HEYNE<
maureen c:allahan ist eine renommierte New Yorker Musikjournalistin. Sie schreibt u. a. für die New York Post und begleitet das Phänomen Lady Gaga schon seit Jal1ren. 2009 war sie für ihre journalistische Arbeit für den Pulitzer Preis nominiert. Maureen Callahan lebt in New York.
maureen callahan
die biografie
Aus dem Amer ikanischen von lrene Eisenhut
WILHELM HEYNE VERLAu '' MUNCHEN
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Poher Face: 1'he Rise and Rise of Lady Gaga bei 1-Iyperion, an imprint of Buena Vista Books, Inc., New Yorlc Originally published in the United States and Canada by Hyperion as Poker Face: 1'he Rise and Rise of Lady Gaga. This translated edition published by arrangement \Vith 1-lyperion.
Deutsche Erstausgabe 12/ 2010 © 2010 Maureen Callahan © 2010 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm 1-Ieyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Raudom House GmbH Übersetzung Bildteil: Lisa Kögeböhn Redaluion: Adam Olschewski Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur Zürich Umschlagfoto: © Steve Granitz/ Contributor/ Gettylmag Satz: C. Schaber Datentechnik, Wels
eiSBN: 978-3-641-55232-9 w'vw.heyne.de
,
INHALT
Danksagung Prolog
ll 17
Die Entstehung eines Mythos
27
ZWEI
Aus Stefani wird Gaga
53
DREI
Queen of the Scene
75
V I ER
Die Kunst des Stehlens
10 5
Abserviert
12 9
Eine Paillette nach der anderen
1"19
» Mein Leben das seid ihr«
16 5
Ruhm
187
EINS
FÜNF SECHS
SIEBE N
AC H T
INHALT
N EU N
Attacke auf die Anatomie
22 1
ZEH N
Neuer Look
237
Big in Japan
267
Bibliografie
28 1
ELF
Bildnachweis
285
DANKSACiUNCi
Mein tiefster Dank und grörlte Wertschätzung gel-
ten Elisabeth Dyssegaard - ich hatte das große Glück, von ihr als Lektorin betreut zu werden-, Theresa Karle, Nina R. Shield sowie allen andere n bei Hyperion. Mein Dank geht auch an den einzigartigen David Kuhn sowie an Jessi Cimafonte und Billy Kingsland von Kuhn Projects. Col Allan und der New York Post danke ich für ihre Unterstützung und den Redakteuren Margi Conklin, Serena French sowie der Kritikerirr Elisabeth Vincentelli, besonders aber Steve Lynch für ihre Großzügigkeit und Verständnis. Dieses Buch wäre ohne \Villiam Van Meter, Steve Knopper, Hal Horowitz, Carrie Borzillo, Alisa Wolfson, Laura Schy, Chris Barth und Erica Futterman nicht möglich gewesen. Genauso wenig wäre es ohne die Liebe, den Rat und die Unterstützung von vVilliam F. und Mary Callahan, Billy Callahan, Mare Spitz, Lizzy Goodman, James Iha, Tracey Pe pper, Lara Behnert, Sarah Mullins, Mrs Eileen Kennedy (Sacred Heart Academy) und dem verstorbenen Paul Good entstanden. 11
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lies läuft schief. Dabei seilte es doch ihr gro-
ßer Abend werden, der Auftakt ihrer ersten Konzerttour durch die großen Hallen dieser \Velt als neuer Stern am PophimmeL Aber Kostüme, Requisiten und Teile der Bühnenausstattung - Kosten: anderthalb Millionen Dollar - fehlen , hängen in einer nur vierzig Kilometer entfernten Stadt fest. Die Manchester Evening News Arena bietet 21 000 Menschen Platz und ist damit die größte Halle Großbritanniens. Die Show ist ausverkauft. Bestürzt über das Chaos und die mangelnde Vorbereitung fragt Gaga, ob es möglich sei, das Konzert abzusagen, obwohl ihr der Gedanke daran gar nicht gefällt. Weil ihr Konzert eben nicht nur eine einfache Popshow ist, sondern geradezu eine Rockoper in fünf Akten, bei der ungefähr zwanzig Kostümwechsel vorkommen, Feuerwerkseinlagen sowie ein hydraulischer Aufzug, der sie fünfzehn Meter über die Zuschauermenge hebt. Es fehlt unter anderem ein riesiger Brunnen aus Stein, aus dem Blut sprudeln soll und auf dessen Spitze ein Engel thront- während im Hintergrund 17
wunderschöne alte Aufnahmen gezeigt werden, die aussehen, als stammen sie aus dem Stumnuilm Voyage dans la lune (Die Reise zum Mond), den Georges Melies 1902 gedreht hat. Lady Gaga, vor achtzehn Monaten noch völlig unbekannt, ist mittlerweile - mit vierundzwanzig Jahren der größte Popstar der vVelt. Eine Absage kommt nicht infrage, zu teuer. Sie mag eine anspruchsvolle Künstlerin sein, aber sie ist auch eine clevere Geschäftsfrau. Sie besteht darauf, so lange proben zu dürfen, bis die Türen der Arena geöffnet werden. Da sind sie schon, die Gaga-Fans: Aufgeregt stehen sie - im Alter von vier bis fünfundfünfzig - an diesem nieseligen, kühlen vVinterabend und drei Stunden vor Showbeginn brav in Reil1 und Glied vor der Arena, eine Menschenschlange bis hinunter zum nächsten Häuserblock. Fast alle Mädchen, und das sind drei Viertel der Besucher, kleiden sich wie ihr Idol. Das gab es in diesem Ausmaß seit zirka 1984 nicht mehr, als Tausende von Teenagern Gummibänder ums Handgelenk trugen und sich Netzbänder ins Haar flochten, um Madonna nachzueifern. Die Gaga-Fans schwanken auf ihren hohen Pfennigabsätzen, zittern vor Kälte. Anstatt I-losen tragen sie überlange Oberteile und Leggings in fluoreszierenden Farben, auf dem Kopf blonde Perücken und Sonnenbrillen, allesamt sind sie stark geschminkt. Auch Fünfzigjährige mit ihren Dates tauchen auf. Professoren, Intellektuelle. Schwule zwischen Anfang zwanzig und Ende dreißig, etliche mit gagaeskem Make-up. 18
Ebenso Jungen und Mädchen im Vorteeniealter, viele von ihnen in Gaga-Shirts, die Eltern im Schlepptau. Männer mittleren Alters lauern hinter provisorischen Ständen und verkaufen dort billige Markenimitate. Dinge mit Pelz besetzt oder mit Blinklichtern versehen, Dinge mit Pelz und Blinklicht - man merkt den Männern an, dass sie keinen blassen Schimmer haben, was hier genau los ist, sie wollen einfach Geld machen. Wir stecken mitten in der \Virtschaftskrise und die Konzertkarten auf dem Schwarzmarkt kosten einhundertdreißig Euro aufwärts. Obwohl sich Lady Gaga für ihre Show aus dem unüberschaubaren Fundus des Pop bedient, kopiert sie nicht nur, sondern möchte authentisch sein. Gaga weiß nur zu gut, dass die magere Anzahl von Liedern aus ihrem noch sehr jungen Repertoire keine zwei Stunden füllt, doch eine üppige Show, die schon. Für Gaga und ihre Fans ist »The Monster Ball«, so der Name der Show, nicht einfach eine Show: Es ist Performancekunst auf allerhöchstem Niveau - wie mittlerweile Lady Gagas Leben. Diese explosive Mischung aus Farben, Sex und Crazyness, dazu ein paar Feuerwerkseinlagen, wird in Manchester gefeiert. Und zwei Abende später auch in Dublin. Der Himmel über Manchester ist meistens grau, so \Vie die Häuser, die in ihn hereinragen. Außer Fußball passiert hier nicht viel. Zwei Clubs der Stadt spielen in der ersten Liga, Manchester United und Manchester City. Das einzige Viersternehotel, in dem gewöhnlich gastie19
rende Fußballer wohnen, ein Mariott-Hotel, ein vierstöckiger roter Ziegelsteinbau am Ende einer Sackgasse. Ganz in der Nähe befindet sich eine Station von Granada TV. Doch Manchester ist auch dafür bekannt, einige der wichtigsten Bands der Popgeschichte hervorgebracht zu haben: Joy Division, Buzzcocks, The Smiths, The Stone Roses und Oasis. Manchesters Schicksal ist - ähnlich ·wie das der Baseballmannschaft Boston Red Sox oder Kanada -, ewig Zweiter zu sein und stets im Schatten Londons zu stehen. Dennoch konkurriert die Stadt mit London, wo es nur geht. Morrissey, der Leadsänger von The Smiths singt über Manchester in dem Lied »Every Day is Like Sunday«: »This is the coastal town/ That they forgot to close down/ Armageddon come Armageddon/ Come Armageddon come.« Die Fans schieben sich an den Bierständen endang, hören der Vorgruppe Semi Precious \Veapons halbherzig zu und fiebern dem Hauptact entgegen. Gaga mag noch am Anfang ihrer Karriere stehen, doch hat sie jetzt schon eine treue Fangemeinde um sich geschart, die über ihre kleinen und größeren Fehler großzügig hinwegsieht. Und ihre Fans fühlen, dass Lady Gaga ihnen gegenüber dasselbe tut. Sie hoffen es. »Sollte Lady Gaga nur aus Imagegründen so sein, fände ich das furchtbar«, sagt Gavin Dell, ein zwanzigjähriger Student mit einem in Glitzerfarben aufgemalten Blitz überm Auge, der mit seiner besten Freundin Carrie in der Arena ausharrt. Lady Gagascheint ehr20
lieh zu sein, meint er, doch gleichzeitig ist es diese Ehrlichkeit, die ihn an ihr z·weifeln lässt. So sieht Ironie im post-post-ironischen Zeitalter aus. »Ich würde sie regelrecht dafür hassen, nur ihr eigenes Image zu sein. All diese Sachen, die man in den Medien von ihr hört: ihre Angst vor Männern und Sex ... « Dell stockt und wirkt plötzlich leicht verlegen, als er merkt, wie sehr ihn das alles beschäftigt. »Alles an ihr ·wirkt so authentisch. Ich hoffe inständig, dass sie wirklich so ist, wie sie sich gibt. Natürlich hat sie auch Stylisten, trotzdem merkt man, dass jede Kleinigkeit an ihr echt ist. Ich kann mich täuschen, doch dann hat sie es geschafft, mich wirklich gut zu täuschen.«
Wer nun also ist Lady [jaga, und wie ist es ihr ge-
lungen, so erfolgreich zu ·werden? Das ist eine Frage, die ihr in Talkshows von Ellen de Generes über Oprah vVinfrey bis hin zu Barbara vValters immer und immer wieder gestellt wird. Gagas Antwort ist immer dieselbe: Sie war und ist ein Freak, eine Außenseiterin, eine verlorene Seele auf der Suche nach Seelenverwandten. Das erklärt auch ein wenig, warum eine noch sehr junge Frau - die wohlbehütet und privilegiert auf der New Yorker Upper vVest Side aufwuchs, die Billy Joel, New Kids on the Block und Britney Spears vergötterte und die noch vor zwei Jahren dachte, American Apparel sei Avantgardemode - so ungemein fasziniert. Gaga 21
beim Auftakt ihrer Europatour in Manchester zu sehen, heißt auch, erfolglos nach Brüchen zu suchen: zwischen dem Mädchen, das einmal davon träumte, die nächste Fiona Apple zu werden - eine ernsthafte Sängerin und Songschreiberin - und der schrägen Performerin auf der Bühne. \Venn Zuschauer ungeduldig werden, fangen sie an, die La-Ola-\Velle zu machen. So auch an diesem Abend in Manchester um halb neun. Noch immer dröhnt Michael Jackson vom Band - vor allem Thriller. Die Botschaft ist klar: Hier kommt ein Mädchen, das berühmt werden will - berühmt wie Michael Jackson. Ein Mädchen, das sich mit ihm und seinen Shows identifiziert und deren Auftritte auf gewisse \Veise an seine erinnern: Sie sind voll mit sexuellen Anspielungen, ohne jedoch wirklich erotisch zu sein. Und häufig spielen sie - fast schon auf kindliche vVeise - mit einer Horrorfilmästhetik. Grandiose Shows unterlegt mit eingängiger Popmusik und unvergleichlichen Stimmen. Die Bühne verdeckt ein weißer Vorhang. Als die Stimmung des Publikums zu kippen droht, erlöschen die Lichter und die Menge kreischt (wie alle großen Stars spielt auch Lady Gaga so lange mit der Erwartung ihrer Fans, bis sie nicht mehr anders können, als ihr komplett zu verfallen). Ein blaues Gitter ·wird auf den Stoff projiziert, und eine riesige hologrammartige Blase taucht auf der linken Seite auf, steuert auf die Menge zu, schwebt eine Weile vor ihr, dreht und wendet sich und nimmt schließlich die Form von Lady Gaga an. Eine Uhr auf
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einer Leinwand zählt die Sekunden bis zum Showbeginn, bei 00:00:00:00 fällt der Vorhang: And there she is! Auf einer Treppe, eingerahmt von Schriftzügen aus Neonlichtern wie »Liquor« oder »Gold Teeth«. Auch »Sexy Ugly« leuchtet auf, Songtitel und ihr ureigener Markenname. In weißen Glühbirnen auf einem Gerüst dann der Spruch: »vVhat the fuck have you clone.« Die Show beginnt mit »Dance in the Dark«, doch mindestens die erste Minute des Songs geht im Lärm der Zuschauer unter. Die Menschen und Dinge, auf die sich Gaga während ihrer Show mehr oder weniger subtil bezieht, sind: der Musikfilm The lVizard of Oz; eine Fashionshow des Designers Alexander McQueen, bei der 2006 Kate Moss als Hologramm im Raum schwebte; eine berühmte Fotografie, die McQueen gemeinsam mit einem weiß gekleideten Model zeigt - dessen Gesicht ·weiß bemalt, mit roten Farbtupfern in den Augen, der Mund mit schwarzem Klebeband geknebelt; das Broadwaymusical Rent; Clips, die z·w ischen den Showacts bei den MTV Awards gezeigt werden; Elton John und Billy Joel; This is Spinal Tap , eine Rock-'n'-Roll-Filmparodie aus dem Jahr 1984; satirische Filme über die Modewelt wie Brüno und Zoolander; Cirque du Soleil; japanische Horrorstreifen aus den 1950er Jahren; die Künstlerprovokateure Tracey Emin und Damien Hirst; Gesamtkunstwerke wie ein Klaus Nomi oder ein Leigh Bowery; Fischerspooner, die Pioniere des Electroclash; David Bowie und Freddy Mercury; das Erscheinungsbild der Tina Turner in dem Filmstreifen iVIad Max - Beyond Thunderdome; Sylvia 23
Paths Gedicht »Death & Co«; Marilyn Manson; Vlalter Hills Kultfilm The Warriors; Grace Jones; Dale Bozzio von der New-vVave-Band Missing Persons; das irische Tanzwunder R6isin Murphy; die Raverszene der Neunziger; die Schwulenkultur der letzten drei Jahrzehnte; Sally Field in der Sitcom The Flying Nun; Fay \Vray in King Kong; die Schwarz-Weiß-Bilder des RockszeneFotografen Anton Corbijn; \\Tim Wenders Himmel über Berlin - und, natürlich, Madonna. Am häufigsten zitiert und inszeniert sich Lady Gaga als Madonna. Die beiden haben nicht nur eine vergleichbare Biografie - italo-katholisches Mädchen bricht aus, um sich mit wenig Geld in Downtown New York durchzusetzen, besessen von der Idee, ein vVeltstar zu werden- sondern auch ihre ersten Karriereschritte und Persönlichkeiten ähneln sich. vVie Madonna bedient sich auch Gaga häufig bei der Schwulenkultur. Das Verwirrspiel mit der eigenen sexuellen Orientierung oder auch das frühe Engagement Madonnas bei so heilden Themen wie Aids - all das findet man auch bei Lady Gaga wieder. Auch in ihren Shows treten Tänzer mit nacktem Oberkörper und überdimensionierten Lendenbeuteln auf, die sie »meine schwulen Jungs« nennt. Sie gesteht, sowohl mit Männern als auch mit Frauen geschlafen zu haben, spricht aber zugleich davon, einen Mann heiraten zu wollen und Kinder zu bekommen. Sie setzt sich für Schwulenrechte ein und ist zusammen mit Cyndi Lauper Teil einer Kampagne des Kosmetikherstellers M·A·C zur Vorbeugung von HIV. 2LI
\Vie Madonna verändert auch Gaga ständig ihr Aussehen, sieht sich selbst als formbares Objekt und behauptet von jeder Verwandlung, dies sei nun ihr wahres Ich. Oft spricht sie, genau wie früher auch Madonna, mit einem Akzent, der sich wohl britisch anhören soll. Doch während ihrer Auftritte in Dublin und Manchester - mit denen sie die Hallen zum Toben brachte zitiert Lady Gaga Madonna auf sehr spezielle \Veise. (Schon allein die Tatsache, dass Lady Gaga dauernd aus der Popgeschichte zitiert, ist eigentlich schon ein beständiger Verweis auf Madonna.) Sie zitiert Madonna aus dem Jahr 1990, aus der Zeit der »Blond Ambition«Tour, als Madonna mit üppigen Augenbrauen, blutroten Lippen und korngelbem Haar den kegelförmigen BH von Jean-Paul Gaultier trug. Doch diesmal ist nicht Lady Gaga wie Madonna gekleidet, sondern eine ihrer Background-Tänzerinnen. Mit anderen \Vorten: Lady Gaga lässt Madonna für sich tanzen.
