und Organisationsvermögen notwendig, um trotz der dominanten zeitlichen Strukturierung des Alltags durch die Krankheit den Schwerpunkt auf die aktive Gestaltung des eigenen Lebens und der frei verfügbaren Zeit zu legen. In ähnlicher Weise müssen bei anderen Erkrankungen über direkte terminliche Gebundenheiten hinaus zeitliche Aspekte berücksichtigt werden. Nach einem Schlaganfall benötigt die betroffene Person Zeit, um früher zur Verfügung stehende Fähigkeiten, wie beispielsweise einen großen Wortschatz oder die richtigen Grammatikformen, wieder neu zu lernen. Ebenso ist es bei einer eingeschränkten Bewegungsfähigkeit, beispielsweise durch Multiple Sklerose oder Rheuma, nötig, für die Durchführung von Alltagshandlungen mehr Zeit einzuplanen, da mit langsameren Bewegungen, Ungeschicklichkeiten und häufigerem Scheitern von Handlungen umgegangen werden muss. In die zeitliche Strukturierung im Zusammenhang mit chronischen Erkrankungen fließen also Behandlungs- und Kontrollzeiten, Zeiten für Rekonvaleszenz und ein größerer Zeitverbrauch für Alltagshandlungen ein. Das bedeutet, die Bewältigung einer chronischen Krankheit nimmt, je nach Erkrankung und aktueller gesundheitlicher Lage, Zeit in Anspruch, die für andere Aktivitäten nicht mehr zur Verfügung steht. Darüber hinaus greift eine Erkrankung in die zeitliche Alltagsstrukturierung dadurch ein, dass durch unvorhergesehene Komplikationen und Krankenhausaufenthalte geplante Aktivitäten aufgegeben werden müssen, die beispielsweise durch eine plötzliche Verschlechterung von Nieren-Werten wie im Fall von Barbara Nibur oder durch einen akuten Asthmaanfall wie im Fall von Verena Peters bedingt sein können. Die Alltagszeit wird also in unterschiedlichem Ausmaß von einer Krankheit durch die mit ihr verbundenen Bedingungen strukturiert oder bei plötzlichen Veränderungen unterbrochen. Die Wahrnehmung von und der Umgang mit der jeweils krankheitsspezifischen zeitlichen Strukturierung ist unterschiedlich. Beispielhaft wird dies deutlich im Vergleich von Sonja Tomms und Toni Sievers, die beide im Übergang ins frühe Erwachsenenalter an Diabetes erkrankt sind und deren Fälle in den biographischen Porträts bereits dargestellt wurden. Toni Sievers fühlt sich von der regelmäßigen Struktur durch mehrmals tägliche Kontrolle der Blutzuckerwerte, die Gabe von Insulin und die Einbeziehung von Essenszeiten und Essensmengen wenig beeinträchtigt und bringt dies unter anderem dadurch zum Ausdruck, dass er den Zeitbedarf für die anfallende krankheitsbezogene Arbeit vorrechnet und in Sekunden darstellt. Dagegen empfindet Sonja Tomms die regelmäßige Strukturierung durch die ständige Kontrolle als Einschränkung ihrer Freiheit und Spontaneität. Die aus der Abhängigkeit vom Insulin resultierende Unfreiheit steht für sie im Widerspruch zu den Eigenschaften, die sie mit ihrer Lebensphase verbindet und in deutlichem Kontrast zu ihrem vorhergehenden Leben ohne die Erkrankung. Die Unterschiede spiegeln sich auch in der Zuordnung zu einem Typus wieder. Während Sonja Tomms in ihrer Erzählung den Bruch durch die Erkrankung in den Vordergrund stellt und die regelmäßigen krankheitsbezogenen Handlungen für sie mit einer ständigen Präsenz der Krankheit im Bewusstsein verbunden sind, betont Toni Sievers in seiner Lebensgeschichte die Fortführung seiner bisherigen Lebensorientierungen. Er kann die veränderte Lebensführung durch die permanente Kontrolle seines Blutzuckerspiegels als wichtige, aber nebensächliche Alltagsroutine integrieren.
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3.3.2.3 Krankheit und Lebenszeit Die Erfahrung der Lebenszeit wird in verschiedener Weise von der Erkrankung beeinflusst. Dies soll im Folgenden auf der einen Seite anhand der zeitlichen Strukturierung der Biographie durch die Krankheit und auf der anderen Seite durch die Erfahrung von und dem Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erläutert werden, wobei der letztgenannte Aspekt die Vermittlung zwischen den historisch-biographischen Phasen, die ausgedehnte Gegenwart und die Limitierung des Zukunftshorizonts beinhaltet. Die zeitliche Strukturierung der Biographie durch die Krankheit Die Erkrankung hat in unterschiedlicher Weise Einfluss auf die Wahrnehmung und Strukturierung der Lebenszeit. In einigen Fällen ist dieser Einfluss gering, wie beispielsweise in dem oben genannten Fall von Toni Sievers, der die Erkrankung als kontrollierbar und als wenig bedeutend in Bezug auf seine Lebensorientierungen schildert. Er strukturiert seine Lebensgeschichte durch andere biographisch bedeutsame Ereignisse und Abschnitte wie das Studium, den Hausbau, die Geburt der Kinder oder die Gründung der Schule. Die Zukunft bleibt für ihn gestaltbar und er geht weiterhin von einer hohen Lebenserwartung aus, auch wenn er mögliche Einschränkungen durch den Verlauf der Krankheit im Alter in seine Überlegungen einbezieht. Dagegen sind andere Lebensgeschichten deutlich durch die Krankheit in Lebensabschnitte geteilt. Die Interviewpartner, die die Krankheit als Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen erfahren, berichten von einer Zeit vor der Erkrankung und einer Umbruchphase durch die Erkrankung sowie von dem weiteren Leben mit ihr. Die Krankheit bildet in diesen Fällen einen zentralen Wendepunkt innerhalb der Biographie, es gibt also eine Zweiteilung der Biographie in eine Zeit der Gesundheit bzw. eine Zeit ohne die chronische Erkrankung und eine Zeit mit der Krankheit. An diesem Wendepunkt stehen wesentliche Aspekte des bisherigen Selbstverständnisses und der Vorstellungen über die weitere Entwicklung des Lebens in Frage. Ein für die zeitliche Dimension bedeutsamer Punkt ist das Zerbrechen der Selbstverständlichkeit einer hohen Lebenserwartung, die im Rahmen unserer modernen Industriegesellschaft normal erscheint. Mit dem Eintritt des Todes ist heute nicht wie in früheren Zeiten häufig schon als Kind oder auch sonst in jedem weiteren Lebensabschnitt zu rechnen, sondern er erfolgt normalerweise im höheren Alter. Imhof bemerkt dazu in seinen Ausführungen über die Lebenszeit, dass wir durch die geringe Mortalität so geprägt sind, dass wir glauben, ein Anrecht auf die physiologische Sicherheit unserer Existenz zumindest für 70 oder 80 Jahre zu haben (vgl. Imhof 1988, S. 34). Das mit dieser Prägung verbundene erwartete Ablaufmuster in Bezug auf die Lebenszeit und deren Aufteilung wird durch das Betroffensein von der Erkrankung von einer vormals als allgemeingültig angesehenen Struktur zu einem Muster, das für das eigene Leben nicht mehr gilt. Die im Normallebenslauf vorgesehenen Zeiten für Ausbildung, Berufstätigkeit und Ruhestand, die Zeiten, denen Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird und die Zeiten, in denen eher körperliche Einschränkungen, mögliche Krankheit und der Tod erwartet werden, sind als ordnende und Normalität schaffende zeitliche Struktur außer Kraft gesetzt. Planungen und Lebensgefühl entlang dieser zeitlichen Struktur können nicht mehr aufrecht erhalten werden. Die mit der Krankheit verbundenen Gedanken an Tod, Verlust, Behinderung und kürzere Lebenserwartung begrenzen plötzlich die vorher im positiven Sinne offene Lebenszeit. Sie machen die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens an sich und die Begrenztheit
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von bestimmten Möglichkeiten im Leben deutlich. Abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung rücken sie die Bedingungen des Alters näher. Mit diesen Bedingungen müssen sich zwar auch gesunde Menschen auseinandersetzen, aber erst zu einem späteren Zeitpunkt im normalen Lebensverlauf, der mit anderen lebensphasenspezifischen Aufgaben verbunden ist. Die Wahrnehmung der Endlichkeit und der Begrenztheit des eigenen Lebens wird z. B. deutlich in dem Bestreben von Jelka Uhl, die ihr verbleibende Zeit zu nutzen und ihr Leben „richtig voll zu füllen“ (Int 7, S. 35). In anderer Form zeigt sie sich bei Paul Adams, der in der Äußerung „ob ich da noch 20 Jahre lebe oder noch zwei Wochen, wer weiß das schon, wer weiß das“ (Int 6, S. 25) seine noch verbleibende Lebensdauer als unsicher und unberechenbar darstellt. Eine weitere Form des Einflusses der Krankheit zeigt sich in einer Strukturierung der biographischen Zeit in verschiedene Lebensabschnitte, die mit dem Krankheitsverlauf und den damit verbundenen wechselnden Lebensbedingungen in Zusammenhang stehen, wie beispielsweise der Wechsel von einer Phase, in der die betroffene Person sich noch auf ihren Füßen fortbewegen kann zu einer Zeit, in der sie auf die Verwendung eines Rollstuhls angewiesen ist. Diese Form ist quer durch alle Gruppen anzutreffen und steht mit der Schwere der Erkrankung und medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Beziehung. Auf den wiederholten Wechsel von Lebensbedingungen verweist beispielhaft der Fall von Barbara Nibur, die im Verlauf ihrer Nierenerkrankung dialysepflichtig wird und durch eine Nierentransplantation wieder ohne die Dialyse leben kann. Da sich die Nierenfunktion der Spenderniere im Zeitverlauf verschlechtert, muss sie nach sieben Jahren wieder an die Dialyse und kann nach weiteren zwei Jahren zum zweiten Mal transplantiert werden, da eine passende Niere zur Verfügung steht. Im Folgenden äußert sie sich zu dem wiederholten Wechsel und den mit ihnen verbundenen Verarbeitungsprozessen. „... also jeder Lebensabschnitt, der eigentlich neu war, hat immer ungefähr so ein gutes Jahr gebraucht, bis er dann eingespielt war, eintrainiert, sodass er dann wieder Alltag wurde und es leichter wurde, und + ja, das habe ich ja inzwischen schon drei Mal hinter mir (...) alles gehört dazu, ob du noch arbeiten kannst oder nicht, wenn du noch arbeitest an der Dialyse, wie organisierst du das, wenn du nicht mehr arbeiten kannst, was machst du plötzlich mit deiner Identität, wer bist du dann und so, ja, bist jetzt nur noch krank oder wer bist du denn überhaupt und solche Sachen, und dass das immer wieder so Brüche sind, wo ich denke, man muss sich das zugestehen, dass es ein Jahr oder eineinhalb dauert.“ (Int 8, S. 62)
Sie schildert das Leben als gegliedert in verschiedene Abschnitte, die jeweils in umfassender Weise von neuen Bedingungen bestimmt sind und in denen erst nach einiger Zeit der Umorganisation und der Lernprozesse wieder zu einem gewohnten Ablauf gefunden werden kann. Die Veränderungen können weite Bereiche umfassen: Sie können sich von konkreter Organisation eines zeitlichen Ablaufs in der alltäglichen Lebensführung bis hin zu einem Infragestellen der Lebensorientierung und der Identität erstrecken. Neben den alltagspraktischen und physischen Umstellungen muss der Wechsel auch emotional und psychisch verarbeitet werden. Wenn der neue Ablauf eingespielt und zur Normalität geworden ist, kann es durch Komplikationen (zum Beispiel stimmen die Werte nicht, da die transplantierte Niere nicht gut arbeitet) oder durch eine plötzliche Chance (es gibt eine passende Spenderniere) wiederum zu einer völlig veränderten Situation kommen. Die gesundheitliche Lage ist auch in einer Phase der scheinbaren Stabilität prekär und zeitliche Planungen haben daher eine unsichere Komponente. Dieser bis zu einem gewissen Grad
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unkalkulierbaren Situation begegnet Barbara Nibur, indem sie, wie sie an anderer Stelle erzählt, bei ihr wichtigen Vorhaben mehrere Alternativen bedenkt und so versucht, durch das Einbeziehen der Unsicherheit mehr Sicherheit herzustellen. Ebenfalls erwähnt sie im Zusammenhang mit dieser Unkalkulierbarkeit ihr Motto „alles ist relativ“ (Int 8, S. 64), mit dessen Hilfe sie auf einer übergeordneten Ebene wieder Stabilität und Kontinuität herstellen und Verluste produktiv verarbeiten kann. Im Zusammenhang mit den sich verändernden gesundheitlichen Bedingungen werden von ihr also sowohl Lernprozesse in Bezug auf den Wechsel von einer Lebenssituation in eine andere und den damit verbundenen Lebensabschnitten als auch Lernprozesse in Bezug auf die Verarbeitung von wiederholten Wechseln und der Sicherung von Kontinuität über diese Wechsel hinweg beschrieben. In dem Beispiel wird bereits der Aspekt der unsicheren Zukunft deutlich und leitet über zu dem nächsten Punkt, das Verhältnis und der Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Zusammenhang mit der Erkrankung. Die Erfahrung von und der Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft In der biographischen Zeit sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden und belegen die Kontinuität der Identität über die Zeit (vgl. Corbin/Strauss 1993). Der Vermittlungsprozess von historisch-biographischen Phasen im Leben eines Menschen muss permanent geleistet werden. Diese Herausforderung besteht im Zusammenhang mit einer chronischen Erkrankung jedoch in besonderem Maße. Wenn eine Erkrankung in das Leben eines Menschen krisenhaft eintritt wird die Kontinuität brüchig. Das gegenwärtige Selbst ist verändert, das Selbst vor der Krankheit existiert nur noch in der Vergangenheit. Das bisher antizipierte Selbst in der Zukunft baute auf den Bedingungen des vergangenen Selbst auf, die in der Gegenwart verändert sind. Also existiert auch dieses zukünftige Selbst nicht mehr bzw. ist nicht mehr realisierbar. Während die bisherige Verbindung in die Vergangenheit und Zukunft unterbrochen ist, wird die Gegenwart als ausgedehnt erfahren. Für den Betroffenen steht in Frage, welche Teile des Selbst erhalten bleiben und welche verloren gehen. Im weiteren Verlauf müssen Veränderungen und Verluste dimensioniert und verarbeitet, die Krankheit als neuer Teil der Identität muss in die Biographie integriert werden. Es gilt, Wissen und praktische Fähigkeiten im Umgang mit der Krankheit zu erwerben, um die veränderte Situation einschätzen und kontrollieren zu können. Erst dann kann eine neue Zukunft entworfen und mit der Vergangenheit verknüpft werden, die unter den neuen Vorzeichen in verschiedenem Umfang ebenfalls neu geordnet oder bewertet wird. Bedeutsame Komponenten in diesem Prozess sind das Annehmen und Akzeptieren der neuen Bedingungen und das Verabschieden der verlorenen Aspekte des vormals gegenwärtigen und zukünftigen Selbst, die nun zur Vergangenheit werden. Dies ist nötig, um wieder frei für eine neue Zukunft zu werden und nicht endlose Grenzen und Barrieren zu erleben. Dieser Prozess des Zerbrechens des bisherigen Selbstverständnisses und der damit verbundenen Lebensbedingungen, eine Phase der ausgedehnten Gegenwart, in der das bisherige zukunftsbezogene Handeln unterbrochen ist und die nach einer Neuausrichtung wieder gewonnene Handlungsfähigkeit soll an nachfolgendem Beispiel dokumentiert werden, in dem Jelka Uhl diese Entwicklung an einem alltagspraktischen Thema zum Ausdruck bringt. Die Interviewpartnerin berichtet, dass sie im Zuge von Renovierungsarbeiten gerade die Neugestaltung ihres Wohnzimmers beendet hat und als nächstes ihr Esszimmer neu einrichten wollte, als sie die Diagnose bekommt, dass sie an Multipler Diagnose erkrankt ist. In Bezug auf die Renovierung schildert sie ihr verändertes Befinden:
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Empirische Ergebnisse „Ich hab hier mein Esszimmer einrichten wollen, ich konnte mein Esszimmer nicht mehr einrichten, ja, es ging nicht.“ (Int 7, S. 61)
Ihre Pläne für die Einrichtung des Esszimmers kann sie nach Erhalt der Diagnose nicht mehr umsetzen, sie erlebt ihre zuvor geplante Handlungsrichtung als unterbrochen. Die bisherigen Vorstellungen über ihre Zukunft sind durch die Diagnose in Frage gestellt und es erscheint ihr nicht mehr möglich oder sinnvoll, entsprechend dieser Ausrichtung zu handeln. Die Handlung wird also gestoppt, weil das zukünftige Selbst und die damit verbundenen Lebensbedingungen unklar und noch unberechenbar sind. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sich der Verlust einer bisher antizipierten Zukunft auf das Handeln in einer alltagspraktischen Situation auswirken kann. Nach einer längeren Zeitspanne, in der Jelka Uhl sich intensiv mit der Krankheit und ihren möglichen Folgen auseinandergesetzt und neue Vorstellungen von sich in der Zukunft entworfen hat, ist sie wieder handlungsfähig in Bezug auf die weitere Gestaltung ihres Wohnumfeldes, nun allerdings unter gänzlich anderen Vorzeichen. „...und dann habe ich mir also mein Esszimmer eingerichtet und habe mir Schiebetüren hingemacht, weil ich gesagt habe, wenn ich einen Rollstuhl habe, sind Schiebetüren alles, komme ich mit Schiebetüren besser zurecht.“ (Int 7, S. 61)
Nun geht sie bei ihrer zukünftigen Planung davon aus, dass sie eines Tages auf einen Rollstuhl angewiesen sein wird, hat also Vorstellungen von einem ‚Rollstuhl fahrenden Selbst’ in der Zukunft. Vor dem Hintergrund dieser gewandelten antizipierten Zukunft verändert sie ihre Pläne für das Esszimmer und konzipiert es rollstuhlgerecht. Mit dieser neuen, an die veränderten Bedingungen angepassten Vorstellung ist für sie eine zielgerichtete Handlung wieder möglich. Es findet also wieder eine Vermittlung zwischen ihrer nun veränderten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft statt. Dieses Beispiel verdeutlicht die frühzeitige und vorausschauende Einstellung der Lebensführung von Jelka Uhl auf die möglichen Bedingungen der Krankheit, denn sie bezieht bereits viele Jahre, bevor sie den Rollstuhl tatsächlich benutzen muss, diese Möglichkeit in ihre Planungen und Lebensgestaltung ein. Die umfassenden Änderungen zu einem frühen Zeitpunkt helfen ihr dabei, ihre Situation lange zu kontrollieren und die Krankheit produktiv zu verarbeiten. Der hier beschriebene Prozess ist in dieser oder ähnlicher Form bei den Interviewpartnern zu beobachten, in deren Erzählung ein Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen im Vordergrund steht und die daher dem Typus B zugeordnet wurden. Auch die Interviewpartner des Typus C, die das Eintreten der Krankheit als Irritation erleben, stellen dadurch kurzfristig die bisherige Vermittlung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Frage, können jedoch dann ihre bisherige Lebensorientierung fortsetzen und so wesentliche Teile ihres bisherigen und zukünftigen Selbstverständnisses erhalten und dadurch auch weitgehend die Kontinuität der bisherigen Vermittlung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sicherstellen. Sie können sowohl nach einem Prozess der Auseinandersetzung mit der Krankheit zu dem Schluss kommen, ihre bisher antizipierte Zukunft beibehalten zu können wie der in den Einzeldarstellungen beschriebene Fall von Toni Sievers, oder aber die Auseinandersetzung weitgehend vermeiden, negative Zukunftsvorstellungen abhalten bzw. verdrängen und auf diese Weise die bisher antizipierte Zukunft fortsetzen. In der Erzählung steht dann jeweils die Kontinuität im Vordergrund.
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Zumeist auf einer weniger umfassenden Ebene wiederholt sich der Prozess der Unterbrechung und der neuen Vermittlung der Identität über die Zeit, wenn eine Entwicklung im Krankheitsgeschehen eintritt, mit der für die betroffene Person relevante Veränderungen in den Lebensbedingungen verbunden sind. Diese Veränderungen können sowohl körperlicher als auch sozialer Natur sein. So kann der Wechsel vom Gehen auf den eigenen Füßen zur Fortbewegung im Rollstuhl zu einem solchen Prozess führen, aber auch die Trennung vom Partner, der mit der Situation nicht mehr umgehen kann oder die Reaktionen von anderen auf eine nun sichtbare Behinderung. Auf dieser der Grundstruktur der lebensgeschichtlichen Erzählung untergeordneten Ebene findet sich dieser Prozess bei allen vier Typen und ist in hohem Maße vom Krankheitsverlauf und dessen Schwere abhängig. Die ausgedehnte Gegenwart Das Erleben einer ausgedehnten Gegenwart kann als Zeichen einer aktuellen Krise gedeutet werden, in der, wie oben bereits beschrieben wurde, die Verbindung zur Vergangenheit und zur Zukunft derzeit unterbrochen ist. In der lebensgeschichtlichen Erzählung kommt das unter anderem darin zum Ausdruck, dass es keine oder wenig detaillierte und szenische Vergangenheitserzählungen gibt. Die Gegenwart erscheint als Begegnungsraum ohne Vergangenheit. Dies kann in einem Zusammenhang damit stehen, dass es zu schmerzhaft ist, daran zu denken, wer man einmal war oder dass ein bedeutsamer Lebensbereich durch einen Verlust endgültig verschlossen ist. Auch kann die heutige Selbsterfahrung mit den noch bestehenden Möglichkeiten stark von der früheren abweichen und daher weit entfernt scheinen. Darüber hinaus gibt es keine gedankliche Verlängerung der Gegenwart in die Zukunft, da die Zukunft so unberechenbar scheint, dass keine Orientierung möglich ist oder zukünftige Vorstellungen mit Ängsten verbunden sind, da dort nur wenig Erfreuliches zu erwarten ist. In dem Fall von Nora Seubert, der in den Einzelporträts der Gruppe A beschrieben wurde, ist die Schilderung einer ausgedehnten Gegenwart mit der aktuell problematischen gesundheitlichen Lage verbunden. Nach langer Zeit mit einer Spenderniere ist sie seit einem halben Jahr wieder auf die Dialyse angewiesen. Erschwerend kommen verschiedene gesundheitliche Komplikationen hinzu, die dazu führen, dass jede Aktivität, wie beispielsweise der Versuch, wieder arbeiten zu gehen, von einem auftauchenden gesundheitlichen Problem gestoppt wird. Nora Seubert schildert, dass sie augenblicklich keine Pläne machen kann, da ihre weitere gesundheitliche Entwicklung für sie unklar und unberechenbar ist. Sie äußert, dass sie nur noch von heute auf morgen lebt, da „eine Seifenblase nach der anderen platzt“ (Int 23, S. 8). Zu diesen „Seifenblasen“ gehört auch die Erwartung einer Lebendspende ihres Vaters, der nun aber aufgrund eigener gesundheitlicher Probleme nicht mehr zur Spende bereit ist. Sie setzt daher ihre Hoffnung auf den Erhalt einer Spenderniere über die Transplantationsliste, was jedoch zeitlich völlig unbestimmt ist. Sie hofft also auf „irgendwas, wann auch immer“ (Int 23, S. 6). Nora Seubert kann sich daher nicht auf eine bestimmte Entwicklung einstellen, die Zukunft ist für sie unkalkulierbar. Zugleich wird diese ausgedehnte Gegenwart von ihr als eine vorübergehende Phase innerhalb der Biographie verstanden, denn sie rechnet mit einer positiven Änderung ihrer derzeitigen Lage und charakterisiert sich aus der Erfahrung einer langjährigen Krankheitsbewältigung als „Stehaufmännchen“, die nach einem gesundheitlichen Einbruch ihre Lage wieder positiv bewältigen kann.
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Empirische Ergebnisse
Eine andere Variante wird in der Erzählung der an Multipler Sklerose erkrankten Margarete Ries deutlich, deren Fall in der Gruppe C bereits ausführlich präsentiert wurde. Hier steht die angstbesetzte Zukunft im Zusammenhang mit einer ausgedehnten Gegenwart. Zu Beginn des Interviews thematisiert Margarete Ries nach einem einleitenden Satz ihr Entsetzen über ihre mögliche Zukunft, das durch den kürzlich stattgefundenen Besuch bei ihrer Schwester ausgelöst wird, die ebenfalls an Multipler Sklerose leidet und bereits ein Pflegefall ist. Der heutige Zustand ihrer Schwester symbolisiert die Zukunft, die auf sie zukommen könnte und die sie jetzt, nachdem sie bereits 25 Jahre mit der Krankheit lebt, scheinbar erstmals in dieser Tragweite realisiert. Sie schildert ihren Versuch, ihren Schock zu kontrollieren, indem sie die beängstigenden und belastenden Vorstellungen abwehrt und ihren leichteren Verlauf mit dem schweren Verlauf ihrer Schwester kontrastiert, was aber nur teilweise gelingt, da die belastenden Vorstellungen im Hinterkopf dennoch vorhanden sind. Im Anschluss an diese Schilderung ihrer angstbesetzten aktuellen Lage wechselt sie das Thema und berichtet in knappen Worten über sich, indem sie sich über ihre noch bestehende Berufstätigkeit definiert. Die Einleitung ihrer Selbsterzählung „zu mir, was soll ich da sagen, ich bin eben, wie gesagt, noch berufstätig“ (Int 13, S. 3) könnte in einer Lesart darauf hindeuten, dass es „da“, abgesehen davon, noch berufstätig zu sein, nicht mehr viel zu sagen gibt, was auf die bereits erfolgte Verengung ihrer Lebenswelt hinweist. Im Anschluss an diese Selbstbeschreibung werden keine folgenden Informationen über ihre persönliche Geschichte präsentiert und keine Prozesse beschrieben, sondern die Gegenwart wird fast statisch dargestellt. Der Wechsel von Schulzeit und Ferien, den sie im Weiteren anspricht, wird als permanente Gegenwart formuliert. In diesem Interview vermittelt sich überwiegend der Eindruck einer ausgedehnten Gegenwart. Insgesamt wurden außerhalb der aktuellen Problematik, zu der neben der oben dargestellten Konfrontation mit einer angsteinflößenden Zukunft auch die kürzlich erfolgte Trennung vom Partner beiträgt, kaum detaillierte Geschichten erzählt und es gibt kaum Prozesserzählungen. Positive Zukunftsvorstellungen oder Ziele finden auch im weiteren Verlauf des Interviews keine Erwähnung. Die aktuell krisenhafte Situation bezieht sich also auf die Annahme, durch die weitere Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes und durch die Trennung von ihrem Mann von einer negativen Zukunft betroffen zu sein, die von einer zunehmenden Isolation und Unselbstständigkeit bestimmt ist. In einigen anderen Erzählungen wird ebenfalls eine ausgedehnte Gegenwart geschildert, die im Zusammenhang damit steht, dass die mit einem stetigen Abwärtsverlauf der Erkrankung verbundenen negativen Zukunftserwartungen abgehalten werden und kaum positive Zukunftsvorstellungen möglich sind. Im Unterschied zu den oben beschriebenen Fällen werden die negativen Erwartungen über die Zukunft in diesen Fällen nicht als aktuelle Krise erfahren, sondern die betreffenden Personen scheinen die sich verschlechternde gesundheitliche Entwicklung überwiegend akzeptiert und sich mit ihr abgefunden zu haben. In diesen Lebensgeschichten gibt es neben der Erfahrung einer ausgedehnten Gegenwart auch eine detaillierte und szenische Darstellung von vergangenen Erlebnissen, die beim Erzählen aktualisiert werden und bedeutsam für die heutige Identität sind. Damit verbunden ist eine Bilanzierung des vergangenen Lebens aus der gegenwärtigen Perspektive. Dieses Muster zeigt sich beispielsweise bei Paul Adams und Sven Herbig, deren biographische Porträts bereits oben präsentiert wurden.
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Die Limitierung des Zukunftshorizonts Die Erfahrung eines limitierten Zukunftshorizontes wird bei den Interviewpartnern, die einen Bruch mit einer anschließenden Neuorientierung schildern, häufig beschrieben. Aber auch bei einigen Interviewpartnern der anderen Gruppen gibt es dieses Phänomen im Zusammenhang mit einem Abwärtsverlauf der Krankheit und deutlich spürbaren Einschränkungen. Beispielhaft für einen solchen Fall ist der gerade erwähnte Sven Herbig, dessen starke Einschränkungen seiner Bewegungsfähigkeit und die Erwartung einer weiteren Verschlimmerung zum Abhalten der negativen Zukunftsvorstellungen, wie z. B. der Pflegebedürftigkeit, führen und mit einer engen Begrenzung des Zukunftshorizontes einhergehen. Die Zerstörung der bisher erwarteten Zukunft ist charakteristisch für Personen, die von einem Zerbrechen bedeutsamer Lebensorientierungen und einer Neuorientierung berichten. Sie schildern im Verlauf der Neuorientierung und im weiteren Leben mit der Krankheit eine Umgangsweise mit der Zukunft, die eine Interviewpartnerin in dem folgenden Auszug als „Das zaghafte Zulassen von Zukunft“ beschreibt und die das schrittweise Hinausschieben des Zukunftshorizontes beinhaltet. „Das ist so Schritt für Schritt irgendwo gegangen und dann konnte ich mir das Jahr 2000 nicht vorstellen, ich konnte mir einfach irgendwie oder ich mochte mir nicht vorstellen, wie ich im Jahr 2000 leben werde, da war auch so ne Blockade drin, das mochte ich mir nicht vorstellen, ja, dann war plötzlich das Jahr, das Jahr 2000 war plötzlich da, ich hab immer noch gelebt, ich hab immer noch ganz gut gelebt, zwar (lacht) schon heftig eingeschränkt, aber da war mir plötzlich klar, es geht weiter, es geht weiter und so hat sich das eigentlich entwickelt, dass dieser anfängliche Gedanke an, bewusster Gedanke, bewusster Gedanke an Zukunft, den ich eigentlich irgendwo verdrängt hab, dass der eigentlich immer mehr, dass ich den immer mehr zugelassen hab, ne, aber er hat seine Grenzen, er hat seine Grenzen, die Vorstellung zum Beispiel, wenn ich jetzt alte Leute sehe, also Ehepaare, die gemeinsam so das Alter verbringen, die Vorstellung kann ich noch nicht haben, die ist für mich fast unmöglich, denn, wenn ich ganz knallhart, wenn ich das jetzt realistisch formuliert sehen wollte, wenn ich jetzt meinen Krankheitsverlauf der letzten zehn Jahre extrapoliere, oder 15 Jahre extrapoliere nach oben und das quasi draufsetze, dann mag ich mir 15 Jahre später nicht bewusst vorstellen, ne, also das hat seine Grenzen, das ist so ein zaghaftes Zulassen von Zukunft.“ (Int 7, S. 61f.)
Diese Passage dokumentiert die Limitierung der Zukunftsvorstellungen, die in Verbindung mit der Erkrankung erfolgt und in der von der Erzählerin beschriebenen Blockade von symbolträchtigen Markierungspunkten wie dem Jahr 2000 deutlich wird. Die Limitierung wird dabei sowohl erlitten als auch aktiv vollzogen, was in der Formulierung „konnte nicht“ und „mochte nicht“ seinen Ausdruck findet. Beim Überschreiten der Schwelle des Jahres 2000 wird ihr klar, dass sie „immer noch ganz gut lebt“. Diese Aussage verweist auf einen Vergleichshorizont, zu dem sie ihre bestehende Lebensqualität ins Verhältnis setzt. Es liegt nahe, dass dieser Vergleichshorizont Vorstellungen von massiven Krankheitsbildern und geringer Lebensqualität beinhaltet und zu einem bedeutenden Teil an der zuvor beschriebenen Unterbrechung der Zukunft und der Entstehung der beschriebenen Blockade beteiligt ist. Zugleich ist die Limitierung auch im Zusammenhang damit zu sehen, dass für die veränderte Situation anfangs noch wenig konkrete Möglichkeiten in der Gedankenwelt des unerwartet von Krankheit betroffenen Menschen vorhanden sind, um die veränderte Situation zu gestalten. Auch gibt es noch keine Erfahrung über den praktischen Umgang mit der Krankheit und über den eigenen Krankheitsverlauf. Die oben als Beispiel angeführte Interviewpartnerin bringt ein hohes persönliches Potenzial mit, das es ihr ermöglicht,
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sich nach der Neuorientierung auf der Basis einer sicheren materiellen Lage in einem neuen Feld zu engagieren. So macht sie neben vielen leidvollen auch erfüllende und befriedigende Erfahrungen und kann sich bisher eine hohe Lebensqualität erhalten. Sie formuliert neben der positiven Erfahrung aber auch deutliche Grenzen, zu denen die Vorstellung eines gemeinsamen Lebens mit ihrem Ehemann im Alter zählt. Das ist „noch“ nicht vorstellbar, hier wird die Zukunft von ihr klar begrenzt. Die schrittweise Erfahrung des Lebens mit der Erkrankung und die daraus zunehmend entstehende zeitliche Berechenbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufs führt zu einem etappenweisen Hinausschieben der Limitierung von Zukunftsvorstellungen, benannt als „zaghaftes Zulassen von Zukunft“. Auch die Erfahrung, dass das Leben über einen in der Vorstellung begrenzten Horizont hinaus einfach weiter geht, ist für die Erzählerin bedeutsam. Diese hinausgeschobene limitierte Zukunft ist zwar deutlich eingeschränkt im Vergleich zu der von gesunden Menschen vorausgesetzten Zukunft, ermöglicht aber in einem gewissen Rahmen Vorausplanungen, Entwürfe und Simulationen. In folgender Passage bringt eine andere Interviewpartnerin zum Ausdruck, wie sie ihren Zukunftshorizont limitiert. „Ich denke eigentlich nicht an die Zukunft, + ich denke, nee, ich lebe eigentlich so den Tag und hoffe, dass es weitergeht, aber so planen groß für die Zukunft tue ich eigentlich nicht, also über Jahre hinaus plane ich nicht, gut ein Jahr kann ich mir immer schon vorstellen zu planen, ne, aber, nee, weiter plane ich nicht (...) das ist was, wo ich eigentlich sage, nee, das kann ich gar nicht planen, das ist was, was ich auch gar nicht planen will, sondern da kann ich mal davon träumen und wäre schön, wenn es so ist, aber ich plan es nicht, also ich bin eher so, also ein Jahr kann ich schon ganz gut überschauen aber mehr mache ich eigentlich nicht.“ (Int 1, II, S. 13)
Diese Erzählerin äußert explizit, dass sie nur ein Jahr im Voraus plant und nicht weiter in die Zukunft denkt. Längerfristige Zukunftsvorstellungen sind für sie keine Pläne, sondern Wünsche, die nicht im Bereich ihrer kontrollierbaren Reichweite liegen und von denen sie höchstens träumen kann. Auch hier wird sowohl das Erleiden der Begrenzung („kann nicht“) als auch das aktive Limitieren des Zukunftshorizontes („will nicht“) geschildert. Im Zusammenhang mit der Krankheitsverarbeitung und der Einschränkungen durch die Erkrankung werden also die Zukunftsvorstellungen innerhalb eines zeitlichen Rahmens limitiert, in der die Zukunft absehbar erscheint. Das kontrollierte Zulassen von Zukunft wird durch Erfahrungen und Lernprozesse möglich, die mit der Einschätzung und der Kontrolle der eigenen Körperfunktionen und der Entwicklung der Krankheit verbunden sind. So sind beispielsweise nach einigen Jahren mit Multipler Sklerose die Verluste, mit denen in einem Jahr zu rechnen ist, ungefähr hochzurechnen, ein Wissen, über das man am Anfang der Erkrankung noch nicht verfügt. Doch auch in dieser begrenzt möglichen sicheren Zukunft muss mit dem Einbrechen von plötzlichen unerwarteten Situationen durch Komplikationen gerechnet werden, die diese „zaghaften“ Zukunftsplanungen umstürzen. Die als begrenzt erfahrene Lebenszeit und das als endlich wahrgenommene Vermögen, aktiv gestalten zu können, hat bei einigen Interviewpartnern zur Folge, besonders aktiv und effektiv zu sein, bewusst die Zeit zu nutzen und sie „richtig voll zu füllen“ (Int 7, S. 35) oder sie äußern das Bestreben, das Beste aus ihrer (eingeschränkten) Lebenssituation zu machen. Sie bringen eine besondere Motivation zur positiven Gestaltung zum Ausdruck, die aus dem als begrenzt wahrgenommenen eigenen Gestaltungszeitraum, der ihnen zur Verfügung steht, erwächst.
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3.3.3 Krankheit und Person In den Lebenserzählungen der Interviewpartner werden verschiedene personenbezogene Aspekte deutlich, die bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung im Zusammenhang mit der Lebensorientierung und der Lebensführung eine Rolle spielen. Dazu zählen die Art, die Schwere und der Verlauf der Erkrankung, vorhandene oder fehlende Potenziale und Hypotheken, der vorherrschende Bewältigungsstil der betroffenen Person, die Theorien über die Krankheitsursache, Zusammenhänge von religiösen Bezügen oder lebensphilosophischen Ansätzen und Krankheitsbewältigung sowie das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit. Diese im Folgenden näher ausgeführten Aspekte werden hier unter dem Fokus der persönlichen Dimension betrachtet. Sie sind jedoch zugleich als eng verflochten mit der sozialen und der zeitlichen Dimension zu verstehen.
