Asmus Finzen Schizophrenie Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen
Asmus Finzen, Jahrgang 1940, Professor der Psychiatrie, engagiert sich seit mehr als vier Jahrzehnten für Menschen, die an schizophrenen Psychosen erkranken. Als Klinikleiter war er sowohl in Deutschland (Wunstorf) als auch stellvertretend in der Schweiz (Basel) tätig. Seine zahlreichen Veröffentlichungen in Fach- und Tagespresse fanden ein breites Echo. Seit seiner Emeritierung setzt er sich verstärkt für Patientenrechte, für gleichberechtigte Patient-TherapeutBeziehungen sowie gegen Vorurteile, Diskriminierung und Stigmatisierung psychisch Kranker ein. Weitere Informationen finden Sie unter www.asmus.finzen.ch.
Asmus Finzen
Schizophrenie Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen
Asmus Finzen Schizophrenie Die Krankheit verstehen, behandeln, bewältigen 1. Auflage 2011 ISBN-Print: 978-3-88414-522-7 ISBN-PDF: 978-3-88414-749-8 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Weitere Bücher zum Umgang mit psychischen Störungen unter: www.psychiatrie-verlag.de © Psychiatrie Verlag GmbH, Bonn 2011 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Lektorat: Uwe Britten, textprojekte, Geisfeld Umschlaggestaltung: GRAFIKSCHMITZ, Köln unter Verwendung eines Fotos von photocase.de Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein Satz: Psychiatrie Verlag, Bonn Druck und Bindung: Bercker Graphischer Betrieb GmbH & Co. KG, Kevelaer
Vorwort
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Eine Geschichte
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Kindheit und Schulzeit
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Rückzug und erste Krise
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Erleichterung und Ratlosigkeit
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Ausbruch und Zusammenbruch
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Das Leben danach
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Die Krankheit
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Das zentrale schizophrene Syndrom
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Schizophrenie als Metapher
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Die zweite Krankheit
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Die schizophrene Erkrankung: eine Katastrophe für die ganze Familie
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Stigma und Schuldzuweisung
30
Die Identität der Eltern und die Rolle der Kinder
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Die Familienkatastrophe »Schizophrenie«
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Das Leid der Kinder
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Wenn Eltern psychisch erkranken
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Schweigen und Schuldgefühl
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Wie kann Hilfe aussehen?
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Niemand hat Schuld
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Was haben wir falsch gemacht?
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Unbekannte Ursachen – erhöhte Verletzlichkeit
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Entwicklungskrisen sind unvermeidbar
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Was können wir tun?
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Jenseits der Schuld: Verantwortung
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Im Vorfeld der Psychose: Frühintervention – Vorstellungen und Wirklichkeit
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Unspezifische Symptome
57
Ratlosigkeit und Unverständnis
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Überempfindlichkeit und Verletzlichkeit
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Bewältigungsversuche im Vorfeld
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Das Dilemma der Frühintervention
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Wenn die Krankheit »ausbricht«: Symptome und Zeichen
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Symptome – die Systematik Bleulers
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Die »zusätzlichen« Symptome
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Was nicht gestört ist: die »intakten Funktionen«
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Die Krankheit erhält ihren Namen – die Diagnose und was sie bedeutet
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Blinde Flecken und Verdrängung
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Diagnosekriterien
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Engagement, Wissen und Erfahrung
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Der Name der Krankheit
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Der lange Weg des Leidens: Verlauf und Prognose
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Psychosen bei Kindern und Jugendlichen
90
Krankheitsphasen
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Die beginnende Schizophrenie
93
»Offenbarung« und »Ausbruch«
98
Die aktive Phase
100
Die Konsolidierung
101
Verlauf und Prognose
103
Erleben und Miterleben
108
»Die Gedanken werden handgreiflich« – Erfahrungsberichte
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Menschen in der Psychose zuhören
112
Ursachen und Anlässe I: soziale und psychologische Aspekte
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Psychische Erkrankung als Verhaltensstörung
122
Labeling: die Etikettierungstheorie
123
Soziale Schicht und psychische Krankheit
125
»Life-Events«: die Rolle lebensverändernder Ereignisse
126
Schizophrenie und Familie
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Psychologische und psychodynamische Aspekte
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
132
Veränderungen der Gehirnstruktur
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Störungen der Gehirnentwicklung
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Biochemie und Neurobiologie
135
Genetische Aspekte
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Vulnerabilität: Die Ursachen sind nicht bekannt
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Behandlungsgrundsätze
145
Wege der Behandlung
146
Behandlung individualisieren
147
Wider das Verzagen: die Haltung der Angehörigen
148
Über Behandlung verhandeln
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Die akute Psychose
157
Medikamentenbehandlung bei akuten Krisen
157
Zuwendung
160
Frühes Einbeziehen der Kranken – vertrauensvolle Beziehungen entwickeln
161
Zeit und Geduld
161
Die Erfahrung der Krise
162
Psychoinformation und Psychoedukation
163
Psychotherapie
165
Milieutherapie
165
Die Zeit der Krise – die Angehörigen
168
Wenn es losgeht
168
Und immer wieder: die Frage nach der Schuld
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Angehörige brauchen Verständnis
172
Angehörige brauchen Informationen
173
Zukunftsperspektiven
174
Der steinige Weg zur Wiederherstellung
176
Anfängliche Schwierigkeiten
176
Regression und Aktivierung
177
Kontinuierlich Geduld zeigen
178
»Woodshedding«
180
Zeit für Psychotherapie
181
Rückfallvermeidung und Wiedererkrankung – eine Herausforderung
183
Prophylaxe von Anfang an
183
Vorbehalte gegen Medikamente
184
Anzeichen eines Rückfalls
186
Wiederaufnahme der Neuroleptikatherapie
187
Diätetik des Lebens
188
Langfristige Strategien
190
Selbsthilfe
190
Familienklima und Rückfallrisiko
192
Wenn die Krankheit andauert – »Therapieresistenz«
194
Fortbestehen »produktiver« Symptome
194
Fortbestehen negativer Symptome
195
Fehlende Kooperation
196
Mangelnde »Krankheitseinsicht«
197
Störungen des Handelns und Wollens
198
Der »Drehtüreffekt«
198
Doppelerkrankung Psychose und Abhängigkeit
200
Was lässt sich tun?
201
Rehabilitation und psychosoziale Hilfen
205
Grundlagen der Rehabilitation bei psychischen Störungen
205
Berufliche Rehabilitation – was ist zu tun?
207
Psychosoziale Rehabilitation
208
Hilfen im Alltag
209
Risiken: Suizidalität, Gewalt, Verweigerung und Zwang
211
Suizid und Suizidgefährdung
211
Gewalt
212
Wenn Kranke Medikamente ablehnen
214
Zwangsbehandlung
216
Mit den Kranken leben
219
Akzeptieren, was ist
219
Auf sich achten
225
Angehörigenselbsthilfe
230
Das Zusammenleben verändert alle Beteiligten
232
Angehörige als Experten
233
Nachwort: Was mir zu sagen noch wichtig ist
235
Literatur
241
Internet-Adressen
249
Stichwortverzeichnis
250
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Vorwort
»Wenn Sie nicht wissen, was Schizophrenie ist, seien Sie froh.« Motto einer britischen Angehörigenvereinigung »Dem Schizophrenen bleibt das Gesunde erhalten.« Eugen Bleuler
Die Schizophrenie ist die schillerndste aller psychischen Störungen. Sie kann leicht sein oder schwer. Sie kann akut und dramatisch verlaufen oder schleichend und für Außenstehende kaum wahrnehmbar. Sie kann kurze Zeit andauern oder ein ganzes Leben. Sie kann einmalig auftreten. Sie kann in längeren oder kürzeren Abständen wiederkehren. Sie kann ausheilen oder zu Invalidität führen. Sie trifft Jugendliche im Prozess des Erwachsenwerdens oder in der beruflichen Entwicklung. Sie trifft Frauen und Männer, die mitten im Leben stehen, und solche an der Schwelle des Alters. Weil die Schizophrenien, die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, so vielfältig in ihren Erscheinungsformen sind, sind sie auch für mit der Krankheit Vertraute oft nur schwer greifbar. Unerfahrene – das sind auch Kranke am Beginn ihres Leidens, Angehörige, Freunde und junge Berufskollegen sowie die breite Öffentlichkeit – stehen der Krankheit eher ratlos und sogar (ver)zweifelnd gegenüber. Wo viel Unklarheit besteht, müssen Vorurteile Platz greifen. Diese versteigen sich vom Mythos der Unheilbarkeit bis zur Unterstellung, die Schizophrenie gebe es gar nicht. Sie sei eine Erfindung der Psychiater, »ein von Eugen Bleuler erfundenes Wort«, wie Thomas Szasz 1976 schrieb. Leider trifft das nicht zu. Bleuler hat zwar das Wort erfunden, nicht aber das Leiden, für das es steht. Doch bei alldem gilt: Psychische Krankheiten sind behandelbar, auch die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, schizophreniforme, schizotype und wahnhafte Störungen. Die größten Hindernisse für eine erfolgreiche Therapie sind nicht die begrenzten Möglichkeiten der Medizin und der Psychotherapie: Oft dauert es (zu) lange, bis psychotisches Erleben und Verhalten als Krankheit erkannt wird. Ebenso oft
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Vorwort
finden die Betroffenen erst spät angemessene Hilfe. Schließlich erweisen sich Vorurteile und Stigmatisierung als Behandlungshindernisse ersten Ranges. Alles dies macht es schwer, angemessen mit der Krankheit umzugehen – und, wenn sie anhält, mit ihr zu leben. »If you don’t know Schizophrenia, you’re lucky«, mahnt die englische National Schizophrenia Fellowship; und in Österreich wird die Frage gestellt: »Gehören Sie auch zu den 80 Prozent der Österreicher, die nicht wissen wollen, was Schizophrenie ist?« Dieses Buch wendet sich an alle, die das wissen sollten: die Kranken, ihre Angehörigen und Freunde, ihre Nachbarn und Kollegen; an alle, die beruflich mit psychisch Kranken zu tun haben; an Verantwortliche im Gemeinwesen und in der Politik – und schließlich an eine aufgeklärte Öffentlichkeit. Es will helfen, Wege zu suchen, die Krankheit, wo immer möglich, zu überwinden oder, wenn das nicht möglich ist, ihre Auswirkungen zu begrenzen, und wenn es sein muss, mit ihr zu leben. Es will die Kranken und ihre Angehörigen ermutigen, Hilfe zu suchen und Geduld und Hoffnung zu bewahren. Es appelliert an die Behandelnden, nicht vorschnell vor der Krankheit und ihren Folgen zu kapitulieren. Es setzt auf das Zusammenwirken von Kranken, Angehörigen und Behandelnden, auf den »Trialog« zwischen den Beteiligten, aber auch auf die Unterstützung durch die Gemeinschaft der Gesunden, der nicht Betroffenen. Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis gehören zu den wenigen Krankheiten, bei denen die Diagnose wenig über die Prognose, über den Krankheitsausgang aussagt. Eine Besserung, ja eine weitgehende Wiederherstellung ist auch nach Jahren möglich, selbst wenn der Verlauf sich zunächst ungünstig anlässt. Das verlangt von allen Beteiligten nicht nur einen langen Atem. Es erfordert auch langfristige Behandlungsstrategien: Beharrlichkeit, Geduld, die Bereitschaft zu Neuanfängen und die Gewährleistung einer langfristigen Kontinuität der Behandlung. Bereits die erste psychotische Krise ist ein so dramatisches Geschehen, dass es nicht nur um Behandlung geht, sondern zugleich um die Bewältigung der Erkrankung, um das Leben mit der Krankheit und ihren Auswirkungen. Das geht aber nur, wenn Angehörige und Betroffene von Anfang an einbezogen werden. Und wenn sie dabei die Hilfe erfahren, die sie benötigen. Diese Grundüberzeugung ist der Leitgedanke meiner Überlegungen. Ich leite dieses Buch mit der authentischen Lebens- und Krankheitsgeschichte eines jungen Mannes ein, um dann die zentrale Symptomatik
Vorwort
schizophrener Psychosen und ihre sozialen Folgen zu beschreiben. Ich versuche zu zeigen, was es für eine Familie bedeutet, wenn eines ihrer Mitglieder krank wird. Ich stelle klar, dass niemand daran schuld ist. Ich befasse mich mit den Geschehnissen im Vorfeld der Psychose. Erst danach wende ich mich den medizinischen Abläufen und der Therapie zu: Diagnose, Frühintervention, Akutbehandlung, Wiederherstellung, Wiedererkrankung, Rehabilitation – und schließlich der Frage, was zu tun ist, wenn die Krankheit andauert. Schon von Anfang an bedeutet die Erkrankung, dass man lernen muss, »mit ihr zu leben«, ihre Auswirkungen zu bewältigen, und zwar auch für Partner und Angehörige. In allen Darstellungen des Krankheitsverlaufs versuche ich ihre Situation einzubringen, ihren Umgang und ihre Auseinandersetzungen mit der Krankheit sowie deren Folgen für ihr eigenes Leben. Ich frage, was man tun kann, wenn scheinbar nichts mehr geht. Ich zeige, wie wichtig es für die Mitbetroffenen ist, auf sich und ihre Kräfte zu achten. Dies ist in einem gewissen Sinn ein persönliches Buch geworden. Es vermittelt die Essenz meiner Erfahrungen aus vier Jahrzehnten der Arbeit und des Lebens mit psychosekranken Menschen. Und es ist, zugegeben, lang geworden. Aber es muss nicht von Anfang bis Ende gelesen werden, jeder kann sich die Abschnitte heraussuchen, die ihn besonders interessieren und die er für hilfreich hält. Asmus Finzen Oberhofen Thunersee, im Frühjahr 2011
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Eine Geschichte
»Vor dem Ausbruch der Psychose findet man meist Änderungen im gewohnten Wesen. Die späteren Kranken werden empfindsamer und zurückgezogener, geben persönliche Beziehungen und Interessen auf.« Manfred Bleuler
Patienten sind Menschen. Die Krankheit ist Teil ihrer Biografie. Aber sie sind nicht nur Kranke. Sie haben ein Leben jenseits der Krankheit – davor, danach, daneben. Das ist eine Binsenweisheit, dennoch tun gerade psychiatrisch Tätige gelegentlich gut daran, sich das in Erinnerung zu rufen, begegnen wir ihnen doch in der besonderen Situation ihrer Erkrankung in aller Regel zum ersten Mal. In gesunden Tagen haben wir sie nicht gekannt. Wir fragen dann im sogenannten Anamnesegespräch nach dem Vorleben. Aber wir tun das unter dem Blickwinkel der besonderen Patient-Therapeut-Beziehung. So wird das Vorleben zur Kankheitsvorgeschichte, eben zur Anamnese. Über das frühere – das gesunde, das normale – Leben erhalten wir nur indirekte Informationen, sei es von den Kranken selbst, sei es von ihren Angehörigen oder von Dritten. Auch bei der Entstehung der Krankheit waren wir nicht dabei. Das Bild, das wir uns davon machen, entbehrt des eigenen Augenscheins. Das gilt nicht nur für den Einzelfall. Das Bild der Psychiatrie von der beginnenden Psychose beruht in erster Linie auf Erzählungen und nicht auf Beobachtungen. Ob es nun durch gezielte Befragung, durch Exploration, zustande kommt oder ob es sich im Laufe einer Psychotherapie allmählich entwickelt: In jedem Fall geschieht es unter dem Blickwinkel und dem Einfluss der inzwischen erfahrenen Erkrankung. Bevor ich mich dem Versuch zuwende, die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis wissenschaftlich authentisch und zugleich verständlich darzustellen, will ich eine Geschichte erzählen. Es ist die Lebens- und Leidensgeschichte von Holger Andresen. Holger ist der Sohn eines Freundes. Ich kenne ihn seit seiner Kindheit. Ich habe ihn als Schuljungen, als Zivildienstleistenden und als jungen Studenten immer wieder aus der Nähe erlebt. Ich war dabei, als er in eine Krise geriet,
Kindheit und Schulzeit
als er schließlich erkrankte. Ich habe ihn als Freund begleitet, nicht als Arzt. Aber weil ich Psychiater bin, habe ich seine Entwicklung in die Krankheit natürlich auch mit den Augen des Psychiaters gesehen. Holgers Geschichte ist »wahr«. Sie ist es in dem Sinn, dass ich sie so erlebt habe. Zugleich ist sie »erdichtet«: Die handelnden Personen sind andere als im wirklichen Leben. Auch der Rahmen und die Schauplätze sind – selbstverständlich! – verändert.
Kindheit und Schulzeit Holger war ein freundliches, ein strahlendes, ein liebes Kind. Mit gro ßen, offenen Augen und unbezwingbarer Neugier eroberte er die Welt für sich. Er lernte früh laufen und sprechen. Seine beiden älteren Geschwister nahmen ihn dabei fürsorglich unter ihre Fittiche. Selbstverständlich gab es Reibereien und Rivalitäten zwischen ihnen, wie immer unter Geschwistern. Die Eltern kamen offensichtlich gut miteinander klar, obwohl die Mutter von der Ausschließlichkeit des Lebens mit drei kleinen Kindern zeitweise recht genervt war. Der Vater, ein gefragter Anwalt, kam während der Woche abends meist spät nach Hause. Aber am Wochenende war er fast immer da und verfügbar. Als Holger mit drei Jahren in den Kindergarten kam, seine Schwester eingeschult wurde und sein Bruder die dritte Klasse erreicht hatte, ergriff die Mutter die Gelegenheit, zunächst stundenweise, dann halbtags in ihren Beruf als Psychologin in eine Beratungsstelle zurückzukehren. Der Lebensstil der Familie war mehr oder weniger konventionell: Haus am Stadtrand, Mittelklasseauto, Sommerurlaub in Dänemark, gelegentliche Theater- und Konzertbesuche, Einladungen von Freunden, Bekannten und Nachbarn und entsprechende Gegenbesuche. Holgers Grundschuljahre und die ersten Jahre im Gymnasium verliefen unspektakulär. Er war von Anfang an ein ausgezeichneter Schüler. Scheinbar mühelos heimste er eine gute Note nach der anderen ein. Daneben nahm er seit dem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht. Er spielte Handball in der Schulmannschaft und später im Verein – vorzugsweise im Tor. Seine freie Zeit verbrachte er zu Hause mit Lesen und Musikhören – viel Klassik – oder mit seinen beiden Freunden. Die drei
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Eine Geschichte
hatten sich in der ersten Grundschulklasse kennengelernt und bildeten seither eine verschworene Gemeinschaft, die sich mehr oder weniger selbst genügte. Seine beiden älteren Geschwister entwickelten sich sichtbar anders als er. Sein Bruder war schon früh überwiegend aushäusig. Er war entweder auf dem Sportplatz oder mit seinen vielen Freunden – und bald auch mit Freundinnen – unterwegs. Er bastelte an Stereoanlagen, an Mofas und später an Motorrädern herum. Die Schule nahm er von der leichten Seite. Immerhin schaffte er mit zwanzig Jahren ohne »Ehrenrunde« das Abitur mit gerade noch ausreichendem Notendurchschnitt. Nach Ableistung des Wehrdienstes begann er, wie er es gewünscht hatte, ein Betriebswirtschaftsstudium an einer entfernten Universität. Seine Schwester hatte viel Ähnlichkeit mit ihrem älteren Bruder. Sie verbrachte ihre Zeit, wann immer möglich, mit lauter Musik und Freunden in Discos und bei Konzerten. Die Schule besuchte sie eher widerwillig. Aber im zweiten Anlauf brachte sie es schließlich doch zum angestrebten Abschluss.
Rückzug und erste Krise Als Holger sechzehn Jahre alt war, verließ sein älterer Bruder das Elternhaus. Der Auszug hinterließ für Holger eine unerwartet schmerzliche Lücke. Des Bruders Lockerheit und Unbekümmertheit fehlten ihm. Seine eigenen ernsthaften Züge traten in der Folgezeit immer stärker in den Vordergrund. Er wandte sich verstärkt klassischer Musik zu und ging abends selten aus dem Haus. Er kehrte nach dem Handballtraining direkt aus seinem Tor nach Hause zurück. Und während seine Kameraden sich mit den Mädchen aus der Klasse in der »Milchbar« trafen, las er Dostojewski. Die anderen begannen ihn deswegen zu necken. Sie verstanden nicht, dass er sich daraufhin noch mehr zurückzog. Sie sagten, er sei einfach zu empfindlich. Manchmal hatten wir den Eindruck, er versuchte damit, möglichen Kränkungen und Verletzungen aus dem Weg zu gehen. Aber ich würde lügen, wenn ich behauptete, irgendjemand sei darüber besorgt oder beunruhigt gewesen. Er machte in seiner pubertären Entwicklung kaum Anstalten, sich vom Elternhaus zu lösen. Nur gelegent-
Rückzug und erste Krise
lich kam es zu unvermittelten, heftigen Auseinandersetzungen mit dem Vater. Kurz vor dem Ende des vorletzten Schuljahres, er war mittlerweile fast neunzehn, geriet er ohne sichtbaren äußeren Anlass in eine Krise. Ganz unvermittelt wollte er nicht mehr zur Schule gehen. Auch das Training stellte er ein. Er überwarf sich aus für uns unverständlichen Gründen mit seinem Klavierlehrer. Er stand zu Hause stundenlang vor dem Spiegel und betrachtete sein Gesicht. Er mochte nicht mehr vor die Tür treten, und zwar ohne dass er einen Grund dafür nennen konnte oder wollte. Er kam morgens nicht aus dem Bett. Er suchte die Schule verspätet auf. Manchmal kam er gar nicht dort an. Seine beunruhigten Eltern spürten, dass er Angst vor etwas hatte. Sie konnten nicht begreifen, warum und was es war. Seine überragenden Leistungen blieben, wie in all den Jahren zuvor, ungefährdet. Auch über Konflikte oder konkrete Schwierigkeiten mit Lehrern oder Mitschülern berichtete er nicht. Die Eltern reagierten verständnislos und ungehalten auf seine Veränderung. Sie hielten ihm vor, er möge sich gefälligst zusammennehmen. Jeder habe mal ein Tief. Er könne wenige Wochen vor dem Ende des vorletzten Schuljahres nicht sein Abitur riskieren. Das Aufstehen und der Gang zur Schule wurden zum allmorgendlichen Kampf zwischen seiner Mutter und ihm. Eine Woche lang quälte er sich aus dem Haus. Dann verweigerte er sich gänzlich. Er würde nicht mehr gehen, erklärte er. Seine Eltern waren ratlos und außer sich zugleich. In dieser Situation rief Holger mich an. Ich arbeitete damals in einer kleinen Universitätsstadt in Süddeutschland. Ich hatte ihn seit den vergangenen Sommerferien, die er überwiegend bei uns verbracht hatte, nicht mehr gesehen. Ich fiel aus allen Wolken, als er mitten in der Schulzeit fragte, ob er kommen dürfe. Er habe sich mit den Eltern zerstritten. Er könne nicht mehr zur Schule; er könne aber auch nicht im Haus bleiben. Bei der Ankunft wirkte er verängstigt und ratlos. Er erzählte, die Reise sei schrecklich gewesen. Die Leute hätten ihn alle angestarrt. Sie seien so merkwürdig gewesen. Er bat mich, einen Umweg zu machen, damit wir nicht zu vielen Menschen begegneten. Er habe das Gefühl, sie kämen ihm einfach zu nahe. Überhaupt werde ihm alles zu viel, zu laut und zu grell. Er fühle sich von innen durch seine Gedanken und von außen durch die Menschen bedrängt.
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Eine Geschichte
Wir versuchten ihm zu helfen, zunächst einmal zur Ruhe zu kommen. Er tat sich schwer damit. Er war hin- und hergerissen. Dass er nicht zur Schule konnte, bedrückte ihn, obwohl er froh war, nicht gehen zu müssen. Er hatte Schuldgefühle. Er dürfe nicht klein beigeben. Er habe letztlich keinen Grund für seine Angst und seine innere Aufgeregtheit. Immerhin konnte er schlafen. Ich konnte mir in den nächsten Tagen viel Zeit für ihn freihalten. Wir unternahmen lange Wanderungen durch die einsamen Wälder außerhalb der Stadt. Es beruhigte ihn sichtlich, dass uns kaum jemand begegnete. Die Stille tat ihm wohl. In der Stadt sei in den letzten Wochen alles so laut gewesen. Auch die grellen Farben und die bunten Lichter an den Abenden seien regelrecht auf ihn eingestürmt. Ein flegelhafter Radfahrer, der unvermittelt auftauchte und ihn fast umfuhr, erschreckte ihn über die Maßen. Ich konnte ihm nicht begreiflich machen, dass das sicher nicht mit Absicht geschehen sei. Er brach in Tränen aus und schluchzte, so etwas sei in den letzten Wochen immer wieder passiert: Er werde gerempelt, Autos kämen auf ihn zu, alte Frauen starrten ihn an, Jugendliche riefen ihm Unverschämtheiten nach. Er begreife das alles nicht mehr. In der Schule sei das alles besonders schlimm. Seit die Klasse im vergangenen Jahr neu zusammengesetzt worden sei, habe sich alles zum Schlechteren verändert. Es herrsche ein fürchterliches Klima. Fast alle hätten etwas gegen ihn. Sie tuschelten und redeten hinter seinem Rücken über ihn. Wenn seine beiden Freunde nicht wären, hätte er schon vor Monaten nicht gewusst, was er tun solle. Manchmal sei er in letzter Zeit nicht so sicher, ob die beiden nicht auch von den anderen beeinflusst würden. Seine Eltern seien in dieser Situation wenig hilfreich. Sie sagten ihm, er bilde sich das alles ein. Manchmal denke er, sie stünden auf der anderen Seite. Das könne ja wohl nicht sein. Aber sie würden ihm einfach nicht glauben.
Erleichterung und Ratlosigkeit Die Tage vergingen. Die langen Spaziergänge und die Ruhe zeigten allmählich Wirkung. Holger fasste wieder Mut. Er ließ sich nicht mehr durch jede unverhoffte Begegnung aus dem Gleichgewicht bringen. Er
Erleichterung und Ratlosigkeit
überzeugte sich in langen Telefonaten, dass seine Eltern doch auf seiner Seite standen. Er zwang sich, unter Leute zu gehen. Er ging allein ins Kino, in Cafés und in Kneipen. Er ließ die abendlichen Lichter von Schaufenstern und Reklame auf sich wirken. Schließlich beschloss er zurückzufahren. Er müsse sich dem stellen. Er müsse lernen, die Abneigung und Gehässigkeit der anderen in der Schule auszuhalten. Vielleicht habe er sich manches ja doch eingebildet. Vielleicht sei es gar nicht so schlimm, wenn er stärker wäre und sich besser auf die anderen einstellen könne. Er werde jedenfalls nicht klein beigeben. Erleichterung bei den Eltern und bei mir trat ein, aber auch ein beträchtlicher Rest an Ratlosigkeit. War er einfach nur erschöpft und übermäßig gestresst? War das Klima in der Klasse wirklich so böswillig? Reagierte er überempfindlich, wie das seit Jahren viele behaupteten? Hörte er irgendwie »das Gras wachsen«? Hatte er irgendwelche Probleme, von denen die Eltern und ich nichts wussten? Täuschte die scheinbar so heile Familienwelt über versteckte Konflikte hinweg? Wir bekamen es nicht heraus. Holger zeigte keine Neigung, darüber zu diskutieren. Internat und Psychotherapie wurden zum Thema. Holger blockte beides mit Nachdruck ab. Psychotherapie sei keine Lösung für die Art, wie die anderen mit ihm umgingen. Im Übrigen müsse er sich durchbeißen und das könne er am besten zu Hause. Dort fühle er sich doch noch am sichersten. Nach den Sommerferien nahm er die Schule wieder auf. Mithilfe eines Tranquilizers überwand er die Angst der ersten Tage. Er schaffte es. Aber seine Schulleistungen ließen nach. Wir führten das auf die fehlenden Wochen vor den Ferien zurück. Allein, er erholte sich nicht. Es schien, als seien seine frühere Arbeitskraft und seine Leistungsmotiva tion wie weggeblasen. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er zehrte von dem in den zwölf Jahren angehäuften Wissen. Um alles Neue machte er einen Bogen. Wenn Neues gefordert wurde, kam er nicht mit. In Chemie und Physik musste er erstmals in seiner Schulkarriere Nachhilfe unterricht nehmen, um mit Mühe den Anschluss zu erreichen. Holger schien das wenig zu kümmern. Ihm sei sein soziales Leben wichtiger als seine Leistungen. Aber für uns Außenstehende tat sich auf der sozialen Seite nicht mehr als früher, eher weniger. Er spielte wieder Klavier, stand wieder im Tor, ging zu Schulveranstaltungen. Ansonsten aber verkroch er sich in seinem Zimmer. Er las auch kaum noch. Er
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Eine Geschichte
hörte keine Musik mehr. Wenn er überhaupt etwas tat zu Hause, so saß er vor dem Fernseher. Auf unser Zureden suchte er schließlich doch eine Psychotherapeutin auf. Nach drei Sitzungen brach er das Unternehmen allerdings wieder ab. Die Frau habe ihm lauter Fragen über Dinge gestellt, die sie nichts angingen. Sie sei ihm keine Hilfe. Immerhin, er wirkte jetzt entspannter. In den Telefonaten beklagte er sich nicht mehr über die vielsagenden Blicke und das gehässige Getuschel der anderen. Er schien in die Klassengemeinschaft zurückgefunden zu haben und absolvierte schließlich das Abitur mit leidlich gutem Notendurchschnitt.
Ausbruch und Zusammenbruch Nach den Prüfungen wollte er unbedingt von zu Hause weg. Er erlebte die Beziehung zu seinen Eltern seit der Krise als angespannt. Sie hinderten ihn daran, selbstständig zu werden. Sein Ersatzdienst war ihm willkommene Gelegenheit auszuziehen. Er stellte den Antrag, in meine Stadt versetzt zu werden, um nicht ganz allein zu sein. Er wurde als Pfleghelfer in einer Privatklinik eingesetzt, tat sich allerdings schwer in der neuen Umgebung. Das Leid der Kranken bedrückte ihn. Er fand überhaupt keinen Anschluss und hatte Mühe mit dem breiten schwäbischen Dialekt. Auch zu mir kam er nur selten: Er müsse lernen, selbstständig zu leben und sich nicht ständig anzulehnen. Er belegte Volkshochschulkurse, brach sie jedoch nach kurzer Zeit wieder ab. Die Leute seien so unfreundlich zu ihm. Bald beklagte er, wie sich die Kolleginnen und Kollegen und die Vorgesetzten im Krankenhaus über ihn lustig machten, über ihn tuschelten, ja laut über ihn redeten. Auf seine Nase hätten sie es besonders abgesehen. Er höre immer wieder, wie sie sagten: »Hat der eine hässliche Nase!«, »Hat der einen Zinken!«. Sie sei ja auch groß, aber so mit ihm umzugehen, sei gemein. Wenn er mich besuchte, stand er ständig vor dem Spiegel und betrachtete und betastete seine Nase. An keiner spiegelnden Glasfläche konnte er vorbeigehen, ohne nach seiner Nase zu schauen. Wenn er etwas Geld verdiente, würde er sie sich operieren lassen, meinte er. Sie war keineswegs groß und hässlich, diese Nase. Zwanzig Jahre war er mit ihr
Ausbruch und Zusammenbruch
zufrieden gewesen – und jetzt dieses Theater! Ich spürte, dass ich zunehmend gereizt reagierte. Aber ich half ihm damit nicht: »Wozu hat man denn Freunde, wenn die einem nicht glauben!«, rief er eines Abends verzweifelt aus und knallte die Tür hinter sich zu. Er beantragte die Versetzung in eine andere Klinikabteilung und war erleichtert, als er dort anfangen konnte. Der Betrieb war weniger hektisch, die Leute waren freundlich. Alles schien in Ordnung. Aber nach zwei Wochen ging es abermals los: Getuschel, übles Gerede. Es wurde sogar noch schlimmer. Es ging jetzt nicht nur um die Nase, sondern um das ganze Gesicht, das hässlich sei. Sein ganzer Körper sei verwachsen. Auch die Leute auf den Straßen sähen ihn wieder so eigenartig an. Auch sie redeten über ihn. Er sei ganz sicher. Er bilde sich das nicht ein. Schließlich habe er Ohren. Er begann, sich über das unverschämte Verhalten der Menschen aufzuregen. Er empörte sich. Wenn dies so weitergehe, würde er die Verantwortlichen ansprechen und zur Rechenschaft ziehen. So könne man nicht mit ihm umgehen. Im Übrigen, und das sei ja wohl das Letzte, habe bei seinem vorigen Besuch auch einer meiner Gäste so über ihn geredet. Am Tag darauf kam er in Panik zu uns. Er halte es nicht mehr aus: Jetzt befassten sie sich schon im Radio mit ihm. Und gerade habe sich jemand im Fernsehen über seine große Nase aufgehalten. Alles habe sich gegen ihn verschworen. Selbst das Diktiergerät, mit dem er versuchte habe, das Gerede über ihn aufzuzeichnen, werde gestört. Es sei nichts darauf. Meine Versuche, ihm das auszureden, waren vergebens. Ich schlug ihm vor, er möge sich beurlauben lassen und schleunigst nach Hause zu den Eltern zurückkehren. Nein, er müsse das aushalten. Er sei ohnehin verurteilt; er würde alle mit ins Unglück ziehen. Er dürfe nicht heim. Kaum zu Hause in seiner Wohnung, rief er mich an, jetzt in Panik. Sein ganzer Körper stehe unter Strahlen. In seinem Kopf finde eine Sendung statt. Die Sprecher sagten, seine Mutter habe Krebs; sein Vater sei schon tot und wir würden auch sterben. Er sei verurteilt. Es sei alles hoffnungslos. Ich möchte bitte sofort zu ihm kommen und ihm helfen. Als ich zu ihm kam, war er gequält von Angst und Verzweiflung. Ich solle ihm helfen zu sterben, damit dies aufhöre. Er kam in die Klinik, in der Hoffnung, dort den Tod zu finden. Panik und Angst machten jede Auseinandersetzung mit ihm unmöglich. Auf die Injektion von Haloperidol und Valium reagierte er mit Entspannung und schließlich mit Schlaf. Am nächsten Morgen stand ihm die
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Eine Geschichte
Erinnerung an die entsetzlichen Erlebnisse des Vorabends noch in den Augen: Nur das nicht wieder, gebt mir was dagegen! Das konnte er immerhin äußern. Wir spürten, dass ganz Verschiedenes mit ihm und in ihm geschah, zu dem wir keinen Zugang hatten, von dem wir ausgeschlossen waren. Er konnte uns auch nicht einbeziehen, weil er fest davon überzeugt war, dass wir alle seine Gedanken lesen könnten, dass wir alles hörten, was auch er hörte. Innerhalb weniger Tage wurde er ruhig, fast gelassen. Er erzählte uns von den eigenen Gedanken, die vor wenigen Tagen noch schrecklich laut gewesen waren, und von den Stimmen, die ständig in ihm sprachen. Sie waren nicht mehr so schrill und bedrohlich. Er fand sie unterhaltsam: »So bin ich nie allein«, meinte er eines Tages. Als sie leiser wurden und schließlich verschwanden, bedauerte er das. Fast gleichzeitig ließ seine Geräuschempfindlichkeit nach. Auch das Getuschel und die beziehungsreichen Blicke der Mitmenschen, die er in der Klinik im Übrigen nicht wahrgenommen hatte, spürte er bei seinen Spaziergängen außerhalb der Station bald nicht mehr. Stattdessen litt er an Medikamentennebenwirkungen: Er verspürte ein heftiges Ziehen in den Muskeln und erlebte seine Beweglichkeit als eingeschränkt. Zugleich konnte er seine Füße nicht stillhalten. Er war müde und gleichgültig und konnte sich nicht konzentrieren. Mit den Therapeuten begann er über die Dosierung zu verhandeln und setzte mit unserer Unterstützung eine rasche Reduktion durch, wenig später gegen unseren Rat auch seine Entlassung.
Das Leben danach Die Therapeuten stellten damals die Diagnose einer paranoiden Psychose – eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Holger und seine Eltern hatten große Mühe, diese Diagnose zu akzeptieren, die ihnen wie ein gewaltiger Einbruch in ihr Leben erschien. Dass er sich so rasch wieder gefangen hatte, schien die Experten zudem Lügen zu strafen. Schon nach drei Wochen hatte er aus dem Krankenhaus entlassen werden können. Nur widerwillig ließ er sich überreden, die Medikamente weiterhin einzunehmen. Sie machten ihn müde und unkonzentriert; und wenn er sie einnehme, sei das ein Zeichen dafür, dass er krank sei. Im
Das Leben danach
Übrigen seien die Nebenwirkungen schlimmer als die positiven Wirkungen. Immerhin, ein Gutes hatte die Diagnose: Sie befreite ihn von der Beendigung des Zivildienstes. Er konnte vorzeitig sein Studium aufnehmen und trat in die Fußstapfen seines älteren Bruders und studierte Betriebswirtschaft. Inzwischen sind mehr als zwanzig Jahre vergangen. Holger weiß heute, dass er mit der Bürde einer schweren psychischen Störung leben muss. Er hat anfangs bittere Erfahrungen gemacht. Schon drei Monate nach der Entlassung hatte er die Medikamente abgesetzt, weil ihn die Nebenwirkungen beeinträchtigten. Sechs Wochen später war er wieder in der Klinik, diesmal für wesentlich längere Zeit. Eine Rehabilitations behandlung in der Tagesklinik hatte sich angeschlossen. Die Wiederaufnahme des Studiums scheiterte. In dieser Situation fand er eine Teilzeitarbeit in einem Archiv und eine Psychotherapeutin, die ihm half, seine vielfältigen Lebensprobleme zu verarbeiten, die Krankheit zu begreifen, seine Fähigkeiten und seine Belastbarkeit auszuprobieren und aus allem das Beste zu machen. Dabei kam ihm seine alte Beharrlichkeit und Zielstrebigkeit zustatten. Er lernte, seine Medikation jenseits einer niedrigen Basisdosierung, je nach Belastung, selbst zu regulieren. Er knüpfte an alte Freundschaften und Bekanntschaften wieder an. Nach Abschluss der Psychotherapie fühlte er sich stark genug, um eine Ausbildung als Verwaltungsangestellter zu beginnen und drei Jahre später abzuschließen. Mittlerweile hat er über zehn Jahre lang keinen Rückfall mehr gehabt, aber er erlebt sich selbst immer noch als verletzlich und begrenzt belastbar. Vor einiger Zeit schrieb er mir, er sei guten Mutes, obwohl er keine Arbeit finde. Er erhalte jetzt Hartz IV, sodass er wenigstens nicht von seinen Eltern abhängig sei. Privat habe er nicht so Erfreuliches zu vermelden. Seine Freundschaft mit einer Kollegin, die in letzter Zeit ohnehin etwas abgekühlt sei, sei nun wohl endgültig vorbei. Sie habe Kinderwünsche und unternehme gern lange Reisen. In beiden Punkten könne er ihre Erwartungen nicht erfüllen. Außerdem habe sie etwas gegen seine »gesundheitliche Vergangenheit«. Holger hat sich »gefangen«. Er lebt selbstständig in einer kleinen Wohnung und nimmt jeden Aushilfsjob an. Aber die Krankheit hat Spuren hinterlassen, sie hat seinen Lebensweg bis heute geprägt. Er weiß, er muss sie auch für die Zukunft in Rechnung stellen. Er hat gelernt, mit
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ihr zu leben und seine Lebensziele darauf einzustellen – das mag man als traurig ansehen, aber alle Beteiligten wissen, dass es auch schlimmer hätte kommen können. Für mich ist in den ganzen zwanzig Jahren die Frage offengeblieben, ob ich die Krise schon früher als beginnende Psychose hätte erkennen müssen, ob meine abwartende Haltung richtig war oder ob ich schon früher hätte intervenieren müssen – letzten Endes, ob der Krankheitsverlauf bei einem früheren Eingreifen vielleicht milder ausgefallen wäre.
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»Schizophrenie ist ein von Eugen Bleuler erfundenes Wort.« Thomas Szasz »Schizophrenie (griech.) von E. Bleuler eingeführter Name für die bis dahin nach E. Kraepelin Dementia Praecox genannte Gruppe verschiedenartiger, in ihrem Wesen noch wenig erforschter Krankheitszustände. Die meisten Erkrankungen heilen nach wenigen ›Schüben‹ aus.« Brockhaus Lexikon 1992
Die Schizophrenie ist eine unverstandene psychische Störung. »Schizophrenie« steht für ein Leiden, das Angst macht. Sie ist zudem die schillerndste aller psychischen Störungen. Schizophrenie ist gleichwohl – entgegen einem weitverbreiteten Vorurteil – eine zwar ernste, aber gut behandelbare Krankheit. Die Schizophrenie ist nicht selten. Sie ist so häufig wie die insulinpflichtige Zuckerkrankheit. Jeder Hundertste von uns erkrankt daran. In jeder Nachbarschaft gibt es jemanden, der daran leidet.
Das zentrale schizophrene Syndrom Jenseits aller Vielfalt, der ich in späteren Kapiteln nachgehen werde, gibt es Krankheitserfahrungen, die ein »zentrales schizophrenes Syndrom« (Wing) abbilden, das bei Kranken überall in der Welt anzutreffen ist. Es ist gekennzeichnet durch das Erleben der Eingebung von Gedanken, der Gedankenübertragung und des Gedankenentzugs, durch Stimmen, die der oder die Betroffene über sich sprechen hört oder die seine Handlungen und Gedanken begleiten, durch die veränderte Wahrnehmung seiner physischen Umgebung. So kann beispielsweise die ganze Welt in einen so intensiven persönlichen Bezug zu ihm treten, dass sich jedes Geschehen speziell auf ihn zu beziehen scheint und eine besondere Mitteilung an ihn enthält.
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Es ist leicht einzusehen, dass die davon Betroffenen alle geläufigen Erklärungen ihres kulturellen Hintergrunds abrufen, um diese Störung zu erklären: etwa Hypnose, Telepathie, Radiowellen oder Besessenheit. Mit einiger Fantasie kann man sich vorstellen, was sich zu Beginn einer schizophrenen Psychose abspielt, und verstehen, weshalb Angst, Panik und Niedergeschlagenheit so häufig sind, warum das Urteilsvermögen so oft beeinträchtigt ist. Menschen, die unerschütterlich von der Wirklichkeit dessen, was sie sehen und hören, überzeugt sind, haben aus Sicht der Mitmenschen »Wahnideen«. Sie erleben, dass andere ihnen zu nahetreten, sie bedrohen; sie fühlen sich verfolgt. Die Außenwelt nimmt das als »Verfolgungswahn« wahr. Andere Kranke isolieren sich. Ihre eigenen Gefühle werden ihnen fremd. Sie brechen ihre sozialen Kontakte ab. Sie verlieren ihren Antrieb. Sie kommen nicht mehr aus dem Bett. Sie vernachlässigen sich. Sie können gleichsam nicht mehr wollen. Sie kommen ihren persönlichen und sozialen Verpflichtungen nicht mehr nach. In der Folge geraten sie in vielfältige Schwierigkeiten. Das Erleben, insbesondere aber das Verhalten der Erkrankten sind für andere oft nicht nachvollziehbar. Es leuchtet ein, dass eine Verständigung zwischen verschiedenen Wahrnehmungswelten nur schwer möglich ist, manchmal sogar unmöglich. Vor allem solange die Krankheit nicht als solche erkannt ist, reagieren Mitmenschen mit Unverständnis. Sie erwarten, dass die anderen – die Kranken – die Regeln des üblichen mitmenschlichen Umgangs einhalten, dass sie sich »normal« verhalten. Sie kommen gar nicht auf den Gedanken, sie könnten es mit psychisch gestörten, verstörten Menschen zu tun haben. Sie verstehen deren Angst und Schreckhaftigkeit nicht und reagieren mit Gereiztheit, wenn sie mit ihrem Wunsch nach früher üblicher Nähe und sozialem und emotionalem Umgang zurückgewiesen werden. Auch das Gefühlsleben der Kranken ist oft gestört, ohne dass die Menschen aus ihrer Umgebung dies wissen können. Im Alltag gehen langwierige Leidensphasen dem Begreifen voraus, dass eine Krankheit vorliegt: heftige Konflikte zwischen den Kranken und ihren Angehörigen, Abbrüche von Freundschaften, sozialer Rückzug, Ausschluss aus Vereinigungen und Gruppen, in denen sie lange gelebt haben, Berufs- und Wohnungsverlust, wenn nicht gar Verwahrlosung. Dem Scheitern der normalen psychologischen Bewältigungsversuche folgt die krisenhafte Zuspitzung, der psychische Zusammenbruch, der
Schizophrenie als Metapher
die Diagnose und die psychiatrische Behandlung oft erst möglich macht (Häfner 2005, 2010). Aber mit der Therapie ist es nicht getan, denn die Schizophrenie ist eine Krankheit, die den Kern der Persönlichkeit berührt und das psycho soziale Beziehungsgeflecht verändert. Unabhängig vom weiteren Verlauf muss das Psychoseerleben reflektiert und bewältigt werden. Und die Verwerfungen im sozialen Netzwerk müssen überwunden werden – in der Familie, im Freundeskreis, in Ausbilddung und Beruf. Dabei bedarf der Genesende jenseits der Therapie auch der Unterstützung durch die Gemeinschaft der Gesunden.
Schizophrenie als Metapher Schizophrenie ist nicht nur eine Krankheit; sie ist zugleich eine Metapher. Sie ist ein Symbolbegriff und steht im sprachlichen Gebrauch für alles mögliche andere – und nichts davon ist gut. Das Wort »Schizophrenie« wird somit zu einer Metapher der Diffamierung, des Vorurteils und der Diskriminierung. Seine metaphorische Verwendung hat entscheidenden Anteil an der Stigmatisierung, der Beschädigung der Identität der von der Krankheit Betroffenen. Und das hat verheerende Folgen: »Jeder, der mit Psychosekranken und ihren Angehörigen zu tun hat, weiß, welchen Schrecken die bloße Erwähnung des Wortes ›Schizophrenie‹ hervorruft. Er hat gelernt, es nur sehr vorsichtig oder überhaupt nicht zu verwenden. Offenbar hat der Begriff«, so der Wiener Psychiater Heinz Katschnig (1989), »ein Eigenleben entwickelt, das der heutigen Realität der Krankheit Schizophrenie in keiner Weise entspricht.« Das ist nicht das Ergebnis eines Versagens der Psychiatrie im Umgang mit ihrer zentralen Krankheit, sondern eine direkte Folge der Instrumentalisierung des Begriffs als Metapher der Diffamierung. Als solche hat sie nichts mit jener Krankheit zu tun, deren besonderes Kennzeichen darin liegt, dass »das Gesunde dem Schizophrenen erhalten bleibt« (E. Bleuler 1911/1988). Schizophrenie als Metapher wird ausschließlich abwertend gebraucht. Sie nährt Vorstellungen von Unberechenbarkeit und Gewalttätigkeit, von unverständlichem, bizarrem oder widersinnigem Verhalten und Denken. Ob Teenager etwas »schizo« finden oder
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ob politisch Tätige das Handeln des Gegners als »schizophren« brandmarken, macht da keinen Unterschied. Das Wort »schizophren« eignet sich hervorragend zur diffamierenden Verkürzung. Was hilft es da, wenn der englische Sozialpsychiater John Wing mahnt, Schizophrenie habe nichts mit Gewalttätigkeiten bei Fußballspielen zu tun oder mit dem Verhalten gestresster Politiker, mit Drogenabhängigkeit oder Kriminalität, mit der Kreativität von Künstlern oder nicht nachvollziehbaren Umtrieben von Wirtschaftsmanagern und Generälen: »Es ist nicht einmal richtig, dass alle Menschen mit der Diagnose Schizophrenie ›verrückt‹ sind; sie können aus der Sicht des Laien vollkommen gesund sein« (Wing 1978/2010, S. 133). Dieser Missbrauch des Wortes »Schizophrenie« leitet sich von vagen, vorurteilsbehafteten Vorstellungen von der Krankheit Schizophrenie ab. Aber diese prägen das Bild der Allgemeinheit von der Krankheit und den daran Erkrankten. Wen kann es da wundern, dass die Diagnose Angst und Schrecken und heftige Abwehr auslöst? Man will sie nicht wahrhaben. Schizophrenie ist deshalb keine Krankheit wie andere. Sie ist eine »verrufene« Krankheit (Sontag 1978).
Die zweite Krankheit Zum Leiden an der Krankheit, ihren Symptomen und sozialen Folgen kommt das Leiden an Vorurteilen, Diskriminierung und Schuldzuweisung, am Stigma der Krankheit Schizophrenie, das auf diese Weise zu einer zweiten Krankheit wird, die um alles in der Welt verborgen werden muss. Deshalb wird immer wieder gefordert, die Medizin möge den Schizophreniebegriff aufgeben. Leider zeigt die Erfahrung, dass solche Unternehmungen regelmäßig scheitern. Aber nichts spricht dagegen, im Alltag den weniger belasteten – wenngleich ungenaueren – Begriff der Psychose zu verwenden. Wer versucht, Schizophreniekranke und ihre Angehörigen zu verstehen und ihnen zu helfen, wird mit Betroffenheit feststellen, in wie schrecklicher Weise das Bild der Allgemeinheit von der Krankheit ihr Leiden verstärkt. Es verzerrt die Selbstwahrnehmung der Kranken und ihrer Angehörigen, untergräbt ihr Selbstbewusstsein und prägt den Umgang der Gesunden mit ihnen in fataler Weise. So bleibt es nicht aus, dass
Die zweite Krankheit
die Diagnose Schizophrenie von allen Betroffenen und Mitbetroffenen in doppelter Weise als Katastrophe erlebt wird. Daraus folgt, dass sich alle Ansätze zur Bewältigung der Schizophrenie nicht auf die Behandlung der Krankheit selbst beschränken dürfen. Sie müssen den Betroffenen – den Kranken wie den Angehörigen – zugleich dabei helfen, die verletzenden und ungerechten Folgen von Diskriminierung und Stigmatisierung zu überwinden (Finzen 2003, 2010 a). Ich werde in den folgenden Kapiteln versuchen, dieser doppelten Aufgabe gerecht zu werden. Dabei wende ich mich zunächst den psychosozialen Auswirkungen des Einbruchs der Krankheit in die Lebenswelt der Betroffenen zu. Erst danach werde ich mich mit dem Verlauf der Krankheit und dem Umgang mit ihr beschäftigen. Ich beginne mit der Darstellung der Folgen des Einbruchs der Psychose für das Erleben und das Zusammenleben aller Beteiligten – auch weil deren Bewältigung darüber entscheidet, welche menschliche Unterstützung die Kranken in ihrem Leben mit der Krankheit und bei ihrer Bewältigung erfahren werden.
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Die schizophrene Erkrankung: eine Katastrophe für die ganze Familie
Die Erkenntnis, dass ein Familienmitglied an einer Schizophrenie erkrankt ist, wird von Angehörigen einhellig als Katastrophe erlebt, als eine Katastrophe, die alles verändert. Wenn nichts mehr ist, wie es war ..., hieß der Titel eines sehr erfolgreichen Buches, in dem Angehörige psychisch Kranker über ihre erschütternden, bedrückenden Erfahrungen und über demütigende Erlebnisse berichten. Aus diesem Buch resultierte in den Achtziger- und Neunzigerjahren viel Ermutigung, nicht zuletzt für die Selbstorganisation der Angehörigen. Heute ist der Angehörigenverband längst professionell organisiert und eine verlässliche Anlaufstelle.
Stigma und Schuldzuweisung Was ist es, das die Erkrankung eines Angehörigen für den Rest der Familie zur Katastrophe macht? Ich bin überzeugt davon, dass das viel mit zwei sozialen Faktoren zu tun hat, die mit dem Krankheitsgeschehen selbst gar nicht zwingend verknüpft sind: mit der Stigmatisierung der Kranken und der Schuldzuweisung an die Angehörigen. Wir alle leben in der Gewissheit, dass wir am Ende sterben müssen. Wir alle wissen, dass wir mit großer Wahrscheinlichkeit an einer Herzkreislauferkrankung oder an Krebs sterben werden und dass es vielfältige andere Krankheiten gibt, die vielen von uns Schmerzen und Leid, Einschränkungen und Verlust an Lebensqualität bringen können. Dennoch lassen wir das Wissen darum in gesunden Tagen nicht allzu nah an uns herankommen. Wir tun meistens so, als gehe uns das alles nichts an. Wahrscheinlich müssen wir das tun, um nicht aus beständiger Angst vor kommendem körperlichem Leiden unsere psychische Gesundheit zu verlieren. Psychische Krankheit allerdings liegt uns noch ferner als körperliche. Sie geht uns in unserem Selbstverständnis nun wirklich gar nichts mehr
Stigma und Schuldzuweisung
an. Das ist rational schwer verständlich, weil psychische Krankheiten ja keineswegs selten sind: Jeder Hundertste von uns erkrankt im Lauf seines Lebens an einer Psychose. Die phasisch verlaufenden Depressionen und die manisch-depressive Krankheit sind annähernd ebenso häufig. Und zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent der Bevölkerung befinden sich zu jedem gegebenen Zeitpunkt wegen Störungen der psychischen Befindlichkeit in ärztlicher – meist in hausärztlicher – Behandlung. Aber schwere psychische Störungen haben einen völlig anderen gesellschaftlichen Stellenwert. Schizophreniekranke sind stigmatisiert. Sie gehören nicht zu uns. Dennoch wird an ihnen deutlich, wie unmittelbar stigmatisierte Menschen unserer Mitte entstammen und wie unverschuldet das geschieht. Ihre Angehörigen sind diejenigen von uns, die sich in nächster Nähe dieses gesellschaftlichen »Unfallortes« aufhalten. Sie sind Zeugen und Mitbetroffene zugleich. Oft benötigen sie lange Zeit, um zu erfassen, was sich da vor ihren Augen inmitten ihrer Familie zuträgt. Sie erleben Rat- und Hilflosigkeit. Die Stigmatisierung der Kranken trifft auch sie. Aber nicht nur das; sie müssen erfahren, dass sie, die Eltern, für die Krankheit ihres Kindes verantwortlich gemacht werden: falsche Erziehung, mieses Familienklima ... Wenn wir die Statistik betrachten, dürften schizophrene Psychosen eigentlich niemandem fremd sein. Die Erfahrung von Schizophrenie in der Familie, in der Nachbarschaft, im Bekannten- und Freundeskreis oder an der Arbeitsstelle müsste uns vertraut sein. Wenn einer von hundert im Lauf seines Lebens an Schizophrenie erkrankt und einer von zweihundert aktuell krank ist, dann müsste bei zwei Eltern mit durchschnittlich zwei Kindern in jeder 25. Familie ein Krankheitsfall auftreten – zählen wir die Großeltern hinzu, in jeder zwölften. So darf man natürlich nicht rechnen, schon deswegen nicht, weil es – leider – familiäre Häufungen gibt. Dennoch, wenn schon nicht in der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis oder in der Nachbarschaft, so müsste doch jeder von uns hier und da einem Schizophreniekranken begegnen. Wenn das nicht der Fall ist, so kann das nur einen Grund haben: Stigmatisierung und Diffamierung, Ausgrenzung und Zurückweisung sind auch heute noch so gewaltig, dass die meisten Familien die Krankheit ihres Angehörigen sorgsam verstecken. Und das erschwert die Bewältigung des gemeinsamen Schicksals ungemein.
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Die schizophrene Erkrankung: eine Katastrophe für die ganze Familie
Die Identität der Eltern und die Rolle der Kinder Wie kommt es nun, dass eine andauernde oder sogar invalidisierende Krankheit der Kinder – auch und besonders der heranwachsenden Kinder – die Eltern mit der gleichen Wucht trifft wie eine eigene schwere Erkrankung? Wie kommt es, dass viele Eltern größere Schwierigkeiten haben, die psychische Krankheit eines Kindes zu bewältigen und zu integrieren als ein eigenes Leiden? Wie kommt es, dass viele Eltern die schizophrene Störung ihres Kindes als nachhaltige Verletzung, als Beschädigung oder gar Zerstörung ihrer eigenen Identität erleben? Um das zu verstehen, müssen wir uns ins Gedächtnis rufen, welche Rolle Kinder für unser emotionales, soziales und materielles Leben spielen – zumal wenn wir uns entschieden haben, selbst welche zu bekommen und aufzuziehen. Kinder werden für Jahrzehnte zum Lebensmittelpunkt der Eltern. Sie stiften Sinn und können geradezu zu einer Begründung des Daseins werden. Die triviale Tatsache, dass Eltern die materiellen Belastungen und die Einschränkungen, die mit dem Aufziehen von Kindern zwangsläufig verbunden sind, bereitwillig auf sich nehmen, mag deren große Bedeutung für die Elternidentität unterstreichen. Vielfältige Fantasien, Hoffnungen, Ängste, Wünsche, Frustrationen und Tröstungen sind mit den Kindern verbunden. Sie sollen es einmal besser haben als man selbst. Sie sollen realisieren können, was einem selbst versagt geblieben ist. Sie entwickeln zu Mutter und Vater eine eigenständige emotionale Beziehung, die heutzutage in vielen Fällen stabiler ist als die Beziehung des jeweiligen Elternteils zum Partner. Sie vermitteln zuverlässige emotionale Befriedigung. Das klingt nun alles sehr technisch, aber es ist keineswegs so gemeint. Diese Beschreibung der Rolle und Funktion von Kindern im Leben der Eltern mag genügen, um anzudeuten, was alles geschehen kann, wenn die Hoffnungen und Wünsche enttäuscht werden, wenn sich die Zukunftsfantasien als falsch erweisen, wenn mit dem Heranwachsen der Kinder stattdessen die Ängste in den Vordergrund treten und plötzlich alles anders kommt, als man es sich über zwei Jahrzehnte oder noch länger vorgestellt hat. Alles das sitzt sehr tief. Es ist völlig unmöglich, sich von heute auf morgen umzustellen, sich darauf einzustellen, dass die Zukunft möglicherweise keine Erfüllung von Hoffnungen und
Die Familienkatastrophe »Schizophrenie«
Wünschen für das Kind bringen wird, dass dessen Eigenständigkeit als Erwachsener bedroht ist und dass die emotionale und materielle Fürsorgeverpflichtung der Eltern in eine ungewisse Zukunft hinein andauern wird. Nimmt man alles dies zusammen, dann kann man sich leichter vorstellen, dass die Erkrankung eines Familienangehörigen an einer schizophrenen Psychose mit einer weniger günstigen Verlaufsform dazu führt, dass »nichts mehr ist, wie es war«.
Die Familienkatastrophe »Schizophrenie« Ich will der Familienkatastrophe namens Schizophrenie anhand von sechs Teilaspekten nachgehen. Ich nenne sie: 1. die große Kränkung, 2. die Bedrohung des Familienzusammenhalts, 3. der Verlust der Selbstverständlichkeit, 4. die Ungewissheit des Ausgangs und des Verlaufs, 5. die Veränderung der eigenen Biografie, 6. die Frage danach, was nach dem eigenem Tod wird. Jeder dieser Problemkreise für sich allein macht eine Bürde aus, die zu bewältigen Beharrlichkeit, Geduld und Kraft verlangt. Alle zusammen machen sie die dritte Krankheit aus: das Leiden der Angehörigen unter der schizophrenen Psychose eines Familienmitglieds, zu dessen Bewältigung sie Anspruch auf Hilfe und Unterstützung haben.
Die große Kränkung Wenn uns ein unerwarteter Schicksalsschlag trifft, reagieren wir, wie Soziologie und Sozialpsychologie herausgefunden haben, nach einem bestimmten, mehr oder weniger vorhersagbaren Muster. Das gilt unabhängig davon, ob wir einen vertrauten Menschen durch Tod oder durch Trennung verlieren, ob wir selbst krank werden, ob wir unsere Arbeit und unser Vermögen verlieren oder ob ein Familienmitglied eine schwere Behinderung entwickelt. In einer ersten Phase neigen wir zur Verleugnung. Wir wollen nicht, dass das wahr ist. Wir bestreiten es einfach. Wir stecken den Kopf in
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den Sand. Andere beten. Oft ist es ein Gemisch von alledem, was unsere Gefühle und unser Handeln bzw. unser Nichthandeln bestimmt. »Um Himmels Willen nur keine Schizophrenie« ist die stereotype Reaktion von Angehörigen, die ihr Kind oder ihren Partner erstmals in die psychiatrische Klinik bringen müssen: »Schizophrenie? Was bedeutet dieses Wort? Ich verstand es nicht, ich glaubte es nicht«, berichtet Nancy Schiller im Buch ihrer Tochter Wahnsinn im Kopf (Schiller 2008), als sie das erste Mal mit der Diagnose konfrontiert wurde. Auf die Verleugnung folgen Zorn, Verzweiflung, Kränkung und das Rechten, warum ausgerechnet uns dieses Unglück geschehen ist. Dazu gehört fast automatisch die Suche nach dem Schuldigen, fast immer auch nach der eigenen Schuld. Marvin Schiller, der Vater der schizophreniekranken Lori und selbst Psychologe, steht für unzählige Eltern: » Als ich Psychologie studiert hatte, führte man alle psychischen Krankheiten, auch die ernstesten, auf eine Ursache zurück: auf Fehler in der Erziehung. Alles wurde darauf zurückgeführt, wie man aufgewachsen war [...] Alle glaubten, dass die Ursachen für psychische Störungen in den frühkindlichen Erfahrungen des Betroffenen zu suchen seien. Ein Patient mit ernsthaften psychischen Problemen war demnach in frühen Jahren einem unerträglichen Druck, inneren Widersprüchen oder destruktiven Verhaltensweisen der Eltern ausgesetzt gewesen. Meiner Ausbildung zufolge war ich also an Loris Krankheit schuld, wenn sie wirklich ernsthaft psychisch gestört war. Das konnte und wollte ich nicht glauben. Also weigerte ich mich einfach zu sehen, dass Lori tatsächlich krank war. « An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass die Phase der Verleugnung und die des Rechtens ineinander übergehen können, ja dass sie sich vermischen. Andere Eltern suchen die Schuld in ihrer Verzweiflung an allen möglichen Orten: im Mangel an Vitamin C, wie der amerikanische Chemie-Nobelpreisträger Linus Pauling das propagiert hat; im Mangel an Spurenelementen oder in Fehlernährung, wie die orthomolekulare Psychiatrie das tut, oder – häufig – im Missbrauch von Drogen, insbesondere von Cannabis und LSD. Sie schlagen in Lexika nach, die auch heute noch eher zweifelhafte Auskunft geben. Sie suchen Hilfe an vernünftigen und unvernünftigen Orten. Ihre ersten Begegnungen mit Psychiatern und Psychopharmaka sind oft wenig ermutigend. Die Schwierigkeiten der Medikamenten
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behandlung können sie nicht verstehen, weil man sie ihnen nicht erklärt. Und ich kenne viele Beispiele, wo sie dann auf Heilpraktiker und Naturheiler, auf Handauflegerinnen und Wahrsagerinnen ausweichen. Der Einbruch der Krankheit des Kindes in das eigene Leben wird auch als Grenzverletzung, als Beschädigung der eigenen Identität schmerzlich empfunden und erlebt. Diese Phase bietet nur selten günstige Voraussetzungen für eine vernünftige, zielgerichtete Auseinandersetzung mit der Krankheit und deren Auswirkungen auf das eigene Dasein. Fast regelmäßig schließt sich eine Zeit der Resignation, der depressiven Verstimmung, der stillen Verzweiflung an. Immer wieder bricht Angst über die Angehörigen herein. Ihnen wird zunehmend bewusst, dass die Welt der Familie nicht mehr in Ordnung ist, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Schuldzuweisungen von Dritten treten hinzu. Die Familie isoliert sich regelmäßig. Freunde und Bekannte ziehen sich zurück. Das gilt unabhängig davon, ob die Angehörigen sich entschließen, mit Freunden, Bekannten und Nachbarn über die Krankheit des Familienmitgliedes zu sprechen oder darüber zu schweigen. Schweigen ist immer noch die häufigere Reaktion. Ich zitiere noch einmal das Beispiel der Familie Schiller: » Vor allem durfte, wenn Lori geholfen werden sollte, nichts von diesem Zwischenfall bekannt werden. Als Psychologe wusste ich, dass man sie sonst für lange Zeit, wenn nicht für immer, für psychisch gestört brandmarken würde. Ich wollte nicht, dass meine Tochter [...] stigmatisiert wurde. Ich glaubte, dass die Gefahr vorbei sei und sie jetzt das Krankenhaus verlassen könne. Aber das Krankenhauspersonal wollte sie nicht gehen lassen [...]. Sie wollten Lori für einige Tage zur Beobachtung auf der psychiatrischen Station behalten. Doch das kam für uns überhaupt nicht in Frage. Ich wollte nicht, dass in Loris Akten irgendetwas stand, was ihr in ihrem späteren Leben einmal Schwierigkeiten bereiten konnte. « Die Krankheit zu verstecken ist nicht nur ein Merkmal der Phase der Verleugnung. Sie setzt sich in der Phase der Resignation fort und verstärkt auf diese Weise die Ängste, die Vereinsamung und Hilflosigkeit der Angehörigen. Erst danach kommt es günstigenfalls zu einer Phase der konstruktiven Auseinandersetzung mit der Krankheit des Familienmitglieds und den Folgen. Die Familie stellt sich darauf ein.
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Sie sucht gezielt und rational nach Hilfen, lässt sich beraten, schließt sich Selbsthilfevereinigungen an und versucht das Beste aus der neuen Situation zu machen. Aber das ist nicht einfach, vor allem dann nicht, wenn der Kranke selbst andere Vorstellungen davon hat, was für ihn gut und richtig ist, als die Familie oder auch seine Therapeutinnen und Therapeuten. Fast regelmäßig entstehen dann unterschiedliche Auffassungen darüber, was nun zu tun sei. Spätestens dann ist der Zusammenhalt der Familie bedroht.
Die Bedrohung des Familienzusammenhalts Bei einer körperlichen Krankheit wissen wir in der Regel, was wir zu tun haben. Wir gehen zum Arzt. Der untersucht uns, stellt eine Diagnose und gibt einem kompetenten Rat. Eine Behandlung wird eingeleitet, wenn dies erforderlich ist. Die Kranken und ihre Angehörigen können und müssen sich dann auf die Folgen der Erkrankung einstellen. Anders als bei psychischen Störungen gibt es bei körperlichen Krankheiten in der Regel keine schwer überwindlichen Verständnisschwierigkeiten. Vor allem herrscht bei körperlichen Leiden meist Übereinstimmung, was zu tun ist. Bei psychischen Störungen ist das anders. Oft sind sie über längere Zeit nicht eindeutig abgrenzbar und diagnostizierbar. Selbst wenn das der Fall ist, stimmen die Vorstellungen von Fachleuten und Laien über Art, Ursachen und Behandlungsnotwendigkeit nur begrenzt überein. Dazu kommen Vorurteile und Stigmatisierung und die Angst, die Psychiatrisierung der Kranken könne mehr schaden als ihr psychisches Leiden selbst. Diese Differenz in der Wahrnehmung und der Beurteilung der Krankheit besteht nicht nur zwischen Fachleuten und Angehörigen, sondern auch zwischen Fachleuten und Kranken. Die besondere Art ihrer Störung macht es ihnen oft über längere Zeit nicht möglich, zu verstehen und zu akzeptieren, dass das, was sie erleiden, eine »Krankheit« ist und damit medizinischen Hilfen zugänglich. Etwas anderes kommt hinzu. Der Einordnung der Störung als Krankheit ist oft eine lange Zeit der psychischen und psychosozialen Veränderung vorausgegangen, die sowohl die Kranken wie die Angehörigen erlebt und erfahren haben, die sie aber alle nicht als Krankheit erkennen und erklären konnten. In der Anfangsphase ist es für alle Beteiligten schwer zu begreifen, dass sie es mit einem ernsten, von Chronifizierung
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bedrohten »medizinischen« Leiden zu tun haben und nicht mit einer »normalen« Störung des Familienzusammenhangs oder mutwilligem sozialem Fehlverhalten. Solche Fehleinschätzungen sind besonders häufig, wenn die Erkrankung zum ersten Mal in der Spätpubertät auftritt, wo Ablösungskonflikte zwischen Kindern und Eltern ohnehin an der Tagesordnung sind. Der Versuch, das krankhaft gestörte Verhalten in normalen Kategorien zu erklären und zu bewältigen, ist zum Scheitern verurteilt. Er führt zu heftigen, emotional aufgeladenen Auseinandersetzungen in der Familie. Er endet nicht selten mit dem Ausschluss des später als schizophren diagnostizierten Familienmitglieds. Günstigenfalls folgen auf das Scheitern der normalen Bewältigungsversuche die Diagnose und die psychiatrische Behandlung. Allzu häufig werden aber Hilfserklärungen herangezogen, etwa der Missbrauch von Cannabis, Halluzinogenen oder anderen Drogen. Dabei wird in der Regel übersehen, dass der Drogenmissbrauch ebenso wie der übermäßige Genuss von Alkohol auch ein Zeichen der beginnenden schizophrenen Störung sein kann, beispielsweise in Form eines untauglichen »Selbstbehandlungsversuchs«. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, dass Vater, Mutter und Geschwister im Verlauf der Störung zu ganz unterschiedlichen Auffassungen davon gelangen können, was denn nun zu tun sei. Die Mutter beispielsweise ist für Verständnis, Toleranz und Entgegenkommen, der Vater für eine klare und konsequente Linie. Die Geschwister meinen, beide Eltern hätten Unrecht. Das gilt in der Vorphase, in der sich noch kein Familienmitglied darüber klar ist, dass man es mit einer psychischen Krankheit zu tun hat. Das gilt oft aber auch noch nach der psychiatrischen Diagnose. Es gilt insbesondere dann, wenn eine Behandlung gegen den Willen des Erkrankten notwendig ist. Lori Schillers Bruder berichtet nach der Krankenhauseinweisung seiner Schwester: » Ich drehte durch, als meine Eltern mir erzählten, was sie getan hatten. Ich stand da in der Küche, und meine Hände zitterten vor Wut. ›Das ist nicht zu glauben!‹, schrie ich meine Eltern an. ›Das könnt ihr nicht machen. So könnt ihr eure Tochter doch nicht behandeln [...]. Ihr könnt nur nicht mit ihr umgehen. Ihr tut, was das Beste für euch ist.‹ [...] Ich glaubte damals wirklich, dass sie sie loswerden wollten [...]. Ich wusste, wie die Leute hier unangenehme Dinge vertuschten, wie Scheidungen, drogenabhängige Kinder oder Kündigungen. Dass meine Eltern Lori in
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eine psychiatrische Klinik steckten, kam mir genauso verlogen vor. Es war etwas, worüber man sich nur flüsternd unterhielt. « Wenn die Krankheit bekannt und innerhalb der Familie als solche anerkannt ist, bestehen häufig dennoch erhebliche Differenzen über den richtigen Weg des Umgangs mit den Kranken. Ist eine psychiatrische Behandlung wirklich notwendig oder nicht? Soll man es vielleicht nicht doch lieber mit einem Heilpraktiker versuchen? Darf man gar eine Behandlung gegen den Willen des Kranken veranlassen? Oder: Muss man es vielleicht sogar? Nicht wenige Familien zerbrechen über den Differenzen und den Belastungen, die die psychische Krankheit eines Familienmitglieds mit sich bringt. Immer wieder bleibt am Ende die Mutter mit dem schizophrenen Kind – das längst kein »Kind« mehr ist – allein zurück, um sich am Ende vorwerfen lassen zu müssen, sie sei überängstlich oder überfürsorglich.