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/
DIE ENTSTEHUNI:i EINES MYTHOS
-......~ ~"""'er erste Coup in der jungen Karriere vcn
Lady Gaga: Bis vor kurzem war so gut wie nichts aus ihrem Privatleben bekannt. Zwischen dem Leben, das sie mittlerweile als globale Popikone führt, und ihrem früheren Leben schien es lange Zeit keine Verbindung zu geben. Das war natürlich so gewollt: Sie wollte nicht an ihr Dasein als normales Mädchen erinnert ·werden. Die wenigen Details, die Gaga dann nach und nach von sich preisgab - sie war Kellnerin, Musikerin, Burlesquetänzerin, kokainabhängig, lebte ein wildes Leben an der New Yorker Lower East Side -,sind nicht ganz falsch, aber sorgfältig ausgewählt, damit sie zu ihrer heutigen Rolle passen. Eine Rolle, in der das Mädchen, das früher auf den Namen Stefani Joanne Angelina Germanotta hörte, vollkommen aufgeht. »Mit ihr passiert gerade das Gleiche wie mit Prince damals«, sagte ihr ehemaliger Produzent Rob Fusari der New York Post. »An ihr gibt es nichts mehr von früher. Sie ist jetzt Gaga. « 29
»vVenn sie in Interviews behauptet, sie lebe und atme Mode, kann sie damit andere Leute zum Narren halten, nicht aber mich«, sagt Jon Sheldrick, der Gaga von der New York University (NYU) kennt und mit Leuten aus der Stefani Germanotta Band befreundet war. »Es soll nicht herablassend klingen«, sagt er, »doch an der Uni wirkte sie völlig normal.« (Und ist »Normalität« nicht das Gemeinste, was man einer Kunststudentin vor·werfen kann?) »Ihre Klamotten waren auf jeden Fall nicht besonders cool oder ausgefallen, sagt er. »Sie trug meist T-Shirts und Leggings. \Vas ihre Kleidung anging, war sie zumindest keine Außenseiterin.« Sheldrick selbst, aber dies nur nebenbei, trägt übrigens ebenfalls Jeans und T-Shirt. Eine ehemalige Mitbewohnerin, die mit einigen Mitgliedern von Stefanis damaliger Band befreundet war, bestätigt diese Beobachtungen: »Sie war ein etwas spießiges, nettes PartygirL Und hatte nichts von dem, was auf dieses Andy-\Varhol-artige Kunstding, das sie nun betreibt, hingewiesen hätte.« »Ihr gesamtes sogenanntes >verrücktes
Sich selbst als Mythos zu inszenieren ist nicht ge-
rade neu, sondern in Amerika fast schon zur Kunstform verkommen. Man braucht nur an P. T. Barnum, den le30
gendären Zirkuspionier, Henry Ford, die Kennedys und Bob Dylan zu denken. Das Besondere an Lady Gaga ist, dass sie der erste Star ist, der im Zeitalter des Internets zum Mythos wurde und es schafft, diesen selbst zu kontrollieren. Sie verstand als Erste, die sozialen Netzwerke uneingeschränkt für sich zu nutzen. So schrieb im November 2009 die Zeitschrift Forbes: »Lady Gaga als die neue Madonna der Musikindustrie zu beschreiben \:väre fast schon untertrieben. Sie ist ein völlig neues Geschäftsmodell.« Lady Gaga (oder vermutlich eher jemand aus ihrem Team) steht ständig - via Facebook und Twitter - in Kontakt mit ihrer Fangemeinde. Und wenn Gaga übers Netz eine Neuigkeit verkündet, löst das sogleich erdbebenartige Rektionen aus. Bei der Premiere ihrer Single »Bad Romance« während der Frühjahrs-/ Sommerkollektion 2010 von Alexander McQueen brach die Seite, auf der die Modenschau übertragen wurde, kurz nach Beginn der Show zusammen. Fast vier Millionen Menschen verfolgen auf 1\vitter jeden von Gagas Schritten. Ihre Videoclips werden zuallererst auf YouTube gezeigt; im März 2010 war sie die erste Sängerin, die mehr als eine Milliarde Klicks im Netz vorweisen konnte. Im Februar 2010 hatte sie von ihrem Album The Fame zehn Millionen Exemplare verkauft. 2009 war sie die Künstlerin mit den meisten Downloads in der britischen Chartgeschichte und stand, hinter der Band Black Eyed Peas, auf Platz zwei der am häufigsten herunter31
geladenen Popsänger bei iTunes. Im Umgang mit den neuen Medien gibt es sogar Parallelen zwischen Lady Gaga und Barack Obama: Bis vor ein paar Jahren nahezu so unbekannt wie sie, verdankt Obama seinen Einzug ins \Veiße Haus letztendlich auch seiner unermüdlichen Präsenz im Internet und den sozialen Netzwerken. Vielleicht wurde Lady Gaga dabei sogar von ihrem Vater Joe - einem Italoamerikaner - unterstützt. Joe gehörte in den 1980er Jahren zu den Pionieren des Internetzeitalters, als noch niemand ahnte, was die Zukunft in diesem Bereich bringen würde. Joe machte mit »Guest-Vl iFi«, einer Firma, die Hotels kabellosen Internetzugang zur Verfügung stellte, ein Vermögen. Ähnlich wie ihr Vater scheint auch Lady Gaga ein gutes Gespür für Geschäfte und Menschen zu haben. Schon als Kind wusste sie, dass sie Künsderin werden wollte; vielleicht hat sie auch den \Veitblick von ihrem Vater geerbt. »Auf Facebook gehöre ich immer noch zu ihren Freunden«, sagt Seth Kallen, ein Musikstudent, der Gaga von der NYU kennt. »Sie hat immer noch ihr altes Profil, aber mittlerweile natürlich Tausende von Freunden. Anfangs gab es dort auch Aufnahmen, die sie vor ihrer Verwandlung zeigten. Als ich dann merkte: >Moment mal, die ·wird ja richtig berühmt<, da waren die Fotos aus ihrer Zeit vor Lady Gaga auf einmal auf einen Schlag weg.« Im Internet findet man nicht viel über Stefani Germanotta. Immerhin existiert ein Clip von ihr aus der 32
Show Boiling Points, einer Art postmodernen Version von Versteckte Kamera, bei der ahnungslose Menschen so lange provoziert werden, bis sie ausflippen. Die Episode mit Stefani zeigt sie in einem etwas schickeren Coffeeshop nahe des NYU-Campus. Sie trägt ein schulterfreies Sommerkleid und Flipflops. Ihr schwarzes Haar ist zu einem Pferdeschwanz gebunden und ihr Make-up besteht lediglich aus schwarzem Eyeliner und Lipgloss. Sie sieht vollkommen unscheinbar aus. Sie geht - wie schon zwei weitere Gäste vor ihr kurz raus auf die Straße, um einen Anruf auf ihrem Handy entgegenzunehmen. Als Stefani zurückkehrt, ist ihr Salat weg. Sie fragt die Kellnerin, ob sie den Salat wiederhaben kann - »Ich habe ihn nicht mal angerührt! «, sagt sie. Die Kellnerin gibt ihr den Salat wieder, auf dem allerdings eine schmutzige Serviette und ein zusammengeknülltes Papier liegen. Die beiden anderen Opfer sind ebenfalls verärgert, doch Stefani verliert als Erste die Nerven. >>vVer will den Dreck denn noch essen? \Vürden Sie sich das hier in den Mund stecken? Da ldebt überall Dreck dran. Aber klar. Sie sind so abgefuckt. Sie würden den Salat trotzdem essen«, schnauzt Stefani die Kellnerin an. Stefani verliert; während die anderen beiden Gäste je hundert Dollar gewinnen, weil sie cool geblieben waren. Im Highschool-Jahrbuch behauptet Gaga, bei der TV-Serie The Sopranos mitgewirkt zu haben. In ihrer 33
Teeniezeit sang sie bei Talentscouts vor und versuchte ihr Glück bei Rent, als das Musical am Broadway lief. Sie sagt, in der Schulzeit habe sie ihre Mutter immer zu bremsen versucht. »Aber stattdessen«, meint Gaga, »wurde ich immer hungriger und hungriger.« Sie besuchte das Covent of the Sacred Heart in der East 91 st Street, eine exklusive, katholische Mädchenschule, die in zwei umgebauten, noblen Stadthäusern untergebracht ist. Auch Paris und Nicky Hilton, Gloria Vanderbilt und Caroline Kennedy waren dort Schülerinnen. Bereits im Kindergarten lernen die Mädchen Französisch und Spanisch; in der achten Klasse können sie Mandarin-Kurse belegen. Das Schulgeld für das Schuljahr 2009/ 10 betrug 33 985 Dollar. Das oberste Ziel der Schule lautet, so verkündet es die \Vebseite, die Schülerinnen »zu einem persönlichen und aktiven Glauben an Gott zu erziehen«. Über ihre Schulzeit am Sacred Heart sagt Gaga, sie sei sich wie »ein Freak« vorgekommen, der dort überhaupt nicht hineinpasse. Doch Fotos aus dieser Zeit zeigen ein junges Mädchen, das immerzu lächelt und von zahlreichen anderen lächelnden Mädchen umgeben ist. Die Mädchen wirken, als gehörten sie alle zu derselben gutsituierten Uptown-Familie: langes gepflegtes Haar, altersgemäßes Make-up, tagsüber Jeans, T-Shirts und Pullover, schulterfreie Kleider, Perlenhalsketten auf Schulbällen am Abend. »Stefani spielte liebend gern in Theateraufführungen und Musicals der Schule mit«, sagt eine frühere 34
Schulkameradin vom Sacred Heart. »Sie hatte ein paar enge Freunde, mit denen sie sich auch heute noch trifft. Sie war eine gute Schülerin, trug ihre Schuluniform nach den vorgegeben Regeln. Sie mochte Jungengesellschaft sehr, aber Gesang und Kunst waren ihr noch wichtiger. Stefanis Stimme stach in einer Messe oder bei einer Preisverleihung immer heraus. Sie wollte unbedingt Schauspielerin oder Sängerin werden. Viele von uns ahnten, dass sie ein Star ·werden würde.« Einige wenige Videos auf YouTube zeigen Gaga in ihren Anfangstagen. In einem von ihnen ist sie bei einer Talentshow der NYU zu sehen. Barfuß sitzt sie da am Klavier, trägt ein schulterfreies grünes Kleid und singt zwei ernste, an Norah Jones erinnernde Balladen. Es gibt noch einen weiteren, viel älteren Clip von ihr aus dem Bitter End, einem Club, dessen Einrichtung an einen spießigen Gemeinschaftsraum ähnelt. Ein Teenager noch, trägt Gaga ein knappes Sweatshirt, der einen schmalen Streifen ihres Bauches und somit ein wenig Babyspeck freigibt. Grinsend, zappelnd und mit verschmiertem Eyeliner probiert sie sich an einer Version des Madonna-Songs »Hollywood«. Jede Person auf der Bühne stellt sie als die »Stefani Germanotta Band« vor. >>Hört mal«, knurrt die sechzehnjährige Stefani mit einer Stimme voller Kraft und Elan, »ich bin tierisch ehrgeizig.« In einem anderen Video, kurz nach Unterzeichnung ihres ersten Plattenvertrags, korrigiert sie etwas her35
ablassend eine Moderatorin: »Ich habe nicht bei Sony unterzeichnet, sondern bei Island Def Jam« - dabei sitzt sie in einem pinkfarbenen Minikleid und GogoStiefeln vor der Klaviertastatur. Auch hier sieht sie mit ihrem langem schwarzen Haar und dem dichten Pony totallangweilig aus, bezeichnet sich allerdings schon als Lady Gaga. Sie singt eine Ballade mit dem Titel »vVonderfuk Ihre Stimme erinnert an Christina Aguilera und der Song an ihre Klavierballade »Beautiful« von 2002 - Lady Gaga arbeitete damals m it Aguileras Gesangslehrer zusammen. (»Wonderful« ·wird später von Adam Lambert, einem Kandidaten der Talentshow American Idol gesungen, einem zur Theatralik und starkem Mal\.e-up neigenden Perfor mer. ) All diese Videos dokumentieren unzweifelhaft Gagas Talent; ihr musikalisches Können , gesanglichen Ausdruck sowie eine eindrucksvolle Bühnenpräsenz. Vielleicht lässt sie diese Clips im Netz, weil sie keine gesetzliche Handhabe hat, um sie verschwinden zu lassen . Vielleicht aber möchte sie auch zeigen, dass sie schon immer ihre eigene Herrin war: kein von Auto-Tune jener Software, die falsch gesungene Töne geradebiegt- erschaffenes \Vesen und auch keine lippensynchronisier te Glitzerqueen , sondern eine echte Künstlerin mit Stimme und einer Vision. In einem der Clips behauptet sie, eine Gum mipuppe zu besitzen. »\Vir lieben uns jede Nacht«, sagt sie . Da schimmert die große Provokateurin, die sie später werden wird, bereits durch. 36
Ihre Fans sehen keinen großen Bruch zwischen der et\:vas spießig aussehenden Stefani Germanotta und Lady Gaga, der Dancequeen und Domina der Popszene. Und diejenigen, die einen Unterschied sehen wollen, bekommen aufgrund ihrer Naivität schnell den Spott der anderen zu spüren. Gagas jüngere Fans wurden mit Reality TV-Shows und dem Internet groß - die den Stars wenig Raum für Geheimnisse ließen. Doch Lady Gaga hat - zumindest bisher - eindrucksvoll bewiesen, dass sie sowohl die Medien für sich nutzen als sich auch durch sie schützen kann. Es fällt einem kaum ein anderer Star ein, der quasi aus dem Nichts auftauchte, die Massen in seinen Bann zog, über den aber so gut wie nichts bekannt ist. Mit voller Absicht wurde Gagas Vorgeschichte nur bruchstückhaft an die Öffentlichkeit weitergegeben; niemand kannte Details aus ihrer Kindheit, wusste, ob sie irgendwelche schlimmen Erfahrungen machten musste, ob sie überhaupt - und wenn ja mit wem - ausging, \Ver ihre Freunde waren. Es gibt kein Foto von Gaga, das sie in angeschlagenem Zustand zeigt, wie sie etwa einen der angesagten Nachtclubs verlässt. Sie versicherte, für ihre Fans glaubwürdig, dass sie nicht zur \Velt der Upperclass gehört, auf Promifreunde keinen vVert legt, sich lediglich für ihre Kunst und nichts anderes interessiere. Sie inszenierte sich als die perfekte Projektionsfläche für die Sehnsüchte und vVünsche anderer Leute. Ähnlich wie zuvor schon Stars wie Prince oder David Bowie - doch damals gab es noch kein Internet. Bowie 37
und Prince hatten, im Gegensatz zu Gaga, für ihre Fans etwas Unnahbares. Eine unüberbrückbare Distanz, fast so als gehörten sie einer anderen Spezies an. Das Geheimnis für Gagas Popularität könnte ihr Außenseiterturn sein, das sie immer wieder betont. Und darin erscheint sie sehr m enschlich. Es überrascht nicht weiter, dass einige Titel des 2009 veröffentlichten Demo-Album Red and Blue eine recht heftige Diskussion unter den YouTube-Nutzern auslösten. Da hieß es zum Beispiel: »Meine Güte, dieser Song, der ist so ... ganz und gar nicht pervers!!!! vVAS IST LOS LADY GAGA?????!! ... vVahrscheinlich hat sie den falschen Weg genommen.« »vVieso sollte der Weg >falsch<sein? Hätte sie diesen vVeg nicht eingeschlagen, wäre sie nie berühmt geworden. >>Meinst du, sie hätte so viele Platten verkauft, ·wenn sie die gleichen Songs als Stefani eingespielt hätte? Nee.« »Diese alten Songs sind ':virklich gut, aber was sie jetzt macht, wird mehr gehört= mehr Verkäufe für die Plattenfirma. « »Gaga selbst hat doch erzählt, wie langweilig sie es fand, ein zorniges weißes Mädchen zu sein, das Schmusesongs singt. Am liebsten wäre sie vor ihren Auftritten weggelaufen. Als sie diese Album-Lieder aufnahm, verriet sie sich selbst. \Veil sie diese Lieder gar nicht mochte. Keine Ahnung, ob sie mit dem, ·was sie jetzt 38
tut, hundertprozentig glücklich is t. Aber sicher macht es sie glücklich, anders zu sein.« Gagas eigene Erklärung über die klaffende Lücke zwischen ihrer Person von damals und der von heute passt genau zu der zuletzt erwähnten Behauptung einer Internet-Nutzerin. »Die Leute denken, mein Auftreten sei exhibitionistisch und theatralisch«, sagte Gaga in einem bislang unveröffentlichten lntervie\v. »Doch da ist etwas in mir, \:vogegen ich nicht ankomme. Nämlich das Mädchen, das sich über all die früheren Jahre lustig machen muss. Als ich das College besuchte, wurde ich dieses Mädchen los und begann etwas anderes zu werden. Als ich mit meinem Produzenten darüber sprach, meinte er: >Warum lässt du das Mädchen nicht raus?< Er fand gerade das gut, was ich mir auszutreiben versuchte.« \Vomit der Mythos beginnt, sich aufzulösen.
Ihre Kommilitonen von der Tisch Scheel of the
Arts der NYU, die Gaga nur ein Jahr lang besuchte, können sich vor allem an Gagas unglaubliche Zielstrebigkeit erinnern, an ihre Auftritte, an ihre unbeschreibliche Umtriebigkeit, nicht aber an ihren Freundeskreis oder die Kurse, die sie belegte, oder an die Jungen, mit denen sie ausging, die Partys, an denen sie teilnahm. Sheldrick etwa weiß noch ganz genau, wie sich Gaga und er das erste Mal trafen, es war im Herbst 2005 nach seinem eigenen Auftritt in der Alphabet Lounge. 39
Sie sprach ihn an mit den \Vorten: »Hi, ich bin die Stefani. Ich gründe eine Band. Ich brauche noch einen Gitarristen.« Sheldrick war mit Calvin Pia und Eli Silverman befreundet, die Stefani bereits engagiert hatte. Ein paar Tage später sollte die Band erstmals proben. Auf dem vVeg zum Proberaum in der Ludlow Street musste Sheldrick ein paar Absperrgitter überwinden, eine Metalltreppe hinunter, ein überlangen, schmutzigen Gang entlang, an dessen \Vänden und Decken lauter Rohre verliefen. Heute noch erinnert er sich vor allem an zwei Dinge: Erstens, dass der Proberaum im Keller ihm ganz zuwider war, und zweitens, dass er und Stefani musikalisch auf der gleichen vVellenlänge lagen. »Sie sah aus wie 'ne richtige Jam-Band-Braut«, sagt Sheldrick über Stefani. »Sie hatte etwas vVildes, Schmutziges an sich. Ich erinnere mich, dass wir Phishs Song >Down and Disease< nachspielten. \V'ir improvisierten und irgendwann, nach zwanzig Minuten, fragte sie : >Können wir jetzt ein paar Songs von mir spielen?«< Sheldrick willigte ein - und gewann schnell eine Erkenntnis. »Bei ihren Songs spürte ich nichts. Die Musik hörte sich an wie so 'ne Art weiblicher Billy-Joel-Klavierrock.« Er mochte nicht mehr mitmachen, ging aber zu den Gigs der Band. Am Anfang traten sie unter dem Namen Stefani Germanotta Band auf, später dann als Stefani Live. Sie waren seine Freunde, und Sheldrick \vollte sie unterstützen. LID
Die Auftritte waren nichts Besonders. »Alles ganz normal, ganz singer- und songwritermäßig«, meint Kallen, ein Freund aus Gagas 1\TYU-Tagen, der gelegentlich bei der Band mitspielte, sich dennoch aber an wenig erinnern kann. »\Vir waren halt die Stefani Germanotta Band. Sie stand am Klavier und die Band, na ja, die war nicht gerade toll. Doch ich ahnte, dass Stefani Talent hat. Sie \Vusste es sicher auch. « Zur gleichen Zeit etwa fragte Gagas Vater Joe Vulpis, ob der Produzent und Toningenieur wohl das erste Demoband für seine Tochter aufnehmen könne, denn dies gehörte zu Gagas Aufgaben für die Aufnahmeprüfung bei der Tisch School of the Arts - und ihr Kindheitstraum war es sowieso. Die beiden Männer ·waren miteinander befreundet, hatten sich über eine italo-amerikanische Organisation in .Manhattan kennengelernt. »vVir waren Mitglied in einer Art privatem Club, einem Country Club ähnlich«, sagt Vulpis. »Rudolph Giuliani, New Yorks Ex-Bürgermeister, ist da auch eingetragen. Allererste Liga war das. « Die Eltern waren demnach aktiv am Karrierestart ihrer Tochter beteiligt und gehören somit zur ersten Generation der sogenannten »helicopter parents«. Der Begriff tauchte zum ersten Mal 1990 auf und bezeichnet Eltern, die sich übertrieben fürsorglich um ihre Kinder kümmern. Joe Germanotta nutzte seine geschäftlichen Verbindungen, um seiner Teenager-Tochter Termine bei wichtigen Leuten in der Musikbranche
zu verschaffen , wo sie brav vorsang. Cynthia, Stefanis Mutter, begleitete sie öfter in die Nachtclubs und bat die Betreiber dor t inständig, ihre minderjährige Tochter auftreten zu lassen. Beide Eltern halfen beim Transport des Equipments und r iefen die nahe und fe rne Verwand tschaft an, damit sie sich Gagas Gigs ansah. Sie wussten wohl, dass ihre Tochter talentiert war, und setzten alles daran , ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Dass allerdings ihre Stefani bereits mit vier Jahren gern Klavier spielte, das ist eine Erfindung nur - das bestätigte Stefani sogar in einem ihrer ers ten InterVIews. »Als ich vier J ahre alt war, wollte meine Mutter, dass ich Klavier spiele. Eine Klavierlehrerin kam zu uns nach Hause, aber ich mochte das Klavierspielen überhaupt nicht«, sagte Gaga. »Ich weigerte mich, Noten zu lernen oder zu üben.« Sie erinnert sich an den Ehrgeiz ihrer Mutter: »Sie hatte vor, eine gebildete junge Frau aus mir machen, und zwang mich, zwei Stunden am Klavier zu verbringen . Ich konnte also entweder nur dasitzen oder aber spielen.« Von da an spielte sie meist nach Gehör. Es gefiel ihr bereits damals, zu improvisieren und sich in Szene zu setzen . »Wenn wir in einem Restaurant zu Abend aßen , nahm ich mir eine Salzstange als Taktstock, dirigierte und tanzte am Tisch«, sagt Gaga. »\Venn sich Babysitter bei uns vors tellten, zog ich mich aus und sprang nackt in der Gegend herum. Da war ich neun. An sich zu alt, um derlei Dinge zu veranstalten.« Ll2
Intensiv dachte sie darüber nach, Schauspielerin zu ·werden. Und als sie älter ·wurde, erlaubten ihre Eltern, dass sie an \Vochenenden Schauspielkurse belegte. Doch bald schon wurde deutlich, dass nur noch Musik wichtig war. »Ich schrieb meinen ersten Song mit dreizehn«, sagt Gaga. »Er hieß >To Love Again<. Es war lächerlich. vVas weiß schon eine Dreizehnjährige über die Liebe.« Mit vierzehn Jahren begann sie, in den Nachtclubs der Stadt aufzutreten. (Ihre sechs Jahre jüngere Schwester Natali zeigte ebenfalls starkes Interesse an Musik Fusari erinnert sich an diverse Abendessen in dem riesigen Apartment der Germanottas an der Upper vVest Side, wo die Stimmung Z'\>vischen den Geschwistern gereizt war. »Es lag eine mächtige Spannung in der Luft«, so Fusari. »Ihre kleine Schwester saß am Klavier, wollte Stefani ein paar Stücke vorspielen, aber Stef meinte nur: >Das ist mein Ding. vVag dich ja nicht auf mein Terrain.<«) Als Vulpis einen Auftritt der Stefani Germanotta Band sah, kamen ihm Zweifel: »Von der Band war ich nicht sehr angetan. « Er mochte aber Joe Germanotta und glaubte ihm, wenn der erzählte, dass Stefani talentiert war. So arbeiteten schließlich Vulpis und Stefani fünf oder sechs Monate lang zusammen. »Sie wollte eine wirklich üble Rockerbraut sein«, sagt Vulpis. »Im Repertoire hatte sie klassischen Rock, Balladen und Mainstream-Jazz. Sie coverte Liebeskummerschnulzen wie >Someone To \Vatch Over Me< und Nat King Coles >Orange Colored Sky<.« Ll3
\\Tenn Stefani gemeinsam mit ihrer Band live spielte, neigte sie zu Jamsessions. Häufig sang sie ein Lied, das »Purpie Monkey« hieß und das, nach ihrer Aussage, davon handelte »Gras zu rauchen , zu kiffen und zu halluzinieren«. Sollte das etwa ein Friedensangebot an ihre Phisb-lieb ende Truppe sein? Keines der Bandmitglieder kann sich daran erinnern, dass Stefani je Drogen genommen oder auch übermäßig viel Alkohol getrunken hätte. Sie war viel zu ehrgeizig, ·wollte die Kontrolle nie verlieren. »De r Song hatte einen sehr bluesigen Refrain«, sagte sie über »Purple Monkey«, »und ich hautedermaßen in die Tas te n , dass alle um mich herum ausflippten. « Ein paar Scouts von Columbia Records hatten diesen Song Hve gehört. Sie waren verwirrt und erzäWten bereitwillig, worin die Verwirrung lag: »Die Stimme finden wir gut, mit ihr lässt sich etwas anfangen. Aber nicht mit der Musik.« Vulpis sagt dazu: »Stefani wusste immer, was sie wollte. vVenn sie etwas nicht mochte, werkelte sie daran und kriegte es anschließend so hin, dass es passte. Alle Fäden befanden sich stets in ihrer Hand.« \Venn es darauf ankam, war Stefani fähig, kurzen Prozess zu machen. Kallen erinnert sich, ·wie Calvin Pia mit einer interessanten Neuigl{eit auftauchte: »Sie haben uns alle gefeuert. Die Stefani Germanotta Band gibt es nicht mehr. vVeil sie jetzt was Neues machen will. Sie ist Lady Gaga.«
2006 traf die Musikerin Wendy Starland auf Ste-
fani, als diese ein Praktikum bei Irwin Robinson, dem berühmten Produzenten von Famous Music Publishing, machte. Die Firma gehörte damals zur Viacom-Gruppe, der Muttergesellschaft von MTV (2007 wurde die Firma an Sony/ ATV Music Publishing verkauft). Famous Music residierte Midtown, in einem Bürogebäude auf dem Broadway, nicht sehr weit vom berühmten Brill Building entfernt, dem musikalischen Zuhause von Carole King, Burt Bacharach und etlichen anderen amerikanischen Popgrößen. Stefani arbeitete für Robinson; bereitete ihm Kaffee zu und nahm Telefongespräche entgegen. Starland erinnert sich, dass Stefani ihr jede Menge Komplimente machte, ihre Songschreiberqualitäten lobte, während sie die Pressepakete zusammenstellte. »Da gab's diesen Song von mir, >Stolen Love«<, meint sie, »Stefani sagte dazu: >Ich spiele ihn immer und immer wieder. Er bedeutet mir so viel. < Was nichts anderes heißen sollte als: >Ich liebe deine Musik. <Sie ist clever. Sie kann Leute gut einschätzen. Sie weiß, wie man sie zu nehmen hat. Und sie weiß sich durchzusetzen.« Starland sitzt in einer Nische des schicken und dennoch legeren Coffeeshops am Union Square, wo sie in den vergangenen fünf Stunden unterschiedliche Produzenten getroffen hat: Eine gepflegte junge Frau mit heller Haut, ungeschminkt, langes gewelltes Haar, durchschnittlich hübsch. Sie trägt einen cremefarbenen Pul45
Iover mit V-Ausschnitt sowie eine pinkfarbene Hose. Man würde in ihr eine Bankangestellte oder eine Immobilienmaklerin vermuten, auf keinen Fall jemanden, der in der Musikbranche arbeitet. Starland verlässt in den fünf Stunden ihre Nische ganze drei Mal - um die Toilette aufzusuchen. Und um sich zu beruhigen. Noch immer fällt es ihr nämlich schwer, über Gaga emotionsfrei zu sprechen. »Ich bin so nervös«, sagt sie. »Doch ich erzähle die vVahrheit.« Als sie Stefani bei Famous Music traf, arbeitete Starland auch als Scout für Rob Fusari, der eine Reihe von Nummer-eins-Hits für 'Vill Smith, Destiny's Child, vVhitney Houston und Jessica Simpson produziert hatte. Mit den Hits hatte er genug Geld gemacht und war nun in einer guten Position: Sollte er, so seine Überlegungen, jemanden entdecken, etwas aufbauen und dann an ein Label verkaufen, so könnte er damit eine Menge Gewinn machen. Jedenfalls beauftragte Fusari Starland, nach einem Mädchen zu fahnden, nicht älter als fünfundzwanzig, das, so seine Worte, »die Leadsängerirr der Strokes sein könnte« - also einem weiblichen Pendant zum zerzausten Strokes-Frontmann Julian Casablancas. Stefani entsprach dem ganz und gar nicht. Doch als Starland im Juni 2006 zusammen mit ihr in Manhattans Cutting Room auftrat, wusste sie auf Anhieb, dass Stefani über ausreichend eigenwilliges Potenzial verfügte - und gerade darauf legte Fusari viel vVert.