3.3.3.1 Art, Schwere und Verlauf der Erkrankung Krankheiten unterscheiden sich in vielerlei Hinsicht voneinander. Sie können mit verschiedenen Bedingungen verbunden sein und im Zusammenhang mit der jeweiligen Art und Schwere der Erkrankung zu unterschiedlichen Konsequenzen im Leben der Betroffenen führen. Chronische Krankheiten haben einen lebenslangen Verlauf mit unterschiedlichen Phasen, die Corbin und Strauss (1993) als Phasen der Renormalisierung, als stabile, instabile oder sich verschlechternde Phasen und als Sterbephasen, die im Rahmen dieser Untersuchung bewusst ausgeklammert wurden, bezeichnet haben und die jeweils mit verschiedenen Anforderungen verbunden sind. Eine wesentliche Komponente haben die verschiedenen Krankheiten gemeinsam: sie alle stehen im Zusammenhang mit der Erfahrung von Verlust. Verlust Chronische Krankheit betrifft zunächst den Körper des Menschen. Die primären Verluste durch die Krankheit liegen in den Bereichen bestimmter körperlicher Funktionen und der damit verbundenen Fähigkeiten. Die Interviewpartner dieses Samples leiden an Multipler Sklerose, Diabetes, rheumatoider Polyarthritis, Schlaganfall, Gehirnschrumpfung, Nierenversagen, Schwerhörigkeit und Asthma und sind daher von Verlusten in verschiedenen Funktions- und Fähigkeitsbereichen betroffen. So sind beispielsweise auf der körperlichen Ebene Bewegungsfähigkeiten eingeschränkt oder verloren, die Leistungsfähigkeit und die Vitalität sind begrenzt und entsprechende Erholungszeiten nötig. Bei einigen Personen ist die eigenständige Lebenserhaltung generell oder in akuten Phasen nicht mehr möglich und muss durch Medikamente, Transplantate oder medizinische Geräte gewährleistet werden. Darüber hinaus kann mit körperlichen Beeinträchtigungen auch ein Verlust von geistigen Fähigkeiten verbunden sein, wie dies beispielsweise durch Hirnschädigungen bei einem Schlaganfall geschieht. In einem solchen Fall kann die Sprachfähigkeit auf verschiedenen Ebenen verloren gehen, wenn die Fähigkeiten, Sprache zu verstehen, sich zu artikulieren oder die grammatischen Formen zu beherrschen nicht mehr verfügbar sind. Bestimmte Wissensbereiche wie eine Fremdsprache oder mathematisches Wissen können verloren sein. Dies kann auch das Erinnerungsvermögen an frühere Bekannte oder Erlebnisse betref-
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fen. Auch kann es durch die Erkrankung schwieriger werden, Informationen zu verarbeiten oder sich zu konzentrieren. Aus diesen primären leiblichen Verlusten können weitere Verluste resultieren, die in alle Lebensbereiche hineinwirken. Beispielsweise nehmen Erfahrungen des Scheiterns wegen körperlicher Einschränkungen zu und im Zusammenhang damit die erfolgreichen Handlungen ab. Das Vertrauen in den eigenen Körper und seine vormals selbstverständlichen Funktionen wird brüchig. Interaktionsmöglichkeiten können verloren gehen, die Arbeitskraft, der Arbeitsplatz und die weiteren beruflichen Perspektiven können in Frage stehen. Beziehungen zwischen Partnern, in der Familie und im sozialen Umfeld ändern sich, bisherige Zielsetzungen und Zukunftsperspektiven zerbrechen. In Verbindung mit diesen Verlusten können neben nötigen Änderungen in der Lebensführung, die vorgenommen werden müssen, auch bisherige Lebensorientierungen in Frage stehen. Verlust muss jedoch noch weiter differenziert werden. Die medizinische Prognose der Krankheit informiert darüber, mit welchen Einschränkungen und Verlusten in der Zukunft zu rechnen ist. Es spielt eine bedeutende Rolle, ob die Verluste zeitweilig oder dauerhaft sind, ob eine gewisse Rekonvaleszenz möglich ist oder aber ob mit einer Verschlimmerung gerechnet werden muss und ob es in vielen Bereichen Verluste gibt oder ob die Verluste auf einzelne Bereiche begrenzt sind. Darüber hinaus ist zu fragen, in wieweit mit zusätzlichen Verlusten durch eine medizinische Behandlung, etwa durch Nebenwirkungen einer Medikation, gerechnet werden muss. Bedeutend ist ebenfalls, inwieweit die Selbstständigkeit in verschiedenen Bereichen verloren geht und die Betroffenen auf die Hilfe anderer angewiesen sind. Verluste können sich auch auf Rollen- und Identitätsvorstellungen beziehen, die im Zusammenhang mit Normen und Werten der Gesellschaft stehen. Beispiele dafür wäre die in einigen Interviews angesprochene Verunsicherung in der Rolle als Frau oder der Statusverlust durch einen Wechsel von der Berufstätigkeit in den Rentenstatus zu einem frühen Zeitpunkt im Leben. Ein Verlust kann von der betroffenen Person bei sich wahrgenommen werden. Er kann für andere Personen, wie beispielsweise der Partnerin oder dem Partner, den Angehörigen, Freunden, Kollegen, Konkurrenten, Fremden oder Institutionen wahrnehmbar oder auch nicht wahrnehmbar sein. Es stellt sich im Zusammenhang mit der Sichtbarkeit der Erkrankung die Frage, welche Veränderungen sich dadurch ergeben, dass andere ‚Zeuge des Verlustes’ sind und in welcher Weise dadurch die Beziehungen zu Einzelnen oder Gruppen beeinflusst werden. Diese interaktiven Aspekte werden an späterer Stelle in dem Abschnitt über die soziale Dimension noch ausführlicher behandelt. Die Interviewpartner sind je nach Art, Schwere und Verlauf ihrer Krankheit in unterschiedlichem Ausmaß von den Verlusten betroffen. Krankheitsbezogene Arbeit Ein weiterer Aspekt in Verbindung mit der Art, Schwere und dem Verlauf der Krankheit ist die mit der Krankheit verbundene Arbeit, die zu leisten ist und die schon oben in der zeitlichen Dimension als Einflussfaktor bei der Alltagsstrukturierung detaillierter ausgeführt wurde. Neben der Zeit, die für krankheitsbezogene Arbeit aufgewendet werden muss, ist diese Arbeit auch mit der Investition von Energie und Aufmerksamkeit sowie mit Informations- und Lernprozessen verbunden. Neben der praktischen Arbeit, wie z. B. einer regelmäßigen Kontrolle der Körperfunktionen oder dem Praktizieren von begleitenden Maßnahmen mit stabilisierender oder mobilisierender Funktion, ist hier auch die Arbeit hinzuzurechnen, die für eine eventuelle Schmerzkontrolle anfällt. Ebenso ist für die Verarbeitung
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und Regulierung von Emotionen im Zusammenhang mit der Erkrankung Arbeit nötig, die beispielsweise den Umgang mit Gefühlen der Angst, Trauer, Unsicherheit, Hoffnung und Enttäuschung beinhaltet. Zu der krankheitsbezogenen Arbeit zählt auch die emotionale und kognitive Arbeit hinzu, die geleistet werden muss, um die Abhängigkeiten zu verarbeiten, die Verluste zu bewältigen und die Biographie neu zu entwerfen. Die krankheitsbezogene Arbeit muss zusätzlich zu der alltäglich anfallenden Arbeit von der betroffenen Person und teilweise von Menschen im Umfeld geleistet werden. Entsprechend der jeweiligen Phase des Krankheitsverlaufes und ihren Bedingungen können sich die Art und das Ausmaß der krankheitsbezogenen Arbeit verändern. Während manche Interviewpartner viel Arbeit leisten müssen, fällt bei anderen nur wenig regelmäßige Arbeit an oder die Arbeit muss nur in akuten Phasen geleistet werden. Auch in Bezug auf die Wahrnehmung, individuelle Bedeutung der Arbeit und den Umgang mit ihr gibt es Unterschiede. Einfluss der Bedingungen der Erkrankung auf die Biographie Die Bedingungen der jeweiligen Erkrankung haben durch die Art und Schwere der mit der Krankheit verbundenen Verluste, durch die Arbeit, die im Zusammenhang mit der Erkrankung geleistet werden muss und durch den Verlauf der Erkrankung einen großen Einfluss auf die Lebensgestaltung der Person. Zugleich stehen die Bedingungen der Erkrankung in Wechselwirkung mit den bisherigen biographischen Erfahrungen und der Persönlichkeit des betroffenen Menschen sowie der Lebensphase, in der dieser sich gerade befindet. Vor diesem Hintergrund kann die gleiche Krankheit sehr verschieden verarbeitet und bewältigt werden und das Leben in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Im Folgenden sollen diese Unterschiede am Vergleich von drei Interviewpartnern, die alle an Diabetes erkrankt sind, verdeutlicht werden. Es handelt sich dabei um die Fälle von Sonja Tomms und Werner Braun, die bereits in den Einzelporträts beschrieben wurden, sowie um den Fall von Maria Schellinger. Sonja Tomms verfügt aus ihrer Herkunftsfamilie über eine bestimmte Vorerfahrung in Bezug auf die Erkrankung, denn ihr Vater war ebenfalls an Diabetes erkrankt, kam zeitlebens schlecht damit zurecht und starb relativ früh. Sie reagiert sehr betroffen, als sie im frühen Erwachsenenalter selbst die Diagnose erhält und schildert einen umfassenden Bruch ihrer bisherigen Lebensorientierung. Die vormals geplante weitere berufliche Qualifizierung gibt sie auf und beendet nur noch die begonnene Ausbildung. Anschließend zieht sie sich auf die private Lebenslinie zurück und baut diesen Bereich aus, indem sie heiratet und mit ihrem Mann eine Familie gründet. Sie setzt sich von Anfang an aktiv mit der Krankheit auseinander, informiert sich umfassend und geht selbstständig und diszipliniert mit der krankheitsbezogenen Arbeit um, die in einem Alltag mit Diabetes anfällt. Sie achtet auf eine angemessene Ernährung, testet häufig ihre Blutwerte, nimmt die nötigen Medikamente und verzichtet auf jeden Alkohol. Einen Kontrast dazu bildet der Fall von Maria Schellinger. Ihre Diabeteserkrankung wird zu einem Zeitpunkt diagnostiziert, an dem sie bereits aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist und den Haushalt ihrer Tochter versorgt. Sie hat bereits wesentliche Lebensphasen mit den entsprechenden Rollen als Ehefrau und Mutter, eine Phase der Berufstätigkeit und den Wechsel in den Rentenstatus hinter sich. Ihre Rolle als Großmutter und ihre zum Zeitpunkt der Diagnose bestehenden Aufgaben in der Familie kann sie mit der Diabetes-Erkrankung in Einklang bringen. Die Krankheit ist zunächst in ihrer Bewertung weder in der Vorstellung noch im Alltag mit großen Verlusten verbunden. Als mögliche negative Folgen in der Zukunft durch eine Schulung deutlich werden, führt
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das zu einer sorgfältigeren Durchführung der krankheitsbezogenen Arbeit, nicht aber zu einer grundsätzlich veränderten Haltung gegenüber der Krankheit und zu wesentlichen Umorientierungen im Leben. Einen anderen Einfluss hat die Erkrankung in der Biographie von Werner Braun. In seiner Lebenserzählung bringt er zum Ausdruck, dass sein Leben von einer schwerwiegenden Biographischen Hypothek belastet ist. Er wird bereits vor seiner Geburt von seinem Vater nicht anerkannt. Sein Schul- und Ausbildungsverlauf ist von einem permanenten Scheitern gekennzeichnet, anschließend wechseln sich Hilfsarbeitertätigkeiten und Arbeitslosigkeit ab. Vor diesem problematischen Hintergrund misst er der Diagnose Diabetes keine Bedeutung bei, als er sie im Alter von 27 Jahren erhält. Er verhält sich so, als ob er keine gesundheitliche Beeinträchtigung hätte und ignoriert die entsprechenden Signale seines Körpers und die Hinweise der Ärzte. Darüber hinaus beansprucht er seinen Körper durch extreme Tätigkeiten und starken Alkoholgenuss. Erst nach einer fortgeschrittenen Symptomatik und massivem Druck der Ärzte beginnt er, mit geringer Sorgfalt krankheitsbezogene Arbeit zu leisten. Sein Verhalten fördert langfristig die Ausbildung von Spätschäden, die ihn mehr und mehr einschränken und schließlich zur Teilamputation seines Fußes, zur Arbeitsunfähigkeit und zu einer starken Einschränkung seiner Bewegungsfähigkeit führen. Die Diabetes-Erkrankung bewirkt also bei Sonja Tomms eine Unterbrechung ihrer bisherigen Lebensplanung, Maria Schellinger hingegen beschreibt keine wesentlichen Veränderungen ihrer Lebensgestaltung durch die Erkrankung, mit der sie im Kontrast zu Sonja Tomms erst in der Phase des Ruhestands konfrontiert ist. Beide erledigen die krankheitsbezogene Arbeit mit Sorgfalt, um möglichen Spätschäden vorzubeugen und so die Verluste gering zu halten. Im Gegensatz dazu ignoriert Werner Braun die Erkrankung und verhält sich darüber hinaus eher gesundheitsschädigend. Es entsteht der Eindruck, die Krankheit schreitet bei ihm in einem Ausmaß fort, das durch eine andere Handhabung der krankheitsbezogenen Arbeit hätte vermieden werden können. Sein Leben wird langfristig mehr und mehr durch die Krankheit und die mit ihr verbundenen Verluste verändert. Alle drei Personen müssen mit ähnlichen primären Bedingungen der Erkrankung umgehen, ihre Bewältigungsverläufe unterscheiden sich aber aufgrund der Wechselwirkung verschiedener anderer Bedingungen wie der Vorerfahrung mit der Krankheit, der Lebensphase, des vorhandenen Potenzials oder einer biographischen Hypothek und des Bewältigungsverhaltens in erheblichem Maße voneinander. Als Folge der Wechselwirkung der verschiedenen Faktoren wird die Krankheit als unterschiedlich bedeutsam für das eigene Leben bewertet, was zu unterschiedlichen Auswirkungen auf die Lebensführung und die Lebensorientierung führt. Wenn die primären Verluste durch die Erkrankung direkt den Bereich der bedeutsamen Lebensorientierung betreffen, wird eine Umorientierung eher nötig, als wenn dieser Bereich nur am Rande von den Verlusten berührt wird. Das Beispiel von Herbert Steffen verdeutlicht dies. Von Beruf Mathematik- und Physiklehrer verliert er durch einen Schlaganfall unter anderem sein physikalisches und mathematisches Wissen und hat hohe Einbußen bei der Fähigkeit, zu sprechen und Sprache zu verstehen, wenn mehrere Menschen zugleich sprechen. Die weitere Berufsausübung wird für ihn in der bisherigen Form unmöglich und er muss in Pension gehen. Wenn er beispielsweise einen handwerklichen Beruf ausgeübt hätte, hätte er diesen möglicherweise fortsetzen können. Es wäre auch denkbar, dass er seinen Beruf als Lehrer weiter hätte ausüben können, wenn der Schlaganfall andere Zentren des Gehirns und dadurch andere Fähigkeitsbereiche geschädigt hätte, etwa
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die Bewegungsfähigkeit. Die Verluste müssen also auch in Beziehung zu dem Bereich der bedeutsamen Lebensorientierung gesetzt werden. Je umfassender die Einschränkungen durch die Schwere einer Krankheit sind, desto mehr wirken diese Bedingungen auf die Alltagsgestaltung ein, wie beispielsweise bei den Personen deutlich wurde, die sich aufgrund einer fortschreitenden Multiple Sklerose Erkrankung nur noch im Rollstuhl fortbewegen können. Aber auch hier sind große Unterschiede von Umgangs- und Gestaltungsformen zu beobachten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Art und das Ausmaß der Verluste, die mit der Krankheit verbunden sind, entscheidenden Einfluss auf das Leben der chronisch erkrankten Menschen haben. Sie sind aber nicht für sich aussagekräftig, sondern müssen in Beziehung gesetzt werden zu den biographischen Hintergründen und den aus ihnen resultierenden Potenzialen oder Belastungen, dem Bewältigungsverhalten, der Lebensphase und der vorherrschenden Lebensorientierung der betroffenen Person. Je mehr bisher sinnrelevante Tätigkeiten und Lebensbereiche als eingeschränkt erlebt werden oder aufgegeben werden müssen, desto weitreichender steht die bisherige Identität in Frage und um so umfassender muss die Auseinandersetzung mit dem bisherigen und zukünftigen Leben erfolgen.
3.3.3.2 Potenziale und Hypotheken Es gibt verschiedene biographische Ausgangsvoraussetzungen, um ein Leben mit einer chronischen Krankheit zu bewältigen. Die Interviewpartner verfügen in einem unterschiedlichen Grad über Potenziale, die sie bei der Bewältigung einsetzen können. Weiterhin erfahren einige von ihnen ihr Leben als von einer biographischen Hypothek überschattet, während andere nicht von einer Hypothek berichten. Die jeweilige individuelle Ausgangslage der Person spielt eine Rolle dabei, wie die Krankheit wahrgenommen, bewertet und verarbeitet wird. Potenziale Unter Potenzialen sind hier die persönlichen Möglichkeiten zu verstehen, die eine Person bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung einsetzen kann. Dazu zählen die konstruktiv verwertbaren Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie, die in der Schul- und Berufsausbildung erworbenen Fähigkeiten und der ökonomische Hintergrund, über den eine Person verfügt. Weiterhin gehören dazu verschiedene persönliche Fähigkeiten wie beispielsweise Fähigkeiten der Kommunikation, der Analyse, des Zeitmanagements oder der Problemlösung, die eine Person im Lebensverlauf in verschiedenen Lebensbereichen erworben hat. Die Herkunftsfamilie als primäre Sozialisationsinstanz bildet das Fundament, auf dem sich weiteres Potenzial entwickeln kann. In den Erzählungen bilden sich in diesem Punkt deutliche Unterschiede ab, die im Zusammenhang mit dem Herkunftsmilieu und mit dem Grad der emotionalen Zuwendung und Förderung in der Familie stehen. Häufig verweist schon die Anfangserzählung auf diesen Aspekt. Es fällt auf, dass die Interviewpartner, die über ein relativ hohes Potenzial verfügen, häufig ihre Erwünschtheit in der Familie und ihre für die anderen bedeutungsvolle Rolle thematisieren. Folgende Anfangserzählung einer Interviewpartnerin ist dafür beispielhaft. „Also ich bin 1961 geboren als viertes von vier Kindern und bin so ein Nesthäkchen, zehn Jahre später gekommen als meine drei Geschwister, die alle im Abstand von einem Jahr kamen
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Empirische Ergebnisse und offenbar kam ich sehr unerwartet, aber war sehr erwünscht dann, so der zweite Sonnenschein in der Familie und so fühle ich mich letztlich auch, weil ich das immer so mitgekriegt habe auch von meinen Geschwistern.“ (Int 14, S. 2)
Sowohl von ihren Eltern als auch von ihren Geschwistern erfährt die Erzählerin Annahme und Unterstützung. Ihre Erwünschtheit in der Familie und die Rolle als „zweiter Sonnenschein“ setzen sich in ihrem persönlichen Befinden bis heute fort. Die weitere Lebensgeschichte, die diese Interviewpartnerin präsentiert, ist von einem hohen Selbstwertgefühl und von Selbstwirksamkeit geprägt. Die Erzählungen über die Schule, das Studium und schließlich die Berufslaufbahn handeln von Erfolgen, die mit Freude an der Arbeit und Leichtigkeit verbunden sind. Viele Potenziale werden von ihr im Ausbildungs- und Berufsverlauf, aber auch in anderen sozialen und kulturellen Zusammenhängen entwickelt und können bei der Bewältigung ihrer Krankheit und der Kompensation ihrer Einschränkungen eingesetzt werden. Im Zusammenhang mit der Erkrankung und deren leichten bis mittleren Einschränkungen berichtet sie zwar auch von Trauer und deren Verarbeitung, jedoch stehen in der gesamten Erzählung deutlich die Freude an der Aktivität, die positive Bewältigung ihrer verschiedenen Herausforderungen zwischen Berufstätigkeit, Familie und Krankheit und der Gestaltungswille im Vordergrund. Neben den verschiedenartigen Fachkenntnissen, die beispielsweise während der Ausbildung oder im informellen Sektor erworben werden, stellt auch der allgemeine Fähigkeitsbereich der Problemlösung einen wichtigen Teil des Potenzials dar, das bei einer konstruktiven Krankheitsbewältigung unterstützt. Kompetenzen der Problemlösung beinhalten die Analyse von Problemen, das Herausfiltern von relevanten Informationen, das Finden und Konkretisieren von Zielen, die notwendigen Strategien zur Umsetzung der Ziele sowie Kriterien zur Bewertung von Ereignissen. Diese Fähigkeiten ermöglichen eine aktive, lösungsorientierte Umgehensweise mit Problemen im Zusammenhang mit der Krankheit. Ebenso bildet die ökonomische Lage einen Teil des Potenzials, das bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung in geringem oder höherem Ausmaß zur Verfügung steht. Es leitet sich in vielen Fällen aus der bisherigen Berufstätigkeit ab. Ein höherer Bildungs- und Berufsstatus ist in der Regel mit besseren Einkommensverhältnissen verbunden. Im Falle einer Berentung ist der Erhalt des bisherigen Lebensstandards eher möglich, während bei einer geringer qualifizierten Tätigkeit mit einer spürbaren Verschlechterung der materiellen Situation gerechnet werden muss. Ökonomisches Potenzial kann allerdings auch in anderer Form, etwa wie im Fall von Klaus Melzer als Familienvermögen und Erbschaft, vorhanden sein und bei der Bewältigung einer problematischen Lage zum Einsatz kommen. Insgesamt sind die Potenziale bei den Interviewpartnern in verschiedenem Umfang ausgeprägt und genutzt. Beispielhaft soll das im Folgenden an drei Interviewpartnern mit jeweils hohem, mittlerem oder geringem Potenzial verdeutlicht werden. An dem bereits ausführlich beschriebenen Fall von Jelka Uhl wird deutlich, wie mit Hilfe von vielfältigen Potenzialen auch bei der Betroffenheit von einer schweren Erkrankung mit langfristig hohen Verlusten neue Gestaltungsräume erschlossen werden können. Jelka Uhl verfügt über juristische Kenntnisse, über Erfahrungen im gesellschaftspolitischen Engagement, über kommunikative und organisatorische Fähigkeiten sowie über die Fähigkeit, auf der einen Seite „Visionen“ zu haben und sie auf der anderen Seite auch umsetzen zu können. Nach dem Ausbruch ihrer Erkrankung ruft sie einen sozialpolitischen Zusammenschluss verschiedener Selbsthilfegruppierungen ins Leben und übernimmt trotz zunehmender körperlicher Einschränkung an deren Spitze die Vertretung in der Öffentlichkeit. Sie erlangt durch
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den Einsatz ihrer vielfältigen Potenziale trotz schwerer Krankheit einen neuen Status, der mit Erfüllung und öffentlicher Anerkennung verbunden ist. Hans Schweigert hingegen verfügt über Potenziale auf einem mittleren Niveau. Er arbeitet als Elektriker und befindet sich in der Weiterbildung zum Meister, als bei ihm Multiple Sklerose diagnostiziert wird. Er arbeitet nach der Diagnose weiter, bricht aber die Meisterschule ab. Diesen Zukunftsentwurf empfindet er unter den veränderten Umständen als sinnlos, da er davon ausgeht, in der Zukunft nicht einmal mehr auf eine Leiter steigen zu können. Er übernimmt in seinem Betrieb zunehmend körperlich leichtere Arbeiten und ab einem bestimmten Grad der körperlichen Einschränkungen muss er in Rente gehen, was für ihn mit einer schmerzvollen Brucherfahrung verbunden ist. Er zieht sich in den privaten Bereich zurück, kann jedoch sein berufliches Wissen und Interesse in einem körperlich weniger fordernden Bereich einbringen, als er mit dem Bauen von Modellen mit elektrischen Funktionen ein früheres Hobby aufgreift und es ausweitet. Auf diesem Gebiet findet er neue Projekte und kann seine Kenntnisse im privaten Raum weiter einsetzen. Im Kontrast zu den hohen und mittleren Potenzialen der oben beschriebenen Interviewpartner hat Werner Braun keine Berufsausbildung und arbeitet als Hilfsarbeiter in körperlich beanspruchenden Arbeitsverhältnissen. Er ist ausschließlich auf seine körperliche Funktionsfähigkeit angewiesen, um arbeitsfähig zu sein und ist nicht mehr vermittelbar, als er diese verliert. Er verfügt nicht über Bildungskapital oder anderweitige Kenntnisse, die er zur Kompensation der verlorenen körperlichen Fähigkeiten einsetzen könnte. Er kann jedoch die Verengung seiner Lebenswelt durch seine stark beeinträchtigte Bewegungsfähigkeit relativ gelassen hinnehmen, was im Zusammenhang damit zu sehen ist, dass er bereits seit seiner Kindheit gewohnt ist, sich mit Verlusten und Brüchen zu arrangieren und in diesem Bereich entsprechende Fähigkeiten herausgebildet hat. Auf der einen Seite stellen die vorhandenen Potenziale zu Beginn der Erkrankung die Ausgangsvoraussetzungen der Bewältigung dar. Auf der anderen Seite können weitere Potenziale im Lebensverlauf mit der Krankheit durch Lernprozesse in verschiedenen Bereichen erworben werden. Dies kann sowohl eine weitere berufliche Qualifizierung als auch Lernprozesse im Umgang mit der Erkrankung oder die Erschließung neuer Tätigkeitsbereiche umfassen. Hypotheken Einige Interviewpartner berichten von biographischen Hypotheken, die mit der Ablehnung des Kindes, dem Verlassenwerden der Familie durch den Vater, einer schlechteren sozialen Stellung der Familie oder mit Problemen der Eltern in Verbindung stehen. Eine Hypothek kann zwar als problematisch formuliert, zugleich aber auch als konstruktiv verarbeitet präsentiert werden, wofür der Fall von Sonja Tomms beispielhaft ist. Sie schildert belastende Erfahrungen ihrer Kindheit und Jugend durch die Probleme ihrer Eltern, äußert aber zugleich Verständnis für sie in ihrer damaligen Lage und betont, dieses Thema für sich abgeschlossen zu haben und den Eltern nichts nachzutragen. Im Kontrast dazu steht bei anderen Interviewpartnern das Erleiden der Hypothek im Vordergrund. Sie berichten von zum Teil schweren biographischen Hypotheken, die in Form von negativen Zuschreibungen und Ablehnung ihrer Person oder ihrer Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Lebenserfahrungen ihre Biographie beeinflussen. In Erzählungen, die auf eine das Leben überschattende biographische Hypothek hinweisen, wird häufig die Erfahrung unterstrichen, als Kind nicht erwünscht zu sein. Direkt geschieht das, indem beispielsweise auf
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den Abtreibungswunsch der Mutter verwiesen wird. Indirekt wird es beispielsweise ausgedrückt durch Berichte über die Abwesenheit des Vaters und die Nichtanerkennung des Kindes durch ihn. In einigen Erzählungen wird eine vergleichsweise schlechtere soziale Stellung oder niedrigere Anerkennung der Eltern bzw. der Mutter betont und eine Selbstwertproblematik thematisiert. Dies kann in einer Familie der Fall sein, die wie bei Werner Braun bereits am Rande der Gesellschaft lebt, wird aber ebenso berichtet von einen Interviewpartner, der in gehobenen Familienverhältnissen lebt. Die Familie von Klaus Melzer ist vermögend, aber im Vergleich mit dem Lebensstil der Familie seines Onkels empfindet er den Lebensstil seiner Herkunftsfamilie als nicht standesgemäß und daher als statusniedriger. Nicht die tatsächliche finanzielle Situation ist für diese Bewertung maßgeblich, denn Geld ist in dieser Familie ausreichend vorhanden, sondern der luxuriöse Lebensstil des Onkels steht dem bescheidenen Lebensstil seines Vaters gegenüber, strahlt auf die jeweilige Familie ab und führt bei Klaus Melzer zu einem beeinträchtigten Selbstwert. Die hier dargestellte biographische Hypothek rangiert auf einem hohen Niveau und ist dem innerfamiliären Vergleichsmaßstab geschuldet. Im Zusammenhang mit dem Erleiden einer Hypothek berichten die Interviewpartner von einer bereits vor der Erkrankung problematischen oder gebrochenen Biographie, in der sie sich als anders und von der Normalität abweichend präsentieren. Ihre Lebensorientierung ist vor und mit der Erkrankung diffus und problematisch. Die Bewältigung des problematischen Lebens steht im Vordergrund und rückt die Bewältigung der Krankheit in den Hintergrund. Reaktionen auf krankheitsbedingte Probleme finden häufig erst spät und bei deutlicher Symptomatik statt.
3.3.3.3 Bewältigungsstile Bei dem Bewältigungsverhalten der Interviewpartner können zwei Stile unterschieden werden. Bei den von Krankheit betroffenen Personen steht entweder ein aktiv-konfrontativer oder ein reaktiv-abwehrender Bewältigungsstil im Vordergrund. Als weitere Variante gibt es Personen, deren Verhalten sich durch eine Mischform aus beiden Stilen auszeichnet. Bei dem als aktiv-konfrontativ bezeichneten Bewältigungsstil ist eine aktive Herangehensweise zu beobachten, innerhalb derer eine Konfrontation mit dem Problem sowie eine weitgehend selbstgesteuerte Gestaltung des Wandels erfolgt. Nach der Diagnose konfrontiert sich die betroffene Person mit möglichen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Krankheit und Optionen der Therapie. Sie sammelt Informationen über die Erkrankung aus verschiedenen Quellen, z. B. der Schulmedizin, der Alternativmedizin oder durch Erfahrungsberichte von anderen Betroffenen. Die Informationen werden dann verglichen und bewertet, es erfolgt eine Einschätzung der Probleme und der verbleibenden Möglichkeiten. Auf dieser Grundlage werden Entscheidungen getroffen und bisherige Zukunftsentwürfe beibehalten oder verworfen. Im Anschluss daran richten die Interviewpartner ihre Aktivitäten auf die Entwicklung und die Umsetzung alternativer Zukunftsentwürfe. Die Intensität und zeitliche Erstreckung des Prozesses der aktiven Auseinandersetzung nach der Diagnose ist jedoch unterschiedlich. Neu auftretende Probleme im weiteren Lebensverlauf mit der Erkrankung werden in der Regel ebenfalls mit einem aktiv-konfrontativen Stil bewältigt. Folgende Effekte lassen sich im Zusammenhang mit diesem Bewältigungsverhalten beobachten: Die bisherige Lebensorientierung wird frühzeitig überprüft und entweder bestätigt oder verwor-
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fen. Im letzteren Falle erfolgt eine aktive Neuorientierung, durch die neue Handlungsräume erschlossen werden und die Handlungsfähigkeit langfristig erhalten bleibt. Häufig wird ein Netz der kollektiven Bewältigung aufgebaut, das Kontinuität in Problemsituationen gewährleistet. Die betroffenen Personen versuchen, ihren Gestaltungsspielraum auszuschöpfen und verfügen über eine relative Kontrolle der Situation. Wenn ein reaktiv-abwehrender Bewältigungsstil vorherrscht wird die Auseinandersetzung mit der Krankheit nach der Diagnosestellung vermieden. Eine intensive Beschäftigung mit der Krankheit und den Prognosen über ihren Verlauf wird abgewehrt. Die möglichen Auswirkungen der Krankheit werden von der betroffenen Person verdrängt, in die Zukunft verschoben oder nicht auf das eigene Leben bezogen. Eine Reaktion erfolgt jeweils auf aktuell auftretende Symptome, von Vorkehrungen und Vorausplanungen wird nicht berichtet. Bei diesem Bewältigungsstil steht das Aufrechterhalten und Bewahren des Status Quo im Vordergrund. Die bisherige Lebensorientierung kann zum Teil über einen langen Zeitraum hinweg fortgesetzt werden. Die Lebensführung wird ebenfalls so weit wie möglich beibehalten und nur an sich aktuell verändernde gesundheitliche Lagen angepasst, beispielsweise wenn durch akute körperliche Einschränkungen häufig Handlungen scheitern und ein hoher Leidensdruck entsteht. Der Fall der an Multipler Sklerose erkrankten Margarete Ries zeigt eine solche Situation. Sie plant einen Umzug in eine rollstuhlgerechte Wohnung erst dann, als sie sich nur noch in einem Zimmer ihres Hauses selbstständig mit ihrem Rollstuhl bewegen kann und für fast alle Verrichtungen des Alltags die Hilfe anderer benötigt, wodurch unter anderem die Partnerbeziehung massiv belastet ist. Dadurch, dass mögliche Konsequenzen des Krankheitsverlaufs nicht frühzeitig in die Lebensorientierung und Lebensführung einbezogen werden, kann auf der einen Seite die bisherige Lebensgestaltung und damit verbundene Qualitäten noch über einen langen Zeitraum beibehalten werden. Auf der anderen Seite kann dieser Bewältigungsstil je nach Krankheitsverlauf langfristig zu einer zunehmenden Verengung der Lebenswelt und zur Isolation führen. Darüber hinaus kann es lange nach dem Beginn der Erkrankung zu einem Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen kommen. In einer solchen Situation ist es unter Umständen problematisch, dass sich die betroffene Person bereits in einer so eingeschränkten körperlichen Verfassung befindet, dass ihr Gestaltungsspielraum für Umorientierungen schon stark begrenzt ist. Es gibt Mischformen aus diesen beiden Bewältigungsstilen, in denen beispielsweise die Information über die Erkrankung ‚in homöopathischen Dosen’ zugeführt wird und die Auseinandersetzung mit der Zukunft schrittweise erfolgt. Es überwiegt aber entweder die Tendenz zum Hinschauen und zur aktiven Gestaltung oder zum Nicht-wahr-haben-wollen und Reagieren im Nachhinein.