Der Verlust der Selbstverständlichkeit Das Zusammenleben mit einem Schizophreniekranken verändert alle Beteiligten. Das gilt in besonderem Maße, solange die Kranken durch Merkmale des zentralen schizophrenen Syndroms verändert sind, wenn sie Stimmen hören, die die anderen Familienmitglieder nicht hören können, wenn sie Botschaften aus dem Radio oder Fernsehen aufnehmen und ihr Verhalten davon bestimmen lassen. Es gilt vor allem aber, wenn die emotionale und rationale Kommunikation mit den Angehörigen durch die wahnhafte Wahrnehmung der Beziehungen zur belebten und unbelebten Welt verändert ist. Die Angehörigen verzweifeln, weil sie das nicht verstehen, die Kranken, weil niemand sie versteht. »Was soll ich denn tun«, klagt eine junge schizophreniekranke Frau, »wenn nicht einmal meine Eltern mir glauben?« Die Veränderung in den Beziehungen endet nicht mit dem Abklingen der akuten Psychose. Einmal sensibilisiert, reagieren viele Angehörige überempfindlich und überängstlich. Sie hören gleichsam das Gras wachsen. Neigten sie vor der Diagnose der schizophrenen Störung dazu, krankhaftes Verhalten zu normalisieren, verkehren sich die Verhältnisse nun. Jede Schlafstörung, jede gereizte Reaktion, jeder Missmut, jede Erschöpfung, jede Fehlleistung wird nun zum möglichen Symptom,
Die Familienkatastrophe »Schizophrenie«
zum neuerlichen Anzeichen eines Rückfalls. Bald schon kann der Kranke kaum noch etwas tun, was nicht schon wieder als symptomatisch erscheint. Die Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem anderen ist verschwunden. Die Ungewissheit hinsichtlich Ausgang und Verlauf ist allgegenwärtig.
Die Ungewissheit des Ausgangs Die Schizophrenie, ich wiederhole es noch einmal, ist eine ernste, in der Regel aber gut behandelbare Krankheit. Aber: Niemand weiß am Anfang, ob für den einzelnen Kranken in seiner jeweiligen Situation der Ernst (etwa die Gefahr der Chronifizierung) oder die gute Behandelbarkeit überwiegt. Am Beginn einer schizophrenen Psychose ist der Ausgang offen. Die Angst steht im Raum, dass es sich nicht um eine glimpfliche Verlaufsform handelt, nicht um eine einzelne Episode, die verschwindet und nie wiederkehrt, sondern um einen chronisch-rezidivierenden Verlauf, um eine invalidisierende Form. John Wing (1980) hat schon vor geraumer Zeit auf den Punkt gebracht, was die Angehörigen in besonderer Weise belastet: Das wechselnde Befinden und Verhalten psychotischer Personen scheint eines der größten Probleme für sie darzustellen. Die Eltern von geistig Behinderten wissen, wo sie stehen. Sie wissen, welche Entscheidungen sie ihren Kindern abnehmen müssen und was diese selbstständig bewältigen können. Die psychotisch Kranken dagegen mögen in der akuten Phase völlig unfähig sein, für sich selbst zu entscheiden und zu sorgen, in der Erholungsphase aber können sie wieder vollkommen selbstständig werden. Wenn sie dann nicht bereit oder in der Lage sind zu akzeptieren, dass ihre Angehörigen zwischenzeitlich für sie handeln mussten, kann das zu einer zusätzlichen Last werden. Verzweifelte Hilflosigkeit ist gelegentlich das Ergebnis. Dazu kommt die wechselnde Herausforderung durch die Krankheit. Einmal sollen die Angehörigen sich zurückhalten, sich nicht einmischen. Das andere Mal müssen sie unbedingt und entschieden eingreifen, um die soziale Existenz, manchmal sogar das Leben des erkrankten Familienmitglieds zu schützen. Vielen Angehörigen fällt es schwer, dieses Wechselbad an Anforderungen und Gefühlen zu bewältigen. »Einige lernen es, mit den Kranken nicht über den Wahn und seine Halluzinationen zu diskutieren. Andere lernen es nie. Einige lernen es, den
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Die schizophrene Erkrankung: eine Katastrophe für die ganze Familie
antriebsverminderten, sozial zurückgezogenen Behinderten zu aktivieren, ohne ihn zu quälen. Wieder andere drängen den Kranken durch unablässige Antreiberei aus der Familie. Andere verkraften das Gefühl nicht, für ihre Bemühungen Undank zu ernten oder die Dinge nur noch schlimmer zu machen, und ziehen sich selbst in Passivität zurück.« (Wing 1980) Das Einzige, was sicher ist, ist die Unsicherheit. An einem Tag freuen sie sich über eine Initiative des erkrankten Familienmitglieds. Am nächsten Tag schon kommt der Rückschlag – vielleicht kommt er aber auch nie. Das schizophreniekranke Kind beginnt eine Ausbildung und bricht sie wieder ab, beginnt ein Studium und bricht es wieder ab, bezieht eine eigene Wohnung und kehrt einen Monat später nach Hause zurück, ist dynamisch und optimistisch und wenige Tage später aus scheinbar nichtigem Anlass tief verstimmt; heute weltfremd und kurz danach realistisch und zugewandt. Und es ist keineswegs so, dass wenigstens diese Wechselhaftigkeit anhält. Oft gibt es lange Phasen von Stabilität – manchmal halten sie über Jahre, ja über Jahrzehnte. Angehörige, die ein Wechselbad an Hoffnung und Verzweiflung hinter sich gebracht haben, die immer wieder Fortschritte und Rückschläge in regellosen und nicht berechenbaren Abständen erlebt haben, können sich nie ganz sicher sein. Gelassenheit wird von ihnen verlangt, aber sie haben unterschwellig immer Angst.
Die Veränderung der eigenen Biografie Der übliche Lebenslauf von Eltern in unserer Gesellschaft lässt sich grob so beschreiben: Sie haben ein Kind und ziehen es auf, bis es herangewachsen ist und schließlich das Haus verlässt. Es wird selbstständig. Die Eltern freuen sich an ihm und manchmal haben sie auch Kummer. Allerdings sind sie nicht mehr für das Kind verantwortlich, wenn es erwachsen geworden ist. Haben die Eltern Glück und stimmen die Familienbeziehungen, erfahren sie von dem Kind im Alter Unterstützung und Zuwendung. Letzteres ist heute nicht mehr so selbstverständlich wie vor fünfzig Jahren, aber selbst wenn man sich von den Kindern verlassen fühlt, wenn man Undank spürt, muss man sich keine Sorgen mehr um sie machen. Bei Eltern von Schizophreniekranken ist das anders. Zu einem Zeitpunkt, zu dem andere Kinder das Haus verlassen, werden ihre Kinder erst recht unterstützungsbedürftig. Wenn sie noch im Teenageralter er-
Die Familienkatastrophe »Schizophrenie«
kranken, bereiten sie zunächst Schwierigkeiten, die als Erziehungsprob leme in Erscheinung treten. Sie fallen in ihrer psychischen Entwicklung und in ihrer Selbstständigkeit zurück. Sie finden nur mit Mühe oder gar nicht Anschluss an Gleichaltrige. Manchmal kehren sie ins Elternhaus zurück, nachdem sie bereits in eine eigene Wohnung oder in eine Wohngemeinschaft gezogen waren. Manche schaffen keine Berufsausbildung. Andere brechen ihr Studium ab. Viele verlieren ihre Arbeit. Manche werden früh invalidisiert, nicht wenige sogar bevor sie einen Rentenanspruch erworben haben. Die Biografie der Eltern nimmt nicht den üblichen Lauf. Die Abnabelung des kranken Kindes wird erschwert, hinausgezögert. Oft findet sie gar nicht statt. Die erwachsenen kranken oder behinderten Kinder bleiben der Mittelpunkt des Lebens ihrer Eltern. Und immer finden sich wohlmeinende Freunde, Nachbarn und Therapeuten, die dies den Eltern anlasten. Teilweise haben sie dabei gewiss auch nicht ganz Unrecht, aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Stigmatisierung und soziale Isolierung, Hilflosigkeit und Unterstützungsbedürftigkeit sind ein starkes Band. So kommt es, dass nicht wenige Schizophreniekranke mit und bei ihren Eltern altern, sodass irgendwann die bange Frage unabweisbar ist: Was wird, wenn wir einmal nicht mehr leben?
Was wird nach dem eigenen Tod? Wenn die Schizophrenie einen chronischen Verlauf nimmt, wenn die Eltern über siebzig sind und die »Kinder« auf die fünfzig zugehen, dann spitzt sich die Frage »Was wird, wenn wir nicht mehr leben?« unerbittlich zu. Das ist keineswegs vorrangig eine Angelegenheit der Überfürsorglichkeit und Ängstlichkeit der Eltern. Die gesellschaftliche Fürsorge für Behinderte und chronisch Kranke ist nach wie vor mangelhaft. Der größte Teil an Pflege und Zuwendung, an sozialer und materieller Unterstützung insbesondere psychisch Behinderter wird von ihren Familien erbracht. Mit dem Altern der Eltern, mit deren eigener Pflegebedürftigkeit und endgültig mit deren Tod ändert sich nicht nur die psychosoziale Situation der Behinderten, sondern auch ihre wirtschaftliche Lage in drastischer Weise. Die meisten Eltern leisten finanzielle Unterstützung aus ihrem Ersparten oder ihrer Rente. Denoch gelingt es nur ausnahmsweise und den
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wenigen privilegierten Eltern chronisch psychisch Kranker, ein Vermögen anzusammeln, das auch die wirtschaftliche Zukunft ihrer Kinder sichert. Die allermeisten sind nach dem Tod ihrer Eltern auf Sozialhilfe angewiesen. Nur gelegentlich können sie auf tatkräftige Unterstützung ihrer gesunden Geschwister bauen und um die emotionale Zuwendung ist es oft auch nicht zum Besten bestellt. Die amerikanische Psychiaterin Sarah D. Atkinson (1994) hat im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung gezeigt, dass anhaltende Gefühle von Verlust und Trauer das Leben und Erleben von Eltern mit schizophreniekranken Kindern nachhaltig prägen. Sie zeigen ähnliche Reaktionen wie die Eltern, deren Kinder infolge von Krankheit oder Unfall sterben. Allerdings besteht zwischen diesen und den Eltern chronisch kranker Kinder ein entscheidender Unterschied: Während es den meisten Angehörigen gelingt, die emotionalen Folgen des Todes ihrer Kinder innerhalb der darauffolgenden fünf Jahre zu überwinden, bewältigen Eltern von chronisch psychisch Kranken ihre Trauer und ihr Verlusterleben selten vollständig. Vielmehr werden diese langfristig durch chronische Angst, wiederkehrende Schuldgefühle und dauernde Abhängigkeit ihrer erwachsenen Kinder kompliziert. Neben den konkreten Belastungen und Sorgen drängt sich lebenslang immer wieder die Frage auf, was aus dem Kind hätte werden können, wenn es nicht krank geworden wäre. Erst wenn man begriffen hat, warum die schizophrene Erkrankung eines Angehörigen eine Katastrophe für die ganze Familie ist und warum es gar nicht anders sein kann, bestehen günstige Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Katastrophe. Das gilt für die Hilfe wie für die Selbsthilfe. Man kann lernen, dass die schizophrene Psychose eine Krankheit ist, dass sie der Behandlung zugänglich ist, dass sie durch unvermeidbare, aber mutmaßlich unberechtigte Schuldgefühle und durch ungerechte gesellschaftliche Vorbehalte und Vorwürfe erschwert wird. Diesen Schuh muss man sich nicht anziehen. Das gilt für die Kranken wie für die Angehörigen. Aber fast immer bedarf es harter Arbeit, intensiven Nachdenkens und oft auch einer therapeutischen Reflexion, bis man das verinnerlicht hat.
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Das Leid der Kinder
Auch Kinder sind Angehörige. Mahnung an die Erwachsenen
Das Leid der Kinder Psychosekranker war lange ein weißer Fleck auf der Landkarte der Psychiatrie. Die Wissenschaft hat sich allzu lange vorrangig für ihr Risiko interessiert, selbst zu erkranken, und nicht für ihre Alltagsprobleme. Wenn man diese betrachtet, wird rasch sichtbar, dass die Ängste der Eltern, die Krankheit könnte öffentlich werden, wesentlich zum Leid der Kinder beiträgt, die regelmäßig ein Schweige gebot auferlegt bekommen, sogar gegenüber ihren engsten Freunden. Das kann nicht gut sein.
Wenn Eltern psychisch erkranken Wenn von Angehörigen psychisch Kranker die Rede ist, denken wir meist an Eltern, gelegentlich an Partner und Geschwister, selten an Kinder. Aber psychisch Kranke haben Kinder; und diese Kinder sind, insbesondere bei chronisch-rezidivierendem Krankheitsverlauf, von der psychischen Erkrankung ihrer Mutter oder ihres Vaters in einschneidender Weise mitbetroffen. Während es den Eltern und Partnern mittlerweile gelungen ist, sich Gehör zu verschaffen, ist es um die Kinder und ihr Schicksal still geblieben. Es entsteht der Eindruck, dass man in den Kliniken und während der ambulanten Betreuung die Augen vor diesem wichtigen Problem verschließt, dass die Therapeutinnen und Therapeuten einen ängstlichen, von Hilflosigkeit bestimmten Bogen um die Sorgen und Nöte der mitbetroffenen Kinder machen, die ja nicht ihre Patienten sind. Auch in Angehörigenvereinigungen und Selbsthilfegruppen sind heranwachsende und erwachsene Kinder psychisch Kranker nur selten anzutreffen, noch jüngere überhaupt nicht. Auch wissenschaftliche Literatur zu den Problemen, den Sorgen und der Lebenssituation der Kinder psychisch kranker Mütter und Väter war
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bis vor wenigen Jahren kaum vorhanden. Die wenigen auffindbaren Beiträge entpuppten sich meist als Untersuchungen zur Genetik und zur Psychodynamik der Eltern-Kind-Beziehung unter diesen besonderen Voraussetzungen. Die konkrete Betroffenheit der Kinder geriet nur ausnahmsweise ins Blickfeld. Eine der frühen Ausnahmen stellt eine »vorwissenschaftliche Schätzung« von Klaus Ernst (1978) dar. Er befasste sich in einer heute noch lesenswerten Arbeit mit der »Belastung der Kinder hospitalisierungsbedürftiger psychisch Kranker«. Er schätzte, dass ein Drittel der Kinder durch die Krankheit der Eltern schwer belastet würden, die Hälfte mittelgradig und ein Fünftel »unerheblich«. Eine »durchschnittlich schwere Belastung« liegt im folgenden Beispiel vor: Y Beispiel Die
39-jährige Mutter eines 7-jährigen Mädchens macht innerhalb von acht Jahren fünf Krankenhausbehandlungen wegen ihrer schizophrenen Psychose durch. Die Krankenhausaufnahmen verzögern sich regelmäßig wegen des Widerstandes der Mutter. In solchen Zeiten verwahrlost der Haushalt mehrmals schwer. Die psychiatrische Nachbehandlung bricht die Patientin regelmäßig ab, sodass es rasch wieder zu Rückfällen kommt. Unter dem Einfluss verworrener Ideen zündet sie unter anderem die Wohnung an, zerschneidet die Kleidung des Ehemannes, uriniert dem Kind in die Spielsachen. Das Kind lebt überwiegend in Angst vor der Mutter, einmal wünscht es, sie möge tot sein. Die zwischenzeitlichen gesunden beziehungsweise symptomfreien Intervalle sind nur kurz. ô Ernst fasst seine Beobachtungen zusammen: »Die mitgeteilten Erfahrungen liefern eine unter zahlreichen Illustrationen für die Verkehrtheit des Klischees, wonach die intolerante Öffentlichkeit ihre unbequemen Mitglieder in die psychiatrische Klinik abschiebe. Gequälte Familien sind keine Öffentlichkeit. Im Gegenteil werden Kinder auch heute noch von der (hiermit übermäßig toleranten) Öffentlichkeit als elterliches Eigentum betrachtet, das die Nachbarn nichts angeht. Die Verpflichtung zur Hilfeleistung entsteht nicht erst mit dem Nachweis der Pathogenität eines Leidens.« Wichtige Impulse für die weitere Auseinandersetzung mit dem Leid der Kinder psychosekranker Eltern vermittelte eine Untersuchung der Zürcher Sozialarbeiterinnen Yvonne Hänni und Margrit Wüthrich (1993): Wie erleben Kinder die psychische Erkrankung eines Eltern-
Schweigen und Schuldgefühl
teils? Sie zeigten, dass insbesondere bei der psychischen Erkrankung der Mutter die Kinder oft nicht die nötige Sicherheit und Fürsorge erhalten. Das Verhalten des erkrankten Elternteils verändert sich. Das hat zwangsläufig Auswirkungen auf die Entwicklung der Kinder, umso mehr, je schwerer die Erkrankung ist und je länger sie dauert. Wenn Kinder bei der Erkrankung und Unterbringung ihrer Eltern alleingelassen werden, entwickeln sie Ängste und Ratlosigkeit. Die Krankheit, unter der sie sich nichts vorstellen können, beschäftigt sie. Wenn ihre Fragen dazu nicht beantwortet werden, entwickeln sie Fantasien, die oft schlimmer sind als die Wirklichkeit.
Schweigen und Schuldgefühl Wenn professionelle Helferinnen und Helfer bei einer Klinikeinweisung eingreifen, steht die aktuelle Betreuungssituation im Mittelpunkt. Sie wird rasch und krisenhaft gelöst – oft durch »Fremdplatzierung«, also eine Unterbringung in einer Klinik. Damit ist der Auftrag der intervenierenden Behörde vorerst erledigt, obwohl die Leidensgeschichte der Kinder zu diesem Zeitpunkt oft erst beginnt und über Jahrzehnte andauern kann. Die Befunde der oben genannten Autorinnen über die Erfahrungen der Kinder sind leider auch heute noch charakteristisch: Fast ausnahmslos hatten sie mit ihrem besonderen Schicksal allein fertig werden müssen. Sie erlebten von klein auf, wie ihre Mütter aufgrund der Erkrankung im Mittelpunkt des Familiengeschehens standen und ihre eigenen Bedürfnisse zurücktreten mussten. Kaum jemand der Befragten hatte als Kind Menschen, mit denen er über seine Sorgen und Probleme hätten sprechen können. Im Gegenteil, in den Familien herrschte durchweg Schweigegebot. Die Eltern wünschten nicht – oder hielten es nicht aus –, dass über die Krankheit gesprochen wurde. Insbesondere durfte in der Regel nichts darüber nach außen treten. Auch die Lehrer wurden nur selten ins Bild gesetzt. Wenn die Kinder dennoch darüber sprachen, etwa weil sie meinten, ihren Freunden das ungewöhnliche Verhalten des kranken Elternteils erklären zu müssen, hatten sie durchweg Schuldgefühle. Eine Aufklärung über die Krankheit erfolgte durchweg nicht, weder durch den gesunden Elternteil noch durch irgendwelche Fachpersonen.
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Das Leid der Kinder
Die Kinder mussten früh Verantwortung übernehmen. Nicht selten mussten sie mit acht oder zehn Jahren die Aufrechterhaltung des Haushalts gewährleisten und einen Teil der Fürsorge für jüngere Geschwister übernehmen. Dennoch sahen die Kinder, die das unbeschadet überstanden haben, ihre Kindheit positiv – eben weil sie früh selbstständig geworden seien. Allerdings besteht Grund zu der Annahme, dass diese Kinder den Mangel an beschützender, verständnisvoller Fürsorge, der ihnen einen wichtigen Teil einer unbeschädigten Kindheitsentwicklung geraubt hat, mehr oder weniger bewusst verdrängten. Die befragten Kinder waren nach der Beurteilung der Untersucherinnen bemerkenswert stabil. Das sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wenigen vorliegenden Untersuchungen über die seelische Gesundheit von Kindern psychisch kranker Eltern darauf hinweisen, dass deren Risiko, selbst psychisch zu erkranken, mindestens doppelt so hoch liegt wie in der Durchschnittsbevölkerung. Und das ist keineswegs nur eine Frage von genetischer Belastung. Mittlerweile ist die Forschung (Remschmidt/Mattejat 1994; Sollberger 2000; Lenz 2005, 2008) zur psychosozialen Leidenssituation der Kinder psychisch kranker Eltern in Bewegung gekommen. Dabei werden zwei Aspekte, die schon Hänni und Wüthrich hervorgehoben haben, immer wieder sichtbar. Neben mangelnder beschützender und verständnisvoller Fürsorge müssen diese Kinder frühzeitig Aufgaben, Rollen und Verpflichtungen des erkrankten Elternteils übernehmen. Ebenso regelhaft waren sie durch Ängste der Eltern und deren Furcht vor Stigmatisierung in Freundeskreis und Schule isoliert und damit in ihrer Lebensentwicklung zusätzlich beeinträchtigt und belastet.
Wie kann Hilfe aussehen? Wie kann nun Abhilfe geschaffen werden? Es besteht Übereinstimmung darüber, dass der erste Schritt darin bestehen sollte, dass sich die Behandelnden dem sozialen Problem der Mitbetroffenheit aller Familienangehörigen zu stellen haben. Das gilt in besonderem Maße für die jüngeren Kinder. Die Betreuung außerhalb der Familie mag in der akuten Situation sinnvoll sein, auf die Dauer ist sie jedoch in den meisten Fällen keine
Wie kann Hilfe aussehen?
Lösung. Vielmehr sind Hilfeangebote dringlich, die mit der Aufklärung der mitbetroffenen Kinder beginnen und ihnen, wo immer dies möglich ist, helfen, gemeinsam mit dem gesunden Elternteil mit dem Leiden des Kranken leben zu lernen und dabei die eigenen Bedürfnisse nach Schutz, Fürsorge und einer unbeschädigten Kindheitsentwicklung nicht zurückzustellen. Das ist keine leichte Aufgabe. Das Heranwachsen in einer Familie mit einem psychisch kranken Vater oder einer kranken Mutter prägt das weitere Leben auf Dauer. Die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die über ihre Erfahrungen berichteten, tun sich auch heute noch schwer, sich abzugrenzen und ihr eigenes Leben zu leben. Sie haben Schuldgefühle, wenn sie sich vom Elternhaus lösen und versuchen, mit den realen Belastungen zurechtzukommen, die die chronische Erkrankung des Elternteils mit sich bringt. Erfahrungen in Selbsthilfegruppen sind zwiespältig. Sie scheinen nicht ganz selten dazu zu führen, das Ausmaß der schier unerträglichen Belas tung zunächst einmal »ungebremst« ins Bewusstsein zu rücken. Es ist gut möglich, dass der mittlerweile klassische Gedanke, von Krankheit Mitbetroffene zur gegenseitigen Unterstützung und Stärkung in Selbsthilfegruppen zusammenzufassen, bei jüngeren Kindern unter bestimmten Voraussetzungen verfehlt ist. Ich halte es für möglich, dass Kinder eher altersgerechte individuelle Unterstützung benötigen. Das kann, muss aber nicht immer eine Psychologin oder ein Sozialarbeiter sein: Es gibt ältere Geschwister, andere Verwandte, Freunde der Familie oder Eltern von Schulfreunden, die solche Aufgaben übernehmen können. Die Voraussetzung dafür ist aber, dass sie überhaupt von der Erkrankung wissen. Es gibt inzwischen auch altersgerechte und krankheitsspezifische Kinderbücher, die dabei helfen können (Boje 2004; Homeier 2006; Trostmann/Jahn 2010). Es lohnt sich, bei Angehörigen-Organisationen nachzufragen. Im Übrigen sei auf das mittlerweile klassische Buch von Fritz Mattejat und Beate Lisofsky Nicht von schlechten Eltern (2009) verwiesen. Erfahrungen aus den letzten Jahren zeigen aber, dass es sinnvoll ist, Heranwachsende und junge Erwachsene mit psychisch kranken Eltern zum Zusammenschluss in Selbsthilfegruppen zu motivieren. Sie leben in einer besonderen Problemsituation, für deren Lösung es keine Vorbilder oder Modelle gibt. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich andere Jugendliche von ihren Eltern lösen, bleiben sie an ihren kranken Vater
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oder ihre kranke Mutter gebunden. Die Umkehrung des Eltern-KindVerhältnisses, die sich in der Zeit ihres Heranwachsens allmählich vollzogen hat, löst sich nicht auf, weil sie nun erwachsen geworden sind und mit Recht den Anspruch stellen, nun auf eigenen Füßen zu stehen. Oft erwartet die kranke Mutter oder der kranke Vater insbesondere von der Tochter, dass sie im Haus bleibt und den Haushalt führt, wie sie das irgendwann in der Kindheit gelernt hat. Wenn sie dennoch auszieht, sind Schuldgefühle die Folge. Wenn sie bleibt, geschieht das nicht selten um den Preis der Verkümmerung der eigenen Entwicklung. Nicht wenige junge Erwachsene erleben die daraus resultierenden Belastungen, die über Jahrzehnte anhalten können, auf die Dauer als unerträglich. Hier können Rat und gegenseitige Unterstützung von Menschen mit ähnlichen Problemen von großem Nutzen sein.
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»Also, so wurde uns von mehreren Seiten erklärt, gebe es nur eine Erklärung, und das sei überhaupt die Erklärung für die rätselhafte Krankheit Schizophrenie: falsche Erziehung, mieses Familienklima.« Rose Maria Seelhorst
Eine schizophrene Psychose verändert das eigene Leben – das der Kranken und das der Angehörigen und Freunde. Das resultiert zum einen aus dem Leid der Krankheit selbst: andauernde Symptome und die Krankheitsfolgen. Da sind zum anderen Vorwürfe und Selbstvorwürfe. Die Kranken fragen sich zwangsläufig: »Warum ich?« Die Angehörigen, vor allem die Eltern, fragen sich ebenso zwangsläufig: »Was haben wir falsch gemacht?« Ist es richtig, dass man sich mit dieser Frage konfrontiert? Niemand macht in der Kindererziehung alles richtig, sicherlich finden sich immer ungünstige Faktoren in der eigenen Familiengeschichte. Aber es ist ebenso richtig, dass man es eben mit einer Krankheit zu tun hat, mit einer Krankheit, an der niemand »schuld« ist. Viel wichtiger ist es, sich zu fragen: Was kann ich tun? Was kann ich tun, um die Behandlung möglichst erfolgreich zu gestalten, um die Krankheit zu bewältigen und mit ihr leben zu lernen. Dies gilt für die Kranken ebenso wie für die Angehörigen.
Was haben wir falsch gemacht? Was haben wir falsch gemacht? Wer diese Frage stellt, hat beinahe schon verloren. Und doch bleibt sie niemandem erspart, der mit einer schizophrenen Erkrankung in der Familie konfrontiert wird. Schizophrenie ist eine jener Krankheiten, die irgendwie erklärungsbedürftig erscheinen, für die dann aber auch schnell ein Sündenbock herhalten muss, denn – so denken wir in westlichen Gesellschaften – jemand muss ja »schuld« sein. Und das sind – seit Frieda Fromm-Reichmann vor mehr als sechzig
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Jahren das Wort von der »schizophrenogenen Mutter« prägte – fast immer die Eltern. Damit wird diese Zuweisung unausweichlich auch zu ihrem Leiden. Es hat lange gedauert, bis die Fachwelt ihnen zuhilfe kam (mit dem Freispruch der Familie, Dörner u. a. 1983/2001). Stellvertretend für viele andere soll hier zunächst einmal eine Mutter zu Wort kommen. Rose Maria Seelhorst (1984) berichtet über die Zeit unmittelbar nach der Erkrankung ihres Sohnes: » Für uns blieb neben der Betreuung des Jungen im Krankenhaus und dem Versuch, die übrigen Kinder zu beruhigen, die böse Frage nach der Ursache der Krankheit. Die damals noch lebenden Großeltern wußten von keinem ähnlichen Fall in der Familie zu berichten. Also, so wurde uns von mehreren Seiten erklärt, es gebe nur eine Erklärung, und das sei überhaupt die Erklärung für die rätselhafte Krankheit Schizophrenie: falsche Erziehung, mieses Familienklima. « Wenn man erst einmal anfängt, darüber nachzudenken, was man alles falsch gemacht hat in der Erziehung seiner Kinder, kann man sich nur die Haare raufen. Eltern sind Menschen; und Menschen machen Fehler. Eltern sind Anfänger, wenn sie ihr erstes Kind bekommen; und Anfänger machen Fehler. Es hilft ihnen wenig, wenn sie die gut gemeinten Ratschläge von Großeltern, Freunden und Nachbarn beherzigen und sich alle jene Bücher über die richtige Kindererziehung zu Gemüte führen, derer sie habhaft werden können. Denn die Vorstellungen von der richtigen Kindererziehung sind keineswegs zeitlos. In zwanzig Jahren wird vieles als falsch gelten, was heute richtig ist. Und was ist mit all unseren Unzulänglichkeiten? Unserer gelegentlichen Trägheit? Unserer Unausgeglichenheit, unserer Neigung zu überschießenden Gefühlen, mit der eigenen depressiven Verstimmtheit? Wie ist das mit Partnerschaftsproblemen? Haben wir sie in der »richtigen« Art und Weise bewältigt? Was ist, wenn wir uns gar getrennt haben? Oder ist es schlimmer, wenn wir trotz Schwierigkeiten zusammengeblieben sind? War es richtig, beizeiten wieder arbeiten zu gehen und das Kind allein zu lassen? War es überfürsorglich, trotz Wunsches nach eigener Berufstätigkeit bis zur Einschulung des Kindes zu Hause zu bleiben? Hat der Babysitter, vor dem die Schwiegermutter immer gewarnt hat, vielleicht doch einen schlechten Einfluss ausgeübt? Wäre der Waldorf-Kindergarten nicht besser gewesen als der evangelische? Und überhaupt, wie ist es mit unseren eigenen Problemen? Sind wir nicht vielleicht gestörter in unserer Persönlichkeit, als wir das immer wahrhaben wollten?
Unbekannte Ursachen – erhöhte Verletzlichkeit
Fragen über Fragen, und alle gehen an der Sache vorbei. Selbstverständlich verhalten sich Eltern zuweilen falsch. Selbstverständlich unterlaufen ihnen Erziehungsfehler und Ungerechtigkeiten. Selbstverständlich gibt es Phasen von Überfürsorglichkeit – und von kühler Zurückhaltung. Selbstverständlich gibt es Familien, in denen ein mieses Klima herrscht, in denen es den Kindern oder den Eltern oder allen zusammen nicht gut geht. Ja sogar Familien, in denen Kinder misshandelt werden. Und doch: Keiner dieser einzelnen Faktoren löst die Erkrankung aus.
Unbekannte Ursachen – erhöhte Verletzlichkeit Nach dem derzeitigen Stand unseres Wissens gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Schizophrenie durch Fehler in der Erziehung oder ein ungutes Familienmilieu verursacht wird. Ich werde dem derzeitigen Stand der Ursachenforschung später in zwei Kapiteln nachgehen. Hier nur so viel: Wir gehen heute davon aus, dass Menschen, die später an Schizophrenie erkranken, schon vorher verletzlicher als andere für Einwirkungen von innen und von außen sind. Dabei wirken biologische, psychologische und soziale Einflüsse zusammen. Im Zusammenspiel machen sie die erhöhte Verletzlichkeit – die »Vulnerabilität«, wie es in der Fachsprache heißt – aus, die wir heute als Grundbedingung für die Entstehung einer schizophrenen Psychose betrachten. Es gibt aber keinen fassbaren Einzelfaktor, der allein verantwortlich ist. Vieles spricht dafür, dass die Vulnerabilität individuell ist und dass jeder einzelne Mensch anderen Belastungen gegenüber verletzlich ist. Nun kann man argumentieren, das sei ja alles schön und gut, aber wenn es so ist, dass psychologische und soziale Faktoren für den Ausbruch der Erkrankung von Bedeutung seien, dann gehöre eben doch ein schlechtes Familienklima dazu, dann seien es eben doch gestörte Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, die die Krankheit verursachen oder doch wenigstens auslösen. Wenn das so sei, dann müsse auch jemand verantwortlich sein. Das klingt zunächst plausibel, aber es ist dennoch nicht logisch und vernachlässigt ein paar epidemiologische Bedingungen. Die Ableitung der Erkrankung aus gestörten innerfamiliären Beziehungen hat die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Schizophrenie
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weltweit in allen Kulturen etwa gleich häufig auftritt und dass dies, soweit nachweisbar, auch in vergangenen Jahrhunderten so gewesen ist. Weil das familiäre emotionale und soziale Gefüge in unterschiedlichen Kulturen und unterschiedlichen Zeiten extreme Unterschiede aufweist und immer wieder radikalen Wandlungen unterworfen ist, müsste auch die Schizophreniehäufigkeit unterschiedlich sein, wenn ein spezifisches Familienmilieu wirklich »schizophrenogen« wäre. Auch die gegenwärtige Soziologie hat keinen definierbaren Erziehungsstil und kein abgrenzbares Familienmilieu benennen können, in dem schizophrene Erkrankungen gehäuft auftreten. Richtig ist, dass wir in Familien mit schizophrenen Mitgliedern oft ein problematisches, gespanntes Milieu antreffen. Aber wen wundert das? Es wäre gleichsam nicht »normal«, wenn das Zusammenleben mit schizophrenen Angehörigen im Familienverbund die Beteiligten nicht belasten und verändern würde. Huhn oder Ei?
Entwicklungskrisen sind unvermeidbar Bei Befragungen von Familienangehörigen ist festgestellt worden, dass in Familien, in denen später jemand schizophren erkrankt, schon vor dem Ausbruch der Störung gehäuft Probleme bestanden haben. Dazu sind zwei Anmerkungen erforderlich: Zum einen müssen wir uns erinnern, dass in Familien mit schizophrenen Kindern gehäuft auch andere Personen, etwa ein Elternteil, an dieser Störung leiden. Zum anderen geht dem Ausbruch der Psychose oft eine lange Vorphase voraus, ein sogenanntes Prodromalstadium, in dem sich der später manifest Schizophrene schon anders verhält als in gesunden Zeiten: Er zieht sich zurück, ist verletzlicher, als Folge davon oft auch aggressiver in innerfamiliären Auseinandersetzungen. Ein solches Vorstadium kann Jahre andauern und bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander. Der englische Medizinsoziologe George Brown berichtete schon 1972 in einer Studie zur familiären Situation schizophrener Patienten über eine Befragung von Lehrern, die die späteren Kranken etwa fünf Jahre vor der Klinikaufnahme unterrichtet hatten: »Die Lehrer waren über das Ziel der Untersuchung nicht unterrichtet, und die Interviewer wuss-
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ten bei der Befragung ebenfalls nicht, ob es sich um einen Patienten oder ein Kind aus der Kontrollgruppe handelte. Die Lehrer hatten bei den meisten Patienten mehrere Jahre vor Ausbruch der akuten Psychose Charaktereigentümlichkeiten bemerkt. Die auffälligsten Wesensmerkmale der präpsychotischen Kinder waren Scheu und soziale Zurückgezogenheit« (Brown/Birley 1972, S. 203). Aus solchen Befunden abzuleiten, dass es möglich sein müsste, gefährdete Kinder vor Stress und belastenden Lebensereignissen zu bewahren, um so den Ausbruch der Psychose zu verhindern – das wäre wohl nur eine neue Möglichkeit, sich Schuld aufzuladen. Das ist eben völlig unrealistisch, für die nicht gefährdeten Kinder vielleicht sogar gefährlich. Für sehr viele Heranwachsende ist die Pubertät eine krisengeschüttelte Zeit. Für alle ist sie eine schwierige Lebensphase, die durchgestanden und bewältigt werden muss – nicht nur von ihnen, auch von den Eltern und Geschwistern. Selbst geschulte Beobachter würden nur in seltenen Ausnahmefällen zwischen einer »normalen« und einer präpsychotischen Krise in der Pubertät unterscheiden können und die falsche Diagnose einer beginnenden Schizophrenie kann fatale Folgen haben. Zur gesunden Bewältigung dieser Lebensphase ist Auseinandersetzung unabdingbar. Eine künstliche Schonhaltung könnte sehr wohl andere negative Entwicklungen einleiten oder zumindest den Prozess der Ablösung von den Eltern und des Erwachsenwerdens verzögern. Hier scheint mir ein zentraler Schlüssel zum Verständnis der Rolle lebensverändernder Ereignisse beim Ausbruch schizophrener Psychosen zu liegen. Viele solche Ereignisse gehören unabdingbar zum Entwicklungsprozess einer gesunden Persönlichkeit. Die Ablösung von den Eltern, der Übergang von der Schule in den Beruf oder in die Universität, das Eingehen einer Partnerschaft und vieles andere mehr sind Entwicklungsschritte, die jeder durchmachen muss. Sie können nicht auf der Grundlage einer mehr oder weniger unspezifischen Theorie von der Psychoseauslösung vermieden werden. Um es abschließend noch einmal zu wiederholen: Die Suche nach einer individuellen, fassbaren Schuld führt zu nichts. Sie ist durch die heutige Vorstellung von der Entstehung schizophrener Psychosen nicht begründbar. An Schizophrenie ist niemand schuld. Die Suche nach dem Sündenbock, das Hin- und Herschieben des Schwarzen Peters erweist sich rasch als Hindernis bei der Bewältigung eines dramatischen lebensverändernden Ereignisses, das die psychotische Erkrankung eines Familienmit-
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glieds darstellt. Lähmung, Verleugnung, Depressivität, Zorn, Verzweiflung und Trauer und schließlich die Annahme der Herausforderung und der Beginn der Verarbeitung sind Phasen der Bewältigung wie bei anderen Lebenskrisen auch, für die Angehörigen wie für die Kranken selbst.
Was können wir tun? Ungezählte Male haben mir Eltern Schizophreniekranker diese Frage gestellt: »Was können wir tun?« Es ist eine simple Frage, auf die eine einfache Antwort nicht möglich ist. Sicher, ich kann ihnen raten, sich zunächst einmal zu fassen, sich in Geduld zu üben. Die meisten Eltern erleben die Diagnose als Schock. Sie müssen erst einmal wieder zu sich selbst finden. Dazu benötigen sie Hilfe vonseiten der Ärzte und der anderen Therapeutinnen ihres Kindes, das im Übrigen in der Regel erwachsen ist. Das macht es nicht leichter. Nur selten ist die Beziehung zu dem erkrankten erwachsenen oder heranwachsenden Kind in der Phase der beginnenden Schizophrenie spannungsfrei. Wenn die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis gestellt wird, wenn die Eltern daran denken oder die Ärzte sie ihnen mitteilen, dann ist meist schon viel geschehen: häufig eine Klinikeinweisung unter mehr oder weniger dramatischen und erschreckenden Umständen, fast immer eine Phase der Veränderung des Verhaltens und Wesens des später als krank erkannten Kindes. Ebenfalls fast immer ist eine länger andauernde Zeit quälender Auseinandersetzungen mit den Eltern über jenes Verhalten vorausgegangen, das diese nicht verstehen und oft auch nicht billigen können. Dabei sollten die Angehörigen es nicht belassen. Sie sollten auf weitere Informationsquellen zurückgreifen. Zum einen sollten sie lesen. Der nächstliegende Ort, sich zu informieren, ist in aller Regel nicht das Konversationslexikon. Besser geeignet sind Bücher oder Broschüren, die sich speziell an Angehörige wenden oder doch so geschrieben sind, dass sie allgemein verständlich sind. Es gibt inzwischen eine ganze Reihe von Publikationen, die diese Anforderung erfüllen. Auch ein Blick ins Internet ist hilfreich, hier muss allerdings die Qualität der Informationen geprüft werden und ein Blick ins Impressum einer Internetseite ist oft ebenfalls sinnvoll.
Jenseits der Schuld: Verantwortung
Zum anderen ist die Kontaktaufnahme mit einer Selbsthilfegruppe beispielsweise in Rahmen einer Angehörigenorganisation hilfreich. Dies ist möglicherweise der fruchtbarste Weg, um zu Informationen zu gelangen. Anschriften örtlicher Selbsthilfegruppen vermittelt der Angehörigenverband Familien-Selbsthilfe Psychiatrie auf seinen Internetseiten. Bestätigt sich die Diagnose einer schizophrenen Psychose, ist der Anschluss an eine Selbsthilfegruppe, wenn irgend möglich, dringend geboten. Erfahrene Angehörige kennen sich in anderer Weise mit den Folgen der Erkrankung aus als Therapeuten. Sie können für den alltäglichen Umgang mit dem Kranken Ratschläge erteilen und Hilfe leisten. Die Angehörigenvereinigungen verfügen neben den Sozialdiensten der Kliniken auch über die solidesten Informationen darüber, an wen man sich bei konkreten wirtschaftlichen Schwierigkeiten wenden kann und wie dabei vorzugehen ist. Mitbetroffene Angehörige vermitteln auch konkrete Hilfen und moralische Unterstützung und weisen den Weg dorthin, wo Angehörige auch zu ihrem eigenen Recht kommen. Mit »Selbsthilfe« ist in diesem Sinn also auch ganz gezielte Hilfe für die Angehörigen selbst gemeint.
Jenseits der Schuld: Verantwortung Die schizophrene Erkrankung eines Kindes bedeutet, dass Eltern die Vorstellungen, die sie sich in zwanzig oder dreißig Jahren über den weiteren Lebenslauf des heranwachsenden oder erwachsenen Kindes gemacht haben, revidieren müssen. Vieles wird in Zukunft nicht mehr sein, wie es war oder erhofft wurde. Viele Hoffnungen werden nicht zu realisieren sein, zumindest nicht mit der gleichen Wahrscheinlichkeit wie vorher. Es ist nicht mehr sicher, dass der Heranwachsende seine Ausbildung, der Student sein Studium abschließen wird; und wenn er es dennoch schafft, spricht einiges dafür, dass er es nicht auf einen Spitzenjob, auf eine außerordentliche Karriere anlegt, sondern dass er sich allem voran einen Platz in seinem Beruf sucht, in dem er gut zurechtkommt, nicht überfordert wird und sich wohlfühlt. Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Im Gegenteil! Zum ganz großen Sprung nach vorn kann er immer noch ansetzen, wenn die Gesundheit sich stabilisiert hat.
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Niemand hat Schuld
Mit der Gründung einer eigenen Familie ist es ähnlich. Wenn er oder sie eine Partnerschaft eingeht, stellt sich die Frage nach Kindern mit aller Schärfe. Will das Paar die Gefahr in Kauf nehmen, dass ein eigenes Kind ebenfalls an Schizophrenie erkrankt (Erkrankungsrisiko bis zehn Prozent)? Will die Kranke einen Rückfall in der Schwangerschaft riskieren? Ist sie oder er stabil genug, um ein Kind in Geborgenheit und Freiheit aufzuziehen und ihm emotionale Stabilität zu vermitteln? Für die Eltern des Schizophreniekranken bedeuten negative Antworten auf diese Fragen unter Umständen den Verzicht auf die Vorstellung, jemals Enkel zu haben. Sie müssen lernen, damit umzugehen (vgl. Krumm 2010). Andere Veränderungen sind viel konkreter und viel einschneidender. Die schizophrene Erkrankung bei Heranwachsenden oder bei jungen Erwachsenen ist häufig mit einem Rückschritt in der persönlichen Entwicklung und Reife verbunden. Konkret bedeutet das häufig, dass der Jugendliche, der auf dem Sprung aus dem Elternhaus in die eigene Wohnung oder die Wohngemeinschaft war, diesen Schritt nicht vollzieht oder dass der junge Erwachsene, der schon selbstständig war, durch die einsetzende Erkrankung vorübergehend oder auf längere Zeit ins Elternhaus zurückkehrt. Konkret bedeutet das auch, dass wirtschaftliche Selbstständigkeit nicht oder nur mit Verzögerung eintritt. Das heißt, Eltern müssen ihre heranwachsenden oder erwachsenen Kinder über längere Zeit als geplant oder sogar auf Dauer finanziell unterstützen, da diese kein eigenes Einkommen oder keinen Anspruch auf eine eigene Rente haben. Bei einem beruflichen Scheitern oder bei Abbruch der Ausbildung kann es geschehen, dass die Kranken in den elterlichen Haushalt zurückkehren und dort bei entsprechender Symptomatik untätig herumsitzen und auf die eine oder andere Weise die Zeit totschlagen. Nicht ganz selten wird die chronische Erkrankung durch einen sekundären Alkoholmissbrauch oder durch Cannabismissbrauch kompliziert. Alles dies kann dann zu einer erheblichen Belastung im Zusammenleben führen.
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Im Vorfeld der Psychose: Frühintervention – Vorstellungen und Wirklichkeit
Verletzlichkeit ist keine Krankheit. Entwicklungskrisen gehören zum Leben.
Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sollten so früh wie möglich behandelt werden, denn die Psychose verändert den Menschen, und zwar je länger sie anhält, desto mehr. Eine frühe Behandlung soll es den Kranken ermöglichen, ihr Leben ohne größere Beeinträchtigungen fortzusetzen. Gerade wenn die beginnende Psychose Heranwachsende trifft, ist die Gefahr groß, dass sie aus der Bahn geraten. Schulversagen, Abbruch der Lehre, Verlust der Beziehungen zu Gleichaltrigen, Verlust der Zukunftsperspektive, des Lebensplans – dies sind nur einige der Gefahren. Früherkennung und Frühintervention sind Schwerpunkte der gegenwärtigen Schizophrenieforschung; zum Stand der Wissenschaft informieren Häfner 2010 und die Webseite des »Kompetenznetzes Schizophrenie«.
Unspezifische Symptome Die Grunddevise für die Prävention von Psychosen muss lauten: Früh behandeln! Das ist allerdings leichter gesagt als getan. Man kann und darf nicht behandeln, bevor klar ist, dass eine Krankheit vorliegt, bevor die Diagnose einer psychischen Störung eindeutig zu stellen ist. Aber das ist in der Vorphase der Psychose sehr schwer. Die Wirklichkeit ist anders: Irgendwann bemerken die Betroffenen, ihre Angehörigen und Freunde, dass »irgendetwas nicht stimmt«. Mehr erst mal nicht. Nur aus der Rückschau lassen sich ein, zwei oder drei Jahre vor der akuten Krise, die schließlich in die Behandlung führt, Veränderungen und Zeichen erkennen, die als Frühsymptome einer schizophrenen Psychose interpretiert werden können. Dann erst erfährt man gar nicht sel-
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Im Vorfeld der Psychose: Frühintervention – Vorstellungen und Wirklichkeit
ten auch, dass die Kranken (oder ihre Angehörigen) in dieser Zeit Hilfe gesucht haben, dass sie zum Hausarzt oder zu einer psychologischen Beratung gegangen sind, weil es ihnen in der einen oder anderen Weise nicht gut ging. Sie haben den Arzt aufgesucht, weil sie sich, anders als in der Zeit zuvor, erschöpft, gereizt, verletzlich, krank gefühlt haben, weil sie unter Schlaflosigkeit gelitten oder weil sie einfach nur das Gefühl gehabt haben, mit ihnen stimme etwas nicht. Sie haben psychologische Hilfe gesucht, weil sie, anders als vorher, mit bestimmten Lebensprob lemen nicht mehr zurechtkamen, sei es in ihren Beziehungen, in der Schule oder im Beruf. Sie haben mit Symptomen, die wir als »unspezifisch« bezeichnen, professionelle Hilfe gesucht. Wir können getrost davon ausgehen, dass die Helferinnen und Helfer in dieser Situation in der Regel nicht einmal den Verdacht auf eine Erkrankung aus dem schizophrenen Formenkreis gehabt haben. Solche abgeschwächten Symptome sind allgegenwärtig. Es dürfte kaum jemanden geben, der sich in bestimmten Lebensphasen nicht ebenfalls damit herumschlagen musste. Unsere Alltagssprache verfügt über ausreichend Wörter und Begriffe, mit denen wir die Frühsymptome erklären können: von der Frühjahrsmüdigkeit bis zum Formtief, vom Stress bis zur Erschöpfung. Viele dieser Begriffe enthalten auch gleich eine Erklärung: Wer zu viel Stress hat oder erschöpft ist, hat sich übernommen, leidet unter den Folgen einer verschleppten Grippe, ist schlicht urlaubsreif. Auch vielfältige psychologische Erklärungen bieten sich an. Man ist im Beruf oder in der Familie überfordert; man ist unglücklich oder doch nicht wirklich glücklich in seinen partnerschaftlichen oder anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Man hat Zoff am Arbeitsplatz oder man wird gemobbt. Gelangt die Angelegenheit auf eine medizinische Ebene, so verfügen auch die Fachleute über viele Namen: die Neurasthenie oder die Psy chasthenie, das psychovegetative Syndrom, die psychovegetative Erschöpfung oder – das Modernste vom Modernen – das »chronic fatigue syndrome«. Im Allgemeinen bleibt es bei solchen Benennungen, weil die Lebenserfahrung ebenso wie die professionelle Erfahrung unterstellt, dass es sich um einen vorübergehenden Zustand handelt, der mehr oder weniger von allein wieder verschwindet. Meistens ist es ja auch so. Aber leider nicht immer.
Ratlosigkeit und Unverständnis
Ratlosigkeit und Unverständnis Alle die frühen Symptome können Vorboten, »Prodrome« einer beginnenden schizophrenen Psychose sein. Nur sind wir nicht berechtigt, sie von vornherein so zu interpretieren, weil sie auch der Ausdruck anderer Störungen oder belastender Lebenssituationen sein können – und weil sie statistisch eher das sind als Symptome einer beginnenden Psychose. Die Betroffenen sind meist ratlos. Sie spüren, dass sich etwas verändert. Aber sie können es nicht einordnen. Die Angehörigen erleben in der Zeit der Vorphase der beginnenden Psychose eine Veränderung ihrer Kinder oder Geschwister, die sie mit Ratlosigkeit, Unverständnis und gelegentlich auch mit Ärger erfüllt. Freunden geht es ähnlich, aber sie erleben das meist nicht in der gleichen Intensität wie die Angehörigen. Freundschaftliche Beziehungen sind besser dosierbar. Sie unterliegen zudem nicht den gleichen gesellschaftlichen Regeln wie die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern. Eltern haben einen Erziehungsauftrag. Sie fühlen sich aufgerufen, ihre Kinder mit möglichst großen Zukunftschancen in das Erwachsenen leben zu entlassen. Die Erfüllung dieses Auftrags wird durch die Veränderungen, die mit der beginnenden Psychose einhergehen, infrage gestellt. Angehörige beobachten mit Besorgnis Veränderungen ihres Kindes auf der Gefühls- wie auf der Verhaltensebene, die sie in hohem Maße befremden. Kinder, die bis dahin ausgeglichen und freundlich gewesen sind, werden abrupt »frech« (so erleben es wenigstens die Eltern). Kinder, die gewissenhaft und sorgfältig gewesen sind, werden nachlässig und zeigen keine Ausdauer mehr. Sie kommen morgens nicht mehr aus dem Bett. Sie werden ungesellig und ziehen sich zurück. Sie werden laut und distanzlos oder so leise, dass sie gar nicht mehr in Erscheinung treten. Sie gehen nicht mehr zur Schule, in die Universität oder zur Arbeit. Sie vernachlässigen ihre Kleidung, im Extremfall ihre Körperpflege. Sie machen die Nacht zum Tag. Sie vernachlässigen ihre sozialen Beziehungen. Sie sind ziellos und umtriebig. Sie sind ängstlich. Sie haben das Gefühl, ihnen werde ständig Unrecht getan, sie würden beobachtet, fremdbestimmt kontrolliert oder gar verfolgt. Auch solche Symptome und Zeichen, die Fachpersonen alarmieren mögen, können normalpsychologisch interpretiert werden, und sie werden
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es auch. Sie werden das umso selbstverständlicher, je stärker sich solche Veränderungen in der Spätpubertät abspielen, in jener Entwicklungsphase, in der Jugendliche es ohnehin nicht leicht mit sich haben (und in der sie es anderen nicht leicht machen), in der die Ablösung vom Elternhaus ohnehin ansteht und in der Stimmungsschwankungen schließlich ebenso die Regel sind wie das Schwanken zwischen erwachsenen und recht kindlichen Formen des Verhaltens.
Überempfindlichkeit und Verletzlichkeit Wenn Eltern in dieser frühen Phase überhaupt reagieren, reagieren sie normalpsychologisch. Sie versuchen, auf das Verhalten einzuwirken. Oft reagieren sie mit Ärger. Nicht selten wird die Atmosphäre in der Familie entsprechend gespannt. Diese Spannung führt dazu, dass der Jugendliche den ohnehin fälligen Auszug vollzieht – und dann allein nicht zurechtkommt. Solche Spannungen können allerdings auch dazu beitragen, dass sich eine beginnende Psychose zu einer manifesten Krankheit auswächst. Fragt man die Betroffenen selbst, wie sie diese Zeit erlebt haben, erhält man häufig die Auskunft, ja, es habe sich etwas verändert. Die Beziehungen zu Eltern und Freunden werden als spannungsgeladen wahrgenommen. Konflikte haben meist zu Kummer und Leid geführt. Die eigene Verletzlichkeit wird ebenfalls wahrgenommen. Alle diese Veränderungen werden nicht nur registriert; die Betroffenen suchen auch nach Gründen dafür. Da ihre Art und Weise zu leben bis dahin funktioniert hat, suchen sie sie allerdings nur teilweise in sich selbst. Zum Teil glauben sie, sie in verändertem Verhalten anderer ausmachen zu können: Andere sind rücksichtslos oder gehen nicht auf sie ein. Andere meinen es nicht gut mit ihnen. Andere tuscheln ständig hinter ihrem Rücken (was sie sicher auch tun). Andere machen ihnen das Leben schwer, was vermutlich ebenfalls richtig ist, was aber auch in früheren Zeiten schon zutraf. Eine paranoid-ängstliche Interpretation dieser Situation ist häufig. Sie kann sich über das Wahnhafte zum manifesten Wahn steigern. Die Wahrnehmung der eigenen Verletzlichkeit schlägt sich dann in der Vermeidung von Situationen nieder, in der man verletzt werden könnte.
Bewältigungsversuche im Vorfeld
Sie ist nicht selten verbunden mit einer Überempfindlichkeit gegenüber Umwelt und Sinnesreizen überhaupt: Empfindlichkeit gegenüber Lärm, auch gegenüber lauter Musik, Empfindlichkeit gegenüber bestimmten Farben, besonders grellen Farben, Empfindlichkeit gegenüber persönlicher und körperlicher Nähe anderer Menschen, gegenüber Menschenansammlungen, mit einem Gefühl der Überwachheit und endlich mit einem beständigen Andrängen von Gedanken, die schwer zu kontrollieren und zu sortieren sind. Alles das sind Zeichen der beginnenden Psychose. Man könnte annehmen, wenn Angehörige, Freunde und Fachleute solche Veränderungen wahrnehmen, müsste es möglich sein, die Diagnose einer beginnenden Psychose frühzeitig, auf jeden Fall viel früher zu stellen, als das heute üblich ist. Ich habe Zweifel, dass dies im Alltag wirklich so sein kann. Grundlage für eine solche psychopathologische Interpretation ist nicht nur langjährige professionelle Erfahrung, sondern auch eine Bereitschaft, ungewöhnliches oder merkwürdiges Verhalten gegebenenfalls anders als normalpsychologisch zu interpretieren, die bei Angehörigen und Freunden gar nicht bestehen kann. Im Übrigen ist bekannt, dass Jugendliche im Laufe ihres Heranwachsens fast zur Hälfte Verhaltensmerkmale und Empfindungen zeigen, die wir unter anderen Bedingungen als Prodromalsymptome einer schizophrenen Psychose bezeichnen würden, wenn sie bei jemand auftreten, den wir später als schizophreniekrank diagnostizieren.
Bewältigungsversuche im Vorfeld Die Vorphase der Psychose ist für den weiteren Lebenslauf der Betroffenen von großer Bedeutung. In dieser Zeit erfahren und erleben sie ihre Beeinträchtigungen und ihre Verletzlichkeit, ohne dass sie als psychisch krank eingeordnet oder etikettiert werden. Sie werden mit einer neuen Lebenssituation bzw. einer neuen Selbstwahrnehmung konfrontiert, die von ihnen jenseits ihrer Ratlosigkeit verlangt, sich mit ihr auseinanderzusetzen. Sie müssen lernen, die neue Situation zu verstehen. Sie müssen Ansätze entwickeln, sie zu bewältigen – und sie tun dies auch. Das ist eine Chance, weil die »Kranken« hier das einsetzen, was sie im Lauf ihrer Sozialisation gelernt haben. Sie greifen auf ihre eigenen Res-
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sourcen zurück, ihre eigene Kreativität; und sie tun das, zunächst ohne zu wissen, dass sie es mit einer Krankheit zu tun haben, ohne die Folgen von Psychiatrisierung, diagnostischer Etikettierung und ohne die Last des Stigmas. Das ist gleichzeitig ein Risiko, auch weil sie das ohne Expertenhilfe tun müssen. Sie stochern gleichsam mit einer Stange im Nebel. Günstigenfalls lernen sie auf diese Weise den Umgang mit ihrer Verletzlichkeit. Sie lernen, Überforderungssituationen zu meiden oder Techniken anzuwenden, um diese zu bewältigen. Ungünstigenfalls fördern ihre Erklärungs- und Bewältigungsansätze eine paranoide Sichtund Erlebensweise der für sie veränderten Welt. Sie können somit zur Ausprägung des Vollbildes von Wahn- und Verfolgungssymptomatik beitragen. Die Vermeidung von belastenden Situationen kann zum totalen Rückzug aus der sozialen Welt und zum Abbruch zwischenmenschlicher Beziehungen führen. Verläuft diese Phase günstig, lernen die Betroffenen ein für ihre weitere Zukunft wichtiges Verhalten der Auseinandersetzung mit ihrer verminderten Leistungsfähigkeit, ohne dass sie von ihrer Krankheit wissen und ohne dass sie mit einer Diagnose belastet sind. Dies kann gerade bei solchen Betroffenen von Bedeutung sein, die bis dahin sowohl in intellektueller wie in psychosozialer Hinsicht ein mehr oder weniger unproblematisches Leben geführt haben – die in der Schule nie Schwierigkeiten hatten und die in Familie und Freundeskreis ohne größere Probleme zurechtgekommen sind. Sie lernen in dieser Vorphase der Krankheit, sich mit Problemen auseinanderzusetzen, die sie bis dahin nicht gekannt haben: Alleinsein auszuhalten, Niederlagen in der Schule oder im Beruf hinzunehmen, Konzentrationsstörungen auszuhalten und zu bewältigen, Leistungsdefizite zu überspielen und gegebenenfalls in einen geschützten Raum auszuweichen, in den sie niemand Einblick nehmen lassen. Es ist ein Unterschied, ob sie dies vor der Diagnose aus eigenem Antrieb und eigener Not heraus tun oder ob sie dies später unter der Wucht des Vollbildes der Psychose, der Diagnose, der Behandlung und deren Konsequenzen tun müssen. Die vorweggenommene Bewältigung im Prodromalstadium kann somit auch positiv gesehen werden. Auch wenn man die Vorstellung haben kann, es wäre dennoch besser gewesen, früher gezielt zu behandeln, sollte man diese Seite des vorweggenommenen konstruktiven Krankheitsverhaltens nicht übersehen. Das ist die optimistische Sichtweise. Die Wirklichkeit ist oft anders. Die Vorphase der schizophrenen Psychose kann auch zur Leidensge-
Das Dilemma der Frühintervention
schichte unablässigen Scheiterns werden, wenn die Versuche, die wahrgenommenen Veränderungen des Erlebens und Verhaltens zu meistern, misslingen. Das gilt vor allem, wenn Handeln und Wollen beeinträchtigt sind. Der Druck und das Unverständnis vonseiten der Familie, der Freunde und der Arbeitswelt können unerträglich werden. Gereiztheit, zunehmende Spannungen und der Abbruch wichtiger Beziehungen sind eher typisch als untypisch. Untaugliche Selbstbehandlungsversuche mit Psychostimulanzien, Cannabis oder Alkohol verschärfen die Krise. Das ist nicht selten der Zeitpunkt, zu dem angesichts des erlebten psychosozialen Drucks manifeste psychotische Symptome sichtbar werden, die dann günstigenfalls zur Diagnose und zur Behandlung führen.
Das Dilemma der Frühintervention Am Ende stehen wir bei der frühen Therapie vor einem Dilemma. Einerseits sind wir überzeugt davon, dass die Frühintervention bei schizophrenen Psychosen richtig und wichtig ist. Andererseits bestehen schier unüberwindliche Schwierigkeiten, die Diagnose im Vorfeld der beginnenden akuten Psychose zu stellen. Fast immer vergehen Jahre zwischen dem Einsetzen der ersten Veränderungen, die man im Nachhinein als Beginn der Erkrankung identifiziert, und der ersten gezielten Behandlung der psychotischen Störung. Daran werden die aktuellen Forschungen zur Frühdiagnose schizophrener Erkrankungen in absehbarer Zeit nichts ändern. Ihre Ergebnisse mögen aber geeignet sein, die Diagnose in Einzelfällen früher zu stellen als bislang. Im Übrigen ist offen, ob sich die Behandlung beim Verdacht auf eine beginnende Psychose ohne manifeste psychotische Symptome wesentlich anders gestalten sollte als der Umgang mit mutmaßlich gesunden Jugendlichen in der Phase des Erwachsenwerdens: Geduld, Verständnis, Unterstützung, Hilfe bei konkreten Schwierigkeiten sind in jedem Fall richtig und wichtig. Verständnisvolle psychotherapeutische Begleitung kann in kritischen Phasen sinnvoll sein. Neuroleptikabehandlung bei ungesicherter Diagnose und fehlenden eindeutigen psychotischen Symptomen kommt allenfalls zur Differenzialdiagnose in Betracht (wenn Neuroleptika helfen, dann macht das die Diagnose wahrscheinlicher). Als Therapie ist sie über die Maßen
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problematisch und entsprechend umstritten. Führt ihr versuchsweiser Einsatz zu einer deutlichen Verbesserung des Befindens und Verhaltens, kann dies eine wichtige Hilfe zur Diagnosesicherung bei unklaren Symptomen sein. Dann kann die weitere Neuroleptikabehandlung in möglichst niedriger Dosierung durchaus auch indiziert sein. Angehörige, die den Eindruck gewinnen, ihr Kind habe sich in einer Weise verändert, die normalpsychologisch nicht mehr zu erklären ist, sei geraten, sich zunächst vertrauensvoll an ihren Hausarzt zu wenden und sich gegebenenfalls von diesem an einen fachpsychiatrischen Dienst überweisen zu lassen. Dort können sie zunächst allein – ohne das Kind (den Heranwachsenden) schon der Belastung einer psychiatrischen Untersuchung aussetzen zu müssen – über die Art der Veränderungen und die Anzeichen berichten, die sie als möglicherweise krankhaft oder jedenfalls als nicht »normal« erleben.
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Kranke haben Symptome. Symptome sind keine Krankheit. »Das schizophrene Leben ist gekennzeichnet durch Mangel an Einheitlichkeit und Ordnung aller psychischen Vorgänge.« Manfred Bleuler
»Ich habe oft das Gefühl gehabt, dass die Kranken nicht erklären können und die Gesunden nicht verstehen«, schreibt ein Arzt nach dem eigenen Durchleben einer schizophrenen Psychose. Das trifft es ziemlich genau. Auch wenn wir den Kranken genau zuhören, müssen wir als Fachleute ihre Erzählung abstrahieren und Symptome als Krankheitszeichen herausarbeiten, um schließlich zu erfahren, womit wir es zu tun haben. Das Erleben und die Erfahrungen der Betroffenen werden so zum »zentralen schizophrenen Syndrom«. Gute und böse Gefühle reichhaltiger Art, Übertragungen und Gegenübertragungen, Wahrnehmungen und Gedanken in unbegrenzter Vielfalt bleiben so auf der Strecke. Das ist bedauerlich. Es ist zugleich unvermeidlich, wenn wir jenseits der Fülle des Erlebens den systematischen Zugang zum Besonderen schizophrenen Fühlens und Denkens finden wollen. Denn ohne Systematik wird es uns nicht gelingen, uns in der Fülle der möglichen psycho pathologischen Auffälligkeiten (etwa 300) zurechtzufinden. Entsprechend lang fällt dieses Kapitel aus. Es spricht nichts dagegen, sich beim Lesen zunächst auf jene Symptome zu konzentrieren, die einen gerade bewegen. Unter diesem Vorbehalt, dass der fachliche Blick immer fokussiert sein muss, will ich in diesem Kapitel die Zeichen und Symptome der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis darstellen, wie wir Wissenschaftler und Therapeuten sie beobachtet und beschrieben haben. Ich orientiere mich vor allem an Eugen Bleulers hundert Jahre alter Erstbeschreibung der »Gruppe der Schizophrenien« aus dem Jahre 1911, an der Erstausgabe seines Lehrbuchs der Psychiatrie aus dem Jahre 1916
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sowie an dessen letzter Bearbeitung durch seinen Sohn Manfred Bleuler (E. Bleuler 1911/1988). Nirgendwo sonst werden die Symptome so eindrucksvoll beschrieben. Nirgendwo sonst werden auch die gesunden Anteile der von der Krankheit Betroffenen so nachdrücklich hervorgehoben. Und nirgendwo finden wir so viel Empathie für das Leiden der Kranken. Dafür gibt es Gründe. Eugen Bleuler hat als junger Arzt in der Rheinau nicht nur mit den Kranken gelebt. Er war auch mitbetroffener Angehöriger. Seine ältere Schwester erkrankte noch während seiner Schulzeit an einer Psychose. Vieles spricht dafür, dass ihre Krankheit seine Berufswahl und sein besonderes Interesse an dieser Krankheit bestimmt hat. Nach dem Tod der Eltern lebte die Schwester bis zu ihrem Tode fast dreißig Jahre mit und in seiner Familie. Er nahm Anteil. Bleuler wusste, wovon er schrieb. Es gibt vielfältige andere Ordnungssysteme der Symptome und Zeichen. Das wichtigste neben dem Bleulers ist das Kurt Schneiders. Da ich hier kein Lehrbuch der Psychiatrie verfasse, verzichte ich im Interesse der Verständlichkeit auf seine Darstellung. Fachpersonen seien zusätzlich auf eines der aktuellen Lehrbücher verwiesen, etwa: Berger 2009; Cullberg 2008; Tölle 2009.
Symptome – die Systematik Bleulers Die zusammenhängende systematische Darstellung der Krankheitssymptome ist unumgänglich. Sie bereitet mir dennoch Unbehagen: Die umfassende Aufzählung der Symptome verfälscht das Bild von der Krankheit. Die einen sind schwerwiegend, andere sind von geringer Bedeutung. Vor allem aber kommen sie nie alle gemeinsam bei einem Kranken zur gleichen Zeit vor. »All die angeführten Störungen können vom Maximum, das einer vollständigen Verwirrtheit entspricht, bis auf nahezu null schwanken« (E. Bleuler 1911/1988). Die Symptome – eine Übersicht • Grundsymptome
Formale Denkstörung: Zerfahrenheit (Denkdissoziation, zusammenhanglos, alogisch), Sperrung des Denkens oder Gedankenabreißen, gemachte Gedanken oder Gedankenentzug, Begriffszerfall, Kontaminationen (Begriffsverschiebung, Konkretismus, Symbolismus)
Symptome – die Systematik Bleulers
Störungen der Affektivität: inadäquate Affektivität (Parathymie: inadäquater Affekt in Bezug auf den Gedankeninhalt, Affekt bzw. Erleben entsprechen nicht dem Affektausdruck), Ambivalenz (beziehungsloses Nebeneinanderbestehen, unvereinbare Erlebnisqualitäten), Instabilität der Stimmungslage, mangelnder Kontakt, affektive Steifigkeit, Verflachung, Gefühlseinbrüche, Verlust der emotionalen Schwingungsfähigkeit, aber auch ekstatische Stimmung mit Glücksgefühl und Entrücktheit, Ratlosigkeit, erlebte Gefühlsverarmung, depressive Verstimmungen Ich-Störungen: Desintegration von Denken, Fühlen, Wollen, Handeln. Autismus (Rückzug aus der Wirklichkeit, überwiegendes Binnenleben; auch sekundär nach negativen Umwelterfahrungen), Entfremdungserlebnisse (Depersonalisation, Derealisation – eher unspezifisch!), Verlust der Meinhaftigkeit, häufig verbunden mit dem Erleben des von außen Gemachten und der Beeinflussung von Fühlen, Wollen und Denken • Akzessorische Symptome Wahn (Verfolgung, Beeinträchtigung, Vergiftung, aber auch Berufung und Größe) Halluzinationen (Stimmen) katatone Symptome (Störungen der Motorik und des Antriebs: Stupor, Katalepsie, psychomotorische Unruhe und katatone Erregungszustände, Bewegungsstereotypien, Negativismus und Befehlsautomatie) (Dilling und Reimer 1997).