Starland berichtet: »Er sagte: >Man muss beim Anblick des Mädchens, das ich suche, nicht gleich vor Begeisterung in Ohnmacht fallen. Auch ihr Talent muss einen nicht vom Hocker reißen. Aber es muss einen in ihren Bann ziehen können. «< Starland erinnert sich ans Cutting Room: »vVegen des Soundchecks tauchte ich früh am Auftrittsort auf. Da kam Stefani auf mich zu und sagte: >Weißt du noch, \ver ich bin? Ich war Praktikantin bei Irwin Robinson. \Vir treten heute Abend hier auf, komm doch vorbei.«< Starland weiß noch, was sie dachte, als sie Stefani am Klavier sah: Den Songs fehlt der letzte Schliff. Die Band muss weg. Sie hört sich zu sehr nach Fiona Apple an. \Vas hat dieses Mädchen bloß an? Sie sieht aus, als würde sie einen Tanz-\Vorkout veranstalten. Der Auftritt ist wunderbar. Das Mädchen hat Mut. »Nach der Show«, sagt Starland, »packte ich sie am Arm und sagte zu ihr: >Ich werde dein Leben verändern. <Es war ganz wie im Film.«
Die Mädchen gingen hinaus und riefen Fusari an:
Stefanis Bandkollege und damaliger Freund stand in der Nähe, sah aber, so Starland, dermaßen nichtssagend aus, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnern könne. »Stefani hatte stets die Hosen an«, sagt Starland. »Ich meinte zu ihrem Freund: >Deine Freundin ist Ll7
eigenwillig. Und den Mut eines Kerls hat sie noch dazu. < Er stimmte mir uneingeschränkt zu.« Sogleich legte Starland Stefani nahe, sich von der Band zu trennen, also auch von ihrem Freund. »Sie zögerte keine Sekunde«, sagt Starland. »Eine \Voche später war der Freund vergessen.« Gaga erinnert sich ähnlich an den Abend: »Wendy Starland kam auf mich zu und rief aus: >Verdammte Scheiße. Für ein Mädchen hast du Testosteron satt!< Sie zog mich zur Seite, schaute mir in die Augen und sagte: >Ich werde dein Leben verändern. < Dann rief sie Rob Fusari an und meinte zu ihm: >Ich hab sie gefunden. «< »Das ·war 2006, in jenem Jahr, in dem die Plattenverkäufe zusammenbrachen«, sagt Brendan Sullivan, DJ aus New York City, der ein paar Monate später ein Freund von Gaga werden sollte. »In jenem Jahr, in dem niemand etwas >Ruhiges<, gut Sortiertes hören wollte. Es war die Zeit von The Strokes und von Interpol. Alles, was damals hip war, wirkte unklar, unfertig. Einige setzten auf Funk. The Killers kamen groß raus. Bei Gaga aber waren die Töne kristallklar. Sie stach heraus. Ihre Musik ·wirkte erfrischend.« >»\\Tieso weckst du mich?<, fragte Rob , als ich ihn nachts anrief«, erzählt Starland. »Darauf ich: >Ich habe das Mädchen gefunden. vVir werden ihren Stil ändern. Für sie neue Songs schreiben lassen, ihr eine neue Band besorgen , sie vollkommen anders produzieren !<«
Während Starland am Telefon blieb, recherchierte Fusari auf Stefanis \V'ebsite. Er hörte sich dort eines ihrer Lieder an - und wurde wütend. Starland: »Er sagte: >Das kannst du vergessen. Verschwende nicht meine Zeit.< Ich aber gab nicht auf: >Hör dir die Songs im Netz nicht an, du musst sie live sehen.<« Fusari bemängelte Stefanis Aussehen, Starland aber ließ nicht locker. »Stefani steht neben mir«, sagte sie. Und reichte Stefani das Telefon. »Das«, so meint sie im Nachhinein, »war mein erster Fehler. « Hätte sie sich doch bloß schriftlich geben lassen, dass sie in Sachen Lady Gaga damals mehr ·war als nur ein freiberuflicher Talentscout, hätte sie später, als sie nicht mehr gebraucht wurde, ein Druckmittel gehabt.
Auf massives Drängen vcn Starland, besuchte Fu-
sari ein paar \Vochen später einen Gig von Stefani. »Sie trat in einem Rattenloch der First oder Second Avenue auf. Die ätzende Band war mit dabei«, sagt Starland. Nach dem Auftritt rief Fusari Starland an. Und fragte laut Starland: »\V'illst du mich etwa auf den Arm nehmen? \Villst du mich verarschen?« Stefani ·wechselte an dem Gig-Abend kein \V'ort mit Fusari, sah allerdings, dass er direkt nach ihrem Auftritt den Club verließ, und ahnte, was dies zu bedeuteten hatte. »Sie rief mich unaufhörlich an, war in Panik«, sagt Starland. »Ich versuchte sie zu beruhigen.« 49
Doch Panik oder zumindest Unruhe war auch aus einem anderen Grund angesagt. Neun Monate zuvor hatte Stefanis Vater seiner Tochter nämlich erlaubt, das College zu verlassen. Er hatte ihr eine Frist gesetzt, innerhalb der sie sich um einen Plattenvertrag kümmern konnte. Sollte es ihr innerhalb dieser Frist nicht gelingen, einen Vertrag abzuschließen, müsste sie wieder aufs College. Stefani lebte alleine, obwohl sie das Alleinsein nicht mochte, in einem winzigen Apartment an der Lower East Side, schlief aber oft in der luxuriösen \Vohnung ihrer Eltern, in einem Gebäude mit Portier. Von außen betrachtet sieht das Haus ihrer Eltern eher unauffällig aus - wie ein anonymer, langweiliger Bau aus der Nachkriegszeit. Diejenigen aber, die die zweietagige \Vohnung der Germanottas von innen gesehen haben, sagen, dass sie sowohl großzügig als auch gemütlich sei. Die Schlafzimmer von Stefani und ihrer Schwester Natali befanden sich oben. Mittelpunkt des \Vohnzimmers war ein Ölgemälde der Familie, das über dem Kamin hing. Vom Elternhaus in einer ruhigen Seitenstraße konnte Stefani zu Fuß zum Lincoln Center gelangen, zum Metropolitan Museum of Art und zum Central Park. Das dazugehörige Viertel war sehr sauber, sehr teuer und sehr sicher. Sie hatte diese Sicherheitszone verlassen, um achtzig Blocks weiter südlich zu leben. Es hört sich nicht sehr weit weg an, doch Downtown in New York meint das genaue Gegenteil von Uptown. Downtown prallen die unterschiedlichsten Kulturen aufeinander: Super-
so
reiche auf die Ärmsten der Armen; Mainstream- auf die Subkultur, Stefani sprang zwischen zwei vVelten hin und her, wusste zunehmend nichts mit sich anzufangen. Oft schlief sie in ihrem Kinderzimmer, wo es, anders als auf der schäbigen Lower East Side, kaum Verbrechen und kaum Straßenlärm gab. Sie konnte sich zurückziehen und sich erholen. Zwei vVochen nach dem erwähnten Auftritt stimmte Fusari einem Treffen mit Stefani zu.
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AUS STEFANI WIRD [iA[iA
nfang 2006 fuhr Stefani mit dem Bus vom New
Yorker Port Authority nach Parsippany, New Jersey, wo Fusari lebt und arbeitet. Sein winziges Studio liegt auf dem gleichen Gelände wie sein großzügig gestaltetes Haus. Er lässt das Studio häufig offen, so dass Musiker ein- und ausgehen können, wann immer sie wollen. Mit seiner modernen Einrichtung vermittelt es die Atmosphäre der 1960er Jahre. Fusari fuhr zur Bushaltestelle, um Stefani abzuholen. In der Nähe der Haltestelle, in einer Pizzeria, sah er ein kleines, stämmiges Mädchen, das dort nach etwas zu fragen schien. Da er sich an ihr Erscheinungsbild nicht m ehr erinnern konnte, dachte er: »Hoffentlich ist sie das nicht.« »Sie sah aus, als hätte sie in die Klamottenkisten dreier unterschiedlicher Epochen gegriffen«, sagt er. »Sie hatte Leggings an, ein durchlöchertes T-Shirt und einen Hut, der aus dem Prince-Film Purple Rain stammen musste.« Fusari hatte gehofft, eine neue Chrissie Hynde, den selbstbewussten Kopf von The Pretenders also, anzu55
treffen- ein Mädchen, das laut ihm »hübsch, aber nicht ausgesprochen hübsch war«, dünn, doch hartgesotten, oberflächlich männlich-aggressiv, subversiv aber mit ausreichend ·weiblichem Sexappeal. In seinen Augen war Stefani, so wie sie sich in der Pizzeria präsentierte, eine wandelnde Katastrophe . Er befürchtete, ihre äußere Erscheinung würde lediglich ein Chaos in ihrem Inneren widerspiegeln, auf fehlenden Geschmack, fehlende Vision und fehlendes Talent schließen lassen. Er sah in ihr nur ein ·w eiteres kleines Mädchen mit einem irnvitzigen Traum von Erfolg und Ruhm. Nur gute Manieren hielten Fusari davon ab, Stefani sofort wieder nach Hause zu schicken. »Gedanklich«, sagt er heute, »hatte ich mit ihr abgeschlossen.« Tommy Kafafian, ein etwas abgefahrener Musiker, der für Fusari arbeitet, war beim ersten Treffen der beiden dabei. Sie hätten, sagt er, auf seine Bitte hin an der Pizzeria gehalten. Er weiß noch, wie er Stefani sah, in jeder Hinsicht von ihr beeindruckt war und innerlich wow! ausrief. »Sie sah süß aus. Eine süße Braut mit langem, schwarzem Haar und weißen Leggings«, sagt Kafafian amTelefon in Atlanta, Georgia, wo er gerade »bei der besten Rock-'n'-Roll-Band aller Zeiten mitmacht«, mit ihr eine Tour auf dem Mond plant, weil: »Ich möchte dort als Erster auftreten.« \Vährend Kafafian von Stefani überwältigt war, wartete Fusari draußen im Auto. Stefani ·war nervös. »Als ich sie bat, mitzukommen, schaute sie mich ein biss56
chen komisch an, als fürchtete sie sich«, erinnert sich Kafafian. »Ich aber sagte: >Du brauchst keine Angst zu haben, es ist alles in Ordnung. <Sie stieg ins Auto, und wir fuhren ins Studio.« Stefanis Aussehen beschäftigte Fusari ununterbrochen. »Sie hätte in einem Mafiafilm mitspielen können«, sagt er. »Sie hatte ein paar Pfund zu viel auf den Rippen und man wartete förmlich darauf, sie gleich Spaghetti essen zu sehen.« Ein paar ihrer Stücke hatte Fusari bereits auf MySpace gehört und war alles andere als beeindruckt. Deshalb bat er Stefani, ihm etwas vorzuspielen. »Und dann sang sie zehn Sekunden lang >Hollywood<, auf Blues getrimmt. Zehn Sekunden und ich dachte nur: >vVenn ich mir die nicht gleich greife, werde ich es ewig bereuen.
Ich brauche einen Vertrag. Sofort. «< Obwohl Starland an diesem Tag nicht im Studio war, schildert sie Fusaris Reaktion so: »Nachdem er sie im Studio gehört hatte, überlegten wir hin und her, ob er sie produzieren sollte oder nicht«, sagt sie. >>Er meinte zu mir: >Sie ist gut, aber ... Ich wusste innerhalb von fünf Sekunden< und so weiter zitiert wird, dann stimmt das nicht.«
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Als Stefani Fusari erzählte, sie sei ein Neuling, habe keine Ahnung, wie die Musikbranche ticke, glaubte er es. »Später fand ich heraus, dass sie sich bei den meisten Labels längst vorgestellt hatte .« Das viele Vorspielen als Teenager, arrangiert von ihrem Vater, hatte sie mit keiner Silbe erwähnt. Aus taktischen Gründen? Aus Kalkül? Erst als er Stefani unter Vertrag zu nehmen versuchte, kristallisierte sich heraus, mit wem Fusari es da zu tun hatte . Stefani forderte einen Achtzig-zwanzig-Deal, das hieß: achtzig Prozent der Einnahmen für sie, zwanzig Prozent für Fusari. Das war mehr als verwegen. Besonders in Hinblick darauf, dass sie eine neunzehnjährige Unbekannte war, die dringend einen Produzenten wie Fusari nötig hatte, der über eine gute Reputation sowie entsprechende Verbindungen verfügte. Die Verhandlungen gestalteten sich dermaßen schwierig, dass Fusari die Vertragsunterzeichnung verzögerte. »Sie war nervös«, sagt Starland. »Sie dachte, der Deal könnte platzen. Rob geht bei Verhandlungen sehr emotional vor. Und hier passte ihm die Vertragsgestaltung nicht. Er wusste, dass er mehr als üblich in Stefani investieren musste, und versuchte deshalb für sich eine bessere Beteiligung herauszuschlagen. Das war der Moment, in dem Stefanis Vater auf den Plan trat. « Es folgten zähe Verhandlungen zwischen den Anwälten. Nach einem Monat einigte man sich endlich darauf, eine GmbH mit den Namen »Team Love Child« zu gründen, an der Stefani und ihr Vater mit jeweils vier-
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zig Prozent und Fusari mit zwanzig Prozent beteiligt ·waren. »Durch seine berufliche Laufbahn in der Telekommunikationsbranche weiß Joe Germanotta ganz genau, wie er einen Vertrag abzuschließen hat, aus dem er auch wieder rauskommt«, sagt Erendan Sullivan, ein Freund von Stefani. »Deshalb \Vurden die Anteile in dieser \Veise verteilt. Mit der iPhone-Situation lässt sich die Lage damals ganz gut erklären: Wenn man ein iPhone besitzen möchte, muss man einen Vertrag mit einer Telefongesellschaft abschließen. Doch solch ein Vertrag gilt natürlich nie lebenslang. vVenn Fusari Gaga länger produziert hätte, wäre etliches an großartiger Musik nicht möglich gewesen. Mit Robs Hilfe produzierte sie ja einige ihrer eher unaufregenden Singles von der The FameCD, wie >Beautiful, Dirty, RichDisco I-Ieaven<.«
Dass Stefani die Anerkennung durch ihren Vater
enorm wichtig ist, davon hat sie oft gesprochen. Selbst, wenn ihr Vater mit seiner Meinung ganz alleine dasteht, beeinflusst sie das unmittelbar. Als sie es mit dem Feiern und den Drogen übertrieb, kommentierte ihr Vater ihr Verhalten mit lediglich einem Satz: »Mein Kind, du vermasselst es.« Daraufhin rührte Stefani kein Kokain mehr an. »Er ist mein Held«, erzählte sie 2009 in einem Interview für die Zeitschrift Fuse. Gagas Mutter Cynthia ist eine kleine, dunkelhaarige, attraktive und überaus kultivierte Frau, die als sehr 59
freundlich und fürsorglich gilt. Sie war wohl auch maßgeblich an Stefanis Stilempfinden beteiligt. »An Modeexperimenten hatten meine Mutter und ich immer Spaß«, sagt Gaga. »Sie zog mir neonfarbene Leggings und zu große T-Shirts an. Auf einer Rollschuhparty en:va befestigte ich an meiner Stirn den Schirm einer Schirmmütze, ein grünes Ding aus Vinyl, mit Lichtern, die zuckten. « Sie erzählt auch, dass sie stets etwas überzogen gekleidet zur Schule aufbrach. »Ich trug die Haare a la Marilyn Monroe«, erinnerte sie sich. »Ich dachte, ich sähe toll aus. Doch man machte sich über mich lustig. Unter meiner Schuluniform trug ich immer enge Kleider, bekam dann wegen der zu tiefen V-Ausschnitte meiner Pullover und wegen den Nuttenstiefeln Ärger.« Obwohl sie behauptet, beide Elternteile seien ihr gleich wichtig, sie »bete beide gleichermaßen an«, scheint Stefanis Vater doch die dominantere Rolle in ihrem Leben zu spielen. In der amerikanischen Ausgabe der Elle vom Januar 2010 erzählt sie, sie habe zwar zurzeit keinen Freund, doch das sei in Ordnung, denn: »Ich bin mit meinem Vater verheiratet.« Paul Rizzo, Mitinhaber des Lokals Bitter End, wo Stefani schon zu ihrer Teenagerzeit auftrat, erinnert sich gut, dass Joe Germanotta seine Tochter immer zu den Gigs begleitete. »vVohl auch, ·weil sie so jung war«, sagt Rizzo. »Er trug ihre Keyboards in den Club und so weiter. Er unterstützte sie überhaupt sehr. Nicht nur er, die ganze Familie. Sie alle haben ihr Talent gefördert. Ihre Familie stärkte ihr immer den Rücken. « 60
Bevor sie ihren ersten größeren Gig in New York in dem Club Terminal 5 hatte, ließ sich Joe Germanotta von den Leuten aus dem Bitter End Ratschläge fürs Musikbusiness geben. Inzwischen hatte er sich ohnehin weitgehend aus der technischen Branche zurückgezogen, um als Musikmanager zu arbeiten. Er gründete - mit Lady Gaga als gleichberechtigte Partnerin - die Firma »Mermaid Music LLC« und hatte, neben seiner eigenen Tochter, noch zwei weitere Künstler unter Vertrag. »Im Februar 2008 war ich bei Gagas Eltern zu Gast. \Veil er etwas nicht so erledigt hatte, wie sie es erwartete, stauchte sie ihren Vater vor meinen Augen zusammen«, erzählt Erendan Sullivan. Er aber nahm es mit Humor und entgegnete: »Ich habe viel zu tun. Inzwischen gehöre ich ja zu den Großen der Musikbranche. Ich muss mich ja gleich um drei Künstler kümmern!« Eindeutig ist sie des Vaters Tochter, stur und zäh. Sie hat sich nie einem Diktat gebeugt. Eine Freundin erinnert sich, wie sie einmal, es war vor einem Meeting mit Sony, bei ihr auftauchte und Stefani mit Unterhose über ihrer Strumptbose antraf. Ihr Vater meinte, sie sähe aus wie »eine beschissene Schlampe«. Stefani tat die Bemerkung mit einem Lächeln ab, obwohl sie offensichtlich verletzt war. Sie tat, als würde sie die Tatsache, sich nicht die Beine rasiert zu haben, mehr beschäftigen. Gut möglich, dass Joe Germanotta wegen des gewöhnungsbedürftigen Erscheinungsbilds seiner Tochter um seine eigene Glaubwürdigkeit fürchtete. »Ihre Beziehung 61
wurde besser, als sie mehr Geld zu verdienen begann«, sagt jemand, der die Verhältnisse im Hause Germanotta kennt. »Das half schon erheblich. Sie suchte immer seine Anerkennung. Ob das gesund ist?« Als sie auf einmal viel verdiente, fragte er sie jedenfalls: »·Welcher Mann würde dich jetzt nicht wollen?« Sie wolle ihre Karriere keinem Mann opfern, sagt Gaga in letzter Zeit häufiger. Denn so vermeide sie die Gefahr, eines Morgens neben einem Mann aufzuwachen, der sie nicht mehr liebe.