3.3.3.4 Theorien über die Krankheitsursache In einigen Interviews werden Theorien über die Ursache der Erkrankung thematisiert, in anderen Lebenserzählungen hingegen tauchen sie nur am Rande der Erzählung auf oder werden nicht angesprochen. Von den Interviewpartnern werden psychologische, umweltbedingte und genetische Aspekte oder auch multiple Faktoren als krankheitsverursachend angesehen. Teilweise wird auch ein Prozess geschildert, in dem verschiedene Theorien in Verbindung mit Heilungsversuchen erwogen, jedoch nach einiger Zeit ohne Heilungserfolg wieder verworfen werden. Theorien über die Krankheitsursachen sind in unterschiedlichem
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Ausmaß für die Lebensorientierung und die Lebensführung bedeutsam. Häufiger beeinflusst die jeweilige Theorie die Lebensführung. Spielen psychologische Theorien eine Rolle wird beispielsweise versucht, auf den Verlauf der Krankheit einzuwirken, indem Wert auf das psychische Wohlergehen gelegt wird oder psychologische Therapien begonnen werden mit der Hoffnung, die eigene gesundheitliche Lage zu verbessern. Annahmen über genetische Ursachen führen eher dazu, den eigenen Körper durch medizinische und andere begleitende Maßnahmen im Alltag zu unterstützen. Diese Interviewpartner richten ihre Aufmerksamkeit dann weniger auf die Frage, warum sie krank geworden sind, sondern befassen sich überwiegend damit, wie sie am besten mit dieser Situation leben und welche Möglichkeiten sie dafür nutzen können. Auf die Umwelt bezogene Hypothesen führen beispielsweise zu Veränderungen der Essgewohnheiten oder der verwendeten Materialien in der Umgebung. Dagegen werden Auswirkungen von Theorien über die Ursachen einer Erkrankung auf die Lebensorientierung selten deutlich. Im Kontrast zu der Mehrheit der anderen Fälle ist jedoch in dem Fall von Thomas Butzeck die angenommene Krankheitsursache bestimmend für eine gänzlich neue Ausrichtung der Lebensorientierung. Dieser Fall soll daher im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Thomas Butzeck arbeitet nach Abschluss seiner Tischlerlehre lange als Bauschreiner, später als selbstständiger Antiquitätenschreiner. Im Alter von 46 Jahren treten bei ihm zunehmend Konzentrationsstörungen und Wahrnehmungsstörungen auf. Nach mehrjähriger Suche und nach der Konsultation von verschiedenen schulmedizinischen und alternativen Medizinern kommt er zu dem Schluss, an einer Umwelterkrankung durch eine hohe Belastung mit Holzschutzmitteln und Lösungsmitteln zu leiden. Für seine Symptomatik und die damit in Verbindung stehende Hypersensibilität gibt es den Begriff der ‚Multiple Chemical Sensitivity’ (MCS), die nach Aussagen von Thomas Butzeck in verschiedenen Veröffentlichungen beschrieben und die in den USA, jedoch nicht in Deutschland, als Krankheit anerkannt ist. Die schulmedizinisch ausgerichteten Ärzte hingegen finden keine eindeutige körperliche Ursache und bewerten die Idee einer Umwelterkrankung als sein psychologisches Problem. Fünf Jahre nach der Wahrnehmung der ersten Symptome erleidet er einen, wie er sagt, „toxischen Hirnschlag“ (Int 21, S. 2). Mit dieser Formulierung bringt er zum Ausdruck, dass er den Schlaganfall als direkte Folge seiner Vergiftung ansieht. Seine Arbeit als Antiquitätenschreiner muss er nach dem Schlaganfall aufgeben. Da es für eine Umwelterkrankung durch Holzschutzmittel keine Therapien gibt, macht er sich selbst auf die Suche nach passenden Behandlungsmöglichkeiten. „Dann habe ich gesagt, ich muss das Zeug selber in die Hand nehmen, habe dann durch einschlägige Literatur (...) orthomolekulare Medizin, Naturheilmedizin habe ich gesagt, ich packe das Zeug selber an, ja.“ (Int 21, S. 4)
Thomas Butzeck beginnt, die Behandlung „selber in die Hand zu nehmen“ und die Heilung und Entgiftung als seine Aufgabe zu betrachten. Er sammelt detaillierte Informationen über alternative Methoden, über mögliche Nachweise und Heilungsansätze verschiedener Art und probiert sie an sich selbst aus. Die allen Aktivitäten zugrunde liegende Theorie ist die einer Vergiftung durch Umwelteinflüsse und das Schaffen von Möglichkeiten, um wieder entgiften zu können. Von einer Methode geht er zur nächsten und knüpft immer wieder Kontakte zu Menschen, die sich mit der jeweiligen Methode auskennen. Er integriert die jeweils für ihn Erfolg versprechenden Anteile und entwickelt in detaillierter Auseinandersetzung mit den verschiedenen Möglichkeiten ein eigenes System der Diagnose
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und Behandlung, das unter anderem auf Auspendeln von verschiedenen Substanzen, Gottvertrauen, Substitution von Nahrungsergänzungsmitteln und Unterstützung der Entgiftung beruht. In Teilen der alternativmedizinischen Szene erwirbt er sich einen entsprechenden Ruf, beispielsweise gibt es Heilpraktiker, die seinen Rat bei besonders schwierigen Fällen suchen. Darüber hinaus ist er beteiligt an der Gründung eines Vereins, der sich die Hilfe für umweltbedingte Erkrankte zum Ziel gesetzt hat. Im Zentrum der Erzählung von Thomas Butzeck steht seine Theorie über die Ursache der Erkrankung. Diese sieht er in einer Vergiftung durch toxische Umwelteinflüsse und eine dadurch ausgelöste Hypersensibilität gegen viele Stoffe. Die Einzelheiten seiner Krankheiten und Diagnosen werden nicht im Detail ausdifferenziert und verschwimmen in der Erzählung, präsentiert werden sie vor allem als Ausdruck der Vergiftung. Zweierlei ist dabei von Bedeutung für sein Handeln: Auf der einen Seite steht der Kampf um die Anerkennung dieser Diagnose und damit verbunden einer kollektiven Verantwortung gegen das herrschende Medizinsystem, deren Vertreter ihm ein psychologisches Problem attestieren und seine Erkrankung individualisieren. Auf der anderen Seite geht es ihm um die Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit, um seine gesundheitliche Situation zu verbessern und auch darum, handlungsfähig zu bleiben. Seine veränderte Lebensorientierung ist also umfassend auf den Bezugsrahmen seiner Theorie von Vergiftung und Entgiftung aufgebaut, die er im Verlauf der Erkrankung entwickelt hat. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass im Einzelfall die Theorie des Betroffenen über die Ursache einer Erkrankung umfassend auf seine weitere Lebensorientierung einwirken und zum bedeutsamen Handlungs- und Sinnbezug werden kann. Wenn wie bei Thomas Butzeck die Ursache der Erkrankung nicht nur im eigenen Körper, sondern auch im ökonomischen und ökologischen Umfeld gesehen wird, kann das Engagement über die Behandlung hinaus auch auf das gesellschaftspolitische Umfeld abzielen und eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, in denen sich unterschiedliche Medizinsysteme mit ihrem jeweiligen Verständnis von Krankheit und ihrer Behandlung gegenüberstehen, beinhalten.
3.3.3.5 Religiöse Bezüge und lebensphilosophische Ansätze Die Bedeutung von Religion, eine Auseinandersetzung mit ihr oder ein Zusammenhang mit der Erkrankung wurden nur selten ohne Nachfrage thematisiert. Das könnte mit einer Tabuisierung dieses Themas in der Alltagskommunikation erklärt werden, aber auch damit, dass dieser Bereich für einige der Befragten von vornherein oder nach einer geführten Auseinandersetzung heute für die Lebensbewältigung als bedeutungslos oder nicht hilfreich empfunden wird. Durch entsprechendes Nachfragen wurde deutlich, dass religiöse Bezüge in einigen weiteren Fällen in verschiedener Weise von Bedeutung waren. Bei dem überwiegenden Teil der Interviewpartner gibt es jedoch keine Hinweise darauf, dass Religion bei der Bewältigung der Erkrankung eine große Rolle spielt, teilweise wird das auch direkt verneint. Im Folgenden werden die verschiedenen Thematisierungen der Auseinandersetzung mit religiösen Bezügen und lebensphilosophischen Ansätzen dargestellt. Paul Adams schildert in seiner Biographie verschiedentlich die Auseinandersetzung mit religiösen, psychologischen und weltanschaulichen Inhalten. Auch im Zusammenhang mit der Erkrankung verweist er auf eine Auseinandersetzung mit religiösen Systemen.
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Empirische Ergebnisse „Chinesische Medizin hat mir viel geholfen, wenn ich die nicht hätte, wo wäre ich denn, wahrscheinlich irgendwie, wenn ich die nicht irgendwie hätte als geistigen Hintergrund, als etwas, woran ich mich stützen kann, das Christliche, da wäre ich ein armer Sünder, ne, so, also, ne, im Buddhistischen hätte ich irgendwie ein schlechtes Karma.“ (Int 6, S. 31)
Für Paul Adams bildet die chinesische Medizin den geistigen Hintergrund, der ihn bei der Bewältigung der Erkrankung stützt. Die annehmende Grundhaltung des Taoismus, die dahinter steht, erlebt er als Unterstützung in seiner Situation, wohingegen für ihn die Bedeutung von Krankheit in der christlichen Sicht mit „sündig sein“ und in der buddhistischen Sicht mit „ein schlechtes Karma haben“ verbunden ist. Seine Auseinandersetzung mit verschiedenen religiösen Systemen bringt er in der Kontrastierung der chinesischen Medizin und ihres geistigen Hintergrunds mit dem Christentum und dem Buddhismus zum Ausdruck. Die akzeptierende, nicht verurteilende Haltung der Erstgenannten steht der Annahme eines individuellen Verschuldens bei den Letztgenannten gegenüber und liefert damit kein akzeptables Konzept der Selbstverortung („wo wäre ich denn“) bzw. der Identität als kranker Mensch. Ein ähnliches Problem spricht Margarete Ries an, als sie von ihrer Auseinandersetzung mit lebensphilosophischen Schriften berichtet. „Also wenn man da so verschiedene Autoren liest, dann zweifelt man sehr, sehr stark.“ [„Hmm, an sich oder +“] „Nein, an dem, was sie an ihrer Philosophie eigentlich, mit ihrer Philosophie ausdrücken wollen und diese Sache ist aber, ist also mir aufgefallen, dass die immer mehr in den Vordergrund tritt und zwar + nur ich bin wichtig, alles andere um mich herum ist, ja, unwichtig oder jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich + , das sind so diese Sachen, wo ich Probleme einfach mit habe, also das könnte ich nie unterstreichen, mag ja sein, dass jeder für sein Glück selbst verantwortlich ist, aber ist er auch für sein Unglück selbst verantwortlich und da denk ich mir, das kann’s nicht sein, ja.“ (Int 13, S. 21)
Margarete Ries liest zunächst Schriften verschiedener Autoren, zweifelt dann aber „sehr, sehr stark“ an der – wie sich schlussfolgern lässt – Gültigkeit der dort vertretenen Aussagen und verwirft sie, was sie mit den Worten “das kann’s nicht sein“ anzeigt. Sie bringt zum Ausdruck, dass die Inhalte dieser Schriften für sie keine Unterstützung bei der Bewältigung ihrer Situation darstellen. Die von ihr herausgefilterte Botschaft „jeder ist für sein Glück selbst verantwortlich“ wirft in ihrer Lage den logischen Umkehrschluss auf, dass jeder ebenso für sein Unglück selbst verantwortlich ist. Diese auf das Individuum zentrierte und mit Schuld verknüpfte Denkweise ist für sie keine akzeptable Weltsicht. Dieses Konzept scheint möglicherweise für glückliche oder neutrale Lagen tauglich, aber nicht hilfreich für das eigene Selbstverständnis, wenn man sich in einer unglücklichen Lage befindet. Man ist allein für das Unglück verantwortlich und, in dieser Logik weitergedacht, allein bei der Bewältigung, da man nur selbst das Unglück wieder beheben kann. Margarete Ries kritisiert eine mit dieser Weltsicht verbundene zunehmende Selbstbezogenheit und eine abnehmende soziale Verantwortlichkeit und lehnt diesen Ansatz ab. Zum Thema Religion äußert sie, dass sie sehr religiös erzogen wurde, heute jedoch keinen Bezug mehr dazu hat. Religion war für sie nicht hilfreich, sondern verknüpft mit „Strafe“ (Int 13, S. 22) und einem „strafenden Gott“ (ebd.). Diese Aussage stellt sie jedoch nicht in einen Zusammenhang mit
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der Erkrankung, sondern hier steht eher die generelle Loslösung von einschränkenden Aspekten einer religiösen Erziehung im Vordergrund. Die Äußerungen von Paul Adams und Margarete Ries verweisen auf die Verknüpfung von Krankheit und Schuld in religiösen oder weltanschaulichen Systemen. Dem Verhältnis von Krankheit und Person in religiösen und weltanschaulichen Konzepten und deren Interpretation vom Einzelnen auf der Grundlage seiner Persönlichkeit und seiner Lebenserfahrungen nachzugehen, wäre ein interessantes Unterfangen. Diese Fragestellung kann hier allerdings nur aufgeworfen werden und müsste in einer weiterführenden Untersuchung behandelt werden. Ein Interviewpartner unterstreicht die Bedeutung seines Glaubens für die tägliche Lebensbewältigung. Thomas Butzeck sagt von sich, dass er zwar schon zuvor gläubig war, sich sein Glaube jedoch sehr vertieft hat, seit es ihm gesundheitlich so schlecht ging und es wieder aufwärts geht, seit er sich Gottes Führung umfassend anvertraut hat. „Ich geh mit Freuden jeden Tag in die Kirche, erstens mal um zu singen, das ist ein ganz wichtiger Faktor, dass ich früh singen kann, laut und innig, und ich geh jeden Tag an den Tisch des Herren mit Freude und ich bring jedes Mal ganz viel mit heim und gebe es den Patienten weiter (...), ich weiß, dass ich geführt werde und ich weiß, dass er mich an der Hand nimmt (...) ich lebe meinen Glauben so, wie ich ihn brauche und so, wie ich damit umgehen kann und ich lebe gut damit, sehr gut muss ich sagen.“ (Int 21, S. 11f.)
In dieser Passage bringt der Erzähler verschiedene Aspekte seines Glaubens zum Ausdruck. Zunächst beschreibt er die alltägliche Praxis des Kirchenbesuchs, die es ihm ermöglicht, „laut und innig“ – und vermutlich auch gemeinsam mit anderen – zu singen und „an den Tisch des Herrn mit Freude“ zu gehen. Von dort erfüllt kehrt er nach Hause zurück und bringt “ganz viel mit heim“, was er wiederum mit anderen teilt. Über den institutionalisierten Rahmen der kirchlichen Rituale gewinnt er Kraft und erfährt Unterstützung bei der täglichen Lebensbewältigung. Er verbindet sich durch das Singen und die Eucharistie im täglichen Ritual mit sich, mit den anderen und mit Gott. Diese Art der Einbindung ist zu einem Teil vergleichbar mit sozialer Unterstützung und könnte als eine Art überpersönliche soziale Unterstützung interpretiert werden. Soziale Unterstützung wird von den Interviewpartnern als wichtig bei der Krankheitsbewältigung geschildert und an späterer Stelle noch ausführlicher behandelt. Sie schließt zwar auch die konkrete materielle Hilfe bei der Alltagsbewältigung ein, besonders bedeutsam ist hier jedoch die unterstützende Beziehung zu anderen, das Empfinden von Verbundenheit und Zugehörigkeit statt dem Erleben von Isolation. In diesem Sinne kann religiöser oder spiritueller Bezug durch konkrete soziale Kontakte bei gemeinsamen religiösen Interessen und durch das Empfinden einer überpersönlichen Verbundenheit als eine spezielle Form der sozialen Unterstützung verstanden werden. Thomas Butzeck hebt als generalisierte Erfahrung („ich weiß“) hervor, von Gott geführt zu werden. Gott nimmt ihn an die Hand, während er sich anvertrauen, ihm die Führung überlassen und so einen Teil der Verantwortung abgeben darf. Zugleich äußert er, dass er seinen Glauben so lebt, wie er ihn braucht und verweist mit dieser sehr aktiven Formulierung auf seine Gestaltungsmöglichkeiten, den Glauben an seine Bedürfnisse anzupassen und von ihm zu profitieren. Das Abgeben der Führung und das Gestalten stehen hier nicht im Widerspruch, sondern ergänzen sich in einer Weise, mit der er „sehr gut“ lebt. An anderer Stelle unterstreicht Thomas Butzeck, dass seine Art des Glaubens ihn dabei unterstützt, seine neu gewonnene Lebensorientierung – die Entwicklung alternativer Heilverfahren und
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den Kampf gegen Umweltgifte und deren Verursacher – weiter zu verfolgen. Auch hier tritt das Thema der Unterstützung hervor. Darüber hinaus werden stärker oder schwächer ausgeprägte religiöse Bezüge auch in weiteren Interviews benannt, werden dort aber nicht in einen Zusammenhang mit der Krankheitsbewältigung gebracht, sondern beispielsweise an einem ehrenamtlichen Engagement in einer Kirchengemeinde oder an der Auseinandersetzung von christlichen Inhalten und kirchlicher Praxis deutlich. Sie treten hier als wesentliche, mit der Erkrankung fortgesetzte, Lebensorientierungen hervor. Schließlich gibt es, wie schon anfangs beschrieben, diverse Interviewpartner, die religiöse Bezüge und eine Auseinandersetzung mit ihnen sowie eine mögliche Unterstützung von dieser Seite verneinen. Eindeutige Zuordnungen dieses Themas zu der in dieser Arbeit vorgestellten Typologie bezüglich der Lebensorientierung und Lebensführung kristallisierten sich nicht heraus.
3.3.3.6 Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit Der eigene Körper ist die Grundlage der persönlichen Identität und zugleich das Medium, über das der Kontakt mit der sozialen Umwelt stattfindet. Dieser Körper ist als zentraler Bereich von der Erkrankung betroffen, auf dieser Ebene werden als Erstes die Einschränkungen und Verluste sichtbar oder spürbar. Das kann mit verschiedenen Auswirkungen auf das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit verbunden sein. Während Gesundheit in der Regel als selbstverständliches Funktionieren des Körpers erfahren wird, sind bei Krankheit bestimmte Funktionen beeinträchtigt oder zerstört. Die bisherige Selbstverständlichkeit der Körpererfahrung und die damit verbundene Orientierung im Alltag verändern sich. In dem folgenden Abschnitt schildert eine Interviewpartnerin mit Multipler Sklerose die Veränderung ihres Körpergefühls. „...ich bin auf der Katze ihren Schwanz getreten, ich habe es nicht gespürt, also wenn die nicht geschrien hätte, ich hätte nicht einmal gespürt, dass ich drauf stehe, das war das Erste, wo mir so richtig bewusst geworden ist, wo ich dann halt mehr gekuckt habe, wohin ich laufe, ha, und dann ist es mir wirklich gravierend gewesen, erstens sind die Füße schwerer geworden + und + ja schwerer und das Gefühl war halt weg und ich bin auf Arbeit gefahren und fahre halt die Kurve, weil normalerweise fährt man ja Auto mit Gefühl, man tritt soundso weit auf’s Gaspedal und man fährt die und die Geschwindigkeit und ich war halt auf dem Gaspedal gestanden und habe nicht auf den Tacho geschaut, weil man das ja meistens gefühlsmäßig macht, ha, und fahre halt die Kurve dann und wuhh, denke ich, hoppla, also irgendwas läuft jetzt verkehrt, du stehst auf dem Gaspedal und weißt nicht, wie schnell du fährst, ha, also da hätte es mich beinah aus der Kurve raus getrieben und dann habe ich mir halt angewöhnt auf den Tacho zu kucken.“ (Int15, S. 2f.)
Die Erzählerin beschreibt die Situation, in der sie der Katze auf den Schwanz getreten ist, ohne es zu fühlen, als erste bewusste Wahrnehmung ihres eingeschränkten Tastempfindens. Ihr bisheriges Körperschema, an dem sie ihre Handlungen ausrichtet, passt nicht mehr, es zerbricht. In der Folge verändert sie ihr Verhalten. Sie entwickelt Kontrollstrategien, indem sie von diesem Zeitpunkt an bewusst darauf achtet, wohin sie tritt. Als „wirklich gravierend“ unterstreicht sie die weitere Steigerung dieser Entwicklung durch das Erlebnis der Autofahrt zur Arbeit, bei der sie bemerkt, dass das „gefühlsmäßige“ Autofahren, ihre zuvor
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vorhandene Koordination von dem Fußdruck auf dem Gaspedal und der Regulation der Geschwindigkeit, nicht mehr funktioniert. Sie erschrickt auf der einen Seite darüber, dass durch den Verlust des Körpergefühls eine gefährliche Situation entsteht. Auf der anderen Seite ist ihr Schreck mit der Wahrnehmung verbunden, dass etwas „verkehrt läuft“. Das bestehende Körpergefühl weicht deutlich von dem früheren Körpergefühl ab, sodass sie sich auf die bisherige körperliche Orientierungs- und Steuerungsweise nicht mehr verlassen kann. Sie entwickelt daraufhin beim Autofahren eine weitere bewusste Kontrollstrategie, indem sie die Geschwindigkeit nun regelmäßig auf dem Tacho verfolgt. Durch die mit dem Verlust des Empfindungsvermögens verbundenen Effekte entsteht Unsicherheit im alltäglichen Umgang mit dem eigenen Körper und damit verbundenen Routinehandlungen, die durch bewusste Kontrollhandlungen ausgeglichen wird. Dem eigenen Körper kann nicht mehr in der vormals gegebenen Form vertraut werden, sondern er muss beobachtet und kontrolliert werden. Durch die nun einsetzende Beobachtung oder Kontrolle von Körperfunktionen geht die vormals empfundene Einheit von Ich und Körper verloren. Ein anderes Beispiel für diese veränderte Beziehung zum eigenen Körper im Zusammenhang mit Kontrollhandlungen beschreibt Sonja Tomms, die durch ihre Diabetes-Erkrankung eine Arbeit bewusst ersetzen muss, die ihr Körper früher ‚erledigt’ hat, ohne dass sie dies auch nur wahrgenommen hätte. Eine zuvor selbstverständliche Körperfunktion muss nun von einem bewussten Ich durch Kontrolle von körperlichen Vorgängen und rechtzeitigen Substitutionshandlungen übernommen werden, da sonst in der aktuellen Situation das Entgleiten der Kontrolle bis hin zum Verlust des Bewusstseins und langfristig körperliche Schädigungen drohen. Die notwendigen Kontrollhandlungen führen also zu einer Zweiteilung der bisherigen unbewussten Einheit von Ich und Körper in Bezug auf diese Funktionen. Ein bislang vertrauter und zugehöriger Teil ihres Selbst wird auf diese Weise fremd. Bei Sonja Tomms sind die Kontrollaufgabe und das Wissen um die körperliche Abhängigkeit vom Insulin mit einer grundsätzlichen Erfahrung von Unsicherheit in Bezug auf ihr leibliches Sein verbunden. Während Sonja Tomms die permanent zu leistende Kontrolle als belastende Anforderung erlebt, schildert der ebenfalls an Diabetes erkrankte Toni Sievers die krankheitsbezogene Arbeit und die damit verbundene Kontrollthematik unter einer anderen Perspektive. Er hebt seine Fähigkeit zur Kontrolle und den geringen zeitlichen Aufwand hervor und präsentiert vorwiegend den Aspekt seiner Handlungsfähigkeit, was darauf verweist, dass bei ihm diese positive Erfahrung im Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit überwiegt. Auf eine Erfahrung von Fremdheit oder eine Erschütterung seiner leiblichen Identität gibt es in seiner Erzählung keine Hinweise. Als einen weiteren Aspekt der Erfahrung von Spaltung und Einheit thematisiert Jelka Uhl die Annahme oder Ablehnung der von der Krankheit betroffenen Körperteile und die damit verbundenen Gefühle. „Also es gibt Kranke, die mit sich und mit ihrem Körper extrem unzufrieden sind und so quasi eine Spaltung da irgendwo vollziehen, ja, das tue ich nicht, ja, ich nehme meine Füße, die also immer noch diese massiven Empfindungsbeschwerden haben, ich nehme meine Füße in die Hand und streichle sie und sage, meine armen Füße, ihr gehört zu mir, ich habe euch, ja, was heißt lieb, ist verkehrt ausgedrückt, aber ich mag sie (...) es gibt Leute, die verachten dann ihre Körperteile, die nicht funktionieren, das tue ich bislang nicht, vielleicht tue ich es mal, ich weiß es nicht, das tue ich bislang nicht (...) von mir selber bin ich manchmal verblüfft, dass ich ir-
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Empirische Ergebnisse gendwie noch genauso ich bin, obwohl an mir alles an Kapazitäten beschränkter ist und eingeschränkter ist.“ (Int 7, S. 46)
Das Verhältnis zu sich selbst kann sich mit der Erkrankung in verschiedener Weise entwickeln. Jelka Uhl kontrastiert in dem Abschnitt ihre eigene Erfahrung von Akzeptanz und Selbstliebe mit den Erfahrungen einer Spaltung, die sie bei anderen Betroffenen beobachtet hat. Indem diese ihre nicht funktionierenden Körperteile verachten, bringen sie ein gespaltenes Verhältnis zu ihrer Leiblichkeit zum Ausdruck. Vor dieser Kontrastfolie verweist Jelka Uhl auf einen „bislang“ positiven Bezug zu ihrem Körper. Mit der Formulierung „bislang“ hält sie die zukünftige Entwicklung der Selbstakzeptanz jedoch offen und ist eher „verblüfft“ über die Kontinuität ihrer positiven Identitätsempfindung, die sie trotz großer Einschränkungen und körperlicher Veränderungen „immer noch“ hat. Neben dem Verhältnis zum Körper, das auf eine praktische Ebene und den Umgang mit Funktionen bezogen ist, wird hier auf die emotionale Ebene verwiesen, die in Beziehung zum eigenen Körper für die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit bedeutsam ist. Bei den Interviewpartnern, die in der Kindheit und frühen Jugend erkrankt sind, tritt ebenfalls die Empfindung der Einheit und eines überwiegend positiven Verhältnisses zur eigenen Leiblichkeit hervor, in das körperliche Einschränkungen bis zu einem gewissen Grad integriert sind. In diese normale Beziehung sind auch Zeiten eingeschlossen, in denen die Unzufriedenheit das vorherrschende Gefühl darstellt. Die in der frühen Kindheit erkrankte Nora Seubert äußert sich in dem folgenden Abschnitt zu ihrem Verhältnis zu ihrem Körper. „Ich mein, es regt einen dann schon mal auf, wie jetzt am Wochenende habe ich einen Tag gehabt am Sonntag, da hätte ich alles hinter mich schmeißen können, genervt war ich und da hat mich auch jede einzelne Naht an mir aufgeregt, praktisch, alles was ich habe und nix funktioniert und was weiß ich, das hat mich dann aufgeregt (...) vier Wochen denkt man sich gar nix und dann ist das halt einfach so und einen Tag hat man halt dann, wo einen das wirklich nervt, genau, und so ist das halt gewesen an dem Tag (...) ich habe eigentlich sonst keine Probleme mit mir selber.“ (Int 23, S. 16f.)
Die Erzählerin schildert den Tag, an dem sie mit ihrem Körper bezüglich Aussehen und Funktion unzufrieden ist, als herausgehobenes Ereignis. Sie bringt auf der einen Seite ihre intensiv empfundene Unzufriedenheit zum Ausdruck, verweist auf der anderen Seite jedoch durch diese Betonung darauf, dass sie an den übrigen Tagen ihre Leiblichkeit anders empfindet. Es gibt einzelne Tage, in denen das Verhältnis zu ihrem Körper problematisch ist, sie stellen jedoch nicht die Regel, sondern eine Besonderheit dar. Diese Interpretation wird dadurch bestätigt, dass sie als generalisierte Erfahrung äußert, keine Probleme mit sich zu haben. Die Formulierung weist auf eine normalerweise empfundene Einheit von Selbst und Körper hin, die auch mit körperlichen Schwierigkeiten nur punktuell zu erschüttern ist. Das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit als Teil der Identität bildet sich durch die frühe Erkrankung im Lebensverlauf unter der Voraussetzung der Krankheit heraus. Plausibel scheint daher, dass Funktionseinschränkungen, Missempfindungen oder ein verändertes Aussehen bis zu einer gewissen Ausprägung in das Körperschema und das Selbstempfinden integriert sind und erst ab einem bestimmten Ausmaß konflikthaft verarbeitet werden. Generell fällt in den Erzählungen der Interviewpartner auf, dass der Bezug zum eigenen Körper und damit verbundene Gefühle selten direkt zur Sprache kommen. Thematisiert
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werden überwiegend funktionale Aspekte des Körpers und Handlungen, die mit der Funktion in Beziehung stehen. Ebenso werden schmerzvolle Körperempfindungen, die zu verschiedenen Erkrankungen gehören, kaum beschrieben. Erfahrungen von körperlichem Genuss oder Lustempfindungen werden ebenfalls selten angesprochen und dann überwiegend im Rückblick mit dem Hinweis auf den heutigen Verlust, wofür die Äußerung „das Begehren ist zu Ende“ (Int 6, S. 32) von Paul Adams beispielhaft ist. Die seltene Thematisierung der Körperempfindungen könnte mit einer Tabuisierung in Zusammenhang stehen, über solche Empfindungen zu sprechen. Darüber hinaus könnte es auch als Bestrebung gedeutet werden, den Körper zu ‚transzendieren’ und sich möglichst abgelöst von ihm mit anderen Dingen zu befassen, um unangenehme und schmerzvolle Empfindungen zu bewältigen. Diese Strategie kann unter anderem dann hilfreich sein, wenn ständige Schmerzen bewältigt werden müssen. Durch eine weitgehende Nichtbeachtung der körperlichen Befindlichkeit ist die Konzentration auf andere, sinnrelevante Themen möglich, jedoch schließt eine solche Umgangsweise unter Umständen auch die Wahrnehmung von angenehmen Körperempfindungen aus. Der Erhalt der körperlichen Funktionen in einem gewissen Umfang bildet die Voraussetzung, um weiterhin handlungsfähig zu sein. Dieses Bewusstsein in Bezug auf den Körper und das Verhältnis zu ihm rückt durch eine Erkrankung in den Vordergrund und muss, je nach Art der Betroffenheit, durch krankheitsbezogene Arbeit praktisch umgesetzt werden. Das Verhältnis zu der eigenen Leiblichkeit umfasst also auf der einen Seite diesen praktischen Umgang mit dem Körper. Auf der anderen Seite beinhaltet dieses Verhältnis die identitätsbezogene Erfahrung, ein Leib zu sein. Diese Empfindung von sich selbst wird in unterschiedlichem Ausmaß als Einheit oder als gespaltenes Verhältnis erlebt und ist jeweils mit entsprechenden Gefühlen verbunden. Das Körperschema und die damit in Zusammenhang stehenden generalisierten Vorstellungen über das eigene Selbst werden bei vielen Interviewpartnern brüchig. Die Erfahrung, dass der Körper sich auf unbeabsichtigte Weise wandelt und zunehmend eingeschränkt ist, muss integriert und in die Lebensorientierung und Lebensführung einbezogen werden.
3.3.4 Krankheit und soziale Interaktion Unter der Perspektive der sozialen Interaktion treten in Bezug auf die Fragestellung einige Aspekte besonders hervor. Zunächst einmal finden das soziale Leben und die damit verbundenen Interaktionen im Arbeits- und Privatbereich und in dem Bereich eines gesellschaftlichen Engagements statt. In welcher Weise die Erkrankung und deren Bewältigung in diesen drei Lebensbereichen auf den Lebensverlauf einwirkt, soll in diesem Abschnitt zusammenfassend beleuchtet werden. Einen weiteren Aspekt bildet die Beziehung zum professionellen medizinischen System. Dieser Bereich ist bzw. wird im Zusammenhang mit der Art, Schwere und dem Verlauf der Erkrankung in unterschiedlichem Umfang Teil des Lebens. Weiterhin bedeutsam bei der Krankheitsbewältigung ist die vorhandene oder fehlende soziale Unterstützung, ebenso beeinflusst die Wahrnehmung der erkrankten Person durch andere und ihre Stigmatisierung die Interaktion in vielfältiger Weise. Schließlich ist die Zugehörigkeit zu der Welt der Kranken oder der Welt der Gesunden ein bedeutsamer Orientierungspunkt in der Interaktion. Die genannten Aspekte sind untereinander und mit den Aspekten der anderen Dimensionen verwoben und werden im Folgenden behandelt.
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3.3.4.1 Krankheit in den verschiedenen Lebensbereichen Wie bereits zuvor ausgeführt wurde, treten als Lebensorientierungen überwiegend am Normallebenslauf orientierte Vorstellungen hervor, die auf den Bereich der Berufstätigkeit, auf den Privatbereich mit den Themen Partnerschaft, Familie und Freundeskreis sowie auf ein Engagement im gesellschaftlichen Bereich bezogen sind. Die Krankheit führt bei einem Teil der Betroffenen zu deutlichen Veränderungen in einem oder mehreren dieser drei Lebensbereiche, während bei anderen bisherige Vorstellungen und Handlungsräume über einen langen Zeitraum hinweg beibehalten werden können und sich zum Teil kaum, zum Teil schrittweise und in einigen Fällen zu einem späteren Zeitpunkt umfassend verändern. Auf den Einfluss der Erkrankung auf die Lebensorientierung und die Lebensführung in den verschiedenen Lebensbereichen und die damit verbundenen sozialen Interaktionen soll nun noch einmal in einem Quervergleich eingegangen werden. Das Berufsleben Das berufliche Leben stellt wie erwartet für viele der Interviewpartner eine bedeutende Lebensorientierung dar. Aus der Wechselwirkung zwischen den aus der Erkrankung resultierenden Einschränkungen und Verlusten und den für eine spezifische Arbeit benötigten Fähigkeiten und Fertigkeiten ergeben sich die Konsequenzen der Erkrankung für den Arbeitsbereich. Von manchen Interviewpartnern kann mit der Erkrankung eine Berufstätigkeit aufgenommen oder weiter fortgesetzt werden, da die Einschränkungen diesen Bereich nicht oder nur wenig beeinträchtigen. In anderen Fällen wird die Weiterführung der Arbeit als direkte Folge der Erkrankung unmöglich oder sie wird zeitnah zur Erkrankung aufgegeben. Einige Interviewpartner bemühen sich, ihre Berufstätigkeit über Jahre hinweg durch Anpassung ihrer Arbeitsweise oder der Arbeitsbedingungen solange fortzusetzen, bis sie massiv an ihre Leistungsgrenzen gelangen. Erst dann und häufig auf wiederholtes Anraten der Ärzte oder anderer Personen reichen sie ihre Rente ein. In diesen Fällen ist eine Brucherfahrung nicht im Zusammenhang mit der Diagnose sondern oft Jahre später mit der Aufgabe dieses bedeutsamen Lebensbereiches zu beobachten. In den Erzählungen der Interviewpartner ist die Berufstätigkeit in finanzieller Hinsicht, in Bezug auf den sozialen Status und die Identität sowie als Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft bedeutsam. Während für einige Erzähler der Übergang in den Rentenstatus oder eine bestehende Arbeitslosigkeit in Bezug auf die materielle Existenz kein Problem darstellt weil sie über die eigenen Rentenansprüche, das Gehalt des Partners oder Familienvermögen im Hintergrund ausreichend abgesichert sind, sind für andere die finanziellen Folgen einer Erwerbsunfähigkeit durch die Erkrankung problematisch. So schildert eine Interviewpartnerin ihren Konflikt zwischen der Möglichkeit, die Rente zu beantragen und der Weiterführung der Berufstätigkeit trotz ihres sich sukzessive verschlechternden Gesundheitszustandes. Ein Hintergrund dieses Konflikts bilden finanzielle Verpflichtungen, da Raten für das für sie und ihre Familie bedeutsame Eigenheim abzuzahlen sind. Dem gegenüber stehen die zunehmenden Einschränkungen durch ihre Erkrankung, die zu massiver Überbelastung bei der Arbeit führen, die sie wiederum mit Medikamenten bekämpft, was den körperlichen Stress weiter erhöht. Dieses Beispiel verweist darauf, dass aus materiellen Gründen mit dem Eigenheim eine Lebensorientierung, auf die bezogen über Jahre hinweg gehandelt wurde, als Folge der Erkrankung in Frage stehen kann. Neben den finanziellen Einbußen durch eine reduzierte Erwerbsfähigkeit oder eine Erwerbsunfähigkeit
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entstehen im Zusammenhang mit der alltäglichen Bewältigung der Erkrankung Kosten, die ebenfalls von einem möglicherweise niedrigeren Einkommen beglichen werden müssen. Dazu zählen beispielsweise Gebühren für Arztbesuche, anteilige Rezeptgebühren für Medikamente und Behandlungen, Kosten für die Anschaffung von Hilfsmitteln wie einem Rollstuhl oder einem Elektrofahrzeug oder auch Kosten für Dienstleistungen im Haushalt. Abhängig von der Art der Tätigkeit, dem Beschäftigungsverhältnis und dem weiteren finanziellen Hintergrund sowie von der Art, Schwere und dem Verlauf der Krankheit sowie der zusätzlich anfallenden Kosten kann der bisherige Lebensstandard annähernd erhalten werden, etwas eingeschränkt oder auch deutlich eingeschränkt sein, sodass die Lebensführung auch darauf eingestellt werden muss. Der Vergleich der Fälle von Herbert Steffen und Paul Adams verdeutlicht den Spannungsbogen in Bezug auf den Unterschied des bisherigen zum früheren Lebensstandard, der im Krankheitsfall durch unterschiedliche Beschäftigungsverhältnisse entstehen kann. Während Herbert Steffen als Studienrat im Beamtenstatus zum Zeitpunkt seiner Pensionierung ein hoher Prozentsatz seiner vormaligen Bezüge zusteht, muss Paul Adams als zuvor gefragter Heilpraktiker und Lehrer auf selbstständiger Basis nun mit geringer, teilweise im Bekanntenkreis rekrutierter finanzieller Unterstützung auskommen. Da er nicht in das System der Alters-, Kranken- und Erwerbsunfähigkeitsversorgung eingebunden ist, auf das Beamte oder Angestellte zurückgreifen können, ist er auf die Grundsicherung durch die Sozialhilfe angewiesen, die lediglich eine Minimalversorgung gewährleistet. Herbert Steffen kann seinen Lebensstandard weitgehend erhalten, demgegenüber sinkt der Lebensstandard von Paul Adams in drastischer Weise. Während Interviewpartner, die dem Bereich der gehobenen Mittelschicht angehören und verbeamtet oder angestellt sind, keine finanziellen Probleme im Zusammenhang mit der Berentung erwähnen, schildern andere, die dem mittleren oder unteren Bereich der Mittelschicht zuzurechnen sind, die geringeren Bezüge durch eine Erwerbsunfähigkeitsrente als problematisch. Die gesellschaftlichen Sozialsysteme gewähren also im Krankheitsfall eine institutionelle Absicherung, die den bisherigen Lebensstandard entsprechend der bisherigen beruflichen Stellung in deutlich unterschiedlicher Weise erhält oder herabsetzt. Der soziale Status ist eng verknüpft mit dem Bildungsabschluss, der beruflichen Position, dem Lebensstil und dem Lebensstandard. Darüber hinaus kann er auch mit ehrenamtlichen Aktivitäten verbunden sein. In den Erzählungen werden in Bezug auf den sozialen Status Prozesse des sozialen Auf- und Abstiegs oder auch des Beibehaltens durch Fortführung oder Ersetzen deutlich, die überwiegend im Zusammenhang mit dem Arbeitsbereich stehen und von vielfältigen Faktoren abhängig sind. Die Art, Schwere und der Verlauf der Krankheit spielen hier ebenso eine Rolle wie die bisherige Biographie mit ihren Potenzialen und Hypotheken, der individuelle Umgang mit der Situation und die soziale Unterstützung im Bewältigungsprozess. Die mit einer Berufstätigkeit verbundenen Rollenvorstellungen und Aufgabenbereiche, die beruflichen Kontakte zu anderen und die erfahrene Wertschätzung sowie die Zugehörigkeit zu einem gesellschaftlichen Teilbereich stehen in einem Zusammenhang mit der persönlichen und sozialen Identität und mit den Lebensorientierungen der von Krankheit betroffenen Personen. Eine Erwerbsunfähigkeit kann zu problematischen Erfahrungen in diesen Bereichen führen, wie folgendes Beispiel einer Interviewpartnerin verdeutlichen soll. Die an Multipler Sklerose erkrankte Petra Stäbler setzt ihre Tätigkeit als Krankenschwester nach dem Erhalt ihrer Diagnose noch über viele Jahre hinweg fort. Als sie wegen der zunehmenden körperlichen Einschränkungen schließlich ihren Beruf aufgeben muss und in Rente geht, erfährt sie einen deutlichen Umbruch.