Eugen Bleuler unterscheidet zwischen Grundsymptomen, »akzessorischen«, also zusätzlichen Symptomen, sowie intakten Funktionen. Ich versuche, sie im Folgenden einigermaßen verständlich darzustellen, wobei die Einordnung einzelner Grundsymptome im Bleuler’schen Original bei den Denkstörungen und den Störungen des Ich-Erlebens in einzelnen Punkten von der oben wiedergegebenen Übersicht abweicht. Das macht deutlich, dass die Zuordnung zu den Grundsymptomen kein Naturgesetz ist.
Störungen des Denkens »Das Denken des Kranken erscheint oft unklar, manchmal bis zur Unverständlichkeit zerfahren. Es widerspiegelt seine Verfangenheit in eine imaginäre Welt von Vorstellungen, die seinem schwierigen Wesen besser entspricht als die wirkliche Welt. Neben krankhaftem Denken
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geht, oft versteckt, gesundes Denken und Urteilen weiter« (E. Bleuler 1911/1988). Hinter dem Begriff der formalen Störungen des Denkens oder des »Gedankenganges«, wie Bleuler sie nennt, verbergen sich zahlreiche Einzelsymptome, die teils schwerwiegend und »beeindruckend«, aber eher selten sind, etwa die Zerfahrenheit – der völlige Zerfall des logischen Denkens –, teils eher diskret, aber häufig zu finden.
Lockerung des Denkzusammenhangs, Ideenflucht, Zerfahrenheit Bei der Lockerung der Denkzusammenhänge geht die Logik der Gedanken teilweise verloren. Das Denken wird sprunghaft. Es wird »wild«, wie der französische Ethnologe Claude Lévi-Strauss (1968) das für das Denken primitiver Kulturen beschrieben hat. Gedanken und Worte folgen scheinbar zusammenhanglos aufeinander – zumindest äußerlich ähnlich der freien Assoziation. Nicht Logik bestimmt den Gedankenablauf, sondern assoziative Erinnerung, der gleiche Klang von Wort endungen etc. Bei der Ideenflucht jagt ein Gedanke den anderen. Der logische Zusammenhang ist gelockert, kann aber noch erkennbar vorhanden sein. Der Denkende kommt vom Hundertsten ins Tausendste; oft spricht er dabei wie ein Wasserfall. Das zerfahrene Denken lässt jeden Zusammenhang vermissen. Es ist »inkohärent« – also unzusammenhängend. Das kann so weit gehen, dass das einzelne gedachte, gesprochene oder geschriebene Wort zerfällt und für den Außenstehenden nicht mehr erkennbar ist. Die Beziehung der einzelnen Gedanken, Worte oder Sätze zueinander kann verloren gehen. Nebenassoziationen treten vor die Hauptgedanken, sodass ein Denkziel nicht mehr erreicht werden kann. Auch bei leichten Formen ist der Betroffene extrem ablenkbar. Bei schweren Formen spricht man von »Verworrenheit«, die aber nicht mit der Verwirrtheit des hirnorganisch Gestörten verwechselt werden sollte.
Symptome – die Systematik Bleulers
Begriffsverschiebungen, -verbindungen, -verdichtungen, -zerfall Begriffe können sich in ihrer Bedeutung verändern, verbinden oder verdichten (aus traurig und grausig wird »trausig«) oder sie können bei zerfahrenem Denken völlig zerfallen. Symbole und abstrakte Begriffe werden konkret verstanden. So sind die »vielen Köche, die den Brei verderben« für den Denkgestörten ganz konkret wirklich Köche, die nicht ordentlich kochen. Aber auch das Gegenteil ist möglich: dass nur noch Symbolik und nichts Konkretes, Reales mehr erfasst und verstanden wird. Bei Gesunden kommen solche Denkformen ansatzweise ebenfalls vor. Unter psychischem Stress, nach längerer Schlaflosigkeit, bei geteilter Aufmerksamkeit, im Halbschlaf, im Traum und in magisch geprägten Angstsituationen kommt es zu Störungen des »normalen« Gedankengangs: »So ist die Schizophrenie nicht durch eine ihr allein zugehörige, spezifische Denkform gekennzeichnet. Charakteristisch ist bloß, dass sich die Kranken auch dann im zerfahrenen Denken verlieren, wenn die momentane Lage jedem Gesunden ein erfahrungsgebundenes, logisches Denken aufzwingt. Gesunde können miteinander reden, sie passen sich im Verkehr untereinander an jene Denkgewohnheiten an, die menschliches Allgemeingut sind – der Schizophrene lässt im Verkehr mit Mitmenschen irrealen Vorstellungsabläufen freieres Spiel und wird dabei von persönlichen inneren Bedürfnissen beherrscht« (E. Bleuler 1911/1988).
Störungen des Gefühls »Im alltäglichen Umgang wirken die Kranken oft gefühlskalt oder sinnlos gereizt und reizbar, inadäquat zur Realität, steif und unnatürlich in ihren gefühlsmäßigen Äußerungen. Verborgen kommt ihnen ein reiches Gemütsleben zu, das aber eher als mit der Realität mit ihrer imaginären Vorstellungswelt Bezug hat. Oft sind ihre Gefühle für den Gesunden schon deshalb nicht einfühlbar, weil sich widersprechende Gefühle in ihrer Äußerung gegenseitig hemmen« (E. Bleuler 1911/1988). Die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis gelten im allgemeinen Bewusstsein zu Unrecht als Störungen, die vorrangig das Denken – den Geist – betreffen. Die Einordnung der Störungen des Gefühls als
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Grundsymptom der Erkrankung ist eine der herausragenden Leistungen Eugen Bleulers. Ihre Bedeutung ist heute möglicherweise sogar noch größer als bei ihrer Erstbeschreibung vor achtzig Jahren. Denn abgesehen von der Angst sind die Störungen des Gefühls unseren zeitgemäßen Behandlungsverfahren, einschließlich der Pharmakotherapie, viel weniger zugänglich als die Störungen des Denkens, die auf den ersten Blick oft als viel bedrohlicher erscheinen als jene des Gefühls. Gefühle sind beim Schizophrenen quantitativ und qualitativ gestört. Wir begegnen der gehobenen Stimmungslage wie bei manisch Kranken, der gedrückten Stimmung wie bei Depressiven. Beides sind quantitative Stimmungsveränderungen, die wir gut nachempfinden können. Bei den qualitativen Störungen ist es anders. Die unangemessene Heiterkeit jugendlicher Schizophrener anlässlich ernster oder trauriger Situationen, die durch nichts zu erschüttern zu sein scheint, berührt uns merkwürdig. Für unser Gefühl, unsere Gegenübertragung, wie es psychoanalytisch heißen würde, stimmt da etwas nicht. Der »affektive Rapport«, die emotionale Beziehungsaufnahme zu diesen Menschen, gelingt nicht.
Affektive Schwingungsfähigkeit, affektive Verstimmung Die affektive Schwingungsfähigkeit ist bei vielen Menschen mit Psychosen eingeschränkt. Auch depressive Verstimmungszustände gehören zum Krankheitsbild der Schizophrenie. Sie kommen in der akuten Phase wie in der Phase der Besserung und im Langzeitverlauf immer wieder vor. An Ausmaß und Tiefe können sie einer Depression im Rahmen einer affektiven Psychose gleichkommen. Oft hat die depressive Verstimmung aber anderen Charakter. Sie kann eine Reaktion auf aktuelle Umstände sein, ebenso wie auf die psychischen und sozialen Folgen der Erkrankung. Naturgemäß ist sie häufig mit anderen schizophrenen Symptomen verbunden. Die depressive Verstimmung Schizophrener ist oft von Hilflosigkeit, Ratlosigkeit und Anlehnungsbedürftigkeit gekennzeichnet. Sie ist dann auch äußeren Einflüssen zugänglich. Die Kranken lassen sich aufmuntern, ermutigen oder aufheitern. Auch manische Zustände kommen vor. Häufiger aber ist jene gehobene Stimmungslage, die der klassischen »Hebephrenie« zugeordnet wird – einer jugendlichen Form der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis, die eben durch diese affektive Störung gekennzeichnet ist.
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Die Kranken sind gleichgültig, freundlich, oberflächlich heiter, situationsunangemessen fröhlich, distanzlos nett und unkritisch. Früher wurde für ein solches Verhalten das Wort »läppisch« gebraucht. Aber die Benutzung dieses Begriffs in der heutigen Psychiatrie ist unumgänglich wertend, weil er gleichbedeutend mit der Diagnose einer schizophrenen Psychose vom Typ der Hebephrenie geworden ist. Bei der Gefühlsqualität des »Läppischen« handelt es sich um eine qualitative Veränderung der Affektivität. Es sind nicht nur die gehobene Stimmung und die mangelnde Schwingungsfähigkeit, die auffallen. Es ist der fehlende Bezug zur Situation und zum Gegenüber, der irritiert. Das Gefühl ist stimmungsinkongruent; es ist nicht stimmig: »Die Einheit des Erlebens, die Zusammengehörigkeit von innerem Befinden und äußerem Gehabe, von Gefühl und Ausdruck, ist aufgehoben« (Tölle 1988, 2009). Es ist klar, dass dieses Symptom eine schwere Behinderung in sozialen Situationen bedingt. Die Kranken können aufgrund ihrer Affektlage nicht spüren, nicht aufnehmen, was die anderen ihnen gegenüber empfinden. Gleichzeitig lösen die Signale, die sie über ihre eigene Gefühls lage aussenden, bei den anderen Unverständnis, Unbehagen und am Ende Zurückweisung aus. Solche qualitativ und quantitativ veränderten Stimmungslagen sind – anders als bei der Manie oder der Depression – instabil. Sie können rasch und unvermutet umschlagen, gelegentlich mit, oft ohne äußeren Anlass. Weil sie von Außenstehenden nicht nachvollzogen werden können, verstärken sie die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den Kranken und ihrer Umwelt. Wegen der gestörten Stimmungslage – der Verstimmung – können beide Seiten einander nicht verstehen. Nicht selten verstärkt das die Gereiztheit des Kranken wie der Gesunden und führt auf diese Weise in einen schier ausweglosen Zirkel von Gefühlskonflikten. Solche Formen der Auseinandersetzung sind besonders häufig zwischen den Kranken und jenen Personen, die ihnen nahestehen, insbesondere zwischen Kranken und Eltern. Die Folge sind Ratlosigkeit, Resignation und nicht selten Verzweiflung.
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Angst Angst ist ein zentrales Symptom im Erleben schizophren Erkrankter. Die Veränderung des Denkens und der Wirklichkeitswahrnehmung durch den Wahn führt unweigerlich zu Angst; ebenso der Einbruch der Psychose in das Erleben und Fühlen. Vorher Vertrautes wird unbekannt und unheimlich. Früher selbstverständliche Beziehungen sind nicht mehr stimmig. Die Orientierung in der Welt ist von Grund auf gestört. Alles dies ist mit Angst verbunden, die sehr tief gehen, sehr elementar sein kann, die schlimmstenfalls Vernichtungsgefühle auslösen und die Kranken auf den Weg in den Suizid treiben kann. Auch wenn Angst bei Menschen an sich in vielen Situationen angemessen ist, kann sie bei Psychosekranken in einer für den Außenstehenden situationsunangemessenen Intensität auftreten. Die emotionale Belastbarkeit vieler Schizophrener ist vermindert. Sie sind über die Maßen sensibel und verletzlich.
Anhedonie Der Begriff der Anhedonie hat sich erst in den letzten Jahren eingebürgert. Für den anhedonischen Menschen gibt es weder das Gefühl des Glücks noch des Vergnügens noch der Zufriedenheit. Ohne dass äußere Gründe erkennbar sind, fühlt er sich leer, hoffnungslos und perspektiv los. Diese Symptomatik wird von vielen Schizophrenen als besonders quälend erlebt und kann zum Suizid führen.
»Inadäquate« Gefühlsreaktionen Situationsunangemessene Gefühlsreaktionen habe ich bereits im Zusammenhang mit der »läppischen« Euphorie des hebephren Gestörten angesprochen. Es gibt aber noch weitere Formen dieses Versagens der Fähigkeit, die eigenen privaten Erfahrungen und Empfindungen mit den üblichen Kommunikationsmitteln mitzuteilen und die Erfahrungen der anderen aufzunehmen. Man nennt diese Störung Parathymie. Es kann sein, dass ein Schizophrener, der anlässlich eines traurigen oder beängstigenden Themas in unangemessener Weise heiter erscheint, dabei selbst durchaus situationsangemessene Gefühle hat, diese jedoch nicht übermitteln kann.
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Diese Störung des Gefühls kann zu einem emotionalen Gefängnis werden.
Störungen des Handelns, Wollens und Ich-Erlebens Es versteht sich von selbst, dass eine Krankheit, die das Fühlen und Denken verändert, Einfluss auf das Wollen, das Handeln und das Empfinden der eigenen Person haben muss. Ein Kennzeichen der Psychosen ist, dass sie außer durch Grundsymptome oft durch akzessorische Symptome bestimmt werden. Obwohl sie nicht Teil des »zentralen schizophrenen Syndroms« (Wing) sind, haben die Störungen des Wollens, des Handelns und des Ich-Erlebens schwerwiegende Auswirkungen auf den Alltag und die Alltagsbeziehungen der Erkrankten. Insbesondere für die Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung ist es wichtig, diese Störungen zu verstehen – für die Kranken selbst nicht zuletzt aus Gründen der Selbstachtung, für Angehörige und Freunde als Hilfe im Umgang mit den Kranken.
Ambivalenz und Nicht-wollen-Können Es ist eben nicht so, wie es noch in der letzten Auflage des Bleuler’schen Lehrbuchs heißt, dass ein großer Teil der Kranken an Willensschwäche leidet. Vielmehr sind das Wollen und das Wollen-Können selbst erkrankt. Soziale Verpflichtungen treten außer Kraft, weil sie nicht erkannt werden oder nicht als wichtig wahrgenommen werden, weil aufgrund der Erkrankung nichts mehr wichtig ist oder weil Ambivalenz besteht. Aufgaben werden nicht erfüllt, weil man ihnen affektiv gleichgültig gegenübersteht, weil die früher vorhandene Motivation daniederliegt, weil Zielvorstellungen nicht mehr ins Auge gefasst oder nicht mehr realisiert werden können. Wer das Abreißen oder den Entzug der eigenen Gedanken erlebt, kann weder wollen noch handeln. Wer Ambivalenz erlebt, ist im Denken und Handeln hin- und hergerissen. Dabei ist es wichtig hervorzuheben, dass sich die Ambivalenz bei Schizophrenen von jener bei Gesunden oder bei persönlichkeitsgestörten Menschen unterscheidet, bei denen der Ambivalenzkonflikt darin besteht, dass den Betroffenen nicht klar ist, für welches von zwei gegensätzlichen Gefühlen oder Strebungen sie sich »entscheiden« wollen. Bei der psychotischen Ambivalenz stehen die gegensätzlichen Ge-
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fühle und Strebungen weitgehend beziehungslos nebeneinander. Lachen und Weinen, Liebe und Hass, Wollen und Nicht-Wollen, Angst und Glück bestehen nebeneinander. Gleichzeitige Gefühle und Strebungen blockieren einander, ohne dass sich die Kranken dessen bewusst sind. Die Neurotiker erleben den Ambivalenzkonflikt. Die Psychosekranken jedoch können durch ihre Ambivalenz gelähmt sein, ohne dass sie sich eines Konfliktes bewusst sind. Allerdings kann die Lähmung zum Anlass von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung werden. Wer als Psychosekranker in seinen sozialen Funktionen versagt, dem nützt der gute Rat wenig, er möge sich doch zusammenreißen. Wenn er am Morgen nicht aus dem Bett kommt, weiß er möglicherweise, dass er aufstehen sollte, aber er kann nicht wollen. Letztlich fällt das morgendliche Aufstehen auch vielen Gesunden schwer genug. Für jeden, der nicht zur Arbeit erscheint, Verabredungen und Termine nicht einhält, gilt das Gleiche. Ein solches Versagen im Erfüllen von sozialen Aufgaben führt letztlich dazu, dass Menschen aus ihrem sozialen Gefüge und am Ende aus dem sozialen Netz fallen. Das Nicht-wollen-Können wird auch zum schwerwiegenden Behandlungs- und Rehabilitationshindernis. Die Kranken halten Behandlungsund Nachsorgetermine nicht ein. Sie brechen scheinbar die Behandlung ab. Aber dahinter steht kein Willensakt, denn sie können auch das nicht wollen. In dieser Situation muss das traditionelle Behandlungssystem versagen, in dem die Kranken aktiv den Arzt aufsuchen müssen, in dem es als standeswidrig gilt, wenn der Therapeut den Klienten ohne dessen klare Willensäußerung aufsucht. Schizophren Kranke mit einer Störung des Wollens und Handelns bedürfen aber der aufsuchenden Hilfe. Die Störung des Wollens und des Handelns erklärt auch die häufige Selbstvernachlässigung schizophrener Personen. Viele von ihnen hören auf, sich zu pflegen. Man muss sie auffordern, sich zu waschen, zu duschen, zu rasieren und die Wäsche zu wechseln. Sie vernachlässigen ihr Zimmer oder ihre Wohnung. Es ist gar nicht selten, dass sie im weiteren Verlauf die Wohnung verlieren, dass andere Abstand von ihnen halten, weil sie am Ende verwahrlost wirken und unangenehm riechen. Es ist leicht vorstellbar, dass die Störungen des Wollens und Handels aus solchen Gründen sekundär dann doch zu zentralen Symptomen der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis werden, weil sie die Kranken am Ende aus allen sozialen Bezugssystemen hinauswerfen.
Symptome – die Systematik Bleulers
Störungen des Ich-Erlebens In enger Beziehung zum Wollen und Handeln steht das Erleben der eigenen Person. Die Krankheit bedingt, dass die Schizophrenen die Wahrnehmung der Außenwelt in ihrem Gedankengang und in ihren Gefühlen auf eine neue, ihnen fremde Art empfinden und verarbeiten. Gleichzeitig müssen sie neue, ihnen unheimliche Eindrücke und Binnenwahrnehmungen wie Wahn und Halluzinationen integrieren, die sie zudem noch als Außenreize wahrnehmen. So werden sie sich selbst in ihrer Krankheit fremd. Sie erleben das Gefühl der Depersonalisation. Dazu kommt der sogenannte Verlust der Ich-Grenzen. Die Gedanken breiten sich in der eigenen Wahrnehmung aus. Die Betroffenen sind davon überzeugt, dass sie die Gedanken anderer Menschen lesen können und dass andere Leute über ihre Gedanken informiert sind. Sie glauben, von anderen gesteuert oder ferngelenkt zu sein und andere steuern zu können. Sie verkennen andere Personen, indem sie einzelne Menschen mit oder ohne oberflächliche Ähnlichkeit miteinander verwechseln – im Extremfall sogar glauben, sie seien die anderen oder die anderen sie selbst.
Gedankendrängen, -eingebung und -entzug Das Gedankendrängen ist oft ein Frühsymptom. Dabei »fluten« die Gedanken an. Die Betroffenen können sie nicht kontrollieren und nicht unterdrücken. Es denkt in ihnen. Es bleibt kein Platz für das, was sie denken wollen. Gleichzeitig besteht oft eine auch subjektiv erlebte Überwachheit. Erleben sie zugleich, dass ihnen von außen Gedanken eingeflößt werden, von unbekannten Mächten, von fremden oder von bekannten Personen, haben wir es mit einer Gedankeneingebung zu tun. Tritt das Gegenteil ein, reißen die Gedanken mitten im Fluss ab – oft im Satz –, spricht man von Gedankenentzug oder von »Sperrung«. Wenn die Kranken dies äußeren Mächten zuschreiben, erleben sie dies als Gedankenentzug. Die beiden Symptome, das Gefühl des »Gemachten« der Gedanken und die Sperrung, gelten als wichtige Kriterien für die Diagnose der Erkrankung. Solche Erfahrungen ängstigen die Kranken. Es kommt zu merkwürdigen Verknüpfungen. Ein Mann beispielsweise gerät in panische Angst, als
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er im Verlauf seiner Psychose zu der Überzeugung gelangt, seine 14-jährige Tochter leide an einer Multiplen Sklerose, weil sie am Jahrestag des Todes seiner Mutter, die an dieser Krankheit gelitten hat, geboren wurde.
Das Verhältnis zur Wirklichkeit: der Autismus Der Begriff des Autismus ist für Außenstehende schwer verständlich. Er ist missverständlich geworden, zumal er zusätzlich mit dem Krankheitsbild des frühkindlichen Autismus besetzt ist. Dieser und der Autismus der Schizophrenen haben nichts miteinander gemein. An die Stelle des Wortes »Autismus« wird in neuerer Zeit deswegen häufiger »sozia ler Rückzug« gesetzt – eine Übersetzung des angelsächsischen »With drawal« –, aber das trifft es nicht ganz. »Die schwersten Schizophrenen, die gar keinen Verkehr mehr pflegen, leben in einer Welt für sich; sie haben sich mit ihren Wünschen, die sie als erfüllt betrachten, oder mit den Leiden ihrer Verfolgung in sich selbst verpuppt und beschränken den Kontakt mit der Außenwelt so weit als möglich. Diese Loslösung von der Wirklichkeit zusammen mit dem relativen und absoluten Überwiegen des Binnenlebens nennen wir Autismus.« Mit diesen Worten beginnt Eugen Bleuler (1911/1988) seine Beschreibung dieses zusammengesetzten Grundsymptoms. Sozialer Rückzug, emotionale Distanz, Kontaktunfähigkeit oder Kontaktunwille, IchVersunkenheit und Verlust der Realitätsbeziehungen sind Merkmale des Autismus. Der Kranke ist passiv und nimmt an dem, was in seiner Umgebung geschieht, keinen Anteil. Oft spricht er nichts (Mutismus), manchmal ist er bewegungsstarr (Stupor) oder er ist in seinem Wahnerleben gefangen, an dem die Außenwelt keinen Anteil haben kann. Den Inhalt autistischen Denkens und Fühlens bilden Wünsche und Befürchtungen. Dies kann unter Einbeziehung von Wahrnehmungen und Halluzinationen auch der Wunscherfüllung dienen und den Kranken eher zufällig von der Außenwelt abtrennen. Oft bestehen Autismus und Wirklichkeit nebeneinander. Wendet sich die Person der äußeren Realität zu, kann sie scharf und logisch denken und handeln. Sie wirkt für Außenstehende unauffällig. Fällt sie in den Autismus zurück, werden ihr Handeln und Denken unverständlich. Wenn beides nebeneinander auftritt, spricht man von »doppelter Buchführung« – ein Begriff, der im
Die »zusätzlichen« Symptome
Zusammenhang mit schizophrenen Kranken immer wieder gebraucht wird, wenn gesunde und gestörte Qualitäten gleichzeitig oder in raschem Wechsel nebeneinander auftreten.
Die »zusätzlichen« Symptome Wahn, Sinnestäuschungen und psychomotorische Erregungen stehen häufig im Mittelpunkt der Vorstellungen von den psychotischen Erkrankungen. Sie sind am eindrucksvollsten. Sie tragen am meisten dazu bei, dass das Verhalten von Kranken in ihrer unmittelbaren Umgebung schließlich als psychische Störung erkannt wird und nicht als mutwilliges abweichendes Sozialverhalten sanktioniert wird. Dennoch gelten diese Symptome schon in Eugen Bleulers Erstbeschreibung nur als zusätzliche und nicht als Grundsymptome. Das hängt zum einen damit zusammen, dass sie nicht auf die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis begrenzt sind. Sie kommen auch bei anderen Störungen wie körperlich begründbaren Psychosen und zum Teil auch bei affektiven Psychosen vor. Zum anderen sind sie zum Teil eher Reaktionen auf das Krankheitsgeschehen, zum Teil sogar Bewältigungsversuche des Gehirns.
Wahn Der schizophrene Wahn entwickelt sich aus der krankheitsbedingten Störung der Beziehung zu sich selbst und der Veränderung der Beziehungen zur Außenwelt. Die Psychosekranken, die einen Wahn entwickeln, sind von Grund auf verunsichert. Ängstlich prüfen sie die eigene Realität und die Beziehung zur Realität der anderen. Sie können den Einfluss von sozialen Außenreizen auf sich selbst nur schwer abwehren. Sie reagieren verletzlich und überempfindlich auf das Verhalten anderer in der näheren, später auch in der ferneren Umgebung. Sie benötigen die Auseinandersetzung mit diesen aber zugleich zur Absicherung der eigenen inneren Realität. Sie beginnen ängstlich zu forschen, was die anderen wohl über sie denken. Oft gelingt es ihnen mit bemerkenswerter Sicherheit, deren Gedanken zu erraten oder doch wenigstens annähernd zu erraten. Jedes erahnte
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Gefühl von Ablehnung oder Zurückweisung bestärkt ihre Ängstlichkeit. Sie beginnen zu beobachten, was andere über sie reden. Weil dies für die Absicherung ihrer eigenen Ich-Identität und die Sicherung ihrer Ich-Grenzen so wichtig ist, beginnen sie zu denken, was die anderen reden und tuscheln. Für sie steht fest: Das Gerede hat mit ihnen zu tun – und in der näheren sozialen Umgebung ist das ja oft auch nicht falsch. Schließlich beginnen sie alles Gerede und Getuschel auf sich zu beziehen. Oft sind es bestimmte körperliche Eigenschaften und Unzulänglichkeiten, an denen sich ihre Ängstlichkeit festmacht. Das wird schon im Eingangsbeispiel dieses Buches deutlich. Schließlich beginnen sie zu »hören«, was die anderen über sie sagen, obwohl sie eigentlich nur ein Gemurmel wahrnehmen. In einem weiteren Schritt beziehen sie Inhalte aus dem Rundfunk, Fernsehen oder der Zeitung auf sich oder die Gespräche von wildfremden Menschen, die auf der Straße an ihnen vorbeigehen. Alles dies hat Einfluss auf ihr Verhalten. Sie müssen die aufgenommenen Eindrücke in ihr Leben integ rieren und versuchen, sie einzuordnen. Das geschieht nach affektiven Bedürfnissen: Der Größenwahn entspringt dem Bedürfnis, »mehr« zu sein, als sie sind. Der Verfolgungswahn hat seine Wurzeln im Gefühl, den eigenen Ansprüchen und jenen der anderen nicht zu genügen. Der Beziehungswahn entspringt etwa dem unerfüllten Wunsch nach einer Beziehung zu einem bestimmten anderen Menschen – meist einer aus der Ferne geliebten Person. Wahnideen bei Psychosekranken können sich systematisieren. Meist sind sie unlogisch, oft unzusammenhängend, gehören zu einem inneren Chaos. Sie stehen oft im engen Zusammenhang mit der Ausbreitung der eigenen Gedanken, mit der Unfähigkeit, sich abzugrenzen, mit Halluzinationen und Verkennungen. Der Wahn und die Bedrohung des Betroffenen können die Vernichtung ihm nahestehender Personen zum Inhalt haben. Krankheiten breiten sich im eigenen Körper oder in dem von Geschwistern und Eltern aus. Apparate, über die sie gesteuert worden sind, wurden bei ihnen oder anderen eingepflanzt. Wahnthemen sind von der Erlebniswelt der Betroffenen mitbestimmt. In der Gegenwart spielen Mikrofone, Funk- und Radiogeräte, Fernsehkameras, Videogeräte oder Strahlen eine zentrale Rolle. Spektakuläre Medienereignisse wie Wanderungen durch die Arktis oder Flüge ins Weltall werden zu Themen. Kriege oder andere beängstigende
Die »zusätzlichen« Symptome
Ereignisse werden bereits nach wenigen Tagen zu einem Wahnthema. Unter den Verfolgern sind Geheimdienste und Spione. In Hungerszeiten wird das mangelnde Essen zum Thema. Auch Wünsche, Gefühle und deren Abwehr können die Thematik bestimmen: Jemand, der im sozialen Status mehr sein will, als er ist, entwickelt einen Größenwahn; aus dem Gefühl der Unzulänglichkeit entspringt ein Schuldwahn, aus der gescheiterten Abwehr von Angst ein Verfolgungswahn. Für den »Wahnsinnigen« ist der Wahn Wirklichkeit. Für ihn besteht eine »Wahngewissheit«. Der Wahn lässt sich nicht wegdiskutieren. Der Versuch, das zu tun, kann sogar zu konflikthaften Auseinandersetzungen, zu Enttäuschungen oder zu Verzweiflung führen: »Es ist doch schlimm, wenn nicht einmal die eigenen Eltern einem glauben, was man erlebt«, sagte einmal ein jugendlicher Kranker resigniert.
Sinnestäuschungen Halluzinationen sind Sinneswahrnehmungen ohne äußeren Reiz. Wer halluziniert, hört, sieht, spürt, riecht, schmeckt Dinge, ohne dass in der äußeren Welt ein Gegenstand vorhanden wäre, an dem sich diese innere Wahrnehmung festmachen könnte. Illusionen – Verkennungen oder Fehlwahrnehmungen – beziehen sich zwar auf einen äußeren Reiz, der jedoch in seiner Bedeutung verkannt wird. Halluzinationen sind Sinnestäuschungen, die für den Halluzinierenden dennoch wirklich sind. Am häufigsten bei Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind akustische Halluzinationen. Sie bestehen aus Geräuschen wie Klopfen, Summen, Schritten und Ähnlichem. Häufig treten laute oder leise Stimmen auf, die meist in kurzen Sätzen oder auch nur in einzelnen Worten sprechen oder sich miteinander unterhalten. Sie können drohen oder freundlich sein. Sie können von überall herkommen. Oft werden sie mit dem Verfolger im Rahmen eines Wahns in Verbindung gebracht. Manchmal sind es Stimmen von Menschen aus der Umgebung. Manchmal werden die eigenen Gedanken laut. Gedanken-laut-Werden, Stimmen, die im Dialog über die Kranken reden, sowie Stimmen, die ihnen Befehle erteilen, gelten als besonders kennzeichnend für Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Halluzinationen sind meist mit Angst verbunden. Wenn sie freundlich sind, werden sie gelegentlich aber auch integriert. Manche Kranke berichten, dass sie ihre Stimmen interessant finden, dass sie ihnen gern
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zuhören. Sie würden sie unterhalten. Es würde ihnen leid tun, wenn sie verschwänden. Sofern Halluzinationen szenischen Charakter haben, wenn etwa ganze Gespräche mit reichhaltigen wirklichkeitsnahen Ausschmückungen geführt werden, dann spricht dies eher für das Vorliegen einer körperlich begründbaren Psychose.
Optische, geruchliche und geschmackliche Halluzinationen Optische, geruchliche und geschmackliche Halluzinationen sind seltener als die zuvor genannten. Sie sind aber von Bedeutung, weil sie oft mit Vergiftungsängsten im Zusammenhang stehen. Taktile Halluzinationen dagegen sind häufig und vielfältig. Es gibt kein Körperorgan, das nicht betroffen sein kann. Die Körperhalluzinationen werden als von außen gemacht empfunden. Dadurch unterscheiden sie sich von den sogenannten Coenästhesien, die als von innen kommend erlebt werden. Halluzinationen unterscheiden sich von den äußeren Wahrnehmungen dadurch, dass die Betroffenen ihnen nicht ausweichen können: Man kann die Augen schließen, weghören, den Fernseher ausschalten oder den Raum verlassen, aber den Halluzinationen auszuweichen ist unmöglich. Sie sind gleichsam ständige Begleiter, die eine immerwährende Auseinandersetzung verlangen.
Katatone Symptome Die katatonen Symptome nehmen in Bleulers Erstbeschreibung einen breiten Raum ein. Sie sind heute, abgesehen vom Stupor (der Erstarrung) und den katatonen Erregungszuständen, von weit geringerer Bedeutung als früher – weil sich die meisten katatonen Symptome wegen der Möglichkeit der Frühbehandlung nur selten entwickeln. Katatone Symptome sind Störungen der Psychomotorik. Auf der einen Seite steht als Extrem der katatone Stupor, auf der anderen der katatone Erregungszustand. Der Stupor ist durch Bewegungslosigkeit charakterisiert. Die Kranken sprechen nicht und rühren sich nicht. Aber sie sind wach und ansprechbar. Sie nehmen das, was sich in ihrer Umgebung abspielt, mit besonderer Empfindlichkeit wahr. Sie können dies nachträglich auch berichten. Für die Kranken ist dieser Zustand oft mit großer Angst verbunden.
Was nicht gestört ist: die »intakten Funktionen«
Der katatone Erregungszustand führt zu kaum beherrschbarer psychomotorischer Unruhe. Oft ist er mit Aggressivität und zerstörerischen Impulsen verbunden. Angriffe auf Mitmenschen sind in solchen Situationen nicht selten. Bei katatonem Stupor wie bei katatoner Erregung kann es zu Körpersymptomen kommen. Die Herzfrequenz ist beschleunigt; die Temperatur kann erhöht sein. Der Erregungszustand kann mit einer Bewusstseinstrübung einhergehen, die sonst bei schizophrenen Psychosen nicht vorkommt. Die selten gewordene lebhafte oder »perniziöse« (bösartige) Katatonie war früher ein gefürchtetes Krankheitsbild. Sie führte nicht selten zum Tode. Wenn sie eintritt, gelingt es heute meist, sie unter intensivmedizinischen Bedingungen mit hoch dosierter Neuroleptikatherapie zu überwinden. Sie ist eine der wenigen Restindikationen für eine Elektrokrampftherapie geblieben.
Was nicht gestört ist: die »intakten Funktionen« Anders als bei körperlich begründbaren Psychosen sind die Wahrnehmung der Außenwelt, das Gedächtnis, die Orientierung in Raum und Zeit, das Bewusstsein, die Aufmerksamkeit und die zusammengesetzte Funktion der Intelligenz nicht direkt gestört. Die Kranken wissen, wer sie sind und wo sie sind. Sie sind »wach«. Ihr Bewusstsein ist ungetrübt. Sie können sich erinnern und sich neue Dinge merken. Sie können Aufgaben intellektuell erfassen und bewältigen. Sekundär allerdings können diese Leistungen durch Krankheitssymp tome beeinträchtigt werden oder zumindest als beeinträchtigt erscheinen. Krankheitsbedingte Gleichgültigkeit lenkt die Aufmerksamkeit ab und hindert die Kranken, neue Eindrücke aufzunehmen. Sinnestäuschungen und Verkennungen verfälschen die Wahrnehmung der äußeren Welt. Gelegentlich können sie auch Erinnerungen verändern. Im Hinblick auf die Wahrnehmung ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Zum einen sind Halluzinationen und Verkennungen für die Kranken ebenso wirklich wie die allen Menschen zugänglichen Wahrnehmungen der äußeren Wirklichkeit, da sie nicht zwischen »wirklicher« Wirklichkeit und psychotischer »innerer« Wahrnehmung
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unterscheiden können. Einzelne Autoren geben deshalb die klassische Unterscheidung zwischen ungestörter äußerer Wahrnehmung und gestörter innerer Wahrnehmung in Form von Halluzinationen und Verkennungen auf. Unabhängig davon gibt es bestimmte Veränderungen der äußeren Wahrnehmung, die eher als geringfügig erscheinen mögen, die aber dennoch der Beachtung bedürfen. So berichten Kranke mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis über Licht- und Farbüberempfindlichkeit, Veränderung der Wahrnehmung von Gesichtern und Figuren sowie Überempfindlichkeiten gegenüber Gehör-, Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen. Das Zeiterleben kann sich verändern, das Erleben des Zeitflusses kann sich beschleunigen oder verkürzen. Ein Teil dieser Veränderungen lassen sich experimentell nachweisen und somit objektivieren. Die Überempfindlichkeit gegenüber akustischen Reizen – die Hyper akusis – ist im Übrigen ein wichtiges Frühsymptom, das zur Differenzialdiagnose herangezogen werden kann.
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Die Krankheit erhält ihren Namen – die Diagnose und was sie bedeutet
»Vor die Therapie haben die Götter die Diagnose gesetzt.« Alter Medizinerspruch »Die Diagnose ist in den ausgesprochenen Fällen von Schizophrenie sehr leicht, bietet aber in den wenig fortgeschrittenen Formen mehr praktische Schwierigkeiten als bei den meisten anderen Psychosen.« Eugen Bleuler
Wenn eine Diagnose gestellt wird, erhält die Krankheit einen Namen. Vielfältige Symptome mögen die Kranken plagen und ängstigen, aber bis zur Diagnose bleibt vieles unklar. Das diagnostische Ergebnis kann eine Entlastung bedeuten, es kann aber auch Angst und Unverständnis auslösen. Bei der Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis ist Letzteres leider oft der Fall. Ich erinnere mich an die Reaktion eines Vaters, selbst ein Arzt: »Bitte sagen Sie mir alles; aber sagen Sie mir nicht, mein Sohn ist schizophren. Das wäre das Ende.« Ich hielt dagegen, die Diagnose sei eine Chance für einen Neuanfang. Nach einer quälend langen Vorphase wisse man nun endlich, was das Problem sei. Endlich könne man anfangen, sich mit der Krankheit auseinanderzusetzen, sie zu behandeln und im familiären Kontext zu bewältigen. Allerdings konnte ich den Vater verstehen. Er hatte bis zuletzt gehofft, sein Sohn sei in eine Entwicklungskrise geraten, die ohne schwerwiegende Konsequenzen mit oder ohne Hilfe abklingen werde. Jetzt war er mit einer ernsten Krankheit konfrontiert, die wahrscheinlich auch sein eigenes weiteres Leben verändern würde. Weil eine Schizophrenie-Diagnose so einschneidende Auswirkungen hat, sollte sie erfahrenen Experten vorbehalten sein. Kranke und Angehörige können durch ihre Beobachtungen viel zur diagnostischen Absicherung beitragen und sollten aktiv mitarbeiten. Die Diagnostik ist ein Prozess und Ergebnis von Gesprächen. Selbst in Zeiten des Internets muss auch ein Arzt immer wieder nachfragen. Deshalb ist dieses Kapitel auch keine Anleitung zur Do-it-yourself-Diagnostik.
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Es geht mir vielmehr darum, darzustellen, wie Diagnostik in der Psychiatrie heute praktiziert wird und welchen Stellenwert sie hat. Das ist nicht ganz einfach. Aus der klassischen Kunst der Diagnose ist in den vergangenen Jahrzehnten eine Technik geworden. Diese hat sich ihre eigene Sprache geschaffen, die nur schwer zu »verdolmetschen« ist.
Blinde Flecken und Verdrängung Die richtige Diagnose ist die Voraussetzung einer erfolgreichen Therapie. Das festzustellen, mag als eine Banalität erscheinen, aber aus dem psychiatrischen Alltag wissen wir, dass die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis trotz erkennbarer Symptome oft spät, allzu oft gar nicht gestellt wird. Gelegentlich tritt sie hinter Symptomen anderer, gleichzeitig bestehender Störungen zurück. Dazu gehören Alkohol- und Drogenabhängigkeit. Gar nicht selten ist es bei Jugendlichen der Cannabismissbrauch, der als Erklärung für die wahrgenommenen psychotischen Symptome herhalten muss, während er in Wirklichkeit allenfalls auslösende Funktion hat, meist aber bereits Ausdruck eines untauglichen »Selbstbehandlungsversuchs« ist. Immer wieder blenden Therapeutinnen und Therapeuten Symptome schizophrener Psychosen aus; oder sie bagatellisieren sie, sodass andere Diagnosen gestellt werden können, die weniger gravierend erscheinen: Pubertäts- und Adoleszentenkrisen, abnorme Erlebnisreaktionen, Anpassungsstörungen oder, zunehmend beliebt, Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ. Nicht selten sind es Gegenübertragungsreaktio nen, die die Behandelnden angesichts ihres eigenen Schreckens vor der Krankheit daran hindern, den Kranken durch eine richtige und rechtzeitige Diagnosestellung gerecht zu werden. Niemand würde auf den Gedanken kommen, er täte seinen Patienten einen Gefallen, wenn er ein leukämisches Blutbild zu einer »grenzwertigen Leukozytose« (Vermehrung der weißen Blutkörperchen) herunterdiskutierte. Niemand würde sich in einem solchen Fall befriedigt zurücklehnen, um festzustellen, die Kriterien für das Vorliegen einer Leukämie seien nicht erfüllt. Man würde vielmehr nicht ruhen und so lange aufmerksam beobachten und nachuntersuchen, bis eine solche Krankheit definitiv ausgeschlossen oder bestätigt wäre. Ein solches Zu-
Diagnosekriterien
rücklehnen geschieht in der Psychiatrie leider immer wieder. Die Diag nosekriterien für eine schizophrene Psychose seien nicht erfüllt, die für eine Anpassungsstörung oder ein Borderline-Syndrom ließen sich nachweisen. Also liege keine schizophrene Psychose vor. Ein solches Verhalten hat nichts damit zu tun, schizophrene Psychosen entdramatisieren zu wollen. Das sollte deutlich voneinander unterschieden werden.
Diagnosekriterien Die modernen Klassifikationssysteme (ICD und DSM) kommen solchen Bedürfnissen leider eher entgegen. Sie begünstigen die Diagnosestellung auf der Grundlage eines reduzierten psychopathologischen Befundes aufgrund weniger ausgewählter Symptome. Die Beachtung der biografischen Entwicklung – die wohlgemerkt von diesen Systemen auch gefordert wird – tritt allzu leicht in den Hintergrund. Die Veränderung des Erlebens und Verhaltens, der klassische »Knick in der Lebenslinie«, soziales Rückzugsverhalten und veränderte Reaktionen auf die Umgebung – alles das, was Angehörige in der Vorphase mit Sorge miterleben – werden allzu häufig nicht ausreichend wahrgenommen oder gewürdigt. Die Mitwirkung der Kranken selbst und ihrer Angehörigen wird oft sträflich vernachlässigt. Früher waren psychiatrische Diagnosen das Ergebnis einer klinischen Untersuchung, in die das Wissen und die Erfahrung des Untersuchers eingingen. Um die damit verbundenen subjektiven Aspekte auszuschließen und die internationale Vergleichbarkeit zu sichern, wurde der Ruf nach Standardisierung laut. Das Ergebnis waren »Diagnosekriterien«, festgeschrieben im Diagnostischen und Statistischen Manual (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft und in der Diagnosenklassifikation der WHO, der ICD-10 (von 1991). Beide Systeme sind Expertenübereinkünfte, keine Naturgesetze, sondern Beschreibungen, die dem derzeitigen Stand des Wissens entsprechen. Ein zentrales Merkmal der modernen Klassifikationssysteme ist es, dass die Diagnosen aufgrund eines Kriterienkataloges erstellt werden, in dem bestimmte Symptome vorgegeben sind. Die Diagnosestellung
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erfolgt durch Aufsummierung der bei den Kranken festgestellten Symp tome. Im DSM-IV (von 1996) heißt es beispielsweise: » Mindestens zwei der folgenden Merkmale, jedes bestehend für einen erheblichen Teil einer Zeitspanne von einem Monat (oder weniger, falls erfolgreich behandelt), müssen vorliegen: 1. Wahn, 2. Halluzinationen, 3. desorganisierte Sprechweise, 4. grob desorganisiertes Verhalten. « Im Zeitalter der Operationalisierung (eine begriffliche Vereinfachung zur Erfassung eines komplexen Sachverhalts und schnelleren Orientierung) mag das akzeptabel sein – zumindest auf den ersten Blick. Bei weiterem Nachdenken stellen sich Zweifel ein, denn Klassifikationen sind keine Diagnosen: »[...] letztere gehen vom einzelnen Patienten aus. Klassifikation ist bewusst reduktionistisch und dient statistischen und wissenschaftlichen Zwecken« (Heinrich 2000, S. 338). So reduzieren sie die 340 Symptome, die etwa im englischen Present State Examination aufgeführt sind, auf weniger als ein Dutzend. Damit sind Fehldiagnosen Tür und Tor geöffnet, denn reduktionistische Systeme führen zwangsläufig zu falsch positiven oder falsch negativen Ergebnissen: Im Interesse der naturwissenschaftlichen Forschung ist es wichtig, dass möglichst wenige falsch positive Diagnosen gestellt werden. Aus klinischer Sicht ist dies fatal, weil viele Kranke wegen »Nichterfüllung der Kriterien« nicht – oder nicht rechtzeitig – die Behandlung erfahren, die sie benötigen. Als Resümee ließe sich festhalten: Für die Wissenschaft und für die Sozialversicherungen ist es hilfreich, operationalisierte und in Klassifikationen zusammengefasste Diagnosesysteme aufzustellen; in der klinischen Praxis können solche Diagnosen für die Ausgangshypothese genutzt werden, müssen dann aber gründlicher untersucht und geprüft werden. Die folgende Grafik von Rainer Tölle (2009) macht deutlich, auf wie schwankendem Boden wir uns bei der Schizophreniediagnostik bewegen.
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Engagement, Wissen und Erfahrung
Abgrenzung der Schizophrenien (Tölle 1999, S. 210) Neurotische und Persönlichkeitsstörungen
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Gesunde
SCHIZOPHRENIEN
Affektive Psychosen
Organische Psychosen (Delir)
Engagement, Wissen und Erfahrung Für die Diagnosestellung genügt es mithin nicht, den Kriterienkatalog des DSM-IV oder der ICD-10 zu prüfen und abzuhaken. Der psycho pathologische Befund muss ergänzt und erweitert werden. Dazu gehört die sorgfältige Erhebung der Lebensgeschichte von Kindheit an. Wo immer möglich, gehört dazu auch die Befragung von Angehörigen und Freunden. Dabei ist nicht nur auf vorbestehende Störungen, Frühsymptome oder Prodromalsymptome zu achten, sondern auch auf einschneidende biografische Veränderungen oder auffallende Veränderungen im sozialen Verhalten im persönlichen und kulturellen Kontext. Die Bedeutung eines Symptoms ist nur zu ermessen, wenn die aktuelle Situation, der kulturelle Hintergrund und der Stellenwert des möglichen symptomatischen Verhaltens für die Person ausreichend berücksichtigt werden. Wenn ein Mensch schon immer so war, hat es eine andere Bedeutung, als wenn sich etwas als neues Verhalten zeigt. Die neuen Klassifikationssysteme mögen zu einer Vereinheitlichung psychiatrischer Diagnostik beigetragen haben. Dennoch bleibt die Dia-
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gnostik eine hohe Kunst, die umfängliches psychiatrisches Wissen und klinische Erfahrung voraussetzt. Die meisten psychiatrischen Symptome sind nicht objektivierbar – zumindest nicht im naturwissenschaftlichen Sinne. Sie werden durch Beobachtung von Verhalten oder aus den Mitteilungen der Kranken über ihr subjektives, ihr ureigenes Erleben abgeleitet. Wenn sie uns nichts mitteilen oder wenn wir ihr Verhalten falsch interpretieren, dann ist der Weg zur Fehldiagnose gebahnt. Auch deswegen sollten wir uns davor hüten, uns vorschnell festzulegen. Eine vorschnelle Schizophreniediagnose ist genauso schädlich wie eine verpasste. Entscheidend bleibt es, dass wir uns die Differenzialdiagnose (also die Frage danach, welche anderen Krankheiten auch infrage kommen) offenhalten, solange Ungewissheit besteht, um die Diagnose schließlich zu sichern, wenn die Befunde dazu ausreichen. Dabei helfen die neuen Klassifikationssysteme. Sie enthalten ein Zeitkriterium. Im DSM-IV beispielsweise darf die Diagnose erst gestellt werden, wenn die Symptome über sechs Monate bestanden haben. Die neuen Klassifikationssysteme haben die Häufigkeit der Schizo phreniediagnose in Ländern wie den USA und Russland (nicht aber in Europa) um fast die Hälfte reduziert. Damit wird aber nur auf den ersten Blick einer Stigmatisierung entgegengewirkt: Neben der Schizophrenie hat sich eine Art Pseudo-Diagnose breitgemacht: die sogenannten Schizophrenie-Spektrum-Störungen, zu denen die schizophreniformen Psychosen, die kurz dauernden episodischen Psychosen (in Skandinavien auch »reaktive Psychosen« genannt) und bestimmte Formen paranoider Syndrome gerechnet werden. Wichtig ist, dass Kranke mit solchen Störungen genauso konsequent behandelt werden wie jene, die die Kriterien für die Diagnose einer Schizophrenie erfüllen. Das gilt umso mehr, als die Diagnose in die eine oder andere Richtung zu Beginn der Erkrankung nicht sicher gestellt werden kann. Schon deshalb sollte man auf Untergruppen der Schizophrenien, die in vielen Lehrbüchern immer noch »mitgeschleppt« werden, ganz verzichten. Sie sind teilweise diskriminierend, wie etwa »Hebephrenie«. Vor allem aber haben ihre jeweiligen Merkmale im Verlauf der Krankheit keinen Bestand.
Der Name der Krankheit
Der Name der Krankheit Der Name der Krankheit, um die es hier geht, ist »Schizophrenie«. Richtiger wäre es eigentlich, von einer Krankheit aus der »Gruppe der Schizophrenien« zu sprechen. Das ist die ursprüngliche Bezeichnung, mit der Eugen Bleuler 1911 die frühere von Emil Kraepelin geprägte Diagnose »Dementia Praecox« abgelöst hat – auch mit dem Ziel, eine weniger abwertende Krankheitsbezeichnung zu schaffen. Im psychiatrischen Alltag redet man meist verkürzt von »schizophrenen Psychosen« oder einfach von »Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis«. Diese Vielfalt der Namensvarianten zeigt, wie schwer sich auch die Psychiatrie mit dieser Diagnose tut. Das hat zwei Gründe. Einerseits gilt heute als wahrscheinlich, dass es sich bei der Schizophrenie nicht um eine einheitliche Krankheit, sondern um eine Gruppe von Störungen handelt, in der jede einzelne Störung ähnliche Erscheinungsformen hat, aber nicht den gleichen neurobiologischen Hintergrund. Deshalb verzichte ich hier auch auf die Nennung von Untergruppen, die lediglich Beschreibungen von (Verlaufs-)Zuständen sind, aber keine Diagnosen eigener Art. Andererseits ist man sich auch in der Fachwelt bewusst, dass die Krankheitsbezeichnung »Schizophrenie« mit mannigfachen Vorurteilen belas tet ist. Deshalb wird nicht nur von Betroffenen und Mitbetroffenen, sondern auch von Fachleuten immer wieder gefordert, der Krankheit einen anderen Namen zu geben. Die Diskussion ist nicht abgeschlossen. Ich gebe aber zwei Dinge zu bedenken: Zum einen wird der neue, zunächst unbelastete Name erfahrungsgemäß eher früher als später von den Vorurteilen der Vergangenheit eingeholt. Zum anderen müssen Kranke und Angehörige wissen, mit welcher Krankheitsbezeichnung sie rechnen müssen, wenn ihnen Menschen begegnen, die voller Vorurteile sind. Im Alltag empfehle ich ihnen allerdings, von ihrer Krankheit, wenn überhaupt, schlicht als einer »Psychose« zu sprechen. Dass in den Fachgremien erwogen wird, den Begriff der Schizophrenie bei der nächsten Revision der Klassifikationssysteme zugunsten eines Bündels psychotischer Erkrankungen mit neuen Krankheitsbezeichnungen aufzugeben, ändert an diesen grundsätzlichen Überlegungen nichts.
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Der lange Weg des Leidens: Verlauf und Prognose
»Alle die verschiedenen Verlaufsweisen der Schizophrenie zu schildern, ist unmöglich. Am nächsten kommt man wohl der Wirklichkeit, wenn man sich klarmacht, dass ... die Krankheit zeitlich und qualitativ ziemlich regellos verlaufen kann; kontinuierliches Fortschreiten, Stillestehen, Schübe, Remissionen sind jederzeit möglich.« Eugen Bleuler
Der Verlauf der schizophrenen Psychosen ist so vielfältig wie ihr Erscheinungsbild. Sie beginnen am häufigsten im dritten Lebensjahrzehnt, bei Frauen ein paar Jahre später als bei Männern. Als Spätschizophrenien können sie aber auch noch nach dem vierzigsten oder dem fünfzigsten Lebensjahr auftreten.
Psychosen bei Kindern und Jugendlichen Schizophrene Psychosen bei Kindern sind selten. Den frühesten Formen begegnet man kaum vor dem achten oder neunten Lebensjahr. Mit Vorpubertät und Pubertät nimmt ihre Häufigkeit zu. Bei kindlichen Schizophrenien stehen Kontaktverlust und Sprachzerfall im Vordergrund. Es kommt aber auch zu Wahnbildungen und affektiven Veränderungen. »Dass es typische schizophrene Symptome bei noch kleineren Kindern nicht geben kann, ist einsehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Symptome wie Störungen des Denkens, des Sprechens, der Wahrnehmung und Affektivität eine entsprechende Entwicklung und Stabilität dieser Fähigkeiten voraussetzen, die im Allgemeinen erst etwa mit dem Einschulungsalter erreicht wird. Man muss daher für die Annahme einer kindlichen Schizophrenie fordern, dass bis zu diesem Zeitpunkt eine hinreichend normale, unauffällige Entwicklung stattgefunden hat, oder anders ausgedrückt, dass der Aufbau des Realitätsbezugs im Ganzen
Psychosen bei Kindern und Jugendlichen
unauffällig und normal verlaufen ist und erst danach plötzlich oder allmählich wieder in Verlust geraten ist. Da die schizophrene Psychose dieses Alters in der Regel subakut bis akut beginnt, ist der zeitliche Beginn als Knick in der Entwicklung zu erkennen. Dieser Entwicklungsknick lässt die kindlichen Schizophrenieformen leicht vom kindlichen Autismus (Autismus infantum) abgrenzen, der sich bei genauerer Anamneseerhebung stets bis zur Geburt oder zu den ersten zweieinhalb Lebensjahren zurückverfolgen lässt« (Tölle 1999, S. 204). So unterschiedlich wie der Zeitpunkt des Beginns kann auch die Anfangssymptomatik sein: akut und dramatisch, wie nach einem Blitzschlag aus heiterem Himmel, oder – häufiger – allmählich, unmerklich für den Kranken selbst und seine Umgebung. Erst nach Monaten und Jahren wird manchmal spürbar, dass sich etwas verändert hat, bis schließlich Krankheitssymptome sichtbar werden und oft noch viel später als solche erkannt werden. Gerade bei Jugendlichen ist das nicht selten der Fall. Der Übergang von »normalen« Entwicklungskrisen und zur beginnenden Schizophrenie ist oft fließend. Das bedeutet auch, dass man nicht allzu rasch mit der Verdachtsdiagnose einer Psychose bei der Hand sein darf – auch wenn man dadurch möglicherweise die Chance einer Frühbehandlung vergibt. »Jede puberale Symptomatik, die unter dem Bild des Leistungsnachlassens in Schule und Beruf oder in allgemeiner Missbefindlichkeit als ›Nervosität‹ in Erscheinung tritt, kann das erste Anzeichen einer beginnenden schizophrenen Erkrankung sein. Andererseits können gerade in diesem Alter auch schwere krisenhafte Verläufe mit charakteristischen Ich-Störungen wie Depersonalisation und Derealisation oder einer Zwangssymptomatik nach kurzer Frist wieder zurückgehen und einer unauffälligen Entwicklung Platz machen. ›In der Pubertät ist alles möglich‹ (Kretschmer), womit gemeint ist, dass jedes psychopathologische Symptom in dieser Altersphase mit jeder Art des weiteren Verlaufs verbunden sein kann. Auch wenn solche pseudoneurotischen Vorstadien der Schizophrenie in diesem Alter fast die Regel sind (nach K. Ernst bei 72 Prozent), kann umgekehrt nicht aus dem Auftreten einer solchen Symptomatik gefolgert werden, dass sie in eine Schizophrenie ausmünden muss. Diese verwirrende und beunruhigende Nähe üblichen pubertären Verhaltens zu schizophrener Symptomatik lässt sich einerseits durch den
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in diesem Alter noch nicht voll stabilisierten Realitätsbezug erklären, andererseits durch die phasenbedingte Ich-Schwäche, welche durch soziale Faktoren, wie verlängerte familiäre Abhängigkeit und soziale Unselbstständigkeit verstärkt wird. Dabei kommt eine besondere Bedeutung zunehmend häufig den Ablösungsproblemen zwischen Eltern und Kind zu. Die Bereitschaft zur Flucht aus der Realität zeigt sich in der alterstypischen Neigung zu radikalen Ideologien, zur Flucht in Drogen und so genannte Jugendreligionen oder zur Abspaltung inkompatibler Tendenzen als Borderline-Symptomatik« (Tölle 1999, S. 204). Ebenso vielfältig wie der Beginn kann der weitere Verlauf der Erkrankung sein. In Einzelfällen klingen die psychotischen Symptome mit oder ohne Behandlung nach wenigen Tagen ab, um nie wiederzukehren. Häufiger dauern sie in wechselnder Intensität und Ausgestaltung über Monate, manchmal über Jahre an, um dann ganz oder teilweise abzuklingen oder auszuheilen. Viele Kranke sind von Rückfällen bedroht, von einem sogenannten chronisch-rezidivierenden Verlauf der Störung. Bei manchen werden sie schließlich chronisch. Bei allen wird die durchlittene schizophrene Störung zu einem prägenden Faktor ihrer weiteren Biografie.
Krankheitsphasen Zum besseren Verständnis des Krankheitsverlaufs ist es zweckmäßig, ihn in einzelne Abschnitte zu gliedern und diese gesondert zu betrachten. Dabei sollte man sich aber bewusst sein, dass eine solche Trennung künstlich ist. Wir unterscheiden eine Vorphase – das sogenannte Prodromalstadium – vor Ausbruch der eigentlichen Krankheit, eine aktive Phase mit erkennbarer und abgrenzbarer Krankheitssymptomatik sowie die Phase der Konsolidierung oder – wenn diese ausbleibt – den Übergang in die Chronizität. Ich orientiere mich im Folgenden an Klaus Conrads klassischer Beschreibung der beginnenden Schizophrenie (1958/2011), in der er »eine Art Idealmodell des schizophrenen Schubes« darstellt: »Dieses Idealmodell sieht also, in Phasen zerlegt, folgendermaßen aus: Phase 1: Eine über Monate bis Jahre dauernde prodromale Trema-Phase. Phase 2: Akutes Einsetzen der apophänen Phase, unter Umständen in zwei Schritten, zunächst Apophänie des äußeren Raumes (abnormes
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Bedeutungsbewusstsein, Wahnwahrnehmungen usw.), später des Inneren Raumes (Gedankenausbreitung, Stimmen usw.). Phase 3: Mehr oder weniger rascher Zerfall des situativen Feldes in rein bildhaftes (traumartiges) Erleben, als apokalyptische Phase bezeichnet. Phase 4: ���������������������������������������������������������� Langsam einsetzende rückläufige Bewegung durch schrittweisen Abbau der Apophänie, die Phase der Konsolidierung, abschließend mit der kopernikanischen Wendung: völlige oder partielle Korrektur des Wahns. Die Rückkehr zum Gesunden muss nicht am Ausgangspunkt enden. Restsymptome mit Übergang in einen chronischen Verlauf können bestehen bleiben. Von diesem Idealmodell lassen sich nun Abwandlungen nach den verschiedensten Richtungen denken. Und zwar dadurch, dass sich eine Phase auf Kosten der anderen verkürzt oder verlängert, ������������������� eine also���������� gewissermaßen das Hauptgewicht in dem Geschehnisverlauf bekommt.«
Die beginnende Schizophrenie Die Vorzeichen: das Prodromalstadium Das Prodromalstadium dauert oft mehrere Jahre. Angesichts der Bedeutung, die das Erleben der Entwicklung in die Krankheit und deren spätere psychische Aufarbeitung hat, wird es von den meisten Autoren lieblos und undifferenziert behandelt. So heißt es in der internationalen Diagnoseklassifikation der WHO, der ICD-10: »Retrospektiv kann möglicherweise eine Prodromalphase identifiziert werden, in der Symptome und Verhaltensweisen wie Interessenverlust an der Arbeit, an sozialen Aktivitäten, am persönlichen Erscheinungsbild und an der Körperhygiene zusammen mit generalisierter Angst, leichter Depression und Selbstversunkenheit dem Auftreten psychotischer Symptome Wochen oder gar Monate vorausgehen können.« Diese Beschreibung ist nicht ganz falsch, aber sie unterschlägt, dass das Erleben der präschizophrenen Personen in dieser Zeit außerordentlich reichhaltig und spannungsreich ist. Nicht Verarmung des Denkens und Fühlens ist das wesentliche Kennzeichnen des Prodromalstadiums, sondern Gedankendrängen, Überwachheit und emotionale Empfindsamkeit und Verletzlichkeit, schließlich ein unspezifischer Druck. Conrad
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spricht in diesem Zusammenhang von »Trema« – ein Ausdruck, den er der Bühnensprache entlehnt: »Damit bezeichnet bekanntlich der Schauspieler den Spannungszustand, den er vor dem bevorstehenden Auftritt durchmacht. Jeder, der in ähnlicher Weise sich selbst zu exponieren hat, also auch der Virtuose, der Vortragende oder der Prüfungskandidat, kennt ihn. Der Ausdruck ›Lampenfieber‹ trifft zwei Seiten dieses Erlebens: das Gefühl des Fiebrigen und das ›Im-Lichte‹-Stehen, das von ›Lampen-angeleuchtet-undangestrahlt-Werden‹, das ja beim Schauspieler oder Virtuosen realiter, beim Prüfling nur im übertragenen Sinne stattfindet. Das Trema ist nicht immer identisch mit Angst. Freilich kann es durchaus bebende, quälende und kaum bezähmbare Angst sein. Aber die Spannung vor dem sportlichen Wettkampf, also dem ›Turnier‹, ist gleichfalls Trema und doch oft recht fern vor echter Angst, vielmehr kann die Freude überwiegen.« Für Conrad ist diese Phase mit »unsinnigen« oder »unverständlichen« Handlungen und initialen depressiven Verstimmungszuständen verbunden, mit Misstrauen, Wahnstimmung (»etwas ist mit mir los, ich weiß aber nicht was; sagt mir doch, was los ist ...«, so Karl Jaspers im Jahr 1946) und Reaktionen des Betroffenen auf eine Art und Weise, die zeigt, wie sich die Welt für ihn verändert. In seinem immer noch lesenswerten Beispiel »Der Fall Rainer als Schulfall eines schizophrenen Schubes« stellt Conrad eine solche Entwicklung in die Psychose eindrucksvoll dar. Ich werde mich im Folgenden in sehr verkürzter Form daran orientierten.
Druck und Anspannung: das Trema Rainer N. berichtet, er habe einige Jahre vor der Erkrankung vor dem Abitur die Schule verlassen und eine Ausbildung zum Finanzbeamten begonnen. Eigentlich habe er das Abitur machen wollen. Er habe jedoch unter dem Eindruck gestanden, die Eltern machten ihm zum Vorwurf, ihnen so lange »auf der Tasche zu liegen«. Heute bezweifle er, dass dies wirklich so gewesen sei, denn der Vater habe nie etwas Entsprechendes zu ihm gesagt. Aber damals habe er sich unter Druck gefühlt. Bald danach habe er diesen Schritt bereut, zumal ihm damit viele Möglichkeiten versperrt geblieben seien. Dies sei ihm besonders deutlich geworden, als ein Freund vor Kurzem Abitur gemacht habe.
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Bei einem Gespräch mit den Eltern stellt sich heraus, dass der rasche Entschluss des Sohnes, von der Schule abzugehen, in Wirklichkeit eine Enttäuschung für sie war. Sie hatten sich im Gegenteil gewünscht, er möge die höhere Schule abschließen. »Wir müssen uns vorstellen, dass der Junge damals unter einem unbestimmten Druck stand, für den er den Namen ›Vorwurf vonseiten der Eltern‹ erfand [...]. Das Erlebnis dieses Druckes war es also wohl, der sich in jener Periode bemerkbar zu machen begann [...]. So gab er sein ursprüngliches Ziel, das Abitur, auf und entschloss sich zu einer anderen Laufbahn. Diese Bahn – oder Richtungsänderung – wirkt wie ein erstes Unglückszeichen auf einem Weg in die Irre« (Conrad). Über die nächsten zwei Jahre ist nichts Besonderes bekannt. Aber dann wird Rainer N. zum Militär eingezogen und steht von Anfang an unter einer besonderen Anspannung. Viele Gedanken über die Gestaltung seiner Zukunft gehen ihm durch den Kopf. Dabei beschäftigt er sich immer wieder mit dem Wunsch, Offizier zu werden, was er sich dadurch verbaut hat, dass er die Schule nicht zu Ende geführt hat. Es erscheint ihm zunehmend, als liege etwas in der Luft. Er hat das Gefühl, es stehe vielleicht ein besonderer Einsatz bevor; es werden »Gerüchte laut«. Es wird »herumgesprochen«, so hintenherum. Es seien keine Namen genannt worden. Aber es scheine doch klar, dass er gemeint gewesen sei. Daraufhin sei er angefeindet worden; man sei neidisch auf ihn gewesen, habe ihm auch einmal feindselig gegenübergestanden. Die Dinge hätten eine besondere Bedeutung gewonnen und es seien ständig Anspielungen gemacht worden. Als Reaktion darauf habe er mit niemandem mehr gesprochen. Man habe ihn isoliert und sich wenig kameradschaftlich ihm gegenüber verhalten. Bald habe er Gesprächen entnommen, dass man etwas gegen ihn unternehmen würde. Er habe ständig gewisse Andeutungen vernommen. Er habe nachts verdächtige Beobachtungen gemacht und sei zunehmend misstrauischer geworden, weil alle Bescheid gewusst hätten, aber niemand ihn einbezogen habe. Es seien ständig und immer häufiger merkwürdige Dinge passiert. Man habe sich ihm in den Weg gestellt. Alles sei voller kleiner Gehässigkeiten gegen ihn gewesen. Das rieb ihn völlig auf, zumal sich sogar die besten Freunde allmählich von ihm absetzten und er sich ganz allein fühlte. Er fing schließlich vor Kummer darüber an zu weinen, so nahe sei es ihm gegangen, dass die gute Kameradschaft in Hass umgekippt sei.
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Er wurde immer aufgeregter, schaute ständig um sich, machte nachts immer wieder Licht, um sich zu vergewissern, dass er nicht angegriffen werde, nahm auffällige Gestalten und auffällige Geräusche wahr, wie beispielsweise im Automotor, die mit ihm zu tun gehabt hätten. Auch Beschriftungen wie Ortsschilder und Plakate bekamen besondere Bedeutung für ihn. Schließlich brachte man ihn in psychiatrische Behandlung: »Auf dem Weg dorthin nimmt er ein Ortsschild wahr: ›Gradigan‹ bedeutet, dass es nun ›gerade wieder bergan‹ gehe, auch sah er Wagen mit einer grünen Plane, was ihm wieder ›Hoffnungen‹ machen sollte. Nur ab und zu sah er noch ein paar schwarze Gestalten. Im Übrigen waren auch die Leute auf der Landstraße instruiert, sie sahen alle so sonderbar auf das Auto. Als seine Personalien aufgenommen wurden, hatte der Schreiber eine ›grüne‹ Unterlage, auch sah er ein grünes Karteiblatt, man wollte ihm ›Hoffnung‹ machen. Der aufnehmende Arzt hat dann dasselbe Aussehen wie sein Onkel, hat auch die gleiche Stimme. Es scheint ihm übernatürlich zuzugehen. Er weiß nun, die Dinge sind verändert, weil man ihn prüfen will. Als er sich zur körperlichen Untersuchung hinlegen muss, ist er überzeugt, dass er nun abgeschlachtet werden solle, weil der weiße Mantel des Arztes Blutflecken aufweist. Auch bei der Blutentnahme glaubt er, dies sei nun sein Ende. Dann brachte man ihn zurück ins Bett. Vorübergehend kam ihm der Gedanke, das Gebrüll, das er draußen hörte, deute an, er solle durch Hypnose in ein Tier verwandelt werden. Er merkte damals schon an der Gedankenübertragung, dass er unter Hypnose stand. Man wollte alles aus ihm herausziehen. Alle konnten seine Gedanken erkennen. Wenn er irgendetwas dachte, wurde ihm von den anderen angedeutet, dass man seine Gedanken erkenne. Er wartet weiterhin, dass ihm Fürchterliches geschehe« (Conrad). Zu Beginn besteht oft lediglich ein Gefühl von Anspannung und Druck. Die Empfindsamkeit für die tatsächlichen oder vermeintlichen Vorstellungen Dritter kann erhöht sein und in Verbindung mit einer vermehrten Ängstlichkeit Fehleinschätzungen der Wirklichkeit begünstigen. Geht die Entwicklung weiter, fängt die Wirklichkeit an, nicht mehr geheuer zu sein. Die alltägliche Realitätsprüfung gelingt nicht mehr. Hinter jedem Stein scheint jemand zu lauern. Jedes Getuschel hat seine Bedeutung. Jeder Buchstabe ist ein Zeichen. Schließlich gibt es nichts mehr ohne Bezug auf einen selbst. Es gelingt nicht mehr, sich abzugrenzen.