Ab April 2006 begannen Stefani und Fusari intensiv an der Musikrichtung zu arbeiten. Stefani wollte unbedingt eine ernsthafte Sängerin und Songschreiberin ·werden. Fusari blieb skeptisch. Zumal er vor kurzem in der New York Times einen Artikel über Frauen in der Rockmusik-Szene gelesen hatte. Sich mit Rockmusik als Frau durchzusetzen, 'vurde offensichtlich immer schwieriger. Selbst eine Nelly Furtado setzte mittlerweile mehr auf Dancefloor-Musik. Dancefloor - für Fusari war dies der vVeg, den auch Stefani zu nehmen hatte. Er erinnert sich: »>vVir bewegen uns nicht in die richtige Richtung<, sagte ich. >Mit dem, was du machst, können die Kids heutzutage nichts anfangen.< Sie entgegnete: >Ich mag das, was ich tue. Ich ändere gar nichts an mir.<« »Sie war geerdet, aber auch hippiemäßig drauf«, sagt Kafafian, der zu jener Zeit gemeinsam mit ihr Songs 62
schrieb. »Sie stand auf Jams. Sie schrieb ganz coole Songs, die stark nach Bob Dylan klangen. « »Brown Eyes« und »Blueberry Kisses« gehören zu den ungefähr fünfzig Liedern, die damals entstanden. Inspiriert wurden sie, so Starland, durch Fusari. \Velche Richtung einschlagen? »Rob wollte einen moderneren Sound«, sagt Kafafian. »Auf keinen Fall eine Platte aus einem Guss, was mit gefallen hätte. \Vir stritten viel. Und Stefani und er gingen sich gegenseitig an die Gurgel.« Nach eigener wie auch nach Kafafians Aussage beharrte Fusari auf seinem Standpunkt - Dancefloor. Doch die Stücke, die sie damals aufnahmen - so eine Stimme, die zugegen ·war - hörten sich an ·wie das Material aus ihren Highschool- und College-Tagen: zur Hälfte Balladen mit Klavierbegleitung, die andere Hälfte rockiger Klagegesang einer Teenage-Göre. Fusari behielt die Oberhand, und Stefani arbeitete ab da an einem sirupartigen Sound, der zum Tanzen animieren sollte. Es sollten lockerleichte Stücke entstehen a la Leuten wie Max Martin, einem schwedischen Produzenten, der einige der eingängigsten Ohrwürmer der letzten fünfzehn Jahre (»As Long as You Love« von den Backstreet Boys, Kelly Lücksons »Since U Been Gone«) herausgebracht hatte. Obwohl früher ein großer Fan von Britney Spears für die Martin ihren ersten Hit schrieb, nämlich »... Baby One More Time« -, wehrte sich Stefani lautstark gegen den Dancefloor-Einfluss. Vielleicht v.russte sie nicht genau, 63
was gerade angesagt war, doch sie spürte ziemlich genau, ·was nicht. Sie war mit der Musik von Bruce Springsteen, Billy J oel und den Beatles aufgewachsen. Das waren ihre Idole. Sie wollte ernsthafte Musik machen und die Leute zugleich berühren. Ein weiteres Problem dabei allerdings war ihr Aussehen. Stefani hatte nicht den typischen Look eines aufstrebenden amerikanischen Popstars. Sowohl Fusari als auch Starland hielten es für wenig ratsam, sie als »das Mädchen am Klavier« der Öffentlichkeit zu präsentieren. »\\Teil man ja dafür« - Starland erläutert das ohne jede Häme und verweist auf Norah Jones, Fiona Apple, Tori Amos - »sehr, sehr hübsch sein muss. « Es wurde ganz offen darüber diskutiert. Stefani blieb stoisch und pragmatisch, obwohl sie \Vusste, dass sie dünner werden musste. »Der Druck auf sie war enorm«, meint Starland. »Vorher war sie oft bei mir vorbeigekommen, denn ich hatte immer Chips und Plätzchen im Haus. Sie sagte zwar jedes .Mal: >Das hier ist ein schlimmer Ort.< Aber sie aß den Kram trotzdem. Ihr Vater meldete sie beim >Reebok Sports Club< an. Sie trainierte nun regelmäßig und nahm fünfzehn Pfund ab.« Starland sagt: »>Wir könnten das Drumherum ausbauen, um so von ihrem Aussehen abzulenken<, schlug ich vor. Und Stefani redete mit, meinte: >Mir ist schon klar, dass ich keine klassische Schönheit bin, also müssen wir mich anders vermarkten.<Sie war echt pragmatisch, fühlte sich nicht verletzt. Sie war bereit, alles zu tun, um berühmt zu werden.«
Man ·wollte, so der Konsens letztendlich, DancefloorMusik produzieren. Allerdings ausgeklügelter als das, ·was auf dem Markt war, eher in Richtung Disco-Sound aus Europa. Ein gekonnter Mix aus hot und cool, man orientierte sich an Kylie Minogues »Can't Get You Out of My Head« oder Goldfrapps »Number 1«. Man setzte also auf das Gegenteil von rauchigen, losgelösten Stimmen über sexuell aufgeladenen, synkopierten Beats. »>Ich sitze am Drumcomputer, du am Klavier, das ist es<, sagte ich zu Stefani«, so Fusari. »Die ersten Songs hatten mit ihr nichts zu tun«, sagt Starland. »Es waren Robs Ideen. vVir wollten ihren Körper in den Mittelpunkt stellen. Daher schien das Tanzen ein logischer Schritt zu sein.« Es war ein Experiment, das sie da mit den Dance-Tracks wagten. Schnell stellte sich heraus, so Fusari, »dass es der Moment war, wo das Licht anging. Alles machte auf einmal Sinn.«
Allmählich fand sich Stefani an der Lower East Side zurecht. Seit den 1980er Jahren war das Viertel, das sich unterhalb von East Viilage und unmittelbar über Chinatown befindet, ein Zuhause für die New Yorker Avantgarde, wobei East Viilage und Lower East Side ohne eine klare Grenze ineinander übergehen. 1980 trat Keith Haring in St. Mark's Place auf. Kurz darauf zog die Fun Gallery in die East 10th Street ein, wo man Breakclaneern zuschauen, Hip-Hop hören sowie Graffiti65
kunstbewundern konnte. Es gab zahlreiche Treffpunkte, in denen man tanzen, Musik oder Ärger machen konnte den Mudd Club, das CBGB oder das ABC No Rio, ein gemeinsam von Künstlern und Aktivisten etlicher Gruppierungen genutzter Raum auf der Rivington Street. Auch Jean-Michel Basquiat lebte zu der Zeit in der Gegend. Er Irreuzte Andy Warhols \\Teg und war mit der jungen Madonna zusammen. Bis Mitte der 1990er Jahre hatte die Lower East Side eine derartige Aufwertung erfahren, dass sich dort, in einfachen Verhältnissen, auch Studenten von der Columbia University und der NYU niederließen. Die Ludlow Street wandelte sich in einen wichtigen Hort der Kunstszene. Max Fish, Kunstraum wie Bar, öffnete seine Pforten, ein paar Häuser weiter die Alleged Gallery, die sowohl Kunst außerhalb des Mainstream als auch Skateboards ausstellte, in deren Hinterraum zudem Künstler auf der Durchreise übernachten konnten (Aaron Rose, der Galerie-Gründer, wurde durch die Figur eines Playboys in der TV-Serie Gossip Girl unsterblich. Eine Staffel später hatte Lady Gaga mit dem Lied »Bad Romance« einen Kurzauftritt dort). Kultbands wie Jonathan Fire'.'Eater, aus der die erfolgreicheren \Valkmen hervorgingen, lebten und traten an der Lower East Side auf; genauso wie der junge Beck 1-Iansen, den man oft in den Coffeeshops auf der Avenue A beim Musilunachen antreffen konnte. 2006 galt die Lower East Side noch immer als eine Art Freizeitpark für Hipster. Mit Hilfe des Lonely Pla66
net-Reiseführers liefen Horden von Touristen bei Max Fish ein. Und Filmstars wie Jude Law investierten ihr Geld in den berüchtigten Nachtclub The Box. Der namhafte Restaurantbesitzer Keith McNally eröffnete im Viertel Schiller's, eine Brasserie, in der Leute wie Karl Lagerfeld ein- und ausgingen- und die als Vorlage für Richard Prices Bestseller Lush Life (2008) diente. Die Lower East Side hat inzwischen einen dermaßen guten Namen, dass eine Musikerin ·wie Santigold ihren Song »L. E. S. Artistes« nennen kann - und ziemlich jeder scheint zu wissen, wofür die Abkürzung steht. Als Stefani in die Gegend zog, war das Viertel beinahe genauso sicher wie die Upper \V'est Side, nur um einiges schmutziger. Aber das scheint kaum jemanden zu stören, denn nach wie vor leben dort immer noch die coolsten Typen - Bandmitglieder der Strokes oder von Interpol oder der Yeah Yeah Yeahs sind dort unterwegs. Die besten Musikclubs der Stadt wie die Mercury Lounge und der Bowery Ballroom waren 2006 dort beheimatet. Scouts durchkämmten das Viertel auf der Suche nach Talenten, Moderedakteure spürten Trends auf, die Häuser östlich der Bowery waren ein beliebtes Zuhause von den taktgebenden Bloggern der Musik- und Kunstszene . »Damals«, so Gaga heute, »ging es mir einzig darum, die coole Queen einer übersichtlichen Szene zu sein, möglichst oft abgelichtet zu werden und mit dem gerade angesagten Barkeeper auszugehen. « (Die Barkeeper Downtown haben den Status von Filmstars.) Gaga \Veiter: »Die Queen zu sein, über zwei Blocks zu thro67
nen, bedeutete, dass man in Zeitschriften auftauchte, dass man Aufmerksamkeit erregte.<< Sie bezog ein winziges Apartment in der 176 Stanton Street, wo sie anzutreffen war, wenn sie nicht gerade bei ihren Eltern weilte. Scheinbar hinterließ Stefani an der Lower East Side einen bleibenden Eindruck. Einer ihrer Nachbarn von damals erzählt, wie ihm aus Stefani war da längst Gaga geworden - seine Schwester berichtete, in seinem Haus hätte einst eine Prostituierte gelebt. Der Nachbar und Bruder war perplex. »Ich fragte sie: >'Vovon sprichst du?< Und meine Schwester antwortete: >Um vier morgens habe ich da ein Mädchen gesehen. Sie stolperte die Treppe hoch, hatte so gut wie nichts an und war betrunken.< Ich dachte nur: >In welch schäbigem Haus lebe ich da nur. <« In der Stanton Street komponierte Stefani und nahm die Stücke dann auf. Ihre vVohnung war spärlich eingerichtet - ein Futon, eine große Matratze und ein Plattenspieler von der Marke »Urban Outfitters«. Über ihrem Bett hing ein Poster von David Bowie. Sie saß mit Keyboard und Laptop an der Küchentheke und schrieb Songs. »In ihrer vVohnung hatte sie nur Plattenspieler, einen Synthesizer und ein Sofa stehen«, sagt Sullivan, der später mit ihr zusammen arbeiten sollte. >>Die Zelle eines Mönchs - lediglich fürs Arbeiten und fürs Lernen gedacht.« Sie turnte in Gymnastikanzügen und Go-go-Stiefeln rum, torkelte regelmäßig um vier Uhr nach Hause, doch arbeitete auch hart und im Alleingang. Die Beschrei68
bungen ihrer Person von damals ähneln jenen aus ihrer Gaga-Zeit. Sie wurde als ein Mädchen mit einer irrsinnigen Ausstrahlung wahrgenommen, das - oberflächlich besehen - beliebt und selbstbeherrscht wirkte, im Grunde aber schwer greifbar war. Somit mag Gagas Bild von sich selbst, nämlich das eines eigenartigen Teenagers, eines »Frealis«, der nirgendwo hineinpasste, durchaus der Wahrheit nahe kommen. Denn es ist in der Tat möglich, beides zu sein, beliebt und eigenartig schauen wir uns doch nur Filme wie Rebel Without a Cause, Heathers oder Gossip Girl an. Andere Bewohner hingegen machten tatsächlich Ärger. Einer ihrer Nachbarn erinnert sich, wie ein paar Kids, die auch in dem Gebäude ·wohnten, bei ihr einbrachen, als sie gerade unter der Dusche stand. Ein anderer Nachbar, zufällig Polizist, kam ihr zu Hilfe und nahm die Einbrecher fest. Vor kurzem schrieb dieser Polizist dem Nachbarn: »Können Sie sich noch an das Mädchen erinnern, in dessen \Vohnung einmal eingebrochen wurde? An Stefani? Sie war Musikerin. Jetzt heißt sie Lady Gaga.« Es dauerte eine \Veile, bis der Nachbar das glauben konnte. Heute ist ihm klar, dass sie nicht wegen des Einbruchs aus der vVohnung in der Stanton Street nach L. A. umgezogen war, sondern wohl wegen des bevorstehenden Plattenvertrags. Häufig suchte Stafani G. die Bars des Viertels auf, et\va das \Velcome to the Johnsons oder das St. Jerome's. Beide Lokale gehörten einem hochgewachsenen Sän69
ger namens Lüc Carl, der auch als Barkeeper arbeitete. Als sie Lady Gaga geworden war, sagte Stefani, dass Carl sie - zusammen mit den wahren Paparazzi sowie ihrem eigenem Drang nachRuhm-zu dem Song »Paparazzi« inspiriert habe. Stefani hatte ein Auge auf Carl - den Barkeeper und Rockstar - geworfen, aber ebenso auf eine Burlesquetänzerin, die Lady Starlight hieß und freitags bei St. Jerome's arbeitete. Starlight war in der Szene berühmt. Ein nettes Mädchen im Heavy-Metal-Look, das hart arbeitete, in den angesagten Bars auftrat, die richtigen Leute kannte und auf alle wichtigen Partys eingeladen war. Gaga suchte ihre Freundschaft. »Sie war und ist unglaublich zielstrebig, will unbedingt weiterkommen«, sagt Starlight, die 2007 mit ihrem langen, schwarzen Haar, dem dichten Pony und eigenartigem Kleidergeschmack wie eine Zwillingsschwester von Stefani aussah. (Auf Fotos der beiden kann man sie tatsächlich kaum voneinander unterscheiden.) Sie kann sich noch gut an ihre erste Begegnung erinnern. »Sie steckte mir ein Trinkgeld zu«, so Starlight. »Und zwar in meinen Slip.« Starlights Telefonnummer hatte sich Stefani von Lüc besorgt. Nun begann sie Starlight auf ähnliche \Veise ZU umgarnen, wie sie es - mit Erfolg - bei vVendy Starland getan hatte. »Man musste sie ·wahrnehmen«, sagt Starlight - was aber nicht unbedingt klug war, das fügt sie hinzu. Innerhalb der Hipster-Gemeinde des Viertels \Virkte Stefani, die gern Gymnastikanzüge aus Elastan 70
trug, »schroff und deplatziert«- sagt Starlight, die vorgibt, 1980 geboren zu sein, aber mindestens zehn Jahre älter sein dürfte. Auch Fusari kann sich daran erinnern, dass Stefani zu diesem Zeitpunkt massiv an ihrem Look arbeitete. Er war schockiert über ihren konstant schlechten Geschmack und ihre gleichgültige Haltung gegenüber der Meinung anderer. »\\Tenn sie bei Meetings auftauchte, betete ich darum, dass sie sich nicht allzu schlimm hergerichtet hatte«, sagt Fusari. »Man wusste nie, wie sie gekleidet sein würde. Es konnte buchstäblich alles sein. Als sie einmal enge Hosen in Leopardenmuster mit roten Pumps kombinierte, fragte ich sie: >Stammt das aus der Rocky Horror Picture Show?Stef, lauf bitte ein paar Schritte vor mir. Sonst denken die Leute noch, ich sei mit einer Prostituierten unterwegs. < Sie tat es. Es machte ihr nichts aus.« »Die Leute starrten sie an«, erinnert sich ebenfalls eine von Stefanis Freundinnen. »Ihre Aufmachung war nicht so irre wie jetzt, aber sie war alles andere als gewöhnlich gekleidet. Sie trug Gymnastikanzüge von American Apparel. Es sah beinahe aus, als hätte sie ihre Unterwäsche über ihre Kleider gestülpt.« »Netzstrümpfe waren bei ihr angesagt und ein rückenfreier Gymnastikanzug mit Kettengürtel«, sagt Sullivan, der auf Stefani zum ersten Mal im Dezember 2006 bei 71
St. Jerome's traf. »Das trug sie jedenfalls bei unserer ersten Begegnung. Dazu hochhackige Schuhe und eine Lederjacke.« Er erinnert sich, dass sie sich ihm als Sängerin vorstellte. Sullivan drückte sich oft bei St. Jerome's rum. Stefani ging mit Lüc aus. Laut Sullivan konnte Lüc extrem besitzergreifend sein. An diesem Abend schenkte Sullivan Stefani mehr Beachtung als seiner eigenen weiblichen Verabredung, die allerdings, so Sullivan, Lüc zu gefallen schien. Sie redeten über Musik und ihre Auftritte, wollten ihre Telefonnummern austauschen. »Doch das reichte Lüc, um mächtig sauer zu werden«, sagt Sullivan. Er solle nicht »Stefani«, sondern »Gaga« eingeben, sagte Stefani als Sullivan ihren Namen in sein Handy einspeichern wollte. Lüc war ohnehin ziemlich aufgebracht, dann klingelte auch noch ihr Telefon. Sullivan: »Lüc meinte zu ihr: >\Ver ruft dich nachts um elf an?< Sie antwortete schlicht: >Mein Produzent.«< Aus Frust schrie Lüc ihn dann an: »Hör sofort auf, dich mit meiner Freundin zu unterhalten. « Lüc und er verfielen oft in die für die Lower East Side typische wie peinliche Endlosdebatten, wer wen kannte, wer sich \:vann cooler gab und die schärferen »Babes« an Land zog. Sullivan gab immerhin nicht damit an, dass seine Verabredung - auf die ja Lüc stand mal mit Moby liiert war, und dass Moby Sullivan gar nicht mochte. Dabei war es doch unendlich cool, von einem berühmten Musiker nicht nur gekannt, sondern ebenfalls nicht gemocht zu ·werden. 72
Sullivan fand , dass Lüc - im Gegensatz zu ihm selbst, der ja die Verbindung zu Moby nicht erwähnte - die in dem Viertel geltende Gleichgültigkeitsattitüde nicht kapiert hatte. Sullivan sagte Lüc, dass er Stefani toll finde. »Unter Vertrag bei Island«, sagte dieser- laut Sullivandaraufhin. An Lüc denkt Sullivan nicht gern zurück, doch an den Abend schon. »Eine schicksalhafte Begegnung. Sie sollte mein, aber auch Stefanis Leben für immer verändern«, sagt er. Denn an diesem Abend lernte er das Mädchen kennen, aus dem Lady Gaga ·wurde. Noch heute kann Sullivan nicht glauben, dass er solch eine Berühmtheit kennt.