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Empirische Ergebnisse „...und dann war ich erst einmal vor einem großen Loch gestanden +, jetzt bist zu überhaupt nix mehr nutze, das waren dann so die Gedanken, ich hab gerne gearbeitet, Haushalt war für mich immer so ein nötiges Übel, also ich hab ihn schon gemacht, aber es war nicht die Erfüllung meines Lebens muss ich sagen.“ (Int 16, S. 8)
Durch den Verlust der Arbeit steht Petra Stäbler „vor einem großen Loch“. Ein bisher bedeutender Teil ihres Lebens und ihrer Identität verschwindet durch den Rentenstatus aus ihrem Leben und hinterlässt eine große Lücke. Bei Petra Stäbler ist der Verlust der Tätigkeit als Krankenschwester mit Gedanken darüber verbunden, „zu überhaupt nix mehr nutze“ und damit nicht mehr von Wert für andere zu sein. Diese Deutung verweist auf die Berufstätigkeit als Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft, die mit einer sinnvollen Aufgabe und mit Wertschätzung verknüpft ist. Durch den Beruf ist es möglich, sich an einem Platz in der Gesellschaft zu verorten. Mit dem Verlust ihrer Zugehörigkeit zum beruflichen Bereich und ihrer beruflichen Tätigkeit für andere empfindet sich Petra Stäbler als „nicht mehr nützlich“ und verliert so ihren beruflich definierten Platz in der Gesellschaft. Ihre in 20 Jahren Berufserfahrung erworbene Kompetenz ist nicht mehr einsetzbar und wird dadurch nutzlos. Während die Arbeit als Krankenschwester ihr Erfüllung und Orientierung im Leben bot, stellt die Arbeit im Haushalt keine Erfüllung dar. Zwar muss für diese Haushaltstätigkeit ebenfalls versorgende Arbeit für andere geleistet werden, diese wird jedoch von ihr gänzlich anders gesehen und deutlich unter dem Wert der beruflichen Tätigkeit eingeordnet. Die verwendete Metapher, das „vor einem großen Loch stehen“, verweist bildhaft auf den für die bisherige Lebensorientierung und die darauf ausgerichteten Handlungen fehlenden Lebensbereich, das ‚große Nichts’, das statt der bedeutsamen Lebensorientierung jetzt vorhanden ist und es nötig macht, das „Leben neu zu ordnen“ (ebd.), die Leere anzunehmen und sie gegebenenfalls neu zu füllen. Auf andere Weise wird die hohe Bedeutsamkeit des Arbeitsbereiches für die Lebensorientierung am Beispiel von Barbara Nibur nachvollziehbar, die ihre berufliche Karriere trotz einer schweren Erkrankung weiter entwickelt und schließlich über einen längeren Zeitraum hinweg eine leitende Position in einer städtischen Institution einnimmt. Barbara Nibur beschreibt ihre hohe Leistungsbereitschaft und ihre Freude bei der Ausübung ihres Berufs, über den sie problematische Aspekte des Privatlebens, die mit der Erkrankung zusammenhängen, kompensieren kann. Arbeit ist für Barbara Nibur mit Selbstwert, Identität und Anerkennung sowie mit einer aktiven Teilhabe an der Gesellschaft verbunden. Als sie nach 13 Jahren in der Führungsposition ihren Beruf wegen einer schweren gesundheitlichen Krise aufgeben und in den Rentenstatus wechseln muss, baut sie ein neues Tätigkeitsfeld auf, indem sie andere berät und fortbildet. Auf diese Weise kann sie sich neu in einem teils beruflichen und teils ehrenamtlichen Bereich verorten und so weiter in der Berufswelt agieren und gestalten, in beruflichem Kontakt mit anderen sein, Anerkennung für ihre Tätigkeit beziehen und ihre Kompetenz und Kreativität zum Ausdruck bringen. Auch Herbert Steffen betont in seiner Erzählung die Bedeutung des Arbeitsbereiches. Nach einem Schlaganfall hofft er anfangs, seinen Beruf als Lehrer wieder ausüben zu können und versucht, sein verlorenes Wissen durch ständiges Üben wieder zu erlangen. Als sich abzeichnet, dass das nicht mehr möglich ist, geht er in Pension und betreut auf der Basis geringfügiger Erwerbstätigkeit verschiedene Nachhilfeschüler. Obwohl er also seinen bisherigen Arbeitsbereich mit den vielfältigen Bezügen und Kontakten verliert, kann er sich durch die Nachhilfe in Teilen seine Identität als Lehrer erhalten und sein Wissen an Schüler weitergeben. Für diese Interviewpartner stellt die Berufstätigkeit in bedeutsamer Weise eine
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Orientierung in ihrem Leben dar, die mit Identität und Kompetenzerleben, Kontakten, Wertschätzung und gesellschaftlicher Teilhabe verbunden ist. Nach dem Verlust des Arbeitsplatzes engagieren sie sich dafür, eine quasi-berufliche Tätigkeit fortzuführen, die an ihre Einschränkungen angepasst ist. Andere finden sich mit dem Verlust der Berufstätigkeit ab und orientieren sich neu im Privatbereich oder im ehrenamtlichen Bereich. Im Kontrast dazu findet sich bei den Interviewpartnern mit einer problematischen Biographie die oben beschriebene Identifikation mit einem Arbeitsbereich oder einer Berufsrolle nicht wieder, da beispielsweise der Einstieg in eine solche Rolle nicht geglückt ist, häufige Wechsel zwischen Phasen der Beschäftigung und der Arbeitslosigkeit bei ihnen die Regel sind oder ein Ausstieg aus dem Arbeitsleben stattgefunden hat, bevor die Krankheit aufgetreten ist. Wenn diese Interviewpartner eine Problematik mit dem Arbeitsbereich thematisieren, steht sie überwiegend im Zusammenhang mit den biographischen Entwicklungen und der problematischen Lebensorientierung und wird durch die Erkrankung lediglich verstärkt. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Arbeitsbereich für viele Interviewpartner von großer Bedeutung in Bezug auf die Lebensorientierung ist, was nahe liegt angesichts dessen, dass wir in einer auf Erwerbsarbeit bezogenen Gesellschaft leben. Interessant jedoch ist der Versuch von vielen Interviewpartnern, die ihre Berufstätigkeit in dem bisherigen strukturellen Rahmen nicht fortführen können, diese in einem Teilbereich aufrechtzuerhalten oder in einem neuen Bereich zu etablieren, wenn bereits eine Rente oder eine andere Unterstützung bezogen wird, z. B. indem Nachhilfe erteilt, auf der Basis geringfügiger Beschäftigung gearbeitet oder eine neue Tätigkeit an der Grenze zwischen Beruf und Ehrenamt ausgeübt wird. Die Rente ist dann die Grundlage, die die materielle Basis sichert, während die Tätigkeit im Sinne einer Arbeit definiert wird, sodass subjektiv nicht der Status als Rentner im Vordergrund der Identität steht, sondern die Identifikation mit der Tätigkeit einen großen Stellenwert hat. Die berufliche oder quasi-berufliche Identität kann so in verschiedenem Grade aufrechterhalten werden, ebenso die gesellschaftliche Teilhabe, die in einigen Fällen mit einem neuen Gestaltungsspielraum, mit Kontakten und mit Wertschätzung verbunden ist. Der Privatbereich Im privaten Lebensbereich stellen die Paarbeziehung und die Elternschaft für viele Interviewpartner bedeutsame Lebensorientierungen dar. In geringerem Maße werden auch Freunde und Hobbys als bedeutsam geschildert, diese treten in den Erzählungen dann mehr hervor, wenn sich der Interviewpartner zum Zeitpunkt der Erzählung nicht in einer Paarbeziehung befindet. Abhängig von dem bisherigen biographischen Verlauf und der aktuellen Lebensphase weisen die Interviewpartner einen unterschiedlichen Erfahrungshorizont und verschiedene aktuelle Lagen sowie Wünsche und Ziele in Bezug auf Partnerschaft und Familie auf. Von denjenigen, die sich aktuell nicht in einer Paarbeziehung befinden, gibt es einige, die keine Partnerschaft mehr erwarten oder wünschen, während andere den Wunsch nach einer solchen Beziehung äußern. Andere Interviewpartner leben seit einiger Zeit oder auch schon lange in einer festen Partnerschaft. Einige sind Eltern oder bereits Großeltern, während andere sich entschieden haben, keine Kinder zu bekommen. Bei einigen Interviewpartnern ist die Frage noch offen, ob sie eine Familie gründen werden oder nicht. In diese verschiedenen biographischen Verläufe der privaten Linie ist jeweils die Erkrankung mit ihrem speziellen Verlauf hinein verwoben. Das bedeutet, dass neben der erkrankten
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Person selbst auch das Umfeld, insbesondere die nahen Angehörigen, von der Erkrankung in verschiedener Intensität betroffen sind. Entsprechend der Lebensphase, in der die Interviewpartner erkrankt sind, handelt es sich dabei um die Eltern, um einen Partner oder eine Partnerin und um die Kinder. Daher sind auch für die relevanten Personen im nahen Umfeld möglicherweise bisherige Lebensorientierungen nicht mehr in der ursprünglich geplanten Weise umzusetzen. Sie sind zum Teil ebenfalls gezwungen, von einer bestimmten Erwartung Abschied zu nehmen, neue Entscheidungen zu treffen und Teile ihres Lebens neu zu ordnen. Bei denjenigen Interviewpartnern, die in der Kindheit erkrankten, übernehmen zunächst die Eltern die Verantwortung für die Bewältigung der gesundheitlichen Problematik, die zu einem wesentlichen Orientierungspunkt der Familie wird. Die Eltern und gelegentlich die Geschwister stellen ihre Lebensführung auf die Notwendigkeiten ein, die sich aus den Bedingungen der Erkrankung ergeben. In einer anderen Weise kann eine Erkrankung die Beziehungen zu anderen Menschen beeinflussen, wenn sie in der späten Jugendzeit oder im frühen Erwachsenenalter auftritt, in der unter anderem die Themen der eigenen Geschlechtsrolle und die Partnersuche biographisch aktuell sind. Beispielsweise beschreibt eine im frühen Erwachsenenalter mit der Erkrankung konfrontierte Interviewpartnerin die Partnersuche als problematisch, da sie sich wegen ihrer Krankheit in der Rolle als Frau und Partnerin minderwertig fühlt. Aus rückwärtiger Sicht interpretiert sie akute Krankheitssituationen, die mit dem jeweiligen Partner auftreten, als Test, in dem sie genau überprüft, wie dieser mit ihrem Kranksein und ihrer durch die Erkrankung entstehenden Bedürftigkeit umgeht. Diese Interviewpartnerin hebt in ihrer Erzählung hervor, dass freundschaftliche Beziehungen im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung für sie nicht problematisch sind, ihre Schwierigkeiten beschränken sich auf den Bereich der Paarbeziehung. Für eine andere in dieser frühen Lebensphase erkrankte Interviewpartnerin gehen die Grundlagen ihrer bereits seit einigen Jahren bestehenden Paarbeziehung verloren. Aus ihrer Sicht hat sich ihr Wert als Partnerin durch die Erkrankung umfassend verändert, ebenso wie ihre Perspektiven für die Zukunft sowie die ihres Partners als noch junge Menschen, die am Beginn ihres selbstständigen Lebens stehen. Sie fordert ihren Partner auf, die Beziehung zu überdenken und bittet ihn um eine neue Entscheidung. Zugleich signalisiert sie Verständnis, falls er sich gegen eine Weiterführung der Beziehung entscheiden sollte. Ähnlich offensiv wird die bestehende Paarbeziehung auch von einer Interviewpartnerin in Frage gestellt, die sich zum Zeitpunkt des Erkrankens bereits im mittleren Erwachsenenalter befindet, viele Jahre verheiratet ist und mit ihrem Mann zwei Kinder im Teenageralter hat. „...wo ich dann gesagt habe, weißt du was, wenn du keine kranke Frau haben willst, habe ich gesagt, dann lass dich jetzt scheiden, jetzt kann ich mein Leben neu anfangen, weil, man hat es dann von anderen gehört, (...) viele Ehen sind dann kaputt gegangen, weil viele wollen, können dann mit einem kranken Partner nix anfangen.“ (Int 16, S. 16)
Die Erzählerin beschreibt sich in dieser Darstellung des Gesprächs mit ihrem Ehemann als „die kranke Frau von“, für die eine neue Entscheidung nötig ist und die sich deutlich von der Vergleichsfolie „die gesunde Frau von“ unterscheidet. Sie konfrontiert ihren Partner mit diesem Thema und der Forderung, sich zu ihr neu zu positionieren, indem er sich entweder jetzt scheiden lässt oder sich neu für ein Leben mit ihr und damit auch für „die kranke Frau“ entscheidet. Neben der Verunsicherung durch Negativbeispiele von anderen Betroffenen und dem Wunsch einer Klärung der Beziehung sind für sie auch praktische Überle-
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gungen ein Grund für die Konfrontation. Sie fühlt sich in der aktuellen Situation körperlich noch in der Lage, ein neues Leben auch ohne den Partner aufzubauen und verweist durch diese Erklärung implizit darauf, dass dies zu einem späteren Zeitpunkt wahrscheinlich nicht mehr möglich sein und sie dann auf seine Hilfe angewiesen sein wird. Als ihr Partner nach einer Bedenkzeit zu dem Schluss kommt, dass sie bisher viele Schwierigkeiten bewältigt haben und auch dieses Problem zusammen meistern werden, wird aus ihrer individuellen Problemlage eine gemeinsam zu bewältigende Herausforderung. Das Paar kann nun wieder an die bisherige Vergangenheit anknüpfen. Die beiden angeführten Beispiele verdeutlichen, dass das Verhalten des gesunden Partners und seine Einstellung zur Krankheit einen biographisch bedeutsamen Einfluss darauf nimmt, ob es zu einem massiven Umbruch und einer Neuorientierung innerhalb des privaten Lebensbereiches der erkrankten Person kommt oder ob die Kontinuität hier im Wesentlichen erhalten bleibt. Einige der Interviewpartner leben in einer aktuell zufriedenstellenden und bisher dauerhaften Beziehung, manche von ihnen äußern jedoch ihre Unsicherheit bezüglich einer langfristigen Perspektive für die bestehende Beziehung. Sie können sich kaum vorstellen, mit dem Partner alt zu werden und lassen diesen Bereich der Zukunftsvorstellungen bewusst offen. In den Fällen jedoch, in denen die Erkrankung als wenig bedeutsam für die eigene Lebensorientierung eingeschätzt wird, werden auch keine Auswirkungen auf die Partnerbeziehung geschildert. Die Interviewpartner, die bereits als Kind erkrankten, beschreiben ebenfalls keine Probleme im Bereich der Partnerbeziehung, sondern hier steht eher ein selbstverständlicher Umgang mit dem Thema und ein gutes Selbstwertgefühl in der Geschlechtsrolle im Vordergrund. Das kann auf der einen Seite im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die Krankheit und ihr körperlicher Ausdruck bereits als Kind vertraut sind und in die körperliche Entwicklung und die Ausbildung der Identität und damit verbunden in die eigene Geschlechtsrolle integriert werden. Auf der anderen Seite lernen die früh betroffenen Personen ihre Partner bereits mit ihrer gesundheitlichen Einschränkung kennen. Die Partner akzeptieren bei ihrer Entscheidung für die Aufnahme der Beziehung den Menschen mit der Krankheit. Das Kranksein steht durch diese Akzeptanz dann nicht in Opposition zu dem Wert als Partner. Einige der Interviewpartner, die nicht in einer Partnerbeziehung leben bzw. bei denen die vor der Erkrankung bestehende Partnerschaft zerbrochen ist, verweisen direkt oder indirekt auf einen Zusammenhang dieser Lage mit der Erkrankung. Hier gibt es verschiedene Varianten. So münden beispielsweise in einem Fall bereits bestehende aber bisher kompensierbare Probleme in der Partnerschaft durch den erhöhten Problemdruck und das Wegfallen der Kompensationsmöglichkeiten in eine Trennung. Hier trennte sich der von Krankheit betroffene Interviewpartner von seiner Frau, nachdem die Konflikte durch seine Bedürftigkeit besonders zutage traten und er seine Bedürfnisse nicht mehr seinen zuvor gültigen Maßstäben einer nach außen funktionierenden Familie unterordnete. In einem anderen Fall kommt es zur Auflösung der Partnerschaft weil die Belastungen aus dem täglichen Umgang mit der Erkrankung zu hoch sind und es für den gesunden Partner scheinbar keine gemeinsame attraktive Zukunftsperspektive gibt. Für diesen Partner stellt die Offensichtlichkeit der Erkrankung seiner Frau ihrer Ansicht nach ein großes Problem dar. Schließlich bringen manche der Interviewpartner ohne aktuell bestehende Partnerschaft zum Ausdruck, dass es ihnen aufgrund der verschiedenen Belastungen im Zusammenhang mit der Erkrankung kaum möglich scheint, noch einmal eine Paarbeziehung zu erleben.
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Im Kontrast zu den Trennungserfahrungen in Verbindung mit der Erkrankung belegen andere Interviews, dass in umfassender Weise eine gemeinsame Bewältigung erfolgt. Manche Partner stützen durch den Erhalt der normalen Welt, in der vielfältige andere Aspekte als nur die Krankheit bei der betroffenen Person und der bisher gemeinsam verlebten Zeit im Vordergrund stehen. Andere Partner gehen in die Welt der Kranken weit hinein, indem sie sich organisiert für sie einsetzen und den Bereich der gemeinsamen Krankheitsbewältigung für sich neu dazu gewinnen. Die angeführten Beispiele deuten darauf hin, in welch vielfältiger Weise die Erkrankung auf die Paarbeziehung zu verschiedenen Zeiten im Lebensverlauf und in unterschiedlichen Phasen der Beziehung Einfluss auf das Leben beider Partner nimmt. Nicht nur ein von Krankheit betroffener Mensch, sondern auch der Partner bzw. die Partnerin, muss sich in einem gemeinsamen Prozess verändern, sich an die neuen Gegebenheiten anpassen und auf sie reagieren. Obgleich ein gesunder Partner durch sein Gesundsein zur Welt der Gesunden gehört, ist er über den erkrankten Partner für die anderen sichtbar oder unsichtbar an die Welt der Kranken gebunden. Dieses Zugehörigkeitsdilemma muss nach innen und nach außen gelöst werden. Kinder und Enkel stellen häufig eine bedeutsame Lebensorientierung im Privatbereich dar, die jedoch auf der einen Seite in Abhängigkeit von der Lebensphase und auf der anderen Seite im Zusammenhang mit der Erkrankung und den damit verbundenen persönlichen Lebensumständen mehr oder weniger im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. So findet beispielsweise ein Interviewpartner, der unter dem Verlust seines Arbeitsplatzes leidet, eine neue Aufgabe in der Rolle als Großvater als sein Enkel geboren wird. Seine Aussage, dass sein Enkel ihn jetzt braucht, dokumentiert, dass er in der privaten Lebenslinie eine neue für ihn sinnvolle Perspektive entwickeln und sich auf diesen Bereich neu ausrichten kann. Einige der Interviewpartner haben zum Zeitpunkt der Erkrankung bereits Kinder, während für andere, die früh im Lebensverlauf erkranken, die Frage der Familiengründung noch offen ist und im Zusammenhang mit der Erkrankung und anderen biographisch relevanten Themen geklärt werden muss. Beispielsweise entscheidet sich Sonja Tomms, deren Lebensgeschichte in einem Einzelporträt ausführlich dargestellt wurde, nach der Diagnose entgegen ihrer vorherigen Pläne für die Aufgabe der beruflichen Optionen und ausschließlich für den Ausbau der privaten Linie und gründet gemeinsam mit ihrem Partner eine Familie, die nun zu ihrer bestimmenden Lebensorientierung wird. Sie schildert eine bewusste Wahl zwischen der privaten und beruflichen Linie, die sie unter anderem mit ihrer gesundheitlichen Belastung begründet. Die Möglichkeit der Wahl zwischen diesen beiden Linien, aber auch die Notwendigkeit einer solchen Wahl bzw. eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Familiengründung im Zusammenhang mit der Erkrankung wird bei den hier befragten Interviewpartnern von den Frauen direkt thematisiert. Hier gibt es verschiedene Hintergründe. Einige treffen die Entscheidung gegen die Mutterschaft, weil die Schwangerschaft für sie oder das Kind ein Risiko darstellen würde. Ein anderer wesentlicher Grund ist die Sorge darüber, in wieweit sie in der Lage sein werden, mit der Erkrankung die Versorgung der Kinder auf lange Sicht zu gewährleisten. Eine Interviewpartnerin schildert explizit ihren Entschluss, diese zu große Verantwortung nicht übernehmen zu wollen. In den Interviews mit Männern, die noch keine Kinder haben, wird diese Frage entweder nicht aufgeworfen oder kommt eher am Rande, z. B. als Wunsch der Freundin, für den aber zuerst die eigene berufliche Situation geklärt sein muss, zur Sprache. In einem anderen Fall wird die Situation, keine Freundin, Frau und Familie zu haben, mit den schlechten finanziellen Verhältnissen und dem geringen sozialen Status erklärt. Die alltägliche Versorgung der Kinder
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wird von den hier befragten Männern nicht in Verbindung mit ihrer Erkrankung thematisiert, Überlegungen zur Familiengründung werden im Zusammenhang mit Berufstätigkeit und finanziellen Aspekten als bedenkenswert angesprochen. Diese Art der Thematisierung des biographisch relevanten Aspektes der Familiengründung weist auf eine traditionelle Aufgabenverteilung zwischen den Geschlechtern hin. Die Erkrankung wird zu einem Teil mit biologisch bedingten Aspekten und zu einem anderen Teil mit zugeschriebenen Aufgabenbereichen in Beziehung gesetzt. Das zeigt sich darin, dass Frauen ihre körperlichen Möglichkeiten für eine Schwangerschaft hinterfragen und darüber hinaus ihre möglichen Kapazitäten überprüfen, ein Kind über einen langen Zeitraum zu versorgen, während Männer sich scheinbar weniger mit dem körperlichen Aspekt der alltäglichen Versorgung von Kindern befassen, sondern das Thema mehr im Zusammenhang mit der beruflichen Situation sehen. Ein bereits bekanntes Phänomen findet sich auch bei diesen Befragten wieder: Bei Frauen stehen die Bereiche von Berufstätigkeit und Familie eher in Opposition, während sie bei Männern keinen Widerspruch darstellen. Die bei Frauen bestehende Vereinbarungsproblematik zwischen diesen Bereichen wird durch die Erkrankung bei einigen noch erheblich verschärft. Zugleich ist es neben den genannten Aspekten ebenfalls naheliegend, dass Frauen, die relativ früh im Lebensverlauf erkranken, die Auseinandersetzung für und gegen Kinder und Beruf explizit thematisieren, weil sie die (neuen) Bedingungen der Erkrankung auf verschiedene mögliche Lebensentwürfe beziehen müssen. Neben den Optionen, berufstätig ohne Kinder und mit Kindern zu sein, gibt es mit der Hausfrauentätigkeit einen weiteren (weiblichen) Lebensentwurf, der beispielsweise von Sonja Tomms mit dem Hinweis auf die bereits bestehende Belastung durch die Erkrankung entgegen den zuvor bestehenden Plänen gewählt wird. Wenn in bereits bestehenden Familien ein Elternteil erkrankt oder wenn sich ein Paar mit einem erkrankten Partner für eine Familiengründung entscheidet, sind die Kinder abhängig von der Art und Schwere der Erkrankung und der Qualität der Paarbeziehung von den Auswirkungen der Erkrankung betroffen. Sie müssen sich ebenfalls mit der Krankheit auseinandersetzen und sind je nach ihrem Alter und den Bedingungen der Erkrankung in verschiedener Weise in die Bewältigung eingebunden. Weiterhin finden im Privatbereich die Beziehungen zu Freunden und die Ausübung von Hobbys Erwähnung. In Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung und den damit verbundenen Einschränkungen schildern einige der Befragten keine Veränderungen im Freundeskreis und den Freizeitaktivitäten, während manche, zumeist schwerer betroffene Interviewpartner, eine Zunahme von Isolation, andere hingegen eine Intensivierung dieses Lebensbereiches nach dem Verlust der Berufstätigkeit beschreiben. Freundschaftliche Beziehungen gehen verloren oder kühlen sich ab weil die erkrankten Personen nicht mehr am Lebensstil und den damit verbundenen Freizeitaktivitäten der Freunde und Bekannten teilnehmen können oder wollen und weil diese sich auch von ihnen zurückziehen. Ein Beispiel dafür gibt Margarete Ries, die erzählt, dass sie ihre Teilnahme an einem Musikkreis aufgeben musste, weil sie die Treppen zu den verschiedenen Privatwohnungen nicht mehr bewältigen kann, in denen die Treffen abwechselnd stattfinden. Auch die Beziehungen zu anderen Freunden und Bekannten, die in ihrer Freizeit viele Wanderungen unternehmen, haben sich gelockert, denn an dieser Aktivität kann sie ebenfalls nicht mehr teilnehmen. Margarethe Ries empfindet sich für diese Personen als Belastung, die von sich aus den Kontakt nicht mehr zu suchen scheinen. Im Kontrast dazu erzählt sie von einer engen Freundin, zu der sich die vertraute Beziehung trotz ihrer Erkrankung nicht verändert hat.
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Ein anderes Beispiel für Veränderungen im Freundeskreis durch Entwicklungen im Zusammenhang mit der Erkrankung gibt Sven Herbig, dessen Krankheitssymptome sich nach der Einnahme von Drogen deutlich verstärken, auf die er deshalb verzichtet. Er berichtet, dass er nach der Aufgabe seines Drogenkonsums einige Freunde verliert, mit denen er sich häufig zum gemeinsamen Drogengenuss getroffen hatte. Nachdem dieses verbindende Element entfällt, löst sich auch die freundschaftliche Beziehung zu diesem Personenkreis auf. Im Kontrast zu den genannten Beispielen schildert Jelka Uhl, dass sie ihren alten, gesunden Freundeskreis bewahren und dazu durch ihre ehrenamtlichen Aktivitäten einen neuen Freundeskreis mit Menschen aufbauen kann, die ebenfalls von Krankheit betroffen sind. Insgesamt gesehen sind Freunde wichtig und werden immer wieder erwähnt, stehen aber nicht im Vordergrund der Erzählungen. Sie sind nicht in zentraler Weise bedeutsam für die Lebensorientierung, sondern eher eine wichtige Unterstützung bei der alltäglichen Lebensbewältigung. Auch die von einigen Interviewpartnern betriebenen Hobbys wie Modellbau, Theater- und Kinobesuche, Lesen oder Malen können in ähnlicher Weise gesehen werden. Viele engere und weitere soziale Kontakte sind mit der Berufstätigkeit, mit Hobbys oder mit einem ehrenamtlichen Engagement verbunden und gehen als Folge des Verlustes eines solchen Bereiches dann ebenfalls verloren oder kommen neu hinzu wenn eine neue Aktivität aufgenommen wird. Gesellschaftliches Engagement Einige der interviewten Personen berichten von einem Engagement im gesellschaftlichen Bereich. Während eine Interviewpartnerin, die sich innerhalb ihrer Kirchengemeinde ehrenamtlich engagiert und ein Interviewpartner, der eine freie Schule für seine Kinder aufbaut, keinen Bezug zu der Erkrankung herstellen, gibt es bei den anderen Befragten eine deutliche Verbindung zwischen der Erkrankung und ihrem Engagement. Überwiegend befasst sich das Engagement bei diesen Personen mit Formen der Krankheitsbewältigung, aber auch ehemals berufliche Themen werden in Anteilen als ehrenamtliches Engagement fortgesetzt. Ein Beispiel für ein besonders intensives Engagement im Bereich der Krankheitsbewältigung wird am Fall von Jelka Uhl deutlich. Nach ihrer Diagnose gibt sie ihre Berufstätigkeit frühzeitig auf und baut einen neuen Lebensbereich auf, indem sie unter Einsatz ihrer vielfältigen Potenziale eine gemeinsame Interessensvertretung verschiedener Selbsthilfegruppen ins Leben ruft und sich auf diese Weise in einem kollektiven Rahmen für die Krankheitsbewältigung engagiert. Sie ersetzt ihre berufliche und in Anteilen auch ihre private Lebensorientierung durch eine Lebensorientierung mit gesellschaftspolitischem Inhalt. Auch einige andere Interviewpartner engagieren sich in Selbsthilfegruppen, jedoch nicht in dem Ausmaß wie Jelka Uhl. Thomas Butzeck befasst sich in einer anderen Weise mit der Krankheitsbewältigung. Da er die Ursachen seiner und auch anderer Erkrankungen in schädlichen Umwelteinflüssen von industriellen Produkten sieht, engagiert er sich für Entgiftungsverfahren und kämpft auf gesellschaftspolitischer Ebene um die Anerkennung dieser Umweltproblematik. Während bei Jelka Uhl und Thomas Butzeck mit diesem Engagement eine bedeutsame Lebensorientierung verbunden ist, die sich als Folge der Erkrankung entwickelt hat, ist bei den anderen Interviewpartnern dieser Lebensbereich in einem geringeren Maß bedeutsam für die Lebensorientierung und nicht in dieser umfassenden Weise präsent in der täglichen Lebensführung. Teilweise verschwimmt die Grenze zum beruflichen Bereich, da die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung und ein ehrenamt-
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liches Engagement im Verbund auftreten. Darüber hinaus gibt es einige Interviewpartner, die kein derartiges Engagement schildern. In diesem ersten Teil wurde der Einfluss der Erkrankung in Bezug auf Lebensorientierung und Lebensführung in der Biographie im Bereich des privaten Lebens und des beruflichen Lebens sowie im Bereich des ehrenamtlichen Engagements zusammenfassend beschrieben. Im Folgenden sollen nun einzelne Aspekte näher erläutert werden, die sich als bedeutsam im sozialen Kontakt in einem Leben mit einer chronischen Erkrankung herauskristallisiert haben.
3.3.4.2 Interaktionen im Zusammenhang mit dem professionellen medizinischen System Durch die Erkrankung ist bzw. wird das professionelle medizinische System bei den Interviewpartnern zu einem Teilbereich des Lebens. Dabei können die Art und der Umfang des Kontaktes in Abhängigkeit von der Art und Schwere der Erkrankung erheblich variieren. Bei einigen Krankheiten ist es notwendig, sich regelmäßig und in einem bedeutenden zeitlichen Umfang in medizinischen Institutionen aufzuhalten, während bei anderen Erkrankungen der Aufwand deutlich geringer ist und sich beispielsweise auf einzelne therapeutische Anwendungen oder gelegentliche Arztbesuche beschränkt. Darüber hinaus kann die Beziehung zum medizinischen System auch als eine Abhängigkeit von Medikamenten erfahren werden. Für diejenigen Interviewpartner, die bereits in der Kindheit erkrankten, ist der Kontakt zum medizinischen System bereits seit langem ein vertrauter Teil des Lebens, dagegen stellt er für andere, die später erkrankt sind, einen neu hinzukommenden Aspekt dar, der in die alltägliche Lebensführung integriert werden muss. In den Erzählungen der Interviewpartner werden zwei Bereiche der sozialen Interaktion als Erkrankter deutlich. Ein Bereich umfasst die Interaktion mit medizinischen Fachkräften in der Rolle als Patient und der andere die Interaktion unter den Patienten. Das Verhältnis zu den Ärzten und die damit verbundenen Interaktionen werden in verschiedenen Variationen geschildert. Thematisch geht es dabei überwiegend um mehr oder weniger vorhandene medizinisch-therapeutische Kompetenz und deren positive wie negative Folgen für die Gesundheit. Ein ebenso bedeutsames Thema ist der Umgang der Ärzte mit dem erkrankten Menschen. Es werden sowohl Anerkennung als auch Abwehr oder Erleiden der in verschiedener Weise ausgeübten ärztlichen Autorität und der damit verbundenen Zuweisung einer bestimmten Patientenrolle beschrieben, ebenso wie Lernprozesse in der Auseinandersetzung mit dieser Rolle. Verena Peters schildert beispielsweise, dass sie sich früher als Patientin auf einer unteren Stufe in der Krankenhaushierarchie wahrnahm und den Ärzten ausgeliefert fühlte, die an ihrem Krankenbett über sie sprachen, ohne sie als Subjekt in das Gespräch einzubeziehen. Sie beschreibt eine Entwicklung von einem Früher, als den medizinischen Fachkräften die Gestaltungsmacht über die Situation zustand, zu einem Heute, in dem sie inzwischen eine gleichwertige Ebene der Begegnung einfordert. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit der als negativ erlebten ärztlichen Autorität schildert sie, dass sie mehr Selbstbewusstsein entwickelt hat und es sich heute nicht mehr gefallen lässt, auf „arrogante Weise“ (Int 3, S. 32) behandelt zu werden. Indem sie ihre Meinung zum Ausdruck bringt erleidet sie nun nicht mehr die ihr zugewiesene Rolle als passive Patientin, sondern gestaltet sie mit und tritt dadurch aktiv in Aushandlungsprozesse um diese Rolle ein.
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Als ein weiteres Mittel der aktiven Gestaltung eines positiven ArztPatientenverhältnisses sieht Barbara Nibur die Auswahl des Arztes an. Sie ist seit 30 Jahren regelmäßig im Kontakt mit dem medizinischen System und hat vielfältige Erfahrungen im Umgang mit Ärzten und medizinischem Personal gesammelt. Als Betroffene, die auf das medizinische System angewiesen ist, reflektiert sie über die Haltung gegenüber Ärzten und der Schulmedizin. „Also ich glaube, dass diese Antihaltung gegen Ärzte und Schulmediziner ganz verkehrt ist, wenn man krank ist, ja, das geht einfach nicht, weil sonst kommt man in so einem System nicht klar, man braucht Verbündete, und da muss man sich einen suchen, der einem sympathisch ist und irgendwie kompetent erscheint, anders kommt man da nicht über die Runden, man muss eine persönliche Beziehung zu einem Arzt aufbauen, weil sonst bist du nur anonym dort und du brauchst eigentlich einen Mitstreiter in diesen Systemen und ich denke, es gibt viele Ärzte, die auch selber was wollen, die selber unglücklich sind teilweise durch diese ganze Maschinerie und so und da findet man immer irgendeinen, irgendeinen findet man immer, mit dem man einigermaßen kann, und wenn nicht, dann muss man gehen und woanders suchen, ja.“ (Int 8, S. 50)
Barbara Nibur vertritt die Ansicht, dass man als chronisch kranker Mensch Ärzte als Verbündete braucht, um in dem medizinischen System „klarzukommen“. Ohne eine persönliche Beziehung zu dem behandelnden Arzt bleibt man anonym in dieser „Maschinerie“. Es geht also darum, die passenden Mitstreiter zu finden, was allerdings einige komplexere Fähigkeiten erfordert. Hierzu zählt beispielsweise die Fähigkeit, die fachliche Kompetenz des Arztes zu bewerten, eine gewisse soziale Kompetenz und das Vermögen, eine unbefriedigende Beziehung zu einem Arzt abzubrechen und einen anderen Arzt zu suchen, der als „Mitstreiter“ tauglich ist. Barbara Nibur betont die Bedeutung einer grundsätzlichen Akzeptanz des schulmedizinischen Systems, auf das man als chronisch erkrankter Mensch angewiesen ist, innerhalb des Systems sieht sie jedoch Gestaltungsspielraum. Sie stellt „diese ganze Maschinerie“ des organisierten medizinischen Systems in Opposition zu Ärzten, „die auch selber was wollen“ und die in einer rein funktionalen Ausübung ihrer Tätigkeit „unglücklich“ sind. Sie geht davon aus, dass es solche Ärzte immer gibt und aus dieser Sichtweise leitet sie die Sicherheit ab, dass es möglich ist, einen passenden Arzt zu finden. Die für sie charakteristische Strategie der Alternative, die auch in diesem Abschnitt zum Ausdruck kommt, beinhaltet, zwar die Probleme und deren Ausformungen und Hintergründe zu sehen, aber auch immer die möglichen Ausnahmen und Alternativen zu fokussieren und dadurch handlungsfähig zu bleiben. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient kann also in verschiedener Weise durch Menschen und Organisationsstrukturen definiert sein. Um das Arzt-Patientenverhältnis als „Beziehung von Verbündeten“ mitgestalten zu können und den Arzt als „Mitstreiter“ im Kampf mit einem Problem zu gewinnen, muss der erkrankte Mensch über gewisse Potenziale verfügen, die er in den Orientierungs- und Entscheidungsprozessen und in der Interaktion mit den medizinischen Fachkräften zum Einsatz bringen kann. Neben den Beziehungen zwischen den Patienten und dem medizinischen Personal entwickeln sich auch Beziehungen unter den Patienten in den Bereichen, in denen sich chronisch Kranke immer wieder begegnen. Bestimmte Krankheiten erfordern einen regelmäßigen, zeitlich umfassenden Aufenthalt im medizinischen System. So hat das Angewiesensein auf die Dialyse zur Folge, dass die in der Regel immer gleich eingeteilten Betroffenen drei Mal in der Woche in einem Raum jeweils rund fünf Stunden gemeinsam verbrin-
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gen. Auch durch einen intensiven Kontakt innerhalb eines zeitlich begrenzten Zeitrahmens mit bedeutsamen Erfahrungen, wie das beispielsweise bei Transplantierten der Fall ist, können Beziehungen entstehen. Barbara Nibur bezieht sich in folgendem Textausschnitt auf diesen Aspekt. „Ich denke, was bei so chronisch kranken Situationen wie jetzt hier, wo man sich ständig begegnet, auch das Zwischenmenschliche zwischen den Patienten wichtig ist, das ist mir so aufgefallen im Unterschied zur Hautklinik, wo ich denke, da sieht man sich, dann geht man wieder und es ist eigentlich nix, ja, aber dort [in der Nephrologie A. d. A.] ist schon sehr viel Verbundenheit, man sieht sich ja ganz viel als Patient, alle zwei, drei, vier Wochen rennst du dir über den Weg, mindestens, wenn du in die Klinik kommst, kennst du die Hälfte der Leute, die da rumhupfen und du kennst die Ärzte, die Schwestern, die Strukturen, du bist eigentlich ein Teil von einem System, und da ist schon viel Austausch, sagen wir mal ausgesprochenes oder nicht ausgesprochenes Wissen, was irgendwie dem anderen grade passiert oder was für Probleme es geben kann und so, und auch, ja, vielleicht auch da und dort ausgesprochen oder nicht ausgesprochen Unterstützung und auch das Erleben von Unterstützung dadurch, oder durch irgendwelche Sätze oder Worte, oder dass zum Beispiel gerade bei den Transplantierten, die gleichzeitig transplantiert wurden, ganz viele kennen sich über Jahre hinweg dann und halten Kontakt und wie geht’s dir und hin und her, so, die gleichzeitig auf Station waren, das ist wie so ein eingeschworenes Ding, da kommt immer mal einer dazu, dann stirbt wieder einer, aber, ja (lacht) + + ja, das ist seltsam, aber so ist das, ein ganz anderes Leben führt man da noch mal, eines der vielen Nebenleben (lacht) führt man da, dort zumindest als chronisch Kranker.“ (Int 8, S. 60f.)