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Wenn sich Mitreisende im Zug unterhalten, wenn das Bild im Fernseher gestört ist, wenn auf der Straße ein Auto entgegenkommt, jedes Mal gelingt es nicht mehr, sich durch reflektorische Überprüfung davon zu überzeugen: Dies hat nichts mit mir zu tun. Im Gegenteil, in der beginnenden Psychose wähnt der Betroffene, dass sich vieles, am Ende alles auf ihn bezieht, mit ihm zu tun hat. Im Wahn schließlich ist keine Distanzierung, keine Relativierung mehr möglich. Der Wahnkranke besitzt eine unerschütterliche Gewissheit. In dieser Gewissheit liegt das Wesen des Wahns. Klaus Conrad fasst seine Beobachtungen über »jenen seltsamen Zustand«, »der so überaus typisch dem Ausbruch des Wahns vorhergeht und den wir als das Trema bezeichnen«, wie folgt zusammen: »Die Kranken finden selbst oft nur schwer das passende Wort, das ihr Zumutesein auszudrücken vermag. Die einen umschreiben es als Druck oder Spannung, als Unruhe oder Angst, mitunter auch als freudiges Gehobensein wie in der Erwartung. Andere erleben es als Schuld und Versündigung, als stünde eine Strafe bevor oder als hätten sie ein Verbrechen begangen. Wieder andere fühlen sich nur gehemmt und mutlos, willenlos, preisgegeben und ohne Hoffnung, sodass sie sich auch hinsichtlich der immer bestehenden Suizidgefahr nicht von einem Endogen-Depressiven unterscheiden. Endlich leben andere in einer dumpfen Atmosphäre von Misstrauen gegenüber einer feindseligen sie umschließenden Welt. Immer wächst dieses Gestimmtsein aus der Gestimmtheit ihrer Grundpersönlichkeit heraus und nimmt auch die Inhalte aus der Thematik dieser Persönlichkeit. Immer kommt es bereits in dieser Phase, die kaum jemals schon als krankhafte Störung erkannt wird, zu einem Verlust der Freiheit. Der Kranke kann sich nicht mehr frei im Felde bewegen, er fühlt sich vielmehr von Barrieren umstellt, eingeengt und unfähig zu einer Kommunikation mit den anderen, von denen eine Kluft ihn zu trennen beginnt. Er fühlt sich zurückgeworfen in seine nur ihm eigene Welt, über die ›hinaus‹ – im Sinne von Binswanger – er nicht mehr sein kann. Es ist ein Zustand der Not, der unter gewissen Zusatzdrucken Notfalls-Reaktionen erforderlich macht, ein Zustand, der den ›Zufall‹ und ›Neutralität‹ ausschließt, weil das Hintergründige gleiche Bedeutung anzunehmen beginnt wie jeweils der Vordergrund.«
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»Offenbarung« und »Ausbruch« Irgendwann tritt die Krankheit in Erscheinung. Sie »bricht aus«; sie offenbart sich: Dem Außenstehenden fällt es plötzlich wie Schuppen von den Augen. Er begreift plötzlich, dass der andere, den er nicht mehr verstanden hat, in einem anderen Beziehungssystem lebt als er selbst. Klaus Conrad führt für dieses besondere Erlebnis des »abnormen Bedeutungsbewusstseins« und die Rolle der »Beziehungssetzung ohne Anlass« – Begriffe, die von Jaspers und Kolle verwendet werden – die Bezeichnung »Apophänie« ein. Er meint damit Erlebnisweisen, die auch als Wahnwahrnehmungen oder Wahnvorstellungen bezeichnet werden. Er leitet diesen Ausdruck aus Karl Jaspers’ Feststellung ab, dass das unmittelbar sich aufzwingende Wissen von Bedeutungen in der Art des Offenbarwerdens das wesentliche Kennzeichnen primären Wahnerlebens ist. Die Veränderungen, die mit Rainer N. vor sich gehen, sind dafür beispielhaft: »Worauf auch immer sein Blick fällt, dort scheint das Angetroffene in einer Beziehung zu ihm selbst zu stehen. Seine ›Welt‹ verwandelt sich in ein einziges Prüffeld, in dem man alles Erdenkliche ›hergerichtet‹, ›aufgebaut‹ und ›aufgestellt‹ und alles zu seiner ›Prüfung‹ ›vorbereitet‹ hat, wie die Kulissen eines seltsamen Theaters, ob es ihm ›auffalle‹, ob er es ›merke‹, wobei man ›sich bemühte‹, manches so ›unauffällig wie möglich‹ zu machen; auch macht man ›Finten‹ und ›Fehler‹, versucht ihn ›hineinzulegen‹, stellt sich ›überrascht‹, ›verheimlicht‹ ihm vieles, will es ihn ›nicht merken‹ lassen; die Menschen sind alle ›instruiert‹, haben alles ›verabredet‹, sind wegen ihm ›abkommandiert‹, sogar die Straßenpassanten sind in das Netz aufgenommen. Auf dem Höhepunkt der Störung geht von ihm selbst eine Art ›Bannkreis‹ aus, sodass alles, worauf sein Blick fällt, einen seltsam verzerrten Gesichtszug, so etwas Spannendes im Ausdruck erhält (Andeutung von Omnipotenzerleben)« (Conrad). Die Zeichen der Psychose, die Symptome breiten sich nun rasch aus. Sie sind unübersehbar. Dazu gehören die Wahnwahrnehmung ebenso wie Bekanntheits- und Entfremdungserlebnisse. Dazu gehört die Ausbreitung und das Lautwerden der eigenen Gedanken, gelegentlich die Veränderung der Zeitstruktur, häufiger des Denkgefüges und der Körperempfindungen. Die Kranken spüren elektrischen Strom, die Wirkung
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von Gift, sexuelle Belästigung. Mit ihnen wird etwas gemacht. Aber auch das Gegenteil kann eintreten, nämlich das Erlebnis der Omnipotenz: Ich kann fliegen; ich kann den Lauf der Sterne verändern, den Zug zum Entgleisen bringen, denen in der Hauptstadt zeigen, wo es langgeht. Alles dies ist Folge und Ausdruck jenes spezifisch schizophrenen Erlebens, Mittelpunkt der Welt geworden zu sein. Viele Kranke formulieren es klar und eindeutig: »Ich habe das Gefühl, als drehe sich alles um mich.« Auch wenn sie es nicht so ausdrücken, ist es oft unübersehbar, dass sie so empfinden. Nicht selten bringen sie damit ihre Umgebung in Verzweiflung, die versucht, ihnen genau dies auszureden. Die Formen der veränderten Wahrnehmung können unterschiedlich ausgeprägt sein. Klaus Conrad unterscheidet: »1. Der wahrgenommene Gegenstand zeigt dem Kranken an, dass er ihm gelte, aber der Kranke kann nicht sagen, inwiefern. 2. Der wahrgenommene Gegenstand zeigt ihm an, dass er ihm gelte, und er weiß auch sofort, inwiefern. 3. Der wahrgenommene Gegenstand bedeutet etwas ganz Bestimmtes.« Zu den Wahrnehmungsunterschieden bei Psychosekranken und Gesunden schreibt Conrad: »Draußen auf der Straße hören wir einen Ruf. Wir glauben, er gelte uns. Ein Blick aus dem Fenster belehrt uns, wir sind gar nicht gemeint, sondern ein anderer. Dieses: Ich bin gar nicht gemeint, heißt: Ich trete in diesem Augenblick gewissermaßen aus mir heraus, setze einen anderen an die eben von mir eingenommene Stelle, finde mich in einer Welt ›mit dem Anderen‹, besser: aus meiner nur mir eigenen Welt übergetreten in die Welt der anderen, um überhaupt dieses Erlebnis haben zu können: Das gilt nicht mir! Wir vollziehen diesen Wechsel des Bezugssystems (durch welchen jene akustische Gegebenheit – der Ruf – in einen anderen Bedeutungszusammenhang rückt und sich dadurch verwandelt) ohne die geringste Mühe tausendmal am Tag. Ständig kippen wir aus der einen in die andere Einstellung, ähnlich wie wir dies in der Auffassung der obigen Figur tun können und sogar müssen, da wir eine Einstellung allein gar nicht allzu lange beibehalten könnten. Ganz anders ein Kranker, dessen Bettnachbar schläft: Das Schnarchen ›gilt‹ ihm! Nun aber zeigt sich, dass er auf einmal jenen Überstieg nicht vollziehen kann, der notwendig ist, um sich des Irrtums belehren zu
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lassen. Wie gefangen scheint er in der einen Einstellung und kann nicht mehr heraus. Vielmehr werden andere Gegebenheiten des Feldes sofort in diesen Kreis hineingezogen. Nicht nur das Schnarchen, alles mögliche andere ›gilt‹ ihm auf einmal ebenso, bis er sich nicht mehr anders zu helfen weiß, als laut ›Ruhe‹ zu rufen.«
Die aktive Phase Die schizophrenen Psychosen können bei den Erscheinungsformen verharren, wie sie oben dargestellt worden sind. Diese Bilder bezeichnen wir als »paranoide Psychosen« oder Schizophrenien. Sie können aber auch weiter fortschreiten und zu einem völligen Zerfall der Persönlichkeit des Erkrankten führen. Die Denkzusammenhänge lockern sich oder lösen sich sogar auf. Die Sprache zerfällt, zuerst die Sätze, dann die Wörter. Die Kranken sind verworren, reden »unverständliches Zeug«, wie es oft in den Aufzeichnungen heißt. Manchmal sind sie sehr erregt, gespannt und aggressiv, greifen scheinbar unmotiviert Mitpatienten oder Therapeuten an. Wir tun uns schwer, Zugang zu ihnen zu finden. »Wir haben einen erregten oder apathischen Menschen vor uns, der unzusammenhängende, unverständliche oder auch überhaupt keine spontanen Äußerungen von sich gibt, der auf Fragen nicht sinnentsprechend antwortet, sodass man nicht einmal weiß, ob die Äußerung als Antwort auf die Frage zu verstehen ist oder vielleicht mit ihr nur zufällig koindiziert. Wir haben zu tun mit Menschen, teils in schwerster Angst, teils in rauschhaft erhobener Stimmung, die gänzlich unverständliche Handlungen begehen, die dennoch für den Kranken einen bestimmten, wenn auch vielleicht ›symbolischen‹ Sinn zu haben scheinen, den aber niemand verstehen kann; und die schließlich in seltsamer Weise motorisch erstarren, sodass es scheinen will, als wäre nun alles innere Leben erstorben, als würde überhaupt nichts mehr ›erlebt‹« (Conrad). Solche Verläufe können überaus schwer sein. Sie sind in früheren Zeiten mehr als nur gelegentlich in tödliche Katatonien gemündet. Auch heute noch können sie über Monate jedem therapeutischen Zugang widerstehen. Solche Zustände sind nicht nur für den Kranken, sondern auch für die Mitmenschen, insbesondere für die Betreuenden, nur schwer zu ertragen, bis die Kranken schließlich doch aus ihrer psychotischen Welt
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wieder heraustreten, zurückkehren in die Welt der »Normalen«. Conrad in seiner bilderreichen Sprache nennt diesen Zustand nicht ganz zu Unrecht die »apokalyptische« Phase der Psychose.
Die Konsolidierung Irgendwann beginnt sich der Zustand des psychosekranken Menschen zu konsolidieren. Der Schub klingt ab. Der natürliche Verlauf dieser Entwicklung ist heute kaum mehr zu beobachten, da fast alle Kranken mit Medikamenten behandelt werden. Meist macht sich zunächst eine Entspannung bemerkbar und die Angst nimmt ab. Zustände von Erregung, von Katatonie werden seltener und hören schließlich ganz auf. In Halluzinationen wahrgenommene Stimmen werden leiser. Die Symbolik der Bedeutungserlebnisse besteht zwar noch über einige Zeit fort, verliert aber an Aktualität. Manche Kranke fühlen sich beispielsweise weiterhin verfolgt; aber es regt sie nicht mehr auf. Einzelne beginnen, interessiert ihren Stimmen zuzuhören, und lassen sich von ihnen unterhalten. Gelegentlich bedauern sie es, wenn diese dann ganz verschwinden: Mit den Stimmen waren sie nie allein; jetzt fühlen sie sich einsam. Schließlich beginnen sie, sich von Wahnwahrnehmungen, Halluzinationen und Verfolgungserlebnissen zu distanzieren. Oft bleibt ein Rest dieser Symptome in Träumen vorhanden. Ansonsten gelingt den Betroffenen der »Überstieg« (Lempp) in die Welt der anderen wieder. Zunächst geschieht das nur teilweise und zeitweise, schließlich auf Dauer. Man kann beobachten, »wie sich entweder allmählich oder auch mitunter überraschend schnell, von einem Tag auf den anderen, die völlige Umstrukturierung einstellen kann, die kopernikanische Wendung: nicht er, der Kranke, steht in der Mitte des Weltgeschehens, sondern die Welt läuft wie bisher ihren Gang, und er ist nur ein kleiner unwichtiger Teil dieser Welt. Der Überstieg ist wieder möglich geworden [...]. Kaum ist es abgeklungen, kann man sich die frühere Sicht schon kaum mehr vorstellen; sie blasst ab, wird inaktuell« (Lempp 1973). Diese kopernikanische Wendung ist den Kranken keineswegs immer willkommen. Gelegentlich wird ein »eigentümlicher Widerstand« bemerkbar. Conrad beschreibt diesen bei einem seiner Patienten:
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»Wir hatten den Eindruck, er wolle sich gar nicht von der Idee trennen, im Mittelpunkt eines gewaltigen Beobachtungssystems gestanden zu haben. Er meinte einmal, ›stürzen Sie mich doch nicht noch einmal in diesen furchtbaren Zweifel! Entlassen Sie mich, und ich werde zeitlebens in dem schönen Wahn leben, dass mir eine Chance geboten wurde. Es ist doch das größte Erlebnis, das ich überhaupt hatte. Ich will diesen Gedanken gar nicht aufgeben [...]. Ich will mich nicht wieder in diesen furchtbaren Zweifel stürzen [...]‹« (Conrad). Der Überstieg aus der Psychose in die alltägliche, die »gesunde« Welt ist schmerzlich, weil sich der Kranke nun wieder mit der unfreundlichen, schier unerträglichen Wirklichkeit seines alltäglichen Lebens konfrontieren muss. Diese rückwirkende Verklärung des Zustands der Psychose, der man bei einigen Kranken begegnet, mag der Grund dafür sein, dass man immer wieder hört, man möge den Kranken doch so lassen, wie er sei, und ihn nicht mit einer Therapie und deren Nebenwirkungen quälen. Eine solche irrige Schlussfolgerung kann nur ziehen, wer den Kranken nicht durch den gesamten Verlauf der Psychose hindurch begleitet hat.
Restsymptome und Chronizität Es kommt vor, dass die Psychose nicht oder nicht vollständig abklingt. Ein Rest (»Residualzustand«) bleibt bestehen – oder der Zustand der mehr oder weniger aktiven Psychose chronifiziert sich. Restzustände zeichnen sich vor allem durch das Fortbestehen sogenannter negativer Krankheitssymptome aus: die Verminderung des Antriebs, die Beeinträchtigung des Willens. Bei Conrad wird das so beschrieben: »Es ist das Erlebnis der eigenen Entschlusskraft oder Willenskraft. Alles, was uns die Kranken erzählten, handelt von diesem Mangel an Spannkraft hinsichtlich der Fernziele, der großen Lebensplanung, des Berufsziels usw., wie auch hinsichtlich jeder kleinsten Tagesverrichtung. Schon bei dem Entschluss, sich in der nächsten Trafik eine Schachtel Zigaretten zu kaufen, wird er empfunden. In jeder Schilderung kehrte dieser erlebte Mangel an innerem Antrieb, an Entschlusskraft, an Konzentration, Interesse, Energie, an Durchschlagskraft wieder.« Der chronische Verlauf kann aber auch durch das Fortbestehen produktiver Krankheitssymptome gekennzeichnet sein: Verfolgungsideen, Wahnwahrnehmungen, Halluzinationen, psychomotorische Erregbarkeit und andauernde Angst.
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Bei der Chronifizierung solcher Symptome entsteht ein schweres Leiden mit begleitender depressiver Verstimmung, und das kann ständige Sui zidgefährdung nach sich ziehen. Demgegenüber ist die chronifizierte, krankhaft heitere »hebephrene« Gemütslage eher selten. Aber auch sie ist einer Behandlung nur schwer zugänglich.
Verlauf und Prognose Mit dem Abklingen der schizophrenen Episode ist die Psychose nur bei einem Teil der Erkrankten auf Dauer überwunden. Immerhin können wir davon ausgehen, dass fast ein Drittel der Betroffenen geheilt aus der Psychose hervorgeht. Dieser überraschend große Anteil ist seit den früheren Schätzungen Eugen Bleulers anlässlich seiner Beschreibung und Zusammenfassung der Gruppe der Schizophrenien gleich geblieben. Schon Nachuntersuchungen von Wilhelm Meyer-Gross in Heidelberg (zitiert nach Bumke 1932) und George W. Brown und John K. Wing in London (1974) stützten diese Beobachtung. Das bedeutet aber auch, dass zwei Drittel derjenigen, die eine Erkrankungsphase erlebt haben, früher oder später mit einem Rückfall rechnen müssen. Ein solcher kann nach Monaten, nach Jahren, vereinzelt auch nach Jahrzehnten auftreten. Er kann, wie die erste Episode, rasch wieder abklingen, sich über lange Zeit hinziehen oder in einen chronisch-rezidivierenden Verlauf übergehen. Die Vielfalt der möglichen Entwicklungen ist schier unbegrenzt. In früheren Jahrzehnten hat hinsichtlich des »natürlichen« Verlaufs der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis eher Pessimismus vorgeherrscht. Das hat sich geändert, seit die Ergebnisse von drei bedeutenden Verlaufsstudien von Manfred Bleuler in Zürich (1972), Luc Ciompi und Christian Müller in Lausanne (1976) sowie Gerd Huber, Gisela Gross und Reinhold Schüttler in Bonn (1979) vorliegen. Alle zusammen haben sie über tausend Patienten über einen Zeitraum von 22 bis 37 Jahren nachuntersucht. Sie stimmen in ihren Ergebnissen und Schlussfolgerungen in bemerkenswerter Weise überein. Sie fanden, dass nach so langer Zeit ein Drittel der Kranken geheilt, ein Drittel deutlich gebessert und ein Drittel wegen der Auswirkung der Psychose invalide war. Fasst man Geheilte und deutlich
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Gebesserte zusammen, heißt das, dass der Verlauf bei zwei Dritteln sehr günstig oder günstig ausfiel. Dabei ist zu bedenken, dass Kranke, die anlässlich ihrer einmaligen schizophrenen Episode nicht zur Aufnahme in eine Klinik kamen, und solche, die wegen der günstigen Entwicklung ihrer ehemaligen psychotischen Episode in der Klinik nicht als schizophren diagnostiziert worden waren, in diesen Studien nicht erfasst und berücksichtigt werden konnten. Der Verlauf der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist also mit hoher Wahrscheinlichkeit noch günstiger, als jene drei Langzeituntersuchungen das ohnehin schon nahelegen. Die Zürcher Daniel Hell und Margret Gestefeld (1988, S. 69 – 78) fassen die Ergebnisse der Studien von Bleuler sowie von Ciompi und Müller und ihre Schlussfolgerungen für den Verlauf zusammen: »Eine Nachuntersuchung von M. Bleuler (1972) an 208 schizophrenen Patienten über 22 Jahre hinweg ergab, dass die häufigste Verlaufsform einer schizophrenen Psychose (40 Prozent aller Schizophrenien) durch eine oder mehrere akute Phasen gekennzeichnet ist, die wieder abheilen. Fast ebenso häufig (nahezu 40 Prozent aller Fälle) treten wellenförmig verlaufende mittelschwere oder leicht chronische Psychosen auf. Weitaus seltener (8 Prozent der Fälle) kommt der unmittelbar zu schwerster chronischer Psychose führende Verlauf vor. Alle anderen Verlaufsformen sind verhältnismäßig selten; sie treten nur bei 11 Prozent aller Kranken auf. Nach Ciompi und Müller leben nach einer durchschnittlichen Beob achtungszeit von 37 Jahren 40 Prozent der 289 erfassten Patientinnen und Patienten in der eigenen Wohnung (bei ihrer Familie bzw. allein), 20 Prozent waren in öffentlichen Einrichtungen (vor allem Heimen) untergebracht, 40 Prozent verblieben im Krankenhaus. Obwohl die Patienten zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung im Durchschnitt 74 Jahre alt waren, standen 51 Prozent noch im Erwerbsleben, zwei Drittel davon waren teilzeit-, ein Drittel vollzeitbeschäftigt.« Luc Ciompi und Christian Müller haben aufgrund ihrer Befunde eine schematische Darstellung der verschiedenen Möglichkeiten von Verlauf und Langzeitentwicklung schizophrener Psychosen entwickelt: a) Krankheitsepisoden, die plötzlich beginnen, rasch wieder abklingen und sich nach einiger Zeit wiederholen, b) Störungen, die allmählich ihren Anfang nehmen und sich lange hinziehen, um dann in einen chronischen Verlauf überzugehen, und schließlich c) Mischformen und Va-
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rianten vielfältiger Art. Ciompi und Müller haben in diesem Schema auch dargestellt, wie häufig sie diese unterschiedlichen Verlaufstypen in ihrer Nachuntersuchung gefunden haben. Dazu ist anzumerken, dass diese Verlaufssystematik auch zukünftig so aussehen wird. In dieser Studie, wie in den beiden anderen Langzeituntersuchungen, wurden Kranke erfasst, deren Krankheitsbeginn zum Teil weit vor der Einführung der modernen psychiatrischen Behandlungsverfahren lag. Wir wissen bis heute nicht zuverlässig, in welcher Weise sich Frühbehandlung, Medikamentenwirkungen, psychotherapeutische und soziotherapeutische Begleitung und Rehabilitation auf den Langzeitverlauf auswirken. Solange sich die Psychiatrie um Schizophreniekranke bemüht, hat es nicht an Versuchen gefehlt, frühzeitig eine Prognose über den weiteren Verlauf zu stellen. Leider muss man feststellen, dass sichere Anzeichen, die frühzeitig auf einen günstigen oder ungünstigen Verlauf hindeuten, bis heute nicht bekannt sind. Daniel Hell und Margret Gestefeld haben einige allgemeine Anhaltspunkte zum Krankheitsverlauf zusammengetragen, die ich trotz der gebotenen Einschränkungen im Hinblick auf ihre Gültigkeit wiedergeben möchte: »Ein guter bisheriger Verlauf macht auch einen weiterhin guten Verlauf wahrscheinlich. Bei chronischen Verläufen ist auch nach Jahren und Jahrzehnten eine Besserung möglich, und Besserungstendenzen sind nicht auszuschließen.« Eher milde Verlaufsformen beobachten die Autoren gehäuft, wenn der Krankheitsbeginn akut war, • • wenn dieser im Rahmen einer Belastungssituation auftrat, • wenn er von Stimmungsschwankungen begleitet wurde, • wenn die frühere Persönlichkeit harmonisch und kontaktfähig war, • wenn die Kranken soziale Kontakte pflegten und dadurch menschliche Wärme erfahren konnten. »Hervorzuheben ist«, schreiben Hell und Gestefeld weiter, »neben den genannten Gesichtspunkten, • dass eine medikamentöse Therapie – eventuell über sehr lange Zeiträume hinweg – die Symptome und damit die Beeinträchtigung des schizophrenen Menschen lindern und das Risiko eines Wiederauftretens schizophrener Schübe deutlich zu senken vermag,
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Abbildung Seite 111 aus »Verstehen« Der lange Weg des Leidens: Verlauf und Prognose
Langzeitentwicklung der Schizophrenie Durchschnittliche Beobachtungsdauer 36,9 Jahre, n = 228, punktierte Linien = Varianten derselben Verlaufsform (nach Ciompi 1984; Tölle 1999) Beginn
Verlaufstypus
Endzustand
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25%
2
24%
3
12%
4
10%
5
10%
6
6%
7
5%
8
5%
• dass veränderte Therapiekonzepte, bei denen sich Patienten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Klinik aktiver einbringen und mitgestalten können, die (Wieder-)Gestaltung des ›Alltags‹ erleichtern, dass nicht zuletzt zunehmendes Verständnis für psychische Krankheiten – • und damit auch Toleranz gegenüber dem psychisch Kranken selbst – allen Betroffenen hilft, miteinander umzugehen.
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Verlauf und Prognose
Dies alles hat dazu beigetragen, dass die noch vor dreißig Jahren beob achteten schweren Verlaufsformen mit komplizierten Wahnsystemen heute seltener geworden sind.« Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind tendenziell chronisch-rezidivierende Leiden. Allerdings werden bis zu einem Drittel der bekannten Ersterkrankten wieder gesund, ohne dass es zu einer Wiedererkrankung kommt. Wahrscheinlich sind es sogar viel mehr, denn längst nicht alle Menschen, die irgendwann in ihrem Leben schizophrene Symptome aufweisen, werden als krank diagnostiziert. Deshalb müssen wir uns hüten, von vornherein die Flinte ins Korn zu werfen; und wir müssen den Kranken und den Angehörigen das auch sagen. Selbst wenn eine vollständige Wiederherstellung ausbleibt, ist die Langzeitprognose bei den meisten Betroffenen nicht schlecht, wenn alle Chancen zur Behandlung und zur Rehabilitation genutzt werden. Das ist aus Langzeituntersuchungen bekannt, die schon vor der Entdeckung der antipsychotischen Medikamente durchgeführt wurden. Voraussetzung ist allerdings, dass Kranke, Angehörige und Therapeuten eine gemeinsame Basis für eine konsequente Therapie finden. Gleichwohl haben die Behandlungsmöglichkeiten auch heute noch ihre Grenzen. Durch diese vier Jahrzehnte alten Befunde ist der »Mythos der Unheilbarkeit« längst der Unhaltbarkeit überführt. Michaela Amering und Margit Schmolke (2010) betonen das mit Recht noch einmal, auch wenn man so mancher Überschwänglichkeit bei der Vorstellung ihres Recovery-Konzepts nicht folgen mag. Es sei daran erinnert, dass in der Psychosenbehandlung spätestens ab Bleuler immer wieder optimistische (zuletzt Laing 1965 oder auch Ciompi 1980) auf pessimistische Perio den folgten und umgekehrt – so wie die Behandlung seit zweihundert Jahren zwischen vorrangig sozialer und biologischer Orientierung pendelt (Finzen 1998).
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Erleben und Miterleben
»Ich habe oft das Gefühl, dass die Kranken nicht erklären können und die Gesunden nicht verstehen.« Ein psychosekranker Arzt
Psychoseerfahrene Personen werfen den Ärztinnen und Ärzten häufig vor, sie interessierten sich nicht für das, was sie in der Psychose erlebten. Sie hörten ihnen allenfalls zu, um ihre Symptome zu erfassen. Sie richteten ihre Aufmerksamkeit und Energie nur auf deren Beseitigung. Für sie dagegen sei das Erleben einer psychotisch veränderten Weltsicht mit all den vielfältigen, beunruhigenden, beängstigenden, fremden, faszinierenden Wahrnehmungen eine zentrale Erfahrung. Für Behandler sei es nur »Psychopathologie«. Solche Kritik ist nicht unberechtigt. Sie wird akzentuiert durch die zunächst überraschende Bemerkung der engagierten Fürsprecherin der Menschen, die eine Psychose durchlebt haben, der Hamburgerin Dorothea Buck: Das Elend des Nicht-zuhören-Könnens und -Wollens habe mit der Einführung der Neuroleptika begonnen. Vorher habe man ihr Zeit gelassen, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, sei man auf sie eingegangen, habe man ihr zugehört. Danach habe man nur noch versucht, die störenden Symptome ohne Verzug mit Medikamenten wegzudrücken. Tatsächlich gibt es in den Fünfzigerjahren, an der Schwelle zur Einführung der Neuroleptika, eine umfangreiche Literatur, die diesen subjektiven Eindruck stützt. Conrads Beginnende Schizophrenie gehört ebenso dazu wie Marguerite Sechehayes Tagebuch einer Schizophrenen« und die Schriften von Gaetano Benedetti, Christian Müller oder Walter Theodor Winkler. Es kann gut sein, dass die neue, faszinierende Möglichkeit, die Symptome der Psychose durch Medikamente zu beeinflussen und zum Teil sogar zum Verschwinden zu bringen, einem durch Übereifer begründeten therapeutischen Irrweg Vorschub geleistet hat. Dieser mag über lange Zeit umso konsequenter beschritten worden sein, als über Jahrzehnte die Warnung vor der – aufdeckenden – Psychotherapie bei
»Die Gedanken werden handgreiflich« – Erfahrungsberichte
Schizophrenie als apodiktische Lehrmeinung im Raum stand, zumal »aufdeckende« und »verstehende« Psychotherapien spätestens seit den Sechzigerjahren als gleichbedeutend galten. Zugleich waren stützende wie »zudeckende« Psychotherapieverfahren der allgemeinen Geringschätzung der Profession anheimgefallen. Deshalb konnte gelten: Man müsse das psychotische Erleben nicht verstehen, um den Psychosekranken zu helfen. Da zudem die absurde Regel galt, mit den Kranken nicht über psychotische Inhalte zu reden, konnte man dies auch als Aufforderung missverstehen, sich mit diesen Inhalten gar nicht erst zu befassen. Diese Haltung hat sich in den letzten Jahren glücklicherweise geändert. Dass die Psychosekranken selbst sich zunehmend zu Wort melden, dass sie sich in Selbsthilfegruppen zusammenschließen und Forderungen an die Helfenden richten, hat gewiss dazu beigetragen. Nun zeigt sich, wie schwierig es ist, das Erleben Psychosekranker aufzunehmen, zu verstehen und schließlich Dritten mitzuteilen. Der direkte Weg besteht darin, dass von Psychosen betroffene Menschen ihre eigenen Erfahrungen und Erlebnisse niederschreiben. Tatsächlich fehlt es nicht an solchen Erfahrungsberichten. Der bislang erfolgreichste Ort dafür sind die von Thomas Bock und Dorothea Buck initiierten Psychoseseminare, in denen Psychoseerfahrene, Angehörige und Therapeuten »untherapeutisch« miteinander reden und diskutieren (siehe dazu etwa die Neuausgabe des Buches Stimmenreich – Mitteilungen über den Wahnsinn, Bock u. a. 2007).
»Die Gedanken werden handgreiflich« – Erfahrungsberichte Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken aus dem frühen 20. Jahrhundert (erstmals 1903) sind ein Klassiker, seit sie Freud zur psychoanalytischen Interpretation des »Falls Schreber« veranlasst haben. Klassiker sind auch die literarischen Umsetzungen von Hannah Green Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen und Sylvia Plaths Die Glasglocke. In jüngerer Zeit erschien unter anderem in deutscher Sprache Dorothea Sophie Buck-Zerchins Lebens- und Krankheitsbericht Auf der Spur des Morgensterns. Mary Barnes’ berühmte
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Erleben und Miterleben
Meine Reise durch den Wahn ist mithilfe ihres Psychiaters entstanden. Die Geschichte der Schizophrenie von Silvia Frumkin Ich bin nicht da, wo ihr mich sucht ist nicht von der Kranken selbst aufgezeichnet worden, sondern von der Journalistin Susan Sheehan, die dafür mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde. Am stärkten beeindruckt hat mich Lori Schillers Buch Wahnsinn im Kopf, in dem ihre Angehörigen und ihre Therapeutin parallel zu ihr selbst über ihre recht unterschiedlichen Erfahrungen berichten. Neben den Kranken haben auch Angehörige versucht, das Erleben psychotischer Menschen verständlich zu machen. Sarah Anstadts Alle meine Freunde sind verrückt ist nur ein Beispiel von vielen. Besonders eindrucksvoll ist der von Heinz Deger-Erlenmaier herausgegebene Sammelband Wenn nichts mehr ist, wie es war (1994). Die Dolmetschversuche von Fachleuten habe ich bereits erwähnt. Dazu gehören in jüngerer Zeit auch Christian Scharfetters Schizophrene Menschen (1999), wenngleich dieser einen ganz anderen – psychopathologischen – Ansatz verfolgt. Den umfassendsten Beitrag zum Verständnis des Alltagslebens und zu den Erfahrungen Psychosekranker liefert wohl der von Heinz Katschnig herausgegebene Sammelband Die andere Seite der Schizophrenie (1977/1999), in dem Kranke und ihre Angehörigen ebenso zu Wort kommen wie Behandelnde, Betreuende und Krankheitstheoretiker. Die Literatur ist in doppelter Weise nicht an den schizophrenen Psychosen vorbeigegangen. Zum einen spiegeln Texte von Hölderlin, Lenz, Nerval oder Strindberg das Erleben eigener Psychose, ohne dass sie autobiografisch darüber berichten wollen. Zum anderen vermitteln Texte von Büchner (Lenz), Melville (Barthleby), Schnitzler (Flucht in die Finsternis) und in neuerer Zeit Erica Jong (Angst vorm Fliegen), Peter Handke (Die Angst des Tormanns beim Elfmeter) und Thomas Bernhard (Das Kalkwerk) eindrucksvolle Dokumente zum Psychoseerleben. Auch manches von dem, was uns »kafkaesk« erscheint, ist psychosenah oder spiegelt psychotisches Erleben. Christian Müller (1992) hat literarische Texte und Dokumente zur Darstellung schizophrener Psychosen und anderer psychischer Störungen gesammelt und sie unter dem Titel Die Gedanken werden handgreiflich veröffentlicht, sodass sie gut zugänglich geworden sind. Vielen dieser Versuche, Psychoseerleben verständlich zu machen, fehlt es an Authentizität. Das gilt auch für Texte von Psychosekranken selbst.
»Die Gedanken werden handgreiflich« – Erfahrungsberichte
Das hängt damit zusammen, dass sich Erleben und Leiden der Kranken mit jeder Phase des Ablaufs der Psychose verändern und dass das »wirkliche« Erleben rückblickend nur noch begrenzt wiedererlebt und nachempfunden werden kann. Mit dem Abklingen des psychotischen Erlebens und der Konsolidierung setzt ein Prozess der Distanzierung ein, der in erster Linie das Schreckliche des Psychoseerlebens in den Hintergrund zu drängen scheint. Was bleibt, ist oft das Faszinierende, Besondere, Interessante: »Wie übrigens nicht selten zu beobachten ist, wird die Qual der akuten Wahnkrankheit nach einer überstandenen Episode oft verdrängt, ja es entsteht das Gefühl einer besonders reichen und farbigen Erlebniswelt während der Psychose« (Müller 1992). So heißt es bei Nerval: »Bisweilen warf ich auf den Zustand, in dem ich mich befunden hatte, Blicke des Neides zurück, denn solange es angedauert hat, habe ich viele Stunden reinen Glücks genossen [...]. Denn niemals habe ich mich, was mich selbst betrifft, wohler gefühlt. Mitunter hielt ich meine Kraft und meine Fähigkeit für verdoppelt. Es schien mir, als wüsste ich und verstände ich alles; die Einbildungskraft brachte mir unendliche Wonnen. Soll man bedauern, sie verloren zu haben, wenn man das, was die Menschen Vernunft nennen, wiedererlangt hat?« (Birnbaum 1920). Dies schreibt Nerval über einen Zustand, den sein Freund Alexandre Dumas von der anderen Seite so erlebt hat: »Dann aber erfasst ihn plötzlich wieder eine tiefe Schwermut, eine unbezwingliche Melancholie, und wer alsdann seinen Worten lauscht, möge es nur versuchen, seine Tränen zurückzuhalten. Werther und René haben für ihren Schmerz keinen ergreifenderen Akzent, kein herzzerreißenderes Schluchzen, keine rührenderen Laute, keinen poetischeren Aufschrei gefunden als der unglückliche Gérard« (Birnbaum 1920). Nervals Stellungnahme zur abgelaufenen Psychose erinnert an die von Rainer N., die wir bei Conrad gefunden haben. Sie entspricht den Reaktionen zahlreicher Psychosekranker, die ich wenige Wochen zuvor in Angst und Zerrissenheit erlebt hatte. Eine solche positive Verklärung finden wir auch in Dorothea Bucks Aufzeichnung ihres Psychoseerlebens aus der Distanz von mehr als dreißig Jahren.
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Erleben und Miterleben
Menschen in der Psychose zuhören Was können wir also tun, um das Erleben und die Erfahrungen in der Psychose in möglichst authentischer Weise zugänglich zu machen? Meine Antwort: Wir müssen sie alle beachten, die Berichte über das unmittelbare und mittelbare Erleben. Das hilft uns zu lernen, dem Menschen in der Psychose zuzuhören. Bei dem Versuch meiner Annäherung an das Erleben der Psychose stütze ich mich nur in zweiter Linie auf meine Erfahrungen als Arzt. Im Vordergrund stehen Beobachtungen und Erlebnisse aus meinem Leben als Mitmensch – als Kollege, als Freund, als Angehöriger.
Peter O. – die Flucht in den Urlaub Ich beginne mit der Darstellung meiner Begegnungen mit Peter O. – siehe das Vorwort zu Arietis Schizophrenie (1985/2008): Bei einem Familientreffen traf ich nach langen Jahren Peter O. wieder. Als Kinder hatten wir oft gemeinsam die Ferien auf unserem Bauernhof oder in den Wäldern hinter dem Haus seiner Eltern verbracht. Als Jugendliche waren wir einander fremd geworden. Zunächst führte ich das auf unsere unterschiedlichen beruflichen Wege zurück. Dann aber beobachtete ich bedrückt, wie verquer sich nach dem Tod des Vaters seine Beziehungen zu seiner Mutter und zu seinen Geschwistern entwickelten. Die andauernden Spannungen waren für Außenstehende offensichtlich. Der inzwischen zwanzigjährige Peter klagte darüber, dass sich seine Mutter in alles einmische, dass sie ihm ständig zu nahe trete. Zugleich aber klammerte er sich wie ein Kind an ihr fest. Wenig später hörte ich, dass er Rundfunk- und Fernsehsendungen auf sich bezog. Schließlich floh er vor seinen vermeintlichen Verfolgern nach Spanien. Er war schizophren. Der Rückführung in die Bundesrepublik folgte eine Serie von Krankenhausaufenthalten in damals noch recht unzulänglichen psychiatrischen Kliniken. Peter und seine Familie hatten große Mühe, zu begreifen, was da über sie hereingebrochen war. Endlich, im Gefolge einer zeitgemäßen Behandlung und unter unablässigen Bemühungen der Geschwister, die Mutter und den Sohn zu stützen, beruhigte sich die Erkrankung.
Menschen in der Psychose zuhören
Heute lebt Peter in einer eigenen Wohnung in der Nähe seiner Schwes ter. Bei unserem Wiedersehen habe ich den Eindruck, dass er nicht unglücklich ist. Er ist mit 45 Jahren berentet. Aber er ist nicht untätig. Er beschäftigt sich und lässt sich zur Hilfe in der weit verzweigten Familie motivieren. Er hat seine Intellektualität ebenso wenig eingebüßt wie seinen politischen Standpunkt, den er weniger versöhnlich vertritt als die meisten in der Familie. Gewiss sei nicht alles so, wie es sein könnte: Peter räumt ohne Weiteres ein, dass er zu viel wiege und dass er zu viel trinke. Aber das ist in unserer Gesellschaft ja noch nichts Ungewöhnliches. Niemand, der ihn nicht seit Langem gut kennt, käme auf den Gedanken, dass seine frühe Invalidität und die Beschränkung seiner sozialen Kontakte auf die Familie Spätfolgen einer weitgehend überwundenen schizophrenen Psychose sind. Was ich hier in nüchternen, distanzierenden Worten berichte, ist »im wirklichen Leben« mit viel Leid, Streit und Unverständnis einhergegangen. Anfangs hat keiner von uns begriffen, was sich da abgespielt hat, als es immer schwieriger wurde zwischen Peter und seiner Mutter und schließlich zwischen Peter und dem Rest der Welt. Auf den Gedanken, hier könnte sich eine Krankheit zusammenbrauen, ist über Jahre hinweg niemand von uns gekommen – am wenigsten Peter selbst. Er war sparsam in seinen Äußerungen. Er hatte nur wenige Bekannte an seiner Arbeitsstelle, und von diesen zog er sich allmählich immer weiter zurück. Schließlich übernahm er eine Tätigkeit im Außendienst, wo er auf sich allein gestellt arbeiten konnte und nur punktuell Kontakte mit anderen Menschen hatte. Sein Verhalten innerhalb der Familie entsprach im Grunde dem dort üblichen Muster. Sein verstorbener Vater, seine Mutter, seine Geschwis ter waren alle irgendwie akzentuierte Persönlichkeiten. Auch seine Beharrlichkeit, auf Dingen herumzureiten, die schließlich zur Penetranz wurde, fiel kaum auf. Die vorwurfsvolle Haltung, vor allem gegenüber der Mutter, die er verstärkt an den Tag legte, hatte in gewisser Weise auch schon immer bestanden. Deswegen bemerkte man auch nicht, wie er sich zunehmend bedroht fühlte. Er wurde nur »lästiger« in seiner Vorwurfshaltung: »Euch ist nichts recht, was ich tue; ihr seid nie zufrieden mit mir; ihr passt ständig auf mich auf; sogar nachts seid ihr hinter mir her; ich spüre eure Blicke sogar an der Arbeitsstelle; ihr redet über mich; ich höre, wie ihr über mich redet; die Kollegen reden ständig über mich;
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ich höre sie auch, wenn ich unterwegs bin; ich höre sie, wenn ich das Radio anmache; dort gibt es auch ständig Anspielungen auf mich; jetzt sprechen die mich schon in den Nachrichten an. Das Essen schmeckt so merkwürdig; in dem Essen ist etwas drin; ich kann das nicht mehr essen, es ist vergiftet.« Immer mehr Lebensbereiche wurden mit solchen Erlebnissen wie Einengung, Bedrohung und Verfolgung besetzt. Die geäußerten Reaktionen waren Angst, Verzweiflung, Wut: »Ich muss etwas dagegen unternehmen. Wenn der mich wieder bedroht, dann werde ich es ihm zeigen.« Schließlich ergriff er in völliger Verzweiflung die Gelegenheit eines Urlaubs zur Flucht. Was wir Angehörige und Freunde miterlebt hatten, war ein typisches Prodromalstadium, das sich über Jahre und in der verschärften Form über Monate hingezogen hatte. Es war offensichtlich, dass Peter sich unwohl, bedroht, verängstigt, verzweifelt fühlte. Wir haben in »normalen« Kategorien darauf reagiert. Wir haben versucht, ihm das auszureden, haben versucht, ihn zu beruhigen. Wir haben ihn schließlich beschimpft, er solle uns mit diesem Unsinn in Ruhe lassen. Wir haben ihm möglicherweise sogar im Zorn gesagt: »Du spinnst ja wohl!« Aber da war noch keiner von uns auf den Gedanken gekommen, hinter dem »normalen Spinnen« könnte sich eine krankhafte psychische Störung verbergen. Das kam erst, als sich während seines Urlaubs Wahnvorstellungen und Halluzinationen verstärkten, als er in schwere Angst und Erregung geriet und sein Denken und seine Wahrnehmung von der Wirklichkeit so weit entfernt waren, dass er sich nicht mehr zurechtfand und im Zustand totaler Verworrenheit bei der Polizei um Hilfe nachsuchte. Danach begann ein langer Weg durch die Psychose mit Fortschritten und vielen Rückschritten, schließlich mit der Beruhigung der Psychose und Konsolidierung, mit relativer Lebenszufriedenheit, allerdings im Zustand der Invalidisierung. Unser Zugang zur Erlebniswelt von Peter war begrenzt. Wir spürten stattdessen, was seine Reaktionen auf seine veränderte Welterfahrung bei uns selbst auslöste. Alles das hatte seinen Anfang genommen, lange bevor ich irgendetwas mit der Psychiatrie zu tun hatte. Aber es wäre falsch zu behaupten, ich hätte deshalb so wenig Zugang zum Erleben Peters gehabt. Gegen Ende meines ersten Jahres als psychiatrischer Assistenzarzt wiederholte sich die Geschichte in der Zusammenarbeit mit einer jungen Krankenschwester.
Menschen in der Psychose zuhören
Maria K. – die »pubertäre« Kollegin Maria K. war damals 21 Jahre alt. Wenige Wochen vorher hatte sie ihr Examen als Kinderkrankenschwester gemacht. Es war nicht ganz klar, warum sie zu uns auf die psychiatrische Akutstation wechselte. Sie wolle zurzeit nicht mit Kindern arbeiten, berichtete sie. Dabei beließen wir es. Maria hatte hervorragende Beurteilungen. Die Stationsschwester und ihre Stellvertreterin setzten deswegen große Erwartungen in sie. Die Enttäuschung ließ nicht lange auf sich warten. Maria wirkte sehr kindlich und unselbstständig. Sie war langsam, geradezu aufreizend langsam. Sie brachte in der Arbeit und im Gespräch keine Initiative auf. Zugleich war sie »frech«, kam uns allen ständig zu nahe – auch körperlich. Immer wieder machte sie Bemerkungen, die etwas »daneben« waren. Dabei war sie – auch bei Vorhaltungen – fast immer unverständlich heiter. Irgendwie reagierte sie mit ihren Gefühlen nicht so, wie wir es erwarteten. Eine Nachfrage bei ihrer früheren Vorgesetzten ergab ein ganz anderes Bild: So kenne sie Maria gar nicht. Wir verstanden diese Auskunft nicht, aber wir mussten uns damit zufriedengeben. In den nächsten Wochen verschärfte sich die Situation. Maria und ihre Kolleginnen gerieten immer häufiger aneinander. Wir alle hatten ständig etwas an ihrer Arbeit auszusetzen. Sie machte unverständliche Fehler. Einmal trennte sie Infusionsschlauch und Nadel voneinander, um eine Infusion zu stoppen, sodass das Blut der Kranken auf den Boden tropfte und sich dort mit der ausströmenden Infusionsflüssigkeit mischte. Sie hatte keine Erklärung dafür. Spätestens zu diesem Zeitpunkt begannen wir Konsequenzen aus ihrer offensichtlich mangelnden Eignung zu ziehen. Wir betrieben ihre Versetzung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Unsere rationale Überlegung war: Vielleicht ist sie mit Kindern besser. Aber in Wirklichkeit wollten wir sie schlicht loswerden. Sie spürte das offensichtlich auch. Sie kam morgens immer später zur Arbeit. Sie sei nicht aus dem Bett gekommen; sie habe keine Lust gehabt, gab sie zur Antwort. Die Versetzung erfolgte. Wenige Tage später erhielt ich einen Anruf: Wenn ich nicht sofort aufhörte, sie zu belästigen, Tag und Nacht Schweinereien zu ihr zu sagen und sie zu bedrohen, werde sie sich beim Direktor beschweren. Sie war außer sich vor Zorn und Angst. Sie befand sich offensichtlich in einem akut psychotischen Zustand.
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Wir hatten die Art und Weise, wie Maria uns begegnete, von Anfang an als befremdlich erlebt. Das Bild, das sie uns vermittelte, entsprach nicht jenem, das wir erwartet hatten. Was sie uns von sich vermittelte, war das Bild eines kindlichen, unanstelligen, »lahmen«, unangepassten und dazu noch »rotzfrechen« Teenagers. Was sie erlebte und was wir miterlebt hatten, ohne es zu begreifen, war eine beginnende Psychose vom jugendlichen, vom hebephrenen Typ. In den Monaten, die wir mit ihr zusammenarbeiteten, hatten wir mehrere Patientinnen mit der gleichen Krankheit auf der Station, dennoch ist keiner von uns auf den Gedanken gekommen, die Kollegin könnte krank sein. Es scheint so zu sein, dass wir Symptome nur dann wahrnehmen, wenn wir in psychopathologischen Bahnen denken. Normalerweise ist das Verhalten der Mitmenschen auch für uns Experten der Ausdruck von Kommunikation und Interaktion. Wir nehmen die Botschaft, »wie sie ist«. Wir klopfen sie nicht darauf ab, welche psychopathologischen Fragwürdigkeiten sich möglicherweise dahinter verbergen. Wenn wir abweichendes Verhalten oder abweichende Gefühle spüren, interpretieren wir sie selbst auf der psychiatrischen Station bei Mitarbeitern zunächst einmal nicht als Symptom einer psychischen Störung. Wir »normalisieren« sie. Unsere Kategorien sind »Frechheit«, »Faulheit«, »Aufdringlichkeit« und nicht: »inadäquates, läppisches Verhalten, Antriebsarmut oder Dis tanzlosigkeit«. Indem wir den Mitmenschen so erleben, versperren wir uns den Zugang zur krankhaften Veränderung seines Erlebens. Aber wenn wir erst einmal unsere Antennen als Fachleute für psychische Krankheit ausgefahren haben, entgeht uns natürlich auch ein Teil seines gesunden Erlebens, weil wir es nun ganz anders wahrnehmen – eben in psychopathologischen Kategorien. Ich habe eine ähnliche Entwicklung später als ärztlicher Direktor noch einmal bei einem Assistenzarzt miterlebt. Seine Entwicklung in die Psychose führte zu einem massiven Konflikt zwischen den Mitarbeitern, bevor sich die Krankheit schließlich manifestierte. Er erlebte sich in den Monaten der beginnenden Psychose zusammen mit einem Teil der jüngeren Ärztinnen und Ärzte als Führer der antiautoritären Reformbewegung in der Klinik, der das Erreichte gegen die Machtansprüche der technokratischen »Macher« schützen wollte. Der Ausgang des Konflikts wäre möglicherweise anders gewesen, wenn nicht anlässlich einer Kneipenauseinandersetzung – der Arzt löste eine Schlägerei aus, als er
Menschen in der Psychose zuhören
an den Tisch eines Wildfremden trat und dessen Bier austrank – der Ausbruch der akuten Psychose erfolgt wäre. Die Geschichten von Peter O. und Maria K. berichten mehr über das Miterleben der Psychose als über das Erleben. Wir haben nur indirekt durch das Zusammenarbeiten und das Zusammenleben mit ihnen Zugang zu ihnen gefunden. Wir haben erst sehr spät bemerkt, dass sich in ihnen etwas vollzog, was wir nicht verstanden. Was wir miterlebten, spiegelt sich in ihrem Verhalten und in der Art und Weise, wie sie mit uns umgingen. Im folgenden Text, der einer Rundfunksendung von Bettina Wenke (1992) entnommen ist, schildert eine junge Frau nach Ablauf einer psychotischen Episode, was sie erlebte und erfahren hat.
Eva N. – es blutete nicht »Im Vorfeld meiner akuten Psychose, auf Grund derer ich dann eingeliefert wurde in die Klinik, kommen eigentlich ganz viele Fäden zusammen, die ich hier gar nicht alle aufzählen kann. Ganz allgemein kam es zu einer sehr starken Umwertung aller Werte, und ich habe vor allem das Ziel von Einfachheit gesucht. An dem Tag meiner Erkrankung, am 13. März 1990, kam ich morgens in die Schule, hatte die ersten beiden Stunden Unterricht, hatte diese leise Verfolgungsangst, auch die starke Wahrnehmung von Bildern in der Werbung. An diesem Morgen war in meiner Klasse ein neuer Schüler mit dem Namen Holger Schwarz. Zu dem haben sie immer gesagt: »der Schwarze«. Plötzlich dachte ich, dass die Verfolger mir diesen Jungen in die Klasse gesetzt haben, damit ich irritiert werde, und es löste in mir solche Ängste aus, dass ich mir vorgenommen habe, jetzt am Nachmittag nach Z. zu fahren zu einem Therapeuten; dem wollte ich mich mit meiner Angst öffnen. Zu dem hatte ich Vertrauen. Ich hatte mir mittags schon eine Fahrkarte nach Z. gekauft und um 14.26 Uhr sollte mein Zug gehen. Ich ging ans Gleis und plötzlich hörte ich über mir ein Rauschen von diesen Anzeigen der Züge und ich guckte auf die Uhr und plötzlich war es halb elf. Ich bin unheimlich erschrocken. Ich dachte, jetzt lassen die mich nicht rausfahren aus Deutschland. Ich fühlte mich ja verfolgt, wie gesagt, und ich ging in der ganzen Bahnhofshalle herum, guckte alle Uhren an und guckte zwei- und dreimal
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hin und dachte: Das darf doch nicht wahr sein, alle Uhren waren auf halb elf. Und dann fühlte ich mich umzingelt, und in dem Moment wusste ich, ich soll mich umbringen. Mir bleibt keine andere Wahl. Ja, das ist vielleicht noch wichtig zu sagen: Ich hatte auch die Fantasie, dass ein Krieg ausbrechen würde. Ich dachte dann: Ich bin also ein Geheimnisträger, und ich kann es nur deutlich machen, dass da eine Katastrophe in Aussicht ist, wenn ich jetzt ein Zeichen setze, indem ich mich umbringe. Ich habe noch ein Teppichmesser aus der Schule von meinem Kunstunterricht in der Mappe gehabt und bin rausgegangen in den Park am Bahnhof, ein Stück spazieren gegangen. Es war ein schöner sonniger Märztag, und ich war noch so traurig. Ich dachte: Du bist eigentlich im Moment auf der Höhe deiner Entwicklung und jetzt sollst du sterben, und guckte so an mir runter. Ich fand mich hübsch. Dann aber dachte ich, ja, der Gehorsam ist jetzt wichtiger, und zwar wegen Gefühl von Opfer. Dann habe ich geschnitten, und das Merkwürdige war, es hat nicht geblutet. Ich habe an den Handgelenken geschnitten, am Hals, an beiden Achillessehnen und in der Kniekehle. Als ich dann sah, dass es nicht blutete, kam genauso wie die Überzeugung, ich solle sterben, die Überzeugung, ich solle leben. Und dann dachte ich: Das ist also ein deutliches Zeichen, dass ich noch eine Aufgabe habe. Ich sollte jetzt warten, wie diese Aufgabe aussieht. Dann habe ich Passanten gerufen. Ich hatte gar keine Schmerzen. Ich hatte nur diese Beruhigung. Ich habe einer höheren Kraft gehorcht, und was auch jetzt immer passieren wird, ist im Rahmen dieser höheren Kraft richtig.« Der Bericht von Eva N. spricht für sich selbst. Erstaunlich bleibt, wie wenig von der emotionalen Anspannung, von der Angst und dem Schrecken, den sie in der Psychose erlebt haben muss, in der Rückschau erhalten geblieben ist. Die Schilderung wirkt eher distanziert und interessiert als angstbesetzt. Die bisherigen Beispiele befassen sich mit der beginnenden schizophrenen Psychose, mit dem Prodromalstadium und dem Übergang in die Krankheit. Diese Phase wirkt in gleicher Weise befremdlich wie vertraut. Die »normalen« Erlebniskategorien sind graduell verändert, aber nicht aufgehoben. Erleben und Verhalten des Betroffenen sind zum Teil nachvollziehbar, zum Teil fremd. Das ändert sich, wenn die akute Psychose beginnt, wie das folgende Beispiel zeigt.
Menschen in der Psychose zuhören
Helmut H. – der Gegenpol Hitlers Der 39-jährige Forstbeamte Helmut H. wird an einem Samstag durch den Notarzt in die psychiatrische Klinik eingewiesen. Sein Verhalten ist seit zwei Tagen verändert. Er spricht ständig fremde Leute an. Er meint, wenn er ihre Stimmen höre, könne er auf ihre Sternkreiszeichen rückschließen und wisse über ihr künftiges Schicksal Bescheid. Er besteht gegenüber seiner Frau darauf, wegen unverhoffter großartiger Erkenntnisse und Einsichten vor einem Gremium auserlesener Menschen sprechen zu wollen. Seine Frau ist beunruhigt, weil er immer wieder in den Garten und in den Wald geht und die Bäume umarmt. Bei der Aufnahme ist er ängstlich gespannt. Es besteht ein ungebremster Rededrang bei verworrenem Denken. Er hört offensichtlich Stimmen, die ihn ängstigen. Er äußert Wahngedanken mit astrologischen und religiösen Inhalten. Wörtlich sagt er in einem Gespräch am Aufnahmetag: »Ich habe die Formel gefunden, und zwar am 22. Oktober 1944 um 15.00 Uhr. Ich bin nicht irre. Ich bin gläubig ... Plus – minus, plus – minus. Ich bin ein Arzt. Ich habe den Spannungskomplex der Ehe begriffen. Ich kann Ihnen helfen. Ich bin nicht Jesus. Ich brauche elf Leute dazu. Ich kenne die Interferenzformel. Ich brauche das harmonische Spannungsfeld. Ich habe die kosmische Energie abgeleitet in einen Baum. Die seelisch Kranken sind gesünder als die Normalen. Das werde ich beweisen. Ich habe den Durchblick. Jetzt geht es darum, dass ich meine Ansichten an die Öffentlichkeit bringe. Ich möchte ein Grundgesetz aufschreiben. Ich bin der Gegenpol Hitlers. Ich muss aggressiv sein. Ich kann alle in die Luft gehen lassen. Ich möchte Seelsorger werden.« Die Geschichte von Helmut K. endet tragisch. Der Unterbringungsrichter kommt zu dem Schluss, dass er es nicht mit einem kranken, sondern mit einem exzentrischen Menschen zu tun hat, der in keiner Weise gefährdet sei. Er ordnet die unverzügliche Entlassung an. Noch am gleichen Tag erschießt sich Helmut K. mit seiner Dienstwaffe in »seinem« Wald. Das Erleben einer Psychose stellt einen schwerwiegenden Einschnitt in die Biografie dar. Die Selbstverständlichkeit des Gefühls zur eigenen Gedankenwelt wird, manchmal in dramatischer Weise, infrage gestellt. Auf die Weise kann die Krankheit zur existenziellen Bedrohung werden. Das gilt für die Betroffenen, das gilt aber auch mit gewissen
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Einschränkungen für die mitbetroffenen Angehörigen und Freunde. Beispiele aus der Literatur, vor allem aber Krankengeschichten, wie sie hier dargestellt wurden, bekräftigen das. Das zu begreifen ist eine Grundvoraussetzung dafür, die Krankheit zu verstehen. Und nur wenn man sie halbwegs versteht, kann man sie bewältigen beziehungsweise bei ihrer Bewältigung helfen.
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Ursachen und Anlässe I: soziale und psychologische Aspekte
»Die Schizophrenieforschung hat dargetan, dass es mannigfache Einflüsse auf die Entstehung, die Symptomatologie und den Verlauf schizophrener Psychosen gibt.« Manfred Bleuler
»Woran liegt das? Woher kommt die Krankheit? Was ist ihre Ursache?« Diese besorgten Fragen stellen wohl alle Kranken, alle Familienangehörigen, Bekannten und Freunde. »Hätte ich anders leben können, um ihren Ausbruch zu verhindern? Wer ist schuld an der Krankheit?« Fragen wie diese gewinnen im weiteren Verlauf der Erkrankung oft an Bedeutung. Insbesondere die letzte hat in den vergangenen Jahrzehnten nicht selten dazu beigetragen, das weitere Zusammenleben vieler Kranker mit ihrer Familie zu belasten und zu vergiften. Bis heute weiß niemand, wie die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis entstehen. Die Ursachen liegen trotz eindrucksvoller Fortschritte der Forschung immer noch weitgehend im Dunkeln. Es gibt eine Reihe von Vorstellungen, Theorien und Befunden. Sie münden nach dem heutigen Stand der Forschung alle in der Antwort: Menschen, die schizophren erkranken, sind empfindsamer gegenüber Innen- und Außenreizen. Sie sind verletzlicher als andere durch Belastungen aus der sozialen Umgebung, durch die psychischen Wirkungen körperlicher Erkrankungen und durch eigene innere Konflikte. Weniger robust zu sein als andere Menschen ist weder Schande noch Schwäche. Empfindsamkeit im Umgang mit Menschen und Dingen ist eine Chance zu vertieftem Erleben, zu intensiven Beziehungen und zu kreativer Lebensgestaltung. »Vulnerabilität« – auf Deutsch: »Verletzlichkeit« – ist das Schlüsselwort. In der Schizophrenieforschung der vergangenen Jahrzehnte hat es fast magische Bedeutung gewonnen – für biologisch orientierte Ärzte und Wissenschaftler ebenso wie für Psychologen und Sozialpsychiater. Vulnerabilität ist aber kein Zauberwort. Der Begriff verdeckt zugleich, dass wir über die Ursachen der schizo-
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Ursachen und Anlässe I: soziale und psychologische Aspekte
phrenen Psychosen immer noch zu wenig wissen. Er macht deutlich, dass wir lediglich Vorstellungen darüber haben, welche Faktoren bei der Auslösung eine Rolle spielen und auf den weiteren Verlauf einwirken können. Seit den Siebzigerjahren haben wir von der »multifaktoriellen Genese« – der vielfältigen Bedingtheit – gesprochen. Das war eine andere Umschreibung dafür, wie wenig wir wussten. Heute ist es die Vulnerabilität. Immerhin besteht Einigkeit darüber, dass es in besonderer Weise verletzliche Menschen sind, bei denen ein erhöhtes Erkrankungsrisiko besteht, was immer die Gründe dafür sein mögen. Eines aber ist ganz sicher: Es gibt niemanden, der schuld ist.
Psychische Erkrankung als Verhaltensstörung Psychische Krankheiten sind unabhängig von ihrem sonstigen Charakter (insbesondere von ihren Ursachen) immer auch Verhaltensstörungen (etwa Keupp 1972). Man kann sagen, dass sie in erster Linie aufgrund ihrer Verhaltensäquivalente erkannt und eingeordnet werden. Es fehlen objektiv messbare Kriterien – wie Temperaturanstieg, Veränderungen des Blutes oder der Zusammensetzung des Liquors im Gehirn. Dies hat zu Unsicherheit über die Definition und die Abgrenzung psychischer Krankheiten geführt. Ein beträchtlicher Teil psychiatrischer Forschung dient deshalb immer noch dem Bemühen um eine einheitliche und allgemein nachvollziehbare Klassifikation – ich bin im letzten Kapitel ausführlich darauf eingegangen. Symptome psychischer Erkrankungen sind Verhaltensformen oder Ausdrucksformen des Erlebens, die vom Üblichen abweichen. Sie verändern die Beziehungen zu anderen Menschen in einer Weise, die die Betroffenen nicht oder nur begrenzt kontrollieren können. Anderen erscheinen die Personen dann als antriebsgesteigert oder antriebsarm, als schweigsam, als verworren, wie in gehobener oder gedrückter Stimmung, als kontaktarm oder als aufdringlich. Keines dieser Verhaltensäquivalente psychischer Störungen ist für sich allein Ausdruck einer Krankheit. Es kommt vielmehr entscheidend darauf an, wie sich die Betroffenen früher verhalten haben und was sie dazu veranlasst hat, jetzt anders zu handeln. Natürlich ist nicht jede Verhaltensänderung, die von der
Labeling: die Etikettierungstheorie
Umwelt als »verrückt« bezeichnet wird, Ausdruck einer psychischen Störung, doch führen die Reaktionen der Gesellschaft auf abweichendes Sozialverhalten, das sich nicht einordnen lässt, eben leicht zu Misstrauen, Ablehnung und Aussonderung.
Labeling: die Etikettierungstheorie Der Labeling-Ansatz (Label = Etikett) ist eine jener frühen sozialpsychiatrischen Theorien, die Vorstellungen zur Entstehung psychischer Störungen formulieren. Er hat seinen Ursprung in der Soziologie abweichenden Verhaltens. In den Fünfzigerjahren spielte er in den Vereinigten Staaten eine zentrale Rolle bei der Erforschung von Jugendkriminalität. Die Theorie war folgende: Bestimmte Jugendliche aus sozialen Randgruppen oder aus der Unterschicht, die sich anders verhalten als ihre Altersgenossen aus der sozialen Mittelschicht, sind von Kindheit an bestimmten Vorurteilen ausgesetzt. Irgendwann beginnen sie, sich diesen Vorurteilen entsprechend zu verhalten. Sie ziehen umher, werfen Scheiben ein und brechen Autoantennen ab. Sie begehen kleinere Ladendiebstähle und sind gelegentlich in Raufereien verwickelt. Erst durch den Kontakt mit Polizei und Justiz bekommen sie ihr »Etikett«. Allmählich beginnen sie, sich selbst ebenso zu sehen wie die anderen. Damit ist der erste Schritt in der Karriere zum nunmehr tatsächlich kriminellen Jugendlichen getan. Der Labeling-Ansatz wurde schon bald auf die Psychiatrie übertragen. Ihre Theoretiker behaupteten letztlich eine Umkehrung der Chronologie: Nicht die Störung führe zum Etikett, sondern das Etikett zur Störung. Richtig ist daran gewiss, dass Etikettierung und Stigmatisierung eng miteinander verbunden sind und dass die Auswirkungen der Stigmatisierung einer zweiten Krankheit gleichkommen können. Allerdings fehlt der Nachweis, dass bei Menschen, die später »schizophren« genannt werden, zunächst eine unspezifische Form abweichenden Verhaltens besteht. Dadurch, dass sie mit der Psychiatrie in Berührung kommen, die die Verhaltensstörung zur Krankheit erklärt und als Schizophrenie benennt, verfestigt sich diese Form abweichenden Verhaltens aus Sicht der Labeling-Theoretiker in spezifischer Weise.
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Ursachen und Anlässe I: soziale und psychologische Aspekte
Durch die Reaktion der Mitmenschen und die Behandlung durch die Fachleute sieht sich der Schizophrene danach schließlich einem neuen Normengeflecht und neuen Verhaltenserwartungen gegenüber, die ihn fortan zwingen, die Rolle des Schizophrenen zu leben. Inzwischen besteht Übereinstimmung darüber, dass der Labeling-Ansatz in dieser Form zu einfach ist. Er reicht nicht aus, um die Entwicklung so komplexer Störungen wie Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis zu erklären. Allerdings besteht auch Einigkeit darüber, dass die Art und Weise des Umgangs der Umwelt mit den Kranken wesentlichen Einfluss auf den Krankheitsverlauf hat – auf die »Karriere«, die der Betroffene mit der Diagnose, dem Etikett »Geisteskrankheit« (Scheff 1972) beginnt. Dazu gehören auch die Stigmatisierung und die Belastung durch Vorurteile, die mit der Schizophreniediagnose immer noch verbunden sind. Während die Menschen aus dem jeweiligen sozialen Umfeld vor der Diagnose dazu tendieren, Verhalten zu »normalisieren« – und sei es auch noch so verrückt –, neigen sie nach der Diagnose dazu, auch völlig unauffälliges Verhalten unter dem Blickwinkel zu betrachten, ob es nicht möglicherweise doch Ausdruck der Krankheit sein könnte. So kann dann beinahe alles zum Anzeichen eines Rückfalls werden. Solche Übersensibilität gegenüber scheinbaren Zeichen psychischer Störung führt zwangsläufig zu einer psychischen und sozialen Einengung bei genesenen psychisch Kranken. Die Besorgtheit oder die Ängstlichkeit der Umgebung erschwert die unbefangene Kontaktaufnahme und verkompliziert die zwischenmenschlichen Beziehungen. Das gilt umso mehr, als die in der Öffentlichkeit verbreiteten Vorstellungen und Vorurteile mit der Wirklichkeit psychischen Leidens oft nur wenig zu tun haben. Die durch die psychische Störung beschädigte Identität wird durch die sozialen Reaktionen zusätzlich beeinträchtigt. Der Weg zurück in die »normale« Umgebung wird erschwert. Sozialer Rückzug und soziale Isolierung sind oft die Folgen. Obwohl sich die Etikettierungstheorie als untauglich für die Erklärung der Entstehung psychischer Krankheiten erwiesen hat, ist sie für das Verständnis des weiteren Verlaufs, der Krankenkarriere, von großer Bedeutung, insbesondere wenn wir die Etikettierung als Stressfaktor begreifen.
Soziale Schicht und psychische Krankheit
Soziale Schicht und psychische Krankheit Ein anderer früher sozialpsychiatrischer Forschungsansatz untersuchte die Beziehung zwischen sozialer Schichtzugehörigkeit und psychischer Krankheit. August B. Hollingsheads und Fredrick C. Redlichs berühmte Studie Social Class and Mental Illness (1958) ist der Höhepunkt einer Literatur, die sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren um diese Thematik rankte. Ihre Thesen und Befunde sind vielfach missverstanden worden. Sie haben nicht bewiesen – und wollten das auch nicht –, dass die Zugehörigkeit zur Unterschicht ein erhöhtes Risiko bedingt, an Schizophrenie zu erkranken. Viel wichtiger wurde ihr Nachweis, dass soziale Faktoren, nämlich die Schichtzugehörigkeit, über den Zeitpunkt und die Art der Behandlung sowie den Verlauf und die Prognose der Krankheit mitbestimmen: Liegt die Ersterkrankungsrate (Inzidenz) in der Unterschicht um das Dreifache über der der Ober- und der Mittelschicht, so liegt die Stichtagshäufigkeit (Prävalenz) um das Neunfache darüber! Es liegen also große Unterschiede in der Erkennung und Behandlung von Psychosen vor, was in erheblichem Umfang auf die soziale Stellung der Betroffenen zurückgeht. Um die soziologische Ursachendiskussion ist es in jüngerer Zeit verhältnismäßig still geworden. Es besteht relative Einigkeit darüber, dass die erhöhte Ersterkrankungsrate in den schwachen sozialen Schichten eher Ergebnis einer sozialen Drift – eines sozialen Abstiegs in der Vorphase der Erkrankung – als von sozialem Stress ist. Da die Schizophrenie eine Krankheit mit einer Mehrgenerationenperspektive ist, kann sich auch der durch erhöhte Verwundbarkeit und verminderte soziale Durchsetzungsfähigkeit bedingte Abstieg schon in der Elternfamilie vollziehen. Im Übrigen hat sich gezeigt, dass ein Schichtunterschied nicht mehr nachzuweisen ist, wenn man nicht die Schichtzugehörigkeit der Kranken als Maßstab zugrunde legt, sondern die der Eltern (Kohn 1972; Bromet 1995). Dagegen sind die Befunde über den Einfluss sozialer Faktoren auf den Verlauf und die Prognose zum Ausgangspunkt der modernen praktischen Sozialpsychiatrie geworden. Hollingsheads und Redlichs Hoffnung auf einen »Fünf-Dollar-Psychotherapeuten« für alle Kranken ist eine Illusion geblieben. Aber die Erkenntnis hat sich durchgesetzt, dass
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Ursachen und Anlässe I: soziale und psychologische Aspekte
es notwendig ist, spezifische psychiatrische Dienste für solche Kranken zu schaffen, die nicht aus eigener Kraft den Weg in die Sprechstunde des niedergelassenen Therapeuten finden und die neben ärztlicher vielfältiger sozialer Unterstützung bedürfen.