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QUEEN DF THE SCENE
~~'a
Sullivan und Ciaga sich ständig sahen, be-
schlossen sie, zusammen zu arbeiten. »Ich legte Platten auf in der Bar, in der ihr Freund Lüc Barkeeper war und wo ein paar fürchterliche Bands auftraten , bei denen ich nie versucht hätte, sie in einer anderen Show unterzukriegen ... und sie gehörte einfach dazu«, sagt er. »So hingen wir z·wangsweise ständig zusammen.« Ihre Clique verband sowohl Zuneigung als auch Notwendigkeit. Starland unterstützte sie bei Fusari und dem damals noch in der Zukunft liegenden Plattenvertrag. Starlight gab ihr einen Crashkurs in PerformanceKunst und Hipster-ismus. Sullivan war ein erfahrener und bekannter DJ, der ihr zu Gigs verhelfen konnte. Kurz danach hatten sie ihren ersten gemeinsamen Auftritt, er legte die Musik auf, und sie tanzte dazu. Schon kurz darauf wurde Gaga unter Starlights Anleitung Go-go-Tänzerin, während Sullivan in Läden wie dem St. Jerome's, Don Hill's und Luke & Leroy's gleich drei der in der Stadt angesagtesten Bars - als DJ auflegte. Manchmal sang Gaga auch. Zum Beispiel auf
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einer Geburtstagsfeier in der Beauty Bar (14th Street), einem Szenetreff der coolen Kids, eingerichtet im Stil der Fünfziger, mit konisch geformten Haartrocknern sowie einer Reihe von Maniküretischen. Sie hüpfte aus einer Torte und sang a la Marilyn Monroe »Happy Birthday, Mr President«. Sogar bei solch banalen Auftritten spürten viele ihrer Freunde, dass sie es bis nach oben schaffen würde. »Ich stolzierte die Straße entlang, als wäre ich ein verdammter Star«, sagte sie einmal. »Die Menschen sollten ruhig mit der Überzeugung ihrer Großartigkeit unterwegs sein. Jeden Tag hart dafür kämpfen, dass diese Lüge wahr wird.« »Sie ist sehr klein«, sagt Sullivan, »und ihre Stimme hat kein Volumen. Sie zählt auch nicht zu den allerhübschesten Mädchen, zumindest nicht als sie jünger war. Doch wenn sie die Bühne betritt, ein Mikrofon in der Hand hält, kommuniziert sie mit den Leuten auf eine ganz besondere Weise. Nicht um sie besser hören zu können recken sich die Leute bei Konzerten die Hälse aus. Nein. Sie wollen sie besser sehen.«
Starlight brachte Stefani den Burlesquetanz bei,
führte sie in die Szene der Downtown-Bars ein und lehrte sie, mit Haarspray ein Feuer zu entfachen. Sie nahm Stefani mit zu Frock 'n' Roll, ihrer Lieblingsundergroundparty - dreißig Minuten von der Lower East Side entfernt, in Long Island City. In den vergangeneu Jahren 78
hat sich Long Island City zu einem zweiten \Villiamsburg ge·wandelt, das eine Zeit lang als die neue Lmver East Side galt. Long Island City ist das Zuhause einer Generation von hungrigen Künstlern, beheimatet aber auch den experimentelleren Ableger des Museum of Modern Art, das P. S.l. Auch das Studio des Medienkünstlers Matthew Barney befindet sich hier. In der Szene kam Stefani nicht besonders gut an. Sie wirkte nicht glaubwürdig, verstand oft Andeutungen und Querverweise nicht. »Sie wissen doch, ·wie die kunstbeflissenen Kreise sein können«, erzählte Starlight der New York Post. »Die Leute sind ein bisschen hochnäsig.« Stefani aber ließ sich nicht unterkriegen. Sie tanzte ihre burlesquen Tänze im Slipper Room, einer bordellartigen Bar mit Bühne, die sich an der Ecke Orchard Street und Stanton Street befindet. »Ein weiters verrücktes Mädchen aus Jersey, dachte ich damals«, sagt James Habacker, Besitzer des Slipper Room, der Stefani, nachdem sie 2007 vortanzte, vom Fleck weg engagierte. (Wie etliche Downtown-Bewohner, die nachts arbeiten, erinnert sich Habacker kaum an Daten.) Habacker sieht in seinem perfekt geschnittenen olivgrünen Mantel wie ein Dandy aus. Er sitzt im Kellerraum seines Clubs, in dem zwei einander zuge·w andte Sofas sowie eine Bar und ein Couchtisch stehen - darauf ein Silberteller voll Zigarettenasche. Er sagt: »Tagsüber sah Stefani manchmal etwas schlampig aus.« Er hat sie als sehr nett, sehr professionell und 79
sehr schlau in Erinnerung. Kein bisschen neben der Spur jedenfalls. »Sie zog sich aus, bis nur noch ein Stringtanga übrig blieb. Sie brachte einige eigenartige Elemente in ihrer Show unter. Erinnern kann ich mich etwa an Plüschtiere«, sagt Habacker. (Es gibt Leute, die tatsächlich auf Plüschtiere stehen.) »Ich verstand mich nie als eine Stripperin«, hat Gaga mal gesagt. »vVas ich da tanzte, war eine Rock-'n'-RollBurlesque.« Sowohl Fusari als auch Stefanis Vater fanden , dass der ganze Burlesquekram unter ihrem Niveau war reine Zeitverschwendung sowieso. »Sie trat in einer Strip-Show auf«, so Fusari. »Man ging dort nicht wegen der Musik hin. Ihr Vater wurde allmählich sauer. Inzwischen weiß er, dass es eine ins Extrem gezogene »Alice im vVunderland-Nummer« war. Stefani sah ihren Tanz als eine Performance; als eine Möglichkeit, sich selbst zu verlieren, die eigenen Grenzen kennenzulernen , auszuloten, was beim Publikum ankam und was nicht. Strippen war das nicht - was sie tat, ·war - in ihren Augen - reine Kunst. >>Schlau und professionell, das war sie ganz zweifellos«, sagt Habacker. »Ich fand sie auch großartig.« Die anderen Mädchen, die an der Shm:v beteiligt waren, dachten da anders. »Sie beschwerten sich über sie«, sagt Habacker. »Die einen meinten: >Mir gefällt ihr Gehabe nicht<, die anderen: >Sie ist unhöflich< oder: >Die benimmt sich wie eine Diva.< Dabei glaube ich nicht, 80
dass sie unhöflich oder gar gemein war. Sie benahm sich halt distanziert, ein bisschen eigenartig auch. Es wird einem immer schwierig gemacht, wenn man nicht in Schubladen hineinpasst. « Für monatlich achtzig Shows engagierte Habacker lediglich vierzig Mädchen. Habacker entließ Stefani trotzdem nach einem Jahr, obwohl ihre Show ja einfallsreich war - immerhin kamen dort nicht nur Plüschtiere, sondern auch Feuerwerkseinlagen vor. Doch der Unmut, den Stefani bei den übrigen Mädchen schürte, störte den Betrieb auf Dauer zu sehr. Ein letztes Mal beeindruckte Stefani Habacker, als sie von ihrer Entlassung erfuhr. »Sie brach keinen Streit vom Zaun«, sagt er. »Sie sagte nur: >Ich wünsche Ihnen alles Gute.< Zuletzt habe ich noch gemeint: >Solltest du ein großer Star werden, vergiss mich nicht.< Klar, ein großer Star. Jede der Tänzerinnen im Slipper Room wollte ein Star werden.«
Mittlerweile fuhr Stefani jeden Tag raus nar:::h New
Jersey, um mit Fusari zu arbeiten, und kehrte abends an die Lower East Side zurück, wo sie nach wie vor versuchte, in der Szene Fuß zu fassen. Es war eine anstrengende Zeit. Nach einem Monat der Zusammenarbeit mit Fusari begann sie, sich mit einem von Fusaris Studiomusikern - mit Kafafian - zu treffen. Ein früherer Freund sagt, Kafafian sei: »Ein netter Kerl, ein sehr guter Songschreiber und Musiker.« Einst hatte Fusari eine Kafa81
fian-Platte produziert, nun durfte der bei einigen von Stefanis Stücken mitspielen. Kafafian selbst sagt, sie seien vier bis sechs Monate zusammen gewesen. »Es war wirklich nett, obwohl wir nicht ineinander verliebt waren. \Vir hingen eher stundenlang, tagelang gemeinsam im Studio rum. Anschließend fuhr ich sie in die Stadt zurück. « Nahezu ihre gesamte Freizeit verbrachte Stefani im Studio, nahm dort Lieder auf. Sie wirkte entschlossen. Und suchte nach einem Künstlernamen - denn alle waren sich einig, dass Stefani Germanotta nicht gut klang. Lady Gaga: Es gibt etliche Geschichten über die Entstehung dieses Nam ens. Fusari etwa behauptet, er sei das Ergebnis eines falsch buchstabierten Textes, Gaga selbst, Fusari habe sie so bezeichnet, nachdem sie ihm eine Queen-Single vorgespielt habe (Doch »Du bist so gaga!« hört sich nicht wirklich nach jemandem ·wie Fusari an.) Starland wiederum behauptet, der Name sei auf eine für die Musikbranche so typische wie langweilige \\Teise entstanden: bei einem Marketing-Meeting nämlich. »An der Entstehung des Namens waren wir alle beteiligt«, so Starland, wobei sie mit »wir« sich selbst, Fusari, Stefani, Kafafian sowie ein paar andere Personen meint. >>Einer von uns sagte eben: >Lasst uns mal über einen vermarktungsfähigen Namen nachdenken. < vVas wir dann taten. « Auf jeden Fall war die britische Rockband Queen eine Inspirationsquelle, so Starland, obwohl keiner wirk82
lieh wusste, ob Stefani je ein riesiger Fan der Band ge·wesen war. »\Vir sprachen über Queen und ihren Song >Radio Ga Ga<. Und dann kam einer mit dem vVort >Lady>Als sie zu mir kam, \var sie vollkommen aufgelöst«, so ein Freund. »Sie sagte, sie sei unglaublich verletzt und verstünde die \\Telt nicht mehr.« (Über das Ende seiner Beziehung zu Stefani möchte Kafafian nicht sprechen.) Bald jedoch verstand sie, was vor sich ging. Denn Fusari, mit sechsunddreißig Jahren sechzehn Jahre älter als Stefani, gestand ihr schon bald seine Gefühle. Dass er zu jener Zeit noch mit seiner Verlobten zusammen·wohnte, die Stefani oft von der Bushaltestelle in Jersey abholte, schien ihn dabei nicht weiter zu belasten. Stefani war jedenfalls überwältigt - selbst wenn sie nichts für Fusari empfand. Bislang hatte sie nie darüber nachgedacht, was passieren könnte, wenn sie mit ihm anbändelte - schon eher darüber, was passieren könnte, wenn sie es nicht täte. »Sie wollte eine Platte aufnehmen, das war ihr Ziel«, sagt ein Freund. »Genauso wie bei der Dancefloor-Musik, die sie anfangs nicht mochte, die nicht vom Herzen kam, sagte sie sich auch bei der Beziehung zu Fusari: >Okay, ich versuch's.< Sie wollte unbedingt berühmt werden, darauf arbeitete sie mit aller Macht hin. « 83
Ihre Schulfreunde verurteilten sie für die Bezie-
hung zu Fusari. Und ihr Urteil schmerzte sie. Sie hing immer noch an Kafafian, der behauptet, keine Ahnung gehabt zu haben, was vor sich ging. Doch als er nach drei Monaten von einer Tour zurückkam und versuchte, Stefani oder Fusani zu erreichen, stellt man ihn nie durch. Nie dachte Kafafian daran, nachträglich Geld von Lady Gaga einzufordern, obwohl sich- laut ihm- seine Gitarrenstücke und Texte auf ihrem Album The Fame wiederfinden. Fusari hingegen reichte gegen Gaga eine Klage in Höhe von 30,5 Millionen Dollar ein. »Bei Stücken wie >Beautiful, Dirty, Rich< und >Brown Eyes< habe ich mir die Finger wundgespielt«, sagt Kafafian heute. »Vielleicht war ich zu naiv«, meint er. »Aber wie heißt es doch so schön: Aus Fehlern lernt man. Jetzt ·weiß ich, was ich will. Nicht ich, die anderen sollten sich schämen.« Inzwischen versuchte Stefani, ihre Auftritte selbst zu promoten, wo und wann immer es ging. Sie tanzte oder machte Musik. Sie rief im Bitter End an, wo sie ja als Studentin der NYU mit der Stefani Germanotta Band aufgetreten war - tat, als sei sie ihre eigene Presseagentin, und pries sich an. Sie verschaffte sich einen Gig in Arlene's Grocery, einem kleinen Club in der Stanton Street. vVie die meisten Lokale an der Lower East Side verpflichtete auch das Arlene's hauptsächlich Rockbands. »vVir engagierten Stefani, weil sie uns fünfzig Leute versprach, die 84
kommen würden, um sie singen zu sehen«, sagt Julia Dee, die damals beschäftigt war. »Die Leute kamen tatsächlich.« »Bei ihrem Auftritt meinten unsere Angestellten nur: >Geiler Körper, null Stimme«<, sagt Dee. »Sie trat in Biltinihose auf und spielte Keyboard. Ja, ein Keyboard. Die waren in der Szene damals ziemlich out.« Zwei Mal durfte Gaga auftreten, dann war Schluss - das Publikum bestand beim zweiten Mal aus gerade mal acht Menschen. »Die Musil\. war kitschig. Altmodischer Pop mit einem Klacks Rhythm and Blues«, sagt Dee. »Also ungefähr dasselbe, was sie jetzt macht.« Im Bitter End dagegen dachten viele, dass sie begabt wäre. »Ihr Auftritt verlief gut«, sagt Rizzo von Bitter End. »Sie ist schon unglaublich talentiert. << Doch sogleich dämpft Rizzo seine Begeisterung: »\Vas aber keineswegs bedeutete, dass wir damals dachten, sie würde es schaffen. Schließlich gehört dazu mehr als nur Talent. Sicher, sie ·war gut. Aber ich sehe so viele Begabte, die dann auf der Strecke bleiben. Und wiederum viele andere, bei denen man nicht weiß, warum sie es geschafft haben. Es gibt da offenbar kein Rezept.« Laut Rizzo soll Stefani ihren ersten Auftritt als Gaga am 28. Juli 2006 absolviert haben - bei ihm, im Bitter End. Er meint, von diesem Gig sogar irgendwo noch ein Plakat zu besitzen. Darauf sei sie in grünen Hot Pants zu sehen, eine Discokugel sei auch dabei. »Gegenüber früher ist ihr Stil nun ganz anders«, sagt Rizzo, 85
wobei er sich diplomatisch zu geben versucht. »Sie trug einen gelb-schwarzen Einteiler. Und so etwas wie einen Hut.« Auch Gaga erinnert sich an ihren Auftritt im Bitter End als an ihr erstes echtes Konzert. Nach ihrer Ansicht bestand ihr Outfit allerdings aus einem Einteiler von American Apparel. »Ich trug einen weißen Rock, gigantisch und weiß. In meinem Haar steckte eine Blume. Ich sah aus wie ein Loser. Meine Haare waren hochgesteckt, so wie bei Amy vVinehouse. Doch es war noch vor \Vinehouse.« Gaga wehrt sich massiv gegen den Vorwurf, andere Leute zu kopieren, obwohl sie es offensichtlich tut. Denn nur ein Jahr später, als sie beim Lollapalooza-Festival auftreten sollte, verfolgten sie sowoW Paparazzi als auch Teile des Publikums. Aber nur, weil man dachte, sie wäre Amy Winehouse. Die Ver·wechslung fand Gaga nicht besonders lustig, spielte aber mit. Einem Mädchen, das sie für Winehouse hielt, sagte sie: »Verpiss dich. « Das Mädchen lief davon, begeistert darüber, von ihrem Idol beschimpft worden zu sein. Mit dem Songschreiben ging es vorwärts, sogar das Verhältnis mit Fusari wurde intensiver. >>Überraschenderweise«, fügt Starland hinzu. Gaga begann ihn zu mögen, obwohl Fusari immer noch verlobt war. Starland fragte ihn, warum er die Beziehung zu seiner Verlobten aufs Spiel setzen würde. Die Aussicht auf Geld und Ruhm seien berauschend, antwortete er. Beide, meint Starland, seien sie Melodramatiker. 86
Fusari schaffte es sogar, Gaga zu einigen Songtexten zu inspirieren - unter anderem zu »Brmvn Eyes«. Sobald sie dieses Lied bei Konzerten anstimmt, wird sie wütend. Sie ruft dann: »motherfucker« (\V'ichser) oder macht sich über »bullshit brown eyes« (beschissene braunen Augen) lustig. »Ich schrieb dieses Lied um drei Uhr morgens, heulend und jammernd am Klavier«, berichtete Gaga. »Da ·war ich mit einem zusammen, mit dem ich nicht zusammen sein konnte.« Das Stück »Blueberry Kisses« handelte ebenfalls von Fusari, so Starland. »Morgens aßen sie regelmäßig Blaubeerpfannkuchen«, erzählt sie. Charakterlich ähnelten sie einander sogar. Beide waren sprunghaft, konnten dramatisch werden und streitsüchtig. »Ja, die Hochs waren bei ihnen besonders hoch und die Tiefs dramatisch tief«, sagt Starland. Als es einmal in Gagas Beziehung zu Fusari einen Tiefpunkt gab, bat Gaga ihre Mutter, raus nach Jersey zu kommen, um sie moralisch zu unterstützen. Die Mutter kam sofort. In dieser Zeit zweifelte Gaga daran, ob sie ein Demoband überhaupt herzustellen vermochte. Starland aber nahm sie nach eigener Aussage hart ran; sie sagte: »Du bist doch ein Profi. \V'ir haben doch eine Vision. Nein, ich habe meine Zeit und meine Energie nicht darauf verwendet, damit du zweifelst.«
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Nach wie ver mühte sich [jaga ab, in die Lcwer
East Side-Szene vorzustoßen. Sie hatte zusammen mit Starlight im St. Jerome's getanzt und sich einen Gig im Slipper Room verschafft, doch das war nicht genug. Sie, die ewige Streberin, wollte von den Promotern Michael T. und Justine D. - zwei der größten DowntownSzenestars, die viele der coolsten Events und Partys konzipierten - für ihre als »Motherfucker Events« bekannte Partyreihe verpflichtet werden. Das Nachtleben der Jahre 2003 bis 2008 war von einer unendlichen Abfolge zügelloser Partys bestimmt. »Motherfucker Events« - die den wöchentlichen, »MisShapes« genannten Partys des DJ-Kollektivs ähnelten fanden immer am Vorabend nationaler Feiertage an unterschiedlichen Orten statt. Jene Events zogen Tausende von Partygäugern an, darunter auch die »Bridgeand-Tunnelers« - das heißt diejenigen, die vom spießigen Long Island oder New Jersey nach Manhattan rüberkamen. (»Bridge-and-Tunnelers«: an ihrem biederen Outfit und dem Hang zu übermäßigem Hairstyling erkennbar, 'verden von den selbst ernannten Coolen der Stadt, als unerwünscht betrachtet.) Die »Motherfucker-Events« endeten - in Erinnerung an das legendäre Studio 54 - traditionell mit dem Dancefloor-Hit »Love Hangover« von Diana Ross (1976). Einlass zu den Partys gewährte der berüchtigte SzeneTürsteher Thomas Onorato. Im vVinter 2006 schrieb Glenn Belverio, Autor des Buches Confessions from the Velvet Ropes, in einem Blog: »Denken Sie daran: 88
Bei einer Motherfucker-Party herrscht an der Tür Diktatur, auf der Tanzfläche aber Demokratie. Achten Sie also auf Ihr Aussehen. Oder New Yorks Türsteher Nr. 1 wird Sie in den Neujahrs-Gulag zurückschicken.« Doch ein »Motherfucker-Event« war nicht wirklich eine Diktatur - man musste lediglich gutes Geld hinlegen, um hineinzugelangen. Lady Starlight kannte Michael T., der wiederum ihren richtigen Namen, nämlich: Colleen Martin, kannte. Colleen arbeitete damals tagsüber als Visagistin und tanzte zusätzlich zu ihren Gigs auch noch häufig auf »Motherfucker«- oder aber anderen Partys von Michael T., die er Rated X nannte. Ab 2007 begann Colleen, Gaga zu den Partys mitzunehmen. »Sie sah aus, als käme sie geradewegs aus dem Jahr 1987. vVie eine billige Stripperin«, sagt Michael T. Er bemerkte, dass Martins Begleitung den Starlight-Look zum Teil nachahmte. »Colleen machte auf trashigen Heavy Metal« meint er. »Allein diese Fransenfrisur - oben dunkel, die Spitzen blond, ausgeblichen. Es war Absicht. Sah witzig aus.« Doch Gagas Look schien ernst gemeint zu sein. Sie dachte tatsächlich, sie sähe in ihrer Kluft gut aus. Noch hatte sie nicht den Dreh raus, Ironie und vVitz mit sorgfältig gepflegten schlechten Geschmacks zu mischen. Laut Michael T. verfügte Gaga über keinen eigenen , durchgängigen Stil. »Sie wird es wie wir alle gemacht haben. ·w ird erst geschaut haben, was ihre Freunde tra89
gen und dann vieles von ihnen übernommen haben«, sagt er. »Doch vergleicht man Colleens Bowie-artige Aufmachung mit der von Lady Gaga, so war das wie Tag und Nacht. Colleen sah aus wie ein Freak anno 1973. Gaga hingegen, als hätte jemand ihr empfohlen: >Komm doch, wir malen dir mal einen Blitz a la Bowie auf. <« Gaga wollte bei den Partys von Michael T. als TanzActauftreten - tanzte dafür auch vor. »Ihre Tanznummer war ganz in Ordnung«, sagt Michael T., »doch umgehauen hat sie mich nicht.« (Michael T. war zu jener Zeit mit Lüc befreundet. Gaga war zwar mit Fusari zusammen, doch der hatte offenbar keine Ahnung, dass die beiden mehr als berufliches Interesse verband.) »Colleen erzählte mir von einer Tanznummer, die sie mit Gaga einstudiert hatte«, sagt Michael T., »aber ich nahm es nicht ernst. Ich meinte nur: >Echt? Mit einem live DJ, z·wei Tänzerinnen und der Gaga, die ausschaut wie eine Heavy-Metal-Queen?<« Der Name Gaga, der ihn an die Zeit erinnerte, als sich Clubkids »Debbles« oder »Deezy Monster« nannten, blieb kaum bei ihm haften. Schließlich gab Michael T. nach und engagierte Gaga zusammen mit Lüc als Veranstalter und Moby als DJ. Und zwar für ein »Motherfucker-Event« in dem inzwischen nicht mehr existierenden, stinkvornehmen Club Eugene auf der 24th Street. Michael T. gab Gaga folgende Anweisung: »Gut aussehen, nette Freunde und Bands einladen, ein wenig trinken, ungefähr drei Stunden lang arbeiten.« 90
Bei Thomas Onorato hinterließ sie keinen großen Eindruck. »Sie war halt mit Lüc befreundet, der an diesem Abend die Party veranstaltete«, sagt er. »Sie gehörte zu den zehn auf sexy getrimmten Animateurinnen. So nannten wir die Mädchen, die da tanzten. Sie hatte dunkles Haar. An mehr kann ich mich nicht erinnern.« »Sie sah nett aus«, sagt Michael T. »Sie trug ein langes Abendkleid mit einem tiefen Rückenausschnitt, das rosa oder lachsfarben war.« Obwohl Gaga nicht der Downtown-Rockszene angehörte, verstand Michael T. genau, warum es sie dorthin zog. Die Zeit des Electroclash war schon lange vorbei, inspirierte aber Gagas Musik dennoch enorm. Electroclashkünstler mit Kultstatus wie Felix Da Housecat oder Miss Kittin setzten sich so ironisch wie spielerisch mit Starruhm und Paparazzikultur auseinander. Unscharfe, schlampig synkopierte Beats der Electroclasher beeinflussten Gaga, wenngleich sie ihre Stücke von Unschärfe und Anspruch bereinigte, so dass sie radiotauglich wurden. Tanzpartys ersetzten Rockshows; die Kids zog es zum unterschwelligen, dreckigen, geheimnisvollen, auch anspruchsvollen Zeug. Angeblich gilt ja die Downtown-Szene als das Auffangbecken für alle Freaks und Außenseiter. vVas allerdings weder die vVahrheit war noch ist, denn schon immer zählte nur ein bestimmter Typus von Außenseiter - einer, der cool genug war. Oder aber, wie im Fall von Gaga, man hatte Freunde, 91
die die coolen Leute kannten und einen zu ihrer »+1« machten. Doch in New York gab und gibt es bei allem und jedem Abstufungen. Kannte man die allerneueste, geheime Bar, dann ging es einem gut. Besaß man ihre Telefonnummer, ging es einem noch weit besser. Kannte man den Barbesitzer, konnte man dort ein und aus gehen, galt man schlichtweg als der Beste - bis, ja bis irgendein anderer exklusiver Szenetreff aus dem Boden schoss. Ähnlich verhielt es sich mit den Shows und Events, die im Geheimen stattfanden. Man musste nicht nur wissen, dass und wo es sie gab, sondern ebenfalls auf der Gästeliste stehen und in Erfahrung bringen können, wo nicht etwa die völlig umvichtige After-Show-Party stieg, sondern die After-After-Show-Party. Dies war die Zeit, in der Superstars, profilierte Redakteure der Vogue sowie aalglatte Schickeriatypen sich um die Kids, die hinter den »Motherfucker« und den »MisShapes« -Tanzpartys standen, zu scharen begannen. Die »MisShapes«-Events fanden Sonntagsabend statt. Lauter Hipster trafen sich da, um sich selbst zu feiern. Geordon Nicol, Leigh Lezark und Greg Krelenstein, die allesamt aus den Vorstädten New Yorks stammten, ·waren sowohl Veranstalter als auch DJ's dieser Treffen. Bei den »MisShapes«-Events trafen sich die sehr jungen Leuten - mit Mitte zwanzig konnte man sich durchaus schon zu alt fühlen. Im Gegensatz zu der ElectroclashSzene oder den »Motherfucker«-Partys bestand »Mis92
Shapes« geradezu auf Exklusivität. Es ging dort ausschließlich darum, wen man kannte und wie man aussah. Das Ungewöhnlichste war jedoch, dass sie dort vor allem Mainstream-Musik- zum Beispiel Madonna- spielten. Musik, die bei den Partys der Downtown-Kids nie zu hören war, außer sie wollten sich ausdrücklich über sie lustig machen. Auf einer »MisShapes«-Party im Oktober 2005 fragte sogar Madonna persönlich, ob sie für ein paar Minuten die Musik auflegen dürfte. Mit »MisShapes« wurden bald landesweit die Rucksäcke von Eastsport beworben, die Popularität kannte keine Grenzen. Lezark sitzt mittlerweile in der ersten Reihe bei den New Yorker und den Pariser Fashion \Veeks - genauso wie etliche aus dem hippen Downtown-Volk, dessen Nähe Gaga einst suchte. Sie mag vielleicht über keinen besonders guten Geschmack verfügen, doch wusste sie sich ihn stets rechtzeitig anzueignen. »Sie gehörte zur Szene«, sagt Michael T., »und bewegte sich ungezwungen in ihr.«
Zu diesem Zeitpunkt hatte [jaga zwei enge Freun-
dinnen: Die eine war Lady Starlight, die andere \Vendy Starland. Beide Frauen waren älter und erfahrener als sie und konnten sie bei ihrer Karriere unterstützen, wobei sie sich von Gaga nie ausgebeutet fühlten. Sie waren gerne mit ihr zusammen, wollten ihr unbedingt helfen. Gaga konnte lustig und nett sein, großzügig 93
und voller Energie, brauchte allerdings, was Männergeschichten und ihre Karriere betraf, auf jeden Fall Beistand. »vVir gingen immerzu aus«, sagt Starland. »In Bars, zu Konzerten, auch in die Philharmonie. Wir telefonierten drei Mal am Tag miteinander. Weihnachten verbrachte ich bei ihrer Familie. Sie übernachtete bei mir, fragte mich um Rat in sehr persönlichen Angelegenheiten.<
Verließ Fusari einmal kurz das Studio, durchsuchte auch Gaga sein Handy nach Nachrichten von seiner Verlobten. Fand sie eine, dann explodierte sie. Als sie aber erkannte, ·wie absurd die Situation war, entschuldigte sie sich bei Fusari.