In der Passage wird deutlich, dass die Beziehungen zwischen den chronisch erkrankten Menschen sowohl über die gemeinsam verbrachte Zeit als auch über die geteilten Erfahrungen entstehen. Es findet ein Austausch unter Gleichen und eine ausgesprochene und auch unausgesprochene Unterstützung statt. Im Laufe der Zeit sammeln Patienten Wissen über die gesundheitliche Situation der anderen, über deren Krankheitsverläufe und Krisen und nehmen so wechselseitig am Lebensweg der anderen teil. Dieses Wissen betrifft oftmals sehr persönliche Bereiche und wird, worauf der Begriff „Nebenwelt“ unter anderem hinweist, nicht mit vielen Menschen in der gesunden Welt geteilt. Über die gemeinsamen und teilweise existenziellen Erfahrungen entsteht eine besondere Verbundenheit zu anderen Betroffenen und eine eigene Gemeinschaft oder mit den Worten von Barbara Nibur „ein eingeschworenes Ding“. In dieser Gemeinschaft gibt es spezifische Kommunikationsformen, über die auf eine verbale oder nonverbale Weise Unterstützung, gegenseitiges Erkennen und Mitgefühl vermittelt werden. Von der Qualität der jeweiligen Arzt-Patienten-Beziehung und der Beziehungen der Patienten untereinander hängt es ab, in wieweit diese Beziehungen als unterstützend oder auch als problematisch erfahren werden und spielen eine entsprechende Rolle bei der Bewältigung der Erkrankung in der alltäglichen Lebensführung. Für die Lebensorientierung ist der professionelle medizinische Bereich bei zwei Interviewpartnern bedeutsam, bei denen er eine berufliche Rolle spielt. Für Wanda Haupt, die bereits seit frühster Kindheit nierenkrank ist, „war immer schon klar“ (Int 22, S. 3), dass sie im Bereich der professionellen medizinischen Versorgung z. B. als Krankenschwester arbeiten wollte, weil sie, wie sie begründet, immer nur mit dem Metier zu tun hatte. Diese für sie klare Lebensorientierung setzt sie trotz verschiedener Probleme und Widerstände um, sodass sie schließlich auf der einen Seite Patientin ist und auf der anderen Seite dem medizinischen Personal angehört. In konträrer Weise verläuft die Entwicklung bei Paul Adams. Er ist als Heilpraktiker Teil des
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Empirische Ergebnisse
professionellen alternativ-medizinischen Systems. Die damit verbundene Lebensorientierung und das berufliche Selbstverständnis werden durch die eigene Multiple-SkleroseErkrankung umfassend in Frage gestellt. Bisher in der Rolle des wissenden und heilenden Professionellen findet er sich nun auf der Patientenseite wieder. Diese neue Perspektive und die Reaktion anderer Heilpraktiker auf ihn sowie die schnell fortschreitende Erkrankung verändern seine Lebensorientierung in bedeutsamer Weise.
3.3.4.3 Soziale Unterstützung und Isolation Viele der Befragten fühlen sich durch den Kontakt zu anderen Menschen in ihrer schwierigen Lage unterstützt. Darüber hinaus schildern einige Interviewpartner die Erfahrung von Isolation als problematisch, was die Bedeutung der sozialen Unterstützung im Bewältigungsprozess unterstreicht. Sowohl die Qualität als auch die Zahl und Vielfältigkeit der sozialen Beziehungen zu Menschen in verschiedenen Lebensbereichen treten dabei als bedeutsam hervor. Die wichtigsten Beziehungen sind hierbei diejenigen zum Partner oder zur Partnerin, zu Familienangehörigen oder zu Freunden. Darüber hinaus werden auch Kontakte im Arbeitsbereich als Unterstützung erlebt. Ebenfalls ist für einige Befragte die Unterstützung hilfreich, die sie im Austausch mit anderen von Krankheit betroffenen Menschen beispielsweise in Selbsthilfegruppen erfahren. Neben der Möglichkeit, Informationen über die Erkrankung, über Therapiemethoden oder andere Hilfen auszutauschen und sich gemeinsam für bestimmte Themen einzusetzen, findet dort auch eine Normalisierung des vom normalen Gesunden abweichenden Kranken statt, da die meisten der Kontaktpersonen in einer Selbsthilfegruppe ebenfalls von der Erkrankung betroffen sind. Krankheit kann in diesem Rahmen als kollektives Problem und deren Bewältigung als kollektive Aufgabe gesehen werden, an der in verschiedener Intensität mitgearbeitet werden kann. Ein Kontakt zu einer Selbsthilfegruppierung ist jedoch nur für einige der Befragten langfristig hilfreich, für andere ist er lediglich über eine gewisse Zeitspanne hinweg oder auch gar nicht interessant. Neben anderen Gründen kann hierbei eine Rolle spielen, dass die Konzentration auf das Thema Krankheit in einer solchen Gruppierung oder der Kontakt mit anderen erkrankten Personen, die teilweise schon fortgeschrittenere Stadien der Erkrankung erreicht haben, als belastend wahrgenommen wird. Schließlich ist auch im Bereich der professionellen Krankheitsbewältigung die Qualität der Beziehung entscheidend. Hier geht es beispielsweise um die Frage, zu welchem Arzt eine Vertrauensbeziehung aufgebaut werden kann oder darum, bei welchem Krankengymnasten sich ein Hilfesuchender gut behandelt fühlt. In diesen Bereich gehören auch die Kontakte zu Menschen, die verschiedene alternative Heilmethoden anwenden und von Interviewpartnern als Unterstützung erfahren werden. Bestehendes soziales Kapital wie auch die Fähigkeit, Beziehungen anknüpfen und ausbauen zu können sind Faktoren, die sich begünstigend auf die Bewältigung auswirken. Durch sie können Möglichkeiten der sozialen Unterstützung aktiv genutzt werden. In folgendem Abschnitt wird von Jelka Uhl mit der Metapher des Netzknüpfens eine Umgangsweise beschrieben, die auf die aktive Herstellung von sozialer Unterstützung abzielt. „Ein Netz aufbauen, das heißt also, dass meine Stabilität nicht an einem einzigen Faden hängt, sondern dass ich ein ganzes Netz habe und wenn da ein was reißt, dass es immer noch hält, ja, dass ich, also ich habe gute Eltern, ich habe einen guten Mann, ich habe ein gutes Umfeld, ich habe geschaut, dass ich mir vernünftige Therapeuten anschaffe, dass ich mit meinem
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Arzt, mit meiner Krankengymnastik mit den Leuten gut zurande komme, dass meine, ja, meine finanziellen Verhältnisse einigermaßen gesichert sind.“ (Int 7, S. 55f.)
Für Jelka Uhl ist eine persönliche Stabilität eng an die Beziehungen zu anderen geknüpft, die in dem Bild des Netzes als Fäden enthalten sind. Dieses Bild entfaltet sich vor dem Vergleichshorizont des Unverbundenseins oder der Isolation, ebenfalls bildhaft ausgedrückt in der Vorstellung, nur an einem einzelnen Faden zu hängen, der reißen könnte. Wenn dieser Faden reißt, so kann man schließen, ist nichts mehr vorhanden, das Stabilität schaffen könnte und es folgt der freie Fall ins Nichts. Während ein einzelner Faden keine gute Absicherung darstellt, bietet ein „ganzes Netz“ mit einer Fülle von Strängen eine gute Voraussetzung für die eigene Stabilität, was Jelka Uhl beispielhaft an ihrem eigenen Beziehungsnetz verdeutlicht. Die Passage verweist auf eine komplexe Strategie einer gemeinsamen Bewältigung, in der die zu tragende Last auf verschiedene Schultern verteilt werden kann. Bewältigung wird hier gesehen als eine aktiv verfolgte persönliche Strategie und zugleich als eine mit anderen geteilte Aufgabe, die gemeinschaftlich gelöst werden muss. Jelka Uhl gibt mit der Metapher des Netzes ein Beispiel für eine gelungene Bewältigung, das als Zielbild für Betroffene und zugleich als Strategie einer multifaktoriellen Absicherung dienen kann. Dieses aktive Aufbauen eines Netzes setzt allerdings einige biographische Potenziale voraus, angefangen von der Fähigkeit, tragfähige Beziehungen zu führen, über das Vorhandensein von Urteils- und Entscheidungskompetenz bis hin zu entsprechenden materiellen Bedingungen, die über das soziale Umfeld oder durch einen eigenen guten Bildungsund Berufsstatus gegeben sein müssen, um eine entsprechende finanzielle Absicherung zu ermöglichen. Im Kontrast zu der Bewältigung mit Hilfe eines sozialen Netzes in dem oben angeführten Beispiel steht die Erfahrung von Isolation und der damit verbundenen Belastung, die Klaus Melzer schildert, als er in einer problematischen Lage nicht auf soziale Unterstützung zurückgreifen kann. „Mit dieser Abkapselung, das hat bei mir so ein Gefühl genährt, dass meine Probleme immer schwerer werden und mich immer mehr belasten, sodass ich eigentlich, ich hatte immer das Gefühl, ja so 30 Jahre werde ich nicht alt, das schaffe ich nicht, also davor werde ich zerbrechen oder so alt werde ich nicht, weil ich einfach keine Möglichkeit habe, mich irgendwo zu entlasten.“ (Int 5, S. 18)
Mit dem Bild der Abkapselung beschreibt Klaus Melzer sich als eine von der Umwelt getrennte Person, von der aus und zu der hin keine Verbindungen zur Außenwelt bestehen. Die Last kann nicht wie bei Jelka Uhl mit Hilfe eines Netzes geteilt und kollektiv bewältigt werden, sondern sie ist ihm allein aufgebürdet. Er schildert das Gefühl, dass seine Probleme immer schwerer werden und ihn schließlich erdrücken könnten, da durch die fehlenden Verbindungen nach außen keine Entlastung stattfinden kann. Während Klaus Melzer den Vorgang des Sich-Isolierens als Wesenszug beschreibt, der aus seinem Inneren entspringt und dadurch zumindest teilweise aktiv vollzogen wird, schildert Margarethe Ries einen Prozess des Isoliert-Werdens, in dem verschiedene Personen sich von ihr zurückziehen oder sie Kontakte aufgeben muss, da sie äußere Barrieren nicht mehr selbstständig überwinden kann. Sie schildert die fremdbestimmte Erfahrung des Erleidens der Isolation als Folge ihrer fortschreitenden Erkrankung.
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Diese beiden Metaphern, „das dichte Netz“ und „die Abkapselung“, sind als zwei Pole eines Kontinuums von sozialer Unterstützung vorstellbar. Die Position eines Erkrankten auf diesem Kontinuum verdeutlicht, in welchem Maße er im Bewältigungsprozess auf soziale Unterstützung zurückgreifen kann, um die für ihn bedeutsamen Lebensorientierungen weiter zu führen oder neu zu ordnen und um seinen Alltag zu bewältigen.
3.3.4.4 Soziale Wahrnehmung und Stigmatisierung Durch die Erkrankung sind die Interviewpartner damit konfrontiert, dass andere sie als krank wahrnehmen oder wahrnehmen könnten. Daraus entstehen Interaktionen, die das Kranksein und dessen Bedeutung zum Thema haben. Verschiedene Krankheiten treten durch unterschiedliche Anzeichen nach außen. In welcher Weise die Erkrankung für die Umwelt erfahrbar ist, hat einen Einfluss auf die Interaktion zwischen der erkrankten Person und den Personen im Umfeld. Manche Erkrankungen sind von außen deutlich wahrzunehmen und eindeutig als krank identifizierbar, andere äußern sich in einem von der Normalität abweichenden Verhalten, das auffällig, aber nicht eindeutig als krank identifizierbar ist und daher einen Spielraum für Missdeutungen lässt. Darüber hinaus gibt es Erkrankungen, die für andere nicht erkennbar sind. Diese Unterschiede sind sowohl durch die Art und Schwere der Erkrankung bestimmt als auch durch den Verlauf der Krankheit über die Zeit. Die angesprochenen Formen der Wahrnehmung von Krankheit sollen nun beleuchtet werden. Wenn eine Krankheit durch bestimmte Zeichen für andere offensichtlich ist, muss die erkrankte Person sich mit den Reaktionen und Zuschreibungen des Umfeldes permanent auseinandersetzen. Jelka Uhl beklagt das beispielsweise in ihrer Erzählung als den Verlust der Möglichkeit, anonym zu sein. Sie benutzt zur Fortbewegung ein Elektrofahrzeug, das für andere ein auffälliges Zeichen darstellt und signalisiert, dass sie nicht mehr gehen kann. Sie ist dadurch nicht mehr ein Teil der anonymen Masse, sondern wird von anderen „ununterbrochen“ (Int 7, S. 31) wahrgenommen. Diese permanente Öffentlichkeit ist immer verbunden mit ihrer Krankheit, sie ist also ständiger Adressat von auf die Krankheit bezogenen Reaktionen und damit verbundenen Zuschreibungen und muss sich dazu verhalten. Wenn sie für sich sein und nicht als besonders wahrgenommen werden will, zieht sie sich nach Hause zurück. In ihrem Fall wird die soziale Identität in bedeutsamer Weise von der Erkrankung bestimmt, denn die Krankheit wird von anderen als zentraler Teil ihrer Person wahrgenommen. Andere Aspekte der Person werden von der sichtbaren Erkrankung zunächst überlagert. Durch das Stigma der Krankheit erfährt der erkrankte Mensch eine Besonderung, die ihn von der Zugehörigkeit zu der Welt der Gesunden ausschließt. Auf diesen Aspekt der Zugehörigkeit zu der Welt der Gesunden oder das Ausgeschlossensein aus dieser Welt wird im folgenden Kapitel noch ausführlicher eingegangen. Ebenso können Krankheitszeichen auch wahrgenommen, aber nicht als solche erkannt, sondern in einer anderen Weise interpretiert werden. Die wiederholte Erfahrung solcher Missdeutungen schildert Sven Herbig, der wegen der Störung seines Gleichgewichtssinnes einen torkelnden Gang hat, der für andere nicht eindeutig als Krankheitszeichen zu erkennen ist und stattdessen häufig als Alkoholrausch gedeutet wird. In einem solchen Fall beziehen sich die Zuschreibungen und Reaktionen der anderen nicht auf die Realität des erkrankten Menschen, sondern sie stigmatisieren ihn in einem völlig anderen Zusammenhang. Diese (Miss-)Deutungen der anderen führen bei dem erkrankten Menschen zu der
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Erfahrung, in verschiedenen Welten zu leben. Die Trennung erfolgt hier durch die mit der jeweiligen Interpretation verbundene Zuschreibung und durch das Unverständnis der Gesunden für die Lage des Erkrankten. Die Zuschreibungen sind überwiegend mit Abwertung verbunden und kaum mit Verständnis oder Hilfeleistung. Derartige Erlebnisse und die Erfahrung, das eindeutige Krankheitszeichen andere eher veranlassen zu helfen, führen bei Sven Herbig dazu, dass er mit solchen Zeichen aktiv operiert. Er erzählt, dass er zeitweise eine Blindenbinde, einen Stock oder andere für die meisten Menschen eindeutig lesbare Zeichen benutzt, um eine Krankheit zu signalisieren, auch wenn seine Symptomatik keinen Bezug zu dem verwendeten Zeichen aufweist. So wird ihm mit einer Blindenbinde beispielsweise eher beim Überqueren einer Straße geholfen. Seine Idee, ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich bin behindert“ zu tragen, hat er wieder verworfen, da das seiner Ansicht nach eher als Scherz aufgefasst werden würde. Wenn die Krankheit für andere nicht wahrnehmbar ist, ist es für den erkrankten Menschen möglich zu kontrollieren, wer welche Information über die Erkrankung erhält. Es stellt sich für ihn die Frage, wen er wann darüber informiert bzw. nicht informiert. In folgender Passage bezieht sich Barbara Nibur auf diesen Aspekt in der Beziehung zu anderen. „In vielen Ausbildungsgruppen oder therapeutischen Gruppen oder sonst wo habe ich noch Probleme gehabt, wann „oute“ ich mich in Anführungszeichen, ich wollte eben immer nicht, dass die Leute mich nur unter diesem Krankheitsaspekt jetzt sehen, sondern mich irgendwie erst anders kennen lernen und dann erst und so, ja, und dann konnte ich aber wieder manches nicht mitmachen, was die so da getrieben haben und musste mich irgendwie erklären oder außen drum rum winden oder sonstige Probleme oder irgendwas vorschützen (lacht), wenn ich mich nicht äußern wollte.“ (Int 8, S. 12f.)
Die Erkrankung von Barbara Nibur ist für andere nicht sichtbar, äußert sich jedoch unter anderem darin, dass sie an bestimmten Aktivitäten nicht teilnehmen kann. Die Erzählerin kann und muss entscheiden, ob sie andere über ihre Krankheit informiert um ihre verhinderte Teilnahme zu erklären, oder diese Information für sich behält und andere Gründe vorschützt. Hintergrund dieser Geheimhaltung ist die Kontrolle ihrer sozialen Identität und der damit verbundenen Interaktionen. Barbara Nibur präsentiert absichtsvoll zuerst andere Anteile von sich und lenkt so das Bild, das sich andere von ihr machen, in eine von ihr bevorzugte Richtung. Auf diese Weise verhindert sie, nur unter dem Krankheitsaspekt wahrgenommen und bei einer nächsten Begegnung überwiegend unter diesem Aspekt erinnert zu werden. Die Interaktionen mit anderen beziehen sich so auf die von ihr präsentierten Themenbereiche und nicht auf ihre Erkrankung. Diese bewusste Informationskontrolle beinhaltet ebenfalls eine Trennung. Ein bedeutsamer Aspekt der Person wird verborgen, um die normale, nicht von der Erkrankung bestimmte Beziehung zu anderen aufrecht zu erhalten. Zugleich verweist diese Strategie auf den großen Raum, den eine Krankheit in der sozialen Identität einnimmt. Wenn ein Mensch sichtbar erkrankt ist oder andere von seiner Krankheit wissen, muss er sich mit Zuschreibungen, Erwartungen und Gefühlen verschiedenster Art auseinandersetzen, die ihm im Zusammenhang mit der Erkrankung entgegengebracht werden. Zuschreibungen können sich beispielsweise auf Eigenschaften oder Verhaltensgewohnheiten, aber auch auf vorhandene oder nicht vorhandene Kompetenzen beziehen und sich dann unter Umständen auf Chancen im Berufsleben auswirken. Im folgenden Beispiel schildert
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Stefanie Eckert, die als Journalistin arbeitet und schwerhörig ist, den Umgang mit ihrer Schwerhörigkeit im Arbeitsbereich im Hinblick auf den letztgenannten Aspekt. „Ich hab so Filmsynchronisation gemacht wo ich die Sprachaufnahme betreuen musste, hat total Spaß gemacht, professionelle Sprecher sprechen meinen Text und es klingt supergut und war eine ganz tolle Zusammenarbeit, der Techniker macht sowieso alles alleine, bloß nicht dem dreinreden, sonst ist er sowieso sauer, aber manchmal hab ich halt schon gedacht, Mensch, ich habe das nicht gehört, dass das jetzt gepfiffen hat, das ist dann peinlich, weil eigentlich muss ich dann sagen, hey, das machen wir noch mal, da war ein Plop drin (...) das war bei mir immer ein Einfaches zu sagen, ich habe eh keine Ahnung, aber ich habe dem niemals gesagt, du, äh, ich höre schlecht, ich habe ein Hörgerät drin, das hätte ich mich nie im Leben getraut, weil ich dann immer gedacht hätte, spricht sich rum und dann bist du da irgendwie nicht mehr so willkommen also da habe ich...“ >I: „Ach, das weiß dann gar keiner dort?“@ „Nein, das habe ich in der Arbeit immer verheimlicht, also grade Tonaufnahmen, da würde ich mir ja lieber den Mund verbrennen, als zu sagen, Leute, ich habe ein Hörgerät, weil, da würde ich Nachteile fürchten.“ (Int 14, S. 10)
Während es für Stefanie Eckert einfach und unproblematisch ist, bei Tonaufnahmen zu sagen, in diesem Bereich „eh keine Ahnung“ zu haben und auf die Kompetenz des Technikers zu setzen, ist es für sie nicht vorstellbar, ihre Schwerhörigkeit zu offenbaren. Mit den Formulierungen sie hätte sich „nie im Leben getraut“ und sie würde sich „lieber den Mund verbrennen“ als andere über ihre Schwerhörigkeit zu informieren, macht sie deutlich, wie sicher sie mit negativen Zuschreibungen bezüglich ihrer Kompetenz rechnet und als Folge davon berufliche Nachteile fürchtet. Sie bezieht ihre Geheimhaltung besonders auf den Tonbereich, in dem ihr Verlust durch die Schwerhörigkeit stark zum Tragen kommt, aber auch darüber hinaus auf ihren gesamten Arbeitsbereich. Sie hat Strategien entwickelt, ihre Schwerhörigkeit zu kompensieren, die sie an anderer Stelle mit dem Verhalten von Analphabeten vergleicht, die sich den nicht verstandenen Teil erschließen müssen, ohne dass es anderen auffällt. Während also ihre tatsächliche Schwerhörigkeit für sie persönlich kein Problem bzw. ein beherrschbares Problem bei ihrer Arbeit darstellt, wäre aus ihrer Sicht das Wissen der anderen um ihre Schwerhörigkeit mit einer erheblichen Problematik und schlechteren Chancen im Berufsleben verbunden, die sie durch das Geheimhalten ihrer Einschränkung zu vermeiden sucht. Mit der Rolle des Kranken und den entsprechenden Zuschreibungen sind verschiedene Verhaltenserwartungen verbunden. Im Zusammenhang mit ihrem gesellschaftspolitischen Engagement ist Jelka Uhl in besonderer Weise damit konfrontiert, welche Bilder von kranken und behinderten Menschen in einer Gesellschaft vorhanden sind und mit welchen Verhaltenserwartungen dieser Gruppe begegnet wird. „Da hab ich a weng giftiges Schreiben losgelassen, das merke ich zum Teil gar nicht mehr so (lacht), wenn die etwas scharf in der Formulierung sind, aber dann kommt es mir auch wieder, man erwartet in dem Bereich, ja, eine zurückhalterende und eine weichere Art und Weise zu formulieren und wenn man genau so knallhart, genauso formuliert wie jede andere Interessengruppe auch, dann stößt das teilweise immer noch auf Befremden, verstehen sie, man erwartet im Bereich von kranken oder körperbehinderten Menschen immer noch ein bisschen mehr ein Zurücktreten und nicht, sagen wir mal, wenn man es so formulieren will, ein wirklich knallhar-
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tes, selbstbewusstes Auftreten, so immer noch so ein bisschen, seid doch froh, wenn ihr die Krümel habt, die von der Herren Tische fallen, seid doch froh, wenn ihr beim Rathaus hinten reinkommt, da ist doch ein ebenerdiger Eingang, dass man da also wirklich, ich möchte mal sehen, wenn die irgendeinen ihrer hochgestellten Persönlichkeiten einladen ins Rathaus und die müssten den erst einmal außenrum durch die Hintertüre führen, wie sie sich dabei fühlen würden, aber in dem Bereich wird es als selbstverständlich angenommen, dass ich darüber auch noch froh bin, nee, ich bin es eben nicht, und das passt nicht ganz in des Bild, was da teilweise existiert, hm, und das kostet dann natürlich, das kostet halt Kraft, ja.“(Int 7, S. 30f.)
Jelka Uhl führt aus, dass von Kranken eher ein „Zurücktreten“ erwartet wird, jedoch kein „selbstbewusstes Auftreten“, das „Befremden“ auslöst. Kranke und behinderte Menschen sollten sich, wenn sie sich für ihre Interessen einsetzen, in einer weicheren, zurückhaltenderen Art zu Wort melden als Gesunde. Selbstbewusstes oder gar aggressives Auftreten von Vertretern dieser Interessensgruppe verstößt gegen unausgesprochene Verhaltenserwartungen von anderen Interessensgruppen. Hier wird deutlich, dass Vorstellungen über normales Verhalten je nach Zugehörigkeit zu einer Gruppe variieren. Während ein gesunder Mensch seine Interessen „knallhart“ vertreten darf, löst dieselbe Vorgehensweise eines Kranken Befremden aus und ruft eine hierarchische Sichtweise auf den Plan. Die verschiedenen Interessen werden nicht auf gleicher Ebene verhandelt. Die Gesunden sind diejenigen, die auf die Interessen der Kranken Rücksicht nehmen und erwarten daher ein zurückhaltendes Verhalten. Behinderte sollten „froh“ sein, so Jelka Uhls plakative Beschreibung des Stellenwerts dieser Bevölkerungsgruppe, „beim Rathaus hintenrum“ hineinzukommen. Jelka Uhl bezieht sich hier auf Erfahrungen in gesellschaftspolitischen Bereichen, aber auch in privaten Zusammenhängen werden ähnliche Verhaltenserwartungen über passendes und unpassendes Verhalten von ihr thematisiert. Jelka Uhl stellt das Bild der „aufmüpfigen und fordernden Behinderten“ dem der „zurückhaltenden und dankbaren Behinderten“ gegenüber. Sie macht auf diese Weise Zuschreibungen und damit verbundene Ungleichbehandlung deutlich, gegen die sie sich privat und gesellschaftspolitisch auflehnt. Die Wahrnehmung der Krankheit und deren Verlauf können bei gesunden Menschen verschiedene Gefühle auslösen, die von Mitleid über Hilflosigkeit bis hin zu eigenen Ängsten reichen können. Mit diesen Gefühlen müssen sich die erkrankten Menschen im Kontakt mit anderen auseinandersetzen und passende Umgangsformen finden. Barbara Nibur berichtet beispielsweise in diesem Zusammenhang, dass sie an ihrer Arbeitsstelle über Jahre hinweg nicht über den wechselhaften und sich tendenziell verschlechternden Verlauf ihrer Krankheit gesprochen hat, um nicht mit den Gefühlen der anderen umgehen zu müssen. „... und das war auch so eine Entscheidung in der Arbeit, ich habe das ja nie erzählt dort, ja, nie, die ganzen Jahre nicht, die wussten schon, dass ich krank bin, aber wenn jetzt ein Wert schlechter oder ein Wert besser oder sonst was geworden ist, nie, weil, das hätte mich echt behindert dort, dieses ganze Mitleiden der Menschen und diese Gefühle, die da alle hochkommen bei denen, hätte ich mich dann damit beschäftigen müssen, das hätte mich belastet, das war überhaupt nicht der Ort dafür.“ (Int 8, S. 22f.)
Hinsichtlich der Arbeitssituation entscheidet Barbara Nibur bewusst, ihre gesundheitliche Entwicklung zu verbergen. Im Unterschied zu Stefanie Eckert fürchtet sie jedoch keine Verringerung ihrer beruflichen Chancen durch abwertende Zuschreibungen, sondern fühlt sich durch die Gefühle der Mitarbeiter, mit denen sie sich sonst hätte auseinandersetzen müssen, in ihrer Arbeitsfähigkeit behindert. Pragmatisch befindet sie, dass der Arbeitsplatz
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nicht „der Ort dafür“ ist und handelt entsprechend. Mit der Kontrolle der Informationen beeinflusst sie gezielt die gefühlsbezogenen Themen in der Kommunikation mit ihren Kollegen und vermeidet so eine zusätzliche Belastung durch die emotionalen Reaktionen der anderen auf ihre Erkrankung. Voraussetzung bei der von Barbara Nibur beschriebenen Steuerung der emotionalen Reaktion auf ihre Krankheit ist es, dass die Erkrankung und deren Verlauf für andere nicht offensichtlich ist und daher die Entscheidung der Preisgabe von Information bei ihr liegt. Im Vergleich dazu hat Jelka Uhl diese Möglichkeit nicht, sie kann durch die für alle sichtbare Präsenz ihrer Erkrankung lediglich auf die damit verbundenen Emotionen der anderen reagieren oder sich aus einem Kontakt zurückziehen. Neben Anteil nehmenden Gefühlen kann die Wahrnehmung von Krankheit auch Ängste bei Gesunden auslösen. Der Träger der Krankheit verweist durch seine Betroffenheit auf eine unerwünschte und bedrohliche Lebenssituation, von der der Gesunde eines Tages selbst betroffen sein könnte und bedroht daher die Kontinuitätserwartung des Gesundseins. In diesem Fall wird er zu einem Symbol für Krankheit und dadurch zu einem ‚Botschafter des Schreckens’, auf den in verschiedener Weise reagiert wird. Eine Abwehr des Kranken, die Polarisierung in Bereiche von Gesundheit und Krankheit mit entsprechender Verortung und ungewollte oder übertriebene Hilfsangebote sind dabei Reaktionsformen von anderen, mit denen sich die erkrankte Person wiederum auseinandersetzen muss. Schließlich wird von den Interviewpartnern neben der Wahrnehmung und Missdeutung noch eine fehlende Wahrnehmung des Vorhandenseins einer Erkrankung oder von Einschränkungen beschrieben. Entweder werden Krankheitszeichen nicht registriert oder aber sie werden zwar wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung für den erkrankten Menschen in der alltäglichen Lebensführung nicht erfasst. Ein Beispiel dafür sind verschiedene Erfahrungen, von denen Sven Herbig im Zusammenhang mit seinem Behindertenparkplatz berichtet, auf dem andere Menschen immer wieder ihre Autos abstellen, da sie die Markierungen nicht gesehen haben oder „nur mal kurz“ parken wollen. Wiederholt gerät er in Konflikte mit ihnen und muss sein Recht auf diesen Parkplatz einfordern. Er beklagt die Gedankenlosigkeit und Rücksichtslosigkeit von Gesunden, die sich nicht in die Lage von gehbehinderten Menschen hineinversetzen können oder wollen. Das beschriebene Unverständnis von Gesunden weist darauf hin, dass einige von ihnen die Welt und die Lebensbedingungen von Kranken nicht wahrnehmen oder nicht in ihrer Reichweite erfassen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die auf die Erkrankung bezogene soziale Wahrnehmung und Stigmatisierung eine Auseinandersetzung oder Reaktion von der erkrankten Person erfordern. Sie können sich beispielsweise durch die mit einer bestimmten Zuschreibung verbundene Verringerung von Chancen auf bedeutsame Lebensorientierungen auswirken und in unterschiedlicher Weise die alltägliche Lebensführung beeinflussen. Neben anderen Bewältigungsleistungen ist auch Arbeit nötig, um die soziale Identität zu steuern, um beispielsweise nicht nur als krank und hilfsbedürftig, sondern auch als kompetent und leistungsfähig wahrgenommen zu werden. Die Bedeutung der Krankheit und mit ihr verbundene Emotionen müssen in den unterschiedlichen Beziehungen zu anderen bearbeitet werden. Hier wird deutlich, dass die Bewältigung eines Lebens mit einer Erkrankung in einem erheblichen Umfang die soziale Dimension betrifft.