»Life-Events«: die Rolle lebensverändernder Ereignisse Ein jüngerer Beitrag sozialpsychiatrischer Ursachenforschung besteht im »Life-Event«-Ansatz. Er ist vor allem von den Engländern George Brown und Jim Birley (1968) vorangetrieben worden. Dazu gehört auch die Untersuchung der Bedeutung lebensverändernder Ereignisse für die Auslösung und den Ausbruch schizophrener Psychosen. Eine Häufung im Vorfeld schizophrener Erkrankungen konnte nachgewiesen werden. Aber die Begeisterung über die Ergebnisse der Life-EventForschung hat mittlerweile merklich nachgelassen. Offenbar handelt es sich um etwas Unspezifisches. Eine Häufung solcher Ereignisse lässt sich nämlich auch im Vorfeld von anderen psychischen Störungen und vielfältigen körperlichen Erkrankungen feststellen. Die Ereignisse, die in Betracht kommen, können äußerlich sein, wie körperliche Anstrengung, ständige Überforderung, Not und Katastrophen. Eine Ortsveränderung oder ein Umzug kommen ebenso in Betracht wie Veränderungen in den gewohnten Lebensverhältnissen. Noch bedeutender aber sind Veränderungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen: Verlusterlebnisse, aber auch neue, intensive Beziehungen gehören ebenso dazu wie große Nähe und Intimität: »Die Angst vor der Gefahr, Mitmenschen übermäßig nahe zu kommen, bei gleichzeitig starkem Bedürfnis nach mitmenschlicher Nähe und Liebe, ist der charakteristische Ambivalenzkonflikt des Schizophrenen. Eine enge mitmenschliche Beziehung ohne Angst, ohne Gefahr für das eigene Ich erleben zu können, ist für diese Kranken ein kaum lösbares Problem. Distanzverminderung scheint häufiger als Distanzerweiterung eine Veranlassungssituation für die Erkrankung zu sein« (Tölle 1999). Unabhängig von der Relevanz der Live-Event-Forschung ist hier die klassische Beobachtung zu erwähnen, dass schizophrene Psychosen häufig in Übergangs-, Ablösungs- und Trennungssituationen beginnen
Schizophrenie und Familie
oder wieder auftreten: Dazu gehören der Übergang von der Schule in die Lehre oder ins Studium und die Ablösung vom Elternhaus, die ja nicht selten parallel dazu verläuft, der Aufbau einer Partnerschaft, das Scheitern einer solchen, Heirat und Scheidung, die Geburt eines Kindes (auch für den Mann), die Ableistung des Militärdienstes, der Beginn der beruflichen Tätigkeit. Dies alles sind mit Stress beladene Anpassungs- und Umstellungssituationen, die, unabhängig davon, ob sie erfreulich oder unerfreulich sind, mit erheblichem Stress und psychologischen Belastungen einhergehen. Bei besonders verletzlichen Menschen schlagen sie sich offenbar in erhöhten Erkrankungsrisiken nieder. Sie werden somit gegebenenfalls zum Krankheitsanlass, aber sie sind nicht Ursachen der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis.
Schizophrenie und Familie Die Erkrankung eines Mitglieds bleibt nicht ohne Auswirkungen auf das Beziehungsgeflecht und das emotionale Milieu in der Familie. Letzteres ist oft von charakteristischen Spannungen gekennzeichnet. Nicht selten ist es emotional aufgeladen und für alle Beteiligten belastend. Es gilt als gesichert, dass die Art und Weise des Umgangs der Familienmitglieder miteinander für die Entwicklung und den Verlauf von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis von erheblicher Bedeutung ist. Ein freundlich-entspanntes Familienmilieu verbessert die Prognose; eine feindselig-gespannte Atmosphäre verschlechtert sie. Lange Zeit war die Vorstellung verbreitet, die familiären Beziehungen seien nicht nur für den Krankheitsverlauf von Bedeutung. Das Verhalten einzelner Mitglieder, insbesondere der Mutter, sei vielmehr unmittelbar für die Entstehung der Krankheit verantwortlich. Die komplexen Zusammenhänge von Familiendynamik und Schizophrenie waren seit den frühen Vierzigerjahren Gegenstand sozialpsychiatrischer Forschung. Ihren Höhepunkt hatte sie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Die Galionsfiguren dieser Richtung waren der Psychoanalytiker Theo dor Lidz und der Ethnologe Gregory Bateson. Ihre Konzepte vom Doublebind und von der »schizophrenogenen Mutter« haben weit über die Psychiatrie hinaus Furore gemacht. Sie haben die Entwicklung der
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englischen Antipsychiatrie angestoßen. Der Aufbruchsgeneration der späten Sechzigerjahre haben sie Argumente für die von ihr erhoffte Abschaffung der Kleinfamilie mit auf den Weg gegeben. Sie haben nicht nur zu einem besseren Verständnis schizophrenen Verhaltens und schizophrener Kommunikation beigetragen. Sie haben auch unsägliches Leid über zahllose Familien mit schizophrenen Angehörigen gebracht, indem sie das Verhältnis zwischen gesunden Eltern und krankem Kind als Täter-Opfer-Beziehung interpretierten. Es mag sein, dass sie dabei in mancher Hinsicht missverstanden wurden, dass ihre Ergebnisse und Befunde in vergröberter und verzerrter Form rezipiert wurden. Aber für Therapeuten, Betroffene und die aufgeklärte Umgebung wurden die Eltern, insbesondere die Mütter Schizophrener, zusätzlich zu allem, was diese ohnehin zu erdulden hatten, zu Sündenböcken, zu Schuldigen. Reste dieser Haltung sind noch heute zu spüren. Die Forschungen zur Beziehung von Schizophrenie und Familie haben auffällige Befunde allzu bereitwillig und allzu einseitig unter dem Blickwinkel Ursache und Wirkung interpretiert: Das Verhalten der Eltern sei Ursache der Erkrankung. Das ebenfalls mögliche umgekehrte Erklärungsmodell – das Verhalten der Eltern als Folge der schizophrenen Störung des Kindes – hat allzu wenig Beachtung gefunden. Heute ist das Familienmilieu als verlaufsgestaltender Faktor – auch im positiven Sinne – allgemein anerkannt. Familienmilieu und Familienbeziehungen als Ursache werden fast ebenso einhellig verworfen. Allenfalls werden sie als Anlass bei vorhandener Vulnerabilität anerkannt.
Psychologische und psychodynamische Aspekte Psychologie und Psychoanalyse haben sich, sofern sie nicht einen Bogen um die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis machen, mehr auf die Erklärung schizophrenen Verhaltens konzentriert als auf dessen Ursachen. Paul Federn (1952) war einer der ersten Psychoanalytiker, der sich intensiv damit befasste. Er betonte die »Ich-Schwäche« des Psychosekranken: »Wo Mangel an Ich-Besetzung besteht, kann ein hoch entwickeltes und organisiertes Ich eine hinreichende Besetzung an allen seinen Gren-
Psychologische und psychodynamische Aspekte
zen nicht halten und ist daher der Invasion vonseiten des ent-ichten Unbewussten ausgesetzt.« Aus diesen Gründen wird der Psychosekranke von sonst verdrängten unbewussten Inhalten und Reizen überflutet, gegen die sich sein Ich nicht behaupten kann. Deswegen könne er zwischen Innen- und Außenreizen nicht ausreichend unterscheiden. Ähnlich argumentiert der Tübinger Kinderpsychiater Reinhard Lempp aus entwicklungspsychologischer Sicht: Die Ich-Schwäche bestehe bei vielen später Psychosekranken bereits in der Kindheit. Sie seien als Kinder oft abhängig, unselbstständig und zeigten wenig Widerstandskraft gegenüber den Ansprüchen der Erwachsenen, im Besonderen der Eltern. In der Schule seien sie eher passiv und unauffällig. Die Pubertät verlaufe auffallend ruhig. In späteren Jahren kontrastierten Ich-Schwäche und Lebensanforderungen immer mehr, bis es zur psychotischen Dekompensation komme. Die Entwicklung der Psychose erfolge also mehr aus der inneren Konsequenz der Lebensgeschichte, als es auf den ersten Blick den Anschein habe. Die Schizophrenie betrachtet Lempp als einen Zustand, der durch den Verlust der »Überstiegsfähigkeit« gekennzeichnet sei. Diese entspreche der souveränen Möglichkeit, zwischen der gemeinsamen Realität und einer individuellen Vorstellungswelt zu wechseln. Dieser gemeinsame Realitätsbezug sei das Ergebnis der psychischen Entwicklung der ersten Lebensjahre: »Während beim Kleinkind die gemeinsame Realität und eine individuelle Vorstellungswelt noch gleichberechtigt nebeneinander stehen, gewinnt die gemeinsame Realität bis spätestens zur Einschulung absolute Dominanz« (Lempp 1973). Bei der mangelhaften Besetzung der Ich-Grenzen bzw. bei der IchSchwäche könne der Schizophrene die äußere Welt und deren Reize nicht ausreichend von seiner inneren Wirklichkeit abgrenzen, die neben der Wahrnehmung und Verarbeitung von Außenreizen eine Traumwelt, frei flottierende Gedanken und ungeordnete Gefühle umfasst. Solche Überlegungen nähern sich dem Krankheitskonzept der psychoseerfahrenen Dorothea Buck (mündlich 2002) an. Indem man schizophrenes Verhalten versteht und in seinen inneren Zusammenhängen als sinnvoll interpretiert, leistet man noch keinen Beitrag zur Erklärung seiner Ursachen. Wo solche Versuche unternommen werden, erstaunt es wenig, dass sie die Ursprünge der Störung in der frühen Kindheit suchen – etwa in lebenslanger falscher Kommunikation mit den Eltern oder in traumatischen Erlebnissen. Die bereits angespro-
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chenen familiendynamischen Überlegungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Silvano Arieti (1985/2008), der unter den psychoanalytisch orientierten Autoren der jüngeren Zeit der Frage nach den psychologischen Ursachen der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis wohl am intensivsten nachgegangen ist, fasst seine Überlegungen zusammen: »Ich glaube, dass der künftige Patient in der Kindheit und im späteren Leben nicht nur unter der Eigenwirkung starker negativer Emotionen wie Spannung, Furcht, Angst, Feindseligkeit und Ablehnung zu leiden hat – gleichgültig, wer oder was die ursprüngliche Quelle dieser Emotionen ist, sondern dass er auch mit den Veränderungen seiner Entwicklung fertig werden muss, die die Folge solcher Einflüsse sind, und vielleicht auch mit bestimmten eigenen Merkmalen, die ihn weniger fähig machen, ungünstige Umstände zu bewältigen. Kurz, man macht es sich zu leicht (und die möglichen Folgen sind zu katastrophal), wenn man den übereilten Schluss zieht, die Mutter des Schizophrenen sei für die Krankheit ihres Kindes verantwortlich.« Und er schreibt weiter: »Zusammenfassend kann man sagen, dass die Frühentwicklung des Kindes zweifellos wichtig ist und sich auf sein ganzes übriges Leben auswirkt, einschließlich dessen Gefährdung, an Schizophrenie zu erkranken. Dies ist jedoch nur ein Teil des Gesamtbildes. Zu den psychologischen Ursachen der Schizophrenie müssen wir auch die Art und Weise zählen, wie das Kind seine Umwelt erlebte. Eine außergewöhnliche Empfindlichkeit oder eine besondere bio logische Prädisposition ließen es wahrscheinlich auf bestimmte Reize, insbesondere auf unerfreuliche, zu stark reagieren. Außerdem müssen wir uns ansehen, wie das Kind seine Erfahrungen mit der Umwelt assimiliert, das heißt, wie sie zu Bestandteilen seiner Seele wurden« (Arieti 1985/2008, S. 106). Silvano Arieti betont zugleich, dass er, wie viele andere Autoren, glaubt, dass ungünstige psychologische Bedingungen für sich genommen nicht zu schizophrenen Psychosen führen, wenn keine biologische Prädisposition vorhanden ist. Umgekehrt sei eine biologische Disposition keine ausreichende Ursache schizophrener Störungen, wenn deren Auswirkungen nicht durch eine Reihe ungünstiger psychologischer Umstände verschlimmert werden. Letzten Endes gilt es festzuhalten, dass es zur Frage der psychologischen Verursachung schizophrener Psychosen reichlich vage Theorien gibt und wenig handfeste Befunde. Einige von ihnen mögen künftigen For-
Psychologische und psychodynamische Aspekte
schungen als Leitlinien dienen. Im Übrigen richten sie keinen Schaden an, »solange Vermutungen nicht als erwiesene Tatsachen ausgegeben werden« (ebd.). Soziale und psychologische Faktoren können bei der Auslösung von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis eine Rolle spielen. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft sind sie aber niemals die alleinige Krankheitsursache. Schon deshalb sind Schuldzuweisungen jeglicher Art falsch und unangebracht. Als auslösende Faktoren oder als Anlässe für den Ausbruch der Krankheit kommen unterschiedliche psychologische und soziale Belastungen in Betracht. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind mit Stress verbunden, meist mit anhaltendem Stress. In Verbindung mit konstitutionellen Faktoren und einer vorbestehenden Vulnerabilität können sie die Krankheit auslösen oder zu ihrem vorzeitigen Ausbruch beitragen. Soziale und psychologische Belastungen und der mit ihnen verbundenen Stress sind auch für den weiteren Krankheitsverlauf von großer Bedeutung. Sie können über den günstigen oder weniger günstigen Ausgang mitentscheiden und zu Wiedererkrankungen beitragen. Aber nicht jede Form von Stress wirkt sich ungünstig aus. Es bestehen große individuelle Unterschiede. Deshalb ist es wichtig, dass Kranke, Angehörige und Therapeuten die individuelle Verletzlichkeit jedes einzelnen Patienten erkunden und berücksichtigen.
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
Die neurobiologische Forschung mag uns die Klärung der Ursachen der Schizophrenen Psychosen bislang schuldig geblieben sein. Aber sie hat Unschätzbares dazu beigetragen, sie zu verstehen.
Die Suche nach den biologischen Grundlagen der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis hat in den letzten Jahren zusätzliche Impulse erhalten. Anlass dazu gaben neue Untersuchungsmethoden sowie neue theoretische Überlegungen. Dazu gehören die Computertomografie, Magnetresonanztomografie wie die Positronenemissionstomografien und andere bildgebende Verfahren – vor allem deren funktionelle Formen –, die in der Lage sind, Stoffwechselaktivitäten im Gehirn sichtbar zu machen. Fortschritte der Virologie, der Psychophysiologie und der Biochemie des Gehirns gehören ebenso dazu wie die Entwicklung der Molekulargenetik – die Erforschung von Vererbungseinflüssen auf der Grundlage der Analyse einzelner Gene und ihrer Veränderungen. Unabhängig von den erreichten Fortschritten, die uns manche neurobio logische Zusammenhänge erklären, gilt weiterhin, dass wir die tiefere Ursache der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis nicht kennen und dass es nach wie vor unwahrscheinlich ist, dass sie durch einen einzelnen Faktor erklärbar sein wird. Caspar Kulenkampff (1969) hat in seiner Einführung zu dem Buch Schizophrenie und Familie noch erklären können, der ungeheure Aufwand biologisch-psychiatrischer Forschung habe in Jahrzehnten nichts hervorgebracht als eine Maus. Heute muss man feststellen, es ist immerhin schon ein Kalb! Weitere Fortschritte sind in den nächsten Jahren zu erwarten. Das gilt aus meiner Sicht vor allem für die Erforschung der den schizophrenen Psychosen zugrunde liegenden Stoffwechselprozesse in den Hirnzellen. Dabei ergaben sich auffällige Befunde in speziellen Hirnregionen, die sich in der Psychose durch veränderte Aktivitäten auszeichnen – etwa im Stirnhirn und in bestimmten Bereichen des
Veränderungen der Gehirnstruktur
Zwischenhirns. Die Forschung ist im Fluss. Aktuelle bewertende Zwischenergebnisse finden sich bei Heinz Häfner (2005 und 2010) sowie Wagner F. Gattaz und Geraldo Busatto (2010).
Veränderungen der Gehirnstruktur Immer wieder ist bei schizophrenen Menschen nach Veränderungen des Gehirngewebes oder der Gehirnstruktur geforscht worden. Die Ergebnisse waren enttäuschend. Allerdings gab es schon früh Hinweise darauf, dass bei Menschen, die später schizophren werden, häufiger als bei anderen Geburts- und vorgeburtliche Komplikationen und frühkindliche Hirnschädigungen festzustellen sind. Außerdem zeigt die bildliche Darstellung der mit Flüssigkeit gefüllten Hohlräume des Gehirns gehäuft Erweiterungen und Verlagerungen bestimmter Teile der Hirnhohlräume, insbesondere der dritten Hirnkammer, die mit einem Gewebeschwund im Bereich des Zwischenhirns sowie der ungleichen Größe der Gehirnhälften in Zusammenhang gebracht werden. Die Bedeutung dieser Befunde ist unklar, zumal sie auch bei anderen Störungen gefunden wurden. Sie wird von bestimmten Forschungsrichtungen mit den sogenannten »Basissymptomen« schizophrener Psychosen in Zusammenhang gebracht. Es ist hier jedoch festzuhalten, dass solche Veränderungen keineswegs bei der Mehrheit der schizophren Erkrankten festgestellt werden konnten. Gewiss können derartige Abweichungen nicht als die Ursachen von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis gelten. Es könnte sich um einen Teilfaktor im Bedingungsgefüge handeln. Frühe Störungen der Hirnentwicklung können die biologische Reifung und die psychische Entwicklung beeinträchtigen und somit zur erhöhten Verletzlichkeit des betroffenen Menschen beitragen. Computertomografie und Magnetresonanz-Untersuchungen stellen zwar einen erheblichen Fortschritt dar gegenüber der früher üblichen Röntgenkontrastdarstellung nach Füllung der Hirnhohlräume mit Luft. Dennoch ist die bildliche Darstellung von Gehirn und Hirnhohlräumen in Anbetracht der hohen Differenzierung des Hirngewebes und seiner Strukturen ein recht grobes Verfahren mit begrenzter Aussagekraft. Wichtiger sind die Weiterentwicklungen dieser Verfahren, mit
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
deren Hilfe sich auch physiologische Aktivitäten in den unterschiedlichen Hirnregionen darstellen lassen – mit vielversprechenden Ergebnissen.
Störungen der Gehirnentwicklung In den Neunzigerjahren fanden sich immer mehr Hinweise darauf, dass die seit Langem bekannten Veränderungen der Hirnstruktur zumindest bei einem Teil der Schizophreniekranken auf eine Störung der Hirnentwicklung zurückzuführen ist. Die Forschungen dazu werden noch über lange Zeit nicht abgeschlossen sein. Die Untersuchungsbefunde sind teilweise widersprüchlich. Sie bedeuten jedoch keine Wiederbelebung von Emil Kraepelins Vorstellungen einer fortschreitenden Neurodegeneration mit dem Ergebnis einer »Dementia praecox«. Vieles spricht dafür, dass wir es mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Störung der Gehirnentwicklung und -reifung zu tun haben, ein Prozess, der am Ende des ersten Schwangerschaftsdrittels beginnt und sich bis zum Beginn des dritten Lebensjahrzehnts fortsetzt. Eine solche Theorie integriert beispielsweise auch die Befunde, dass Grippeerkrankungen von Müttern im zweiten Drittel der Schwangerschaft zu einem erhöhten Schizophrenierisiko bei deren Kindern führen. Aus der früheren Virushypothese wird somit die Vorstellung, dass die Grippe eine unspezifische Störung der Gehirnentwicklung bedingt. Zu dieser Theorie gehört auch die Vorstellung, dass es dem Gehirn mit seiner ungeheuren Plastizität über weite Strecken gelingt, die Störung zu kompensieren. Das Ergebnis ist eine erhöhte Vulnerabilität und eine bleibende Gefährdung, die bei zusätzlichen körperlichen oder psychosozialen Belastungen zum Ausbruch der Psychose führen kann. Die Hirnplastizität wiederum ist eine Erklärung dafür, weshalb es spontan oder mit therapeutischer Unterstützung zur Besserung, ja zur vollständigen Wiederherstellung kommen kann – manchmal auf Dauer, oft leider aber nur für begrenzte Zeit. Die Forschung auf diesem Gebiet ist in lebhafter Bewegung. Aus biologischer Sicht verspricht sie für die nächsten Jahre nicht nur weitere Aufklärung, sondern auch konkrete Ansätze für die Therapie (Andreasen 1998; Woods 1998).
Biochemie und Neurobiologie
Die Ansteckung mit langsam wachsenden Viren (Lentiviren) oder Prionen als mögliche Ursache schizophrener Psychosen ist gelegentlich diskutiert worden. Der durch solche Viren bedingte, vor allem in England verbreitete Rinderwahnsinn und seine Ähnlichkeit mit einer seltenen Hirnerkrankung – der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit – hat zu Spekulationen Anlass gegeben. Eine virale Bedingtheit der Schizophrenie ist nach dem heutigen Stand des Wissens jedoch äußerst unwahrscheinlich.
Biochemie und Neurobiologie Die neurobiologische Schizophrenieforschung hat in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht. Sie kann von der gesicherten Annahme ausgehen, dass bestimmten Symptomen wie Zerfahrenheit des Denkens und Halluzinationen mehr oder weniger spezifische Stoffwechselprozesse zugrunde liegen müssen. Schon früher waren schizophrenieähnliche Psychosen beobachtet worden, die durch LSD, Meskalin und andere Substanzen verursacht worden waren. Zwar bestehen erhebliche Unterschiede zur schizophrenen Symptomatik, bestimmte Ähnlichkeiten sind allerdings unverkennbar. Die neuere Biochemie stützt sich auf die Neurotransmitter (Botenstoffe), die für die Übertragung von Nervenreizen von Zelle zu Zelle vor allem im Gehirn von entscheidender Bedeutung sind. Mittlerweile sind Hunderte solcher Botenstoffe bekannt, zahlreiche weitere werden vermutet. Die Forschung konzentrierte sich lange Zeit vor allem auf einen dieser Botenstoffe, das Dopamin. Die gegen schizophrene Störungen eingesetzten Psychopharmaka, die Neuroleptika, werden wirksam, indem sie die Rezeptoren (die Empfänger) der den Reiz aufnehmenden Nervenzellen blockieren. Daraus ist die sogenannte Dopamin-Hypothese der Schizophrenie abgeleitet worden, die davon ausgeht, dass bei Schizophrenien eine zu hohe Dopaminkonzentration in bestimmten Hirnregionen vorhanden ist. Die Veränderungen im Dopamin-Stoffwechsel haben sicher etwas mit der schizophrenen Symptomatik zu tun. Sicher ist, dass auch andere Transmitter bei der Entstehung der Symptome und ihrer Unterdrückung eine Rolle spielen oder zumindest, dass sie biochemischer Ausdruck psychotischer Symptome sind. Über die Ursache besagen diese Verän-
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
derungen zunächst noch nichts. Ihr Stellenwert muss nicht gewichtiger sein als die zu konzentrierte Magensäure bei der Ulkuskrankheit (beim Magengeschwür): Sie löst zwar die unmittelbaren Symptome aus, aber die Frage nach der Ursache verschiebt sich nur um eine Stufe – auf das Problem, warum der Magensaft zu sauer ist. Beim Magengeschwür hat sich inzwischen eine überraschende Antwort ergeben: Der Hauptübeltäter ist ein Bakterium.
Genetische Aspekte Falsche wissenschaftliche Vorstellungen von der Vererbung psychischer Krankheiten und wissenschaftliche Irrwege haben während der Zeit des Dritten Reiches unsägliches Leid über psychisch Kranke und geistig Behinderte gebracht. Die Vererbungsforschung ist deshalb über längere Zeit zu einer verdächtigen Wissenschaft geworden. Sie trat in ihrer Bedeutung auch deswegen in den Hintergrund, weil ihre Ergebnisse beim Menschen sehr an der Oberfläche verharrten. Die neuen Methoden der Molekulargenetik haben eine Änderung bewirkt. Die Suche nach Merkmalen der Schizophrenie – nach »Markern« – auf der Ebene der Gene und Genbestandteile hat auch der psychiatrischen Genetik neue Impulse vermittelt. Allerdings ist der große Optimismus bereits wieder im Schwinden begriffen, der mit der Entdeckung von Veränderungen im Chromosomenpaar 21, der sogenannten Translokation von Chromosomenbruchstücken von einem der beiden Chromosome aufs Chromosomenpaar 5, verbunden war. Ernüchterung ist auf dem Fuße gefolgt, nachdem sichtbar wurde, dass solche Befunde zwar bei einzelnen Kranken mit Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis festzustellen waren, aber bei Weitem nicht bei allen oder lediglich bei einem überwiegenden Teil. Der englische Genetiker Michael Owen (1992) fragte sogar: »Wird die Schizophrenie zum Friedhof der Molekulargenetik?« Gewiss sind in der Molekularbiologie seither Fortschritte erzielt worden. Aber nach wie vor sind wir vor allem auf die Ergebnisse der epidemiologischen Vererbungsforschung angewiesen. Das sind vor allem die Häufung von schizophrenen Psychosen in bestimmten Familien, bei Geschwistern oder noch spezifischer bei Zwillingen. Das Lebenszeitrisiko, an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis zu erkranken,
Genetische Aspekte
wird weltweit mit 0,5 bis 1 Prozent angegeben. Frauen und Männer sind etwa gleich häufig betroffen; Frauen erkranken allerdings später als Männer. An einem gegebenen Stichtag muss man davon ausgehen, dass 200 – 400 von 100 000 Menschen an einer solchen Psychose leiden. Das Risiko, an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis zu erkranken, ist nicht gering, es ist aber deutlich niedriger als jenes, an einem Diabetes mellitus – der Zuckerkrankheit – zu erkranken. Männer erkranken besonders oft zwischen dem 15. und dem 35. Lebensjahr, Frauen zwischen dem 25. und 35. Lebensjahr. Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis kommen in Familien mit schizophrenen Angehörigen gehäuft vor. Konkret ist mit (etwa) folgenden Erkrankungs risiken zu rechnen. Dabei ist die große Varianz der angegebenen Risiken auffällig: Eltern von Schizophrenen: 2 – 10 Prozent • • Geschwister von Schizophrenen: 6 – 12 Prozent • Kinder eines schizophrenen Elternteils: 9 – 16 Prozent • Kinder mit zwei schizophrenen Eltern: 20 – 50 Prozent • Enkel, Neffen: 1 – 3 Prozent Die Zahlen, die Heinz Häfner (2010, S. 54) aufführt, liegen eher im unteren Bereich dieses Spektrums. Weitere Aufschlüsse vermitteln Untersuchungen von Zwillingen. Während die Konkordanzrate – die parallele Erkrankungshäufigkeit – bei zweieiigen Zwillingen jener bei den übrigen Geschwistern entspricht, liegt sie bei eineiigen Zwillingen bei 19 – 80 Prozent. Dabei ist bemerkenswert, dass die höchsten Übereinstimmungen in älteren Studien (etwa Kallmann 1950) gefunden wurden, die niedrigsten in späteren Untersuchungen (etwa Fischer u. a. 1969 und Kringlen 1967), die allerdings auch schon mehr als vier Jahrzehnte alt sind. Heute geht man von einem Risiko von 40 – 60 Prozent aus. Das ist durchaus hoch. Aber für die Frage der Vererblichkeit der Erkrankung ist nicht so sehr von Bedeutung, wie hoch die Übereinstimmungsrate bei der Erkrankung bei eineiigen Zwillingen ist, sondern die Tatsache, dass die Hälfte bis zwei Drittel aller Zwillinge, seien sie nun zusammen oder getrennt aufgewachsen, nicht an Schizophrenie erkranken. Silvano Arieti (1985/2008) bemerkt dazu mit Recht: »Da eineiige Zwillinge genetisch identisch sind, müssen Unterschiede zwischen ihnen auf Faktoren zurückzuführen sein, die nicht erblich
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bedingt sind, und die Nichtübereinstimmung (Diskordanz) ist bei eineiigen Zwillingen in Bezug auf Schizophrenie größer als die Konkordanz. Wenn die Schizophrenie eine rein genetisch bedingte Krankheit wäre, dann müsste die Konkordanz 100 Prozent betragen. Welche genetischen Faktoren auch immer bei der Schizophrenie beteiligt sind, sie scheinen nur ein Potenzial, das heißt eine biologische Prädisposition für diese Krankheit beizutragen; andere Faktoren sind notwendig, um dieses Potenzial zu einer manifesten Krankheit werden zu lassen. Wenn Gene diese Prädisposition in sich tragen, dann müssen sie durch andere Faktoren, möglicherweise in der späteren Entwicklung des Individuums, aktiviert werden.« Letzten Endes fand die Zwillingsforschung bei der Schizophrenie keine grundsätzlich anderen Ergebnisse als etwa jene für das Risiko, an Tuberkulose zu erkranken – die ja nach allgemeinem Verständnis keine Erbkrankheit ist. Auch hier ist das parallele Erkrankungsrisiko bei eineiigen Zwillingen deutlich höher als bei zweieiigen. Ein weiterer Untersuchungsweg der epidemiologischen Vererbungsforschung besteht in der Untersuchung von Adoptivkindern. Dabei werden grundsätzlich zwei unterschiedliche Wege beschritten: Zum einen werden Kinder von schizophrenen Eltern untersucht, die als Adoptivkinder bei gesunden Eltern aufwachsen; zum anderen Kinder gesunder Eltern, die in Familien aufwachsen, in denen ein Elternteil an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis leidet. Trotz vielfältiger methodischer Schwierigkeiten gibt es eine Tendenz, dass Kinder mit einem schizophrenen Elternteil, die in einer gesunden Familie aufwachsen, mit einem erhöhten Risiko von schizophrenen Psychosen und anderen psychischen Störungen behaftet sind. Es wird jedoch immer wieder darauf verwiesen, dass neben tatsächlichen genetischen Faktoren eine Reihe von anderen Faktoren im Zusammenhang mit der vorgeburtlichen Entwicklung und der Geburt eine Rolle spielen, die die genetischen Risiken verdecken. Der Vererbungsforscher Herbert Weiner bilanziert schon 1984: »Die hier zusammengefassten Untersuchungen lassen verschiedene Interpretationen zu: 1. Genetische Faktoren spielen wahrscheinlich für einige Formen der Schizophrenie eine Rolle; etwa 25 Prozent der ätiologischen Varianz könnte allein genetischen Faktoren angelastet werden. 2. Monozygote (eineiige) Zwillinge haben ein beträchtlich größeres Risiko, an einer Schizophrenie zu erkranken, als dizygote (zweieiige) Zwil-
Genetische Aspekte
linge. Monozygote Zwillinge entstammen nur einer Plazenta. Bei ihnen besteht ein erhöhtes Risiko für eine ganze Reihe von Erkrankungen, nicht nur für Schizophrenie; bei monozygoten Zwillingen kommt es auch häufiger zu intrauterinen Schädigungen. Der einfache anatomische Umstand der intrauterinen Ernährung durch die gemeinsame Blutversorgung ist von größerer Bedeutung als alle Risikofaktoren und selbst der gemeinsame genetische Satz. 3. Schizophrene Mütter übertragen tatsächlich das Risiko einer psychiatrischen Erkrankung, wie etwa der Schizophrenie, auf ihre Kinder; dies geschieht jedoch nicht notwendigerweise auf genetischem Weg, sondern kann auch perinatal erfolgen; möglicherweise hat es etwas mit der Ernährung der noch nicht geborenen Kinder zu tun.« Es bleibt also festzuhalten, dass auch die Vererbungsforschung keine befriedigende Erklärung für die Entstehung der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis liefert. Über die Feststellung Manfred Bleulers, auf jeden Fall werde nicht die Schizophrenie vererbt, sondern allenfalls die »Fähigkeit«, schizophren zu erkranken, sind wir in den letzten Jahrzehnten offenbar nicht hinausgekommen. Dazu passen auch neuere Befunde, dass es nicht nur auf die genetische Ausstattung eines Menschen ankommt, sondern auch und vor allem auf die sogenannte Genexpression. Es hat sich herausgestellt, dass vorhandene Gene durch äußere Einflüsse »an- und abgeschaltet« werden können. Darüber ist noch vieles unklar. Aber einiges spricht dafür, dass dies für die nächsten Jahre ein dankbares Forschungsfeld sein wird. Es scheint sogar nicht ausgeschlossen, dass sich hier Interventionsmöglichkeiten eröffnen. Nichts anderes ist gemeint, wenn in der neueren quantitativen Genetik der Schizophrenie Vererbungsmodelle entwickelt werden, die von einer kontinuierlichen Variablen (»liability to schizophrenia«) ausgehen. Damit sind alle jene genetischen Faktoren gemeint, die das individuelle Krankheitsrisiko unabhängig von Auslösern und Umweltfaktoren bestimmen (Häfner 1989). Ähnliches gilt für das von John Zubin und Bonnie Spring (1977) formulierte Konzept der Vulnerabilität, auf das ich oben bereits eingegangen bin und auf das ich im Folgenden noch öfter zurückkommen werde.
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Vulnerabilität: Die Ursachen sind nicht bekannt Die kritische Betrachtung der mannigfachen Vorstellungen von möglichen Ursachen der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis hinterlässt Ratlosigkeit. Keiner der vorgetragenen Erklärungsversuche vermittelt eine wirkliche Erklärung, obwohl die Fortschritte der biologischen Forschung beeindrucken. Keiner der als möglich angenommenen ursächlichen Faktoren ist wirklich die Ursache. Dennoch wäre es falsch, die vorliegenden Ergebnisse und Befunde der Ursachenforschung einfach als untauglich zu verwerfen. Auch negative Ergebnisse sind Ergebnisse. Auch die Widerlegung von Annahmen hilft dem Forschen wie dem Denken weiter. Ich möchte eine Zwischenbilanz zu ziehen versuchen.
Zwischenbilanz Es ist ja keineswegs so, dass die beschriebenen biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren gar nichts mit der Entstehung der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis zu tun hätten: Es gibt eine familiäre Häufung der Erkrankung. Sie tritt häufiger gleichsinnig bei eineiigen als bei zweieiigen Zwillingen auf. Sie wird häufiger bei adoptierten Kindern psychotischer Mütter beobachtet als bei solchen von gesunden Müttern. Lebensverändernde Ereignisse spielen eine Rolle im Entstehungsgefüge; vor allem aber wirken sie sich auf den Verlauf aus. Psychosoziale Spannungen innerhalb der Familie, mit dem Partner oder mit der übrigen unmittelbaren Lebensumwelt spielen bei Manifestation und Verlauf eine Rolle. Die Definition eines psychisch veränderten Menschen als »krank« wirkt sich auf seine weitere Lebensentwicklung aus. Belastende, lebensverändernde Ereignisse, wie sie sich in Eckpunkten der Entwicklung junger Erwachsener in besonderer Deutlichkeit niederschlagen, stehen unverkennbar im Zusammenhang mit Auslösung und Weiterentwicklung schizophrener Psychosen. Biochemische Veränderungen im Gehirn sind zumindest während der Psychose nachweisbar. Die leichten Veränderungen der Gehirnstruktur, die überzufällig häufig sind, und die beschriebene größere Häufigkeit von traumatischen Ereignissen im
Vulnerabilität: Die Ursachen sind nicht bekannt
Zeitraum vor oder nach der Geburt verdienen es ebenfalls, als Befunde festgehalten zu werden. Aber alle diese Befunde liefern keine Erklärung für die Entstehung der Erkrankung. Nach allem, was wir über die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis wissen, ist dies auch nicht zu erwarten. Vieles spricht dafür, dass wir es nicht mit einer in Ursache, Erscheinung und Verlauf einheitlichen Krankheit zu tun haben. Die Benennung der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis als »Gruppe der Schizophrenien«, die Eugen Bleuler gewählt hat, unterstrich das von Anfang an. Es ist vielmehr wahrscheinlich, dass es mehrere »Phänotypen« mit gleicher Erscheinungsform gibt, die letzten Endes aber eine unterschiedliche Entstehungs- und Entwicklungsgrundlage haben. Im Lauf von mittlerweile über hundert Jahren Schizophrenieforschung hat es immer wieder Erklärungsansätze gegeben, denen keine einheitliche Entstehungsursache der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis zugrunde lag. Sie sind vielmehr immer wieder von einer multifaktoriellen Bedingtheit ausgegangen. Sie haben ein Bedingungsgefüge, ein Zusammenspiel von unterschiedlichen Faktoren bei der Entstehung der Krankheit angenommen. Die erste Theorie war die Degenerationshypothese. Sie besagte, dass die Widerstandsfähigkeit gegenüber psychischen Krankheiten unter bestimmten Umständen von Generation zu Generation geringer werde. Trunksucht der Eltern war ein solcher Faktor, der für die Erkrankung von Kindern verantwortlich gemacht wurde. Sie wurde später durch eine grob gestrickte Vererbungstheorie abgelöst, die zu unsäglichem zusätzlichen Leid für viele Kranke und ihre Angehörigen führte. Während des Dritten Reiches wurden unter dem Vorwand der »Verhütung erbkranken Nachwuchses« etwa 400 000 kranke und gesunde, aber angeblich belastete Menschen sterilisiert – die meisten unter Zwang.
Vom Diathese-Stress-Modell zur Vulnerabilität In den letzten Jahrzehnten standen vor allem zwei Modelle in Konkurrenz zueinander: das lerntheoretische und das »Diathese-Stress-Modell«. Das lerntheoretische Modell geht davon aus, Fehler und Belas tungen in der psychosozialen Entwicklung seien für die Entstehung der Krankheit verantwortlich. Das Diathese-Stress-Modell bringt angelegte Eigenschaften und Stress miteinander in Verbindung.
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
Das vom Deutschamerikaner Joseph Zubin (Zubin/Spring 1977) formulierte Vulnerabilitätskonzept ist eine Sonderform des DiatheseStress-Modells. Es geht von der Feststellung aus, »dass biologische und Umweltfaktoren für die Entwicklung der Schizophrenien in irgendeiner Weise von Bedeutung sind, kein Faktor für sich allein genommen jedoch eine notwendige oder hinreichende Bedingung darstellt, eine Krankheitsepisode auszulösen«. Zubin leitet daraus das Vulnerabilitätskonzept ab, das potenziell in der Lage sei, unterschiedliche Ursachenmodelle zu integrieren und eine Reihe von Widersprüchen auf dem Gebiet der Schizophrenieforschung aufzuklären. Das Vulnerabilitätskonzept ist kein Krankheitsmodell: »Es setzt nicht die Existenz eines zugrunde liegenden Krankheitsprozesses voraus (ein Umstand, den es mit dem lerntheoretischen Modell gemeinsam hat). Jedoch unterscheidet es den Schizophrenen vom Normalen, indem es bei jenem eine überdauernde Prädisposition postuliert, die unter bestimmten, zuvor erläuterten Bedingungen die Entwicklung einer Krankheitsepisode begünstigt.« Joseph Zubin zur Vulnerabilität: »Die Notwendigkeit einer Vulnerabilitätsannahme im Gegensatz zum Pos tulat eines Krankheitsmodells ist dem genetischen Modell inhärent, da die Gen-Penetranz selten 100 Prozent erreicht. Es ist deshalb nötig, für die als Genotyp angelegte, aber nicht zum Ausbruch gekommene Schizophrenie eine Bezeichnung zu finden, die diesen vom geäußerten Genotyp oder Phänotyp abgrenzt. Die Bezeichnung ›vulnerabel‹ für ein Individuum, das den Genotyp nicht als sichtbare Störung manifestiert hat, scheint dem oben genannten Bedürfnis zu entsprechen. Das vielleicht eindrucksvollste historische Beispiel für die Notwendigkeit einer Vulnerabilitätsannahme lieferte die dramatische Darbietung Max Pettenkofers, der ein öffentliches Experiment durchführte, in dem er und einige seiner Studenten sich im Selbstversuch mit Cholera-Bakterien infizierten. Weder bei ihm noch seinen Studenten kam die Krankheit zum Ausbruch oder führte gar zum Tode (Hume 1927). Sie waren vermutlich entweder nicht vulnerabel für Cholera oder es fehlten die erforderlichen Voraussetzungen, damit die Krankheit ihren Verlauf nehmen konnte. Die Anwendung des Vulnerabilitätskonzepts auf die Schizophrenie ist eine neuere Entwicklung« (Zubin 1990, S. 45).
Selbstverständlich liefert auch das Vulnerabilitätskonzept keine bindende exakte Erklärung für die Entstehung der schizophrenen Psycho-
Vulnerabilität: Die Ursachen sind nicht bekannt
sen. Zubin hält vielmehr fest, dass es eine Frage des Zeitgeistes zu sein scheine, welche Modelle zu einem gegebenen Zeitpunkt akzeptiert würden. Immerhin sind weder der Begriff noch das Konzept neu. Es kann sich auf historische Vorläufer wie etwa Wilhelm Griesinger berufen: »Erwägt man die außerordentliche Häufigkeit aller der schädlichen Einflüße, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben werden, und ihre doch verhältnismäßig seltene Entstehung aus denselben, so wird man mit Notwendigkeit zur Annahme geführt, daß es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete, daß eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krankheiten den – zuweilen wenig intensiven – erregenden Ursachen entgegenkommen müße« (Griesinger 1845, S. 101). Das Konzept hat sich seit der Neuformulierung durch Zubin weiterentwickelt. Nach dem heutigen Stand verstehen wir unter der Vulnerabilität jene den Menschen kennzeichnende Eigenschaft, »die sich unter bestimmten provozierenden oder auslösenden Umständen in der Entwicklung einer Krankheitsepisode manifestiert. Man nimmt an, dass die Eigenschaft der Vulnerabilität zeitlebens erhalten bleibt, dass sich jedoch die auslösenden oder herbeiführenden sowie die moderierenden Kräfte verändern können, indem sie deren Potenz, eine Episode herbeizuführen oder zu verhindern, entweder verstärkt oder abschwächt. Als Auslöser kommen sämtliche Stressoren in Betracht, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass eine Episode ausbricht. Denkbar wären äußere Ereignisse, wie zum Beispiel ein dramatisches Lebensereignis, ein inneres Geschehen, vielleicht eine mit Stress zusammenhängende Veränderung im Immunsystem oder wie immer geartete länger anhaltende Irritationen oder Störungen, die schließlich einen kritischen Stellenwert erreichen, der genügt, eine Episode in Gang zu setzen« (Zubin 1990, S. 49 f.). Grundlage der Vulnerabilität kann eine genetisch bedingte Anlage sein. Sie kann aber auch im Zusammenhang mit anderen biologisch bedingten, zeitstabilen Fehlentwicklungen in Verbindung stehen, mit einer Behinderung der neurobiologischen Reifung oder einer psychophysiologisch bedingten Störung der Informationsverarbeitung im Gehirn. Der Berner Sozialpsychiater Luc Ciompi hat bereits 1984 auf der Grundlage des Vulnerabilitätsmodells ein »bio-psycho-soziales Dreiphasenmodell« der Entwicklung schizophrener Psychosen formuliert.
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Ursachen und Anlässe II: biologische Aspekte und Vulnerabilität
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Seine schematische Darstellung erleichtert das Verständnis des Vulnerabilitätsmodells. Sie macht zugleich dessen Grenzen deutlich. Es handelt Grafikum voneine SeiteVorstellung 94 aus »Verstehen« sich von den möglichen Zusammenhängen, nicht um eine Beschreibung der Wirklichkeit. Langzeitverlauf der Schizophrenie in drei Phasen (nach Ciompi 1984) 1 Prämorbide Vorphase
Biologische Faktoren
Psychosoziale Faktoren
Prämorbide Verletzlichkeit 2 Krankheitsausbruch
Zusätzliche Belastungen Akute Psychose
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Völlige Heilung
Rü c k fä
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Schwere Chronifizierung
Die Vulnerabilität selbst ist nicht beeinflussbar. Es gibt aber Hinweise darauf, dass Kranke lernen können, mit ihrer Vulnerabilität umzugehen, belastenden Situationen auszuweichen und auf diese Weise selbst zu ihrer psychischen Gesundheit beizutragen. Offensichtlich muss einiges zusammenkommen, damit ein Mensch an einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis erkrankt.
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Behandlungsgrundsätze
»Die Schizophrenietherapie ist die dankbarste für den Arzt.« Eugen Bleuler
Schizophrene Psychosen sind schwere Erkrankungen. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil sind sie sehr wohl behandelbar, nicht immer gut, aber oft befriedigend. Sie sind zwar mit medizinischen Mitteln nicht heilbar, aber sie sind auch nicht unheilbar: Wir wissen seit mittlerweile hundert Jahren, dass sie bei etwa einem Drittel der Kranken ausheilen – mit oder ohne Behandlung. Wir wissen auch, dass ihr Verlauf bei einem weiteren Drittel günstig ist – dies in Abhängigkeit von kompetenter Behandlung. Ein letztes Drittel trifft die ganze Schwere des psychotischen Leidens. Bei ihnen ist der Krankheitsverlauf chronisch-rezidivierend – wiederkehrend und andauernd. Aber auch diesen Kranken können wir helfen: Symptome lindern, Leiden mindern und dabei unterstützen, zu lernen, mit ihrer Krankheit zu leben. Das fordert Geduld von allen Beteiligten. Eines aber unterscheidet die Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis von fast allen anderen bedrohlichen Krankheiten: Die Diagnose entscheidet nicht über die Prognose. Die Diagnose ist nicht das Ende, wie das Vorurteil sagt, wie Kranke, Angehörige und manchmal leider auch Behandelnde dies erleben, wenn die Krankheit ihren Namen erhält. Sie ist der Anfang der Auseinandersetzung mit einem Leiden, das tief in das eigene Leben eingreifen wird, einer Auseinandersetzung aber, in der man die Oberhand behalten kann wie bei anderen schweren Erkrankungen auch. Aber das Vorurteil von der Schizophrenie als »unheilbarer«, unheimlicher, ja verrufener Krankheit wirkt nach. Dieses Bild – in der Soziologie nennt man es »soziale Repräsentation« – wird zu einer Komplikation. Es behindert die Therapie. Es behindert die Entschlossenheit des therapeutischen Engagements bei den Behandelnden und bewirkt oft Kleinmut und Pessimismus bei den Kranken und ihren Angehörigen. Aus diesem Grunde muss immer das Stigma der Krankheit, das die Kranken zutiefst verletzt, zugleich mit dem Grundleiden behandelt werden.
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Behandlungsgrundsätze
Wege der Behandlung Die Schizophrenietherapie stützt sich heute auf drei zentrale Säulen: die Medikamentenbehandlung, die Psychotherapie und Verfahren der sozialen Behandlung, die gemeinhin Milieu- oder Soziotherapie genannt werden. Hinter Letzterem verbergen sich vielfältige Maßnahmen sozia ler Unterstützung, Rehabilitation, Trainingsverfahren, Selbsthilfe, Arbeits- und Beschäftigungstherapie, Hilfe bei der Gestaltung freier Zeit zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und vieles andere mehr. Die Psychotherapie wird gemeinhin an erster Stelle genannt. Im Alltag spielt sie leider nicht die Rolle, die ihr zukommt. Im psychiatrischen Alltag hat vielmehr die Medikamentenbehandlung den ersten Platz. Viele Therapeuten räumen das nur ungern ein, aber die Medikamente haben – vor allem in der Akutbehandlung – ihren zentralen Platz. In der akuten Psychose sind sie es erst einmal, die die Kranken von ihrer Angst entlasten, von ihrer Furcht, beeinträchtigt, verfolgt oder vergiftet zu werden. Sie helfen ihnen, das Durcheinander ihrer Gedanken wieder zu ordnen und die Kontrolle über die eigenen Gefühle zurückzugewinnen. Sie tragen günstigenfalls dazu bei, ihnen ein Stück innerer Ruhe zu vermitteln, die sie in dieser Situation dringend brauchen. Das können auch Tranquilizer sein. Vorsicht ist geboten, wenn Patienten Angst vor Vergiftungen haben und dies auch auf die Medikamente beziehen. Gewiss, Psychopharmaka sind nicht ohne Nebenwirkungen. Aber auch hier gilt der Grundsatz der gesamten Medizin: Wirksame Medikamente haben Nebenwirkungen. Die entscheidende Frage ist jene nach dem Risiko und dem Nutzen der Behandlung. Die Antwort fällt bei der akuten Psychose mit Einschränkungen zugunsten der Behandlung mit Neuroleptika aus. Ausnahmen mag es bei kurzen Episoden geben, die auch von allein abklingen würden. Ansonsten ist die Medikamentenbehandlung bei der akuten Psychose das einfachste, wirksamste, schnellste und schonendste Verfahren, um den Kranken zu helfen. Psychotherapie hat in der akuten Phase der Erkrankung den Charakter einer begleitenden Therapie. Psychotherapie ist in dieser Phase vor allem Unterstützung, Führung, Ermutigung. Mit Abklingen der akuten Krankheitsepisode nimmt sie mehr Platz ein. Im Rahmen der Wiederherstellung kann dann die Medikamentenbehandlung zur unterstützenden, die Psychotherapie zur führenden Behandlung werden. In dieser Phase hilft sie
Behandlung individualisieren
den Kranken bei der Bewältigung des Krankheitserlebens, der Krankheitserfahrung und der Krankheitsfolgen. Sie hilft ihnen, ihre Lebenssituation zu klären, ihre Persönlichkeit und ihre Gefühlswelt vor dem Hintergrund der psychotischen Erkrankung zu entwickeln. Sie hilft ihnen auch, ihre individuelle Verletzlichkeit zu erkunden und nach Wegen zu suchen, mit ihr umzugehen und Krankheitsrückfällen vorzubeugen. Alles dies macht die medikamentöse Unterstützung nicht überflüssig. Die langzeitige Medikamentenbehandlung kann im Gegenteil eine wirksame Grundlage der Rückfallprophylaxe sein und ist dies in sehr vielen Fällen auch tatsächlich. Soziotherapie ist nicht so eindeutig abzugrenzen und einzuordnen wie Medikamentenbehandlung und Psychotherapie. Ein bewusst gestaltetes therapeutisches »Milieu« ist in allen Krankheitsphasen sinn- und hilfreich. Ergotherapie, Musiktherapie, künstlerische Gestaltung und andere kreative und aktivierende Betätigungen gehören vor allem im Krankenhaus zum Standard der psychiatrischen Therapie. Im therapeutischen Alltag gewinnen sehr viel banale Aspekte zentrale Bedeutung: die Strukturierung der Zeit, Betätigung oder Arbeit, die eigene Wohnung und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie entscheiden neben der Medikamentenbehandlung und Psychotherapie über den langfristigen Verlauf und den Ausgang der Psychose und wirken sich auf die Symptomatik, die Bereitschaft und das Vermögen der Kranken aus, an der Behandlung mitzuwirken. Damit ist das Feld abgesteckt. Darüber hinaus braucht es vor allem Beharrlichkeit und Geduld – und viel Zeit.
Behandlung individualisieren Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis sind vielfältig. Ihre Behandlung muss sich an die Art und Ausprägung des Krankheitsbildes anpassen. Sie muss dem einzelnen kranken Menschen in seiner jeweiligen Situation gerecht werden und muss auf die individuelle Krankheitssymptomatik abgestimmt sein. Sie muss den Kranken helfen, ihr Leiden aktiv zu bewältigen oder zumindest mit ihm leben zu lernen. Schizophrenietherapie verlangt Erfahrung, Engagement, Geduld und Zuwendung vonseiten der Behandelnden. Zugleich stellt sie hohe An-
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Behandlungsgrundsätze
forderungen an die Kranken selbst: Geduld und Ausdauer und die Bereitschaft zur Mitarbeit. Erfolgreiche Therapie der Schizophrenie verlangt auch, dass die Kranken ihre Erfahrungen mit ihrem Leiden in die Behandlung einbringen. Zusammenarbeit und Kooperation stehen als Leitmotiv über der erfolgreichen Behandlung schizophrener Psychosen. Ob die Kooperation gelingt oder nicht, entscheidet neben der Krankheitssymptomatik über Gelingen oder Scheitern der Therapie, über psychosoziale Integration oder soziale Isolierung, über langfristige Krankheitsfolgen. Therapie hat auch mit der Haltung zu tun, mit der man den kranken Menschen und ihrem Leiden gegenübertritt. Ob man optimistisch ist oder pessimistisch, ob man resigniert ist oder kampfbereit, ob man einen langen Atem hat oder nicht – alles dies spielt eine Rolle. Damit will ich nicht sagen, dass es opportun oder auch nur zulässig sei, den Ernst und die Schwere der Erkrankung zu bagatellisieren. Im Gegenteil, eine konstruktive Auseinandersetzung mit der Psychose setzt voraus, dass man die Gefahr und die Risiken dieser Krankheit zur Kenntnis nimmt und sich ihnen stellt. Die Behandelnden haben diese konstruktive Haltung mit in die Therapie einzubringen – von Anfang an und auf Dauer. Wer den Kranken mit dem klassischen Bild von der Unheilbarkeit gegenübertritt, sollte die Finger von der Schizophrenietherapie lassen.
Wider das Verzagen: die Haltung der Angehörigen Was für die Therapeuten gilt, trifft auch für die Angehörigen zu. Auch bei ihnen muss die erste Intervention der Überwindung von Angst und Verzagtheit gelten. Dazu gehört eine umfassende Aufklärung über die Art der Krankheit, über den Verlauf, die Möglichkeiten der Behandlung, über den Stand des medizinischen Wissens und über die Auswirkungen der Stigmatisierung psychischer Störungen auf sie selbst, ihre Umgebung und ihr krankes Familienmitglied. Oft reicht das ärztliche Gespräch dazu nicht aus. Zum einen brauchen die Angehörigen Zeit, sich in ihr Schicksal zu finden. Zum anderen brauchen sie, wenn die Krankheit andauert, Informationen und Rat zum Verhalten Schizo-
Über Behandlung verhandeln
phreniekranker zu Hause und zum Umgang damit. Dabei können andere Betroffene helfen, etwa Angehörigenvereinigungen und -selbsthilfegruppen. Mit einem Kranken in der Familie zu leben ist keine leichte Sache. Das müssen die Mitglieder erst lernen. Man muss es nicht nur mit dem Kopf lernen, sondern auch emotional verkraften. Man muss begreifen und sich damit abfinden, dass das eigene Kind – darum geht es ja meistens – mit einiger Wahrscheinlichkeit ein anderes Leben führen wird, als man erwartet und erhofft hat. Es nützt den Kranken nichts, wenn die Angehörigen ihrer eigenen Verzweiflung über die Mitbetroffenheit ihren Lauf lassen, wenn sie sich Vorwürfe machen, sei es über die Erziehung, sei es über irgendwelche Spannungen, die zwischen ihnen und dem Kranken bestehen oder bestanden haben. Das Ziel ist es, ein gewisses Maß an Gelassenheit, zumindest aber Gefasstheit zu erreichen, das es möglich macht, die Kranken in schwierigen Situationen zu stützen und zu führen, sie dazu zu bewegen, Hilfe anzunehmen und mit ihren Therapeuten zusammenzuarbeiten. Auch dies ist oft keine leichte Sache.
Über Behandlung verhandeln Dass Therapeutinnen und Therapeuten nicht vor der Krankheit verzagen sollten, die zu behandeln ihre Aufgabe ist, gehört zu den Banalitäten des berufsspezifischen fachlichen Handwerks. Dass Angehörige ihrer Rolle als Unterstützer und Helfer besser gerecht werden können, wenn sie selbst emotional stabil sind, versteht sich von selbst. Dass es gilt, auch die Kranken selbst für die Mitarbeit an der Therapie erst zu gewinnen, ist hingegen nicht so selbstverständlich. Das widerspricht leider immer noch dem Selbstverständnis vieler Therapeuten. Früher ist die Patientenrolle in der Psychiatrie wie in der Allgemeinmedizin eher als eine passive begriffen worden. Der Gedanke, dass die Kranken selbst mitwirken können, hat sich zunächst in der Psychotherapie und in der Rehabilitationsmedizin ausgebreitet. Dabei sollte allen Beteiligten klar sein, dass es bei der Gefahr eines langzeitigen Krankheitsverlaufs unabdingbar ist, dass Therapeuten und Kranke miteinander kooperieren. Nur gemeinsam können sie den besten Weg finden, um
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die Ressourcen an gesunden Kräften zu aktivieren und die Verletzlichkeiten zu berücksichtigen, um die bestmögliche und tragfähigste Form der Behandlung auszuloten (vgl. Finzen 2010). Es kann heutzutage nicht mehr angehen, dass Therapeuten sich auf die Vorstellung von der fehlenden »Krankheitseinsicht« (»Compliance«) bei Schizophreniekranken zurückziehen. Es mag schon sein, dass viele Kranke zu Beginn der Psychose Schwierigkeiten haben zu begreifen, dass das, was mit ihnen geschieht, was sich in ihnen abspielt, aus der Sicht der Medizin eine Erkrankung ist und dass man ihnen mit medizinischen Mitteln helfen kann. Es ist Aufgabe der Therapeutinnen und Therapeuten, ihnen das zu vermitteln, gegebenenfalls mit ihnen darum zu ringen und die fehlende Krankheitseinsicht nicht als unveränderbares Symptom eigener Art stehen zu lassen. Manchmal bedarf es dazu vieler Anläufe. Wer krank ist und ärztlicher Hilfe bedarf, wird die letzten Abschnitte mit Recht kritisieren. Sie sind arztzentriert, paternalistisch. Sie tun so, als sei der Arzt in der Beziehung zum Kranken »Herr des Verfahrens« und nicht der Patient. Das liegt natürlich auch daran, dass ich selbst Arzt bin und trotz aller Aufgeklärtheit immer wieder dazu neige, mein eigenes Handeln in den Mittelpunkt zu stellen. Ich weiß aber, dass ich in Wirklichkeit ein »Dienstleister« bin – ein Wort, das Ärzte nur ungern hören. In Wirklichkeit sind die Kranken die Auftraggeber – die Subjekte des Handelns und nicht mehr nur die Objekte einer Medizin, die alles besser weiß. Therapeuten und Patienten sind – ausgesprochen oder unausgesprochen – Partner in einem Behandlungsvertrag, den die Patienten, anders als die Ärzte, jederzeit kündigen können. Dass das im Alltag alles nicht so einfach ist, steht auf einem anderen Blatt. Phasenweise gibt der Patient vielleicht sogar die Entscheidungsgewalt ab: Wenn man sehr krank ist, wenn man gar hilflos ist, dringend der Hilfe bedarf, dann nimmt man diese gern an, ohne sich über die Vertragsbedingungen Gedanken zu machen. Aber dass es einen Vertrag gibt, wird über die Maßen deutlich, wenn man sich einer Operation unterziehen muss: Eine solche erfolgt nur, wenn man nach gründlicher Aufklärung sein schriftliches Einverständnis erklärt. Alles andere wäre unzulässig, wäre als Körperverletzung strafbar. Der Kranke ist auf die Hilfe des Chirurgen angewiesen, dennoch kann der Arzt nicht über den Kopf des Kranken hinweg tun, was er will beziehungsweise was er für gut und richtig hält. Vergleichbares
Über Behandlung verhandeln
gilt für jede Form der Behandlung. Aufgeklärte Freiwilligkeit ist immer die Voraussetzung für medizinisches Handeln. Dass es in Ausnahmefällen einen übergesetzlichen Notstand geben kann, muss in diesem Zusammenhang nicht interessieren. Dass in der Psychiatrie immer wieder – sicher zu häufig – gesetzlich mangelhaft geregelte Zwangsmaßnahmen ausgeübt werden, darf nicht als Ausrede dafür gelten, den Willen des Patienten routinemäßig gering zu achten.
Der Patient ist der Boss Um es salopp zu formulieren: Der Patient ist der Boss – in der Psychiatrie wie in der übrigen Medizin. Gewiss, die Fachleute haben das Wissen. Aber deswegen liefern die Kranken sich ihnen nicht aus. Sie beanspruchen ihre Hilfe und zahlen dafür gutes Geld – wenn auch meist indirekt über ihre Krankenversicherungsbeiträge. Eine Voraussetzung dafür, dass die Behandlung optimal verläuft, ist eine vertrauensvolle partnerschaftliche Beziehung auf Augenhöhe. Und die herzustellen ist – in der Psychiatrie noch mehr als in anderen medizinischen Disziplinen – eine Bringschuld der Therapeuten. Das mag nicht immer einfach sein, aber anders geht es nicht. Dabei geht es nicht nur um den eigentlich selbstverständlichen Respekt, der den Kranken entgegenzubringen ist, sondern auch um die Wirksamkeit der Behandlung. Es ist mittlerweile eine Binsenwahrheit, dass bestmögliche Behandlungserfolge bei lang andauernden Erkrankungen nur durch die Kooperation, die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Kranken und ihren Therapeuten, zu erreichen sind. Das gilt für Psychotherapie, Milieutherapie und andere soziotherapeutische Maßnahmen, für die Entwicklung von Verhaltensregeln sowie für die Medikamentenbehandlung. Es kann nicht darum gehen, dass die Kranken einfach akzeptieren, was die Ärzte ihnen nahelegen. Vor allem in der Krankheit erfahren sie, was ihnen guttut und was nicht. Und wenn die Ärzte anderer Auffassung sind, müssen sie das den Kranken erklären. Sie müssen versuchen, es mit ihnen auszuhandeln und dabei auch Kompromisse schließen, wenn der medizinisch bestmögliche Weg für die Kranken nicht gangbar ist. Wenn sie das nicht tun, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass viele Kranke die Behandlung vorzeitig abbrechen.
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Damit dies nicht geschieht, ist es Aufgabe der Behandelnden, von Anfang an einen gemeinsamen Weg mit den Kranken zu suchen. So ist es beispielsweise seit fast drei Jahrzehnten bekannt, dass unbearbeitete schlechte Erfahrungen mit Psychopharmaka bei der Erstbehandlung zu langzeitigen Vorbehalten gegenüber solchen Medikamenten führen und auf diese Weise die Behandlungschancen auf Dauer nachhaltig verschlechtern. Ich will im Folgenden versuchen, das am Beispiel einiger Eckpunkte der Psychopharmakotherapie zu erläutern, die erfahrungsgemäß am häufigsten zu Dissonanzen, zu Verständigungsproblemen zwischen Behandelnden und Kranken führen.
Zum Beispiel: die Medikamentenbehandlung mitbestimmen Der erste Eckpunkt ist der Beginn der Pharmakotherapie in der akuten Phase der Psychose. Seit wir die Möglichkeit haben, akute Symptome zu beeinflussen, ja sie mithilfe von Neuroleptika zu unterdrücken, ist die Versuchung groß, dies mit allem Nachdruck zu tun. Wir glauben, damit im Sinne unserer Patientinnen und Patienten zu handeln. Wir übersehen dabei manchmal, dass diese die Erfahrung ihrer Krankheitssymptome brauchen, um zu begreifen, was an ihnen verändert ist, was mit ihnen los ist. Wenn die Symptome zu rasch verschwinden, nehmen wir ihnen möglicherweise die Chance, die Psychoseerfahrung zu verarbeiten. Zudem beschwören wir die Gefahr herauf, dass die Kranken die Nebenwirkungen unserer Medikamente von Anfang an als schlimmer erleben als die Symptome ihrer Krankheit. Damit können die Chancen einer konstruktiven Zusammenarbeit oder Medikamentenbehandlung auf Dauer vergeben sein. Die Mitbestimmung bei Art und Dosierung der Medikation ist die Grundlage für eine vertrauensvolle Medikamentenbehandlung, die ja oft über Monate oder Jahre andauern wird. Medikamente wirken unterschiedlich auf die Kranken, Nebenwirkungen sind unterschiedlich ausgeprägt. Medikamente werden aber auch unterschiedlich gut vertragen. Manche Kranke sind eher bereit, ein gewisses Maß an Müdigkeit in Kauf zu nehmen als das Gefühl der Versteifung ihrer Muskulatur. Bei anderen ist es gerade umgekehrt. Bei manchen findet man durch Zusammenarbeit eine nebenwirkungsfreie oder nebenwirkungsarme Kombination, die durch allein »objektive« Beurteilung nie zu erreichen gewesen wäre. Manche Patienten schlagen vor, am Wochenende mehr
Über Behandlung verhandeln
Medikamente zu nehmen, weil sie diese Zeit als besonders belastend erleben. Andere schlagen eine Verminderung der Dosis vor, weil sie am Wochenende entspannt sind und dann bei ihren Freizeitaktivitäten weniger gedämpft sind. Der Tübinger Psychiatrie-Ordinarius Gerd Buchkremer (1992) hat schon vor vielen Jahren seine positiven Erfahrungen mit der Patientenmitbestimmung bei der Pharmakotherapie dargestellt (siehe dazu auch Terzioglu 2005). Einige eigene Beispiele unterstreichen die oben vorgetragenen Überlegungen. Y Beispiel Eine
junge Studentin wurde nach einem Klinikaufenthalt mit wenig Haloperidol symptomfrei, lebens- und studierfähig. Sie drängte, auch unter dem Einfluss ihres Freundes und ihrer Kommilitonen, auf rasche weitere Reduktion und schließlich auf das Absetzen der Medikamente. Die Symptome kehrten bald zurück. Sie musste wieder in die Klinik aufgenommen werden. Wenige Wochen nach der Entlassung begann das Spiel abermals – mit demselben Ergebnis, nur dass wir diesmal eine Klinikaufnahme vermeiden konnten. Nach der dritten Krise – und nach anderthalb Jahren – vereinbarten wir schließlich, dass sie unter Haloperidol ihr Examen machen würde. Kaum hatte sie das hinter sich, nahm sie keine Medikamente mehr ein. Wir waren uns über die Risiken im Klaren, aber sie schienen mir und ihr vertretbar zu sein. Es dauerte nur wenige Wochen, bis sie erneut zur Aufnahme kam. Erst jetzt begann sie zu begreifen, dass sie auf Medikamente angewiesen war. ô Ein anderes Beispiel:
Y Beispiel
Ein jüngerer Lehrer, der vorzugsweise in den Ferien immer wieder in psychotische Krisen geraten war, die nach Klinikbehandlung regelmäßig zu einer vollen Wiederherstellung geführt hatten, lehnte eine Dauermedikation ab. Er lernte es im Lauf der Zeit, sich so zu beobachten, dass er die beginnenden Krisen bei lockerem Telefonkontakt mit dem Therapeuten schließlich durch Selbstmedikation abfangen konnte. ô Diese Beispiele betreffen Patienten, bei denen Symptomfreiheit erreichbar ist. Das ist bei vielen anderen leider nicht der Fall. Dies sind oft Kranke, bei denen besonders hohe Dosen Neuroleptika über lange Zeit verabreicht werden. Ich meine, für diese Patientinnen und Patienten bedarf es besonderer Behandlungsstrategien, besonderer Akzente der
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Risiko-Nutzen-Abwägung für die Langzeitbehandlung mit Medikamenten – letzten Endes auch, weil diese Gruppe der besonderen Gefahr unterliegt, Spätdyskinesien zu entwickeln. Hier gilt es, mit den Patienten zu klären, wie viel an Symptomatik sie ertragen können und wie viel an Medikamentennebenwirkungen sie auf sich nehmen wollen.