Sowohl Fusari als auch Starland wollten, dass
Laurent Besencon, der Fusaris Manager war, Gaga endlich unter Vertrag nahm. Doch Besencon lehnte ab. Für ihn war ihr Aussehen problematisch. Trotzdem machten Gaga und Fusari unverzagt weiter. Sie brachten fertige Versionen von »Paparazzi« und »Beautiful, Dirty, Rich« auf MySpace unter. Gaga plante ihre Medienpräsenz eigenständig. So kaufte sie sich für ein paar \Vochen eine prominente Stelle auf der Website von PureVolume.com. Die \Vahl dieser \Vebsite scheint interessant, denn sie war hauptsächlich eine Art Kummerkasten für Verunglückte und Unzufriedene. Jedenfalls bildeten Gagas fetzige, europäisch angehauchte Dancefloor-Nummern einen krassen Gegensatz zu dieser Netzadresse. >>Nie habe ich verstanden, ,;~,,arum sie sich auf PureVolume dermaßen zu pushen versuchte«, sagt Sarah Lewitinn, die damals in der Artists & Repertoire-Abteilung (abgekürzt A&R) bei Island Def Jam arbeitete. »Ihre Stimme klang gut, doch es schien keinen ausgefeilten Plan zu geben. Sie sah gänzlich anders aus als all die anderen auf PureVolume, doch ·war sie vom heu95
tigen Aussehen weit entfernt, von dieser Mischung aus Bowie, Madonna und Spears.« Gaga suchte immer noch nach einer eigenen künstlerischen DNA. Sie wusste allzu genau, was sie brauchte - ihren eigenen Look, der sie schnell erkennen ließ, als Marke vom Rest abhob und schließlich der sie locker vermarkten ließ. \Vie konnte der Look aussehen, wie eine Marke etabliert werden? Oft genug behauptete Gaga, eine kunstbeflissene Außenseiterin gewesen zu sein. Doch so war es nicht ganz. Sie war lediglich ein nettes, katholisches Mädchen von der Upper West Side, das nie viel gelesen hatte, gerne in teuren Boutiquen wie Olive and Bette's einkaufte und von allen gemocht ·werden wollte. Britney Spears war für sie das Maß aller Dinge; war von Spears die Rede, wurde Gaga zu einem kleinen Mädchen, ganz devot - das brachte sie gegenüber dem Biografen ihres Labels zum Vorschein, indem sie sagte: »Ich war das Mädchen, das mit Filzstift überall ihren Namen hinschrieb.« Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr hieß ihr Gesangslehrer Don Lawrence, der auch schon Mick Jagger, Bono und Christina Aguilera betreut hatte. »Ihre Eltern besorgten Gaga immer nur die besten Leute«, sagt Sullivan. Noch heute geht Gaga nie ohne eine Aufnahme von Lawrences Gesangsübungen auf Reisen. Lawrence stellte Stefani den Chefs von Disney Channe! vor, schlug sie sogar fürs Vorsingen vor - denn die Leadsängerin einer Teenie-Girl-Group namens No 96
Secrets sollte ersetzt werden. Deren musikalische Laufbahn begann 2001 bei einer Teenager-Sendung, ·wo der explodierende Teenie-Pop der Neunziger - 'N Sync, Britney Spears, Christina Aguilera - produziert wurde. No Secrets sangen als Backup-Sängerinnen bei zwei Liedern von Aaron, dem kleinen, dürren, aggressiven Bruder des Backstreet Boy-Sängers Nick Carter. »So schnupperte ich in die Plattenindustrie hinein«, sagte Gaga über ihre Erfahrungen in den Fabriken des Teenie-Pop. »Ich dachte tatsächlich, ich sei knapp davor, eine neue \\Thitney Houston zu werden. \\Tas aber für eine langfristige Karriere alles nötig ist, das begriff ich ers t später.«
Während sie sich um einen Plattenvertrag be-
mühte, versuchte Gaga so häufig wie möglich live aufzutreten , etwa unter dem Namen Plastic Gaga Band. »Ich trat so ungefähr in jedem New Yorker Club auf«, sagte sie. »Erst galt ich als Reinfall, dann als Renner. Ich machte es so, wie man es von mir erwartete: kam meinen Verpflichtungen nach, arbeitete fleißig an mir.« Ungefähr zu dieser Zeit sah sie Besencon bei einem Liveauftritt. Und nahm sie unter Vertrag. Mit den beiden ins Netz gestellten Singles hatte Gaga Erfolg - und diesen benutzte sie dann als Argument bei den folgenden Verhandlungen mit Plattenlabels. »Sie ist nahezu schon genetisch darauf abgerichtet, der Popstar des einundzwanzigsten Jahrhunderts zu 97
werden«, sagt Eric Garland. Er ist ein Experte auf dem Gebiet der Nutzung von Musik im Netz. Sein Unternehmen BigChampagne.com liefert für alle großen Labels Daten, verfolgt auch den Datenaustausch unter Nutzern. Garland meint: »Gaga agiert unglaublich sozial. Auf ihre Art ist sie promiskuitiv. Promiskuitiv innerhalb des sozialen Netzwerks, ganz anders also als Ke$ha.« (Ke$ha ist jene Popsängerin, die sich wie die ·weibliche Avantgarde eines Trailer Parks gibt, wobei sie nichts unversucht lässt, um mit Gaga verglichen zu werden.) Gaga versteht es intuitiv, sich eine Identität im Netz aufzubauen und sie zu pflegen, ein Gefühl der Verbundenheit mit den Fanscharen zu erzeugen - das katapultierte sie in das globale Bewusstsein, ganz so, als hätte sie eine mächtige Plattenfirma hinter sich. Von großen Labels erhielt Gaga lauter Absagen. Nach deren Meinung machte sie nichts her, ihre Musik hörte sich ganz und gar nicht hitverdächtig an. Trotzdem gab sie nicht auf, versuchte es bei ihrem alten Chef von »Famous Music«, bei Irwin Robinson. \Vobei sie da einfach nur Songs schreiben wollte, die dann an andere Künstler verkauft, von denen interpretiert wurden. Robinson lehnte dieses Ansinnen ab. Gleiches versuchte sie bei »Sony/ ATV«. Und kassierte noch eine Absage. Laut einer Quelle ·war beim »Sony/ ATV«-Meeting Danny Goldberg zugegen, der Nirvana gemanagt und drei große Labels geleitet hatte. Fusari war ebenfalls mit dabei. Goldberg hörte überhaupt nicht zu. An98
schließend schrie Gaga Fusari an, sie wolle niemals, nie, nie, nie einen Vertrag bei »Sony/ ATV<< unterzeichnen. Ende 2006 spielte Gaga in den Büros von Island Def Jam vor. Eine Angestellte von Island Def Jam erinnert sich an Gaga, wie sie die Eingangshalle betrat: »Sie sah aus wie Julia Roberts in Pretty \Vornan - aber komplett in American Apparel gehüllt. « An jenem Nachmittag passierte bei Island Def Jam das, was nun einen Teil des Mythos rund um Gaga bildet. Gaga sang und spielte Klavier für eine ganze Reihe wichtiger Firmenköpfe. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie - mitten in ihrem Vortrag - einer von ihnen aufstand und den Raum verließ. Ein Panikschub überkam sie, doch ließ sie sich nichts anmerken. Als sie fertig gesungen hatte, schaute sie hoch. Und sah in der Tür Antonio »1. A.« Reid, den Boss des Labels. Er sagte nur: »Lass dich auf dem \Veg nach Hause in unserer Rechtsabteilung blicken. « \Vas im Fachjargon nichts anderes hieß als: »vVir nehmen dich unter Vertrag. « Ein damals Anwesender erinnert sich anders. Reid sei von Anfang an beim Meeting dabei gewesen. »Sie trat in L. A.'s-Büro ein und ein wenig später wurde ich dazu gebeten, um mir Gagas Darbietung anzusehen.« Ebenfalls im Büro: Josh Sarubin, Gagas zukünftiger A&R-Ansprechpartner, Karen Kwal{, Vizepräsidentin und Reids rechte Hand, sowie einige andere Gestalten. Von Reids Büro zweigte ein winziger Raum ab, etwa 99
drei Mal drei Meter groß. Dort stand ein Klavier. Dort spielte Gaga auch vor. »Sie setzte sich ans Klavier und stellte sich zunächst vor«, sagt der anwesende Informant. »Stimmte >Beautiful, Dirty, Rich< an und ein paar andere Songs. Man wusste auf Anhieb, dass sie besonders war. Kein Zweifel. Andererseits war es aber so, und dabei bin ich mit meiner Meinung nicht allein: Ich kann mich an keinen ihrer Songs erinnern. \Veil ich wie gebannt auf ihren Hintern starrte. Sie trug einen engen Minirock. Oder war es ein Schlauch von Kleid? Sie schwankte jedenfalls mit ihrem Körper ständig vor und zurück, als säße sie auf einer Schaukel. Ihre Pobacken wackelten dabei hin und her. Alle, die sich im Büro versammelt hatten, starrten breit grinsend auf ihren Hintern.« Nach ihrem Kurzauftritt drehte sich Gaga zu Reid um - und dieser Teil der Geschichte deckt sich mit dem Mythos. L. A. sagte nur: »Geh bitte runter in unsere Rechtsabteilung. \Vir werden dir einen Vertag anbieten. Verlass das Gebäude erst, wenn du unterzeichnet hast.« Gaga traf sich mit dem Anwalt von Island Def Jam, kontaktierte aber zugleich ihren eigenen Am;~,ralt. Dieser fragte sofort, wer denn für den Deal von der Plattenfirma aus zuständig sei. Als sie ihm den Namen des Island-Def-Jam-Anwalts nannte, hieß es von seiner Seite: Der Deal sei bedeutend, denn das Label hätte einen seiner besten Anwälte mit dessen Ab,:vicklung beauftragt. 100
Im Überschwang sagte Gaga: »Von meinem Anwalt ·werde ich mich für den Rest meines Lebens nicht trennen«, berichtet Starland. »Doch ihr Anwalt arbeitet heute nicht mehr für sie. Solch eine Vorgehensweise sollte sich wie ein roter Faden durch ihr zukünftiges Leben ziehen.«
Sie hätte mit lsland Def Jam einen Riesendeal ab-
geschlossen, sagte Gaga hernach. Ihren Freunden erzählte sie, dass es sich um 850 000 Dollar handele. Jim Guerinot, der u. a. die Nine Inch Nails, No Doubt und The Offspring managt, glaubt nicht daran. Er sagt: »Lächerlich. Für eine gänzlich Unbekannte so viel Geld? Erfolgreiche Künstler schließen dann und ·wann solche Deals ab, aber bei neuen Künstlern ist das noch nie vorgekommen.« Doch jemand, der bei der Vertragsunterzeichnung anwesend war, spricht ebenfalls von dieser Summe, von 850 000 Dollar. Zu verdanken sei sie Fusaris großen Erfolgen mit Destiny's Child und Jessica Simpson. Ein anderer langjähriger Kenner der Branche \Viederum findet diesen Deal ebenfalls äußerst unwahrscheinlich. »Es ist in den letzten zehn Jahren äußerst selten vorgekommen, dass ein Künstler einen Scheck über mehr als eine halbe Million Dollar ausgehändigt bekam. Dass eine Künstlerin 850 000 für ein Album erhalten haben soll, ist kaum zu glauben. Doch die Vertragsbedingungen kenne ich gar nicht, und da spielen doch 101
sehr viele Faktoren eine Rolle. Vielleicht ging es ja auch um fünf Alben.« Er bestätigt immerhin, dass Fusaris Engagement für den Deal vorteilhaft gewesen sein konnte, allerdings hätte selbst sein Ruf nicht zur Auszahlung dieser enormen Summe führen können. Er fügt zuletzt hinzu: »ln New York gibt es aber einige Anwälte, ganz gerissene Hunde, die für Künstler mehr Geld als erwartet rausschlagen können. « Gaga musste das Geld teilen - ganz gleich um welche Summe es sich gehandelt haben mag. Letztendlich wurde ja ihr Vertrag von der Produktionsfirma unterzeichnet, die sie gemeinsam mit ihrem Vater sowie Fusari gegründet hatte . Abgesehen von dem Achtzig-zwanzig-Deal mit Fusari, bekam Besencon - ihr neuer Manager - zwanzig Prozent ab. Starland hingegen, die Gaga entdeckt hatte, mit ihr Lieder schrieb, verfügte lediglich über eine mündliche Vereinbarung. Eine Beteiligung auf zukünftige Verträge wurde ihr da versprochen. So fand sie es ganz und gar nicht gut, als ihr Gaga jetzt nur bestimmte Rechte zu übertragen anbot. Von diesen Rechten konnte Starland nur dann profitieren, wenn von ihr getextete Songs auf einer Platte landen würden. Gaga habe ihr auch eine einmalige Zahlung von zehntausend Dollar angeboten - sagt Starland. Man solle bedenken, dass Besoncon erst seit kurzem dabei sei, versuchte Starland Gaga klarzumachen. Sie habe auch die ganze Entwicklungsarbeit geleistet. Sie fände es nur gerecht, wenigstens die Hälfte der Mana102
gereinnahmen zu erhalten. Also zehn Prozent, plus die Rechte auf zwei der Lieder. Auf diese Einwände entgegnete Gaga laut Starland: »Das scheint mir nur angetnessen.«
Nun unter Vertrag, begann uaga an ihrem Bühnenauftritt sowie ihrem Image zu feilen. Sie hatte kein Auge dafür, was cool aussah, so dass sie sich auf den Schick von American Apparel verließ. Damit machte sie aber zu offensichdich, in zu billiger \Veise auf sexy, wirkte weder ausgefallen noch extravagant. Sie gewöhnte sich an, im BH oder einem Bikinioberteil aufzutreten. Sie war immer noch sehr jung, gerade mal einundzwanzig Jahre alt »Die Sho-ws zu dieser Zeit waren Schock-Kunst« behauptet sie. »Ich war der Damien Hirst der Popmusik. Ich tat Anstößiges. \Vie sollte ich all die Junkies und Metal-Fans dazu kriegen, meine Konzerte zu besuchen und sich Popmusik anzuhören? Es war einfach . Ich zog meine Klamotten aus, benutzte dosenweise Haarspray und schrieb Songs über Oralverkehr.« (An dieser Stelle die Anmerkung: Im Jahr 2007 dürfte dieses Verhalten niemanden hinterm Ofen hervorgelockt haben. Es konnte lediglich als ein drolliger Versuch gelten, mit aller Macht Aufmerksamkeit zu erregen.) Zu dieser Zeit freundete sich Gaga mit einem Mädchen an, das namentlich nicht genannt werden möchte. »Eines Abends«, so die Freundin von einst, »sollte sie 103
im Bitter End auftreten. Sie brauchte dazu dringend ein Oberteil. In Queens gab es eines, das ihr gefiel, deshalb fuhr sie mit der U-Bahn dort hin. Sie trug dabei eines dieser Muskelshirts, allerdings als Kleid. Es war nicht American Apparel, was sie trug, sondern eher Hennes & Mauritz. In Queens fand sie auch noch Schmuck, dem sie nicht widerstehen konnte. Beinahe verpasste sie ihren Auftritt. Sie war irre, ganz und gar ein Original.<<
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DIE KUNST DES STEHLENS
wie ver kümmerte sich [jaga selbst um
Engagements bei Clubs und Bars der Stadt. »Sie rief Gott und die vVelt an«, sagt Ladyfag, eine Institution des New Yorker Nachtlebens - gemeinsam mit der Nachtclubgröße Kenny Kenny organisierte sie damals eine Partyreihe, die »Sebastian« hieß. Als Ladyfag erfuhr, dass Gagas Auftritte für Aufregung sorgten, engagierte sie sie. »Sie war nicht alleine auf der Bühne, zwei Mädchen waren auch dabei«, sagt Ladyfag. »Sie trug einen BH sowie ein Höschen, das sich bis zur Taille streckte und an dem überall Spiegel befestigt waren. Eine riesige Lachnummer. Die Leute fragten sich lachend: >vVas ist das denn für eine? \Vie kommt sie dazu, sich so zu geben?<« Abgesehen vom Outfit fand Ladyfag Gaga großartig. »Sie sang nicht viel, vielleicht drei, vier Songs. Einer davon war >Boys Boys Boys<. Sie war toll, legte einen vVahnsinnsauftritt hin.« Es stimme allerdings nicht, was Gaga dann und ·wann behaupte, sagt Ladyfag: In den 107
Schwulenclubs der Downtown-Szene sei sie weder als Partygängerin noch als Performerin bekannt gewesen. (Dazu sollte man wissen, dass die New Yorker Schwulenclubs seit jeher als Orte gelten, von wo Trends und Karrieren ihren Lauf nehmen.) Eine schwule Anhängerschaft hinter sich zu wissen, sagt zweierlei aus: Dass man als Künstler aufgeschlossenen und fair vorgeht und dass man dem Mainstream ausweicht, ihm sogar vorausschreitet »Negatives kann ich über Gaga nicht berichten, doch versucht sie einfach zu sehr, sich selbst zu inszenieren«, sagt Ladyfag. »Sie ist nicht von Zuhause weggelaufen und hat nicht in den Schwulenclubs ihre Jugend verbracht. Sie trat zwar bei Schwulenpartys auf, doch da war ihr Album bereits veröffentlicht.«
Schwer zu sagen, wie sehr ihre ganze Selbstver-
marktung tatsächlich mir ihrem kometenhaften, weltweiten Aufstieg zusammenhängt. Ihre glattpolierte, eingängige Musik ist jedenfalls nicht besonders avantgardistisch. Sie mag talentiert sein, ihren Durchbruch hätte sie jedoch ohne den außermusikalischen Klimbim bestimmt nicht geschafft. »Vermutlich waren es nicht die musikalischen Qualitäten, eine Melange aus Electro und Soul, die Gaga trotz ihrer niedrig gesteckten Ziele berühmt gemacht haben«, schreibt Jon Caramanica in der New York Times über ihren ersten großen Gig in NYC. Das war sechs Monate, nachdem The 108
Fame herausgekommen war. Caramanica bezeichnet ihre Musik außerdem als »eine geruchlose, farblose , fast unnötige Beigabe zum Lady Gaga-Spektakek In seiner Besprechung von The Fame für die britische Zeitung The Guardian schreibt Alexis Petridis, der Erfolg »scheint Lady Gaga zu einigen ziemlich selbstsicheren Schlussfolgerungen über ihre eigene Originalität kommen zu lassen: >Ich strafe all die Vorurteile gegen Popkünstler Lügen<, meinte sie kürzlich zu einem Journalisten. Dabei schien sie davon überzeugt zu sein, als erste weibliche Popsängerin, deren Musik von synthesizerlastigen Rhythm & Blues beeinflusst ist, einen Platz in den Geschichtsbüchern einzunehmen. >Ich stehe auf Mode<, stellt sie klar. Es klingt, als seien ihre Vorgängerinnen in Vvühltischklamotten aufgetreten.« Als ein komplett geformtes \Vesen schlug Lady Gaga in die Popszene ein - und das im Zeitalter der Beichtkultur, in der »Realität« regelmäßig in Boulevardblätte rn, im Fernsehen oder im Internet ausgebreitet wird, in einer Zeit, so Gaga, in der beständig »Legenden ihren Müllloswerden dürfen«. Nur wenige Clips verweisen auf Gagas Vergangenheit, nur eine sparsame Menge an Material zeigt ihre Entwicklung an. Es ist unglaublich, dass Gaga ihre nach Schema F aufgebauten Tanznummern mit glatten Sounds als eine kleine Revolution des Soul und als eine große Revolution der Popmusil\. verkaufen konnte. Ein wahres Heldenstück der Performance Art, nichts weniger. 109
»Sich als visuelles Ereignis zu erfinden, das sich