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3.3.4.5 Zugehörigkeit zu der Welt der Gesunden oder zu der Welt der Kranken In den bisherigen Ausführungen ist bereits verschiedentlich deutlich geworden, dass in den Erzählungen der Interviewpartner zwei konträre Bezugsrahmen zutage treten, in denen Menschen sich selbst verorten und von anderen verortet werden. Dieser für eine Ausrichtung bedeutsame Aspekt soll daher noch einmal gesondert dargestellt werden. Einer der beiden Bezugsrahmen ist mit Gesundheit und Normalität verbunden und die individuellen und kollektiven Vorstellungen und Strukturen im alltäglichen Leben richten sich überwiegend nach ihm aus. Das betrifft die Arbeitsplatzorganisation und die Arbeitszeit ebenso wie Vorstellungen über den Lebensverlauf oder Verhaltenserwartungen an sich oder an andere. Dieser Bezugsrahmen wird hier als die „Welt der Gesunden“ bezeichnet. Für die Mehrheit der Gesellschaft stellt dieser Bezugsrahmen die Normalität dar. Der andere Bezugsrahmen ist mit Krankheit und der Abweichung vom Normalen verbunden. Er beinhaltet beispielsweise Wissen über Krankheiten und deren Verläufe in unterschiedlichem Differenzierungsgrad und Erfahrungen über das Leben mit einer Krankheit in den verschiedenen Lebensbereichen. Dieser Bezugsrahmen wird hier als die „Welt der Kranken“ bezeichnet. Vorstellungen über die Rolle als Kranker und damit verbundene Verhaltenserwartungen gestalten diese Welt mit. In der Regel identifiziert sich ein Mensch, solange er gesund ist oder auch wenn er kurzzeitig akut erkrankt und dabei eine positive Heilungsprognose hat, mit der auf Gesundheit bezogenen normalen Welt und mit den entsprechenden Zuschreibungen und Orientierungsmustern hier. Mit der chronischen Erkrankung verändert sich für einige der Interviewpartner die Perspektive auf die Welt. Nun zu der Welt der Kranken gehörig blicken sie von der anderen Seite auf die vormals geteilte Welt der Gesunden, aus der sie durch die veränderte Position ausgeschlossen sind. Die Erfahrung dieses Wechsels wird beispielsweise verglichen mit dem Gefühl, einem Film zuzuschauen, während man auf das Geschehen in der Welt blickt, die vor kurzem noch die eigene normale Wirklichkeit war. Während man zuvor noch im Geschehen als Mitspieler assoziiert war, schaut man nun von außerhalb auf eine Welt, zu der man nicht mehr in gleicher Weise wie vor der Erkrankung dazugehört. Das Vorhandensein der verschiedenen Welten findet seinen Ausdruck in entsprechenden Begrifflichkeiten. Manche Interviewpartner beschreiben beispielsweise, dass sie sich als Außenseiter fühlen, andere wieder bezeichnen Gesunde als „Außenstehende“ und als „Unwissende“. In einer Denkweise des entweder Gesund- oder Krankseins und einer Definition von Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit schließt die Zugehörigkeit zu einer Welt diejenige zu der jeweils anderen Welt aus. Dies spiegelt sich in einem inneren Konflikt der Selbstdefinition und Selbstverortung wider, der seinen Ausdruck in der Frage „Bin ich gesund oder bin ich krank?“ findet. Dieser Konflikt setzt sich nach außen fort, sobald die Umwelt von der Erkrankung erfährt bzw. diese für andere sichtbar wird. Auch hier zeigt sich häufig die gegensätzliche Positionierung der beiden Welten in einem Entweder-Oder. Die Anwesenheit von Krankheit und ihren Zeichen ist eine von der gesunden Welt abweichende Erfahrung, sie ist in unserer Gesellschaft nicht normal und verändert die bisher als normal erfahrene Interaktion mit anderen. Die Identität als Kranker steht nun im Vordergrund der sozialen Wahrnehmung, denn die Wahrnehmbarkeit der Erkrankung überstrahlt andere Aspekte der Identität. Die vormals vorhandene Verhaltenssicherheit, die durch einen gemeinsamen Bezug auf die Welt der Gesunden bestand, ist auf beiden Seiten verunsichert
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und führt zu verschiedenen Strategien im Umgang miteinander, um diese Sicherheit auf einer oder auf beiden Seiten wieder herzustellen. Der Wechsel von einer Verortung in der Welt der Gesunden zu einer Verortung in der Welt der Kranken und einem dadurch veränderten Selbst- und Fremdbild wird beispielsweise in folgender Passage deutlich: „Am Anfang meiner Diagnose, kurz danach, da hat so eine Freundin zu mir gesagt, da war ich so perplex, da sieht man auch, was für ein Bild da teilweise bei Gesunden irgendwo da ist, du bist ja genau so wie du immer bist, als hätte sich da irgendwas bei mir verändern müssen und die Leute stellen auch fest, ja, ich bin immer noch genau so im Prinzip, wie ich immer war, aber das ist jetzt nicht nur bei anderen so, das hat mich bei mir selber gewundert, verstehen sie.“ (Int 7, S. 46)
Jelka Uhl schildert hier auf der einen Seite die Verwunderung ihrer Freundin darüber, dass sie mit der Erkrankung noch „genau so wie immer“ ist und nicht der Erwartung entspricht, durch die Erkrankung anders zu sein. Die Verwunderung macht für sie deutlich, dass bei Gesunden bestimmte Bilder, Vorstellungen und Zuschreibungen des Andersseins mit Krankheit verknüpft sind, die zu einer Ausgrenzung aus der bisher normalen Welt führen. Auf der anderen Seite bringt Jelka Uhl zum Ausdruck, dass auch sie selbst verwundert ist, „im Prinzip“ immer noch genauso zu sein wie zuvor. Durch die eigene Verwunderung werden ihr ihre eigenen Vorstellungen im Zusammenhang mit Krankheit bewusst. Diese Denkmuster und die damit verbundene Erwartung einer veränderten persönlichen und sozialen Identität werden in diesem Fall erkannt, da sie der tatsächlichen Erfahrung des Gleichbleibens widersprechen und dieser Kontrast reflektiert wird. Die Passage zeigt die mit einer Erkrankung verbundenen Zuschreibungen und den Wechsel des Bezugsrahmens auf, denn die Krankheit tritt nun als bestimmende Größe in den Vordergrund der Erwartungen. Darüber hinaus wird in ihr deutlich, dass neben dem „oder“ auch ein „und“ existiert. Jelka Uhl erlebt sich anders und gleich, andere nehmen sie anders und gleich wahr. In einer anderen Weise erlebt Paul Adams das Vorhandensein der Welten und den Wechsel der Zugehörigkeit. Durch seine Tätigkeit als Heilpraktiker ist er umfassend und regelmäßig mit Krankheit und mit kranken Menschen konfrontiert. Als er selbst erkrankt, wird ihm durch seine veränderte Position eine Zweiteilung in eine Welt der Gesunden und eine Welt der Kranken bewusst. Während Paul Adams als Heilpraktiker zuvor in der Welt der Gesunden verortet war, gehören die Kranken einer anderen Welt an. Diese Polarität, bei der, wie er ironisch formuliert, auf der einen Seite der kranke „arme Tropf“’, ein „hilfesuchendes Nichts“ (Int 6, S. 30) und auf der anderen der wissende, helfende Heiler steht, erfährt er sowohl in der Auseinandersetzung mit eigenen Denkmustern als auch durch Reaktionen von anderen. Er ist zwar in einem Heilberuf tätig und so bereits lange mit dem Thema Krankheit befasst, doch erst durch die eigene Erkrankung nimmt er die bestehende Kluft zwischen den Welten und die Abwertung und Ausgrenzung der Kranken wahr. Der beschriebene Positionswechsel von der Seite der Gesunden auf die der Kranken kann sowohl eine Eingrenzung als auch eine zwangsweise Erweiterung sein, eine Welt neu zu erfahren, die man vorher kaum betreten hatte und nur von weitem und oft klischeehaft kannte. Die Frage der Zugehörigkeit zu den beschriebenen Welten dehnt sich auch auf nahe Angehörige aus, die auf der einen Seite zur Welt der Gesunden und auf der anderen Seite über den Erkrankten mit der Welt der Kranken eng verbunden sind. Auch sie müssen sich neu positionieren und eine Form finden, die verschiedenen Welten in ihrer Identität in Ba-
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lance zu halten. Dabei sind sie gezwungen, sich sowohl mit ihrer persönlichen Bewertung der Situation als auch mit den Zuschreibungen von anderen auseinanderzusetzen. Margarete Ries beispielsweise schildert diesen Aspekt für ihren Partner und in der Folge auch für sie als Problem, denn aus ihrer Sicht ist es für ihren Mann peinlich, mit ihr im Rollstuhl gesehen zu werden. Im Kontrast dazu beschreibt Jelka Uhl, dass ihr Mann darauf besteht, dass sie ihn im Rollstuhl bei seinen Betriebsausflügen begleitet und er auf diese Weise demonstrativ vor anderen zu ihr steht. Die beiden zunächst gegensätzlichen Beispiele offenbaren eine Gemeinsamkeit. Eine Partnerschaft mit einem Behinderten wird nicht als normal angesehen sondern fällt auf. Ein Partner mit einer Partnerin im Rollstuhl wird unter einem Blickwinkel betrachtet, der für den einen peinlich zu sein scheint und den anderen dazu bewegt, offensiv zu demonstrieren, zu der Partnerin zu stehen und sich so gegen andere Vorstellungen zur Wehr zu setzen. Beide Partner sind in einem gewissen Ausmaß durch die behinderte Partnerin ebenfalls von der normalen Welt der Gesunden ausgeschlossen und in der Welt der Kranken verortet. Angenommene oder tatsächliche Reaktionen von Dritten führen dazu, dass der gesunde Partner zu der Paarbeziehung Stellung nimmt und sich dadurch auch in den Welten positioniert. Bei einem Teil der Betroffenen führt eine Auseinandersetzung mit den Definitionen von und Zuschreibungen zu gesund und krank zu einer Integration der beiden Welten. Sie differenzieren mehr in gesunde und kranke Anteile und es gibt ein nebeneinander von gesund und krank innerhalb der eigenen Identität, sowohl in Beziehung zu den körperlichen Funktionen als auch in Bezug auf die Verortung in den beiden Welten. Es kommt zu einem Lernprozess, in dem zwei in der Vorstellung bestehende Gegensätze neu verknüpft werden. Verschiedene Anteile haben nebeneinander Platz und gehören zu einer übergeordneten Identität, die gesunde und kranke Aspekte beinhaltet. Innerhalb dieser Identität ist es möglich, auszuwählen und zu gewichten. Auf diese Weise wird eine neue dritte Welt geschaffen, die Polarität der Welten von gesund oder krank aufgehoben und das Exil des ausschließlichen Krankseins verlassen. Es entsteht eine übergeordnete Form der Identität, die beide Welten integriert, eine gemischte Identität, die es erlaubt, sich in beiden Welten zu orientieren. Die Interviewpartner, die bereits in der Kindheit erkrankt sind und für die Krankheit daher eine Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) darstellt, verorten sich in der gesunden und kranken Welt zugleich. Beide Welten sind von vornherein Teil der Identität, sie sind allerdings in unterschiedlicher Gewichtung Bezugspunkt und beeinflussen dementsprechend die Lebensorientierung und Lebensführung. Interviewpartner, die von einem Bruch und einer Neuorientierung (Typus B) berichten, sind vor der Erkrankung in der gesunden Welt verortet, und „stürzen“ durch die Diagnose oder eine massive körperliche Einschränkung in die Welt der Krankheit. Es findet eine intensive Auseinandersetzung und Identifikation mit ihr statt, in deren Verlauf die Krankheit in die eigene Zukunft integriert wird. Die Welt der Krankheit wird zum zentralen Bezugspunkt, von der aus die Welt der Gesundheit aus neuer Perspektive betrachtet und teilweise wieder betreten oder neu erobert wird. Die wesentliche Verortung ist jedoch die Welt der Krankheit. Die Personen, die von einer Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) berichten, sind ebenfalls vor der Erkrankung in der Welt der Gesunden verortet. Die Erfahrung der Krankheit erschüttert diesen Bezugsrahmen und eine auf Krankheit bezogene Welt rückt für eine begrenzte Zeit in den Vordergrund. Durch die Einordnung und Beherrschung der Krankheit auf ein begrenztes Terrain durch Informationen, Möglichkeiten medizinischer Kontrolle
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Empirische Ergebnisse
oder das Abwehren von einschränkenden Zukunftsvorstellungen gelingt eine Verarbeitung der Erschütterung als Irritation und eine Rückkehr zu einer weitgehenden Verortung in der Welt der Gesunden. Die Krankheit kann bei diesen Personen wenig bis umfassend integriert sein. Je nach Krankheitsverlauf und seinen Folgen in den verschiedenen Lebensbereichen gibt es hier Veränderungen. Ein progressiver Krankheitsverlauf kann die Person durch einen eingeschränkter werdenden Handlungsspielraum und durch die Reaktionen der sozialen Umwelt zunehmend dazu zwingen, sich mit der Welt der Krankheit auseinanderzusetzen und sich mit ihr zu identifizieren. Eine solche Entwicklung wird von einigen Personen als Lernprozess beschrieben und als Integration der gesunden und kranken Anteile gestaltet, von anderen hingegen wird sie erlitten und als ein Hineingedrängtwerden in diese Welt geschildert. Bei den Interviewpartnern, die von einer generell problembestimmten Lebensorientierung (Typus D) berichten und die die Erkrankung anfangs bagatellisieren, fällt auf, dass sie sich bereits vor der Erkrankung als Außenseiter zur normalen Welt verorten. Die Verortungen in einer auf Gesundheit oder Krankheit bezogenen Welt haben daher eine andere Bedeutung. Diesen Interviewpartnern ist der Platz außerhalb der Mehrheitsgesellschaft bereits vertraut, daher gibt es im Zusammenhang mit der Erkrankung keinen Sturz oder keinen Bruch, denn dieser ist bereits ein oder mehrmals vor der Erkrankung aus anderen Gründen erfahren worden. Bei einer zunehmenden Einschränkung durch die Krankheit wechseln lediglich die inhaltlichen Bezüge der Welt, in der sie außerhalb der Normalität verortet sind. 3.4 Typologie Die vorliegende Arbeit geht der Frage nach, wie Menschen eine chronische Krankheit auf der Ebene der Lebensorientierung und der Lebensführung im biographischen Verlauf bewältigen. Als ein Ergebnis der Untersuchung kristallisierten sich vier empirisch begründete Typen von Bewältigungsverläufen bezüglich Lebensorientierung und Lebensführung heraus. Die Fälle des Samples können relativ klar einem Typus zugeordnet oder im Raum zwischen den Typen als Mischformen eingeordnet werden. Darüber hinaus kann es im Zeitverlauf in Verbindung mit dem Krankheitsverlauf und bedeutungsvollen Lebensereignissen möglich sein, dass eine Bewegung von einem bestimmten Typus weg und zu einem anderen hin stattfindet. Im Folgenden wird die empirisch entwickelte Typologie ausführlich dargestellt.
3.4.1 Krankheit als Voraussetzung der Lebensorientierung (Typus A) Bei diesem Verlaufsmuster stellt die Krankheit eine Voraussetzung für die Lebensorientierung dar. Hier bricht die Erkrankung zu einem frühen Zeitpunkt in die Biographie ein. Die Bewältigung der Krankheit liegt in der Anfangsphase und je nach Alter des Kindes über eine lange Zeitspanne hinweg in den Händen der Eltern. Als eine Aufgabe des Erwachsenwerdens thematisieren die Interviewpartner die Übernahme der Verantwortung für die eigenständige Bewältigung der Krankheit. Die soziale Unterstützung, vor allem aus dem Familienkreis, aber auch durch Ärzte, Lehrer und Freunde, wird von Personen dieser Gruppe besonders betont. In dieser Gruppe gibt es Personen, die einen eher aktiv-konfron-
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tierenden und solche, die einen überwiegend reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil präsentieren. Gemeinsam ist ihnen ein relativ hohes medizinisches Expertenwissen, obwohl es auch hier deutliche Niveauunterschiede gibt, und ein Vertrautsein mit akuten und regelmäßigen medizinischen Behandlungsformen und stationären und ambulanten Krankenhausaufenthalten von Kindheit an. Krankheit, die medizinische Welt und die Reaktionen Gesunder auf die Erkrankung stellen für die Personen dieser Gruppe zum Teil sehr frühe Sozialisationsbedingungen dar. Leben bedeutet zugleich Leben mit der Krankheit. Krankheit ist also für die Person ein dazugehöriger und gewohnter Teil des Lebens und damit Teil der Normalität, auch wenn sich das eigene Leben von dem normalen Leben anderer, nicht erkrankter Menschen unterscheidet. Die Bewältigung der Krankheit ist daher ein normales Lebensthema, eine Aufgabe, mit der umgegangen werden muss. Dabei kann die Erkrankung je nach Art und Schwere und jeweiliger Phase eher im Hintergrund bleiben oder intensiv an der Lebensgestaltung beteiligt sein. Sie wird beispielsweise als besondere Herausforderung betrachtet oder als Behinderung von Plänen gesehen oder sie wird im Zusammenhang mit biographierelevanten Plänen nicht thematisiert und implizit einbezogen. Der Umgang mit krankheitsbedingten Brüchen im Lebensverlauf und den damit verbundenen Wechseln ist, wenn auch häufig schwer, so doch vertraut und ein integrierter Teil der Identität. Während die Personen der anderen Verlaufsmuster bereits in der Zeitspanne bis zum Beginn der Erkrankung persönliche Potenziale herausgebildet haben, entwickeln sich bei den Personen dieser Gruppe die Potenziale im Laufe der gemeinsamen Krankheitsund Lebensbewältigung in der Herkunftsfamilie. Die Potenziale der Interviewpartner liegen auf einem mittleren bis hohen Niveau. Hypotheken, die das Leben langfristig überschatten, werden von ihnen – abgesehen von der Erkrankung selbst und den damit verbundenen Belastungen für die verschiedenen Mitglieder der Familie – nicht geschildert. Sie beschreiben soziale Aufstiegsprozesse oder eine gleichbleibende soziale Lage, aber auch Behinderungen von Berufswünschen und Weiterqualifizierungen aufgrund der Erkrankung und der damit verbundenen instabilen gesundheitlichen Lage und prekären Zukunft. Hier spielen die Art der Erkrankung und Möglichkeiten der Kompensation von Funktionen eine Rolle. Förderlich ist besonders die soziale Unterstützung und ein aktiv-konfrontierender Bewältigungsstil bei der Ausbildungs- und Berufswahl, während ein mehr reaktiv-abwehrender Bewältigungsstil eher zu einer resignativen Hinnahme der Behinderungen und der dadurch eingeschränkten Chancen führt. Die Rolle als potenzieller Partner und die Partnerbeziehung werden im Zusammenhang mit der Erkrankung bei den Befragten nicht als problematisch, sondern als normal und positiv geschildert. Die Krankheit ist ein integrierter Teil der Persönlichkeit, der neben vielen gesunden Aspekten seinen Platz hat. Die Identität schließt gesunde und kranke Aspekte ein. Die Personen dieser Gruppe orientieren und bewegen sich in der auf Gesundheit und in der auf Krankheit bezogenen Welt gleichermaßen vertraut. Das Verhältnis zum Körper ist pragmatisch und überwiegend positiv zugleich. Es wird deutlich mehr und selbstverständlicher thematisiert als bei Personen, die die anderen drei typischen Verlaufsmuster aufweisen. Dies könnte sich aus der Tatsache heraus erklären, dass wegen der Krankheit als frühe und langjährige Lebensbedingung der Körper vermehrt beachtet und über ihn mit Eltern, Ärzten und anderen Personen kommuniziert wurde, eine Erfahrung, die im Kontrast steht zu der sonst eher üblichen Nichtthematisierung des Körpers und der Beziehung zu diesem.
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Für die Interviewpartner dieser Gruppe ist also die Krankheit mit ihren spezifischen Bedingungen eine Voraussetzung bei der Lebensorientierung und wird selbstverständlich in Lebensplanungen und in die Lebensführung einbezogen.
3.4.2 Bruch und Neuorientierung im Leben (Typus B) Von den Personen dieses Verlaufsmusters wird die Krankheit als massiver Einbruch erlebt, mit der die Zerstörung von Zukunftsentwürfen und Zukunftserwartungen sowie eine Neuorientierung in relevanten Lebensbereichen verbunden ist. Es kann ein relevanter Lebensbereich betroffen sein, während in anderen Bereichen die bisherigen Lebensorientierungen erhalten bzw. fortgesetzt werden können. In einigen Fällen gibt es eine umfassende Umorientierung in mehreren Lebensbereichen. Zwei Varianten von Prozessen und Bedingungskonstellationen sind im Zusammenhang mit diesem Typus zu beobachten. Bei Personen, die der ersten Variante zuzuordnen sind, tritt ein aktiver Bewältigungsstil besonders hervor. Die körperlichen Veränderungen werden deutlich wahrgenommen und medizinisch abgeklärt. Nach der Diagnose findet bei einer noch relativ geringen oder bei einer medizinisch kontrollierbaren Symptomatik und einem dementsprechend hohen Grad an erhaltenen Funktionen des Körpers eine Konfrontation und aktive Auseinandersetzung mit dem Wissen über die Krankheit und über die möglichen Lebensbedingungen und Prognosen statt. Das Wissen ist teilweise bereits aus der Erfahrung mit der Krankheit im Umfeld vorhanden oder es wird durch gezielte Informationssuche erworben. Am Ende dieses ersten Auseinandersetzungsprozesses steht eine Bilanzierung des bisherigen Lebens und eine Einschätzung des Lebens mit der Krankheit in der Gegenwart und in der Zukunft. Die Krankheit wird in diesem Prozess also relativ weitreichend in die Zukunft integriert und wirkt von da aus auf die Gegenwart und auch auf die Vergangenheit zurück. Die Fortführung bisheriger Zukunftserwartungen und Zukunftspläne erscheint unter den veränderten Bedingungen nicht mehr möglich oder nicht mehr sinnvoll. Daran anschließend und auch hinein verwoben erfolgen Prozesse der Neuorientierung, z. B. durch die Suche nach neuen Tätigkeitsbereichen oder durch die Entscheidung für die Intensivierung bzw. Ausgestaltung eines Lebensbereiches zugunsten eines anderen. Die Lebensführung wird – häufig weit vorausschauend – sowohl auf die körperlichen Bedingungen als auch auf die neue Lebensorientierung eingestellt. Es folgt eine Phase der Renormalisierung, d. h. das Leben mit der neuen Lebensorientierung und der angepassten Lebensführung wird vertraut und damit normal. Je nach Art und Verlauf der Krankheit kann eine relative Stabilität auf einem neuen Niveau über einen bestimmten, zum Teil langen Zeitraum erhalten werden. Bei der zweiten Variante dieses Typus ist eine Neu- bzw. Umorientierung unumgänglich, da die Erkrankung bei ihrem Einbruch in das Leben so massiv die körperlichen Funktionen beeinträchtigt, dass eine Fortsetzung der bisherigen Lebensorientierung aktuell und auch nach einer Phase der Rehabilitation in bestimmten Lebensbereichen körperlich nicht mehr möglich ist. Hier muss die aktuelle und zukünftige Lebensorientierung in den betroffenen Bereichen aufgegeben werden. Dies kann zu Folgeentwicklungen in weiteren Lebensbereichen führen, die dann ebenfalls problematisch werden, z. B. indem in der Partnerbeziehung latente Konflikte zutage treten, die zuvor in einem durch die Erkrankung zerbrochenen Berufsleben gut kompensiert werden konnten oder indem Freundeskreise verloren
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gehen, da das gegenseitige Verständnis durch die veränderte Situation nicht mehr vorhanden ist. Nach einer Phase des Erleidens und des Verlustes wird von den Interviewpartnern ein überwiegend aktiv-konfrontierender Bewältigungsstil im Umgang mit den schwierigen Umständen geschildert. Die eigene gesundheitliche Lage und die verbleibenden Möglichkeiten werden eingeschätzt und entsprechende Schritte der Umorientierung und Umorganisation unternommen. So werden beispielsweise bisherige Ziele auf einem wesentlich niedrigen Niveau angesetzt, Erfolge und Fortschritte an anderen erkrankten Personen statt an dem bisherigen Maßstab der normalen, auf Gesundheit bezogenen Welt gemessen, neue Heilmethoden und Wissenssysteme von Gesundheit, Krankheit und Heilung entwickelt oder es erfolgt ein kämpferisches Engagement für die Anerkennung und Beseitigung der vermuteten Ursachen der Erkrankung. Aus beruflicher Perspektive sind bei allen Interviewpartnern dieses Typus Abstiegsprozesse durch die Einschränkung oder Beendigung der beruflichen Linie zu beobachten. Diese können aber bei einigen durch eine Parallelkarriere oder einen sozialen Aufstieg über den Partner kompensiert werden. Die persönlichen Potenziale und das Vermögen, soziale Unterstützung zu mobilisieren sowie die Bereitschaft, sich für andere zu engagieren, sind eher stark ausgeprägt. Die Krankheit tritt zwischen dem Anfang des frühen Erwachsenenalters bis zum Ende des mittleren Erwachsenenalters in das Leben ein, also zu Zeitpunkten, in denen bei der Lebensorientierung lebensphasenspezifische Themen des beruflichen Einstiegs und des Aufbaus und der Fortführung einer beruflichen Karriere sowie die Familiengründung und deren Erhalt im Vordergrund stehen. Die Art und Schwere der Krankheit sowie der Krankheitsverlauf variieren bei dieser Gruppe in starkem Maße. Die subjektive Bedeutung der Krankheit für die bisherige Lebensorientierung bestimmt neben der Schwere der Krankheit die Wahrnehmung der Erkrankung als biographischen Wendepunkt. Bei den Interviewpartnern dieses Typus erfolgt nach dem Sturz aus der bisherigen Normalität in eine auf Krankheit bezogene Welt eine intensive Auseinandersetzung mit den neuen Bedingungen, eine zum Teil offensive Neuorientierung und daran anschließend eine Phase der Renormalisierung. Diese Rückkehr in die normale Welt ist durch die veränderte Lebensorientierung und durch die Art, die Schwere und den Verlauf der Erkrankung geprägt. Die Bewältigung des Lebens mit der Krankheit wird in verschiedener Ausformung nun als Teil der Lebensaufgabe definiert. Besonders in der Übergangsphase bildet die Welt der Krankheit einen bedeutenden Teil des Bezugsrahmens. Im weiteren Verlauf bilden sowohl die auf Krankheit bezogene Welt als auch die vormals normale, auf Gesundheit bezogene Welt unter einer veränderten Perspektive den neuen Bezugsrahmen. Die Lebensführung wird umfassend und vorausschauend auf ein Leben mit der Krankheit und entsprechend der neuen Lebensorientierung eingestellt. Die Erkrankung wird in dem Prozess der Auseinandersetzung weitgehend in die Identität integriert. Während in der Anfangsphase der Wechsel von gesund zu krank als zwei sich ausschließende Bereiche im Vordergrund steht, werden langfristig die subjektiven Vorstellungen von Gesundheit differenziert. In einigen Fällen wird eine übergeordnete Identität sichtbar, in der Kranksein und Gesundsein nebeneinander Platz haben und nicht permanent in Opposition stehen. Auf der einen Seite ist in den Erzählungen ein deutlicher Kontrast zwischen der Identität vor der Erkrankung und der Identität der erkrankten Person und entsprechend eine zweigeteilte Biographie zu erkennen, auf der anderen Seite wird aber auch eine Kontinuität der Persönlichkeit vermittelt.
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3.4.3 Irritation und Rückkehr zur bisherigen Lebensorientierung (Typus C) Personen dieser Gruppe nehmen nach einer Phase der Irritation oder Unterbrechung der gewohnten Lebensorientierung und Lebensführung durch den Einbruch der Krankheit die bisherige Lebensorientierung wieder auf bzw. führen diese fort. Die Lebensführung wird dabei teils vorausschauend oder teils erst reaktiv an die Bedingungen der Erkrankung angepasst. Bei diesem Typus steht die Strategie der Normalisierung im Vordergrund. Am Beginn des Prozesses steht eine Verunsicherung über den körperlichen Zustand durch die wahrgenommenen Krankheitsanzeichen. In der Regel wird ein Arzt konsultiert, der dann die Diagnose stellt. Die Reaktion der Interviewpartner auf diese Situation und den anschließenden Normalisierungsprozess ist entweder überwiegend durch einen aktiv-konfrontierenden oder durch einen überwiegend reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil bestimmt. Personen mit einem aktiv-konfrontierenden Bewältigungsstil suchen gezielt Informationen über die Erkrankung und setzen sich mit den Bedingungen und möglichen Folgen der Krankheit auseinander. Am Ende dieser ersten Phase wird die eigene Lage bewertet. Die Interviewpartner halten an ihren Zukunftsentwürfen fest, z. B. weil sie zu der Einschätzung gelangt sind, dass die Erkrankung zu geringfügig oder durch medizinische Behandlung weitgehend kontrollierbar ist oder weil sie neben dem medizinisch prognostizierten Krankheitsverlauf noch andere Alternativen sehen. Die bestehende Lebensorientierung wird wieder aufgenommen bzw. fortgesetzt, während zugleich in der Lebensführung die nötigen Anpassungen wie medikamentöse Behandlung, diätische Lebensweise usw. vorgenommen werden, um die Funktionen des Körpers möglichst lange zu erhalten und zu unterstützen. Demgegenüber begrenzen Personen mit einem reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil die Informationen über die Krankheit auf ein bestimmtes, für sie nicht zu belastendes Maß. Es findet keine intensive Auseinandersetzung mit der Krankheit und ihren möglichen negativen Folgen in der Zukunft statt, sondern es wird einer unbestimmten Hoffnung auf eine positive Zukunft Raum gegeben. Die Aufmerksamkeit wendet sich wieder der bisherigen Lebensführung im Alltag zu. Während die bisherige Lebensorientierung so lange wie möglich fortgesetzt wird, passt sich die Lebensführung im Verlauf der Krankheit reaktiv ab einem bestimmten Grad der Beeinträchtigung an die sich verändernden körperlichen Umstände an. Die Betroffenen stellen sich schrittweise auf die körperlichen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Krankheit ein. Entsprechend des Krankheitsverlaufs kann die Krankheit relativ stabil auf einen bestimmten Bereich begrenzt sein oder als schleichender Prozess mehr und mehr Raum im Leben einnehmen. Diese Strategie der Normalisierung, die für das dritte Verlaufsmuster kennzeichnend ist, kann je nach Krankheitsverlauf und Umfeldbedingungen unterschiedlich lange beibehalten werden. Die Interviewpartner dieses Typus können über viele Jahre und zum Teil über Jahrzehnte hinweg die relevanten Lebensorientierungen grundsätzlich beibehalten, die sich nur in Teilaspekten und im normalen Lebensverlauf entsprechend der Themen der Lebensphasen wandeln. Einige der Interviewpartner erfahren nach langen Zeiträumen des Normalisierens einen plötzlichen umfassenden Bruch, da wesentliche Aspekte ihrer Lebensorientierung wie die Berufstätigkeit oder die Partnerschaft durch körperliche und soziale Folgen der Krankheit nun nicht mehr weitergeführt werden können und ihre bisherige Normalität dadurch verloren geht. Diese Fälle verändern also ihre Position innerhalb der Verortung in der Typologie und bewegen sich nun hin zum Typus B, dem Verlaufsmuster mit den typischen Merkmalen des Bruchs und der
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Neuorientierung. Das bedeutet, dass Personen mit dieser Konstellation erst nach vielen Jahren mit der Krankheit einen biographischen Wendepunkt durch Folgeentwicklungen der Krankheit erleben. Andere Interviewpartner können die Strategie der Normalisierung lebenslang aufrechterhalten und die körperlichen Einschränkungen in die normale Lebensführung integrieren. Häufig bleibt die soziale Lage in dieser Gruppe gleich, es sind aber auch Aufstiegsprozesse zu beobachten. Abstiegsprozesse gibt es bei denjenigen Interviewpartnern, die nach einer langen Phase mit einem schleichenden progredienten Krankheitsverlauf schließlich berufsunfähig werden und in den Rentenstatus wechseln müssen. Dies betrifft auch Interviewpartner, die zuvor einen beruflichen Aufstieg mit der Krankheit erlebten. Die Potenziale liegen in dieser Gruppe eher im mittleren und höheren Bereich, wobei vielfältige Potenziale zusammen mit einem aktiv-konfrontierenden Bewältigungsstil auftreten. Biographische Hypotheken werden nicht berichtet. Die Krankheit tritt in dieser Gruppe von Anfang des frühen Erwachsenenalters bis ins späte Erwachsenenalter in die Biographie ein, die Strategie der Normalisierung ist also bei Menschen ab dem frühen Erwachsenenalter in allen Lebensphasen mit ihren jeweils vorherrschenden Themen und Lebensorientierungen zu beobachten. Personen, die von Krankheit im frühen oder mittleren Erwachsenenalter betroffen sind, versuchen, ihre berufliche Identität aufzubauen, zu erhalten oder anzupassen. Bei Menschen, die in einem höheren Lebensalter betroffen und bereits in Rente sind und deren berufliche Linie abgeschlossen ist, bleibt die berufliche Identität von der Erkrankung unberührt. Die Art, der Verlauf und der Schweregrad der Erkrankung variieren bei diesem Typus, jedoch ist bei einem sich deutlich abwärts neigenden Krankheitsverlauf eher damit zu rechnen, dass nach einer Zeitspanne der Normalisierung schließlich ein Bruch erfolgt, weil ein wichtiger Lebensbereich nicht mehr erhalten werden kann. Besonders im Zusammenhang mit einem überwiegend reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil wird dieser Bruch dann eher resignativ verarbeitet, während Menschen mit einem aktiv-konfrontierenden Bewältigungsstil sich auch aktiver neu orientieren und auf die Suche nach neuen Tätigkeitsbereichen gehen. Die soziale Unterstützung ist an diesem Punkt in der Biographie, aber auch im gesamten Bewältigungsprozess eine wichtige Komponente. Die Beendigung einer Partnerbeziehung und der Verlust der damit verbundenen sozialen Unterstützung kann nach einer langen Zeit der Normalisierung zu einem massiven Bruch in der Biographie führen, eine solche Trennung kann jedoch auch mit Hilfe sozialer Unterstützung aus einem großen Freundeskreis normalisierend bewältigt werden. Die Personen in dieser Gruppe schildern insgesamt eine gute bis mittelmäßig ausgeprägte soziale Unterstützung. Die Krankheit wird nach und nach umfassend oder nur teilweise in die Identität integriert, im Vordergrund der Identität stehen jedoch solange wie möglich die gesunden, funktionierenden Anteile. Besonders in der ersten Zeit mit der Krankheit bleibt der dominante Bezugsrahmen die normale Welt, zugleich wird auf die Krankheit und die mit ihr verbundene Welt insofern Bezug genommen, als dass durch die nötige krankheitsbezogene Arbeit, Behandlung etc. die Teilnahme an der normalen Welt weitgehend oder mit entsprechenden Anpassungen fortgeführt werden kann. Im Zusammenhang mit einer Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes und durch zunehmende Einschränkungen und Sichtbarkeit der Erkrankung nimmt die auf Krankheit bezogene Welt mehr Raum ein.
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Empirische Ergebnisse
3.4.4 Bagatellisierung bei generell problembestimmter Lebensorientierung (Typus D) In den Erzählungen der Personen dieser Gruppe wird ein Bruch der Lebensorientierung im Zusammenhang mit dem Eintreten der Erkrankung und im Kontrast zum bisherigen Leben nicht hervorgehoben, die Lebensorientierung dieser Interviewpartner ist vor und mit der Erkrankung diffus und problematisch. Sie empfinden sich häufig als fremdbestimmt und erleiden entweder diese Bestimmung durch äußere Ereignisse und Personen oder antworten darauf mit Autonomiebestrebungen des Rückzugs oder der Gegenbewegung. Bestimmendes Merkmal dieser Gruppe ist eine bereits vor der Erkrankung problematische oder gebrochene Biographie, in der sich die Interviewpartner als anders und von der Normalität abweichend präsentieren. Die Erkrankung wird in dieser Gruppe erst spät wahrgenommen. Krankheitszeichen werden nicht als solche erkannt, auch wenn sie schon deutliche Reaktionen im Körper hervorrufen, oder die Krankheit wird nicht im Zusammenhang mit der Diagnosestellung sondern erst viel später realisiert. Die Krankheit wird also zunächst bagatellisiert. Als Folge dieser späten Realisation der Erkrankung und der möglichen Entwicklungen für das eigene Leben kommt es in einigen Fällen zu einer Verschärfung des Krankheitsverlaufs, da bestimmte krankheitsbezogene Planungen bei der Lebensorientierung und Lebensführung nicht berücksichtigt wurden und die spezifische krankheitsbezogene Arbeit, wie beispielsweise nötige Kontrollen und die Gabe von Medikamenten, teilweise nicht früh genug geleistet wurden. Der Bewältigungsstil in dieser Gruppe ist überwiegend reaktiv-abwehrend. In der Anfangsphase der Erkrankung beziehen sich die Interviewpartner kaum auf die Erkrankung und die damit verbundene Welt, müssen sich aber langfristig mehr und mehr damit auseinandersetzen. Die Krankheit bzw. verschiedene Erkrankungen erobern durch ihre stärker werdenden Symptome und Beeinträchtigungen immer mehr Raum in der Biographie und lösen die anderen Probleme zunehmend ab. Langfristig werden in einigen Fällen Probleme, Arbeitslosigkeit und Unzufriedenheit im beruflichen Bereich abgelöst durch den Status der Berufsunfähigkeit. Die Schwierigkeit, eine Partnerschaft zu beginnen und zu erhalten, wird abgelöst durch die Gewissheit, jetzt als Partner nicht mehr in Frage zu kommen und diesen Lebensbereich als Vergangenheit anzusehen. Während einige Interviewpartner in dieser Gruppe zum Zeitpunkt des Interviews noch auf der Suche nach einem Platz in der Gesellschaft sind, haben sich andere durch das Fortschreiten der Krankheit und den geringen zur Verfügung stehenden Potenzialen mit einem Platz am Rande abgefunden. Bei ihnen ist der Wechsel in den Rentenstatus durch Berufsunfähigkeit mit einem niedrigen materiellen Rahmen, aber auch mit klaren und berechenbaren Verhältnissen verbunden. Einerseits ergibt sich daraus eine gewisse Ruhe im zuvor wechselhaften, bewegten und unberechenbaren Lebensverlauf, andererseits ist diese Ruhe aber auch mit der Endgültigkeit des Verlustes verschiedener Lebensbereiche verbunden. Alle Interviewpartner dieses Typus berichten von zum Teil schweren biographischen Hypotheken, die in Form von negativen Zuschreibungen und Ablehnung ihrer Person oder ihrer Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Lebenserfahrungen ihre Biographie beeinflussen. Die Bewältigung des problematischen Lebens steht im Vordergrund und rückt die Bewältigung der Krankheit in den Hintergrund. Dabei werden das Anderssein und die diversen Schwierigkeiten und Misserfolge teilweise als problematisch, aber auch in Form von unterhaltsamen Geschichten oder als Abenteuer präsentiert, über die eine Besonderung erfolgt.
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Ein Bruch von der normalen Welt in das Anderssein einer auf Krankheit bezogenen Welt wird im Zusammenhang mit der Erkrankung nicht beschrieben, was in Verbindung damit gesehen werden kann, dass die dieser Gruppe zugeordneten Personen sich bereits seit ihrer Kindheit oder Jugend als Außenseiter fühlen. Das Anderssein auch im Zusammenhang mit der Krankheit wird zwar von einigen thematisiert, aber als bereits bekannte Erfahrung präsentiert. Das Anderssein ist vertraut, der Umgang mit Misserfolgen, Brüchen und schlechten Botschaften ist keine neue, sondern eine häufig erlebte Erfahrung, daher ist es plausibel, dass die Krankheit nicht als besonderer, biographisch bedeutsamer Bruch erfahren wird. Es gibt sowohl soziale Abstiegsprozesse im Vergleich zur Herkunftsfamilie und dem begonnenen Ausbildungsweg durch ein Herausfallen aus der normalen Bildungs- oder Berufsbiographie als auch ein Verbleiben in einer ähnlichen sozialen Randlage. Im Unterschied zu der hohen Belastung durch biographische Hypotheken sind die zur Verfügung stehenden Potenziale in dieser Gruppe mittel bis gering. Auch die soziale Unterstützung wird mittelmäßig bis gering beschrieben und es treten Erfahrungen der Isolation hervor. Die Krankheit tritt bei den interviewten Personen am Ende der Adoleszenz und im frühen Erwachsenenalter in die Biographie ein. Die Lebensorientierung ist bei diesem Typus problematisch und diffus, die Krankheit kommt als zusätzliches Problem hinzu. Die Lebensführung wird spät auf die Bedingungen der Krankheit eingestellt, was sich negativ auf den Krankheitsverlauf auswirkt.