Verletzlichkeit erkennen Es scheint so zu sein, dass die Gruppe jener Patientinnen und Patienten, die nach vielfältigen vergeblichen Versuchen der Medikamentenbehand lung ohne Neuroleptika leben, im Zunehmen begriffen ist. Das mag nicht zuletzt daran liegen, dass die »Therapiewut« im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts abgenommen hat, dass wir gelernt haben, die Grenzen des Machbaren besser wahrzunehmen und zu respektieren und dass wir das Symptom nicht mehr nur als Ärgernis für den Kranken und den Psychiater wahrnehmen, sondern zugleich als Eigenart, als Teil der Biografie des betroffenen Menschen. Krisen in der Herkunftsfamilie, in Partnerschaft und Beruf rufen im Ineinandergreifen mit der Krankheit Schwankungen im Befinden der Kranken hervor. Das persönliche Dilemma, das sich immer wieder auftut, ist bisweilen nicht ohne merkwürdige Züge: Eine junge Frau zum Beispiel, die immer wieder unter unerträglicher psychotisch induzierter Angst leidet, ist symptomfrei, wenn sie nicht zur Arbeit geht. Die Angst kehrt wieder, sobald sie ihre Berufstätigkeit wieder aufnimmt – auch nach einem Arbeitsplatzwechsel, auch in einer stützenden und beschützenden beruflichen Umgebung. Sie möchte aber arbeiten gehen. In ein ähnliches Dilemma geriet diese Patientin in einer Übergangszeit auch, als sie sich auf die Partnerschaft mit ihrem künftigen Mann einließ. Ähnliche Erfahrungen hatte sie bereits früher gemacht, wenn sie mehr als nur oberflächlich Kontakt zu Männern knüpfte. Sie konnte ganz klar formulieren, dass sie deswegen »darauf« nicht verzichten wollte, und machte selbst den Vorschlag, es einmal mit einer kurzzeitigen Erhöhung der Medikation zu versuchen. Mit Erfolg. Erfahrungen mit der Medikation zu sammeln, gehört zu den weniger komplizierten Dingen, mit denen Psychosekranke konfrontiert sind. Es gibt vieles andere, das schwieriger zu erlernen ist. Das beginnt für viele mit der bitteren, kaum zu ertragenden Erfahrung, dass die Psychose mit dem Abklingen der Symptomatik und der Konsolidierung nicht zu Ende
Über Behandlung verhandeln
ist: mit dem Begreifen, dass die Therapeuten mit ihren weisen Sprüchen doch Recht hatten, dass die Psychose möglicherweise ein Leiden auf lange Zeit ist, mit dem zu leben sie lernen müssen. Solches Lernen ist möglich. Viele Psychosekranke lernen, ihre eigene Vulnerabilität einzuschätzen, Situationen zu erkennen, in denen sie besonders verletzlich sind, und diese zu meiden. Für die einen ist das eine übermäßige Nähe anderer Menschen, manchmal auch in Gestalt belangloser Geselligkeit. Für die anderen ist es gerade die Einsamkeit und Isolation von sozialen Kontakten. Für die einen sind es die überflutenden Lichtreize abendlicher Städte in der Rushhour. Für andere ist schon die Hintergrundmusik im Radio zu viel. Wieder andere benötigen die unverbindliche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in großen Städten durch Beobachtung und Dabeisein. Nicht wenige schaffen es, jene Arbeitssituation zu identifizieren und zu finden, in der sie sich wohlfühlen und ihre Pflichten erledigen können. Wenn alles dies möglich ist, wenn viele Psychosekranke ihren eigenen Weg finden können, muss es auch möglich sein, anderen dabei zu helfen. Voraussetzung dafür ist, dass wir Fachleute es auch lernen, auf Belastungsfaktoren zu achten, sie zu erkennen und mit den Kranken darüber zu sprechen. In der Sprache der Wissenschaft von Irmgard Thurm und Heinz Häfner liest sich das (bereits 1991) folgendermaßen: »Insgesamt bestätigen unsere Ergebnisse die Anwendbarkeit des Konzepts der Krankheitsbewältigung, das ursprünglich für somatische Erkrankungen entwickelt wurde, auf eine rückfällige oder chronische psychische Erkrankung wie die Schizophrenie. Dabei sind allerdings einige Besonderheiten dieser Erkrankung zu berücksichtigen. Wie auch die Ergebnisse der wenigen bisher zum Thema durchgeführten Studien zeigen, ist der Früherkennung von Krankheitssymptomen und der Krankheitseinsicht der Patienten besondere Bedeutung zuzumessen. Unsere Befragung ergab, dass im Umgang mit der Krankheit erfahrene Patienten die größten Beeinflussungsmöglichkeiten zu einem sehr frühen Stadium, vor Ausbruch einer erneuten akuten Krankheitsepisode, sahen. Für die klinisch-therapeutische Arbeit mit Schizophrenen ergeben sich bereits einige Folgerungen: Neben der neuroleptischen Medikation kann die Verbesserung der Selbstwahrnehmung der eigenen Vulnerabilität und ihrer individuellen Auslösesituation einen wichtigen Beitrag zur Rückfallverhütung darstellen. Informationen und Aufklärung über
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allgemeine Risiken für Wiedererkrankung genügen nicht. Der Patient sollte auch zur Selbstbeobachtung seiner Reaktionen auf bestimmte, meist idiosynkratische Belastungen angeleitet werden. In einem zweiten Schritt könnten dann die bereits vorhandenen, oft nach dem Versuchund-Irrtum-Prinzip selbst entwickelten habituellen Bewältigungsmechanismen exploriert und bekräftigt werden. Wo solche fehlen, könnten neue Bewältigungsmöglichkeiten erarbeitet und eingeübt werden.« Die Nutzung des Selbsthilfepotenzials Psychosekranker steht erst am Anfang. Wir wissen noch sehr wenig über die Bewältigungsstrategien Betroffener, die diese möglicherweise schon immer eingesetzt haben. Die Selbsthilfebewegung, die während der letzten Jahre zunächst zaghaft eingesetzt und sich dann mit großer Kraft verbreitet hat, wird uns neue Impulse vermitteln. Aber auch die psychiatrische Forschung hat die Fähigkeit kranker Personen, sich selbst zu helfen, verstärkt zum Gegenstand gemacht. Die Bereitschaft zur gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Krankheit ist so groß wie nie zuvor. Es besteht Anlass zu Optimismus für die Zukunft. Die erfolgreiche Behandlung psychischer Störungen setzt voraus, dass Kranke, Angehörige und Therapeuten zusammenarbeiten, dass sie möglichst an einem Strick in dieselbe Richtung ziehen. Dazu müssen sie sich über die Krankheit, die Möglichkeiten der Behandlung und die Behandlungsziele verständigen. Das ist in vielen Fällen schwierig. Aber die Mühe lohnt. Die Zeiten, in denen Ärzte einfach anordnen und verordnen konnten, sind vorbei. Wenn nicht wenigstens ein minimales gemeinsames Konzept erarbeitet werden kann, sind der Behandlungsabbruch und die Wahrscheinlichkeit der Wiedererkrankung vorprogrammiert. Dagegen verbessert die gemeinsame Gestaltung der Behandlung die Prognose erheblich.
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Die akute Psychose
»Seien Sie der Berater des Patienten; nicht sein Bewacher.« Johan Cullberg
In der Theorie ist die Behandlung der akuten Psychose einfach. Eine akute schizophrene Psychose könne jeder behandeln, habe ich in meiner Zeit als Chef eines psychiatrischen Landeskrankenhauses immer wieder gegenüber meinen Universitätskollegen betont. Gemeint war: im Vergleich zur chronisch-rezidivierenden Verlaufsform, um die sich Akutkliniken oft nur widerwillig kümmern. Außerdem unterscheidet sich die Theorie, wie wir alle wissen, in vieler Hinsicht von der Praxis, vom psychiatrischen Alltag. Leider ist der übliche Behandlungsrahmen in psychiatrischen Kliniken, die geschlossene Aufnahmestation, denkbar ungeeignet für die Behandlung von verängstigten Menschen mit akuten psychotischen Störungen. Das gilt in besonderem Maße für Ersterkrankte. Hier ist dringend Abhilfe geboten. Darauf im Einzelnen einzugehen, sprengt allerdings den Rahmen dieses Buches.
Medikamentenbehandlung bei akuten Krisen Im Alltag ist die akute schizophrene Psychose – bei aller Kritik – vorrangig die Domäne der Medikamentenbehandlung. Neben dem – eigentlich – selbstverständlichen Angebot eines beruhigenden und entängstigenden Stationsmilieus und der psychologisch-psychotherapeutischen Stützung und Führung hat die Neuroleptikabehandlung bei der akuten Psychose Vorrang. Das gilt besonders, wenn die produktive Symptomatik mit Angst, Denkstörungen, Wahn, Halluzinationen und Zuständen der psychomotorischen Erregung im Vordergrund steht. Das gilt aber auch beim Überwiegen von affektiven Störungen, von Störungen des Gefühlserlebens. Bei sogenannten negativen Symptomen mit Verminderung des Antriebs, Apathie und sozialem Rückzug sowie bei Störungen des Wollens und Handelns allerdings gerät die Medikamentenbehand-
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lung an ihre Grenzen. Diese Symptome sind eine Domäne der Soziotherapie in Form von sozialer Stimulation – dazu weiter unten mehr. Neuroleptika wirken – insbesondere bei Ersterkrankungen – im frühen Stadium auch in geringen Dosen recht zuverlässig auf die produktiven Symptome. Unter ihrer Einwirkung verschwindet zuerst die Angst, später allmählich die Halluzinationen und die Störungen des Denkens. Die Wahngewissheit löst sich auf. Der Rückkehr in die Realität der Lebenswelt der gesunden anderen wird der Weg gebahnt. Dies ist das Feld, auf dem Neuroleptika bei richtiger Anwendung segensreich wirken und jeder anderen Behandlungsmethode überlegen sind. Richtige Anwendung bedeutet: angemessene (niedrige) Anfangsdosierung, Ausbalancierung von Wirkungen und Nebenwirkungen sowie Absprache und Aussprache mit den Kranken darüber, wo immer möglich. Richtige Anwendung bedeutet nicht, die Symptome der Krankheit möglichst rasch mit möglichst hohem Medikamenteneinsatz wegzudrücken. Die Symptome sind Zeichen der Krankheit. Sie sind nicht die Krankheit. Durch die Behandlung der Krankheitssymptome werden die Kranken in die Lage versetzt, sich mit der Psychose, wie sie sie erleben und wie sie sie beeinträchtigt, auseinanderzusetzen und sie im günstigen Fall zu bewältigen. Daraus lässt sich ableiten, dass sich die Medikamentenbehandlung nicht in der schematischen Verabreichung einer chemisch wirksamen Substanz mit dem Ziel des Ausgleichs der Neurotransmitterbalance erschöpft. Sie ist vielmehr ein komplexer therapeutischer Ansatz, in den psychotherapeutische und soziotherapeutische Elemente von Anfang an einzubinden sind. Da Neuroleptika nur symptomatisch wirken, schließt die richtige Anwendung ein, dass behandlungsbedürftige Symptome vorhanden sein müssen. Auch dann empfiehlt es sich besonders bei Ersterkrankten, wann immer möglich, einige Beobachtungstage einzuschalten, bevor man handelt. In einer solchen Vorphase können Tranquilizer vom Benzodiazepintyp hilfreich sein (siehe Finzen 2009, 2011; Greve u. a. 2011). In dieser Phase der Behandlung entscheidet sich häufig die künftige Grundeinstellung der Kranken zur Psychiatrie, zu den Möglichkeiten der Medikamentenbehandlung und ihren Alternativen, zu spezifischen Substanzen und – das ist das Wichtigste – zur Krankheit selbst. Sie ist von entscheidender Bedeutung dafür, ob die Kranken sich der Psychose und der Behandlung hilflos ausgeliefert fühlen oder ob sie sie als etwas
Medikamentenbehandlung bei akuten Krisen
begreifen, dem sie sich stellen können und müssen; mit dem sie sich aktiv auseinandersetzen können und das sie allein oder mit fremder Hilfe ganz oder teilweise bewältigen und überwinden können. Wir wissen auch, dass negative Erfahrungen mit Neuroleptika in dieser Phase prägend sind.
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Zusammenfassend lässt sich zu den Direktiven der pharmakologischen Behandlung von Psychosen Folgendes sagen: Besonders wenn Angstsymptome auftreten, werden zu Beginn Benzodiazepine verschrieben. Schlafprobleme sollten so schnell wie möglich behoben werden. Erwarten Sie keine Wirkung der Neuroleptika in den ersten Tagen nach Beginn der Behandlung. Liegt eine schwere und destruktive Psychose vor, sollte die Behandlung mit Neuroleptika früher begonnen werden. Benutzen Sie anfangs niedrig dosierte Neuroleptika. Wenn Patienten zum ersten Mal behandelt werden, sollten einmal oder zweimal täglich 0,5 – 1 mg Haloperidol-Äquivalente verschrieben werden. Bei Patienten, die bereits zu früheren Gelegenheiten mit Neuroleptika behandelt wurden, ist anfangs manchmal eine höhere Dosis erforderlich. Treten EPS auf, versuchen Sie erst die Dosis zu reduzieren und verschreiben Sie dann ein atypisches Neuroleptikum. Depotpräparate sind nur eine Alternative bei Fällen lang andauernder Psychose, wenn der Patient nicht mit der Behandlung in Tablettenform umgehen kann. Setzen Sie nicht mehrere Neuroleptika gleichzeitig ein. Ist der Patient frei von der Psychose, sollte eine langsame Reduzierung oder Umstellung der Neuroleptika versucht werden. Spricht der Patient binnen einem bis zwei Monaten trotz einer Erhöhung der Dosierung nicht auf die Behandlung an, sollte die Serumkonzentration überprüft werden. Ist diese zufriedenstellend, sollte ein Wechsel zu einem (anderen) atypischen Neuroleptikum vollzogen werden. Ist immer noch keine Reaktion festzustellen, reduzieren Sie die Dosis gegen null, um zu sehen, ob die Symptome sich ändern. Ältere Patienten brauchen oft erheblich niedrigere oder minimale Dosen. Nachdem Neuroleptika viele Jahre angewendet wurden, sollte ein Versuch, sie auszuschleichen, sehr langsam stattfinden, vielleicht über eine Phase von sechs Monaten bis zu einem Jahr.
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• Im Falle einer häufigen Wiederkehr von Psychosen mit affektiven Merkmalen
sollte man es mit Lithium probieren. [Vorsicht mit dieser Regel!] • »Verhandeln« Sie mit dem Patienten und lassen Sie ihn bei der Behandlung mitreden. Nach den Erfahrungen von Rückfällen lernen die meisten Menschen mit Neuroleptika umzugehen. • Seien Sie der Berater des Patienten, nicht sein Bewacher. Ist der Patient überhaupt nicht fähig zu kooperieren und droht eine gefährliche Situation, dann müssen die Medikamente zwangsweise verabreicht werden. Dies sollte »sanft, aber bestimmt« erfolgen und von einer Erklärung begleitet sein, warum die Zwangsmedikation notwendig ist.
(Leitlinien der Medikamentenbehandlung der Psychosen von Johan Cullberg 2008, S. 263)
Zuwendung Wer in der akuten Phase der Erkrankung die therapeutische Zuwendung von Pflegern und Schwestern, Ärztinnen und Ärzten positiv erlebt hat, wer in dieser Zeit gespürt hat, wie die Medikamente dazu beigetragen haben, ihn zunächst zu entängstigen, dann das psychotische Erleben mehr und mehr zu kontrollieren und sich später davon zu distanzieren, wird die Krankheit und die Psychiatrie ganz anders betrachten als jemand, der von vornherein als unmündiger, unselbstständiger Patient ohne entsprechende stützende und vermittelnde Zuwendung mit hohen Dosen von Medikamenten »beruhigt« worden ist, ohne dass er viel gefragt wurde. Patientinnen und Patienten mit negativen Erfahrungen berichten in der Rückschau nicht selten davon, dass die Medikamente für sie schlimmer waren als die Krankheit. Sie berichten über quälende Nebenwirkungen, durch die sie die ängstigenden und bedrückenden Krankheitssymptome gar nicht mehr gespürt haben – also auch deren Rückgang unter der Medikamenteneinwirkung nicht. Sie sind diejenigen Kranken, die später erzählen werden, die Behandlung sei schlimmer als die Krankheit selbst gewesen. Es ist leicht einzusehen, dass die negative Haltung, die sich aus dieser Erfahrung entwickelt, ein erheblicher komplizierender Faktor für den weiteren Krankheitsverlauf ist. Bei diesen Patienten ist kaum damit zu rechnen, dass sie sich zu einer regelmäßigen rückfallprophylaktischen
Zeit und Geduld
Medikation bereitfinden – eher schon, dass sie die Neuroleptika absetzen, sobald sie aus der Klinik entlassen worden sind. Bei diesen Personen ist aber auch kaum zu erwarten, dass sie die Haltung der beteiligten Therapeutinnen und Therapeuten ihnen gegenüber als verständnisvoll erlebt haben.
Frühes Einbeziehen der Kranken – vertrauensvolle Beziehungen entwickeln Was bedeutet das für die Praxis? Es bedeutet, dass wir versuchen müssen, die Psychosekranken von dem Augenblick an, in dem sie sich in Behandlung begeben – oder in diese gebracht werden –, in die Gestaltung ihrer Behandlung einzubeziehen, die von uns geplanten und veranlassten Maßnahmen zu erklären und ihre Zustimmung dafür einzuholen. Es bedeutet aber auch, dass wir vor allem bei krankheitsunerfahrenen Patientinnen und Patienten vom ersten Augenblick an versuchen müssen, eine möglichst schonende Form der medikamentösen Intervention zu praktizieren. Gehen wir vom psychopathologischen Bild aus, ist dies – außer im akuten psychomotorischen Erregungszustand – fast immer möglich. Die früher übliche Praxis, bei der Aufnahme mehr oder weniger undifferenziert hochpotente Neuroleptika hoch dosiert zu verabreichen, um für Ruhe zu sorgen, sollte überwunden sein. Wenn anfangs eine entängstigende, beruhigende Medikation erforderlich ist, so kann sie vor der Verabreichung eines Neuroleptikums genauso, aber sehr viel schonender, durch Tranquilizer herbeigeführt werden, etwa durch Dia zepam (Valium) oder Lorazepam (Tavor, Temesta), die im Übrigen beide auch injiziert werden können. Wenn diese auf die Zeit der akuten Krise beschränkt ist, besteht auch kein Abhängigkeitsrisiko.
Zeit und Geduld Was bei der Depressionsbehandlung als Selbstverständlichkeit gilt, was Medizinstudentinnen und -studenten bereits in der ersten Psychiatrievorlesung lernen, scheint im Hinblick auf die Schizophrenietherapie bis-
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lang nicht ausreichend zur Kenntnis genommen worden zu sein: Auch die Neuroleptikabehandlung braucht Zeit. Nur die Sedierung bei Angst und Erregung ist rasch erreichbar. Alle anderen Symptome mildern sich günstigenfalls nach Tagen. Zurückbilden werden sie sich erst nach Wochen. Diese Phase des geduldigen Wartens lässt sich nicht durch höhere Medikamentendosen verkürzen, im Gegenteil: Sie ist anderweitig sehr gut therapeutisch nutzbar. Wenn die Angst nachlässt, wenn die Kranken sich ihren Symptomen und ihrem entfremdeten Erleben nicht mehr im vollen Umfang ausgeliefert fühlen, dann ist der richtige Zeitpunkt für das eingehende Gespräch über die Krankheit gekommen. Das gilt vor allem, wenn eine Ersterkrankung vorliegt. Dann müssen wir davon ausgehen, dass die Betroffenen bis dahin kaum eine Chance gehabt haben, wahrzunehmen, dass das, worunter sie leiden, eine der medizinischen Behandlung zugängliche Krankheit ist. Im Gegenteil, wir können es als recht wahrscheinlich annehmen, dass sie sich bis dahin von etwas überwältigt fühlten, das sie ihrem »Wesen«, ihrem durch Herkunft und Erziehung vermittelten Erleben und Bewusstsein entfremdet hat, das massiv in ihre Lebenswelt eingebrochen ist und sie ratlos gemacht hat. Wir nennen das oft vorschnell »fehlende Krankheitseinsicht«. Dieser Begriff ist, so richtig er »objektiv« – also in der Außenschau – auch erscheinen mag, unzulänglich und unangemessen. Die Psychose befällt genau jene Fähigkeiten des Menschen, die es ihm erlauben, seiner selbst und seiner Stellung in der Welt gewiss zu sein – gegenüber anderen Menschen wie gegenüber sich selbst. Mit anderen Worten: Es sind Fähigkeiten erkrankt, die es ihm in gesunden Tagen erlauben würden, zu erkennen, dass er krank ist. Deshalb drängt es sich auf, dieses scheinbare Paradox aufzulösen, sobald der Zustand der Kranken das möglich macht.
Die Erfahrung der Krise Die beste Zeit dazu ist jene Phase, in der die Psychose die Kranken nicht mehr überwältigt, in der sie ihren Zugriff aber noch in aller Deutlichkeit spüren. Es ist in mancher Hinsicht ähnlich wie in der Kriseninter-
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vention. Die Erfahrung der Krise macht die Patientinnen und Patienten therapeutisch zugänglicher, als sie dies in »normalen« Lebenssituationen sind. Die Erschütterung durch die Psychose, das Nicht-sicher-Sein, ob eine Wahrnehmung, eine Idee, eine Beobachtung »real« ist, ob sie real sein kann oder nicht, macht es den Psychosekranken erst möglich, den erlebten psychotischen Krankheitszustand als »fremd«, als aufgezwungen, als »nicht normal«, zuletzt auch als Krankheit zu erleben, einzuordnen und zu begreifen. Dies ist bereits kognitiv ein schwieriger Prozess, emotional erst recht. Das ist es aber nicht allein. Eine erfolgreiche Bewältigung ist mit der Erkenntnis verbunden, psychisch krank zu sein. Das wiederum bedeutet eine zweite, ganz reale Erschütterung der eigenen psychosozialen Identität. Die Person muss sich selbst gegenüber zugeben, dass sie an einer ernsten Krankheit leidet, die mannigfachen gesellschaftlichen Vorbehalten unterworfen ist, die stigmatisiert ist – und zwar nicht mit Vorurteilen und Vorbehalten, die man so einfach zurückweisen kann, sondern die man in gesunden Tagen selbst geteilt hat, die man bei Licht betrachtet auch jetzt noch teilt. Mit anderen Worten: Das Selbstbild nimmt Schaden. Nachdem die eigene Identität durch die Psychose in hohem Maße verletzlich geworden ist, wird sie durch das erlebte soziale Stigma zusätzlich beschädigt.
Psychoinformation und Psychoedukation Therapeuten und Patienten sind in der frühen Phase der Erkrankung mit einer gewaltigen Aufgabe konfrontiert. Diese fällt auch dann nicht in sich zusammen, wenn sich die psychotische Symptomatik unter der Medikamentenbehandlung zurückbildet und die Psychose scheinbar folgenlos ausheilt. Man muss in diesem Zusammenhang »scheinbar« sagen, denn die Erschütterung durch das Erlebnis der Psychose bleibt in jedem Fall bestehen. Betrachtet man die therapeutischen Aufgaben im Einzelnen, so lassen sich folgende Schritte unterscheiden: • Klärende Unterstützung bei der Suche nach einer verlässlichen Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit. • Hilfe bei der Abtastung der jeweiligen Position und des jeweiligen Erlebens zwischen eigener Wirklichkeit und der der anderen.
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• Fortwährende Klärung, worum es sich bei den erlebten oder wahrgenommenen Einzelphänomenen handelt und worum nicht: Angst, Wahn, Halluzinationen, Apathie. Benennung dieser Phänomene mit umgangssprachlichen und mit medizinischen Begriffen. • Klärung und Aufklärung, dass es sich dabei um Krankhaftes gehandelt hat bzw. immer noch handelt und dass dieses Krankhafte beschreibbar ist. Benennung der Krankheit; schonende Aufklärung über die Diagnose; • allgemeine schonende, aber umfangreiche Aufklärung über die Art der Erkrankung, ihre Einordnung in den Bereich der psychischen Störungen, ihre möglichen Verlaufsformen, ihre Prognose, die therapeutischen Möglichkeiten und die Chance, durch aktive Auseinandersetzung selbst auf den Verlauf einwirken zu können. Aufklärung über die Diagnose heißt auch, dass Wörter wie »Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis«, »schizophrene Psychose« oder »Schizophrenie« irgendwann fallen müssen. Für den Alltag reicht es, von »psychischer Störung« oder lediglich von »Psychose« zu sprechen. Der Schrecken, den die Benennung der Krankheit als Schizophrenie immer noch auslöst, darf kein Grund sein, den Kranken die wissenschaftliche Bezeichnung ihrer Störung auf Dauer vorzuenthalten, zumal sie sie irgendwann doch erfahren (spätestens bei Recherchen im Internet) und dann womöglich unter brutalen Umständen. Das bedeutet aber nicht, dass die Aufklärung während der akuten floriden Psychose gleichsam gegen den Willen des widerstrebenden Patienten erfolgen darf. Dies sind Schritte der Aufklärung, die man heute unter der Überschrift »Psychoinformation« oder »Psychoedukation« zusammenfasst. Sie sind verständlicherweise keine Angelegenheit einer einzelnen therapeutischen Sitzung. Sie bedürfen der Geduld, des Fingerspitzengefühls, der Empathie und: Sie müssen vor allen Dingen viele Male wiederholt werden. In diesen Rahmen gehört auch die Grundlegung für die Stigmabewältigung, für die Auseinandersetzung mit befürchteten und realen Vorurteilen.
Milieutherapie
Psychotherapie All das ist schon im weiteren Sinne Psychotherapie. Das mag diejenigen überraschen, die unter Psychotherapie ein systematisches Verfahren vor dem Hintergrund eines geschlossenen theoretischen Konzeptes und definierter Behandlungstechniken verstehen. Aber dieses Vorgehen entspricht der klassischen Definition Hans Strotzkas (1975) von Psychotherapie, die von der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapeutische Medizin als »nach wie vor gültig« bezeichnet wird: »Psychotherapie ist ein bewusster und geplanter interaktionärer Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal, aber auch averbal in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung) und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.« Auf dem Hintergrund dieser Definition (die trotz vieler Fremdwörter verständlich sein sollte), wird allerdings deutlich, dass zum psychotherapeutischen Umgang mit Psychosekranken in der beginnenden Besserungsphase sowohl im Hinblick auf die Theorie wie im Hinblick auf die Praxis noch einiges an Nachdenken ansteht. Während der akuten Psychose ist es entscheidend, dass ganz einfache Formen psychotherapeutischer Betreuung und Begleitung im Vordergrund stehen: Zuhören, gut Zureden, Beruhigung, Zuwendung, Trost, Unterstützung bei der Suche nach Realität und Abgrenzung.
Milieutherapie Bei der Begleitung von Kranken und Angehörigen überschneiden sich psychotherapeutische und soziotherapeutische Ansätze. In der Tat haben Pharmakotherapie und Psychotherapie, wie oben geschildert, in der Akutphase gegenüber spezifischen soziotherapeutischen Maßnahmen den Vorrang. Das bedeutet nicht, dass der soziotherapeutische Zugang
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im Sinne der Gestaltung des therapeutischen Milieus in dieser Phase ohne Bedeutung ist. Soziotherapie konzentriert sich in dieser Phase vor allem auf das Angebot eines schonenden, beruhigenden, klar strukturierten menschenwürdigen Behandlungsmilieus mit einzelnen aktivierenden Elementen. Ein solches Milieu soll vermeidbare soziale Belastungen von den Kranken fernhalten, Überforderungen vermeiden und die Bearbeitung von Alltagskonflikten zurückstellen. Zugleich soll es vermitteln, dass sozia ler Rückzug bis zu einem gewissen Grad und für eine begrenzte Zeit erlaubt und sogar erwünscht ist, und gewährleisten, dass die Anforderungen an das Alltagsleben auf einer psychiatrischen Akutstation möglichst wenig widersprüchlich und klar verständlich sind. Das bedeutet auch, dass möglichst wenige unterschiedliche Mitarbeitende an einem Patienten »herumtherapieren« sollten. Ein behandelnder Arzt soll verantwortlich sein, ein Bezugspfleger oder eine Bezugsschwes ter soll ihn gemeinsam und in Absprache mit diesem Arzt betreuen. Therapeutische Entscheidungen sollen im Konsens zwischen Kranken und Therapeuten erarbeitet werden. Dazu gehören Absprachen über einen geregelten Tagesablauf. Anders als im restriktiven Milieu der alten psychiatrischen Überwachungsstation bedeutet das, individuelle Lösungen zu suchen und zu finden. Etwa: In der Regel steht man hier um sieben Uhr morgens auf, frühstückt gemeinsam um acht und geht um neun in die Beschäftigungstherapie. Aber im Einzelfall kann es sein, dass jemand zu krank, zu verletzlich, zu schonungsbedürftig ist, um sich zum gegebenen Zeitpunkt diesen Regeln und Pflichten zu unterwerfen. Der Hinweis auf solche Ausnahmen gehört zum Transparentmachen eines strukturierten Milieus. Während des therapeutischen Fortschritts im weiteren Verlauf gehört die Fähigkeit, sich den Regeln zu unterwerfen, zu den äußeren Zeichen der Besserung. Zugleich vermitteln die Strukturen des Stationsmilieus Hilfe bei der Gestaltung der inneren Ordnung von Gefühlen und Verhalten. Zu diesem Konzept der integrierten Behandlung schizophrener Psychosen gibt es keine Alternative. Es gibt keine Psychotherapie, die die Krankheit von ihren Ursachen her behandelt, auch wenn dies eine verbreitete Volksmeinung ist. Es gibt auch keine milieutherapeutischen Ansätze, die in verantwortbarer Weise regelmäßig auf Psychopharmaka verzichten können. Auch die Soteria oder soteriaähnliche Stationen, die in den letzten zwanzig Jahren von sich reden gemacht haben, sind
Milieutherapie
keine allgemeingültige Alternative. In der Soteria wurden und werden ausgewählte Patientinnen und Patienten behandelt, und zwar vorrangig Ersterkrankte, die freiwillig in Behandlung kommen. Während der Behandlungsphase werden tatsächlich weniger Medikamente eingesetzt als im konventionellen psychiatrischen Rahmen. Aber ganz auf Medikamente verzichten können auch die Therapeutinnen und Therapeuten dieser Stationen nicht.
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Die Zeit der Krise – die Angehörigen
»Ich glaube, wir waren damals alle krank. Wir saßen dauernd zusammen und versuchten zu beraten, was zu tun sei. Wir hatten alle noch nie mit einem psychisch Kranken zu tun gehabt.« Rose Maria Seelhorst
Parallel zur psychotherapeutischen Arbeit mit den Kranken vollzieht sich die Begleitung der Angehörigen. Diese hat im Ablauf mannigfache Ähnlichkeit mit der Begleitung der Kranken. Der entscheidende Unterschied: In der Regel sind die Angehörigen in der Auseinandersetzung mit der Situation nicht durch psychotische Symptome beeinträchtigt. Sie sind dennoch häufig in hohem Maße verstört. Erfahrungsberichte von Betroffenen unterstreichen das.
Wenn es losgeht Ich zitiere im Folgenden zunächst den Bericht einer Mutter über den Beginn der Erkrankung ihres Sohnes: »Er war damals sechzehn Jahre alt. Es begann damit, dass er sich von der Familie und den Klassenkameraden distanzierte und sich nur noch für bestimmte theologische Fragen interessierte. Er nahm Kontakt zu den ›Zeugen Jehovas‹ auf und lernte schließlich die sogenannten ›Kinder Gottes‹ kennen. Aber zu der Zeit ging es ihm bereits so schlecht, dass er manchmal nicht mehr wusste, wer er war. [...] Als mein Mann unserem Sohn die schriftliche Einwilligung, mit den Kindern Gottes ziehen zu dürfen, nicht geben wollte, kam es zu einer schrecklichen Szene. Einen Tag später ließ er sich von mir in die Sprechstunde eines Nervenarztes bringen [...]. Die Medikamente nahm unser Sohn nicht und den Kontakt zu den Kindern Gottes ließ er sich nicht verbieten. An einem Sonntag fuhr er mit dem Rad weg und kam nicht wieder nach Hause. In hilflosem Zustand wurde er abends von der Hamburger Polizei auf dem Flughafen aufgegriffen. Als mein Mann
Wenn es losgeht
und ich ihn von der Polizeistation abholten, wo er die Nacht in einer Zelle hatte verbringen müssen, fühlte er sich so krank, dass er bereit war, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. [...] Es ist schwer zu schildern, wie es in der Zeit bis zur ersten Einweisung um die Familie stand. Wir hatten alle noch nie mit einem psychisch Kranken zu tun gehabt. Deswegen waren wir uns lange nicht klar, ob unser Junge lediglich in einer schweren Pubertätskrise steckte oder ob mit ihm ›irgendetwas‹ nicht stimmt, wie man so sagt ... Immer offensichtlicher wurde die Veränderung im Wesen des Sohnes. Er mied uns alle, schlich im Haus herum, schloss sich stundenlang in seinem verdunkelten Zimmer ein und erzählte mir schließlich von Stimmen, die ihn beschimpften. Wir hatten große Angst um ihn. Am nächsten Tag [...] erhielt die Krankheit ihren Namen. Zu Hause blätterte mein Mann im Konversationslexikon nach, um zu erfahren, was Schizophrenie eigentlich für eine Krankheit sei. Was da stand, machte uns fassungslos. Eine junge Ärztin erklärte uns, dass es keine Therapie gäbe, die Heilung verspreche. Immerhin sei [eine Spontan-]Heilung möglich.« Was Rose Marie Seelhorst hier beschreibt, ist in vielfacher Hinsicht typisch. Typisch ist auch die Reaktion, die Wolfgang Gottschling in dem von Heinz Deger-Erlenmeyer herausgegebenen Buch Wenn nichts mehr ist, wie es war in der Rückschau schildert: »Man nannte uns eine glückliche Familie, beneidete uns. Aber das war vor sechs Jahren, als unser jüngster Sohn noch nicht erkrankt war oder wir es noch nicht wahrhaben wollten? Die Welt schien in Ordnung, ich ging auf die Sechziger zu und schmiedete bereits Pläne, was ich alles tun würde, wenn ich erst im Ruhestand wäre. Viel reisen wollte ich, lesen, Museen besuchen, einfach im Alter mit meiner Frau glücklich und zufrieden sein. Ja, damals vor sechs Jahren. Heute weiß ich, dass alles ein Phantom war, ein schöner Traum. Denn ich kannte ja noch nicht die tückische Krankheit, die man ›Schizophrenie‹ nennt. Wie sollte ich auch, denn soweit ich mich erinnern konnte, gab es in meiner Familie keinen solchen Fall. Sicherlich gab es auch merkwürdige Gestalten, Leichtfüße, Geizhälse, Angeber – aber so was? Heute beherrscht mich die Krankheit, sie ist zum Gesprächsthema der Familie geworden. Sie bedrückt mich, sie würgt mich, ich spüre ihre Fesseln. Manchmal kommt der Gedanke hoch: ›Hau doch einfach ab, fliehe weit weg irgendwohin!‹ Aber dann spricht eine innere Stimme in mir: ›Das kannst du doch nicht tun, einfach deine Familie im Stich
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lassen, deinen kranken Sohn opfern!‹ Also bleibe und leide ich. Dann ertappe ich mich bei dem Gedanken: ›Mach doch einfach Schluss, es hat alles keinen Sinn!‹ Aber dann erschrecke ich über diese Gedanken. Also lasse ich es und leide!« Für die Angehörigen gilt das Gleiche wie für die Patientinnen und Patienten selbst. Die Ratlosigkeit hinsichtlich der Situation ist die gleiche. Sie haben erlebt, wie ihr Kind, ihr Bruder, ihre Schwester oder ihr Partner sich verändert haben, wie ihnen vertraute Beziehungen fremd wurden, ohne dass sie das nachvollziehen konnten. Sie haben neben den Verhaltensänderungen veränderte emotionale Reaktionen erlebt, die sie nicht verstanden. Sie sind in Konflikte geraten, die sie nach Jahrzehnten des Zusammenlebens nicht erwartet hätten und schon deshalb unbegreiflich fanden. Sie haben schließlich die Krise erlebt, die offenbar gemacht hat, dass es sich nicht um eine »normale« Krise gehandelt hat, sondern um etwas, was man in der Alltagssprache oft »Nervenzusammenbruch« nennt: nicht nachvollziehbare soziale Auffälligkeit in der Öffentlichkeit; aggressive, ebenfalls nicht nachvollziehbare Auseinandersetzungen in der Familie aus nichtigem Anlass, Anschuldigungen, die aus Sicht der Angehörigen gegenstandslos waren; völliger emotionaler Rückzug mit Sprachlosigkeit, Vernachlässigung der körperlichen Pflege, Verwahrlosung, Verweigerung von Essen, im Extremfall auch von Trinken; in mehr als Einzelfällen Versuche, sich das Leben zu nehmen. Die Erkenntnis, dass es sich bei dem Unbegreiflichen um Zeichen einer psychischen Störung handelt, mag für viele Angehörige eine Entlastung sein. Aber das ist nur die eine Seite. Der Schrecken darüber, was das für die Zukunft bedeutet, folgt auf dem Fuß. Dazu kommt, dass die erste Zuweisung zur psychiatrischen Behandlung allzu oft nicht die Folge der Einsicht des Kranken selbst ist, dass er medizinische Hilfe braucht, sondern die Folge einer krisenhaften Zuspitzung, die das Handeln vonseiten der Angehörigen oder gar der Polizei zwingend gemacht hat.
Und immer wieder: die Frage nach der Schuld Der Beginn fachlicher Hilfe als Zwangsmaßnahme ist für alle Beteiligten ein Trauma. Die Angehörigen müssen sich fragen, ob das wirklich unvermeidbar war, ob sie nicht in anderer Weise schonender hätten intervenie-
Und immer wieder: die Frage nach der Schuld
ren können, ob sie vielleicht vorschnell gehandelt haben. Sie müssen mit Schuldvorwürfen vonseiten der Kranken rechnen und diese bewältigen. Viel schlimmer noch ist die Konfrontation mit den Fragen: Was bedeutet diese Krankheit? Woher kommt sie? Welche Ursachen hat sie? Wer ist dafür verantwortlich? Und wieder auch: Wer ist schuld? Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Antwort der Fachleute klar: »Wir wissen zwar nicht, was die Ursache der Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist. Wir nehmen jedoch mit guten Gründen an, dass sie ihre Wurzeln in einer Fehlentwicklung in der frühen Kindheit hat, die die Eltern, insbesondere die nächste Bezugsperson, meistens die Mutter, zu verantworten haben.« Aber das ist falsch! Diese Vorstellung ist nach hundert Jahren psychoanalytischen geprägten Denkens als Kulturgut tief in uns verwurzelt. Insbesondere wenn die Persönlichkeitsentwicklung an der Schwelle zum Erwachsenenalter oder bei jungen Erwachsenen in eine katastrophale Krise mündet, neigen wir dazu, die Schuld daran in der Kindheitsentwicklung zu suchen: Jemand hat eine schlechte Kindheit gehabt, heißt es ganz selbstverständlich beispielsweise in Gerichtsverhandlungen, wenn jemand straffällig geworden ist; und dafür gibt es ebenso selbstverständlich mildernde Umstände. Wenn jemand wegen dieser »schlechten Kindheit« kriminell wird, warum dann nicht auch psychisch krank? Nun soll hier überhaupt nicht bestritten werden, dass die Art und Weise, wie jemand seine Kindheit erlebt, wie er aufwächst, nachhaltigen Einfluss darauf hat, wie er später lebt und wie er sein Leben bewältigt. Er nimmt seine mannigfachen Befähigungen aus der Kindheit mit ins Erwachsenenleben. Ebenso sind die Wurzeln so mancher Defizite in der psychosozialen Entwicklung zu suchen. Aber angesichts einer Krankheit, deren Ursachen wir immer noch nicht kennen und deren Basis wir heute mehr in einer konstitutionellen Verletzlichkeit vermuten als in einer primär psychischen, ist es unsinnig, die Schuld für die Entstehung bei einzelnen Situationen oder gar bei bestimmten Personen zu suchen. Dies klarzustellen ist ein wesentlicher Teil der Begleitung der Angehörigen. Das Bedürfnis nach Erklärung ist unstillbar. Die immer noch übliche einfache Erklärung von Freunden, Mitgliedern der weiteren Familie, Nachbarn und Arbeitskollegen lässt nicht lange auf sich warten: Das müsse doch an der Erziehung liegen, die zu nachsichtig oder zu streng gewesen sei. Das müsse seine Ursache doch im Familienklima haben, von dem man ja wisse, dass es mies sei, im Alkoholismus des
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Vaters, der Leichtlebigkeit oder der herben Persönlichkeit der Mutter oder worin auch immer. Therapeutinnen und Therapeuten sollten sich jeder Spekulation über eine mögliche Mitverantwortung der Familie auch für die Auslösung der Erkrankung enthalten. Sie können nicht in das Binnenleben einer Familie in der Vorphase der Psychose hineinschauen. Sie sollten sich Rechenschaft darüber ablegen, wie sie selbst sich verhalten würden, wenn sie mit einem Familienmitglied zusammenleben müssten, das sich in seinem Verhalten und seinem Erleben verändert und von dem sie nicht wissen, dass sich eine psychotische Erkrankung anbahnt. Es ist selbstverständlich, dass eine solche Entwicklung das Zusammenleben aller Beteiligten verändert; und es ist fast selbstverständlich, dass diese Veränderung nicht zu einer Harmonisierung der Beziehungen führt, sondern dass die Versuche, eine nicht begreifbare Situation zu bewältigen, zwangsläufig untaugliche Problemlösungsversuche zur Folge haben müssen.
Angehörige brauchen Verständnis Angesichts einer solchen Situation brauchen Angehörige Verständnis, Geduld und Rat – in dieser Reihenfolge. Wenn ein Familienmitglied akut psychotisch erkrankt, ist dies jenseits aller Aufregung erklärungsbedürftig; und für die Erklärung zuständig sind die Therapeutinnen und Therapeuten des erkrankten Familienmitglieds. Es ist allerdings so, dass der Augenblick der Einweisung in die Klinik ein ungeeigneter Augenblick für die Betreuung der Angehörigen ist, und zwar je dramatischer die Situation, desto ungeeigneter. Das darf aber natürlich nicht dazu führen, dass Angehörige in dieser Situation massiv zurückgewiesen und verletzt werden. Eine erste Erklärung muss sein, Zeit für begütigende und beruhigende Unterstützung allemal. Die Einweisungssituation ist in der Tat nicht der Augenblick für eine umfassende Aufklärung. Hier gilt es zunächst einmal, Informationen über die Kranken, über ihre Entwicklung, über die Vorgeschichte der Krankheit einzuholen – aber dies alles mit den Angehörigen. Im Rahmen der Erhebung der Fremdanamnese kann man den Angehörigen ohne Mühe vermitteln, wie wichtig ihre Informationen für die
Angehörige brauchen Informationen
Behandlung sind. Man kann ihnen auch übermitteln, dass Behandlung möglich ist, dass der gegenwärtige Zustand nichts über die Prognose aussagt, dass man sich Mühe gibt und man guten Mutes ist, die akute Situation erst einmal in den Griff zu bekommen, und dass man gern bereit ist, sich in den allernächsten Tagen ausführlich Zeit zu nehmen, um die Situation mit den Angehörigen durchzusprechen. In dieser Situation ist es mehr als überflüssig, die Angehörigen darauf hinzuweisen, dass man etwa Arzt oder Ärztin des Patienten sei, der Schweigepflicht unterliege und dass man gar nicht wisse, ob man den Angehörigen Auskunft erteilen dürfe. In der Situation der akuten Zuspitzung, an der die Angehörigen beteiligt gewesen sind, sind diese die handelnden Personen des Dramas und haben einen Anspruch darauf zu erfahren, was denn eigentlich passiert ist. Dazu gehört vielleicht im Augenblick nicht die Diagnose, aber eine Auskunft über die Behandlungschancen, die gegenüber der zugespitzten Situation immer günstig sind, gehört auf jeden Fall dazu.
Angehörige brauchen Informationen Behandelnde aller Berufsgruppen unterliegen der Schweigepflicht. Sie dürfen nur mit Zustimmung der betroffenen Kranken Auskunft erteilen. Dies gilt auch bezüglich Angehörige und enge Freunde. Bei schweren körperlichen Krankheiten mit andauernder Bewusstlosigkeit darf die Zustimmung unterstellt worden. Das gilt nicht bei psychischen Störungen, insbesondere nicht, wenn die Kranken die Zustimmung ausdrücklich verweigern – auch dann nicht, wenn ihre Urteils- und Entscheidungsfähigkeit offensichtlich durch ihr Leiden beeinträchtigt ist. Dann gilt der unterstellte »natürliche Wille«. Diese Regelung ist gut und richtig. Sie gilt dem Schutz der Kranken, wenn sie ihre Rechte vorübergehend nicht wahrnehmen können. Allerdings haben Angehörige berechtigte Interessen, Auskunft über die Krankheit ihres Familienmitglieds und deren mutmaßlichen Verlauf zu erhalten. Das ist in erster Linie ein moralischer Anspruch, zumindest wenn eine fürsorgliche Beziehung zwischen den Familienmitgliedern besteht. Es ist aber auch ein materieller Anspruch, wenn der Kranke im selben Haushalt lebt wie seine engsten Angehörigen,
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insbesondere wenn von diesen erwartet wird, dass sie beispielsweise nach Klinikentlassung für ihn sorgen. Aber dieser Anspruch besteht gegenüber dem Kranken, nicht gegenüber den Therapeuten oder Einrichtungen. Das macht die Situation so schwierig und so belastend für die besorgten Angehörigen. Weil das so ist, dürfen sich die Therapeuten nicht einfach auf ihre Schweigepflicht zurückziehen. Sie sind verpflichtet, auf den Kranken entsprechend einzuwirken, sobald dessen Gesundheitszustand das erlaubt. Das können Angehörige von ihnen verlangen. Angehörige dürfen darauf hinweisen, dass die Verantwortung für etwaige Komplikationen nach der Entlassung in die Familie beim Therapeuten verbleibt, wenn keine ausreichende Aufklärung erfolgt. Wenn dies geschieht, wenn die Therapeuten mit den Kranken entsprechend verhandeln, lässt sich fast immer ein Kompromiss erreichen, der die Angehörigen mit ihren Sorgen entlastet. Befriedigend ist es häufig dennoch nicht, aber alle können damit leben. Gleichwohl müssen sich Angehörige Rechenschaft darüber ablegen, dass die Kranken in der Regel erwachsene Menschen sind, deren Recht auf ihre Abgrenzungswünsche zu respektieren ist, zumindest soweit diese nicht das Zusammenleben unter den Bedingungen der Krankheit über die Maßen beeinträchtigen.
Zukunftsperspektiven Nach der Überwindung der akuten Krisensituation folgt die Begleitung der Angehörigen fast dem gleichen Schema wie die der Patienten. Wir müssen ihnen begreiflich machen, was die Krankheitssymptome sind, worin sie bestehen, wie sie einzuordnen sind, wie man lernen kann, sie zu verstehen. Dafür ist das Modell des zentralen schizophrenen Syndroms besonders gut geeignet, wie John Wing es beschrieben hat (siehe das Kapitel »Die Krankheit«). Zur Begleitung der Angehörigen gehört es, zu versuchen, die Krankheit insgesamt verständlich zu machen. Auch bei den Angehörigen spielt die Bewältigung der Stigmatisierung, die sich ja auch auf sie selbst erstreckt, eine entscheidende Rolle. Die Angehörigen sind jenseits des Einzelgesprächs Ansprechpartner für gezielte Psychoinformation und gegebenenfalls auch für Psychoedukation. Sie müssen lernen, sich mit
Zukunftsperspektiven
der Krankheit vertraut zu machen, um angemessen mit dem kranken Familienmitglied umgehen zu können. Dies mag bei der Ersterkrankung von nicht so entscheidender Bedeutung sein, aber gewiss ist, dass die Diagnose einer Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis von den Angehörigen fast immer traumatisch erlebt wird. Immer wieder ist zu hören, die Diagnose einer Schizophrenie sei das Ende. Das darf nicht so stehen bleiben. Wir müssen darauf bestehen, dass eine solche Diagnose nicht das Ende ist, sondern der Anfang von etwas Neuem. Die Erkrankung mag eine Katastrophe für die ganze Familie sein, aber dabei darf die Familie ja nicht stehen bleiben. Eine schizophrene Erkrankung ist genauso eine Herausforderung wie eine schwere körperliche Erkrankung. Sie verlangt die Ausei nandersetzung mit ihr. Sie verlangt, dass die Angehörigen sich dieser Veränderung des Lebenslaufs und der Hoffnungen ihres Familienmitglieds genauso stellen wie dieses selbst (vgl. Bäuml 2008). Das ist die Mitverantwortung der Angehörigen für die Zukunft, für den zukünftigen Verlauf. Darauf ist in der gebotenen Vorsicht, aber mit Nachdruck und so früh wie möglich hinzuweisen und hinzuwirken. Es geht nicht um Schuld in der Vergangenheit. Es geht auch nicht um Verantwortung dafür, wie die Dinge geworden sind, sondern es geht um Solidarität für die Zukunft. Die meisten Angehörigen erleben diese Einbindung angesichts der Schwere der Erkrankung auch nicht vorrangig als Belastung, sondern eher als entlastendes Gefühl, etwas Konstruktives tun zu können, in positiver Weise auf den künftigen Verlauf Einfluss nehmen zu können. Zur Aufarbeitung der Situation mit den Angehörigen gehört noch mehr als bei den Kranken selbst das Gespräch über die Vorphase der Psychose. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Angehörigen begreifen, was in diesen Jahren oder Monaten, in denen die Krankheit schon bestanden hat, ohne dass irgendjemand der Beteiligten davon wusste, mit ihnen allen passiert ist. Sie können dann besser verstehen, warum familiäre Bindungen massiv gestört waren oder gar zerbrochen sind, und den Schritt weg von der normalpsychologischen Interpretation dieser Situation hin zum Verständnis für die Krankheitssymptome des Familienmitglieds machen.
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Auch für Kranke mit dem Glück einer guten Prognose ist zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Klinik nicht alles vorbei. Schizophrene Psychosen sind schwere Krankheiten. Sie verschwinden nicht wie Sommergewitter. Auf die akute Erkrankung folgt eine Zeit der Wiederherstellung, der sogenannten Remission. Das ist nicht anders als nach einem Herzinfarkt, einem Beinbruch oder einer schweren Infektionskrankheit.
Anfängliche Schwierigkeiten Mit den uns zur Verfügung stehenden Medikamenten, den Neuroleptika, erreichen wir vorrangig die sogenannten produktiven oder positiven Krankheitssymptome wie Angst, Verfolgungsideen, Wahn, Halluzinationen und Denkstörungen. Diese Symptome verdecken die »Negativsymptome« wie verminderten Antrieb, Gefühlsstörungen, das Bedürfnis nach sozialem Rückzug oder die Einschränkung der Fähigkeit, in Alltagssituationen »zu wollen und zu handeln« wie in gesunden Tagen. Diese Symptome sind der Medikamentenbehandlung kaum zugänglich. Meist bestehen sie über längere Zeit fort. Es ist verständlich, dass die Kranken so rasch wie möglich die Schule, das Studium oder die Arbeit wieder aufnehmen möchten. Eigentlich sollen sie dies ja auch. Es ist zudem verständlich, dass Angehörige nach einer erfolgreichen Klinikbehandlung ungeduldig werden, wenn die Rekonvaleszenten nicht zupacken, wenn sie nicht ihr altes Leben wieder aufnehmen. Sie sind irritiert, wenn diese stattdessen erschöpft »in den Seilen hängen«, initiativlos erscheinen, überlange schlafen, den ganzen Tag nichts tun oder ganz andere Dinge als früher, womöglich auch noch solche, die doch eigentlich nicht ihrem hohen Intellekt entsprechen. Die Folge ist oft eine gereizte Atmosphäre, die für alle Beteiligten zur Belas tung wird. Die Reaktion der Rekonvaleszenten kann ein weiterer sozia ler Rückzug sein. Aufgrund ihrer krankheitsbedingten Verletzlichkeit
Regression und Aktivierung
vertragen sie wenig Kritik. Zugleich veranlassen sie durch ihr Verhalten kritische Reaktionen von allen Seiten. Es ist leicht vorstellbar, dass diese Situation nicht selten in einen Teufelskreis mündet, der über unerträgliche emotionale Anspannung in der Familie oder im Freundeskreis zu Verzweiflung bei den Kranken und Angehörigen führt. Die Wiederkehr von Symptomen kann die Folge sein. Es ist deshalb wichtig, den Beteiligten verständlich zu machen, dass ein solches »postremissives Erschöpfungssyndrom« (Heinrich) nicht ungewöhnlich ist. Es gehört eher zu den üblichen Krankheitsfolgen. Die Kranken sind erschöpft, nachdem sie in der akuten Phase der Psychose oft eine lange Zeit der Überaktivität ihrer Gehirnfunktionen durchgemacht haben: unter anderem Gedankendrängen, Überwachheit, Schlafstörungen, Angst, gelegentlich aggressive Gereiztheit, Überreaktion auf emotionale Verletzungen etc. Sie sind eben unendlich müde. Der Versuch, das biologische Gleichgewicht im Gehirn wiederherzustellen – etwa die Dopamin-Überaktivität zu begrenzen –, greift tief in das System dieser verschiedenartigen Störungen ein. Es ist gut verständlich, dass die symptomatische Wiederherstellung dieses Gleichgewichts über die beruhigende Wirkung der Medikamente zunächst vor allem anhaltende psychoemotionale Erschöpfung nach der lang andauernden übergroßen Anstrengung zur Folge hat. Das ist die physiologische Seite. Die psychosoziale Seite ist nicht weniger anstrengend und belastend. Die Kranken merken rasch, dass sie noch nicht wieder die Alten sind, dass ihnen die gewohnte Kraft fehlt. Wenn sie bis dahin noch nicht damit begonnen haben, müssen sie jetzt dringend ihre Situation überdenken. Sie müssen versuchen zu begreifen und einzuordnen, was mit ihnen geschehen ist und welche Konsequenzen das für ihr gegenwärtiges und künftiges Leben hat. Sie müssen sich Gedanken über die Natur ihrer Krankheit machen.
Regression und Aktivierung Was ist zu tun, um mit den anfänglichen Schwierigkeiten nach der akuten Krise umzugehen? Psychiatrische Behandlung steht seit Langem im Zeichen von aktivierender Therapie, Frühentlassung aus der Klinik und aktiver Wiedereingliederung. Regression, also der Rückzug auf sich
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selbst, ist allenfalls in den ersten Tagen geduldet, selten erwünscht. Die Furcht vor den Hospitalisierungsschäden, die in der Ära der »Verwahrung« psychisch erkrankter Personen allgegenwärtig waren, steckt der Psychiatrie so tief in den Knochen, dass ein durchgängig strukturierter therapeutischer Tagesablauf zu ihren zentralen Qualitätsmerkmalen ���������������������� gehört. Denn solche Zustände entsprechen in ihren Erscheinungsformen ganz wesentlich der Negativsymptomatik schizophrener Psychosen. Die Sorge, man könne die Krankheit durch Vernachlässigung und Inaktivität verschlimmern oder gar chronifizieren, bewegt die Psychiatrie. Die Forderung nach einem durchgehend aktivierenden therapeutischen Tageslauf, 16 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche (Barton), hat – möglicherweise nicht in dieser Rigorosität – im Grundsatz immer noch Geltung. Aber ist das angesichts postremissiver Erschöpfung bei fortbestehender Negativsymptomatik wirklich der richtige Weg? Nein. Seit den frühen Versuchen aktiver und forcierter Rehabilitation ist bekannt, dass diese auch Krankheitsrückfälle auslösen können. Damit wird klar, dass eine Psychosebehandlung jenseits der akuten Therapiephase eine Gratwanderung zwischen sozialer Überstimulierung und Unterstimulierung, zwischen Symptomprovokation und Begünstigung von Apathie darstellt. Zu beiden kann die psychiatrische Behandlung beitragen. Ich habe das in nebenstehendem Schema zusammengefasst. Diese Ausgangkonstellation steckt den Rahmen für Therapie und Umgang mit den Kranken in der Remissionsphase ab.
Kontinuierlich Geduld zeigen Die Bewältigung der postremissiven Erschöpfungsphase hat vor allem zwei Dinge zur Voraussetzung: Geduld und Zeit. Sie lässt sich nicht durch Aktivierung beschleunigen. Aktivierung und soziale Stimulation dienen in dieser Phase der Behandlung fast ausschließlich der Vermeidung von Sekundärschäden durch mangelnde Aktivität. Selbstverständlich sollte sein, dass die Medikation in dieser Zeit der ständigen Überprüfung bedarf. Günstige Wirkungen auf die Negativsymptomatik sind bei konventionellen wie atypischen Neuroleptika allenfalls bei niedrigen Dosen zu erwarten.
Grafik von Seite 127 »Verstehen Kontinuierlich Geduld zeigen
Behandlungsschema bei schizophrenen Psychosen SCHIZOPHRENIETHERAPIE BEI: PLUSSYMPTOMATIK
MINUSSYMPTOMATIK
ASYLIERUNG NEUROLEPTIKA
NEUROLEPTIKA
Symptomfreiheit Soziale Integration
SOZIALE STIMULIERUNG durch ˘ ˘ ˘ ˘
Symptomprovokation
Produktive Symptome: z. B. Angst. psychomot. Erregung. Halluzination
Apathie
BEHANDLUNGSZIEL Negative Symptome: z. B. Antriebsstörung, »Defekt« Hospitalisierungsschäden
SOZIALE STIMULIERUNG
Strukturierung des Tagesablaufes (14 Std. täglich) wechselnde Gruppensituationen gestufte Belastung, z. B. Beschäftigungstherapie, Arbeit »Normalisierung« von Wohnen und Freizeit
Da die Kranken in dieser Phase meist zu Hause wohnen, haben Angehörige und Freunde gute Möglichkeiten zur Hilfe und zur Unterstützung. Die Aufgabe, die sie erfüllen können, ist im Ergebnis günstigenfalls sogar »dankbar«. Aber sie haben keine leichte Rolle. Was von ihnen verlangt wird, ist vor allem Geduld, ist Zuwendung – ohne dass sie prompt mit dem erwünschten oder erhofften Echo rechnen können. Sie können beispielsweise versuchen, die Genesenden aus der Reserve zu locken oder ihnen soziale Angebote zu machen, ohne sie unter Druck zu setzen. Solche Angebote sollten zeitlich begrenzt und nicht mit allzu umfassenden oder komplexen sozialen Verpflichtungen verbunden sein. Sie sollten den jederzeitigen Rückzug erlauben. Zugleich ist in dieser Phase von Angehörigen und Freunden zu erwarten, dass sie sich nicht gekränkt zurückziehen, wenn ihre gut gemeinten Angebote nicht angenommen oder gar aktiv zurückgewiesen werden. Mit fortschreitender Stabilisierung und fortschreitender Rückbildung der Negativsymptome wird sich dies ändern. Dann ist es wichtig, dass solche Angebote noch vorhanden sind.
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»Woodshedding« Man kann die Phase der postremissiven Erschöpfung in der beginnenden Remission auch positiv betrachten. Amerikanische Ärzte – ursprünglich von Lieberman und Strauss eingeführt (Strauss 1985, 1994, siehe auch Cullberg 2008, S. 160 ff.) – reden von »Woodshedding«.����������� Dieser Begriff stammt aus der Jazzkultur. Er bezieht sich auf das Verhalten traditioneller Bands in den amerikanischen Südstaaten, die sich außer Hörund Sichtweite der anderen zurückzogen, wenn sie einen neuen Stil oder auch nur ein neues Stück einüben wollten – etwa in eine Scheune oder einen Holzschuppen (»wood shed«). In diesem Sinne ist der Rückzug etwas Konstruktives. Die Kranken orientieren sich neu. Sie konfrontieren sich zunächst nur in Gedanken mit der Rückkehr in die wirkliche soziale Welt. Sie versuchen, sich emotional und intellektuell zurechtzufinden. Sie erproben ihr Verhalten und ihre Gefühle, bevor sie aktiv in die soziale Welt zurückkehren. Die Zeit der Rückkehr ist kein gradliniger Prozess. Sie kann von vielfältigen Rückschlägen gekennzeichnet sein, aber auch von großen, manchmal geradezu unverhältnismäßig großen Schritten nach vorn. Diese Phase dauert unterschiedlich lang. Sie kann nach drei Monaten abgeschlossen sein, oft dauert sie ein halbes, manchmal ein ganzes Jahr, gelegentlich noch länger. Nach Abschluss dieser Phase ist dann eine Ebene erreicht, auf die sich die Kranken selbst und ihre Umgebung einstellen müssen. Es können Behinderungen durch Negativsymptome zurückbleiben, es kann aber auch sein, dass die volle psychische Gesundheit und die volle Kraft, um das eigene Leben zu bewältigen, zurückgekehrt sind. Dies ist dann der Zeitpunkt für die Wiederaufnahme der gesamten sozialen Aktivitäten. Für viele Patientinnen und Patienten kann das aber auch der Zeitpunkt für den Beginn einer systematischen Psychotherapie sein, und zwar mit dem Ziel, die eigene Stellung im Leben nach der Krankheit zu klären. Die Phase der Remission ist die Zeit der allmählichen Wiederherstellung. Die akuten Krankheitssymptome sind überwunden oder durch Neuroleptika unterdrückt. Krankheitsbedingte Erschöpfung und Antriebsminderung sowie eine erhöhte Verletzlichkeit halten zunächst noch an. Der Weg zurück ins soziale Leben ist steinig und mit großer emotionaler Anstrengung verbunden. Die Schritte dorthin sind zu-
Zeit für Psychotherapie
nächst tastend. Überforderungssituationen sollten vermieden werden. Zugleich wird von den Kranken verlangt, dass sie ihr Krankheitserleben integrieren und die Diagnose mit ihren sozialen Implikationen bewältigen. Das ist eine große Anstrengung. Dem steht die ungeduldige Erwartung von Familie und Freunden entgegen, dass es nun doch endlich genug sei, dass man doch endlich sein altes Leben wieder aufnehme. Diese Erwartung ist eine zusätzliche Prüfung.
Zeit für Psychotherapie Die Psychotherapie Schizophreniekranker ist ein Kapitel für sich. Lange Zeit hat sich ein schier unausrottbares Vorurteil als psychiatrische Lehrmeinung gehalten: dass schizophrene Kranke einer Psychotherapie nicht zugänglich seien, ja, dass sie darunter eher Schaden nehmen, als dass sie ihnen helfe. Das hat damit zu tun, dass der Begriff der Psychotherapie lange Zeit von der Psychoanalyse und der tiefenpsychologisch orientierten Psychotherapie besetzt worden war – Verfahren, die konfliktorientiert und »aufdeckend« arbeiten und somit eine Belastung für die Kranken mit sich bringen. Aber Psychotherapie bedeutet mehr als die Analyse der Psyche. Psychotherapie ist auch empathische Zuwendung, Unterstützung und Führung, Zuhören und Beraten sowie Training im Sinne verschiedener verhaltenstherapeutischer Konzepte. Psychotherapie ist neben Konfliktbearbeitung alles dies zusammen. Schizophreniekranke Personen haben neben den Symptomen ihrer Störung vielfältige Lebensprobleme, bei deren Bewältigung sie psychotherapeutischer Hilfe und Führung bedürfen. Niemand benötigt so dringlich Psychotherapie wie die jungen Schizophreniekranken, die außer der Krankheit und der Krankheitserfahrung auch deren psychosoziale Konsequenzen, deren Auswirkungen auf die eigene Biografie und die Folgen der Stigmatisierung bewältigen müssen. Richtig ist, dass Psychotherapie bei psychotisch Kranken pragmatisch und flexibel gestaltet werden und Rücksicht auf den jeweiligen Seelenund Gesundheitszustand nehmen muss. Aber dies ist nichts anderes als bei »Neurosekranken« – möglicherweise nur schwieriger. Im Übrigen ist im Intervall zwischen den Krankheitsperioden gelegentlich durchaus
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auch eine konfliktorientierte Psychotherapie möglich und sogar notwendig. Gerade junge Menschen, die an Schizophrenie erkrankt sind, bedürfen der Entwicklung von Einsicht in ihr seelisches und soziales Dasein. Sie benötigen Unterstützung bei der Selbstprüfung, bei der täglichen Konfrontation von erlebter Welt und äußerer Realität. Die Erfahrung der Psychose hat die Selbstverständlichkeit erschüttert, mit der wir anderen dies tun, tun können. Psychotherapie ist für diese jungen Menschen Hilfe zur Ich-Findung, Hilfe zur Abgrenzung von anderen Menschen und deren Wertsystemen. Psychotherapie ist für sie Hilfe bei der Prüfung und Bewältigung der Wirklichkeit. Psychotherapie kann auf die individuelle Verletzlichkeit, die Vulnerabilität primär nicht einwirken. Dies ist eher mithilfe der Medikamentenbehandlung möglich, die den Kranken zu einem künstlichen »dicken Fell« verhilft, wie die englische Medizinsoziologin Barbara Stevens das vor vielen Jahren einmal formuliert hat. Psychotherapie ist aber sehr wohl geeignet, die Fähigkeit der Kranken zu stärken, ihr Leben zu bewältigen. Der Psychiater Tilo Held hält die Zeit nach dem ersten Rückfall für den günstigsten Zeitpunkt, um ein Umdenken und eine Neubewertung der bisherigen Erfahrungen einzuleiten. Dann nehme auch die Bereitschaft zu, sich den Therapeuten stärker zu öffnen und anzuvertrauen, als dies vorher der Fall gewesen sei. Allerdings sei es wichtig, dass der Patient seine Krankheit als eine Herausforderung akzeptiert und sie nicht verleugnet. Wenn das der Fall ist, dann ist das aber kein Grund aufzugeben: Es ist eine Herausforderung für den Therapeuten, den Kranken für eine Zusammenarbeit zu gewinnen.
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Rückfallvermeidung und Wiedererkrankung – eine Herausforderung
Der Rückfall – besser: die Wiedererkrankung – gehört leider zur Schizophrenie wie die Entgleisungen des Blutzuckerspiegels zum Diabetes. Die Schizophrenie ist eine chronisch-rezidivierende Erkrankung wie die manisch-depressive Krankheit. Nur eine Minderheit der Kranken, etwa ein Fünftel bis ein Drittel, bleibt von Rückfällen verschont. Deren Vermeidung wird somit zum zentralen Bestandteil der langzeitigen Schizophrenietherapie. Der Rückfall (»Rezidiv«) hat zwei mögliche Ursachen. Er kann Ausdruck des natürlichen Verlaufs der Psychose sein, die phasenhaft – früher sagte man »in Schüben« – in unregelmäßigen Abständen wieder auftreten kann. Häufiger ist der Rückfall nach einer unvollständigen Wiederherstellung. Die Krankheitsphase ist nicht wirklich abgeklungen. Ihre Symptome werden durch die Medikamente nur unterdrückt. Unter diesen Umständen ist die Wiedererkrankung Folge einer unzureichenden Behandlung, des Abbruchs der Medikamentenbehandlung oder einer neuerlichen psychosozialen Überforderung der Kranken.
Prophylaxe von Anfang an Die Schizophrenie gehört zu den wenigen schweren Erkrankungen, bei denen die Diagnose keine Aussage über die Prognose enthält. Vielmehr ist es der individuell und sozial mitbedingte Verlauf, der die Weichen für die Zukunft stellt. Jeder Rückfall wird zur zusätzlichen Belastung. Jeder Rückfall verstärkt das Risiko, aus der Bahn geworfen zu werden, sozialen Statusverlust zu erleiden und Freunde, Arbeit oder Wohnung zu verlieren. Oft erhöhen Krankheitsrezidibe auch die Gefahr, dass die Kranken sich nach der Akutbehandlung nicht wieder vollständig erholen. Zudem gilt traditionell die Regel, dass es achtzehn Monate dauert,
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Rückfallvermeidung und Wiedererkrankung – eine Herausforderung
bis sie nach einem Rückfall, der zur Krankenhauseinweisung geführt hat, ihr früheres optimales psychosoziales Niveau wieder erreichen. Im Mittelpunkt der Rückfallprophylaxe steht zunächst die Medikamentenbehandlung, die Fortsetzung der ursprünglichen Medikamententherapie in niedriger Dosierung. Nach Überwindung einer ersten schizophrenen Episode gibt es nach dem heutigen Erkenntnisstand nur einen Grund, auf die prophylaktische Langzeitmedikation zu verzichten: die Hoffnung, die Kranken könnten zu jener Minderheit gehören, deren Psychose definitiv ausheilt. Angesichts der vielfältigen unerwünschten Wirkungen der uns zur Verfügung stehenden Medikamente ist dies in der Tat ein gewichtiger Grund. Die Risiko-Nutzen-Abwägung legt dennoch nahe, auch bei vollständiger Überwindung aller Krankheitssymptome eine Stabilisierungsphase von sechs bis zwölf Monaten abzuwarten, bevor unter enger ärztlicher Kontrolle ein vorsichtiger Absetzversuch in ausschleichender Dosierung unternommen wird. Voraussetzung dafür ist, dass keine diskreten Restsymptome verblieben sind. Die Chancen, dass das gut geht, sind umso günstiger, je begrenzter die vorangegangene psychotische Episode gewesen ist, je weniger und je kürzer Prodromalsymptome vorhanden waren, je rascher die akuten produktiven Symptome abgeklungen sind und je kürzer schließlich die Zeit bis zur vollständigen Remission war.
Vorbehalte gegen Medikamente Oft ist es in dieser Phase schwer, die Kranken und ihre Angehörigen von der Notwendigkeit der medikamentösen Nachbehandlung zu überzeugen. Das hat vielfältige Gründe. Zum einen haben die Medikamente in der Psychiatrie einen schlechten Ruf. Zum anderen besteht in der Bevölkerung ganz allgemein eine Skepsis gegenüber der Dauereinnahme von Medikamenten. Sie würden abhängig machen. Sie würden nur dämpfen. Sie würden nicht wirklich helfen und nur gegen Symptome wirken, die ja jetzt gar nicht mehr vorhanden seien. Das sind nur einige der Vorbehalte. Außerdem gibt es reale Nebenwirkungen, unter denen die Patientinnen und Patienten leiden und die von Fachleuten manchmal nicht ausreichend ernst genommen werden.