auf gut geschriebene Songs stützt, das war ein genialer Schachzug«, meint Tony DiSanto, Direktor der Programm- und Entwicklungsabteilung bei MTV. Er sitzt zusammen mit Liz Gateley - stellvertretende Direktorin der Abteilung für Serien-Entwicklung - in seinem Büro am Times Square. Alles hier wirkt freundlich und bescheiden. Es gibt hier zwar Bilder und goldene Schallplatten, aber die stehen auf der Fensterbank. Ein riesiger Flachbildschirm beherrscht den Raum. DiSanto trägt Jeans und ein schwarzes T-Shirt, sitzt in einem Sessel, schlägt ein Bein übers andere. »Leute, die auf Facebook schrieben, machten mich auf Gaga aufmerksam. Einen ihre Auftritte in New York ·werde ich nie vergessen« -jenen, der am 2. Mai 2009 im Terminal 5 stattfand. DiSanto - ein Mann in seinen Vierzigern, der jedoch jünger wirkt - war zwar nicht live dabei, kann sich aber »an die Flut« von SMS und Tweets erinnern, die er von Leuten aus der Branche nach dem Konzert erhielt. »Sofort dachte ich an 1988, an den Auftritt von Guns N' Roses im Ritz«, einen Auftritt, der als MTV-Special aufgezeichnet wurde; DiSanto: »Da meinten wir, bei der zweiten Auferstehung des Rock anwesend zu sein. Gaga war ja mit Hilfe der sozialen Netzwerke auf einmal in aller Munde. Doch. Es war wie eine Neuauflage der Guns-N'-Roses-Show, inszeniert aber für die Generation von heute.« 110
Nur noch zwei andere Künstler aus der jüngeren Vergangenheit schlugen, unterstützt durchs Internet, weltweit derlei ein: Susan Boyle, die schottische Einsiedlerin aus der »Britain's Got Talent«-Show und Justin Bieber, der kanadische Teenager mit asymmetrischem Haar und stumpfem Blick. Im Gegensatz zu ihnen schaffte es Gaga aber, »Aufsehen zu erregen, noch bevor jemand ein Bild von ihr kannte«, so Gateley - wie DiSanto in den Vierzigern, doch aufgrund des blondierten Haares und ihrer Schlankheit von der Anmutung eines Teenagers. »Vor etwa eineinhalb Jahren«, fährt sie fort, »sagte der Chef unser Abteilung für Talentsuche: >Mit diesem Mädchen lässt sich etwas anfangen. < Die Aufregung um sie war da z·war schon riesig, doch das Mainstreamgirl aus Iowa hatte von ihr noch nichts gehört.« Sowohl Gateley als auch DiSanto wussten, dass es lediglich eine Frage des \Vann war- ·w ann Gaga den Durchbruch schaffen würde. Eine Reihe von Gesprächen mit Gagas Management folgte. Erwogen wurde eine Dokumentation, der als Vorlage Madonna: Truth or Dare (Im Bett mit Madonna) dienen sollte. Doch bevor jedwede Schritte unternommen werden konnten, ging es mit Gaga ab. »Sie startete durch«, sagt Gateley. Sie verwandelte sich dermaßen schnell von einer Unbekannten in eine Mainstream-Berühmtheit, dass MTV nicht hinterherkam. Gateley: »Wir schafften es nicht mal, uns mit ihr zusammenzusetzen.« Gaga funktionierte als eigene Persönlichkeit und als ein Abziehbild der drei großartigsten androgynen Pop-
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künstlerdes zwanzigsten Jahrhunderts- Bowie, Madonna und Prince. Für die urbane Schickeria verweist Gaga noch weiter - auf Leigh Bowery, den Künstler, Promoter und Dandy, sowie auf Klaus Nomi, d en Sänger und Performancekünstler, die beide in den Achtzigern mit ihren Ansätzen provozierten und einem Boy George (Bowery) sowie David Bowie (Nomi) als Vorlagen dienten. Besonders Bowery machte es - mit seinem \veiß bemalten, ans japanische Kabukitheater gemahnendem Gesicht, den überzeiclmeten schwarzen Lippen und dem runden, durch peinliche Kleider verzerrt aussehenden Leib - dem Betrachter absichtlich schwer: zeitweise wirkte er kaum noch wie ein Mensch. Gelegentlich fällt es auch unheimlich schwer, Gaga zu betrachten. Das erste Jahr nach ihrem Durchbruch etwa verbrachte sie damit, ihr Gesicht zu verhüllen. Manchmal tut sie das heute noch. Ihr Aussehen kann durchaus zu einem visuellen Anschlag werden. 2009, bei den MTV Video Music Awards, trug sie ein Minikleid aus roter Spitze, bei dem sich der Stoff um ihren Hals und ihr Gesicht schlängelte, als wäre sie in einem Geflecht wild emporschießender Haute-Couture-Ranken gefangen. Sie ver·wies damit auf einen Look aus der Herbst-/ \Vinterkollektion von 1998/ 1999 des inzwischen verstorbenen Designers Alexander McQueen. (McQueen kleidete Gaga ein, gewährte ihr Zugang zu seinem Kleiderfundus. Beim Videoclip zu »Bad Romance« stammt ihr Look aus einer der letzten McQueen-Kollektionen, die vor allem durch 112
ihre übergroßen, paillettenbesetzten »Armadillo«-Schuhe bekannt wurde.) Gaga bediente sich bei Bowery und Nomi noch in anderer Hinsicht - sie versuchte dem tragischen Bild eines Künstlers zu genügen, der mit seiner Kunst verheiratet ist, der in der Liebe ständig scheitert und die Sehnsucht danach mit Hilfe von Sex stillt, sich ansonsten aber auf seine Kunst und die Verehrung seiner Anhänger verlässt. \Vährend dieses Buch entsteht, ist sie, obwohl sie sich als Single bezeichnet, mit ihrem Stylisten, Matt \V'illiams, liiert. »Seid ihr alleine?«, fragte sie gern im zum Abschluss ihrer Show laufenden Film. Und ergänzt gleich: »Dann bin ich das auch. « \V'as für eine ergreifende Botschaft im Zeitalter falscher Intimität, umgeben von Hunderten Facebook-Freunden, die man nie zu Gesicht bekommt. Die Liste derer, die derzeit auf Gaga Einfluss ausüben, ist lang. Die Leute und Dinge, die sie zitiert, dürfen alles andere als unbekannt gelten: Andy vVarhol, Chanel, Donatella Versace ... Ihre Freunde aus der Schulzeit und den College-Tagen beschreiben Gaga als ein angepasstes Mädchen mit gängigen Mainstream-Interessen. Diejenigen, die sie später kennenlernten und sie nach ihren Avantgarde-Bezügen fragten, stießen auf ein verwundertes Mädchen. »Sie sprach über \Varhol und Bowie und Grace Jones, denn sie waren der Gegenstand unseres Interviews«, sagt der Journalist Jonah \Veiner, der mit Lady Gaga für eine Titelstory im Blender sprach (die Zeitschrift wurde 113
eingestellt, deshalb kam es nie zur Interview-Veröffentlichung). Als Weiner aber nachhakte, merkte er schnell, dass Gaga keine Antwort vorbereitet hatte und angespannter wurde. \\Teiner: »Ich stellte ihr eine Frage zu vVarhol und sie antwortete: >Er dachte, Popkultur könnte hohe Kunst sein, und das denke ich auch.< Doch als ich sie ihre Behauptung auszuführen bat, war sie dazu nicht in der Lage.« Als Gaga auf den Film The Night Porter zu sprechen kam - in dem Charlotte Rampling eine Überlebende eines Konzentrationslagers spielt und eine Affäre mit einem Nazi beginnt, der sie gefoltert hat -, habe sie, so \\Teiner, von dem Film keine Ahnung gehabt. Er habe die Schwierigkeit angesprochen, wenn sich ein Opfer in seinen Peiniger verliebe. »Doch für sie ging es eher darum, wie sexy Charlotte Rampling in dem Film aussieht«, sagt er. Ganz offensichdich ist Gaga ein Produkt des Internetzeitalters. Heutzutage braucht niemand mehr hartnäckig zu sein, sich in Schallplatten- oder Zeitschriftenläden aufzuhalten, um vVissen anzuhäufen. Anstatt einen Aufwand zu betreiben, googelt man, schaut in der Wiltipedia nach oder lädt sich eine bestimmte Information auf den iPod runter. Doch das eher oberflächliche vVissen, das auf diese \Veise ZU einem kommt, kann von jemanden, der über tiefer greifende Informationen verfügt, als beleidigend empfunden werden vor allem, wenn es von seinem Gegenüber als profund verkauft wird. Kein Wunder also, dass eine mangelhaft
vorbereitete Lady Gaga, die behauptet, sich mit längst verstorbenen Persönlichkeiten der Gegenkultur tief verbunden zu fühlen, bei Musikjournalisten, Kritikern und Kunstbesessenen nicht gut ankommt. In einem Interview für den Musikkanal Fuse war ihr \Vissen nicht so fundiert, wie man es - in diesem Fall zumindest - erwartet hätte. Als ein Journalist namens Toure sie nämlich fragte: »Wissen Sie, was >Strong J < bedeutet?«, reagierte Gaga verdutzt. »Strong J?«, fragte sie zurück. »Ich meine Grace Jones«, meinte Toure. Gaga fing sich schnell. »Ja klar. Grace ist für mich eine riesige Inspirationsquelle.« Grace Jones selbst ist ganz und gar nicht beeindruckt, mit Lady Gaga in Verbindung gebracht zu werden. »Ich habe Gaga in ein paar Kleidungsstücken gesehen, die auch ich mal getragen habe«, erzählte sie kürzlich The Guardian, »und das kotzt mich schon an. « (Übrigens: Das zweite Album der Jones hieß ebenfalls Fame.) Von der deutschen Sängerin Nina Hagen und von Dale Bozzio, der Leaderin der Band Missing Persons, stahl Gaga die offensive Sexualität - ohne je selbst \Virklich seA.ry zu wirken. (Legt man Bilder von Bozzio und Lady Gaga nebeneinander, kann man die beiden Damen kaum voneinander unterscheiden.) Von Peter Gabriel, aus dessen Jahren bei Genesis, von Boy George und von Leigh Bowery bezog sie das weiße - kabukihaft - geschminkte Gesicht. Von Björk, dem isländischen Popstar - der mit Matthew Barney zusammenlebt, einem Star der Kunstszene, und die 1997 den damals wenig bekannten Mc115
Queen das Cover ihres Albums Homogenie entwerfen ließ - , klaute sie die futuristische Ästhetik und vermittelte, wie Björk, den Eindruck, kosmische Weisungen zu erhalten. (1995 stahl sogar Madonna von Björk- und zwar das Faible für Kimonos sowie die Space-Age-TechnoBeats - für den Videoclip zu »Bedtime Story«. Es handelte sich um eine Single, die Madonna bei Björk in Auftrag gab, und diese dann, laut Branchengerüchten, einen Songtext verfasste, in dem sie Madonnas Einfallslosigkeit anprangerte.) Sie stahl also das furchterregende Make-up, ihre androgynenhafte Anmutung von all den Erwähnten, ebenso aber von Marilyn Manson und Alice Cooper. Von Gwen Stefani übernahm Gaga den Sound - Stefani bezeichnete sie dann auch als die große Inspirationsquelle. »Seit jeher benutzt Gwen für ihre Lippen einen roten Konturenstift«, sagte Gaga. »Der beeindruckte mich unglaublich. Ihr Ruhm gründet auf ihren roten Lippen. Keine Ahnung, worauf sich meiner gründen wird. Auf meiner Vagina vielleicht oder meinem Haar. « Gaga bediente sich ebenfalls bei Liza Minelli und Judy Garland, deren Neigung zu überfrachteten Balladen gefiel ihr scheinbar. Ebenso die dramatische Tendenz übermäßig geschminkter Sängerinnen, die von unerfüllter Zuneigung berichten und vorrangig von Schwulen verehrt werden. Bette Midler war ein Vorbild in Sachen Bühnenpräsenz: Gaga konnte sich für den Triumph einer unkonventionell aussehenden Außenseiterin begeistern, einer Diva, die es ohne die Schwulen 116
nie geschafft hätte. Der britischen Modemuse Isabella Blmv, die McQueen entdeckte, entwendete sie - in recht massiver \\Teise -viele ihrer unvergessenen Looks. So war es keineswegs Gaga, die als erste Frau einen Hummer-Hut trug, sondern eben Isabella Blow (McQueens sowie Blows Zusammenarbeit wurde von jener zwischen Eisa Schiaparelli und Salvador Dali inspiriert, die den Entwurf eines Hummer-Kleides zur Folge hatte.) Wer Gaga auf Leute wie Bowery und Nomi aufmerksam machte, das bleibt unklar. Nomi, der drei Jahre vor Gagas Geburt an Aids starb, war ein in New York lebender Deutscher, der eine Ausbildung zum Opernsänger absolviert hatte und Popsongs coverte. Seine Auftritte im Mudd Club, in Max's Kansas City und in der Danceteria waren gekennzeichnet von einem überzogenen Erscheinungsbild, das Gaga übernahm - die aerodynamischen Schulterpolster etwa, die Nomi benutzte, ließen den Oberkörper wie ein umgekehrtes Dreieck aussehen. Gaga hätte während des Interviews für Blender auf Nomi verwiesen, sagt vVeiner, sei allerdings nicht ins Detail gegangen. Sie behauptete, ihr Look hätte mit Nomi nichts ZU tun. Sie sagte, so vVeiner: »>Meine Outfits haben häufig dreieckige Formen. Mir sagt eben die phallische Darstellungsweise zu.«< Über die Zeichensprache ihrer Kleider zu reden, macht Gaga großen Spaß. Bei der Kleiderauswahl, in der Präsentation als Pop- wie Sexsymbol war sie stets sehr eifrig. Sie wollte nie anschmiegsam wirken, wohlschmeckend die Kehle 117
hinabgleiten. Kantig und eckig wollte sie sein. Im Hals stecken bleiben. Von Nomi kam auch die Idee des Künstlers als Fake. In der Dokumentation The Nomi Song (2005) erläutert ein Bewunderer, dass Nomis Anziehungskraft »mit dem Kult purer List sowie Entfremdung in einer Kultur« zusammenhänge, »die von Authentizität besessen« se1. Mit Authentizität spielt Madonna bereits seit langem. Von ihr stahl Gaga fast alle für ihr Image notwendigen Zutaten: all die variierenden sexuellen und kulturellen Provokationen, die Madonnas gewöhnliche Popmusik interessanter erscheinen ließen; die ständige Beschwörungsformel von »meiner Kunst«; das Bemühen um ein schwules Publikum und gleichzeitig die Bereitwilligkeit, als Sprachrohr für dessen Anliegen zu dienen; ihr Streben, sich als Künstlerin immer wieder neu zu erfinden, beständig Neues zu verkörpern. Am Schluss von .1\1adonna: Truth or Dare (1991) steht Madonna auf der Bühne und singt eine von ihren eher langweiligeren Nummern - »Keep it Together«, ein fades Stück über Familieverhältnisse -, doch sie spickt es voll mit anachronistischen, gegenkultureilen Bezügen und Plattitüden zur Selbsthilfe, was Fades auf einmal interessant macht. Sowohl Madonna als auch Gaga bedienen sich der Dialoge aber auch Kostüme aus A Clockwork Orange Stanley Kubricks äußerst stilisiertem Film über eine extrem gewalttätige Jugendgang, die London unsicher 118
macht. \Vie der Hauptdarsteller im Film trägt Madonna bei »Keep it Together« eine Melone und zitiert zudem dessen Euphemismus über Sex: »A little of the ol' inout, in-out« (Ein bisschen von dem ollen Rein-Raus-, Rein-Raus-Spiel). Zwei Jahre lang spielte Gaga vor jeder ihrer Shows die Clockwork Orange-Filmmusik, behauptete aber, die Filmverweise von Bowie und nicht von Madonna gestohlen zu haben. Wenn es um Fragen der Motivation geht, verteilen sowohl Madonna als auch Gaga gerne Ratschläge. »Nie an sich selbst zu zweifeln, das ist besonders wichtig«, sagt Madonna von der Bühne in die .Menge hinein. »Um erfolgreich zu sein, muss man sich selbst lieben«, warf Gaga ins japanische Publikum - und zwar im April 2010. Und setzte hinzu: »An diesen Ratschlag habe ich mich gehalten.« »Madonna wies ihr die Richtung«, sagt Gateley, »doch sie ist in vielem noch besser. Madonna änderte ihr Image alle ein, zwei Jahre. Lady Gaga ändert es jede vVoche.«
Einer der beliebten Kritikpunkte an [jaga lautet,
sie sei zu gerissen, zu berechnend, sei nie und nimmer dermaßen irre, wie sie sich gern darstelle. Gaga sei nicht eigenartig, schrieb Sasha Frere-Jones im New Yorker. Und lobte ihr Talent und ihre Intelligenz. Sah auch voraus, dass The Fame das Album des Jahres 2009 \Verden würde, verwarf allerdings Gagas Beschwörung 119
von Einflüssen seitens der Kommunisten oder seitens von Rainer Maria Rilke als absurd. Frere-Jones schrieb: »Von Marx oder Rilke findet man in ihrer Musik keine Spur.« Kommunismus - das mag sich im ersten Augenblick cool, aufrührerisch, provokativ anhören, stellt aber kein Motiv im Schaffen der Lady Gaga dar. Und Rilke? Gaga hat ihre Verbundenheit Rilke gegenüber oft betont, sagte, dass sie dessen »Philosophie der Einsamkeit« teile. Im August 2009 ließ sie sich während ihrer Tour in Japan ein Zitat aus Rilkes Briefe an einen jungen Dichter auf ihren linken Oberarm tätowieren. Das lautet auf Englisch: »In the deepest hour of the night, confess to yourself that you ·would die if you were forbidden to write. And Iook deep into your heart where it spreads its roots, the answer, and ask yourself, must I write?« (zu Deutsch: Gehen Sie in sich. Erforschen Sie den Grund, der Sie schreiben heißt; prüfen Sie, ob er in der tiefsten Stelle Ihres Herzens seine vVurzeln ausstreckt, gestehen Sie sich ein, ob Sie sterben müssten, wenn es Ihnen versagt würde zu schreiben. Dieses vor allem: Fragen Sie sich in der stillsten Stunde Ihrer Nacht: Muss ich schreiben?) Gagas zur Schau gestellten Seltsamkeiten führten zu einem amüsanten Beitrag auf der vVebseite des Magazins der NewYork Times, der »vVarum fällt es uns so schwer, Lady Gaga zu mögen?« hieß. Der Artil\.el rief unterschiedliche Reaktionen hervor. »Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass 120
sie eine auf den Podest gehievte Möchtegernkünstlerin ist«, hieß es in einem Kommentar. Eine andere Stimme: »Bloß eine Nachahmung jeder x-beliebigen blonden Popsängerinder letzten Jahre, auch von Donatella Versace. An Gaga ist nichts wirklich Rätselhaftes dran. Sie sollte endlich aufhören, jeden ihrer Schritte kalt berechnend zu planen. vVerden die Kleider eines Bussein Chalayans und übertriebene Schulterpolster und Perücken ihr je zur Glaubhaftigkeit verhelfen?« »Ich finde an ihr keinen Gefallen. Sie ist für mich keine echte Exzentrikerin«, kommentierte jemand. »Zu verbissen versucht sie, eine andere zu sein, trägt Kleider, die alle schon mal vorkamen (mein Gott, selbst jemand wie Beyonce, die nun eindeutig zum Mainstream gehört, trägt vermeintlich verrückte Kleider mit integrierten Metallstücken). Beständig versucht sie nur, auf sich aufmerksam zu machen. In einem Interview vergangene vVoche behauptete sie allen Ernstes, dass das Entflammen von Haarspray in ihrer Eigenschaft als >Performance-Künstlerin
Und zuletzt eine Wortmeldung von jemanden, der ·weiß, wie Gagas Geschichte enden ·wird: »Sie kommt aus Yonkers und tut so, als hätte sie einen europäischen Akzent! Sie kann durchaus talentiert sein, aber indem sie ohne Hose durch die Landschaft läuft und Lieder schreibt, zu denen ich nur betrunken tanzen möchte, degradiert sie sich zur vVitzfigur. In ein, zwei Jahren wird die Fassade, die sie sich zugelegt hat, zusammenkrachen.«