4 Schluss
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind Menschen mit einer chronischen Erkrankung und die Frage, wie diese Menschen ihr Leben mit der Krankheit im Hinblick auf die Lebensorientierung und Lebensführung im biographischen Verlauf bewältigen. Daher wurden lebensgeschichtliche Interviews mit Betroffenen geführt und ausgewertet. Die Ergebnisse der Untersuchung werden nun noch einmal zusammenfassend dargestellt und auf die bisherige Forschung zur Krankheitsbewältigung bezogen. Bewältigung als dynamischer Prozess zwischen Erleiden und Handeln Charakteristisch für die aus den Erzählungen der Interviewpartner rekonstruierten Bewältigungsprozesse ist das Changieren zwischen Erleiden und Handeln, also ein dynamischer Prozess zwischen Erfahrungen des Erleidens und aktiver Handlung. Die jeweiligen Ausprägungen der genannten Handlungs- und Erfahrungsformen hängen dabei von vielen Faktoren und deren Zusammenwirken ab. Eine Rolle spielen hier die Art und Schwere der Erkrankung und deren Entwicklung im Verlauf der Zeit, der biographische Hintergrund der jeweiligen Person und die damit verbundenen Potenziale und Hypotheken, der berufliche Kontext sowie die soziale Einbindung. Bei einigen Interviewpartnern steht das Handeln im Vordergrund, andere hingegen betonen Erleidensprozesse und Erfahrungen des Scheiterns. Der Bewältigungsprozess beinhaltet jedoch beide Aspekte und die Dynamik, die zwischen beiden Aspekten besteht. Die empirischen Ergebnisse der vorliegenden Arbeit unterstreichen in Bezug auf die Bewältigung von chronischer Krankheit die von Gerhardt (1986, S. 30) vertretene Position der Duplizität von Handeln und Erleiden bei Krankenkarrieren. Typische Verlaufsmuster der Bewältigung im Hinblick auf Lebensorientierung und Lebensführung Die Auswertung des Datenmaterials führte zu einer Typologie, die die unterschiedliche Krankheitsverarbeitung der chronisch erkrankten Personen in Bezug auf ihre Lebensorientierung und Lebensführung darstellt. Die Typologie unterscheidet vier Typen und Mischformen aus diesen Typen: Bei dem ersten typischen Verlaufsmuster stellt die Krankheit eine Voraussetzung der Lebensorientierung dar (Typus A); die chronische Krankheit besteht seit einer frühen Lebensphase und ist daher normaler Bestandteil der Biographie. Anfangs leisten überwiegend die Eltern die Krankheitsbewältigung, mit Übernahme der Erwachsenenrolle geht diese dann mehr und mehr in die Hand der erkrankten Person über. Die mit der Krankheit verbundenen Bedingungen und Erfahrungen fließen implizit oder explizit in den Lebensentwurf ein. Akute Veränderungen der gesundheitlichen Situation können zu Brüchen oder Krisen führen, insgesamt steht aber bei diesem Typus die Normalität eines Lebens mit der Krankheit im Vordergrund des Erlebens. Diese Normalität beinhaltet auch die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten und Grenzen der Lebensorientierung und der Lebensführung,
Schluss
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die durch die Bedingungen der Krankheit und durch die Bedingungen der Umwelt bestehen. Bei dem zweiten Verlaufsmuster steht die Brucherfahrung und anschließende Neuorientierung im Vordergrund (Typus B). Die Krankheit, die hier erst nach der Adoleszenz auftritt, wird als Wendepunkt in der Biographie erlebt. In einem oder mehreren Lebensbereichen zerbrechen bestehende Lebensorientierungen, da entweder die körperliche Verfassung eine Weiterführung nicht mehr erlaubt oder die erkrankte Person zu der Einschätzung gelangt, eine bisherige Lebensorientierung nicht mehr fortsetzen zu können. Nach einer Phase der Auseinandersetzung folgt eine Neuorientierung, in der die durch die Erkrankung veränderten Bedingungen miteinbezogen werden. Die Betroffenen blicken aus der neuen Perspektive einer auf Krankheit bezogenen Welt auf die vormals vertraute Welt, in der Gesundheit die Normalität war, und stellen ihre Lebensführung umfassend auf die neuen Bedingungen ein. Charakteristisch für ein drittes Muster ist eine Irritation des Lebens durch die Erkrankung, auf die eine Rückkehr zur bzw. eine Fortsetzung der bisherigen Lebensorientierung folgt (Typus C). Die Krankheit, die in dieser Gruppe ebenfalls nach der Adoleszenz in die Biographie eintritt, wird kein bestimmender Aspekt, sondern übernimmt bei der biographischen Ausrichtung eine nachgeordnete Rolle. Hier lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Bei der Variante einer aktiv-konfrontativen Krankheitsbewältigung gelangen die Betroffenen nach einer Auseinandersetzung mit ihrer gesundheitlichen Lage zu der Einschätzung, ihre wesentlichen Lebensorientierungen trotz der Erkrankung unverändert beibehalten zu können, und passen ihre Lebensführung optimal an ihre Lage an. Eine weitere Variante dieses Typus ist eine vorwiegend reaktiv-abwehrende Krankheitsbewältigung, bei der die Betroffenen zu detaillierte Informationen über die Erkrankung und ihre mögliche Entwicklung in der Zukunft abwehren und ihre Aufmerksamkeit darauf richten, die gegenwärtigen Bezugspunkte zu erhalten. Die Anpassung der Lebensführung an die Veränderungen durch die Erkrankung ist bei dieser Teilgruppe reaktiv und teilweise schleppend. Insgesamt gesehen bleibt bei diesem Typus als überwiegender Bezugspunkt die bisherige Normalität einer auf Gesundheit bezogenen Welt erhalten. Die auf Krankheit bezogene Welt kann jedoch durch eine sukzessive Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes schrittweise mehr Raum im Alltag und im Denken einnehmen, während zugleich versucht wird, die bisherige Lebensorientierung beizubehalten. Ein viertes Verlaufsmuster schließlich zeichnet sich durch eine Bagatellisierung der gesundheitlichen Situation bei generell problembestimmter Lebensorientierung aus (Typus D). Die Krankheit stellt hier einen Teilaspekt in einer bereits problematischen, von Hypotheken belasteten Biographie dar, in der Brüche bereits vor der Erkrankung erfahren werden und die Lebensorientierung problematisch und häufig diffus ist. Die Rolle als Außenseiter und eine damit verbundene Blickrichtung von außen auf die normale Welt stellt keine neue Erfahrung dar, lediglich die Inhalte oder Institutionen einer auf Krankheit bezogenen Welt sind neu. Die Krankheit wird hier anfangs kaum realisiert und häufig bagatellisiert und gewinnt erst mit stärker werdender Symptomatik an Bedeutung. Die Erkrankung reiht sich als weiteres Problem in eine schon bestehende Problemaufschichtung ein und wird von den Befragten nicht als ein herausragendes biographisches Ereignis dargestellt. Die Lebensorientierung bleibt weiter diffus und problematisch. Die Lebensführung wird erst mit deutlich zunehmender Verschlechterung des körperlichen Zustandes an die Bedingungen der Krankheit angepasst, was teilweise den Krankheitsverlauf negativ beeinflussen kann.
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Die Fälle des Samples lassen sich relativ klar jeweils einem der vier empirisch gewonnenen Typen zuordnen oder sie stellen Mischformen dar, die einzelne Merkmale verschiedener Typen vereinen und daher zwischen den entsprechenden Typen verortet werden können. Darüber hinaus gibt es Fälle, die im biographischen Verlauf zunächst einem dieser Typen und später eher einem anderen entsprechen. Individuelle Ausformungen der Grundmuster wurden oben in den Falldarstellungen ausführlich beschrieben. Die Typologie sensibilisiert für die Verschiedenartigkeit von Prozessen der Krankheitsbewältigung und verweist auf die Bedeutung der Lebensorientierung beim Bewältigungshandeln im biographischen Verlauf. Auf der einen Seite gibt sie Hinweise, um die Diversität der Betroffenen zu berücksichtigen und sie adäquat unterstützen zu können. Auf der anderen Seite eröffnet sie Ansatzpunkte, um möglichen problematischen Entwicklungen vorzubeugen. Im Folgenden werden die Ergebnisse der Untersuchung in den Dimensionen der Zeit, der Person und der sozialen Interaktion dargestellt. Die Dimension der Zeit bei der Krankheitsbewältigung In der zeitlichen Dimension sind die Bedeutung der Lebensphase, die Krankheit in der Alltagszeit und die Krankheit in Beziehung zur Lebenszeit Aspekte, die im Zusammenhang mit der Lebensorientierung und der Lebensführung bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung relevant sind. Bezüglich der Lebensphase spielt zum einen der Zeitpunkt des Eintritts der Erkrankung in den Lebensverlauf eine Rolle, zum anderen beeinflusst die aktuelle Lebensphase, in der sich die Interviewpartner zum Zeitpunkt der Erzählung befinden, die Sicht auf das Leben. Diejenigen Personen, die bereits seit ihrer Kindheit oder frühen Jugend von einer chronischen Erkrankung betroffen sind, erleben die Erkrankung und den Umgang mit ihr über verschiedene Lebensphasen hinweg als einen Teil ihrer Normalität, auch wenn sich die eigene Normalität von der Normalität anderer unterscheidet. Bedeutsame Entwicklungsaufgaben (Erikson 1966, 1988; Hurrelmann 2003) und Statuspassagen im Lebensverlauf wie die Übergänge von der Kindheit in das Jugendalter und von diesem in das Erwachsenenalter werden mit der Erkrankung bewältigt, die eine Voraussetzung in den Entwicklungsprozessen darstellt und daher selbstverständlich in die Entwicklung der Identität und der Lebensorientierungen eingeht. Beim Beginn einer chronischen Erkrankung im frühen, mittleren und späten Erwachsenenalter haben die Betroffenen bereits Lebensentwürfe entwickelt und diese bereits im Ansatz, teilweise oder umfassend umgesetzt. Entweder wird die bestehende Lebensorientierung und Lebensführung im Zusammenhang mit dem Auftreten der Erkrankung brüchig und muss neu angepasst werden oder sie wird nach einer Phase der Irritation fortgesetzt. Bei Menschen, die im fortgeschrittenen späten Erwachsenenalter von einer chronischen Erkrankung betroffen sind und von einer Fortführung berichten, wird deutlich, dass sie einige für die Lebensorientierung bedeutsame Themen realisiert und zum Teil schon abgeschlossen haben, beispielsweise weil sie sich beim Beginn der Erkrankung bereits im Rentenstatus befinden. Daher bleiben bei ihnen das Selbstverständnis und die Lebenserfahrung in diesen Bereichen im Wesentlichen unberührt von der Erkrankung, nur die späte Lebensphase und entsprechende Facetten der Identität sind von ihr betroffen. Personen, die von Brüchen in der Biographie und einer problematischen Lebensorientierung vor der Erkrankung berichten, bagatellisieren die Krankheit zunächst
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und beachten sie erst später. Die Einflüsse aus der biographischen Vorgeschichte sind so vielfältig, dass auch die Varianten der Bewältigungsformen eine entsprechende Vielfalt aufweisen und unterschiedlichste Faktoren in die Erklärung von Verlaufsmustern bezüglich Lebensorientierung und Lebensführung einbezogen werden müssen. Die aktuelle Lebensphase und die Bearbeitung der lebensphasenspezifischen Thematik sind, neben anderen biographisch bedeutsamen Faktoren wie der sozialen Herkunft oder der Bildungsbiographie, auch von der individuellen Bewältigungsgeschichte des bisherigen Lebens mit der Krankheit sowie von der aktuellen gesundheitlichen Lage geprägt. Wenn der Einfluss der Erkrankung auf die Bearbeitung von lebensphasenspezifischen Themen als gering dargestellt und die gesundheitliche Lage als kontrollierbar oder relativ stabil erlebt wird, stehen lebensphasentypische Orientierungen im Vordergrund. Partnerschaften werden begonnen oder gefestigt, Familien gegründet und berufliche Karrieren aufgebaut und fortgesetzt, während die praktische Krankheitsbewältigung in den Alltag integriert ist. Im Kontrast dazu ist bei einer starken gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge einer kontinuierlichen Abwärtsbewegung des Krankheitsverlaufs oder durch eine aktuell vorliegende gesundheitliche Krise die Bearbeitung von lebensphasenspezifischen Themen verändert oder ausgesetzt. So treten Bilanzierungsprozesse und der Umgang mit einer eng begrenzten Zukunft im mittleren Lebensalter hervor, wenn durch deutlich eingeschränkte Bewegungsfähigkeit, durch einen auf Erwerbsunfähigkeit basierendem Rentenstatus oder durch drohende Pflegebedürftigkeit Bedingungen bewältigt werden müssen, die normalerweise eher dem hohen Alter zugeschrieben werden. In diesen Fällen wird die Orientierung an den Phasen eines Normallebensverlaufs nicht aufrecht erhalten. Wenn die eigene Situation als kaum vereinbar mit den lebensphasenspezifischen Themen erlebt wird, wird sie konflikthaft verarbeitet oder die Orientierung an diesen Themen und ihrer Abfolge wird aufgegeben. Eine von chronischer Krankheit betroffene Person muss im Alltag regelmäßig oder unregelmäßig Zeit aufwenden, um krankheitsbezogene Arbeit zu leisten. Diese soll die körperlichen Funktionen erhalten, verbessern oder eine Verschlechterung verlangsamen. Der Umfang dieser Arbeit ist abhängig von der Art und Schwere sowie der jeweiligen Verlaufsphase der Krankheit. Behandlungs- und Kontrollzeiten, Zeiten für Rekonvaleszenz und ein größerer Zeitaufwand für Alltagshandlungen, der beispielsweise durch Bewegungseinschränkungen nötig wird, wirken auf die zeitliche Strukturierung des Alltags und dadurch in zum Teil erheblicher Weise auf die Lebensführung ein. Darüber hinaus greift eine Erkrankung in die zeitliche Alltagsstrukturierung dadurch ein, dass durch unvorhergesehene Komplikationen und Krankenhausaufenthalte Routinehandlungen und geplante Aktivitäten aufgegeben werden müssen. Die Alltagszeit wird also in unterschiedlichem Ausmaß von einer Krankheit durch die mit ihr verbundenen Bedingungen strukturiert oder bei plötzlichen Veränderungen unterbrochen. Die Deutung von und der Umgang mit der krankheitsbezogenen Arbeit und der damit verbunden zeitlichen Strukturierung sind unterschiedlich. Dies verdeutlicht die gegensätzliche Sicht von zwei an Diabetes erkrankten Interviewpartnern. Während die erste Person ihren Zeitaufwand für die krankheitsbezogene Arbeit in Sekunden vorrechnet und die geringe Bedeutsamkeit für die Alltagsgestaltung hervorhebt, schildert die zweite Person ihre umfassende emotionale Gebundenheit und Einschränkung durch die nötigen regelmäßigen Handlungen, die ihr vor Augen führen, abhängig von der Insulingabe und nicht mehr ausschließlich auf der Basis ihren eigenen Körperfunktionen überlebensfähig zu sein. Auf die Lebensorientierung und die Lebens-
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führung wirken also das Ausmaß der zeitlichen Strukturierung des Alltags durch die Erkrankung und die Deutung der krankheitsbezogenen Handlungen durch den Einzelnen ein. Darüber hinaus beeinflusst eine chronische Erkrankung die zeitliche Strukturierung der Biographie. Während bei einigen Lebensgeschichten die Kontinuität im Vordergrund steht, sind andere deutlich durch die Krankheit geteilt. Die Interviewpartner, die Krankheit als einen Bruch bedeutsamer Lebensorientierungen erfahren, berichten von einer Zeit vor der Erkrankung und einer Umbruchphase durch die Erkrankung sowie von dem weiteren Leben mit ihr. Die Krankheit bildet in diesen Fällen einen zentralen Wendepunkt innerhalb der Biographie, es gibt also eine Zweiteilung der Biographie in eine Zeit der Gesundheit bzw. eine Zeit ohne die chronische Erkrankung und eine Zeit mit der Krankheit. Ein weiterer bedeutsamer Punkt ist das Zerbrechen der Selbstverständlichkeit einer hohen Lebenserwartung. Die damit verbundenen im Normallebenslauf vorgesehenen Zeiten für Ausbildung, Berufstätigkeit und Ruhestand, die Zeiten, denen Gesundheit und körperliche Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird und die Zeiten, in denen eher körperliche Einschränkungen, mögliche Krankheit und der Tod erwartet werden, sind als ordnende und Normalität schaffende zeitliche Struktur außer Kraft gesetzt. Planungen und Lebensgefühl entlang dieser zeitlichen Struktur werden in ihrer Selbstverständlichkeit fraglich oder zerbrechen. Die Wahrnehmung der Endlichkeit und der Begrenztheit des eigenen Lebens führt bei einigen Interviewpartnern zu einem bewussten Umgang mit Zeit vor diesem Vergleichshorizont, was sich beispielsweise in dem Bestreben äußert, die noch verbleibende Zeit der möglichen Aktivität intensiv zu nutzen und das Leben „richtig voll zu füllen“ (Int 7, S. 35). Unterhalb dieser die gesamte Biographie betreffenden zeitlichen Strukturierung gibt es eine Strukturierung der biographischen Zeit in verschiedene Lebensabschnitte, die mit dem Krankheitsverlauf und den damit verbundenen wechselnden Lebensbedingungen in Zusammenhang stehen (z. B. Dialyse, Spenderniere, Dialyse). Diese Form ist quer durch alle Gruppen anzutreffen und steht mit der Schwere der Erkrankung und den medizinischen Behandlungsmöglichkeiten in Beziehung. In der biographischen Zeit sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden und belegen die Kontinuität der Identität über die Zeit (vgl. Corbin/Strauss 1993). Der Vermittlungsprozess von historisch-biographischen Phasen im Leben eines Menschen muss im Zusammenhang mit einer chronischen Erkrankung jedoch in besonderem Maße geleistet werden. Die Kontinuität wird brüchig, wenn eine Erkrankung in das Leben eines Menschen krisenhaft eintritt. Das gegenwärtige Selbst ist durch die neue Situation verändert, das Selbst vor der Krankheit existiert nur noch in der Vergangenheit. Das bisher antizipierte Selbst in der Zukunft baute auf den Bedingungen des vergangenen Selbst auf, die in der Gegenwart verändert sind. Also existiert auch dieses zukünftige Selbst nicht mehr bzw. ist nicht mehr realisierbar. Während die bisherige Verbindung in die Vergangenheit und Zukunft unterbrochen ist, wird die Gegenwart als ausgedehnt erfahren. Für den Betroffenen steht in Frage, welche Teile des Selbst erhalten bleiben und welche verloren gehen. Im weiteren Verlauf müssen Veränderungen und Verluste dimensioniert und verarbeitet, die Krankheit als neuer Teil der Identität muss in die Biographie integriert werden. Es gilt, Wissen und praktische Fähigkeiten im Umgang mit der Krankheit zu erwerben, um die veränderte Situation einschätzen und kontrollieren zu können. Erst dann kann eine neue Zukunft entworfen und mit der Vergangenheit verknüpft werden, die unter den neuen Vorzeichen in verschiedenem Umfang ebenfalls neu geordnet oder bewertet wird. Dieser Prozess des Zerbrechens des bisherigen Selbstverständnisses und der damit verbundenen Le-
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bensbedingungen, eine Phase der ausgedehnten Gegenwart, in der das bisherige zukunftsbezogene Handeln unterbrochen ist und die nach einer Neuausrichtung wieder gewonnene Handlungsfähigkeit, ist typisch für das Verlaufsmuster der Brucherfahrung im Zusammenhang mit der Erkrankung (Typus B). Es findet sich in Ansätzen auch im Verlaufsmuster der Irritation (Typus C), in dem jedoch an die vormalige Vergangenheit und Zukunft wieder angeknüpft und die Lebensorientierung fortgesetzt wird. Das Erleben einer ausgedehnten Gegenwart kann zum einen eine aktuelle Krise anzeigen, in der die Verbindungen zur Vergangenheit und Zukunft durch eine akut veränderte Situation ausgesetzt sind und zum anderen als dauerhafter Zustand auftreten, wenn die mit einem stetigen Abwärtsverlauf der Erkrankung verbundenen negativen Zukunftserwartungen abgehalten werden und kaum positive Zukunftsvorstellungen möglich sind. In diesem Fall werden die negativen Erwartungen über die Zukunft nicht als aktuelle Krise erfahren, sondern die betreffenden Personen scheinen die sich verschlechternde gesundheitliche Entwicklung überwiegend akzeptiert und sich mit ihr abgefunden zu haben. Diese Lebensgeschichten weisen, im Kontrast zu der ersten Form der aktuellen Krise, neben der Erfahrung einer ausgedehnten Gegenwart auch eine detaillierte und szenische Darstellung von vergangenen Erlebnissen auf, die beim Erzählen aktualisiert werden und bedeutsam für die heutige Identität sind. Im Zusammenhang mit dem Zerbrechen der bisher erwarteten Zukunft durch die Erkrankung berichten Betroffene im weiteren biographischen Verlauf von einer Umgangsweise mit Zukunft, die eine Interviewpartnerin als „das zaghafte Zulassen von Zukunft“ beschreibt und die das schrittweise Hinausschieben des Zukunftshorizontes beinhaltet. Erfahrungen des Lebens mit der Erkrankung und die daraus entstehende zeitliche Berechenbarkeit des weiteren Krankheitsverlaufs führt zu einem etappenweisen Hinausschieben der Limitierung von Zukunftsvorstellungen und somit zu einem kontrollierten Zulassen von Zukunft. Diese hinausgeschobene limitierte Zukunft ist zwar deutlich eingeschränkt im Vergleich zu der von gesunden Menschen vorausgesetzten Zukunft, ermöglicht aber in einem gewissen Rahmen Vorausplanungen, Entwürfe und Simulationen, die für die weitere Lebensorientierung und Lebensführung von Bedeutung sind. Zugleich bleibt diese Zukunft prekär. Die zeitbezogenen Befunde dieser Untersuchung korrespondieren mit den Forschungen über Krankheit und Zeit von Fischer (1985, 1986) und differenzieren diese weiter aus. Die Dimension der Person bei der Krankheitsbewältigung Als Ergebnis dieser Untersuchung treten verschiedene personenbezogene Aspekte hervor, die bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung im Zusammenhang mit der Lebensorientierung und der Lebensführung von Bedeutung sind. Zu nennen sind hier die Art, die Schwere und der Verlauf der Erkrankung, vorhandene oder fehlende Potenziale und Hypotheken, der vorherrschende Bewältigungsstil der betroffenen Person, die Theorien über die Krankheitsursache, Zusammenhänge von Religion oder lebensphilosophischer Ansätzen und Krankheitsbewältigung sowie das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit. Die jeweilige Art und Schwere sowie der jeweilige Verlauf der Erkrankung wirken auf das Leben der betroffenen Person unterschiedlich ein. Ein gemeinsames Merkmal jedoch ist die Erfahrung von Verlust. Die primären Verluste durch die Krankheit liegen in den Bereichen bestimmter körperlicher Funktionen und der damit verbundenen Fähigkeiten. Die Interviewpartner dieses Samples leiden an Multipler Sklerose, Diabetes, rheumatoider Po-
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lyarthritis, Schlaganfall, Gehirnschrumpfung, Nierenversagen, Schwerhörigkeit und Asthma und sind daher von Verlusten in verschiedenen Funktions- und Fähigkeitsbereichen betroffen. Aus diesen primären leiblichen Verlusten können weitere Verluste resultieren, die in alle Lebensbereiche hineinwirken. Beispielsweise können Erfahrungen des Scheiterns wegen körperlicher Einschränkungen zunehmen und im Zusammenhang damit die erfolgreichen Handlungen abnehmen. Das Vertrauen in den eigenen Körper und seine vormals selbstverständlichen Funktionen wird brüchig. Interaktionsmöglichkeiten können verloren gehen, die Arbeitskraft, der Arbeitsplatz und die weiteren beruflichen Perspektiven können in Frage stehen. Beziehungen zwischen Partnern, in der Familie und im sozialen Umfeld ändern sich, bisherige Zielsetzungen und Zukunftsperspektiven zerbrechen. Weiterhin können Verluste zeitweilig oder dauerhaft sein, viele Bereiche betreffen oder auf einzelne Bereiche beschränkt sein. Möglicherweise kommen zusätzliche Verluste durch eine medizinische Behandlung hinzu. Die Selbstständigkeit kann teilweise oder umfassend verloren gehen und eine Angewiesenheit auf die Hilfe anderer nötig sein. Verluste können sich auch auf Rollen- und Identitätsvorstellungen beziehen, die im Zusammenhang mit Normen und Werten der Gesellschaft stehen. In Verbindung mit diesen Verlusten können neben nötigen Änderungen in der Lebensführung, die vorgenommen werden müssen, auch bisherige Lebensorientierungen in Frage stehen. Neben dem bereits oben angeführten Aspekt der Zeit, die für krankheitsbezogene Arbeit aufgewendet werden muss, ist diese Arbeit auch mit der Investition von Energie und Aufmerksamkeit sowie mit Informations- und Lernprozessen verbunden und beinhaltet die Verarbeitung und Regulierung von Emotionen, wie beispielsweise Trauer oder Angst, im Zusammenhang mit der Erkrankung. Die Bedingungen der jeweiligen Erkrankung haben durch die Art und Schwere der mit der Krankheit verbundenen Verluste, durch die Arbeit, die im Zusammenhang mit der Erkrankung zu leisten ist, und durch den Verlauf der Erkrankung einen großen Einfluss auf die Lebensgestaltung der Person. Zugleich stehen die Bedingungen der Erkrankung in Wechselwirkung mit den bisherigen biographischen Erfahrungen und der Persönlichkeit des betroffenen Menschen sowie der Lebensphase, in der dieser sich gerade befindet. Vor diesem Hintergrund kann die gleiche Krankheit sehr verschieden verarbeitet und bewältigt werden und das Leben in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Bei der Analyse der biographischen Bedingungen zur Bewältigung eines Lebens mit einer chronischen Krankheit lassen sich Potenziale und Hypotheken unterscheiden. Unter Potenzialen werden hier die persönlichen Möglichkeiten verstanden, die eine Person bei der Lebens- und Krankheitsbewältigung einsetzen kann. Dazu zählen die konstruktiv verwertbaren Erfahrungen aus der Herkunftsfamilie, die in der Schul- und Berufsausbildung erworbenen Fähigkeiten und der ökonomische Hintergrund, über den eine Person verfügt. Weiterhin gehören dazu verschiedene persönliche Fähigkeiten wie beispielsweise Fähigkeiten der Kommunikation, der Analyse, des Zeitmanagements oder der Problemlösung, die eine Person im Lebensverlauf in verschiedenen Lebensbereichen erworben hat. Die Herkunftsfamilie als primäre Sozialisationsinstanz bildet das Fundament, auf dem sich weiteres Potenzial entwickeln kann. In den Erzählungen bilden sich in diesem Punkt deutliche Unterschiede ab, die im Zusammenhang mit dem Herkunftsmilieu und mit dem Grad der emotionalen Zuwendung und Förderung in der Familie stehen. Häufig verweist schon die Anfangserzählung auf diesen Aspekt. Es fällt auf, dass die Interviewpartner, die über ein relativ hohes Potenzial verfügen, häufig ihre Erwünschtheit in der Familie und ihre für
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die anderen bedeutungsvolle Rolle thematisieren. Insgesamt verfügen die Interviewpartner in einem unterschiedlichen Grad über Potenziale. Wenn vielfältige Potenziale eingesetzt werden können, ist es auch bei der Betroffenheit von einer schweren Erkrankung mit langfristig hohen Verlusten möglich, neue Gestaltungsräume zu erschließen. Neben den Potenzialen können auch Hypotheken das Leben der Person überschatten und auf die Krankheitsbewältigung einwirken. Sie sind mit der Ablehnung des Kindes durch die Eltern, dem Verlassenwerden der Familie durch den Vater, einer schlechteren sozialen Stellung der Familie oder mit Problemen der Eltern verbunden. Eine Hypothek kann zwar als problematisch formuliert, zugleich aber auch als konstruktiv verarbeitet präsentiert werden. Im Kontrast dazu steht bei anderen Interviewpartnern das Erleiden der Hypothek im Vordergrund. Sie berichten von zum Teil schweren biographischen Hypotheken, die in Form von negativen Zuschreibungen und Ablehnung ihrer Person oder ihrer Herkunftsfamilie und den damit verbundenen Lebenserfahrungen ihre Biographie beeinflussen. Die jeweilige individuelle Ausgangslage der Person spielt eine erhebliche Rolle dabei, wie die Krankheit wahrgenommen, bewertet und verarbeitet wird. Das Bewältigungsverhalten der Interviewpartner kann in zwei Stile unterschieden werden. Entweder steht ein aktiv-konfrontativer oder ein reaktiv-abwehrender Bewältigungsstil im Vordergrund. Als weitere Variante gibt es Personen, deren Verhalten sich durch eine Mischform aus beiden Stilen auszeichnet. Bei dem als aktiv-konfrontativ bezeichneten Bewältigungsstil ist eine aktive Herangehensweise zu beobachten, für die eine Konfrontation mit dem Problem sowie eine weitgehend selbstgesteuerte Gestaltung des Wandels charakteristisch ist. Die bisherige Lebensorientierung wird frühzeitig überprüft und entweder bestätigt oder verworfen. Im letzteren Falle erfolgt eine aktive Neuorientierung, durch die neue Handlungsräume erschlossen werden und die Handlungsfähigkeit langfristig erhalten bleibt. Häufig wird ein Netz der kollektiven Bewältigung aufgebaut, das Kontinuität in Problemsituationen gewährleistet. Die betroffenen Personen versuchen, ihren Gestaltungsspielraum auszuschöpfen und verfügen über eine relative Kontrolle der Situation. Bei einem reaktiv-abwehrenden Bewältigungsstil hingegen wird die Auseinandersetzung mit der Krankheit nach der Diagnosestellung vermieden und eine intensive Beschäftigung mit der Krankheit und den Prognosen über ihren Verlauf abgewehrt. Interviewpartner, bei denen dieser Bewältigungsstil vorherrscht, reagieren auf aktuell auftretende gesundheitliche Probleme, berichten aber im Kontrast zu den Aktiv-Konfrontativen nicht von Vorkehrungen und Vorausplanungen. Das Aufrechterhalten und Bewahren des Status Quo steht hier im Vordergrund. Die bisherige Lebensorientierung kann zum Teil über einen langen Zeitraum hinweg fortgesetzt werden. Die Lebensführung wird ebenfalls so weit wie möglich beibehalten und nur an sich aktuell verändernde gesundheitliche Lagen angepasst, beispielsweise wenn durch akute körperliche Einschränkungen häufig Handlungen scheitern und ein hoher Leidensdruck entsteht. Es gibt Mischformen aus diesen beiden Bewältigungsstilen, in denen beispielsweise die Information über die Erkrankung ‚in homöopathischen Dosen’ zugeführt wird und die Auseinandersetzung mit der Zukunft schrittweise erfolgt. Theorien über die Krankheitsursachen sind in unterschiedlichem Ausmaß für die Lebensorientierung und die Lebensführung bedeutsam. Von den Interviewpartnern werden psychologische, umweltbedingte und genetische Aspekte oder auch multiple Faktoren als krankheitsverursachend angesehen. Teilweise wird auch ein Prozess geschildert, indem verschiedene Theorien in Verbindung mit Heilungsversuchen erwogen, jedoch nach einiger
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Zeit ohne Heilungserfolg wieder verworfen werden. Häufiger beeinflusst die jeweilige Theorie die Lebensführung, etwa, wenn bei psychologischen Theorien die eigene Vergangenheit psychologisch aufgearbeitet oder bei Umwelttheorien auf spezielle Nahrungsmittel oder Materialien Wert gelegt wird, um so positiv auf einen Gesundungsprozess einzuwirken. Auswirkungen solcher Theorien auf die Lebensorientierung werden dagegen selten deutlich. In einem Fall jedoch wirkt die Theorie des Betroffenen über die Ursache seiner Erkrankung umfassend auf seine weitere Lebensorientierung ein. Dieser Interviewpartner schreibt seine gesundheitliche Lage umwelttoxischen Einflüssen zu und entwickelt auf der einen Seite alternative Behandlungsformen und wird auf der anderen Seite gesellschaftspolitisch aktiv. Hier ist die veränderte Lebensorientierung also umfassend auf den Bezugsrahmen seiner Theorie von Vergiftung und Entgiftung aufgebaut und wird zum bedeutsamen Handlungs- und Sinnbezug. Die Bedeutung von Religion, eine Auseinandersetzung mit ihr oder ein Zusammenhang mit der Erkrankung wurden nur selten ohne Nachfrage thematisiert. Das könnte mit einer Tabuisierung dieses Themas in der Alltagskommunikation erklärt werden, aber auch damit, dass dieser Bereich für einige der Befragten von vornherein oder nach einer geführten Auseinandersetzung heute bei der Lebensbewältigung keine Rolle spielt (vgl. dazu v. Engelhardt 2004). Für einige Interviewpartner sind religiöse Bezüge bei der Bewältigung als geistiger Hintergrund zur Selbstverortung oder als Unterstützung bei der täglichen Lebensbewältigung über den institutionalisierten Rahmen der kirchlichen Rituale von Bedeutung. Die Unterstützung durch soziale Kontakte bei gemeinsamen religiösen Interessen und durch das Empfinden einer überpersönlichen Verbundenheit könnte als eine spezielle Form der sozialen Unterstützung verstanden werden. Darüber hinaus werden stärker oder schwächer ausgeprägte religiöse Bezüge auch in weiteren Interviews benannt, werden dort aber nicht in einen Zusammenhang mit der Krankheitsbewältigung gebracht. Schließlich gibt es, wie bereits angedeutet, diverse Interviewpartner, die religiöse Bezüge und eine Auseinandersetzung mit ihnen sowie eine mögliche Unterstützung von dieser Seite verneinen. Eindeutige Zuordnungen dieses Themas zu der in dieser Arbeit vorgestellten Typologie bezüglich der Lebensorientierung und Lebensführung kristallisierten sich nicht heraus. Die Äußerungen einiger Interviewpartner verweisen auf die Verknüpfung von Krankheit und Schuld bzw. Eigenverantwortlichkeit in religiösen oder weltanschaulichen Systemen und auf damit verbundene Auseinandersetzungsprozesse. Die Frage nach dem Verhältnis von Krankheit und Person in religiösen und weltanschaulichen Konzepten und deren Interpretation vom Einzelnen auf der Grundlage seiner Persönlichkeit und seiner Lebenserfahrungen kann hier allerdings nur aufgeworfen und müsste in einer eigenständigen Untersuchung geklärt werden. Schließlich stellt das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit einen wichtigen Aspekt bei der Krankheitsbewältigung dar. Der eigene Körper ist die Grundlage der persönlichen Identität und zugleich das Medium, über das der Kontakt mit der sozialen Umwelt stattfindet. Dieser Körper ist als zentraler Bereich von der Erkrankung betroffen, auf dieser Ebene werden als Erstes die Einschränkungen und Verluste sichtbar oder spürbar, während Gesundheit in der Regel als selbstverständliches Funktionieren des Körpers erfahren wird. Das kann mit verschiedenen Auswirkungen auf das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit verbunden sein. So können sich die bisherige Selbstverständlichkeit der Körpererfahrung und die damit verbundene Orientierung im Alltag verändern. Wenn der Körper nicht mehr in der vertrauten Weise funktioniert muss er beobachtet und kontrolliert werden. Durch die nun
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einsetzende Beobachtung oder Kontrolle von Körperfunktionen kann die vormals empfundene Einheit von Ich und Körper verloren gehen. Die notwendigen Kontrollhandlungen führen dann zu einer Zweiteilung der bisherigen unbewussten Einheit von Ich und Körper in Bezug auf diese Funktionen. Ein bislang vertrauter und zugehöriger Teil ihres Selbst wird auf diese Weise fremd. Jedoch wird die Kontrollthematik auch unter einer anderen Perspektive verarbeitet. Ein Interviewpartner hebt seine Fähigkeit zur Kontrolle und den geringen zeitlichen Aufwand dafür hervor und präsentiert vorwiegend den Aspekt seiner Handlungsfähigkeit. Auf eine Erfahrung von Fremdheit oder eine Erschütterung seiner leiblichen Identität gibt es in seiner Erzählung keine Hinweise. Als einen weiteren Aspekt der Erfahrung von Spaltung und Einheit werden die Annahme oder Ablehnung der von der Krankheit betroffenen Körperteile thematisiert, die mit Gefühlen von Selbstliebe oder Verachtung verbunden sind. Neben dem Verhältnis zum Körper, das auf eine praktische Ebene und den Umgang mit Funktionen bezogen ist, wird hier auf die emotionale Ebene verwiesen, die in Beziehung zum eigenen Körper für die Erfahrung der eigenen Leiblichkeit bedeutsam ist. Bei den Interviewpartnern, die in der Kindheit und frühen Jugend erkrankt sind, tritt die Empfindung der Einheit und eines überwiegend positiven Verhältnisses zur eigenen Leiblichkeit hervor, in das körperliche Einschränkungen bis zu einem gewissen Grad integriert sind. In diese normale Beziehung sind auch Zeiten eingeschlossen, in denen die Unzufriedenheit das vorherrschende Gefühl darstellt. Da sich das Verhältnis zur eigenen Leiblichkeit als Teil der Identität durch die frühe Erkrankung im Lebensverlauf unter der Voraussetzung der Krankheit herausbildet, scheint es plausibel, dass im Kontrast zu später erkrankten Personen Funktionseinschränkungen, Missempfindungen oder ein verändertes Aussehen bis zu einer gewissen Ausprägung in das Körperschema und das Selbstempfinden integriert sind und erst ab einem bestimmten Ausmaß konflikthaft verarbeitet werden. Die seltene Thematisierung der Körperempfindungen in den Erzählungen könnte mit einer Tabuisierung in Zusammenhang stehen, über solche Empfindungen zu sprechen. Darüber hinaus könnte sie auch als Ausdruck einer Bewältigungsstrategie gedeutet werden, den Körper zu ‚transzendieren’ und sich möglichst abgelöst von ihm mit anderen Dingen zu befassen, um unangenehme und schmerzvolle Empfindungen zu bewältigen. Das Verhältnis zu der eigenen Leiblichkeit umfasst also auf der einen Seite den praktischen, funktionsbezogenen Umgang mit dem Körper. Auf der anderen Seite beinhaltet dieses Verhältnis die identitätsbezogene Erfahrung, ein Leib zu sein. Diese Empfindung von sich selbst wird in unterschiedlichem Ausmaß als Einheit oder als gespaltenes Verhältnis erlebt und ist jeweils mit entsprechenden Gefühlen verbunden. Die Dimension der sozialen Interaktion bei der Krankheitsbewältigung In der Dimension der sozialen Interaktion treten in Bezug auf die Fragestellung einige Aspekte besonders hervor. Zunächst findet das soziale Leben und die damit verbundenen Interaktionen - und daher auch die Krankheitsbewältigung - in den Lebensbereichen Arbeit, Privatleben und gesellschaftliches Engagement statt. Bedeutsam ist die Beziehung zum professionellen medizinischen System, die vorhandene oder fehlende soziale Unterstützung im Bewältigungsprozess, die Wahrnehmung der erkrankten Person durch andere und ihre Stigmatisierung und schließlich die Zugehörigkeit zu der Welt der Kranken oder der Welt der Gesunden als bedeutsamer Orientierungspunkt in der Interaktion.