Vorbehalte gegen Medikamente
Dazu gehören die Gewichtszunahme und die Auswirkungen auf sexuelles Empfinden und Verhalten. Dazu gehören medikamentenbedingte Müdigkeit und Inaktivität im Sinne einer Übersedierung. Dazu gehören schließlich die subjektiv erlebten extrapyramidal-motorischen Nebenwirkungen, insbesondere eine quälende Bewegungsunruhe im Sinne der Akathisie sowie Muskelsteifigkeit und Muskelschmerzen im Rahmen eines Parkinsonoids. Leider lassen sich diese Nebenwirkungen nicht immer ganz vermeiden. Es gehört wenig Fantasie dazu, zu begreifen, dass all diese Gründe zusammen die Kranken eher dazu veranlassen, die Medikamente abzusetzen – und sei es auf eigene Faust –, als dem ärztlichen Ratschlag zur Vorsicht bereitwillig zu folgen. Dazu bedarf es geduldiger und beharrlicher Aufklärungs- und Überzeugungsarbeit, die nach der ersten Krankheitsepisode noch schwieriger ist als nach der zweiten und dritten. Dazu kommt ein starkes, nachvollziehbares Motiv, es ohne Medikamente versuchen zu wollen, gegen das die betreuenden Therapeutinnen und Therapeuten nur ihre statistisch begründete Erfahrung setzen können. Gerade wenn es ihnen gut geht, haben Kranke wie ihre Angehörigen nach Überwindung der ersten Erkrankungsphase das mächtige Bedürfnis und die übergroße Hoffnung, sich zu beweisen, dass sie doch nicht schizophreniekrank sind, dass es sich bei ihrer psychotischen Episode um eine einmalige, lebensgeschichtlich einzuordnende psychische Krise gehandelt hat. Der Arzt befindet sich hier in einer schwierigen Situation. Er kann vor einer vorzeitigen Beendigung der Medikamentenbehandlung warnen. Wenn die Kranken darauf bestehen, kann er sich einer Probe aufs Exempel kaum entziehen, wenn er nicht einen vollständigen Behandlungsabbruch riskieren will. Tatsächlich ist der kontrollierte Absetzversuch mit professioneller Begleitung weniger risikoreich als der Behandlungsabbruch mit abrupter Medikamentenverweigerung. Leider muss hinzugefügt werden, dass der Behandlungsabbruch und die unzureichende Nachbehandlung ohnehin häufiger sind als die systematische und regelmäßige therapeutische Begleitung nach der Remission.
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Rückfallvermeidung und Wiedererkrankung – eine Herausforderung
Anzeichen eines Rückfalls Wenn die Medikamente abgesetzt werden, ist eine sorgfältige Beobachtung durch die Therapeuten ebenso unabdingbar wie durch die Patienten. Typischerweise werden die ersten Tage der Medikamentenreduktion von den Kranken als umfassende Besserung ihres Zustands erlebt. Sie fühlen sich wacher. Sie sind aktiver. Sie sind sozial zugewandter. Wenn es gut geht, kann das auch so bleiben. Leider ist die Entwicklung in den meisten Fällen anders. Nach unterschiedlich langer Zeit, nach zwei, vier, sechs, acht Wochen tritt eine Änderung zum Negativen ein, deren Anzeichen vielfältig sein können und sich über das gesamte Spektrum der Prodromal- und Frühsymptome schizophrener Psychosen erstrecken. Es ist hilfreich, wenn Therapeutinnen und Therapeuten die Vorgeschichte der Psychose sorgfältig erhoben haben. Es spricht einiges dafür, dass sich frühere Prodrome bei einem Rückfall wiederholen. Einige dieser Zeichen und Symptome seien hier angeführt: vermehrte Ängstlichkeit, sozialer Rückzug, Schlafstörungen, Vernachlässigung der Kleidung und/oder der Körperpflege, vermehrte Aktivität, vermehrter Rededrang, Überreaktionen auf akustische oder optische Reize, insbesondere Farben, Anklänge von paranoiden Ideen oder Befürchtungen, körperliche Missbefindlichkeiten und hypochondrische Anwandlungen, vermehrte Ambivalenz und Ratlosigkeit, Schwerbesinnlichkeit, Veränderungen des Affekts, Klagen über andrängende Gedanken. Die bloße Aufzählung so zahlreicher diskreter Zeichen macht deutlich, was alles geschehen und der Beobachtung trotzdem entgehen kann, wenn man nicht sorgfältig nachfragt, wenn man nicht der Zusammenarbeit der Kranken und ihrer Angehörigen gewiss sein kann. Faustregel muss sein, dass jede Veränderung, welcher Art auch immer, die nicht plausibel durch äußere psychosoziale Ereignisse erklärt werden kann, erstes Zeichen eines beginnenden Rückfalls sein kann. In dieser Phase sind Angehörige, Therapeuten und die Kranken selbst angehalten, sorgfältig auf Veränderungen zu achten; gleichwohl muss betont werden, dass sie gleichsam nicht das Gras wachsen hören sollten. Nicht jede unerwartete oder unerwünschte Reaktion eines ehemals Psychosekranken ist schon als Zeichen eines Rückfalls zu interpretieren. Das führt zu Überängstlichkeit, Überfürsorglichkeit und Gängelung – und entsprechend vielleicht zu Widerstand.
Wiederaufnahme der Neuroleptikatherapie
Wiederaufnahme der Neuroleptikatherapie Die Gewichtung der Zeichen und Symptome – der potenziellen Zeichen und Symptome muss man in diesem Zusammenhang sagen – hat in einem besonnenen Prozess zu erfolgen. Ist man zu der Erkenntnis gekommen, dass man es mit einem beginnenden Rezidiv zu tun hat, sollte man die Neuroleptikabehandlung schleunigst wieder aufnehmen, selbstverständlich in Absprache mit den Kranken. In dieser Initialphase des Wiederbeginns ist das dann in der Tat nicht mehr Rückfallprophylaxe, sondern Behandlung von neu aufgetretenen, wie immer zunächst diskreten Krankheitssymptomen. Man muss deshalb eine Dosisfindungsphase einschalten, bevor man zur Routinetherapie zurückkehren kann. Leider findet der Rückfall in der Regel nicht unter solchen Bedingungen der klinischen Beobachtung statt. Medikamente werden ohne ärztliche Begleitung abgesetzt oder unregelmäßig eingenommen. Viele Kranke denken, es werde schon gut gehen. Nicht selten folgen sie dem Rat von Angehörigen, noch häufiger von Freunden, die ihnen wohlmeinend raten, doch mal auf die Medikamenteneinnahme zu verzichten. Sie würden davon nur krank. Bei fehlender kritischer Selbstbeobachtung dauert es länger, bis die Kranken zurück in die Behandlung finden. Gerade wenn sie sich selbst beweisen wollen, dass ihre Psychose Ausdruck einer Lebenskrise war und sich nicht wiederholen wird, tendieren sie dazu, die Zeichen des Wiedererkrankens zu missdeuten. Das beste Mittel, die Wiedererkrankung vermeiden, ist die konsequente Rückfallprophylaxe mit Medikamenten. Leider ist diese aber noch keine Garantie. Auch bei regelmäßiger Medikamenteneinnahme kann es zum Rückfall kommen. Aus Gründen, die mit dem phasenhaften bzw. dem schubweisen Verlauf des Krankheitsprozesses zu tun haben, kann die Krankheit unabhängig von der Behandlung eine solche Durchschlagskraft entwickeln, dass es zum psychotischen Rezidiv kommt. Es spricht einiges dafür, dass solche Wiedererkrankungen auch nicht durch rechtzeitige, zum Teil massive Erhöhung der Medikamente abgefangen werden können.
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Diätetik des Lebens In den Katalog der Maßnahmen der Rückfallprophylaxe gehört neben der Medikamentenbehandlung auch eine »Diätetik« des Lebens mit der Psychose: die Erkundung der eigenen Verletzlichkeit, die Vermeidung von überfordernden psychosozialen Situationen, das aktive Aufsuchen und Herbeiführen von Lebenssituationen, die guttun, die aufbauen (siehe das Kapitel zu den Behandlungsgrundsätzen). Mit der Gewissheit, dass wir es mit einem chronisch-rezidivierenden Verlauf zu tun haben, beginnt das eigentliche Ringen um die Bewältigung der Schizophrenie – letztlich um das Leben mit der Krankheit. Das kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten zusammenwirken, wenn die Kranken bei ihrer Aufgabe der Unterstützung der ihnen nahestehenden Menschen wie der Behandelnden gewiss sein können. Dazu bedarf es des Lernens auf allen Seiten. Grundvoraussetzung dafür ist, wie bei allen chronisch-rezidivierenden Erkrankungen, die Befähigung der Kranken zur aktiven Auseinandersetzung mit ihrem Leiden. Sie müssen lernen, so gut es geht mit ihrer Krankheit zu leben, wenn sie sich schon nicht völlig überwinden lässt. Voraussetzung dafür wiederum ist, dass sie so viel wie möglich über diese Krankheit wissen, dass sie aus der Betroffenenperspektive zu Experten ihrer Krankheit werden. Für die Angehörigen ist das nicht anders. Die Therapeuten wiederum müssen sich auf die langfristige Begleitung ihrer psychosekranken Patientinnen und Patienten einlassen. Leider ist die Verbindung von lang andauernder Präsenz und Kompetenz im gegenwärtigen medizinischen Versorgungssystem keine Selbstverständlichkeit. Die langfristige Behandlungsperspektive erleichtert auch die Beratung in Lebensfragen, die eher mit Krankheitsfolgen als mit der Krankheit selbst zu tun haben, die aber dennoch Einfluss auf den weiteren Verlauf nehmen. Dazu gehören Tipps und Hilfen für eine Strukturierung des Tages, insbesondere wenn Arbeitsunfähigkeit besteht oder der Arbeitsplatz verloren gegangen ist. Von Bedeutung sind auch Hinweise zur Ernährung. Gewichtszunahme ist eine häufige Medikamentennebenwirkung – wenngleich nicht nur durch diese bewirkt, denn insbesondere bei Störungen des Handelns, Wollens und allgemeinen Antriebs vermindert sich das natürliche Bedürfnis, sich zu bewegen.
Diätetik des Lebens
Dazu gehören aber auch Hilfen beim Umgang mit Genussmitteln einschließlich Alkohol und Nikotin. Es bringt wenig, sich dabei auf Verbote zurückzuziehen. Gerade die Nikotinabhängigkeit ist bei Menschen, die eine Psychose durchlitten haben, weit verbreitet. Wahrscheinlich hängt das auch damit zusammen, dass das Alkaloid im Tabak bis zu einem gewissen Grad bestimmte Nebenwirkungen – leider aber auch Wirkungen – der Medikamente neutralisiert. Die Hilfe kann nur in der Unterstützung eines maßvollen Umgangs damit bestehen. Weshalb soll man ausgerechnet von Psychosekranken erwarten, was die meisten sonst Gesunden auch nicht zustande bringen? Ähnliches gilt für den Umgang mit Alkohol. Der Rat zu lebenslanger Abstinenz ist meistens völlig unrealistisch. Auch hier gilt es, den Patienten dabei zu helfen, das richtige Maß zu finden, und sie immer wieder auf die Verminderung der Verträglichkeit bei Medikamenteneinnahme hinzuweisen. Ein gänzlicher Verzicht wäre bei vielen wünschenswert. Ein Verbot aber, das nicht durchzusetzen ist, würde die vertrauensvolle Beziehung zwischen Behandelnden und Behandelten empfindlich stören. Zur Diätetik des Lebens gehört natürlich auch die Pflege von Beziehungen zu anderen Menschen. Die Beziehungsfähigkeit ist im Verlauf von Psychosen verhältnismäßig häufig nachhaltig gestört. Die krankheitsbedingte große Verletzlichkeit und die Stigmatisierung der Krankheit erweisen sich als Hindernisse bei der Aufrechterhaltung vorhandener, insbesondere aber bei der Anbahnung und Entwicklung neuer Beziehungen. Das gilt auch und vor allem für partnerschaftliche und Liebesbeziehungen. Der Gesprächspartner in diesen Dingen muss nicht der Therapeut sein, wenn andere Vertrauenspersonen vorhanden sind. Aber wenn das nicht der Fall ist, kann das sehr wohl dessen Aufgabe sein. Das gilt insbesondere, wenn Patienten und Patientinnen über verminderte sexuelle Bedürfnisse und/oder Potenzstörungen klagen. Dabei handelt es sich oft um Medikamentennebenwirkungen, aber nicht immer. Hier Rat zu geben und günstigenfalls Abhilfe zu schaffen, gehört zur ärztlichen Behandlung (vgl. Finzen 2009, S. 133 – 139). Ein besonderes Problem jüngerer Patientinnen ist der Umgang mit dem Kinderwunsch (Krumm 2010). Dabei dürfen wir Partner, Freunde, Angehörige und Therapeuten sie nicht alleinlassen! Wir können den Wunsch auch nicht einfach unter Verweis auf das genetische Risiko abtun, wie das früher üblich war. Dieses hat zwar in die Beratung ein-
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zugehen, aber genauso wichtig ist die Auseinandersetzung mit der Frage, welche Belastung – und welche Freude und Erfüllung – es mit sich bringt, ein Kind in die Welt zu setzen und großzuziehen.
Langfristige Strategien Spätestens nach dem ersten Rückfall ist es notwendig, eine langfristige Behandlungsstrategie zu entwickeln, die von Kranken und Therapeuten gemeinsam getragen wird. Die klassische Arzt-Patienten-Rolle verändert sich. Die paternalistische Vorstellung von Medizin ist in der Psychiatrie ohnehin seit Langem infrage gestellt. Aber bei einer Krankheit mit chronisch-rezidivierendem Verlauf zeigt sich das besonders deutlich. Hier kann es nicht mehr darum gehen, dass der Patient einfach nur tut, was die Ärztin oder der Arzt ihm sagt. Auf lange Sicht kommt es darauf an, einen Behandlungsplan zu erarbeiten, dem ein gemeinsames Krankheits- und Behandlungsverständnis zugrunde liegt und der von beiden Seiten aktiv mitgetragen wird – ein Vertrag, der letzten Endes ausgehandelt werden muss. Die Krankheit wird behandelt. Aber über die Art und Weise der Behandlung wird verhandelt. Eine Therapie, hinter der vor allem die Experten stehen, die die Kranken selbst aber nicht überzeugt, kann langfristig nicht tragfähig sein. Sie ist ständig vom Behandlungsabbruch bedroht. Da ist es kontraproduktiv, wenn die Behandelnden den Kranken ihre therapeutischen Vorstellungen aufdrängen. Die Gewinnung der Kranken für eine gemeinsame aktive und konstruktive Behandlungslinie wird damit zu einer zentralen Aufgabe. Neben Psychoinformation bzw. Psycho edukation und einer begleitenden Psychotherapie gewinnen damit die Selbsthilfe und die Ermutigung dazu an Gewicht – für die Angehörigen wie die Kranken.
Selbsthilfe Die psychoedukative Gruppenarbeit ist einer der vielfältigen Wege der Hilfe zur Selbsthilfe, die heute psychoseerkrankten Personen zur Verfügung stehen. Das Psychoseseminar ist ein anderer möglicher Weg. Dort
Selbsthilfe
treffen sich zeitlich begrenzt für jeweils ein »Semester« psychoseerfahrene Menschen, Angehörige, Experten verschiedener Berufsgruppen und interessierte Mitbürger im Rahmen einer Volkshochschule, einer psychosozialen Beratungsstelle, eines Universitätsseminars oder Ähnlichem, auf jeden Fall aber außerhalb eines institutionalisierten therapeutischen Rahmens. Alle Beteiligten steuern ihre Erfahrungen bei, als Kranke oder ehemals Kranke, als Ärztinnen oder Psychologen, Sozialarbeiterinnen oder Krankenpfleger, als beteiligte Angehörige, Freunde, Nachbarn oder schlicht als Interessierte, die ihren gesunden Menschenverstand einbringen. Diese Seminare haben den Vorteil, dass sie die Psychose bis zu einem gewissen Grad normalisieren und unmittelbare Verbündete bei der persönlichen Entstigmatisierung und beim Stigmamanagement schaffen. Das Psychoseseminar relativiert die »Einmaligkeit« des Erlebens in der Psychose. Es zeigt, dass auch Menschen, die nicht in psychiatrischer Behandlung waren, Grenzerfahrungen gemacht haben, die sie in die Nähe psychotischen Erlebens gebracht haben, und hilft bei der sozialen Einordnung des eigenen Erlebens bzw. der eigenen psychiatrischen Vorerfahrungen. Eine weitere Möglichkeit der Hilfe bieten Selbsthilfegruppen von Angehörigen wie von psychisch Kranken oder ehemals psychisch Kranken. Solche Gruppen können für viele Kranke hilfreich sein. Andere erleben sie eher als Belastung, weil sie sie ständig mit der Krankheit und mit dem Leid anderer konfrontieren. Dazu kommt, dass Selbsthilfegruppen nicht ganz selten einen einseitigen Charakter entwickeln, dass sie sich beispielsweise grundsätzlich gegen den Einsatz von Neuroleptika wenden oder dass sie die Psychiatrie vorrangig als eine Institution der Gewalt betrachten. Selbstverständlich können psychotisch erkrankte Menschen solche Erfahrungen machen, dies ist aber keineswegs immer so. Und selbst wenn es so ist, können solche Selbsthilfegruppen für manche eine Hilfe sein, ihre traumatischen Erfahrungen mit der Psychiatrie und der psychiatrischen Behandlung zu bewältigen.
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Familienklima und Rückfallrisiko
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In Forschungen über die Beziehung zwischen Schizophreniekranken und ihren Angehörigen, insbesondere den Eltern und in geringerem Ausmaß den Partnern, wird offenbar, dass die Atmosphäre nicht selten gespannt, manchmal sogar feindselig ist, dass man Mühe hat, sich gegenseitig zu ertragen, und doch aufeinander angewiesen ist – und dass dies unmittelbare Folgen für den weiteren Krankheitsverlauf hat. Wenn das Familienmilieu entspannt und freundschaftlich ist, wird das Rückfallrisiko vermindert. Wenn große familiäre Spannungen bestehen, insbesondere wenn Angehörige ständig Kritik aussprechen, erhöht sich das Grafik aus der »Medikamentenbehandlung, 13. Auflage, SeiteGruppe 198 Rezidivrisiko. Ein einfaches Schema der englischen um Julian Leff und Christine Vaughn verdeutlicht diese Zusammenhänge. Psychopharmaka, emotionale Atmosphäre und Rückfallrisiko (Leff 1989) Alle
Niedriger EE-Wert* 13 %
1. Dauermedikation 12 %
2. Ohne Dauermedikation 15 %
Hoher EE-Wert* 51 %
unter 35 Stunden Gesichtskontakt pro Woche 28 %
35 und mehr Stunden Gesichtskontakt pro Woche 71 %
3. Dauermedikation 15 %
5. Dauermedikation 55 %
4. Ohne Dauermedikation 42 %
6. Ohne Dauermedikation 92 %
* Rückfallrate (Prozent) einer Gruppe von 125 schizophrenen Patienten innerhalb von neun Monaten nach der Entlassung; niedriger EE-Wert: n = 69, hoher Wert: n = 56 (EE: emotional envolvement).
Es geht hier nicht darum, zu urteilen oder gar zu verurteilen. Jeder, der mit psychisch Kranken, mit über die Maßen verletzlichen Menschen, zusammengelebt oder im therapeutischen Rahmen gearbeitet hat, weiß, wie schwer es ist, immer Gelassenheit zu wahren. Jeder, der mit seiner Verletzlichkeit oder mit psychotischen Symptomen eng mit anderen
Familienklima und Rückfallrisiko
Menschen zusammengelebt hat, weiß, wie leicht Gereiztheit auf beiden Seiten aufkommen kann. Solche Probleme lassen sich nicht immer auflösen. Wichtig ist zu klären, was sich dort abspielt, und dass Wege aus der Falle des Beziehungsclinchs gesucht werden. Das kann in dem pragmatischen englischen Ansatz bestehen, den zeitlichen unmittelbaren Kontakt auf 35 Stunden in der Woche zu begrenzen, zum Beispiel durch den Besuch einer Tagesstätte, durch den Aufenthalt in einer eigenen Wohnung oder andere äußere Maßnahmen. Das kann aber auch darin bestehen, dass sich alle Beteiligten an einen Tisch setzen und versuchen, eine Lösung zu finden, die von gegenseitiger Toleranz und Einsicht getragen ist. Aber es ist oft schwer, die richtige Relation von Nähe und Distanz zu finden. Dabei zu helfen ist ein Ziel von Psychoedukation.
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Wenn die Krankheit andauert – »Therapieresistenz«
Niemand ist nur krank. Krankheiten bedingen Einschränkungen und Behinderungen in bestimmten Lebensbereichen. In anderen bleiben die Betroffenen leistungsfähig, sind sie gesund. Diese müssen während des Lernens, mit der Krankheit zu leben, erkundet und ausgeweitet werden, um die Lebensqualität zu verbessern. Dabei ist vor allem der Betroffene selbst gefordert, aber Angehörige, Freunde, Arbeitskollegen können ihm natürlich dabei helfen. Allerdings gibt es auch bei andauernder Krankheit die Möglichkeit zur Linderung einzelner Symptome durch therapeutische Maßnahmen.
Fortbestehen »produktiver« Symptome Wenn produktive, »positive« Symptome auf keine Behandlung ausreichend ansprechen, geschieht Folgendes: Denkstörungen bilden sich nicht zurück, Halluzinationen bleiben bestehen, Ängste halten an, Verfolgungsideen oder systematisierter Wahn bleiben unbeeinflussbar. Bevor man sich damit abfindet, muss geklärt sein, ob wirklich schon alle Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Wenn das so ist, muss man sich darauf einstellen, dass die noch vorhandene Symptomatik in der Tat »therapieresistent« ist – zumindest einstweilen. Dann gilt es, den Kranken zu helfen, mit dieser Symptomatik mit möglichst geringen Einschränkungen und Behinderungen zu leben. In welcher Weise dies zu geschehen hat, hängt von Art und Ausprägung der Symptome ab. Davon hängt dann natürlich auch ab, wie erfolgreich eine solche Behandlung sein kann. Nicht wenige Patientinnen und Patienten lernen es, ganz gut mit ihren Stimmen zu leben, insbesondere dann, wenn sie eher beiläufig sind und wenn sie keine quälenden, belastenden oder gar imperativen Inhalte haben. Wenn dies der Fall ist, helfen häufig niederpotente Neuroleptika, den quälenden Charakter der Stimmen zu mildern. Der Umgang mit
Fortbestehen negativer Symptome
den Stimmen kann dann gut zum Gegenstand psychotherapeutischer Betreuung und Begleitung werden. Jenseits von Klärung und psychotherapeutischer Unterstützung gibt es eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Techniken, die dabei helfen können, mit den Stimmen zu leben. Dazu gehört beispielsweise die systematische Ablenkung durch das Hören von Musik. Manchen Kranken hilft die »Gegenrede«, also den negativen Stimmen zu widersprechen. Denkstörungen etwa können auch dann durch niedrige Dosen von Neuroleptika gemildert werden, wenn sie andauern. Hier sind im Rahmen der psychotherapeutischen Begleitung individuelle Wege zu suchen, wie die Kranken damit leben können. Selbstverständlich ist das nicht leicht, aber es lohnt, sich immer wieder den Bleuler’schen Satz in Erinnerung zu rufen, »dass das Gesunde dem Schizophrenen erhalten bleibt«. Dies gilt auch dann, wenn Störungen des Denkens vorliegen. Hier gilt es, mit den gesunden Anteilen zu arbeiten und die gestörten Anteile mit ihrer Hilfe möglichst weitgehend zu kontrollieren.
Fortbestehen negativer Symptome Das Vorgehen beim Fortdauern negativer Symptome ist mühseliger als der Umgang mit produktiven. Von der Medikamentenbehandlung ist wenig Hilfe zu erwarten. Das gilt insbesondere von hoch dosierter Neuroleptikabehandlung. Im Gegenteil, beim Vorherrschen von Negativsymptomatik muss man versuchen, mit möglichst niedrigen Dosen auszukommen, um nicht sogenannte sekundäre Negativsymptome auszulösen, die Nebenwirkungen der Neuroleptikabehandlung sind, insbesondere bei der Behandlung mit konventionellen hochpotenten Neuroleptika. Skepsis ist leider gegenüber den behaupteten günstigen Wirkungen von – niedrig dosierten – atypischen Neuroleptika angebracht. Alles, was die Neuroleptika nicht bewirken, ist Angelegenheit von Psychotherapie, psychosozialem Training und Rehabilitation – oder Angelegenheit von Geduld und Zeit. Meist dürfte es die Verbindung von allem sein.
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Wenn die Krankheit andauert – »Therapieresistenz«
Fehlende Kooperation Die fehlende Zusammenarbeit von Arzt und Patient ist ein häufiger Grund für eine scheinbare Therapieresistenz psychotischer Symptome. Der Begriff der Compliance ist dafür unglücklich gewählt. Er gerät bei Kranken, insbesondere bei solchen, die in Selbsthilfegruppen organisiert sind, zunehmend in Verruf. Er unterstellt einen einseitigen Prozess: Die Behandelnden ordnen an, die Kranken führen aus. Dies kann heute nicht mehr so gemeint sein. Wegen der Belastung des Begriffs setzt sich im angelsächsischen Sprachraum zunehmend der Begriff »Konkordanz« durch. Was bedeutet ein solcher Begriff? Kranke und ihre Behandelnden suchen in Übereinstimmung den besten und geeignetsten Weg zur Behandlung. Bei lang anhaltenden psychischen Störungen muss das selbstverständlich so sein. Ich habe das in den einführenden Kapiteln bereits mehrfach hervorgehoben. Bei fehlender Übereinstimmung über Behandlungsziele und über die beste Art der Therapie kommt es zu Missverständnissen, kommt es zur Verweigerung der Kranken gegenüber medizinischen Ratschlägen. Das beginnt mit einem unterschiedlichen Krankheitsverständnis und endet mit dem Unverständnis und der inneren Ablehnung der vorgeschlagenen Maßnahmen, und zwar häufig ohne dass diese Vorbehalte artikuliert werden. Bei fehlender Kooperation genügt deshalb nicht das Insistieren der Behandelnden auf Medikamenteneinnahme oder regelmäßiger Teilnahme an soziotherapeutischen Maßnahmen. Mangelnde Compliance (Befolgen des ärztlichen Rats) ist Anlass für eine Bestandsaufnahme und Überprüfung der Grundlagen der Behandlung sowie für den Versuch, eine neue Übereinstimmung zu finden – eben eine Konkordanz darüber, wie vorzugehen ist. Das bedarf nicht nur der Zeit, sondern auch der Bereitschaft der Therapeuten, zuzuhören und einen Weg auszuhandeln, der nicht in jedem Fall ihren Idealvorstellungen von dem entspricht, was sinnvoll und notwendig ist. Im Umgang mit psychisch Gesunden gilt die Regel, dass körperlich Kranke in jedem Fall für sich selbst verantwortlich sind und entscheiden können, ob sie kooperieren wollen oder nicht. Gegenüber psychisch Kranken gilt dies im Grundsatz auch. Aber weil die Schwierigkeiten, eine Übereinstimmung zu finden, mit anhaltenden Krankheitssymp
Mangelnde »Krankheitseinsicht«
tomen im Bereich des Denkens oder Affekts zu tun haben können, sind die Therapeuten hier stärker gefordert. Auf keinen Fall kann es um ein Alles oder Nichts gehen. Vielmehr ist es sinnvoll und notwendig, über einen tragfähigen Weg der Behandlung zu verhandeln.
Mangelnde »Krankheitseinsicht« Mit der Krankheitseinsicht ist das so eine Sache. Sie gilt als psychopathologisch begründetes Merkmal schizophrener Psychosen – als kognitives Defizit. Das mag manchmal berechtigt sein. Es sei jedoch davor gewarnt, das allzu einseitig zu sehen. Wer unter einem Wahn leidet, wer felsenfest davon überzeugt ist, verfolgt, bedroht und vergiftet zu werden, kann aufgrund seiner Weltsicht nicht verstehen, dass das, was mit ihm geschieht, krankhaft sein soll, dass er in Wirklichkeit an einer psychischen Krankheit leidet. Allerdings gibt es vielfältige Symptome psychischer Störungen, deren krankhafter Charakter auch bei Vorliegen psychotischer Störungen vermittelt werden kann. Angst beispielsweise oder Schlafstörungen, Müdigkeit, Erschöpfung, Abgeschlagenheit und Passivität gelten im Alltagswissen weiter Kreise der Bevölkerung als potenzielle Krankheitssymptome. Die Erfahrung zeigt, dass sie auch »krankheitsuneinsichtigen« Psychosekranken als solche vermittelt werden können. Wenn sich die Verständigung zwischen den Kranken und ihren Behandelnden schwierig gestaltet, kann es sinnvoll sein, sich über die Therapie solcher Teilsymptome zu einigen und auf diese Weise den Einstieg zu finden. So kann auch der Einstieg in die Neuroleptikabehandlung erfolgen. Auf diesem Wege ist nicht nur eine Basisverständigung über die Behandlungsnotwendigkeit möglich, sondern auch darüber, dass das, was die Kranken ängstigt und sie von sich selbst entfremdet, etwas mit Medizin und mit Krankheit zu tun hat. Dieses Basisverständnis kann dann allmählich ausgeweitet werden. Mit der Rückbildung der Symptome bietet sich die Chance, das Verstehen zu fördern und womöglich den Krankheitscharakter des Gesamtbildes der psychotischen Veränderung zu erläutern und verständlich zu machen. Aber unabhängig davon kann der Betroffene eine für ihn gangbare Form des Umgangs mit seiner Situation entwickeln.
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Wenn die Krankheit andauert – »Therapieresistenz«
Störungen des Handelns und Wollens Nach allgemeinem Verständnis sind ������������������������������� Störungen des Handelns und Wollens mit vollständigem sozialem Rückzug verbunden, mit dem Bedürfnis, sich rundum versorgen zu lassen bei gleichzeitiger Verminderung fast aller anderen Bedürfnisse auf ein Minimum. Kranke, die in diesem Zustand zu Hause leben, bewegen sich kaum noch oder nur unter großem Zureden (oder unter Druck) aus ihrem Zimmer. Sie stehen morgens nicht auf. Sie vernachlässigen ihre Körperpflege. Sie sind mühsam unter die Dusche zu bringen. Sie laufen den ganzen Tag im Trainingsanzug herum. Sie wechseln ihre Kleidung nicht. Sie tun buchstäblich nichts. Sie freuen sich über nichts. Sie scheinen unbeeindruckt zu sein von dem, was um sie herum vorgeht. Sie nehmen nicht am gemeinsamen Essen teil. In schweren Fällen stellen sie vorübergehend sogar das Essen ein. Hier zu helfen ist schwer. Wenn diese Patienten allein leben, tritt nicht selten ein Zustand von Verwahrlosung ein, der dann doch zur Intervention von außen führt. Wenn sie in der Familie leben, entwickelt sich häufig eine Szenerie stillen Leidens, in der die Angehörigen über Monate und Jahre sogar dann ohne Hilfe bleiben, wenn sie darum nachsuchen. Allenfalls der Hausarzt kommt in solchen Fällen in die Wohnung. Beim Psychiater ist das eher selten der Fall; und das Einweisungsgesetz greift nicht, weil ja keine »dringende, unmittelbare« Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung besteht. Wenn eine Klinikbehandlung nicht herbeigeführt werden kann, ist es der erfolgversprechendste Weg, die Kranken in irgendeiner Weise zu überreden, wenigstens stundenweise an die Luft zu gehen, gegebenenfalls auch niedrige Dosen von Medikamenten einzunehmen. Wenn sich in solchen Konstellationen die Situation zuspitzt, führt wohl kein Weg an einer gesetzlichen Betreuung vorbei. Das aber ist allenfalls eine Hilfe von außen, keine Lösung.
Der »Drehtüreffekt« Der mehrmalige Rückfall mit der Konsequenz der Wiederaufnahme in die psychiatrische Klinik ist ein Sonderfall der Therapieresistenz. Kranke erleiden ein Rezidiv und dekompensieren in einem solchen Ausmaß,
Der »Drehtüreffekt«
dass sie in die Klinik eingewiesen werden müssen. Ihr Zustand bessert sich, sie werden entlassen und kurze Zeit später dekompensieren sie erneut. Es gibt Kranke, die innerhalb weniger Jahre fünf-, zehn-, zwanzigmal wieder aufgenommen und wieder entlassen werden, die zuverlässig nach wenigen Wochen oder Monaten wieder zurückkehren (der sogenannte Drehtürmechanismus). Auch das kann vielfältige Gründe haben. Der häufigste besteht darin, dass sie kurze Zeit nach der Entlassung die ambulante Behandlung abbrechen, dass sie sie häufig erst gar nicht aufsuchen. Meistens setzen sie bald nach der Entlassung die Medikamente ab und häufig werden sie zu schnell wieder aus der Klinik entlassen. Das wiederum kann unterschiedliche Gründe haben. Die bloße Vorgeschichte entmutigt die Therapeutinnen und Therapeuten oft, eine konsequente Durchbehandlung zu versuchen. Wer zum zehnten Mal in die Klinik kommt, wird oft nur als vorübergehender Gast begrüßt und lediglich eine Krisenintervention absolvieren und dann, sofern er dies wünscht, nach wenigen Tagen wieder entlassen. Eine andere Gruppe von Patientinnen und Patienten wird als behandlungsbedürftig erkannt, ist jedoch behandlungsunwillig; Gründe für eine fürsorgliche Zurückhaltung liegen nicht vor. Sie sind krank, aber friedfertig. Sie stören niemanden, wenn sie in die Gemeinde entlassen werden. Gerichtsärzte, Amtsärzte, psychiatrische Kommissionen und Gerichte sehen keinen Grund, sie einer Behandlung gegen ihren Willen zuzuführen. Sie bleiben auf diese Weise ihrem Schicksal des Lebens mit der unzureichend behandelten Krankheit überlassen. Sie selbst sind nicht imstande, angemessene Hilfe zu organisieren. Oft ist ihr Hilfesuchverhalten gestört und sie erkennen auch ihre eigenen Bedürfnisse nicht. Genauso oft sind sie zufrieden mit dem Leben im Elend, weil die Krankheit zu einer Minimisierung ihrer Lebensbedürfnisse geführt hat. Bei dieser Patientengruppe lohnt es, die »Drehtür« anzuhalten. Das kann auf doppelte Weise geschehen: durch die Aufnahme in die Klinik für eine längere Zeit, etwa drei Monate, sechs Monate, ein Jahr – oder durch die Zuweisung an eine gut organisierte Nachsorgeeinrichtung, die auch aufsuchende Hilfe leistet, die also nicht resignierend die Hände in den Schoß legt, wenn ein Patient oder eine Patientin den vereinbarten Termin nicht einhält. Oft ist eine Kombination von beiden Maßnahmen sinnvoll: erst Stabilisierung durch eine stationäre Behandlung,
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dann nach sorgsamer Vorbereitung Zuweisung an einen sozialpsychiatrischen Dienst, an eine multiprofessionell organisierte Nachsorgeeinrichtung.
Doppelerkrankung Psychose und Abhängigkeit Es gibt Krankheiten, die schon immer bestehen, aber dann irgendwann »Konjunktur« bekommen. Nicht selten geschieht dies zum Nutzen der Kranken. Seit einiger Zeit sind das die »Doppeldiagnosen«. Gemeint ist in der Regel, dass jemand, der an einer Psychose erkrankt ist, außerdem alkohol-, medikamenten- oder drogenabhängig ist. An verschiedenen Orten hat man Spezialstationen für diese Kranken eingerichtet. Dafür gibt es gute Gründe. Im üblichen psychiatrischen Setting sind sie wenig erwünscht. Auf den Abteilungen für Abhängigkeitskranke stört man sich daran, dass sie an einer Psychose leiden. Auf den Abteilungen, die allgemeinpsychiatrisch arbeiten, sprengt die Abhängigkeit das Konzept. Ob sie nun Cannabis rauchen, übermäßig dem Alkohol zusprechen oder, am schlimmsten, Kokain oder Heroin missbrauchen, sie bringen die Abteilungsordnung durcheinander und fügen sich in keinen Therapieplan ein. Trotzdem bedarf es der Spezialisierung auf diese Patientengruppen nicht unbedingt, um angemessene Behandlung zu gewährleisten. Ein Schizophreniekranker, der außerdem von irgendwelchen Suchtstoffen abhängig ist, bleibt vorrangig ein Schizophreniekranker. Er wird dort angemessen behandelt, wo andere Schizophreniekranke auch behandelt werden. Diese Forderung ist an das psychiatrische Behandlungssetting zu stellen. Nur in der akuten Situation beim Entzug von Alkohol oder Opiaten ist der Rahmen einer Abteilung für Abhängigkeitskranke angemessen und richtig. Wenn der Entzug vorbei ist, wird die allgemeine Psychiatrie wieder zuständig. Die Behandlung der Psychose hat Vorrang. Allzu häufig ist der Gebrauch von Suchtstoffen eine sekundäre Krankheitsfolge in dem Sinn, dass die Psychose nicht zureichend behandelt worden ist. Alkohol oder Heroin werden als untaugliche Mittel zur Bekämpfung von psychotischen Symptomen wie Angst und Unruhe eingenommen. Das ist der Grund, weshalb die Behandlung der
Was lässt sich tun?
Grundkrankheit zugleich der erste Schritt zur Behandlung der sekundären Abhängigkeit sein sollte. Die Komplikation der Psychose durch die Suchtstoffabhängigkeit kann ein Grund sein, ähnlich wie beim »Drehtürpatienten« eine längere stationäre Behandlungsphase einzuschalten, um zu einer Stabilisierung beizutragen und die Rückkehr in ein verändertes soziales Milieu einzuleiten.
Was lässt sich tun? Im ersten Teil dieses Kapitels habe ich eine Reihe von Faktoren erörtert, die zu Schwierigkeiten bei der Behandlung schizophrener Psychosen führen. Nur zwei davon haben damit zu tun, dass die Krankheit sich gegenüber den verfügbaren Behandlungsmethoden als »resistent« erweist: Das Andauern positiver und negativer psychotischer Symptome. Die gesondert aufgeführten Störungen des Handelns und Wollens gehören zu den Negativsymptomen. Bei allen anderen handelt es sich um Probleme der Verständigung zwischen Therapeuten und Patienten über die Notwendigkeit und Art der Behandlung, um Unzulänglichkeiten des Behandlungssystems und um Krankheitsfolgen wie Institutionalismus und sekundäre Abhängigkeit von Alkohol oder anderen Suchtstoffen. Mit anderen Worten: Nicht alles, was unter »Therapieresistenz« subsumiert wird, ist der Behandlung wirklich nicht zugänglich, wenn man alle zu Gebote stehenden Möglichkeiten ausnutzt, die Geduld bewahrt und die Kranken nicht aus den Augen verliert. Fehlender Kooperationswille ist möglicherweise doch durch Beharrlichkeit und geduldiges Verhandeln mit den Kranken zu überwinden. Wenn das nicht oder nur teilweise gelingt, ist die Unterstützung durch Angehörige, Freunde und Bekannte hilfreich. Kooperation und Konkordanz sind nicht Ergebnis einer einmaligen Entscheidung. Sie sind Ausdruck eines Fließgleichgewichts von Argumenten und Gegenargumenten, von Erlebnissen und Erfahrungen sowie von mannigfachen Einflussfaktoren im Umfeld der Kranken. Mit anderen Worten: Es muss ständig daran gearbeitet werden. Auch die »Krankheitseinsicht« ist ein solcher Faktor. Es sei daran erinnert, dass nicht nur Psychosekranke »uneinsichtig« sind. Der »unvernünftige« Umgang mit Krankheit und Therapie ist ein zentrales Problem der gesamten Medizin. Menschen wollen nicht krank sein. Sie
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tun alles, um ihren Zustand zu verleugnen, und Medikamenteneinnahme und Arztbesuche sind der Beweis des Gegenteils. Die Beendigung der Medikamenteneinnahme ist aus der Perspektive des Nicht-kranksein-Wollens nur konsequent. Das gilt umso mehr, als der Rückfall ja nur ausnahmsweise auf dem Fuß folgt. Das Psychoserezidiv lässt nicht Tage, sondern Wochen auf sich warten. Durch den Fortfall der unerwünschten Medikamentenwirkungen fühlen sich die Kranken vielmehr zunächst oft besser, bis es dann so weit ist. Bei einem solchen Verhalten wird die Geduld der Behandelnden arg strapaziert. Das ändert aber nichts daran, dass man dann mit dem gleichen Engagement wieder von vorn anfangen muss, so schwer einem das gegebenenfalls auch fallen mag. Noch schwieriger ist die Situation, wenn der Mangel an Einsicht in die Krankheit durch psychotische Symptome gestützt wird. Meist sind dies Wahnsymptome, die einer unmittelbaren Argumentation nicht zugänglich sind. Das bedeutet aber nicht, dass solche Kranke überhaupt nicht erreichbar sind. Oft gibt es periphere Symptome, die sie stören oder unter denen sie leiden und die sie behandelt haben möchten. Dazu gehören Schlafstörungen, Unruhe und Angst, über deren Behandlung gegebenenfalls auch die Psychose der Therapie zugänglich wird. Auch hier gilt es beharrlich, das Gespräch mit den Kranken zu suchen in der Hoffnung, sie am Ende doch für ein Behandlungsbündnis zu gewinnen. Wenn Störungen des Handelns und Wollens im klassischen Bleuler’schen Sinne im Vordergrund stehen, geht es häufig gar nicht um Überzeugungsarbeit, sondern darum, den Kranken möglichst weit entgegenzukommen. Wenn ihr Wollen bzw. ihr Wollen-Können erkrankt ist, sind sie oft dennoch bereit, Hilfe entgegenzunehmen, wenn diese an sie herangetragen wird. In der Begrifflichkeit der modernen Sozialpsychiatrie nennt man dies »aufsuchende Hilfe«. Solche Kranken müssen zu Hause aufgesucht werden. Sie benötigen umfassende Unterstützung bei der Bewältigung ihres Alltags. Wenn Krankheitssymptome fortbestehen, ist das zunächst eine Herausforderung an die Pharmakotherapie. Die Ausschöpfung aller Möglichkeiten erfordert umfassende psychopharmakologische Kenntnisse und langzeitige Erfahrungen in der Psychosentherapie, gepaart mit Beharrlichkeit und Geduld. Unter den produktiven Symptomen ist es meist der systematisierte Wahn, nicht selten verbunden mit Angst und imperativen Eingebungen, der die Therapie auf die Probe stellt.
Was lässt sich tun?
Bei den negativen Symptomen sind es die Verminderung des Antriebs, das Nicht-wollen-Können und der Autismus, die am schwersten zugänglich sind. Daran haben auch die neueren atypischen Neuroleptika nicht viel geändert. Allerdings kann die versuchsweise Gabe von Clozapin ratsam sein. Bei einem andauernden systematisierten Wahn gelten ähnliche Überlegungen. Hier kann eine höhere Medikamentendosis indiziert sein. Aber es ist falsch, nach der Devise zu handeln: Viel hilft viel. Wenn keine psychomotorische Erregung vorliegt, wenn der Wahn und die Eingebung von Gedanken keine unmittelbare Gefährdung oder Bedrohung darstellen, reicht eine mittlere, in ihren unerwünschten Wirkungen erträgliche Neuroleptikadosis aus. Wichtig ist, dass sie über lange Zeit gegeben wird. Das können beim systematisierten Wahn sechs Monate oder ein ganzes Jahr sein, bis sich der Erfolg einstellt. Da bei solchen Patientinnen und Patienten meist alle konventionellen Medikamente ausgereizt sind, ist Clozapin (Leponex) bei ihnen das Neuroleptikum der Wahl. Wenn Kranke über lange Zeit mit einem systematisierten Wahn gelebt haben, ist dieser, auch wenn er sie quält und sie unfähig macht, das soziale Leben wahrzunehmen, das sie sich wünschen, oft zu einem Teil ihrer Identität geworden. Das gilt vor allem, wenn sie ihren Tagesablauf aufgrund ihrer Wahninhalte gestalten, wenn ihre Aktivitäten durch Wahnideen gesteuert sind, ganz besonders, wenn es sich um Größen ideen handelt. Dann kann die Unterdrückung des Wahns zu Inaktivität und innerer Leere führen und eine Sinnkrise bewirken, die geradewegs in den Suizid führt. Die Kranken sagen einem dies; und man tut gut daran, auf sie zu hören. Wenn dies der Fall ist, erweist es sich als sinnvoll, einen Mittelweg anzusteuern: die Angst und die Unruhe medikamentös zu mildern, die produktive Aktivität aber nur in Grenzen zurückzudrängen, sodass der Kranke mit seinem Wahn sozial mehr oder weniger integriert leben kann. Ich kenne eine Reihe von Patientinnen und Patienten, die auf diese Weise ein selbstständiges, subjektiv erfülltes Leben führen: als Künstler, als Erfinder, als Denker. Sie leben auf diese Weise in und mit ihrer Psychose. Bei ihnen zeigen sich die Grenzen der Therapie: Mehr würde ihnen schaden. Entscheidend für Art und Ausmaß der Behandlung »therapieresistenter« Zustände bleibt die Entwicklung der psychotischen Störung
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über die Zeit. Die Psychose ist kein stabiler Zustand. Sie kann nach Jahren, ja nach Jahrzehnten wieder aufflackern oder remittieren, wechselhafte Symptome zeigen und auch in höherem Alter noch abklingen. Wichtig ist, dass sich die jeweilige Therapie dem Verlauf anpasst, dass die Behandelnden den Menschen hinter der Psychose nicht aus den Augen verlieren.
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Rehabilitation und psychosoziale Hilfen
Ziel einer jeden Therapie ist es, eine Krankheit zu heilen, Gesundheit wiederherzustellen und die von der Krankheit Betroffenen in die Lage zu versetzen, ihr früheres Leben »vollumfänglich« wieder aufzunehmen. Rehabilitation kommt zum Tragen, wenn die Behandlung ausgeschöpft ist und sich die Hoffnungen auf vollständige Wiederherstellung als falsch erwiesen haben. Rehabilitation setzt sich zum Ziel, durch Krankheit oder Krankheitsfolgen beeinträchtigten Menschen dabei zu helfen, besser mit ihrer Behinderung zu leben, behinderungsbedingte Einschränkungen durch das Erlernen neuer Fähigkeiten oder durch Training zu überwinden. Sie will mittels der Förderung gesunder Persönlichkeitsanteile Defizite in einem Lebensbereich durch verbesserte Leistungsfähigkeit in anderen Bereichen ausgleichen. Wichtig ist, dass die Rehabilitation als gezielte Maßnahme erst einsetzt, wenn durch Behandlung eine ausreichende Stabilisierung erreicht ist. Wenn noch behandlungsfähige psychotische Symptome bestehen, sind Vorsicht und Zurückhaltung angebracht. Überforderung und vorzeitige, allzu hohe Rehabilitationserwartungen führen leicht zum Rückfall, zu Enttäuschungen, Verlust der Hoffnung und Verzweiflung. Rehabilitationsmaßnahmen bedürfen der sorgsamen individuellen Dosierung und der Vorbereitung im milieutherapeutischen Rahmen der Klinik oder Tagesklinik. Dies geschieht am besten durch eine Prüfung der sozialen Kompetenzen, etwa in der Ergo- oder Arbeitstherapie und bei der soziotherapeutischen Gestaltung des Alltags auf der Abteilung oder zu Hause.
Grundlagen der Rehabilitation bei psychischen Störungen Bei der Rehabilitation Psychosekranker ist Folgendes von zentraler Bedeutung: Psychische Behinderungen sind, anders als geistige oder körperliche Behinderungen, nicht stabil, sondern mannigfachen Wechsel
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Rehabilitation und psychosoziale Hilfen
fällen unterworfen. Der Langzeitverlauf von Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis ist typisch dafür. Die Besonderheiten seelischen Krankseins wirken sich somit anders aus als bei der Rehabilitation körperlich oder geistig Behinderter. Das bedingt auch, dass sich ihre Integration in allgemeine Rehabilitationsprogramme immer wieder als untauglich erwiesen hat. Ein Rezidiv zur Unzeit kann langjährige Rehabilitationsbemühungen zunichte machen. Deswegen gehört die Weiterbehandlung unabdingbar zu allen Bemühungen der Rehabilitation psychosekranker Personen. Dabei bedürfen folgende Faktoren besonderer Beachtung: Behinderungen, die im Gefolge einer psychischen Krankheit zu erwarten sind, sind umso schwerwiegender, je erfolgloser die Anfangsbehandlung gewesen ist und je größer die sozialen Defizite sind, die die Kranken mitbringen: Wer eine gute Schulbildung und einen Beruf hat, wer Angehörige und Freunde hat, die sich um ihn kümmern, hat günstige Voraussetzungen für eine psychiatrische Rehabilitation. Aber bezeichnenderweise genügen für solche Kranken oft die Maßnahmen einer konventionellen psychiatrischen Behandlung. Der »typische« rehabilitationsbedürftige psychisch Kranke hat keinen Schulabschluss, keinen Beruf, keine Freunde, begrenzten Kontakt zu Angehörigen und lebt in ungünstigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Persönlichkeitseigenschaften, die eine erfolgreiche Rehabilitation gewährleisten, sind von der psychischen Krankheit mitbetroffen. Solche Eigenschaften sind: Motivation, geistige und soziale Beweglichkeit, soziale Kontaktfähigkeit und Kontaktbereitschaft, Beharrlichkeit und Ausdauer sowie gutes Konzentrationsvermögen. Seelisch Behinderte sind aber in aller Regel durch Antriebslosigkeit, erhöhte Verstimmbarkeit und Verletzlichkeit, vermehrte Angst und Zurückgezogenheit gekennzeichnet. Man könnte schlussfolgern: Den typischen Rehabilitanden mit psychischen Behinderungen fehlen gerade jene Eigenschaften, die für einen Rehabilitationserfolg notwendig sind. Sie haben keine Motivation, sind unbeweglich und kontaktarm. Sie können sich nicht konzentrieren und haben keine Ausdauer. Wir erwarten von Rehabilitandinnen und Rehabilitanden, dass sie aktiv mitarbeiten, dass sie motiviert sind, dass sie einen klaren Willen zeigen. Und wir sind mit der Tatsache konfrontiert, dass eben dieser Wille von seelischer Krankheit mitbetroffen sein kann. Das stellt besondere Anforderungen an Rehabilitationsmaßnahmen für psychisch Kranke.
Berufliche Rehabilitation – was ist zu tun?
Und es stellt auch die Rehabilitanden und ihre Angehörigen vor große Probleme. Sicher ist, dass die Besonderheiten psychischer Störungen und ihrer Folgen bei der Entwicklung von Rehabilitationsmaßnahmen berücksichtigt werden müssen. Sie begrenzen die Erwartungen. Ihre Berücksichtigung eröffnet aber neue Chancen, die es zu nutzen gilt.
Berufliche Rehabilitation – was ist zu tun? Psychiatrische Rehabilitation setzt vorrangig auf Training: Training sozialer Kompetenzen, kognitives Training, Ausdauertraining etc. Dazu sind in den vergangenen Jahren vielfältige Programme und Manuale entwickelt worden, die durchaus auf Erfolge verweisen können. Allerdings sei vor allzu großem Optimismus im Hinblick auf berufliche Wiedereingliederung gewarnt. Dies hängt nicht so sehr mit den psychosespezifischen Behinderungen und den Grenzen der Rehabilitationsprogramme zusammen. Vielmehr ist es eine Folge der Entwicklung der betrieblichen Strukturen und der allgemeinen Arbeitsmarktsituation. Weil Arbeit teuer ist und Renditeerwartungen ungeheuer gestiegen sind, sind Betriebe rigoros auf Effizienz ihrer Mitarbeiter ausgerichtet. Nischenarbeitsplätze oder Positionen, mit denen Schwankungen der Leistungsfähigkeit von Tag zu Tag oder von Monat zu Monat vereinbar sind, werden wegrationalisiert. Angesichts von Arbeitslosenquoten von zehn Prozent plus Vorruhestand plus Frühpensionierung ist zu überdenken, welche Ziele die berufliche Rehabilitation psychisch behinderter Menschen überhaupt haben kann – was nichts darüber aussagt, dass im Einzelfall vieles möglich sein kann. Dieser Situation hat die Rehabilitation psychisch Kranker zwar nicht konzeptionell, aber in der Praxis Rechnung getragen: Berufliche Integration nach psychischer Krankheit erfolgt ganz überwiegend auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt in Behinderteninstitutionen (Werkstätten für behinderte Menschen etc.), in Selbsthilfebetrieben oder in anderen Formen von beschützten Arbeitsplätzen. Das ist die heutige Realität. Damit gilt es umzugehen und im Einzelfall die bestmögliche Lösung zu suchen. Dies mag bedauerlich sein, aber es ist der Psychiatrie leider nicht möglich, die gesellschaftliche Realität zu ändern. Es wäre
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Rehabilitation und psychosoziale Hilfen
geradezu unmoralisch, ausgerechnet psychisch stark verletzliche Rehabilitanden gleichsam als »Rammböcke« einzusetzen, um Forderungen an die Wirtschaft zu untermauern und so die gesellschaftliche Situation zu verbessern. Dies bedeutet natürlich nicht, dass wir auf den Versuch verzichten sollten, psychisch Behinderte in ihre frühere Arbeitsumgebung zu reinteg rieren. Aussichtsreich ist das allerdings nur bei mäßiger Ausprägung der Behinderung. Noch schwieriger ist die Rehabilitation bei Jugendlichen ohne Schulabschluss oder ohne abgeschlossene Ausbildung. Bei ihnen geht es zunächst einmal darum, zu helfen, dass sie einen solchen Abschluss erwerben – allerdings auch dies nicht um jeden Preis und immer orientiert an ihrer individuellen Belastbarkeit. Danach sind die Möglichkeiten erneut zu überprüfen. Betroffene und Angehörige sollten unbedingt die zahlreichen Institutionen nutzen, die auf diesem Feld verfügbar sind. In diesem Zusammenhang sei auf die Bücher von Christiane Haerlin (2010) sowie Hermann Mecklenburg und Joachim Storck (2010) verwiesen.
Psychosoziale Rehabilitation Anders als bei der beruflichen ist es bei der psychosozialen Wiedereingliederung. Hier bestehen Rehabilitationschancen, die bislang nicht ausreichend genutzt worden sind. Es sei daran erinnert, dass viele Psychosekranke als Heranwachsende oder als Jugendliche erkranken. Einige von ihnen haben die Schule noch nicht abgeschlossen. Andere stehen in der Berufsausbildung. Viele, insbesondere junge Männer, leben noch bei den Eltern. Ihnen fehlen Alltagsfertigkeiten, was sie daran hindert, ein selbstständiges Leben in eigener Wohnung zu führen – und was sie, wenn sich das nicht ändert, in späteren Lebensabschnitten in Abhängigkeit von ihrer Herkunftsfamilie hält. Bei ihnen hat die psychosoziale Rehabilitation bei der Bewältigung des alltäglichen Lebens anzufangen. Sie müssen lernen, einzukaufen und zu kochen. Sie müssen lernen, den Herd und die Waschmaschine zu bedienen. Sie müssen lernen, zu waschen, zu bügeln und ihr Zimmer oder ihre Wohnung zu putzen. Sie müssen lernen, die Alltagsbürokratie zu
Hilfen im Alltag
bewältigen: Briefe zu beantworten, Rechnungen zu bezahlen, Behördengänge zu erledigen. Sie müssen, wenn sie keine Arbeit haben, lernen, ihren Tag zu strukturieren, sich zu beschäftigen, zu betätigen. Sie müssen, wenn ihr Freundes- und Bekanntenkreis sich aufgelöst hat, lernen, diesen wieder zu aktivieren oder soziale Kreise zu suchen, in denen sie neue Kontakte knüpfen können. Dazu gehört auch die Aktivität in der Selbsthilfegruppe. Sie müssen lernen und darin trainiert werden, ihre Freizeitbedürfnisse zu erkunden und umzusetzen und, wo immer es geht, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Dieser Aspekt der Rehabilitation wird in seiner Bedeutung an vielen Orten – auch von den Kranken und ihren Angehörigen – nicht ausreichend wahrgenommen. Die Chancen, die er bietet, werden allzu oft nicht genutzt.
Hilfen im Alltag Wie bei der medizinischen und therapeutischen Behandlung müssen wir damit rechnen, dass die Rehabilitation ihre Ziele nicht vollständig erreicht. Das bedeutet oft ein Scheitern, das von den Rehabilitanden auch so erlebt wird. Aber damit es nicht dabei bleibt, müssen wir nach Alternativen zur Rehabilitation suchen. Wenn es nicht gelingt, das behinderungsbedingt eingeschränkte berufliche oder psychosoziale Funktionsniveau zu heben, müssen wir den Kranken helfen, so zu leben, wie sie sind. Das aber bedeutet, dass wir mit ihnen zusammen die Voraussetzungen dafür schaffen müssen, dass sie ihr durch die Psychosefolgen behindertes Leben nach ihren Möglichkeiten in Würde und Muße führen können. Sie bedürfen neben der psychiatrischen Behandlung einer angemessenen eigenen Wohnung. Sie müssen die Chance haben, sich zu betätigen – das kann, das muss aber nicht geschützte Arbeit sein. So oder so: Sie haben den Anspruch auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ich will hier nicht ausführen, wie das im Einzelnen aussehen kann. Ich will nur darauf verweisen, dass zur Verwirklichung dieser Ziele gegebenenfalls Hilfen im Alltag notwendig sind, die über die Bereitstellung einer betreuten Wohnung, einer Tagesstätte oder einer beschützenden Werkstatt hinausgehen. Das können persönliche Hilfen im Alltag sein, beispielsweise bei der Bewältigung der Haushaltsführung, so seltsam
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Rehabilitation und psychosoziale Hilfen
einem dies bei einem körperlich gesunden jungen Mann oder einer jungen Frau auch erscheinen mag. Es können andere Formen der aufsuchenden Hilfe sein, die der sozialen Aktivierung oder der Entwicklung von Kontakten und Beziehungen dienen. Die Rehabilitation Psychosekranker war über lange Zeit ein Stiefkind des hoch entwickelten Rehabilitationswesens in den deutschsprachigen Ländern. Das hat sich geändert. Heute besteht jedoch der Eindruck, dass ihre Ziele allzu oft nicht den Bedürfnissen und den Möglichkeiten der behinderten psychisch Kranken entsprechen. Die berufliche Rehabilitation mündet, auch wenn sie erfolgreich ist, allzu oft in Arbeits losigkeit. Die Frage ist, ob es in einer Gesellschaft, in der ohnehin wenig mehr als vierzig Prozent einer bezahlten Erwerbstätigkeit nachgehen, nicht antiquiert ist, in Arbeit, sei sie nun beschützt oder nicht, das alleinige rehabilitative Heil zu suchen. Wir müssen ernsthaft prüfen, ob es nicht andere Formen der Betätigung gibt, die die wesentlichen positiven sozialen Merkmale von Erwerbsarbeit ersetzen können. Zugleich ist im Zusammenhang mit der Rehabilitation das Augenmerk verstärkt auf die Folgen des Scheiterns für die Betroffenen zu richten. Wer scheitert, hat mutmaßlich weniger psychosoziale Ressourcen als der Erfolgreiche. Deshalb braucht er auch mehr Hilfen bei der Bewältigung seiner Alltagsprobleme, bei der Erfüllung seiner Grundbedürfnisse nach angemessenem, menschenwürdigem Wohnen, nach Betätigung und nach Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
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Risiken: Suizidalität, Gewalt, Verweigerung und Zwang
Es gibt Themen, über die man lieber nicht spricht: Als ich vor Jahren eine Untersuchung über Zwang bei der Medikamentenbehandlung psychisch Kranker veröffentlichte (Finzen u. a. 1993), lehnte ein Verleger den Titelvorschlag »Zwangsmedikation« rundweg ab. Sein Gegenvorschlag »Hilfe wider Willen« klang harmloser, wurde der Sache aber nicht gerecht. Es gibt ihn, den Zwang, auch den willkürlichen, und es gibt Gewalt gegen Kranke – ebenso wie es Gewalt von Kranken gibt: gegen sich selbst und gegen andere. Und wir kommen nicht umhin, darüber reden.
Suizid und Suizidgefährdung Die Suizidgefährdung ist ein häufiges Begleitphänomen der behandelten wie der nicht behandelten Psychoseerkrankung. Mehr als die Hälfte der längerfristig Kranken haben mindestens einmal versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Suizidrate wird auf 5 – 15 Prozent geschätzt (Finzen 1997). Die großen Unterschiede der genannten Zahlen weisen darauf hin, dass man es nach fünfzig Jahren Forschung über den Suizid psychisch Kranker immer noch nicht genau weiß. Das hängt damit zusammen, dass es sich um Hochrechnungen handelt, die zum Teil nicht berücksichtigen, dass sich die meisten Suizide Psychosekranker in den ersten fünf Krankheitsjahren ereignen. Das ist jene Zeit, in der sich nach ersten Wiedererkrankungen der mutmaßliche Verlauf abzeichnet und die Anpassung an die veränderte Lebensperspektive bewältigt werden muss. Akute Suizidgefahr ist ein Grund für die sofortige Einweisung in eine psychiatrische Klinik – schlimmstenfalls auch gegen den Willen des Erkrankten. Allerdings sei angemerkt, dass oft ein gewisses Maß an latenter Suizidalität über die gesamte Dauer der psychotischen Erkrankung bestehen bleibt. Wichtig ist dann, eventuelle Zuspitzungen rechtzeitig zu bemerken.
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Die Psychose ist jenseits ihrer konkreten Inhalte ein Einschnitt in die Biografie der Erkrankten mit vielfältigen psychosozialen Folgen, mit reaktiven, gut einfühlbaren depressiven Verstimmungen, mit beinahe ausweglos erscheinenden Lebenssituationen und der Konfrontation mit einer Realität, die sich die Betroffenen vor der Erkrankung nicht hätten vorstellen können. Suizidprävention besteht unter diesem Gesichtspunkt einerseits in der Behandlung der Psychose, andererseits in einer langfristigen, stützenden und klärenden psychotherapeutischen Begleitung. Deshalb ist es für Außenstehende schwierig, das Ausmaß der Gefährdung festzustellen. Aber offenes Nachfragen hilft! Wir sollten uns allerdings auch daran erinnern, dass der Suizid nicht nur Krankheitssymptom, sondern eine Möglichkeit des Menschen ist, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung zu begegnen, wenn er keinen Ausweg findet – oder keine Hilfe dabei, einen solchen zu suchen. Auch eine noch so gute Therapie kann nicht jeden Suizid verhindern, das dauerhafte Einschließen auf einer psychiatrischen Abteilung am allerwenigsten. Sui zidgefährdung muss besprochen und bearbeitet werden. Voraussetzung dafür ist die vertrauensvolle Beziehung zu Therapeuten, Freunden und Angehörigen, in der man beispielsweise auch über seine Lebensmüdigkeit sprechen kann, ohne gleich Gefahr zu laufen, auf eine geschlossene Station verfrachtet zu werden (siehe dazu auch: www.asmus.finzen.ch).
Gewalt Ein Aspekt, der bislang wenig beachtet worden ist, ist das erhöhte Risiko Psychosekranker, auf andere Weise gewaltsam zu sterben: durch Unfall, aber auch in der Folge von gewaltsamen Auseinandersetzungen und Übergriffen Dritter. Beides hängt wahrscheinlich mit einer durch die Psychose verminderten Fähigkeit zusammen, gefährliche Situationen rechtzeitig zu erkennen und ihnen auszuweichen. Die zunehmend häufigen Übergriffe etwa angetrunkener Jugendlicher gegenüber Behinderten und älteren Menschen und die Angriffe auf Personen, die sich helfend einmischen, demonstrieren, wie schwierig es im öffentlichen Raum sein kann, Risiken im Umgang mit anderen Menschen richtig einzuschätzen. Psychosekranke seien unberechenbar und gefährlich – das ist ein in der Öffentlichkeit verbreitetes Vorurteil. Allerdings ist diese Meinung nicht
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nur ein Vorurteil. Dennoch muss man die Gefährdung Dritter durch Schizophreniekranke ebenso wie deren Selbstgefährdung durch Unfall oder Suizid im angemessenen Kontext bewerten. Die Psychose hindert manche Betroffene an einer realitätsgerechten Auseinandersetzung mit den Eindrücken, denen sie ausgesetzt sind. Die psychotische Verkennung von Situationen, ihre Angst vor Verfolgung, Beeinträchtigung, Vergiftung oder Angriffen versetzt sie, je ausgeprägter die Psychose ist, desto mehr, in eine subjektiv wahrgenommene »Notsituation«, gegen die sie sich zur Wehr setzen müssen. Ihre Realitätseinschätzung wird zusätzlich beeinträchtigt, wenn sie etwa zur Bekämpfung der Angst vermehrt Alkohol trinken oder Drogen und Medikamente (vom Tranquilizertyp) einnehmen. Bis vor wenigen Jahren war die Argumentation von Psychiatern gegenüber der Öffentlichkeit die, dass Psychosekranke nicht häufiger gewalttätig seien als andere Menschen. Diese Auffassung wurde teilweise, aber eben auch nur teilweise, von der wissenschaftlichen Literatur gestützt. Richtig ist, dass Gewalttaten psychisch Kranker dann nicht häufiger oder nicht wesentlich häufiger sind als die nicht psychisch Kranker, wenn kein sekundärer Alkohol- oder Drogenmissbrauch vorliegt, wenn sie nicht in Wohnungslosigkeit und Verarmung gedrängt werden und – vor allem – wenn sie rechtzeitig und gründlich behandelt werden. Eine besondere Gefährdung besteht, wenn die Symptomatik mit Wahn inhalten oder imperativen Stimmen verbunden ist, die die Kranken zur aktiven »Selbstverteidigung« drängen. Dies war zum Beispiel bei der »Frau in Weiß« der Fall, die im Jahr 1990 den Politiker Oskar Lafontaine angriff und schwer verletzte. Sie wähnte, dass die Politiker unterirdische »Menschenfabriken« eingerichtet hätten, in denen gefoltert würde. Entsprechend handelte sie unter dem Zwang, diese Menschen erlösen zu müssen. Bemerkenswert ist, dass ihre Angehörigen bereits Wochen vor der Tat das zuständige Gesundheitsamt informiert hatten, dass Handlungsbedarf bestehe und dass ihre Schwester in eine psychiatrische Klinik zur Behandlung eingewiesen werden müsse. Neuere englische Untersuchungen zeigen, dass rechtzeitige Behandlung die wirksamste Prävention gegen Gewalt vonseiten psychosekranker Menschen ist. Dies ist nicht nur im Sinne der Gewaltopfer, sondern auch im Sinne der psychisch Kranken, denen auf diese Weise unsägliches Leid erspart wird: Leid durch die spätere Konfrontation mit einer Tat, die sie im Zustand der Urteilsunfähigkeit begangen haben und
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die sie nicht verstehen, sowie durch die konkreten Folgen dieser Tat, nämlich jahrelange Verwahrung in Einrichtungen für psychisch kranke Rechtsbrecher. Es führt nichts daran vorbei: Wer ein konkretes Gewalt risiko wahrnimmt – etwa einen Wahn, der mit Gewaltfantasien verbunden ist –, ist zum Handeln verpflichtet, und zwar im Interesse aller Beteiligten.
Wenn Kranke Medikamente ablehnen Die fehlende Krankheitseinsicht und das Nicht-wollen-Können sind zwei zentrale Therapiehindernisse. Hat man nun das Einverständnis eines Patienten oder einer Patientin zur Behandlung erreicht, bedeutet dies noch lange nicht, dass alle Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt sind. Das gilt für Soziotherapie und Psychotherapie ebenso wie für die Medikamentenbehandlung. Diese ist aus psychiatrischer Sicht ein wesentlicher Stützpfeiler der Psychosentherapie. Auf die Medikamentenbehandlung will ich mich hier konzentrieren. In der Öffentlichkeit haben antipsychotische Medikamente einen schlechten Ruf. Weite Teile der Öffentlichkeit geben der Psychotherapie, ja selbst der Naturheilkunde den Vorzug gegenüber der Neuroleptikabehandlung. Die Mehrzahl der Bevölkerung hält Letztere sogar für schädlich. Hier besteht also eine denkwürdige Diskrepanz zwischen Medizin und öffentlicher Meinung, die in dieser Schärfe sonst kaum vorkommt. Da eine konstruktive Schizophreniebehandlung aber nur möglich ist, wenn es uns gelingt, gemeinsam mit den Kranken eine längerfristige medikamentöse Behandlungsstrategie auszuhandeln, benötigen wir ein einigermaßen tragfähiges Einverständnis der Kranken. Sonst müssen wir damit rechnen, dass sie die Medikamente spätestens nach der Klinikentlassung wieder absetzen oder die Dosis eigenständig vermindern. Der Rückfall ist dann fast immer vorprogrammiert. Um das zu verhindern, hilft weder der erhobene Zeigefinger noch eine moralisierende Haltung. Was hilft, ist das Gespräch über die Medikamente, ihre Wirkungen, ihre unerwünschten Wirkungen; darüber, warum wir überzeugt sind, dass die Behandlung über längere Zeit fortgeführt werden sollte. Dieses Gespräch darf nicht einseitig sein. Wir
Wenn Kranke Medikamente ablehnen
müssen auf die Argumente der Kranken eingehen und uns, soweit wir dies verantworten können, auf ihre Vorschläge zur Dosisveränderung – meist die Dosisverminderung – einlassen. Das heißt, wir müssen sie zur Selbstständigkeit ermutigen und sie, wo immer verantwortbar, eigene Erfahrungen sammeln lassen; wir müssen sie dabei unterstützen, an der Behandlung mitzuwirken und mit der Krankheit leben zu lernen. Und das bedeutet auch, dass wir versuchen, gemeinsam mit ihnen die effektivste, nebenwirkungsärmste Medikation auszuhandeln (und auszutesten) und mit ihnen jenes Präparat herauszufinden, das ihnen auch subjektiv am meisten hilft. Aber damit sind nicht alle Schwierigkeiten ausgeräumt. Wer je gezwungen war, selbst über längere Zeit Medikamente einzunehmen, weiß, wie schwer es fällt, dies regelmäßig und zuverlässig zu tun. Er weiß auch, wie groß die Versuchung ist, die Medikamente abzusetzen – auch wider besseren Wissens –, wenn es einem gut geht. Auch hier hilft Überzeugungsarbeit. Aber wir können uns nicht darauf verlassen, dass unsere Patientinnen und Patienten nach einer Erst- oder Zweiterkrankung es irgendwann nicht doch wissen wollen, dass sie nämlich ausprobieren wollen, ob der Rückfall wirklich kommt, wenn die lästigen Medikamente weggelassen werden. In solchen Situationen können und sollten wir sie nicht zu etwas zwingen, was sie auf keinen Fall wollen. Es ist risikoloser, ihnen in solchen Situationen entgegenzukommen, sie dazu zu bewegen, die Neuroleptika nicht abrupt abzusetzen, und sie in engmaschiger ambulanter Betreuung zu behalten, auch wenn sie die Medikamente gegen unseren ausdrücklichen Rat nicht weiter einnehmen wollen. Bei Wiederaufflackern der Symptomatik können wir dann einen neuen Behandlungsvertrag aushandeln, ohne dass allzu viel Schaden entsteht. Allerdings können die Dinge auch ganz anders laufen: Es misslingt uns, aus welchen Gründen auch immer, den Kontakt zu den Kranken aufrechtzuerhalten. Sie verweigern sich uns, ebenso wie ihren Angehörigen. Sie verweigern eine Medikation, obwohl sie in der Vergangenheit die Erfahrung gemacht haben, dass sie ihnen hilft. Die gesetzlichen Grundlagen reichen nicht aus für eine Behandlung gegen den Willen der Betroffenen. Die Balance zwischen dem Recht auf Freiheit der Person und der Verpflichtung der Gesellschaft zur Fürsorge ist heikel. Wenn keine Gefährdung Dritter und keine akute Suizidgefährdung bestehen, wenn Kranke in ihrer Psychose zurückgezogen vor sich hin leben,
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ist oft kaum Hilfe von außen möglich. Dann kommt es vor, dass sie eine totale Entwurzelung erleiden, dass sie all ihre sozialen Bindungen verlieren, aus ihrer Wohnung vertrieben werden und schließlich verelenden. Diese Kranken geraten leicht aus dem Blickfeld. Oft brechen sie auch die Kontakte zu ihren Angehörigen ab und lösen damit große Ängste aus.
Zwangsbehandlung Spätestens dann, wenn psychotisch Erkrankte das Trinken verweigern, ist jedem klar, was zu geschehen hat. Ohne Flüssigkeitszufuhr stirbt der Mensch innerhalb weniger Tage. Dann ist Handeln gegen den Willen des Betroffenen unabdingbar. Im Raum steht dann immer die bange Frage, wer das Heft des Handelns in die Hand zu nehmen hat. Auch dies ist beim geschilderten Szenarium klar: Es sind die Mitbewohner, die Angehörigen, in der Regel die Eltern. Sie haben den Hausarzt zu rufen, dieser den Amtsarzt, den Notfallpsychiater oder wer immer für die Durchführung einer Einweisung gegen den Willen auf der Grundlage des Psychisch-Kranken-Gesetzes oder der Regelungen für das Handeln in einem übergesetzlichen Notfall zuständig ist. Das aber fordert Überwindung und Kraft: Das eigene Kind gegen seinen Willen, vielleicht sogar gegen seine heftige Gegenwehr, in die geschlossene Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses einzuweisen, das hinterlässt bei den Eltern, den Geschwistern und dem Partner unweigerlich ein ungeheuer erdrückendes Gefühl, hinterlässt Gewissensbisse und Schuldgefühle und die nagende Frage, ob es vielleicht nicht doch anders gegangen wäre, wenn man nur geduldig geblieben wäre. Die Hoffnung, die Kranken könnten es einem später einmal danken, ist in der akuten Situation wenig tröstlich. Außerdem ist sie trügerisch. Nach Zwangseinweisungen müssen diejenigen, die sie veranlasst haben, manchmal langzeitig mit Vorwürfen rechnen, und zwar umso mehr, je näher sie den Kranken stehen. Dennoch gibt es Situationen, in denen keine Alternative vorhanden ist. Und wer sonst sollte handeln als diejenigen, die den Kranken nahestehen? Gelegentlich hört man das Argument, es sei besser zu warten, bis die Kranken gegenüber Dritten oder in der Öffentlichkeit auffällig würden. Dann würden Nachbarn, Bürger oder die Polizei aktiv werden. Ich halte
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diesen Standpunkt wegen der Risiken für Leib und Leben für verantwortungslos. Es gibt zum einen Kranke, deren Symptomatik durch Passivität und Zurückgezogenheit gekennzeichnet ist, die nie öffentlich auffällig werden, deren Krankheit aber zur unerträglichen Belastung für sie selbst wie für die Angehörigen wird, und die die Chance einer erfolgreichen Behandlung nicht nutzen. Zum anderen kann das Abwarten bei Kranken, die von ihrem Wahn oder ihren Stimmen getrieben werden, gefährlich sein. Diese Kranken sind erhöht suizid- und unfallgefährdet, wenn sie in ihrer Angst keinen Ausweg wissen oder Alltagssituationen verkennen. Bei ihnen besteht auch eine erhöhte Gefahr der Tätlichkeit gegenüber anderen, weil sie etwa im Verfolgungswahn in Situationen geraten, in denen sie wähnen, sich gegen Angriffe wehren zu müssen, und aus einer subjektiven Notwehrsituation entsprechend handeln. Die Entscheidung, wann es so weit ist, dass nur der Zwang zur Behandlung hilft, kann den Angehörigen niemand abnehmen. Sie können sich mit ihrem Hausarzt, mit Freunden, mit anderen Angehörigen beraten, aber die Verantwortung bleibt bei ihnen. Leider kommt es immer wieder vor, dass eine notwendige Einweisung dann doch nicht durchgeführt wird, weil manche Kranke es über kurze Zeit fertigbringen, sich in Gegenwart des zugezogenen Amtsarztes oder Notfallpsychiaters »zusammenzureißen« und ihn zu überzeugen, dass eine Einweisung keineswegs notwendig ist. Dennoch wird nicht ganz selten die dringende Behandlungsbedürftigkeit erkannt und anerkannt, ohne dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Behandlung gegen den Willen vorliegen, also ohne dass etwa eine »dringende Gefahr« besteht. Natürlich kommt es auch vor, dass die Angehörigen einer Fehleinschätzung unterliegen. Dann entsteht schnell der Eindruck, sie würden ihr krankes Familienmitglied »in die Irrenanstalt abschieben« wollen. Dies ist für diejenigen, die aus Sorge handeln, nur schwer zu ertragen. Nicht ganz selten müssen sie sich gefallen lassen, dass die Nachbarn sich über sie »das Maul zerreißen«, dass man mit dem Finger auf sie zeigt. Und dennoch nimmt ihnen niemand die Verantwortung ab. Die gesetzlichen Möglichkeiten, selbst bei eindeutiger Tatsachenlage, gegen den Willen der Betroffenen einzugreifen, sind praktisch betrachtet oft wenig hilfreich. Aber auch die ethisch-moralischen Grundlagen für Zwangsinterventionen außerhalb der Akutsituation sind keineswegs eindeutig.
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Dem vom englischen Psychiater Jim Birley formulierten Recht darauf, bei Verlust der Urteilsfähigkeit durch psychische Krankheit gegebenenfalls auch gegen den eigenen Willen behandelt zu werden, steht die Auffassung gegenüber, auch psychisch Kranke müssten das Recht haben, sich für ein Leben in Krankheit zu entscheiden. Dabei wird allerdings oft vergessen, was der krankheitsbedingte Verlust der Urteilsfähigkeit bedeutet und welche Konsequenzen er hat. Alles dies wird noch schwieriger, wenn Kinder von der Frage der Behandlung oder Nichtbehandlung mitbetroffen sind, insbesondere wenn sie im Falle der Nichtbehandlung unweigerlich den Kontakt zu Mutter oder Vater verlieren, sei es aufgrund der Krankheitsfolgen oder sei es, weil sie durch die Jugendbehörden aus der Familie entfernt werden (Sollberger 2000). Tatenlos zuzusehen, wenn man weiß oder davon überzeugt ist, dass wirksame Hilfe nötig und möglich wäre, ist manchmal fast nicht auszuhalten, für die Therapeutinnen und Therapeuten nicht, für Eltern, Kinder, Partner oder Geschwister schon gar nicht. Hier hilft nur die Hoffnung, dass auch in scheinbar aussichtslosen Fällen später, aber nicht zu spät, Besserung erreicht wird. Angehörigen sollten alle Möglichkeiten der psychischen und sozialen Unterstützung, vor allem in Form von Selbsthilfe, offenstehen.
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Viele Angehörige neigen dazu, sich aufzuopfern oder sich bei der Fürsorge für ihr erkranktes Familienmitglied zu übernehmen. Sie wollen das Bestmögliche erreichen – am liebsten sogar: alles. Das ist verständlich. Sie müssen aber bedenken, dass es ihrem kranken Familienmitglied eher schadet, wenn sie selbst »ausbrennen« (Burn-out), wenn sie unter der Last körperlicher oder emotionaler Erschöpfung zusammenbrechen oder gar selbst krank werden. Mit anderen Worten: Sie müssen auf sich achten. Das geht nur, wenn sie akzeptieren, was ist; und wenn sie lernen, Grenzen zu setzen und sich abzugrenzen, wenn ihnen die Dinge über den Kopf wachsen.
Akzeptieren, was ist Ich habe im zweiten Kapitel ausführlich beschrieben, warum die Erkrankung eines Angehörigen an einer schizophrenen Psychose in der ganzen Familie als Katastrophe erlebt wird. Es ist bei alldem aber wichtig für das eigene Leben wie für das des Erkrankten, dass man sich dem Unglück stellt. Eltern mögen sich unweigerlich fragen: »Warum ich? Warum meine Familie?« Das ist verständlich, aber man verschleißt seine Gefühle und seine Kraft, wenn man dabei stehen bleibt. Man muss sich der Situation stellen und dabei erkunden, was zu tun ist, was man realistisch tun kann – und was nicht, was man hinnehmen muss, weil es nicht zu ändern ist. Das ist schwer. Aber noch schwerer wird es, wenn man sich weigert, das Unvermeidliche zu akzeptieren. Eine andauernde Krankheit bringt das gewachsene Rollen- und Aufgabengefüge in der Familie durcheinander: Der bis dahin starke Partner ist plötzlich schwach und hilfebedürftig. Das erwachsene Kind kehrt nach Hause zurück. Man muss solche Veränderungen erst einmal begreifen, bevor man seinen neuen Platz findet. Man muss lernen, die Hilfe zu dosieren: So viel wie nötig, aber nicht mehr, sonst wird die Hilfe schnell als Gängelung erlebt. Und man muss sich selbst
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zurücknehmen, wenn der Hilfebedürftige sich nach und nach wieder selbst helfen kann. Wenn man Einschränkungen des Wollens, Handelns und Fühlens als Behinderungen akzeptiert, geht es nicht mehr vorrangig darum, sie mit medizinischen Maßnahmen zu beseitigen. Es geht vielmehr und vor allem darum, den psychisch Behinderten zu helfen, damit umzugehen, damit zu leben. In jedem Fall geht es darum, ihre gesunden Seiten zu unterstützen und zu fördern. Das vorrangige Problem sind meistens die kognitiven Störungen, die veränderte Wahrnehmung der Welt in Form von irrationalen Ängsten und Bedeutungszuschreibungen, Verfolgungs- und Bedrohungserlebnissen, Stimmenhören oder wahnhaften Überzeugungen. Wichtig ist: Für die Betroffenen ist weiterhin nichts davon irreal oder irrational; für sie ist es Wirklichkeit. Deshalb ist es – wie noch bei der akuten Psychose – falsch, ihnen die Symptome ausreden zu wollen. Anders als bei der akuten Psychose ist die psychotisch geprägte Wahrnehmung der Welt in der Behinderungsphase nicht mehr allumfassend. Es ist eine gewisse Ruhe eingekehrt, wenn man so will: eine Gewöhnung. Wenn die Symptome lange andauern, »gehören« sie gleichsam zu einem Menschen, auch wenn sie ihn plagen. Dann hilft es, wenn man als Angehöriger oder als Freund geduldig zuhört. Aber man sollte sich gleichzeitig davor hüten, den Kranken in seinen Wahrnehmungen zu bestätigen. Wenn er das verlangt, kann die Antwort sein: »Ich weiß, dass du das so erlebst, aber ich sehe das anders.« Oft ist den Betroffenen eine solche »Realitätsprüfung« wichtig. Oft sagen sie einem etwa: »Die Stimmen sagen mir ..., aber das kann eigentlich nicht sein.« Dann ist es sinnvoll zu bekräftigen, dass die Stimmen zweifelsohne in ihm sind, dass sie aber eben ein Ausdruck der Krankheit sind. Für andere Symp tome gilt Ähnliches. Wichtig ist, dass man für solche realitätsorientierten »Rückversicherungen« zur Verfügung steht, wenn das gewünscht ist – aber nur dann. Man hüte sich davor, sich aufzudrängen oder gar – vorwurfsvoll – zu sagen: »Das bildest du dir ein.« Abgesehen davon, dass das neurobiologisch falsch ist. Psychotische Symptome bildet man sich nicht ein. Sie sind Ausdruck der Wirklichkeit im Gehirn. Falsch ist es auch, zu immer noch mehr Medikamenten zu raten oder andere zu erproben. Diese Möglichkeiten sind ausgeschöpft. Was man schlimmstenfalls erreicht, sind stärkere Nebenwirkungen. Mehr noch: Wenn der Psychosekranke
Akzeptieren, was ist
es lernt, mit den behindernden Symptomen zu leben, ist oft sogar eine Verminderung der Medikamentendosis möglich. Man kann lernen, mit andauernden psychotischen Symptomen zu leben; und man kann als Angehöriger oder Freund dabei helfen, indem man geduldig und freundlich als Partner zur Verfügung steht. Behinderungen, die aus Störungen des Handelns, Wollens und Fühlens erwachsen, beeinträchtigen den Antrieb, die persönliche Dynamik und die Aktivität. Sie hindern daran, mit anderen emotional »mitzuschwingen« und den Alltag zu gestalten. Konkret kann das heißen, dass die Betroffenen Schwierigkeiten haben, eigenständig zu leben, eine geregelte Tätigkeit auszuüben, ihre Zeit zu gestalten, manchmal auch, sich selbst zu pflegen. Sie brauchen dabei Hilfe. Manchmal reicht die Unterstützung durch Angehörige, aber oft geht es nicht ohne professionelle Hilfe. Dort wird zwischen vier Grundformen der Hilfe unterschieden: • Pflege, • Wohnen, • Betätigung und • Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Je nach Ausmaß der zugrunde liegenden Störungen reichen einfache Angebote nicht aus. Die Behinderten bedürfen der aktiven Hilfe von außen, damit sie nicht völlig vereinsamen oder gar innerlich und äußerlich verwahrlosen. Angehörige akzeptieren solche Störungen nur schwer. Sie neigen dann dazu, auf den Erkrankten einzureden. Aber Absprachen und Ermahnungen nützen kaum etwas. Auch Training oder Rehabilitationsmaßnahmen helfen nur begrenzt. Anders als etwa bei geistig Behinderten bleibt ein einmal erreichtes Niveau der Selbstständigkeit nicht stabil: Wenn man nicht wollen kann, kann man auch nicht handeln, so gerne man im Grunde den Ansprüchen der Mitmenschen gerecht werden möchte. Hier hilft nur eins, nämlich sich entschieden und auf Rechtsansprüche bestehend professionelle Hilfen »einzukaufen«.
Pflege Am schwersten fällt die Gelassenheit bei der Vernachlässigung der Körperpflege. Dabei handelt es sich je nach Ausmaß um eine komplexe Symptomatik. Die Betroffenen kommen morgens nicht aus dem Bett
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oder sie ziehen sich immer wieder tagsüber dorthin zurück. Sie waschen weder sich noch ihre Kleidung. Sie wechseln die Bettwäsche nicht. Sie putzen die Wohnung nicht und waschen nicht ab. Sie essen nur unregelmäßig und verlassen ihr Zimmer nicht mehr. Wenn sie aber doch unter Menschen gehen, verbreiten sie eindringliche Düfte, die die Mitmenschen auf Abstand halten. Wenn sie selbstständig wohnen, können nach außen dringende Gerüche Grund für Kündigung, Zwangsräumung oder Zwangseinweisung sein. Wenn sie zu Hause leben, sind sie eine Herausforderung für alle Beteiligten, meist vor allem für die Mütter. Da Ermahnungen meist nichts nützen, bleibt im Zweifel nur die energische Intervention: die Bettdecke wegziehen, die Bettwäsche und die Kleidung waschen, den Gang unter die Dusche erzwingen, den Gang vor die Tür ebenso. Das klingt anmaßend bis entwürdigend: Aber ohne das ist ein Zusammenleben in der Familie nicht möglich. Dabei mag einem entgegenkommen, dass Störungen des Wollens ja nicht bedeuten, dass jemand aktiv nicht will: Nein, auch mit einer solchen Störung schläft man lieber in frischer Bettwäsche, zieht man lieber saubere Unterhosen an. Dennoch ist die Situation bei allem Verständnis heikel und konfliktbeladen. Letzten Endes geht es nicht nur um das Akzeptieren. Es geht auch ums Aushaltenkönnen, und zwar vor allem vonseiten der Angehörigen. Wenn sie das nicht können, ist das kein moralisches Versagen. Dann müssen sie nach anderen Lösungen suchen.
Wohnen Selbstständiges Wohnen gehört zum Erwachsenenleben. Die meisten psychisch Behinderten erstreben das auch für sich. Aber das ist nicht immer möglich: aus wirtschaftlichen Gründen, aber auch wegen des Ausmaßes der Behinderung. Viele leben zu Hause, meist bei den Eltern; seltener bei Geschwistern oder anderen Verwandten. Oft kehren zwar erwachsene Kinder mit der Erkrankung ins Elternhaus zurück, das angestrebte Ziel aber ist die eigene Wohnung. Ist das nicht möglich, bieten sich die betreute Einzelwohnung oder die betreute Wohngemeinschaft an. Erst wenn all dies nicht möglich ist, kommt das Wohnheim infrage. Hier ist die professionelle Betreuungsdichte am größten. Leider ist dort auch die individuelle Gestaltungsmöglichkeit am geringsten. Umgekehrt sind die Unterstützungsanforderungen an die Angehörigen – aber
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auch deren Einflussmöglichkeiten – im Heim am geringsten. Dort erfolgt eine Art Rundumversorgung, die leider oft zu psychoemotionalen Rückschritten führt – wenngleich sich das in den neuen Wohnkonzepten zunehmend bessert, das Problem ist dort erkannt. Das Zusammenleben zu Hause kann gut gehen, wenn das Familienklima einigermaßen entspannt ist und ein eigenes Zimmer zur Verfügung steht, idealerweise mit einem Minimum an eigener Infrastruktur (eigenes Bad), vielleicht sogar mit eigenem Eingang. Wichtig ist, dass die Beteiligten nicht den ganzen Tag aufeinanderhocken, sonst sind Spannungen unausweichlich. Ein eigener Fernseher und ein eigenes Radio helfen dabei. Wenn das erwachsene »Kind« nach der Erkrankung wieder einzieht, sollte den Eltern bewusst sein, dass es die eingespielten Regeln aus früheren Jahren nicht einhalten kann. Trotzdem empfiehlt es sich, keinen Zweifel zu lassen, dass sie im Prinzip gelten: Zimmer aufräumen und reinigen, Essenszeiten einhalten, im Haushalt helfen usw. Grundregel ist es, »normal« miteinander umzugehen. Wenn der Behinderte das nicht kann, hilft es nicht, Vorwürfe zu machen, dann muss man helfen, wo es erforderlich ist. Nicht sinnvoll ist es, dem Kranken alles abzunehmen, denn das fördert nur den Rückzug und die Unselbstständigkeit. Wenn man überfordert ist, sollte man das sagen und gemeinsam nach einer Lösung suchen. Am besten ist es, wenn man sich und dem behinderten Angehörigen von Anfang an deutlich macht, dass das Zusammenwohnen eine Übergangslösung ist, dass eine andere Wohnform das Ziel sein muss. Bis dahin kann man ihm helfen zu lernen, einen eigenen Haushalt zu führen. Es ist nicht möglich, die Störungen des Wollens »wegzutrainieren«. Aber viele junge Männer – gelegentlich auch Frauen – haben nie gelernt, die Waschmaschine oder den Geschirrspüler zu bedienen, einfache Mahlzeiten zuzubereiten, einen vernünftigen Speiseplan zu gestalten, Lebensmittel einzukaufen und angemessen aufzubewahren oder mit ihrem knappen Geld umzugehen. Das kann man, Behinderung hin oder her, lernen; und dabei kann man ihnen helfen. Wenn man sich gegen das Wohnen zu Hause entscheidet, geht es nicht um »alles oder nichts«, um volle Selbstständigkeit ohne jede Hilfe oder Wohnheim. Bei den Möglichkeiten, die sich bieten, gibt es eine vielfältige Abstufung von Unterstützung. Die Frage, ob Wohngemeinschaft oder nicht, entscheidet sich wie bei Gesunden vor allem an der Frage nach den eigenen Bedürfnissen: Ist man lieber für sich oder fühlt man
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sich in der Gemeinschaft wohler? Und: Verfügt man über ausreichende Sozialkompetenz und ein ausreichend dickes Fell, um in einer Wohngemeinschaft zurechtzukommen? Die Frage »Betreute oder eigene Wohnung?« beantwortet sich aufgrund des Ausmaßes an Hilfen, die man benötigt – und ob diese professionell sein müssen oder ob sie auch von Angehörigen oder Freunden geleistet werden können. Eltern können aufgrund des Verhaltens des Behinderten abschätzen, welche Hilfen er benötigt. Das kann von einer täglichen Mahlzeit zu Hause oder dem täglichen Besuch bis zu völliger Selbstständigkeit reichen. Meist sind Zwischenschritte sinnvoll: dosierte, regelmäßige Besuche zu Hause; zunächst Hilfe beim Putzen, beim Abwasch, bei der Wäsche, beim Einkaufen, beim Umgang mit Geld usw. Alles das ist einfach, wenn Angehörige und Betroffene sich einig sind. Wenn die Besuche und Hilfen der Eltern als Kontrolle empfunden werden, kann man einvernehmlich eine neutrale Person damit beauftragen. Bei allem guten Willen der Angehörigen müssen diese lernen, die Grenzen zu akzeptieren, die der Betroffene setzt – mit einer Einschränkung allerdings: solange das zu verantworten ist. Falls nicht, müssen sie handeln, müssen sie professionelle Hilfe hinzuziehen – aber bitte nicht zu früh!
Betätigung Wenn psychisch Behinderte zu Hause leben, brauchen sie einen – subjektiv – sinnvoll strukturierten Tageslauf, sonst entwickeln sich sekundäre Behinderungen, die alles nur noch schlimmer machen. In der Vergangenheit hat sich alles auf die Integration in Erwerbstätigkeit konzentriert, und sei es auf dem sogenannten zweiten Arbeitsmarkt. Seit es kaum mehr Arbeit für Menschen mit psychischen Behinderungen gibt, sind Fantasie und Kreativität gefragt; und man redet verstärkt von »Betätigung« statt von Erwerbsarbeit. Dazu bieten sich ehrenamtliche Tätigkeit an, stundenweise Beschäftigung als Aushilfe, Zuverdienst-Betriebe, Tätigkeit in Selbsthilfe-Organisationen, Volkshochschulkurse – oft ist es ein Patchwork aus alldem. Wenn das nicht ausreicht, sollte man darauf drängen, dass der Behinderte wenigsten einmal am Tag seine Wohnung verlässt, etwa um einzukaufen, einen Behördengang zu erledigen, eine Bibliothek aufzusuchen, in einem Café Zeitung zu lesen, zum Sport oder in eine Selbsthilfegruppe zu gehen. Englische Forscher haben schon vor Jahrzehnten vier Stunden
Auf sich achten
tägliche Betätigung der einen oder anderen Art gefordert (Fernsehen gehöre nicht dazu) – daran hat sich bis heute nichts geändert. Viele Eltern verkraften es nur schwer, wenn ihr Kind keine geregelte Arbeit findet bzw. durchhält. Aber in einer Gesellschaft, in der ohnehin nur 40 Prozent der Arbeitsfähigen einer bezahlten Arbeit nachgehen, die sich auf 10 Prozent Arbeitslose eingestellt hat und in der Fünfzigjährige zum alten Eisen abgeschoben werden, darf man die Erwerbstätigkeit auch nicht als Fetisch aufbauen: Betätigung, eigenständige Beschäftigung ist wichtig. Am schlimmsten wäre es, die Behinderten immer wieder zur Arbeit zu treiben, die sie ohnehin nicht finden, oder sie gar als Versager dastehen zu lassen. Das sind sie nicht! Sie sind durch schwere Krankheit behindert. Sie können sich mit dem, was sie erreicht haben, fast immer sehen lassen.
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben Dieses Grundbedürfnis überschneidet sich in Zeiten der Arbeitsgesellschaft mit vielem, was ich im letzten Abschnitt angesprochen habe. Hier deshalb nur wenige Sätze: Es geht dabei neben der Betätigung vor allem um die Teilhabe am Leben der anderen, der Gesunden, aber auch an dem anderer Behinderter. Es geht um soziale Kontakte zu anderen Menschen – und zwar um solche, die für die Behinderten selbst »stimmig« sind. Deswegen können Eltern und Freunde nur anregen, allenfalls Hilfe anbieten, aber nicht für sie handeln. Und sie müssen es hinnehmen, wenn das nicht ihren Vorstellungen von kultureller Teilhabe entspricht. Zuweilen müssen aber Fahrten zum Kino, zum Theater, in die Kneipe oder zu öffentlichen Veranstaltungen schlicht organisiert werden. Dabei können Angehörige helfen.
Auf sich achten Wer einem anderen Menschen helfen will, muss darauf achten, dass er dabei nicht selbst »unter die Räder gerät«. Für die professionellen Helferinnen und Helfer gehört es zur Ausbildung, bei aller Empathie – allem Mitgefühl – nicht den sie schützenden Abstand zu verlieren.
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Wenn sie das nicht schaffen, spricht man vom »Helfersyndrom«. So oder so gehört es heute zur Professionalität von Helfenden, dem beruflichen Burn-out vorzubeugen. Angehörige haben es schwerer. Erstens erfahren sie keine Ausbildung. Zum Zweiten ist ihre Hilfe eben nicht zeitlich begrenzt über Stunden oder Tage gefordert, sondern gegebenenfalls über ein ganzes Leben. Zum Dritten schließlich werden sie für ihre Hilfe nicht materiell entschädigt wie die professionellen Helfer. Im Gegenteil, fast immer ist auch die materielle Unterstützung des kranken Angehörigen ein Teil ihrer Hilfe. Umso wichtiger ist es, dass sie auf sich selbst achten, auf ihre persönlichen Bedürfnisse, ihren individuellen Entfaltungsspielraum, dass sie also lernen, sich abzugrenzen. Wenn man sich um einen geliebten Menschen sorgt, ist dies gewiss leichter gesagt als getan. Dennoch ist die Grenzziehung unabdingbar, insbesondere wenn die Krankheit andauert. Nur wenn es einem gelingt, sich abzugrenzen, auf sich zu achten und über die Fürsorge für den kranken Angehörigen hinaus ein eigenes Leben zu führen, wird man längerfristig helfen können. Was kann man in einer solchen Situation für sich selbst tun? Darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort. Jeder Mensch ist anders. Die eigenen Grundbedürfnisse können – auch in derselben Familie – recht unterschiedlich ausfallen. Man muss in sich hineinhorchen, um herauszufinden, was man in schwierigen Lebensphasen unbedingt braucht, um durchzuhalten, um nicht alle Lebensfreude zu verlieren. Allerdings lassen sich einige allgemeine Themenkreise benennen, die einem helfen können, sich zurechtzufinden. Es beginnt mit den eigenen Gefühlen.
Gefühle zulassen Nur wer sich die eigenen Gefühle offen eingesteht und sie zulässt, kann damit beginnen, die Krise emotional in den Griff zu bekommen und Vertrauen zu sich selbst zu entwickeln. Erst dann schafft man es, an sich selbst zu denken und wahrzunehmen, wie es einem geht. Erst dann kann man Trauer zulassen, Trauer über den Verlust, den nicht nur der kranke Angehörige erleidet. Aber auch Gefühle von Hilflosigkeit, Wut, Verzweiflung, Bitterkeit und Ärger dürfen sein. Wenn sie vorhanden sind, muss man sie auch zulassen. Nur dann kann man ihnen begegnen. Nur dann kann man
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irgendwann einen Schritt zurücktreten, ein wenig Abstand gewinnen und versuchen, die eigene Situation von außen zu betrachten und gegebenenfalls auch eigene Ansprüche zu hinterfragen – an sich und an den kranken Angehörigen.
Sich Zeit nehmen Sich Zeit nehmen kann heißen: versuchen, auf andere Gedanken zu kommen. Das ist wichtig, weil die Krankheit des Angehörigen lange Zeit ständig im Kopf herumgeht, ohne dass man etwas dagegen tun kann. Da hilft es, sich nach einer Zeit der Krise auf seine alltäglichen Aufgaben und Gewohnheiten zu besinnen. Oft sind Partner und gesunde Kinder ebenso wie die sozialen Kontakte zu Freunden und Bekannten zu kurz gekommen. Ähnliches gilt für Routinepflichten in Haus und Beruf, die Zeit und Konzentration verlangen. Sich Zeit zu nehmen heißt aber auch, sich eigene Zeit zu gönnen, seinen Gedanken nachzuhängen – allerdings nicht: zu grübeln. Dabei kann es helfen, die freie Zeit aktiv zu gestalten, seinen Hobbys nachzugehen, Dinge zu unternehmen wie früher auch; und, wenn man so weit ist, auch mal Urlaub zu machen. Allerdings sollte man nichts erzwingen. Wenn man es nicht schafft, ein wenig Abstand zu gewinnen, kann auch ein Urlaub am schönsten Ort der Welt zur Quälerei werden. Ähnliches gilt für die Zeit, die man mit Freunden verbringt. Diese ist nur hilfreich, wenn man nicht ständig mit Fragen nach dem kranken Angehörigen, mit unerbetenen Ratschlägen oder gar mit Vorurteilen und Schuldzuweisungen konfrontiert wird. Um bei solchen Aktivitäten nicht fortwährend daran denken zu müssen, ob es dem Erkrankten denn wohl auch gut geht, sollte man für die Abwesenheit verlässliche Hilfe organisieren. Leider machen viele Angehörige die bittere Erfahrung, dass sich ihr Bekanntenkreis drastisch reduziert.
Hilfe suchen Angehörige sollten dort soziale Kontakte suchen, wo sie mit Verständnis und Unterstützung rechnen können. Mit etwas Glück finden sie vorurteilsfreie und lebenserfahrene Bekannte, bei denen sie sich aussprechen können, bei denen sie nichts verbergen müssen. Wenn sie sich
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Mit den Kranken leben
umhören und aktiv danach suchen, finden sie manchmal überraschend in der Nachbarschaft oder in Vereinen oder in anderen Gruppen, in denen sie sich bewegen – nicht nur, aber auch in karitativen –, neue Freundschaften. Ganz wichtig ist es, Kontakt zu anderen Menschen mit ähnlichen Erfahrungen zu suchen. Es gibt, anders als noch vor zehn Jahren, heute fast überall in erreichbarer Nähe Angehörigenvereinigungen, die einerseits mit Rat und Tat helfen, andererseits Selbsthilfegruppen für Angehörige psychisch Kranker anbieten. Dort ist ein Erfahrungsaustausch über jene Seite der Krankheit und des Krankheitsverhaltens gewährleistet, die den meisten professionellen Helfern verschlossen ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass die professionellen Helfer keine sinnvolle Hilfe leisten können. Es ist wichtig, dass Angehörigen bewusst ist, dass sich diese in erster Linie dem Kranken verpflichtet fühlen. Den Angehörigen gegenüber sehen sie sich vor allem als Auskunftspersonen, nicht als Helfende. Auch eine Familientherapie kann hilfreich sein. Angehörige sind allerdings gut beraten, sich vorher genau zu erkundigen, welche Therapeuten örtlich infrage kommen und wie das Prozedere aussieht (etwa bezüglich der Bezahlung durch die Krankenkassen). Erkundigungen sollten sie auch bei anderen Angehörigen einholen, die oft schon über Erfahrungen verfügen. Danach müssen sie zusammen mit dem kranken Familienmitglied beraten, ob sie das wollen. Auf jeden Fall ist es für beide Seiten sinnvoll, vorher an einem Programm zur Psychoinformation bzw. Psychoedukation teilzunehmen, das von vielen Kliniken und ambulanten Diensten angeboten wird. Wenn Angehörige selbst Hilfe brauchen, ist der Hausarzt der erste Ansprechpartner. Wenn sie, was nicht ganz selten ist, Depressionen entwickeln, ist psychiatrische oder fachpsychologische Hilfe sinnvoll. Allerdings kann es neue Verwicklungen bringen, wenn Angehörige selbst zu Patienten werden. Davon sollten sie sich aber nicht schrecken lassen.
Überfürsorglichkeit vermeiden Eltern, insbesondere Mütter, entwickeln oft eine neue Fürsorglichkeit, die eigentlich nicht altersgemäß ist, die aber dem psychischen Zustand des erwachsenen Kindes in der Phase der Erholung von der Psychose entspricht. Insofern ist das gut und richtig. Aber es birgt auch eine Gefahr:
Auf sich achten
nämlich die, dass diese Fürsorge eine andauernde Regression begüns tigt. Denn in dieser Situation ist es anders als beim gesunden Jugendlichen, der aktiv aus dem Haus strebt, um ein selbstständiges Leben zu beginnen. Die Psychose mit ihren Störungen des Wollens und des Handelns verzögert oder behindert die Reifung der Persönlichkeit und die Rückkehr in die Eigenständigkeit. Damit dies möglichst nicht geschieht, müssen die Eltern lernen, das heimgekehrte Kind zu fordern, und sich mit ihrer Fürsorge zurücknehmen, damit daraus keine Überfürsorglichkeit wird. Es ist sehr schwer, hier das richtige Maß zu finden, aber im Interesse des genesenden Kindes wie der Eltern ist es unbedingt notwendig. Mit anderen Worten: Die Eltern müssen lernen, ihre Fürsorglichkeit zu dosieren und zu begrenzen. Sie müssen beizeiten lernen, ihr Kind wie einen Erwachsenen zu behandeln, der er ja auch ist. Das bedeutet zum Beispiel, dass sie nicht bei jeder Schwierigkeit einspringen dürfen, bevor ihr Kind eine Chance gehabt hat, zu zeigen, dass es sie selbst bewältigen kann. Die Grundregel ist, dass man altersentsprechend »normal« miteinander umgeht.
Regeln aushandeln und Grenzen setzen Wenn das Kind in den Haushalt der Eltern zurückgekehrt ist, gehört es dazu, dass alle, sobald dies möglich ist, Pläne für die Zukunft entwickeln. Ziel ist, wenn immer möglich, das eigenständige Leben nach der Überwindung der Psychose. Auf diesem Weg sollen die Eltern ihr Kind unterstützen. Für die Zeit des Zusammenlebens in einer Wohnung, die meistens eigentlich zu klein für drei Personen ist, gilt es, Regeln auszuhandeln und die gegenseitigen Ansprüche zu formulieren, die ein Geben und Nehmen beinhalten. Ganz wichtig ist es, dass Eltern und Kind jeweils ein eigenes örtliches und psychisches Territorium haben: das eigene Zimmer für das erwachsene Kind, einen Teil der Wohnung, der den Eltern vorbehalten ist, Übereinkünfte darüber, zu welchen Zeiten und wie lange man in den gemeinsamen Räumen der Wohnung zusammen ist. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, dass die ausgehandelten Regeln zwanghaft eingehalten werden. Viel wichtiger ist es, dass alle Beteiligten sie anerkennen und dass klar ist, dass man es bei einer Abweichung mit einer Ausnahme zu tun hat.
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Angehörigenselbsthilfe
Es begann mit einem Leserbrief in der Londoner Times. Im Mai 1970 schrieb sich John Pringle, Vater eines schizophreniekranken Sohnes, die Probleme und das Leid von der Seele, das seine Familie und er während der zehn Jahre seit der Erkrankung ihres ältesten Kindes erlitten hatten. Sein Beitrag löste eine lebhafte Leserbriefdiskussion aus, in der andere Eltern ihre Erfahrungen und ihr Leid mitteilten. Die Konfrontation mit einer Krankheit, die ihnen fremd war; die mangelhafte Aufklärung und die Zurückweisung durch die Ärzte; die schlechte Kommunikation mit der Klinik; die vergeblichen Versuche, im undurchschaubaren Gewirr sozialer Institutionen Hilfe zu erlangen ... all das trieb sie an. Sie berichteten aber auch von ihren Ängsten, von der Kränkung, dass gerade ihnen dies geschehen war, und vom Stigma, jemanden im Haus zu haben, der weder arbeiten noch am normalen Alltagsleben teilnehmen konnte. Und sie berichteten über die quälenden Auseinandersetzungen zwischen den Eltern um die geeignete Behandlung ihrer Kinder; schließlich über die Auswirkungen der Krankheit auf die Geschwister, die nicht selten selbst völlig aus der Bahn geworfen wurden. Es zeigte sich, dass das Bedürfnis, die Krankheit vor Nachbarn und Freunden, ja selbst vor entfernteren Verwandten zu verheimlichen, stärker war als die Hoffnung auf Unterstützung durch jene, die Hilfe hätten vermitteln können. Die subjektiv erlebte »Schande« der Erkrankung trug dazu bei, dass die Bürde der Familie durch die Versorgung chronisch schizophrener Angehöriger in der Öffentlichkeit lange Zeit verborgen blieb. Die Veröffentlichung des Beitrags von John Pringle in der Times bewirkte eine schlagartige Veränderung. Die lebhafte Reaktion darauf führte innerhalb kurzer Zeit zur Gründung einer Selbsthilfeorganisation der Angehörigen Schizophreniekranker, der National Schizophrenia Fellowship (NSF). Die Vereinigung machte sich nicht nur zur Aufgabe, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Sie hatte von Anfang an zugleich das Ziel, die wahre Situation der Familien mit Schizophreniekranken und ihre Probleme zu erkunden und öffentlich zu machen. Sie regte Forschungsprojekte an,
Angehörigenselbsthilfe
die von Professor John Wing vom Londoner Institut für Psychiatrie – selbst Vater einer psychisch behinderten Tochter – aufgegriffen und von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern seines Instituts durchgeführt wurden. Deren wesentliche Ergebnisse sind in dem von Heinz Katschnig in deutscher Sprache herausgegebenen Buch Die andere Seite der Schizophrenie – Patienten zu Hause nachzulesen. Sie führten seither zu einer Neuorientierung der Familienforschung und zu einer neuen Bewertung der Beziehungen zwischen psychotisch Kranken und ihren Familien. Ich hatte 1980, zehn Jahre nach John Pringles historischem Leserbrief, die Gelegenheit, an der Jahresversammlung der National Schizophrenia Fellowship teilzunehmen. Damals beeindruckten mich vor allem zwei Dinge, die mir vorher nicht in dem Maß bewusst waren: Die Mitglieder der Vereinigung, denen ich dort begegnete, waren überwiegend ältere Menschen – die jüngsten knapp über fünfzig, die ältesten bereits im Rentenalter. Das versteht sich an sich fast von selbst. Schizophrene Erkrankungen beginnen eben frühestens in der Pubertät. Bis sich die mitbetroffenen Eltern mit der Krankheit konfrontiert sehen und mit dem chronisch-rezidivierenden Verlauf bei ihrem Kind abgefunden und den Weg in die Selbsthilfevereinigung gefunden haben, vergehen oft viele Jahre. Aus dem Lebensalter der Mitglieder folgt dann auch eine ihrer Hauptsorgen: Was wird aus unserem kranken erwachsenen Sohn, was wird aus unserer Tochter, wenn wir selbst gebrechlich werden, wenn wir nicht mehr am Leben sind? Daraus resultiert ein Hauptanliegen der Vereinigung, ein vitales Interesse an geschützten Lebensmöglichkeiten außerhalb der psychiatrischen Kliniken, die die Würde ihrer psychisch behinderten Kinder gewährleisten. Mir fiel auf, und das scheint ein allgemeines Merkmal solcher Angehörigenvereinigungen zu sein, wie wenige Ehepartner und Kinder in der Vereinigung vertreten waren. Die National Schizophrenia Fellowship war zumindest damals im wesentlichen eine Elternvereinigung. Die Angehörigen hatten eine völlig andere Einstellung zur psychiatrischen Klinikbehandlung als die professionellen Therapeuten in jener Zeit und als die Psychiatriekritiker jener Jahre. Die Therapeuten waren auf Frühentlassung geeicht. Sie versuchten mit aller Macht, Wiederaufnahmen von entlassenen Kranken zu verhindern. Sie verlangten von den Kranken möglichst große Selbstständigkeit und von den Angehörigen möglichst große Unterstützung nach der Entlassung. Die Angehörigen
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Angehörigenselbsthilfe
machten geltend, die Klinikentlassung erfolge oft zu rasch (und zu unvorbereitet), die Wiederaufnahme bei einer Verschlimmerung des Gesundheitszustands oft zu zögerlich und nicht selten zu spät. Die Konfrontation mit den Angehörigen ließ erkennen, dass die Therapeuten ihnen manchmal Leid und Belastungen aufbürdeten, denen sie nicht gewachsen waren. Die Auseinandersetzung mit ihnen macht weiterhin deutlich, dass die professionellen Helfer über jene andere Seite der Schizophrenie – die der Patienten zu Hause und jene der Angehörigen, die mit ihnen leben – sehr wenig wissen.
Das Zusammenleben verändert alle Beteiligten Mir wurde damals deutlich, dass ein Spannungsfeld zwischen psychiatrisch Tätigen und Angehörigen besteht, das fruchtbar genutzt werden kann, wenn alle Betroffenen – Kranke, Angehörige und Therapeuten – dies wahrnehmen und sich der Auseinandersetzung stellen. Ich habe damals in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über meine Begegnung mit der National Schizophrenia Fellowship berichtet. Die Redaktion wählte damals mit feinem Gespür die Titelzeile aus: »Das Zusammenleben verändert alle Beteiligten.« Die Leserbriefe, die ich damals erhielt, vermittelten mir den Eindruck, dass auch bei uns ein Bedürfnis nach einem Zusammenschluss bestand. Aber es fehlte damals noch an Kris tallisationsmöglichkeiten und an Personen, die bereit und in der Lage waren, diese Bedürfnisse in ähnlicher Weise zu kanalisieren wie John Pringle im Jahr 1970. Hinter der wachsenden Bedeutung der Selbsthilfe und der Selbsthilfevereinigungen steht ein gewandeltes Verständnis der Medizin. Ärztliche Behandlung ist nach unserer heutigen Vorstellung keine passive Angelegenheit, die der Kranke nur über sich ergehen lassen muss. Aussichtsreiche Therapie ist immer auch Hilfe zur Selbsthilfe, besonders bei chronisch-rezidivierenden Erkrankungen, das gilt selbst bei den großen Eingriffen der Transplantationsmedizin. Für diese Mitarbeit müssen die Kranken gewonnen werden. Damit sie gewonnen werden können, benötigen sie Informationen, müssen sie selbst Klarheit darüber finden, wie ihre Interessenlage ist, müssen sie letzten Endes auch über die Chancen und Unzulänglichkeiten des Behandlungs- und Versorgungs-
Angehörige als Experten
systems informiert sein. Darüber hinaus müssen sie imstande sein, ihren Interessen gegenüber der Medizin und der Öffentlichkeit Beachtung zu verschaffen. Das gilt in besonderem Maße, wenn diese im Gegensatz oder auch im Spannungsverhältnis stehen. Dazu bedarf es der Selbsthilfevereinigung als Interessenverband. Aber das ist nicht alles. Auf dem Wege über die Selbsthilfe können Angehörige sich selbst helfen, können sie voneinander lernen. Sie können von den Erfahrungen der Schicksalsgenossinnen und -genossen profitieren und sie können schließlich der professionellen Psychiatrie Erkenntnisse über die »andere Seite der Schizophrenie« vermitteln, über die diese nicht verfügt.
Angehörige als Experten Angehörige klagen über die Unfähigkeit der Experten, ihre elementaren Schwierigkeiten zu begreifen. Wenn sie die Therapeuten um Rat fragen, müssen sie damit rechnen, dass sie keine nützliche Antwort erhalten oder eine Rückfrage statt einer Antwort an sie zurückgespielt wird. Ihre eigenen amateurhaften Bemühungen werden dabei mit höflicher Verachtung zur Kenntnis genommen, oder schlimmer: als Beweis ihrer eigenen Unnormalität interpretiert. Angehörigenvereinigungen schaffen hier Abhilfe, indem sie Selbsterfahrungs-, Selbsthilfe- und Diskussionsgruppen einrichten. Die Erfahrungen mit solchen Gruppen zeigen, dass auch scheinbar unlösbare Schwierigkeiten und Konflikte aufgearbeitet werden können, wie es andere Gruppenmitglieder bereits vorleben. Solche Gruppen machen auch deutlich, dass die Patienten selbst viel zu ihrem Nutzen – oder zu ihrem Schaden – tun können. Sie können, außer in der ganz akuten Phase, lernen, mit ihrer sozialen Verwundbarkeit, mit ihren besonderen Bedürfnissen nach menschlicher Zuwendung bei gleichzeitiger Wahrung des Abstands und mit vielen anderen Problemen zu leben. Wenn eine Psychose andauert, scheint die Bereitschaft der Betroffenen zur Mitarbeit der einzige Weg zu sein, in erträglicher Weise mit ihrer Familie zu leben. Manche Betroffene lernen allerdings erst nach langem Leiden, was ihnen hilft und was ihnen schadet, welche Lebenssituationen sie suchen und welche sie meiden müssen. Aber der Weg dorthin
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Angehörigenselbsthilfe
steht bei entsprechender Hilfe für alle offen. Ihre Angehörigen können viel dazu beitragen. Sie sammeln im Laufe der Erkrankung ihres Familienmitglieds umfassende Erfahrungen über das Leben mit einem schizophreniekranken Menschen. Sie werden auf diese Weise gleichsam zu Experten für jene »andere Seite der Schizophrenie«, die den beruflich mit Psychiatrie Befassten allzu oft verborgen bleibt. Angehörige können und sollen ihr Expertenwissen auch als Interessenvertretung für die psychisch Kranken einsetzen. Sie bringen eine zusätzliche Perspektive ein in die gesundheitspolitische Auseinandersetzung um die weitere Entwicklung der psychiatrischen Versorgung. Sie können und sollen auf Defizite aufmerksam machen, um die professionellen Helfer auf das Leid hinweisen, das Kranke und Angehörige jenseits der Psychiatrie in der Gemeinschaft der Gesunden erfahren, auf das Unrecht, das ihnen immer noch und immer neu widerfährt und das die Öffentlichkeit allzu oft nicht zur Kenntnis nehmen will.
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Nachwort: Was mir zu sagen noch wichtig ist
»Wer schreibt, denkt an einen Leser«, heißt es in Umberto Ecos Nachschrift zum Namen der Rose. Dieser Satz hat mich in den vergangenen Jahrzehnten bei allen meinen Veröffentlichungen begleitet, auch bei der Arbeit an meinen früheren Büchern zu den Psychosen aus dem schizophrenen Formenkreis. Für wen habe ich sie geschrieben und wen habe ich erreicht? Ich habe an die Kranken gedacht und an ihr Leid. Ich habe an die Menschen gedacht, die von der Krankheit eines Angehörigen, eines Partners, eines Freundes mitbetroffen sind. Und natürlich an diejenigen, deren Aufgabe es ist, den Kranken und den Mitbetroffenen zu helfen, in welcher Rolle auch immer. Am Anfang habe ich gedacht, ich könnte sie alle erreichen. Aber das ist wohl eine Illusion. Als Psychiater bin ich in der Rolle des Helfers gefragt. Als Angehöriger stehe ich auf der anderen Seite. Meine allwinterliche Depression qualifiziert mich noch nicht zum Experten für die subjektive Seite der Schizophrenie. Ich bin auch kein wandelnder Trialog; dieses Buch ist »professionellen- und angehörigenlastig«. Ich hoffe aber, dass auch Menschen, die mit der Krankheit leben müssen, ihm dennoch etwas abgewinnen können. Ecos Satz ist aber nur die halbe Wahrheit: Wer schreibt, denkt immer auch an sich selbst – ich an meine eigene innere Beziehung zur Psychose und zu jenen Menschen, die daran leiden oder mitleiden. Er denkt an die vielfach erlebten Grenzen seines Handelns, seine Ohnmacht, seine zeitweilige Mutlosigkeit und Resignation, vor allem aber an die selbst gewählte Aufgabe, für die Menschen, die sich ihm anvertrauen, und gemeinsam mit ihnen das zu erreichen, was möglich ist. Das heißt auch, die Utopie der Gesundung zu bewahren und sich zugleich der Realität des Machbaren anzupassen. Das heißt auch, die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Krankenversorgung wahrzunehmen und für deren Überwindung einzutreten, ohne die Kranken zu instrumentalisieren oder gar als Rammböcke einzusetzen, wie das in den großen Zeiten der politischen Sozialpsychiatrie der Siebzigerjahre gelegentlich geschehen ist. Daraus ergeben sich folgende Überlegungen:
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Nachwort: Was mir zu sagen noch wichtig ist
1. Ein Buch, das helfen will, Krankheiten wie die Psychosen aus dem
schizophrenen Formenkreis zu verstehen, zu behandeln und mit ihnen zu leben, muss mit einer grundsätzlichen Schwierigkeit fertig werden: Einerseits muss es darum gehen, das Regelhafte, das Verallgemeinerbare der Krankheit, ihrer Symptome, ihres Verlaufs und ihrer Behandlung darzustellen. Andererseits entfernt man sich eben dadurch von der Individualität des einzelnen Kranken, dessen Leiden ein persönliches ist, das er in seiner Erscheinungsform und in seinem Wesenskern individuell ausgestaltet. Die Aufgabe, die Individualisierung des Allgemeinen bzw. umgekehrt die Verallgemeinerung des Individuellen miteinander zu verknüpfen, ist nur begrenzt zu lösen. Eugen Bleuler ist das vor hundert Jahren (1911) gelungen. 2. Seither gilt es, »die Erscheinungsweise [...] einer geistigen Erkrankung am einzelnen Kranken zu beobachten und in Bezug auf den einzelnen Kranken zu beschreiben«, so Manfred Beuler in der Einleitung zum Nachdruck der Dementia praecoc oder Gruppe der Schizophrenien von 1988. Längst gilt es als falsch, die Symptome als fertige, »vorgefasste Begriffe« zu verwenden, die man sich aus der Literatur oder der allgemeinen Erfahrung gebildet hat. Vielmehr muss es um das gehen, was man am einzelnen Kranken und im Austausch mit ihm selbst beobachtet. Damit gewinnt der »Leser die Freiheit, aufgrund der dargestellten Beobachtungen selbst über den Begriff des Symptoms hinauszudenken«, statt einen theoretischen Begriff des Symptoms so begreifen zu müssen, als ob er endgültig wäre. Bleuler zeigt damit, wie wichtig es ist, »alle psychiatrischen Begriffe während der Zuwendung zum einzelnen Kranken zu überprüfen«. Er versucht, hinter der Beobachtung eines Symptoms dessen Zusammenhang mit der »ganzen Persönlichkeit des Kranken und dessen inneren Leben« zu finden« (ebd.). 3. Und das hat Konsequenzen für die Betreuung und Behandlung der schizophren Erkranken: Man hat es mit Menschen mit »bewegten inneren Leben« zu tun, die es in eine »tätige Gemeinschaft« zurückzuführen gilt, »eine lang dauernde Gemeinschaft mit stetigem, als natürlich empfundenem Zutrauen zueinander, aber ohne überspannte gegenseitige Bindungen und Emotionen. Die gemeinsame Tätigkeit soll soweit möglich gemeinsame Arbeit und gemeinsame Geselligkeit in der Freizeit« sein (ebd.). Schon in den Kliniken gilt es, tätige Gemeinschaften zu schaffen. Auch das kann nur funktionieren, wenn die psychiatrisch Tätigen den Kranken als Individuen begegnen, die aufgrund ihrer Per-
Nachwort: Was mir zu sagen noch wichtig ist
sönlichkeit mit ihren Ressourcen und Kompetenzen – und ihren krankheitsbedingten Einschränkungen – ganz unterschiedliche Nöte und Bedürfnisse in die Behandlung einbringen. Unter diesem Gesichtspunkt sind Behandlungsleitlinien gut und richtig. Aber sie sind für die Behandlung der einzelnen Kranken unzulänglich. Sie geben einen Rahmen vor. Sie helfen vor allem den Anfängern unter den Therapeuten. Aber die Inhalte lassen sich nur in einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung entwickeln. Dafür bedarf es vor allem der Lebenserfahrung, der Erfahrung im Umgang mit kranken Menschen und der Empathie. Das bedeutet aber auch, dass wir Anfänger jeder Berufsgruppe nicht mit den Kranken allein lassen dürfen. Erfahrung lernt man nicht aus Büchern, sondern in der zwischenmenschlichen Begegnung – im Zweifel unter Anleitung. Das bedeutet auch, dass die Behandlung den individuellen Bedürfnissen der Kranken anzupassen ist. Man kann aus der Bedürfnisorientierung ein therapeutisches Konzept machen, wie es im Ansatz des Need-adapted-Treatment geschieht, aber verbirgt sich dahinter nicht eigentlich ein therapeutisches Grundgesetz, eine Selbstverständlichkeit, eine Trivialität gar? Dass es allzu oft nicht eingehalten wird, ist ein Zeichen von Verwahrlosung, ein Zeichen von »autistisch-undiszipliniertem Denken« und Handeln in der Medizin. So hat Eugen Bleuler das 1919 genannt. 4. Grundlage jeder psychiatrischen Therapie ist seit der Einführung der »moralischen Behandlung« im frühen 19. Jahrhundert die konzeptionelle Einbeziehung und die therapeutische Nutzung des Sozialen, wie immer man das jeweils nennen mag: Milieutherapie, therapeutische Gemeinschaft oder Soziotherapie mit ihren zahlreichen Elementen. Immer geht es um die Wiederbefähigung der Kranken, sich in ihrem angestammten – oder einem neuen – sozialen Umfeld zu bewegen, wohlzufühlen und es mitzugestalten: zu leben, zu wohnen, sich zu betätigen und teilzuhaben am Leben der anderen – sofern man das will. Die Tradition der Nutzung der psychischen Ebene für die Therapie ist fast ebenso alt: »die einzige zurzeit ernst zu nehmende Therapie der Schizophrenie im ganzen ist die psychische«, schreibt Eugen Bleuler, nachdem er sich des Langen und Breiten über die Möglichkeiten der Soziotherapie ausgelassen hat (E. Bleuler 1911/1988). Die Medikamentenbehandlung als dritte Säule ist erst spät hinzugetreten, erst in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, seit der Einführung von Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizern. Sie
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war lange eine Angelegenheit, die eher einem Stochern im Nebel glich, von Versuch und Irrtum mit den entsprechenden Irrwegen. Erst mit der Kenntnis davon, was die Wirkstoffe an den Rezeptoren und Zellen in verschiedenen Regionen des Gehirns bewirken, waren die Grundlagen für eine rationale Arzneibehandlung in der Psychiatrie mit ihren Möglichkeiten und Grenzen geschaffen. Leider geistern im Alltag immer noch verschiedene Mythen der vorwissenschaftlichen pharmakopsychiatrischen Ära herum. 5. Individualisierung ist nicht nur eine Behandlungsvoraussetzung. Sie gilt auch für den Einsatz der Behandlungsmethoden. Mit anderen Worten: Voraussetzung für jede Form von Behandlung ist die Antwort auf die Fragen: Nützt das? Ist das notwendig? Ist das riskanter, als der Erkrankung ihren Lauf zu lassen – oder eine andere Methode einzusetzen? Das gilt auch für soziotherapeutische Verfahren und für Psychotherapie. Auch diese haben ihre Risiken und ihre schädlichen Nebenwirkungen. Doch vor allem gilt der Vorsatz für die Pharmakotherapie: Medikamente sind im Prinzip »giftig«, sonst würden sie nicht wirken. Es bedarf guter Gründe, sie trotzdem einzusetzen. Es muss vorhersagbar sein – oder zumindest wahrscheinlich –, dass sie dem Kranken helfen. Etwas anderes kommt hinzu: Die eingesetzten Methoden müssen »anschlussfähig« sein, das heißt, sie müssen zusammenpassen. Sie dürfen sich nicht gegenseitig neutralisieren. Das Wichtigste aber ist: Jede Form von Therapie bedarf der sorgsamen individuellen Dosierung. Hinsichtlich der Medikamentenbehandlung ist das eine Banalität. Bei Psychotherapie und Soziotherapie wird immer wieder vergessen, dass auch sie nicht nur harmlose Nebenwirkungen haben können: Der »Rehabilitationsdruck« oder die konfrontative Psychotherapie haben schon manchen Kranken in den Suizid getrieben. Das Elend der Medikamentenbehandlung ist, dass sie so einfach einzusetzen, aber so schwer abzustimmen ist auf die Bedürfnisse der einzelnen Kranken. Das ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe für ihren schlechten Ruf. 6. Ärztliches Handeln ist eine Dienstleistung. Der Kranke ist deren Empfänger und Auftraggeber zugleich, ohne dass er dadurch zum Kunden wird! Er bestimmt darüber, ob er ein therapeutisches Angebot annimmt oder ablehnt. Der Therapeut ist der Experte, aber der Kranke ist Herr des Verfahrens. Entsprechend hat er ein unabdingbares Recht darauf, in für ihn verständlicher Sprache zu erfahren, was der Arzt mit ihm vorhat. Er hat das Recht, nach der jeweiligen Alternative zu fra-
Nachwort: Was mir zu sagen noch wichtig ist
gen, seine Meinung dazu zu äußern und eigene Vorschläge zu machen. Er darf nicht nur, er soll mit seinem Therapeuten darüber verhandeln, wenn er überzeugt ist, dass seine abweichenden Vorstellungen für ihn der bessere Weg sind. Der Therapeut ist verpflichtet, in solche Verhandlungen einzutreten und einen Weg zu suchen, der zugleich medizinisch vertretbar ist und dem Patientenwillen gerecht wird (vgl. Jaschinski 2011). In einer vertrauensvollen therapeutischen Beziehung ist das nicht nur selbstverständlich. Es verspricht auch den bestmöglichen Behandlungserfolg (Putten u. a. 1984). Der Arzt ist, wie Johan Cullberg (2008) schreibt, »Berater des Patienten, nicht sein Bewacher«. Dass heute die Hälfte aller längerfristig geplanten Therapien vonseiten der Patienten abgebrochen wird, hat gewiss auch damit zu tun, dass diese sich nicht ausreichend verstanden und respektiert fühlen. Das ist ein Missstand, der nicht sein müsste! 7. Wer von der Krankheit eines Angehörigen, eines Partners oder Freundes mitbetroffen ist, wird ungefragt in eine Verantwortung genommen, von der er nicht weiß, ob und wie weit er sie tragen kann – und will. Partner und Freunde können sich bis zu einem gewissen Grad entziehen, ohne selbst Schaden zu nehmen. Eltern und Kinder können es nicht. Sie bedürfen unserer Unterstützung und unserer Hilfe. Was sie in der Regel nicht brauchen, ist Therapie. Und wovor wir sie nach Kräften bewahren müssen, sind Schuldzuweisungen aller Art, ob sie nun aus dem Familienkreis, aus der Nachbarschaft oder von Therapeuten kommen. Auch die Mitbetroffenen sind günstigenfalls Helferinnen und Helfer der Kranken. Sie sind auf keinen Fall ihre Bewacher. Und sie haben das Recht, ja die Pflicht, mit den Betroffenen darüber zu verhandeln, was sie leisten können und wo ihre Grenzen sind. Wenn sie überstrapaziert werden, geht es darum, nach anderen Möglichkeiten zu suchen, die für alle Beteiligten gangbar sind – wenn immer möglich mit Rat und Hilfe der psychiatrischen Experten. Es muss auch darum gehen, dass Mitbetroffene nicht unter der Last der ihnen zugewiesenen oder aus eigener Entscheidung übernommenen Verantwortung zusammenbrechen. 8. Der größte Feind der psychiatrischen Behandlung »ist die pessimistische Haltung gegenüber Psychosen. [Diese] beschädigt den Willen der Patientinnen und Patienten, wieder gesund zu werden« (Cullberg 2008). Was wir über die Krankheit denken, wie wir uns bei ihrer Behandlung fühlen, wirkt sich auf das Schicksal der Patienten aus. Nur
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wenn wir auf sie eingehen, wenn wir an ihren Sorgen und Ängsten Anteil nehmen, können wir mit ihnen und für sie das Bestmögliche erreichen. »Die Schizophrenietherapie ist die dankbarste für den Arzt«, schreibt Eugen Bleuler (1911/1988) in der Gewissheit, dass »das Gesunde dem Schizophrenen erhalten« bleibt. Warum dann dieser schier unüberwindbare Pessimismus? Vielleicht weil wir es als zu schwierig empfinden, uns auf Menschen mit psychotischen Symptomen einzulassen: »Das Zusammenleben verändert alle Beteiligten«, schrieb der bereits mehrfach erwähnte Londoner Sozialpsychiater und Vater einer psychisch kranken Tochter. Ein wenig gilt das auch für das Zusammenarbeiten. Aber nur, wenn wir mit einer solchen Haltung aufbrechen in die psychiatrische Arbeit – und zwar unabhängig davon, welchen psychiatrischen Lehrmeinungen wir folgen –, werden wir den Kranken gerecht. Dass wir dabei an Grenzen stoßen, liegt im Wesen der Krankheit. Aber gemeinsam mit Kranken und Mitbetroffenen können wir sehr weit kommen. Und mit ihnen gemeinsam sind wir aufgerufen, Maß zu halten und das Machbare zu gestalten, denn der zweitgrößte Feind der Psychosentherapie ist die Verleugnung solcher Grenzen. Ich erinnere mich an eine nächtliche Auseinandersetzung mit einem der bedeutendsten und sehr engagierten, noch lebenden SchizophrenieTherapeuten, der wild entschlossen war, »die Maske Psychose vom Gesicht des Kranken« zu reißen, um auf diese Weise das Gesunde dahinter freizulegen. Die Folge solcher Vorstellungen ist dann nicht vorrangig die Hilfe zum Leben mit der Krankheit, sondern die Jagd nach immer neuen, besseren Konzepten, um die »Heilung« doch noch zu erzwingen. Dabei können wir, das war die Überzeugung von Manfred Bleuler (1981), auch heute schon sehr vieles, wenn wir unser ganzes Wissen und unsere Erfahrungen in die Waagschale werfen. Das Wichtigste aber sind, jenseits von Kenntnissen und Erfahrungen, Menschen, die sich kümmern: Angehörige, Therapeuten aller Berufsgruppen und mittelbar betroffene Mitmenschen.
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Wittener Straße 87 44789 Bochum www.bpe-online.de Familienselbsthilfe Psychiatrie Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker e. V. Oppelner Straße 130 53119 Bonn www.bapk.de und www.psychiatrie.de/familienselbsthilfe.de Vereinigung der Angehörigen Schizophrenie Kranker VASK Schweiz, Dachverband Engelgasse 84 4052 Basel www.vask.ch HPE-Österreich
Hilfe für Angehörige und Freunde psychisch Erkrankter Bernardgasse 36/14 1070 Wien www.hpe.at Psychiatrienetz Materialien und Kommunikationsangebote für Betroffene, Angehörige und in der Psychiatrie Tätige. Kontaktadressen von Verbänden www.psychiatrie.de Unabhängige Beschwerdestellen in der Psychiatrie über Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie e. V. Zeltinger Straße 9 50969 Köln www.psychiatrie.de/dgsp
250
Stichwortverzeichnis
A
affektive Verstimmung 70 Akathisie 185 akustische Halluzinationen 79 Angst 72 Anhedonie 72 atypische Neuroleptika 178 Autismus 76 B
Basissymptome 133 Behandlungsvertrag 150 C
Chronizität 102 Coenästhesien 80 Compliance 150, 196 D
Degenerationshypothese 141 Denken 67 Depersonalisation 75 depressive Verstimmung 70 Diagnose 83 Diagnosekriterien 85 Diathese-Stress-Modell 141 Dopamin-Hypothese 135 Doublebind 127 E
Erwerbstätigkeit 210, 224 Etikettierungstheorie 123 extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen 185
Stichwortverzeichnis
F
Fremdanamnese 172 Früherkennung 57 Frühintervention 57, 63 G
Gefühl 69 Genexpression 139 H
Hebephrenie 70, 88 Hyperakusis 82 I
Ich-Grenzen 75 Ich-Identität 78 Ich-Schwäche 128 K
Katatonien 80 Klassifikationssysteme 85 Krankheitseinsicht 150, 197 Krankheitsrisiko 139 L
Labeling-Ansatz 123 Langzeitprognose 107, 174 Life-Events 126 M
Medikamentenbehandlung 146, 157 f. Mutismus 76 N
Nebenwirkungen 184 Negativsymptome 102, 157, 176, 195 Neuroleptikabehandlung 63, 146 »normale« Entwicklungskrisen 91
251
252
Stichwortverzeichnis
P
paranoide Psychosen 100 Parathymie 72 postremissives Erschöpfungssyndrom 177 f. Prodromalstadium 93 Prodromalsymptome 184 produktive Symptomatik 157, 176, 194 Psychoanalyse 128 Psychoedukation 163, 174 Psychoinformation 163 Psychopharmaka 146 Psychotherapie 146, 165, 181 R
Remission 176, 184 Residualzustand 102 Rezidiv 183 Rückfall 183 ff., 192 Rückfallprophylaxe 184, 192 S
Schweigepflicht 173 Selbsthilfebewegung 156 Selbsthilfegruppen 109 Stigmatisierung 27, 30 Stoffwechselprozesse 132 Stupor 76, 80 Symptome 57 ff., 65 T
Tagesstruktur 178 Trema 94 U
Übersedierung 185 V
Vererbungsforschung 136 Vulnerabilität 51, 140
Stichwortverzeichnis
W
Woodshedding 180 Z
Zwangsbehandlung 184, 216
253
Johan Cullberg Therapie der Psychosen Ein interdisziplinärer Ansatz ISBN 978-3-88414-435-0 320 Seiten geb.
Skandinavische Modelle der Behandlung und Versorgung von Psychosen gelten als innovatives Vorbild für die deutsche Psychiatrie. Johan Cullberg stellt
Voraussetzungen, Anforderungen und Organisation einer Behandlung dar sowie therapeutische Interventionen, die entsprechend den Bedürfnissen
des Einzelnen aufeinander abgestimmt werden. Nur eine genaue Kenntnis der individuellen Risikofaktoren, des bisherigen Verlaufs und eine gute Einschätzung des Genesungspotenzials können zu einer passgerechten Behandlung führen, die Stärken stützt und krisenauslösende Bedingungen reduziert.
Dieser ganzheitliche, Erkenntnisse der Medizin und der Psychologie verbindende Ansatz erfordert entsprechende Versorgungsstrukturen, die man,
so zeigen Nils Greve und Volkmar Aderhold in ihrem Nachwort, auch in der Bundesrepublik schaffen kann.
Asmus Finzen Medikamentenbehandlung bei psychischen Störungen ISBN-Print: 978-3-88414-429-9 ISBN-PDF: 978-3-88414-715-3 160 Seiten, 14,90 Euro, 23,50 sFr
Dies ist ein Buch über Psychopharmaka, ihre Wirkungsweise, Neben-
wirkungen und Folgen, und zwar am Krankheitsverlauf und nicht am Medikament orientiert. Vor allem ist es eine Anleitung für den
verantwortlichen, angemessenen und sinnvollen Umgang mit Psychopharmaka bei psychischen Störungen wie Ängsten, Depressionen,
Manien und Psychosen. Für alle, die sie verordnen und die sie einnehmen müssen.
»Insgesamt ist das Buch fachlich hervorragend, präzise und ohne über-
flüssige Schnörkel in der Darstellung, verständlich auch für Nichtmediziner und gut lesbar. Es eignet sich daher in hervorragender Weise für alle,
die von psychischer Erkrankung selbst oder im Umfeld betroffen sind,
sowie für alle in der Sozialpsychiatrie Tätigen (...): sie finden ein kundiges, empathisch geschriebenes und praxisorientiertes Nachschlagewerk.« Prof. Dr. Wolfgang Schwarzer auf sozialnet.de
Telefon 0228 72534 -0, Fax 0228 72534 -20, E-Mail:
[email protected], Internet: www.psychiatrie-verlag.de
Helene und Hubert Beitler Zusammen wachsen Psychose, Partnerschaft und Familie ISBN 978-3-86739-023-1 208 Seiten
Als bei Helene Beitler Schizophrenie diagnostiziert wurde, wurde ihre Ehe auf eine harte Probe gestellt, doch sie hat gehalten. Auch als der Sohn im
Teenageralter psychotisch wurde, hielt die Familie zusammen und stellte
sich der Herausforderung, indem sie die Betreuung des Sohnes übernahm. Ihre Erfahrungen mit dieser »verrückten Familie« haben Helene und
Hubert Beitler in diesem Buch zusammengetragen. Darin beschreiben sie
anschaulich und mit vielen Beispielen, wie psychotische Krisen miteinander bewältigt werden können. Paare und Familien finden in diesem Buch
Orientierungen für den eigenen Umgang vor, während und nach Krisen – damit man trotz Erkrankung zusammen wachsen kann.
Thomas-Mann-Straße 49a • 53111 Bonn • Telefon 0228/7 25 34-26 www.balance-verlag.de • mail:
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