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Lebensorientierungen treten als überwiegend am Normallebenslauf orientierte Vorstellungen hervor, die auf den Bereich der Berufstätigkeit, auf den Privatbereich mit den Themen Partnerschaft, Familie und Freundeskreis sowie auf ein Engagement im gesellschaftlichen Bereich bezogen sind. Die Krankheit führt bei einem Teil der Betroffenen zu deutlichen Veränderungen in einem oder mehreren dieser drei Lebensbereiche, während bei anderen bisherige Vorstellungen und Handlungsräume über einen langen Zeitraum hinweg beibehalten werden können und sich zum Teil kaum, zum Teil schrittweise und in einigen Fällen zu einem späteren Zeitpunkt umfassend verändern. In den Erzählungen der Interviewpartner ist die Berufstätigkeit in finanzieller Hinsicht, in Bezug auf den sozialen Status und die Identität sowie als Möglichkeit der Teilhabe an der Gesellschaft bedeutsam. In vielen Fällen ist die Erwerbsarbeit oder eine vergleichbare Tätigkeit wichtig für die Lebensorientierung. Dieser Befund korrespondiert mit diversen Studien, die die Wichtigkeit von Arbeit betonen, und unterstreicht die Feststellung von Kohli (2003), dass in unserer Gesellschaft die Erwerbsarbeit als bedeutsame Orientierung im Lebensverlauf weiterhin von hoher Prägekraft ist, und dies trotz der Erosionstendenzen im Zusammenhang mit Individualisierungsprozessen in familialen und erwerbsbezogenen Bereichen. Die Ergebnisse dieser Arbeit verdeutlichen, dass dies nicht nur für gesunde Menschen, sondern auch für chronisch kranke Menschen gilt und zeigen die Brisanz eines Verlustes dieses Lebensbereiches als biographisch relevante Orientierung durch die Erkrankung. Die von Meier (1992) beobachtete Abwertung des berufsbezogenen Lebensbereiches zugunsten anderer sinnstiftender Aspekte wird von den Befragten zwar ebenfalls beschrieben, jedoch steht im biographischen Verlauf das Bemühen um die Weiterführung der Berufsarbeit oder den Aufbau eines vergleichbaren Bereichs deutlich im Vordergrund der Lebenserzählungen, sodass die Schlussfolgerung von Meier – die Abwertung der Bedeutung der beruflichen Tätigkeit im Krankheitsfalle – für dieses Sample nicht bestätigt werden kann; im Gegenteil, die Bedeutung der Arbeit als Orientierungspunkt im Leben ist sogar zu unterstreichen. Der Arbeitsbereich ermöglicht, Identität, Kompetenz und Anerkennung zu erfahren, eigene Potenziale zum Ausdruck zu bringen, sozial eingebunden zu sein und an der Gesellschaft teilzuhaben. Gerade im Zusammenhang mit der Erfahrung einer Bedrohung durch die Erkrankung und den mit ihr verbundenen Zuschreibungen bringen einige Interviewpartner eine besondere Leistungsmotivation zum Ausdruck. Wenn die berufsbezogene Lebensorientierung aufgegeben werden muss wird dies wiederholt als bedeutsamer Verlust geschildert, der, soweit es die körperliche Verfassung erlaubt, teilweise oder umfassend durch die Schaffung eines vergleichbaren Tätigkeitsbereiches im Bereich des gesellschaftlichen Engagements oder im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung kompensiert wird. Aus den bisherigen Ausführungen ergeben sich zwei weitere Überlegungen. Die erste Überlegung bezieht sich zunächst auf das Individuum. Wenn mit dem Verlust der Arbeit auch der Verlust einer bisher bedeutsamen Lebensorientierung verbunden ist, sind Auswirkungen auf das Empfinden von Sinnhaftigkeit im Leben und auf die Handlungsfähigkeit im Alltag des Betroffenen naheliegend. Diese Komponenten hat Antonovsky (1997) in seinen Untersuchungen als wesentlich für die Gesundheitsentstehung identifiziert. Im Anschluss an seine Ergebnisse könnte man schlussfolgern, dass die durch einen bedeutenden Verlust gekennzeichnete Lage des chronisch Erkrankten noch zur Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situation beiträgt, während ein Erhalt der bisher möglichen Orientierung an Er-
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werbsarbeit oder eine erfolgreiche Neuorientierung und die Schaffung von kompensatorischen Tätigkeiten eher Prozesse der Gesundheitsentstehung unterstützen. Aus gesellschaftlicher Sicht scheint eine weitere Überlegung bedeutsam. Viele der interviewten Personen verfügen über spezifische Kompetenzen aus langjährigen Bildungsprozessen und haben eine hohe Leistungsbereitschaft. Diese Personen sind trotz teilweise starker körperlicher Beeinträchtigungen motiviert, zu arbeiten bzw. sich zu engagieren und realisieren auf diese Weise noch mögliche Sinnpräferenzen. Kompetenzen und Leistungsbereitschaft dieser Menschen werden von gesellschaftlicher Seite mit den bestehenden Arbeitsstrukturen offensichtlich zu wenig wahrgenommen und aufgegriffen, sodass ein den Bedingungen der erkrankten Person angepasstes Tätigkeitsfeld jeweils nur mit großem persönlichen Engagement geschaffen werden kann. Dieses Potenzial an Kompetenzen und Leistungsbereitschaft geht der Gesellschaft bei unflexibler Strukturierung von Arbeitsbedingungen verloren. Der noch leistungsbereite und leistungsfähige, aber nicht mehr in einem typischen Erwerbsarbeitsrhythmus einsetzbare Mensch ist auf sich selbst und seine kreativen Fähigkeiten und sozialen Kontakte verwiesen, um, wie es eine Interviewpartnerin ausdrückt, „sich noch nützlich zu machen“. Manche der Betroffenen haben die Kontakte und die Möglichkeiten, sich ehrenamtlich oder geringfügig beschäftigt einen Wirkungsbereich aufzubauen und bestehende Strukturen zu nutzen, andere können das weniger gut. Die berenteten Interviewpartner, die ihre Leistungsbereitschaft in neuen Bereichen umsetzen konnten, zeichnen sich durch hohes persönliches Engagement, zumeist einen höheren Bildungsgrad und durch hohes soziales Kapital aus bzw. durch die Fähigkeit, dieses aufzubauen. Und schließlich wird das spezielle Wissen, das in Lernprozessen durch die Auseinandersetzung und den alltäglichen Umgang mit einer chronischen Erkrankung entsteht, kaum als gesellschaftlich relevante Kompetenz genutzt. Im Kontrast zu anderen Epochen und Gesellschaftsmodellen besteht in unserer Gesellschaft in der Regel ein Krankenversicherungsschutz sowie ein Anspruch auf Unterstützung im Falle der Erwerbsunfähigkeit, da die Grundversorgung durch sozialstaatliche Rahmenbedingungen gewährleistet ist. Auf der einen Seite bieten diese Bedingungen also eine grundsätzliche Absicherung der Existenz, wenn auch teilweise auf niedrigem Niveau. Auf der anderen Seite setzt sich die soziale Ungleichheit bei der Krankheitsbewältigung fort. Dies zeigt sich sowohl an der materiellen Situation im Krankheitsfalle als auch bei den anderen verfügbaren Potenzialen, die zur Bewältigung der Krankheit eingesetzt werden können. Höhere Pensionen, Renten oder Versicherungssummen ermöglichen eine weitgehende Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstils, die Absicherung der Familienmitglieder sowie über die medizinische Grundversorgung hinausgehende Zusatzbehandlungen und können auf diese Weise zur konstruktiven Unterstützung des Bewältigungsprozesses beitragen. Formelles und informelles Bildungskapital – beispielsweise Fachwissen und kommunikative Fähigkeiten – eröffnet Möglichkeiten der Umorientierung, die mit neuen Lebenszielen und mit dem Erwerb eines neuen sozialen Status verbunden sein können. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit weisen darauf hin, dass schicht- bzw. milieuspezifische Faktoren sich bei der Bewältigung einer chronischen Erkrankung auf Lebenschancen und den Umgang mit Lebensorientierungen auswirken, in den Interviews wird aber zugleich deutlich, dass weitere Faktoren, wie beispielsweise biographische Hypotheken, quer zur sozialen Schichtung Einfluss nehmen. In welcher Weise Schicht bzw. Milieu mit typischen Verarbeitungsmustern in Bezug auf Lebensorientierung und Lebensführung bei
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einer chronischen Erkrankung verbunden sind, wäre in einer weiterführenden Untersuchung zu klären. Im privaten Lebensbereich stellen die Paarbeziehung und die Elternschaft für viele Interviewpartner bedeutsame Lebensorientierungen dar. In geringerem Maße werden auch Freunde und Hobbys als bedeutsam geschildert, diese treten in den Erzählungen dann mehr hervor, wenn sich der Interviewpartner zum Zeitpunkt der Erzählung nicht in einer Paarbeziehung befindet. Neben der erkrankten Person selbst ist also auch das Umfeld, insbesondere die nahen Angehörigen, von der Erkrankung in verschiedener Intensität betroffen. Entsprechend der Lebensphase, in der die Interviewpartner erkrankt sind, handelt es sich dabei um die Eltern, um einen Partner oder eine Partnerin und um die Kinder. Bei denjenigen Interviewpartnern, die in der Kindheit erkrankten, übernehmen zunächst die Eltern die Verantwortung für die Bewältigung der gesundheitlichen Problematik, die zu einem wesentlichen Orientierungspunkt der Familie wird. Die Eltern und gelegentlich die Geschwister stellen ihre Lebensführung auf die Notwendigkeiten ein, die sich aus den Bedingungen der Erkrankung ergeben. In einer anderen Weise kann eine Erkrankung die Beziehungen zu anderen Menschen beeinflussen, wenn sie in der späten Jugendzeit oder im frühen Erwachsenenalter auftritt, in der unter anderem die Themen der eigenen Geschlechtsrolle und die Partnersuche biographisch aktuell sind. Einige Personen im frühen und mittleren Erwachsenenalter stellen bereits bestehende Paarbeziehungen in Frage und verhandeln sie neu mit ihren Partnern. Hier wird deutlich, dass das Verhalten des gesunden Partners und seine Einstellung zur Krankheit einen biographisch bedeutsamen Einfluss darauf nimmt, ob es zu einem massiven Umbruch und einer Neuorientierung innerhalb des privaten Lebensbereiches der erkrankten Person kommt oder ob die Kontinuität hier im Wesentlichen erhalten bleibt. Neben Erzählungen, die in umfassender Weise eine gemeinsame Bewältigung belegen, gibt es andere, in denen Trennungserfahrungen in Verbindung mit der Erkrankung beschrieben werden. Die Interviewpartner, die bereits als Kind erkrankten, beschreiben keine Probleme im Bereich der Partnerbeziehung in Verbindung mit der Erkrankung, sondern hier steht eher ein selbstverständlicher Umgang mit dem Thema und ein gutes Selbstwertgefühl in der Geschlechtsrolle im Vordergrund. Das kann auf der einen Seite im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die Krankheit und ihr körperlicher Ausdruck bereits als Kind vertraut sind und in die körperliche Entwicklung und die Ausbildung der Identität und damit verbunden in die eigene Geschlechtsrolle integriert werden. Auf der anderen Seite lernen die früh betroffenen Personen ihre Partner bereits mit ihrer gesundheitlichen Einschränkung kennen und werden daher mit ihr akzeptiert. Das Kranksein steht durch diese Akzeptanz dann nicht in Opposition zu dem Wert als Partner. Kinder und Enkel stellen häufig eine bedeutsame Lebensorientierung im Privatbereich dar, die jedoch zum einen in Abhängigkeit von der Lebensphase und zum anderen im Zusammenhang mit der Erkrankung und den damit verbundenen persönlichen Lebensumständen mehr oder weniger im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht. Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Orientierungsprozesse fällt bei der Auswertung der Daten auf, dass Frauen, die relativ früh im Lebensverlauf erkranken, häufig die Auseinandersetzung und die Entscheidung für oder gegen Kinder bzw. eine Berufstätigkeit explizit thematisieren. Sie wägen beispielsweise ihre aktuellen und zukünftigen Kapazitäten dahingehend ab, ob es möglich ist, Kinder zu bekommen und sie langfristig versorgen zu können. Sie beziehen die (neuen) Bedingungen der Erkrankung auf verschiedene mögliche Lebensentwürfe. Neben den Optionen, berufstätig ohne Kinder und mit Kindern zu sein,
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gibt es mit der Tätigkeit als Hausfrau einen weiteren (weiblichen) Lebensentwurf, für den sich beispielsweise eine Interviewpartnerin aufgrund der Belastung durch die Krankheitsbewältigung entscheidet und ihre zuvor bestehenden beruflichen Vorstellungen aufgibt. Diese Form der Thematisierung von Auseinandersetzungs- und Entscheidungsprozessen findet sich nur bei Frauen. Die alltägliche Versorgung der Kinder wird von den hier befragten Männern nicht in Verbindung mit ihrer Erkrankung thematisiert, Überlegungen zur Familiengründung äußern sie im Zusammenhang mit Berufstätigkeit und finanziellen Aspekten. Insgesamt gesehen sind Freunde wichtig und werden immer wieder erwähnt, stehen aber nicht im Vordergrund der Erzählungen. Sie sind nicht in zentraler Weise bedeutsam für die Lebensorientierung, sondern eher eine wichtige Unterstützung bei der alltäglichen Lebensbewältigung. Soziale Unterstützung stellt eine bedeutsame Komponente im Bewältigungsprozess dar. Dieser Befund wird noch unterstrichen durch die Schilderungen von problematischen Erfahrungen durch Isolation. Sowohl die Qualität als auch die Zahl und Vielfältigkeit der sozialen Beziehungen zu Menschen in verschiedenen Lebensbereichen spielen hier eine Rolle. Die wichtigsten Beziehungen sind diejenigen zum Partner oder zur Partnerin, zu Familienangehörigen oder zu Freunden. Darüber hinaus werden auch Kontakte im Arbeitsbereich als Unterstützung erlebt und für einige Befragte die Unterstützung hilfreich, die sie im Austausch mit anderen von Krankheit betroffenen Menschen beispielsweise in Selbsthilfegruppen erfahren. Die verwendete Metapher eines dicht geknüpften Netzes verweist auf eine gemeinsame Krankheitsbewältigung, in der die zu tragende Last auf verschiedene Schultern verteilt werden kann. Das aktive Aufbauen eines solchen Netzes setzt allerdings einige biographische Potenziale voraus. Im Kontrast dazu wird die Isolation von einem Interviewpartner als Abkapselung beschrieben. Diese beiden Metaphern, „das dichte Netz“ und „die Abkapselung“, sind als zwei Pole eines Kontinuums von sozialer Unterstützung vorstellbar. Die Position eines Erkrankten auf diesem Kontinuum verdeutlicht, in welchem Maße er im Bewältigungsprozess auf soziale Unterstützung zurückgreifen kann, um die für ihn bedeutsamen Lebensorientierungen weiter zu führen oder neu zu ordnen und um seinen Alltag zu bewältigen. Ein weiterer bedeutsamer Aspekt bei der Bewältigung eines Lebens mit einer chronischen Erkrankung ist die Wahrnehmung der erkrankten Person durch andere und ihre mögliche Stigmatisierung. In welcher Weise die Erkrankung für die Umwelt erfahrbar ist, hat einen Einfluss auf die Interaktion zwischen der erkrankten Person und den Personen im Umfeld. Manche Erkrankungen sind von außen deutlich wahrzunehmen und eindeutig als krank identifizierbar, andere äußern sich in einem von der Normalität abweichenden Verhalten, das auffällig, aber nicht eindeutig als krank identifizierbar ist und daher einen Spielraum für Missdeutungen lässt. Darüber hinaus gibt es Erkrankungen, die für andere nicht erkennbar sind. Diese Unterschiede sind sowohl durch die Art und Schwere der Erkrankung bestimmt als auch durch den Verlauf der Krankheit über die Zeit. Wenn eine Krankheit durch bestimmte Zeichen für andere offensichtlich ist, muss die erkrankte Person sich mit den Reaktionen und Zuschreibungen des Umfeldes permanent auseinandersetzen. In diesem Fall wird die soziale Identität in bedeutsamer Weise von der Erkrankung bestimmt, denn die Krankheit wird von anderen als zentraler Teil der Person wahrgenommen. Andere Aspekte der Persönlichkeit werden von der sichtbaren Erkrankung überlagert. Durch das Stigma der Krankheit erfährt der erkrankte Mensch eine Besonde-
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rung, die ihn von der Zugehörigkeit zu der Welt der Gesunden ausschließt. Die Zuschreibungen, die ihm entgegengebracht werden, können sich auf Eigenschaften oder Verhaltenserwartungen, aber auch auf vorhandene oder nicht vorhandene Kompetenzen beziehen und sich dann beispielsweise auf Chancen im Berufsleben auswirken. Die Wahrnehmung der Krankheit und deren Verlauf können bei gesunden Menschen verschiedene Gefühle auslösen, die von Mitleid über Hilflosigkeit bis hin zu eigenen Ängsten reichen. Mit diesen Gefühlszuständen von anderen muss sich der erkrankte Mensch in der Interaktion auseinandersetzen und passende Umgangsformen finden. Als Träger der Krankheit verweist er auf eine unerwünschte und bedrohliche Lebenssituation, von der der Gesunde eines Tages selbst betroffen sein könnte und bedroht daher die Kontinuitätserwartung des Gesundseins. In diesem Fall wird er zu einem ‚Botschafter des Schreckens’. Reaktionsformen darauf können die Abwehr des Kranken, eine Polarisierung in Bereiche von Gesundheit und Krankheit mit entsprechender Verortung oder ungewollte oder übertriebene Hilfsangebote sein, mit denen sich die erkrankte Person wiederum auseinandersetzen muss. Weiterhin können Krankheitszeichen wahrgenommen, aber nicht als solche erkannt, sondern in einer anderen Weise interpretiert werden. In einem solchen Fall beziehen sich die Zuschreibungen und Reaktionen der anderen nicht auf die Realität des erkrankten Menschen, sondern sie stigmatisieren ihn in einem völlig anderen Zusammenhang. Diese (Miss-)Deutungen der anderen führen bei dem erkrankten Menschen zu der Erfahrung, in verschiedenen Welten zu leben. Die Trennung erfolgt hier durch die mit der jeweiligen Interpretation verbundene Zuschreibung und durch das Unverständnis der Gesunden für die Lage des Erkrankten. Ebenso kann die Krankheit für andere nicht wahrnehmbar sein. Dann ist es für den erkrankten Menschen möglich zu kontrollieren, wer welche Information über die Erkrankung erhält. Diese bewusste Informationskontrolle beinhaltet ebenfalls eine Trennung. Ein bedeutsamer Aspekt der Person wird verborgen, um die normale, nicht von der Erkrankung bestimmte Beziehung zu anderen aufrecht zu erhalten. Zugleich verweist diese Strategie durch die Zurückhaltung der Information wiederum auf den großen Raum, den eine Krankheit in der sozialen Identität einnimmt. Schließlich wird von den Interviewpartnern noch eine fehlende Wahrnehmung von vorhandenen Anzeichen einer Erkrankung oder von Einschränkungen beschrieben. Entweder werden Krankheitszeichen nicht registriert oder aber sie werden zwar wahrgenommen, aber in ihrer Bedeutung für den erkrankten Menschen in der alltäglichen Lebensführung nicht erfasst. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die auf die Erkrankung bezogene soziale Wahrnehmung und Stigmatisierung eine Auseinandersetzung oder Reaktion von der erkrankten Person erfordern. Krankheitsbestimmte Fremdbilder und Stigmatisierungen können sich beispielsweise durch die mit einer krankheitsbezogenen Zuschreibung verbundene Verringerung von Chancen auf bedeutsame Lebensorientierungen auswirken und in unterschiedlicher Weise die alltägliche Lebensführung beeinflussen. Neben anderen Bewältigungsleistungen ist auch Arbeit nötig, um die soziale Identität zu steuern, um beispielsweise nicht nur als krank und hilfsbedürftig, sondern auch als kompetent und leistungsfähig wahrgenommen zu werden. Die jeweilige Bedeutung der Krankheit und die mit ihr verbundenen Emotionen müssen in den unterschiedlichen Beziehungen zu anderen bearbeitet werden.
Schluss
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Zwei Welten Als ein weiteres Ergebnis führte die Auswertung des Untersuchungsmaterials zu dem Konzept der zwei Welten, die sich durch den vorherrschenden Bezug auf Gesundheit bzw. auf Krankheit voneinander unterscheiden und die Lebenswirklichkeit und damit auch die Lebensorientierung und Lebensführung erheblich beeinflussen können. Dieses Konzept korrespondiert mit dem Ansatz von Gerdes (1986), der in seiner Arbeit im Zusammenhang mit einer Krebserkrankung den „Sturz in eine andere Wirklichkeit“ beschreibt und so auf die verschiedenen Wirklichkeiten von gesunden und erkrankten Menschen hinweist. Ebenso deutet die Metapher der zwei Staatsbürgerschaften, mit denen jeder Mensch geboren wird, „eine im Reich der Gesunden und eine im Reich der Kranken“ von Sontag (1978, S. 5) in diese Richtung. Auf der einen Seite verweisen die Interviewpartner in ihren Erzählungen auf diese beiden Welten, auf der anderen Seite ist der Umgang mit diesen Welten und die individuelle Verortung in ihnen jedoch recht unterschiedlich und abhängig vom Zusammenwirken verschiedener Faktoren. Dazu zählen Art und Schwere der Krankheit, die Krankheit in der sozialen Wahrnehmung sowie damit verbundene Zuschreibungen und Handlungsweisen von anderen, die individuelle Bewertung der eigenen Lage und der möglichen zukünftigen Entwicklungen, das Vorhandensein eines vorwiegend aktiven oder vorwiegend reaktiven Bewältigungsstils, die bestehenden biographischen Potenziale und Hypotheken und der Grad an sozialer Unterstützung. Die jeweilige Verortung – in einer der beiden oder zugleich in beiden Welten – kann sich darüber hinaus im Verlauf der Zeit verändern und beispielsweise im Zusammenhang mit einer Veränderung der gesundheitlichen Situation, mit auf die Bewältigung bezogenen Lernprozessen und mit dem Aufbau und der Realisierung einer neuen Lebensorientierung erfolgen. Während die Integration beider Welten als zwei Aspekte der Identität und damit die Normalität und ein Nebeneinander von Gesundheit und Krankheit bei den früh im Lebensverlauf erkrankten Personen hervortritt, ist dies nicht selbstverständlich für Menschen, die nach der Pubertät erkranken. Ein Teil der Befragten entwickelt im Verlauf der Auseinandersetzung mit einem Leben mit Krankheit ein vergleichbares integriertes Selbstverständnis, das eine Verortung in beiden Welten und ein Sich-Bewegen in ihnen und zwischen ihnen ermöglicht. Bei der Konstitution der beiden Welten spielen internalisierte gesellschaftliche Werte und Ideale (vgl. Zaumseil 2000) und damit verbundene Lebensentwürfe bei Gesunden und Kranken eine Rolle, ebenso wie krankheitsbedingte körperliche Grenzen und ihre Folgen, die Krankheit als Symbol für eine unerwünschte Zukunft und Auslöser von Angst (vgl. auch Sontag 1978) sowie die Unwissenheit der Gesunden. Die Interviewpartner thematisierten wiederholt die Unwissenheit bei Gesunden als trennenden Faktor, der mit Missverständnissen, Zuschreibungen, Konflikten, Unverständnis oder mit gedankenlosem Handeln von Gesunden verbunden ist und zu einer Erfahrung des Lebens in verschiedenen Welten führt. Diese Unwissenheit bei Gesunden zu verringern könnte meines Erachtens ein Ansatzpunkt sein, um auf der Ebene der sozialen Interaktion eine positivere oder leichtere Bewältigung eines Lebens mit einer chronischen Erkrankung zu unterstützen. Ein selbstverständlicherer und unbefangenerer Umgang von Menschen mit und ohne gesundheitliche Einschränkungen miteinander sowie die damit verbundene Annäherung der beiden Welten wäre für beide Seiten ein Zugewinn an Normalität. Hierfür wäre jedoch eine grundsätzliche Haltung nötig, die das Prinzip der Integration in den Vordergrund stellt und nicht die Ausdifferenzierung in verschiedene spezialisierte Teilbereiche.
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Anhang
Thematischer Leitfaden für die biographischen Interviews
Biographische Erfahrungen in den verschiedenen Lebensphasen Kindheit, Jugend, frühes, mittleres, spätes Erwachsenenalter
Biographische Erfahrungen in den verschiedenen Lebenslinien Berufsbezogene Lebenslinie: Schule, Ausbildungen/Qualifikationen, Prozess der beruflichen Entwicklung, berufliche Veränderungen im Zusammenhang mit der Erkrankung, aktuelle berufliche Situation, auf die Zukunft bezogene berufliche Wünsche, Ziele, Ängste Private Lebenslinie: Herkunftsfamilie, Selbstverhältnis, relevante Beziehungen, Prozess der eigenen Familiengründung, Veränderungen im Zusammenhang mit der Erkrankung, zukünftige Erwartungen, Wünsche und/oder Befürchtungen, Freundeskreis Gesellschaftliche Lebenslinie: Soziale, politische, kulturelle Aktivitäten, Bereich des besonderen Engagements, Interaktionen im öffentlichen Raum, Zugehörigkeiten, Teilhabe, Ausschluss
Biographische Erfahrungen mit der Erkrankung Wahrnehmung der Krankheit, Diagnosestellung, Verlauf der Erkrankung, mit der Erkrankung verbundene Einschränkungen und Verluste, Auswirkung auf das Selbstverhältnis, Reaktion von anderen auf die Erkrankung, Auswirkung der Erkrankung auf Lebenspläne, Folgen der Erkrankung in der privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Lebenslinie, soziale Auf- und Abstiegsprozesse
Bewältigung des Lebens mit der Erkrankung Medizinische Unterstützung, Behandlung, Therapie, unterstützende Personen, Beziehungen, Institutionen, Unterstützung durch Religion oder Weltanschauung, Bewältigungsstrategien
Zukunft zukünftige Vorstellungen in den drei Lebenslinien, Ängste, Hoffnungen
Anhang
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Fragebogen zu Sozialdaten Daten zu Person und Herkunft Name: Geburtsjahr: Berufe/Tätigkeiten der Eltern: Anzahl der Geschwister: Erkrankungen in der Herkunftsfamilie: Familienstand: Kinder / Geboren (Jahr): Lebensform heute: Freundeskreis: Gesellschaftliches Engagement:
Berufliche Daten Schulabschluss: Etappen der Berufsausbildung und Berufsausübung:
Aktuelle berufliche Lage:
Daten zur Krankheit Beginn der Erkrankung: Etappen/Verlauf:
Gesundheitliche Situation heute:
Therapiemaßnahmen: (Krankenhausaufenthalte:)
Mutter
Heirat (Jahr):
Vater
Scheidung (Jahr):
300
Anhang
Transkriptionsregeln Bei der Festlegung der Transkriptionsregeln wurden zwei Punkte berücksichtigt: Die Transkription sollte die Eigenart der jeweiligen Gesprächspartner und ihre Auseinandersetzung mit den verschiedenen Themen wiedergegeben; zugleich sollte sie eine leichte Lesbarkeit des Textes erlauben. Daher wurde das erhobene Material wörtlich transkribiert und dabei eine Mischform aus der literarischen Umschrift und der Übertragung in ein normales Schriftdeutsch gewählt (vgl. Mayring 2002, S.91 ff). Im Folgenden werden die Transkriptionsregeln angeführt: In Bezug auf die Lautgestalt wird der Text auf der einen Seite geglättet, beispielsweise indem Äußerungen wie „ähh“ nicht protokolliert, Verschleifungen wie „ham wir“ als „haben wir“ oder „des Auto“ als „das Auto“ verschriftlicht werden. Auf der anderen Seite wird die Satzstellung beibehalten und eine starke Dialektfärbung im gesamten Interview oder in bestimmten Passagen, in denen sie besonders hervortritt, angedeutet. Redepausen bis vier Sekunden werden mit +, bis acht Sekunden mit ++, bis 12 Sekunden mit +++ usw. gekennzeichnet. Parasprachliche Äußerungen, wie beispielsweise Lachen oder deutlich hörbares Ausatmen, sind in Klammern an die entsprechende Stelle im Text gesetzt, z. B. (lacht) oder (atmet aus), ebenso wird ein deutlicher Unterschied in der Lautstärke angegeben, z. B. (leiser). Auch Gestik oder Handlungen, die direkt auf das Interview bezogen sind, werden in dieser Weise wiedergegeben, z. B. (zeigt auf das Bild) oder (steht auf und holt das Buch). Ebenfalls werden so weitere Merkmale der Kommunikation beschrieben, die für das Verstehen der Äußerungen von Bedeutung sein können, wie beispielsweise Unterbrechungen bzw. Störungen (Kind fragt etwas) oder (Telefon klingelt – Telefongespräch). Unverständliche Äußerungen sind mit einem Fragezeichen und der Tonträgerlaufzeit in Klammern wiedergegeben, z. B. ? (54:20), nicht sicher verstandene Äußerungen mit einem Fragezeichen in eine Klammer gesetzt, z. B. (er?). Die Daten sind anonymisiert, indem alle Eigennamen verändert und die Ortsbezeichnungen durch Buchstaben ersetzt werden. Darüber hinaus werden spezifische, möglicherweise zuordenbare Ereignisse, Berufsbezeichnungen und Arbeitgeber verallgemeinert.
Anhang
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Schema zur Analyse der biographischen Interviews I Formales Codenummer, Codename, Datum, Ort, Zeit Interview II Allgemeine Sozialdaten Geschlecht, Jahrgang, Soziale Lage, Bildungsstand, Familienstand III Kategoriale Auswertung in den zentralen Kategorien 1 Person Allgemein: Potential, Hypothek, Bewältigungsformen, Selbstbild Auf den Körper bezogen: Entwicklung im Zusammenhang mit der Krankheit, Einschränkungen, Verluste, Rehabilitation, Arbeit zur Kontrolle der körperlichen Verläufe und zum Erhalt der Funktion, Beziehung zum Körper 2 Umwelt Interaktion mit anderen Menschen, Interaktionen in verschiedenen Kontexten, Fremdbild, Zugehörigkeit, Ausschluss, Verluste in Beziehungen oder Lebensbereichen, Stigmatisierungen, Hilfeleistungen, zeitgeschichtliche Bedingungen, jeweils aktueller Kontext 3 Art, Schwere und Verlauf der Krankheit Erkrankung zeigt sich wie (z. B. körperliche Symptomatik, für andere offensichtlich wahrnehmbar/nicht wahrnehmbar), primäre (und sekundäre) Verluste, prognostizierter Verlauf, bisherige Erfahrungen mit dem tatsächlichen Verlauf, welche (alternativ-)medizinischen Behandlungsmöglichkeiten gibt es bzw. werden versucht oder abgelehnt, mit welchem Erfolg, Vorerfahrungen mit der Erkrankung 4 Auf Bewältigung bezogene Strategien Akzeptanz, Integration, Abwehr, Konfrontation, Netzwerkbildung, Isolation, überwiegend Handeln oder Erleiden 5 Zeit Lebensphase zum Diagnosezeitpunkt und Lebensphase heute, zeitliche Aufwendungen für die Erkrankung, Dauer und Verlauf der Erkrankung, Lebensverlauf, biographische Entwicklung, Verhältnis zu und Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft 6 Biographische Orientierung Bedeutsame Personen und Beziehungen, bedeutsame Sinnwelten und Lebensbereiche, Werteorientierungen, Befürchtungen, Normalbiographie, auf Krankheit und/oder auf Gesundheit bezogene Welt 7 Lebenslinien Ausprägungen und Entwicklungsverläufe im familialen, beruflichen und gesellschaftlichen Bereich IV Gegenwärtige Bewältigung des Lebens mit der Krankheit Erzählweise (thematische und emotionale Schwerpunksetzungen und Hervorhebungen, Ausprägung von erzählenden, beschreibenden und argumentativen Anteilen bezogen auf bestimmte Themen, temporale Anordnung, parasprachliche Hinweise, Aussparen von Themenbereichen) Themen der aktuellen Auseinandersetzung Aktuell bestehende gesundheitliche Krise oder Phase der relativen Stabilität Verhältnis zum Körper und zu körperlichen Einschränkungen und Verlusten Aktuelle Situation im privaten, beruflichen und gesellschaftlichen Lebensbereich
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Anhang
Aktuelle Zufriedenheit/Unzufriedenheit mit der derzeitigen Lage Verortung, Zugehörigkeit (auf Gesundheit und/oder auf Krankheit bezogene Welt) Erwartungen und Befürchtungen, Umgang mit Zukunft V Rekonstruktive Beschreibung der Lebensgeschichte 1 Lebensverhältnisse und Lebensgeschichte bis zum Eintritt der Krankheit (Soziale Herkunft, Familienverhältnisse, weiterer Lebenskontext, Lebensgeschichte bis z. Krankheit) 2 Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung (Zeitpunkt, Krankheitserfahrung und Diagnose, erste Auseinandersetzung mit der Krankheit, Wahrnehmungs- und Integrationsweise, Auswirkung auf Lebensorientierung und Lebensführung) 3 Lebensgeschichte mit der Krankheit nach der ersten Auseinandersetzung bis zur Gegenwart (Weiterer Lebensverlauf mit der Krankheit, Bewältigungs- und Integrationsformen, langfristige Auswirkungen der Erkrankung , aktuelle Verarbeitung und Auseinandersetzung, auseinandersetzung mit der Zukunft) VI Weitere Verdichtung und Verknüpfung der bisherigen Daten 1 Verlauf der Lebens- und Krankheitsgeschichte 1.1 Lebensverhältnisse und Lebensgeschichte bis zum Eintritt der Krankheit Soziale Herkunft Bildungsgang und beruflicher Werdegang Eigene soziale Lage und Familienform Zukunftsentwürfe, biographische Orientierungen Persönliche Potentiale oder Hypotheken, soziales Umfeld 1.2 Einbruch der Krankheit in das Leben und erste Auseinandersetzung Lebensphase Art der Krankheit, Verlauf, Schwere Erster Umgang mit der neuen Situation, Konfrontation, Abwehr, Umgang mit Zukunft Auswirkung auf Lebensorientierung und Lebensführung 1.3 Weiterer Verlauf bis zur Gegenwart Krankheitsverlauf Bewältigung und Integration der Krankheit Gestaltungs- und Anpassungsprozesse (handlungsschematische und kontrollschematische Prozesse und Prozesse des Erleidens) Verortung in der auf Gesundheit bezogenen oder einer auf Krankheit bezogenen Welt Private, familiale Entwicklung Berufliche Entwicklung, Austritt aus dem Erwerbsleben Gesellschaftliches Engagement Aktuelle soziale Lage, Lebenssituation, soziale Kontakte 2 Kontrastierung von erlebter und erzählter Lebensgeschichte Entwicklungen Übereinstimmungen Differenzen 3 Zusammenfassung Gestalt der Erzählung Entwicklung der Lebensorientierung und der Lebensführung Auswirkungen der Krankheit in der Biographie, Integration in die Biographie