2008, kurz nachdem Lady [jaga bei lsland Def
Jam unterzeichnet hatte, fuhren Gaga und Fusari nach Miami - um sich mit Tom Lord-Alge, dem Produzenten, Tonmiseher und Grammy-Gewinner, zu treffen. Er sollte für sie »Beautiful, Dirty, Rich« abmischen. Beide dachten, die Nummer hätte genügend Potenzial, um Gagas Debüt-Single zu werden. Starland war skeptisch, ·was das Engagement von Lord-Alge anbelangte, doch schon dessen erste Schritte überzeugten sie. »Er stattete das Lied mit Brüchen aus, wodurch es plötzlich deutlich besser klang«, sagt sie. »Seine Arbeit war in jeder Hinsicht klasse. « Die Beziehung zwischen Fusari und Gaga sei damals, so Starland, sehr eng gewesen. Als sie aus Miami zurückkehrten, ·waren sie richtiggehend enthusiastisch. Doch knapp danach ließ Island Def J am Gaga fallen. »L. A. Reid hörte >Disco Heaven< und >Beautiful, Dirty, Rich< - und fuhr mit seiner Handkante horizon122
tal seine Kehle entlang, was das Aus bedeutete«, sagt Sullivan. Diese Entscheidung bleibt jemandem, der in die Prozesse bei Island Def Jam integriert war, noch heute schleierhaft. Dieser jemand sagt: »vVenn Gaga ins Island Def Jam-Büro schritt, zeigten sich alle immer ganz und gar von ihr angetan.« Josh Sarubin war ihr größter Förderer innerhalb der Plattenfirma, pushte sie in den internen Meetings. Laut Starland wurde er in die Entscheidung, Gaga fallen zu lassen, nicht eingeweiht. »Josh saß in einem Meeting der A&R-Abteilung. Sie strichen die Künstler von der Liste, die sie in der \Voche hatten gehen lassen. Da fiel auch Gagas Name«, so Starland. »Josh erfuhr es also nachträglich. Von L. A. Reid wurde Sarubin jedenfalls nicht direkt in Kenntnis gesetzt.« L. A. Reid habe nie verstanden, \ver denn eigentlich Gagas Zielpublikum sein sollte, berichtet ein Informant aus dem Island Def Jam-Zirkel. »Wenn man ein Plattenlabel leitet, muss man genau wissen, wem man da Musik verkauft. Man muss auch komplett hinter dem Künstler stehen«, sagt dieser Informant. »Es wäre ein Bärendienst gewesen, wenn diese Plattenfirma Gaga behalten hätte, ohne zu wissen, wie sie zu vermarkten sei. \Väre sie dort geblieben, wo ihre Vision nicht verstanden wurde, hätte sie vermutlich nicht dermaßen viel Erfolg verbuchen können. « Sullivan stößt ins gleiche Horn und meint, bei Island Def Jam wäre aus Gaga eine Nischenkünstlerin geworden. Und verweist auf La Roux, eine Band, deren Front123
frau eine androgyne, dünnstimmige Britin ist, Gaga recht verwandt. »Sie wäre wie La Roux, würde lediglich in drittgrößten Clubs der Stadt auftreten. Jene Reife, die ihre Songs reizvoll macht, würde ihr dann vollständig fehlen. « Nicht nur ihr Plattenvertrag ·wurde aufgelöst, auch im Privaten lief es inzwischen katastrophal. »Ihre Beziehung zu Fusari stand auf der Kippe«, erinnert sich Starland. »Sie handelte mit Lüc an. Sie wurde immer wahnsinnig nervös, ·wenn sie ihn sah. Sie sagte dann: >Ü mein Gott, er arbeitet ja als Barkeeper. Eine richtig große Nummer. Er kommt aus der Szene.<« Lüc war eine willkommene Abwechslung. Gaga hatte gerade eine traumatische Auseinandersetzung mit Fusaris Verlobter hinter sich, die sie sowie Fusari gefragt hatte, ob sie ihnen vertrauen könne. Beide verneinten. Daraufhin sagte die Verlobte zu Gaga: »Du bist keine Freundin von mir.« Und Fusari fing an, auf der Studiocouch zu schlafen. Er sprach auch davon, mit Gaga in New York zusammenleben zu wollen. Während Starland denkt, dass die Situation um Fusari Gaga zu anstrengend zu werden begann, glaubt Sullivan, Gaga habe mit Fusari nichts mehr zu tun haben wollen und weist auf den Alterunterschied zwischen den beiden hin. Lüc aber war allseits begehrt, berühmt gar. Und er entschied sich für Gaga. Es schmeichelte ihrem Ego, selbst wenn er sie häufig nicht besonders gut behandelte. Gagas Freunde berichten nämlich, dass Lüc ihr 12LI
untreu gewesen sei. Darüber hinaus machte er sich über ihren Musikgeschmack lustig, warf ihr Besessenheit vor. Sein herbes Verhalten inspirierte Gaga zu ein paar Liedern auf The Fame. Die meisten der Songs schrieb Gaga erst nach ihrer Trennung. Anfangs hatte sie Angst, so Sullivan: »Sie sagte : >Ich kann das nicht. Ich kann nicht über uns schreiben. Das wäre, als versiegele ich einen Umschlag. Es macht das Ende meiner Beziehung zu Lüc real. «< Als sie aber mit dem Texten begonnen hatte, konnte sie nicht mehr aufhören. Das Lied »Poker Face«, meint Sullivan, handele keineswegs von irgendwelchen Fantasien. Es sei prosaischer: Nach ihrer Trennung von Lüc bat Gaga Sullivan, mit ihrem Ex zu reden. Sullivan berichtet: »Ich gab ihr den Ratschlag, cool zu bleiben. Sich in der Szene rumzutreiben, um zu zeigen, dass es auch ohne ihn bei ihr bestens liefe. Ich sagte: >Für Typen wie Lüc musst du ein Pokerface aufsetzen. <« Bei »Summer Boy« hingegen, so Sullivan, grübelt Gaga über die Chancen einer gemeinsamen Zukunft mit Lüc nach - und begreift, dass es keine Zukunft geben wird. Sie war gut genug für ein wenig Spaß und Sex und um in seinem Chevrolet EI Camino durch die Stadt zu rauschen. Sie liebte ihn, doch war es aussichtslos. »Boys Boys Boys«, sagt Sullivan, handele von einem Date mit Lüc. Am 23. März 2007. Als sie sich The Killers im Madison Square Garden anhörten. »Lüc mochte keine Popmusik. vVomit er im Grunde das, was sie betrieb, nicht achtete«, meint Sullivan. »Er 125
mochte lediglich Hair Metal, ein Subgenre des Heavy Metal. Sie waren seit drei Monaten zusammen, doch in jenem März gingen sie zum ersten Mal richtig miteinander aus. Sie machten sich fein, fuhren uptown und nahmen ihre Plätze ein, ganz ganz oben.« Gaga beschreibt in »Boys Boys Boys«, wie sie sich dieses Konzert anschaut, lässt dabei aber den Part über ihren griesgrämigen Freund und die fürchterlichen Plätze aus. »Ich wollte eine Art Mötley Crües >Girls, Girls, Girls< aus weiblicher Sicht schreiben«, erzählte sie. »Ferner wollte ich, dass sich das Lied wie AC/ DCs >T.N.T.< anhört - mit einem >Üi! Oi! Oi!<-Refrain, aber halt mit meinen eigenen popartigen Elementen. Ich wollte einen Popsong schreiben, den ein Kerl, ein Metalfan, mögen sollte.« Sie nimmt auch Bezug auf die musikalisch von Sullivan betreute Aftershow-Party in der Motor City Bar, einem Heavy-Metal-Schuppen mit Reifen als Tischen, schwarz gestrichenen vVänden und einer Auswahl an preiswerten Bieren, die zu der größten südlich der 14th Street zählte. »Ein Mädchen mit Kokain tauchte dort auf«, sagt Sullivan. »Ein Freund von mir schlug auch zu. Doch das Koks war ein Fake. Backpulver oder sonst was.« Gaga, so Sullivan, sei nicht mal in die Nähe des Kokains gekommen. »Stef nahm zu diesem Zeitpunkt keine Drogen. \Vegen Lüc. Der nimmt keine Drogen, hat keine Tattoos. Als sie miteinander auszugehen begannen, stellte er sofort 126
klar: >'Venn du kokst, gehe ich nicht mit dir aus. < Also ließ sie ihre Clique aus Studienahbrechern von der Upper vVest Side sein, hörte mit dem Koksen auf und begann, mit Lüc auszugehen.« Gaga ·wusste sehr wohl, dass sie da jemanden liebte, der ihre Popambitionen nicht unterstützen wollte. Mit »Paparazzi« hat sie ein Lied über ihre Angst geschrieben. Darüber, entweder geliebt zu \Verden oder aber eine erfolgreiche Karriere zu starten, doch niemals beides haben zu können. Gaga trennte sich von Lüc - und kam mehrfach mit ihm wieder zusammen. Und jedes Mal, wenn die Beziehung endete, versackte sie mit Sullivan in irgendeinem Lower-East-Side-Lokal. »Gern zählte sie die Dinge auf, die Lüc nicht begriff, knallte anschließend ihr Bier auf den Tisch und rief dabei >dieser Scheißkerl!<«, berichtet Sullivan. Mit aller Kraft arbeite sie an ihrer Musik - und das nur, um Lüc zu beeindrucken. Doch je härter sie arbeite, umso mehr entferne sie sich von ihm. Damit gewann und verlor sie zugleich.
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ABSERUIERT
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Probleme mit Lüc überschatteten die nächs-
ten Monate. Im März 2007 rang Gaga immer noch mit dem Rauswurf bei Island Def Jam. »Sie war traurig und fertig«, sagt ein alter Freund, der zwar keinen Kontakt m ehr zu Gaga hat, sie aber immer noch gerne mag. »Erstaunlicherweise bewahrte sie Haltung, als handele es sich lediglich um einen Stolperstein. Sie ging mit ihrer Traurigkeit ganz ehrlich um, obwohl es ja ein Schlag für ihr Selbstwertgefühl war.« »Sie weinte sich die Augen aus«, sagt Sullivan. »Das war das Schlimmste, was ihr je zugestoßen war. Stimmt nicht. Das Zweitschlimmste, was ihr je zugestoßen war.« Was war denn das Schlimmste? »Als ihre Schwester vom Baum fiel und sich den Arm brach. Als Kleinkind noch«, sagt Sullivan. »Nun aber ·war sie in Schwierigkeiten. Sie war z·wanzig Jahre alt und hatte mit ihrem Vater vereinbart, dass sie, sollte sie mit zwanzig Jahren keinen Plattendeal abschließen, ihre Popträume aufgeben würde . Jetzt war sie zwanzig und ohne einen Deal.« 131
Sie hätte sich mit Alkohol und Drogen betäuben müssen, um die folgenden Tage und Stunden zu überstehen, gab Gaga zu. Doch sie und ihr Vater seien unvermindert umtriebig gewesen, berichtet Sullivan: »Nachdem er gehört hatte, ·wie aufgewühlt seine Tochter war, fuhr Gagas Vater an die Lower East Side. Sein italienisches Temperament kam zum Vorschein, als er sagte: >Niemand tut meiner Tochter so etv,ras an. < Und sogleich setzte er hinzu: >Ich schau mal, was sich machen lässt.«< Im Endeffekt musste Island Def Jam Gaga auszahlen, selbst wenn keine Platte von ihr veröffentlicht worden war. »Das also bedeutet der Deal aus >Courtney Love Does the Math<, dachte ich da nur«, sagt Sullivan - und bezieht sich dabei auf »Courtney Loves Lehrstunde in Mathematik«. Im Mai 2000 hielt Courtney Love- die \Vitwe Kurt Cobains und Sängerin der Formation Hole - nämlich auf der Digital Hollyw'Ood Online Entertainment-Konferenz eine Rede. Diese Rede kann man in ihrer gesamten Länge unter dem Titel »Courtney Love Does the Math« auf Salon.com nachlesen. Love greift in ihrer Rede nicht nur die Plattenindustrie in Hinblick auf deren Angst vor dem Internet an, sie kritisiert auch die \Veigerung dieser Industrie, der Zukunft offen gegenüberzutreten - und bezeichnet sie als Sklaventreiber. Love gab deshalb eine Lehrstunde in Mathematik, weil sie vorrechnete, wie eine Band mit vier Mitgliedern und 132
einem Vorschuss von einer Million Dollar höchstwahrscheinlich und ohne deren Verschulden in einem Zeitraum von zwölf Monaten bei 45 000 Dollar netto landet, während das Label elf Millionen brutto beziehungsweise sechs Millionen Dollar netto einstreicht. »Das System dieser Industrie ist so ausgelegt, dass nahezu niemand außer ihr Geld erhält«, sagte Love. Selbst mit ihren zwanzig Jahren war sich Lady Gaga dessen bewusst.
Als Felge des Fiaskos mit lsland Def Jam, rief Fu-
sari seinen Freund Vincent Herbert an, der unter dem Dach von Interscope Records mit Da Family sein eigenes Label führte. Herbert hatte Fusari als Produzenten von Destiny's Child eingesetzt und ihm damit zum Durchbruch verholfen. >>Rob sagte nur: >Ich habe da eine Künstlerin, du musst etwas für sie tun«<, meint Starland. »Es klang wie: >\Venn ich dir einen Gefallen tue, tust du mir auch einen.< Auf diese vVeise, dank Robs Kontakt, erhielt Gaga ihren zweiten Plattendeal. « Sie sang beim Produzenten Martin Kierszenbaum vor, einem der Bosse von Interscope, der auch unter dem Namen Cherry Cherry Boom Boom bekannt ist. Er beauftragte Gaga, ein Stück mitsamt Text und einer Hookline zu schreiben. Gaga schuf gleich mehrere Versionen - sie wusste \vohl, dass dies der Test schlechthin war. So bat sie Fa133
milie und Freunde um Feedback, revidierte Fassungen, besserte das Stück unermüdlich aus. Im Songtext hieß es: »Family, doing it for the family«, was auf das Plattenlabel anspielte für das sich Gaga bewarb. Das Plattenlabel erhielt am Ende einen neuen Namen: Streamline. Und aus dem Song, an dem Gaga da unermüdlich tüftelte, wurde schlussendlich »The Farne«. (Gaga sollte am Schluss bei drei zu Interscope gehörenden Labels unter Vertrag stehen - Streamline, Cherrytree und Kon Live, so dass drei Label-Bosse am Profit aus ihren Aufnahmen beteiligt waren.) Dem Management von Interscope war relativ schnell klar, dass sie mit Gaga eine Besonderheit an Land gezogen hatten - schließlich konnte sie sowohl singen als auch spielen und schreiben. vVenngleich ihr Erscheinungsbild immer noch ein Problem darstellte. Man suchte nach einer Lösung. Doch während man suchte, beschloss man, Gaga als Songschreiberin - also im Hintergrund - werkeln zu lassen. Sullivan erzählt: »Der \Veg bei Interscope war lang und mühsam. Etliche der Leute, mit denen sie dort zu tun hatte, dachten, dass sie das Zeug zur Größe hätte, aber nicht hübsch genug für einen Popstar wäre.« Gaga musste von jetzt an Songs für andere Künstler schreiben, vor allem für die Pussycat Dolls. Diese Mädchenband benötigte vokale Vorgaben - was nichts anderes hieß , als dass Gaga den Mädchen ihren Songvorschlag vorsingen musste. »Wobei Gaga die Pussycat Dolls nicht für voll nahm«, berichtet Sullivan. 13Ll
Sie wurde launenhaft, stritt mit Lüc, mit dem sie wieder liiert war und der seinerseits sauer war, dass ihre neue Arbeit die gemeinsame Freizeit beschnitt. Laut Sullivan hatte Lüc Geld gespart, um mit ihr in den Urlaub zu fahren, einen Urlaub, den sie sich sehr gewünscht hatte. Ihren gemeinsamen Urlaub verkürzte Gaga allerdings sofort, nachdem ihr Label während des Urlaubs mit einem Auftrag an sie trat - sobald das Label anrief, stand sie ruckzuck Ge\:vehr bei Fuß. Lüc hielt sie für eine verwöhnte reiche Göre, die keinerlei Respekt vor ihm und seinem anstrengenden Job hatte. Für Gaga galt Lüc mittlerweile als jemand, der weit hinter ihren Erwartungen zurückgeblieben war - weder ihren Tatendrang nachvollziehen noch ihre ehrgeizigen Pläne zu unterstützen imstande war. An dieser Stelle fiel dann der inzwischen vielzitierte Satz von ihr: »Eines Tages, wenn wir längst nicht mehr zusammen sind, da wirst du dir in keinem noch so verschissenen Laden einen Kaffee bestellen können, ohne mich zu hören, ohne meinem Bild entkommen zu können. « Zu diesem Zeitpunkt war Gagas Look immer noch ein Manko. Liebend gern tauchte sie zu jeder Tageszeit im Bikini oder sogar im Tanga auf. Einer der Plattenbosse ist davon überzeugt, dass das Label viel Geld in Gagas Vermarktung hineinsteckte, weil es den Deal mit Herbert gab. »Vincent verfügt nicht nur über ein feines Gehör«, sagt dieser Plattenboss, »sondern auch über ebenso feines Gespür. Er wusste, wie man ihr einen \Veg ebnen kann, ohne sie in ihren \Vün135
sehen einzuschränken und ohne dabei Millionenbeträge in Videoclips zu stecken.<< Ihren Streit mit Lüc wegen der abgebrochenen Ferien verarbeitete Gaga in einem Lied , das sie für die Pussycat Dolls schreiben musste und das den Titel »Money Honey« erhielt. Darin sagt eine Frau ihrem Freund, dass die einzige vVährung, die für sie zähle, Liebe sei. Sullivan weiß noch, wie ihm Gaga jenes Lied zum ersten Mal vorspielte. »Ich sagte: >So hieß doch ein ElvisSong.«< Sie wusste nicht, wovon er sprach, meinte nur: »Egal.« Dann, so Sullivan, hörte Akon »Money Honey«. (Akon ist ein senegalesischer Sänger, Songschreiber und Produzent, der mit seiner Debütsingle »Locked Up« (2004) den Durchbruch hatte und bei Interscope zu den Künstlern mit den meisten Plattenverkäufen zählt.) Sullivan: »Akon begriff sofort, dass es keinen Grund gab, diesen Song von den Pussycat Dolls singen zu lassen, wenn doch Gaga selbst damit prima auftreten könnte. Er begann seinerseits Gaga zu pushen. «
Und sehen, wir schreiben das Jahr 2007, verschafft ihr Besencon - Gagas Manager bei Interscope - einen Auftritt auf dem Lollapalooza-Festival. Ab da - das jedenfalls ist der in Fusaris Klage genannte Zeitpunkt fingen Besencon und Gaga an, ihn auszubooten. »Diese Vorgehensweise ist für die Musikbranche kennzeichnend«, sagt Josh Grier, ein Medienamvalt, der \Vilco und Ryan 136
Adams vertritt. »vVas sich bei Fusaris Klage wahr anhört«, so Grier, sei die Anschuldigung, dass Fusaris Manager - also Besencon - erkannt haben muss, wo das echte Talent stecke. »So dass er seinen eigenen Künstler verarscht. Im übertragenen Sinn steigt er mit Gaga ins Bett, schließt also einen separaten Deal mit ihr ab und haut Fusari damit in die Pfanne. Diesen Teil von Fusaris Story glaube ich voll und ganz.« Der Auftritt beim Lollapalooza versetzt Gaga keinesfalls in Aufregung. Sie würde zu jenen Acts gehören, die wie eine Granate einschlügen, dessen war sie sich sicher. Das Lollapalooza war einst das größte und einflussreichste Rockfestival in den USA und wurde von Perry Farrell, dem Frontmann von Jane's Addiction 1991 ins Leben gerufen - zu einem Zeitpunkt also, als die Popularität der sogenannten Alternative-Musie ihren Gipfelpunkt erreichte. Farrells vorrangige Idee bestand darin, ganz unterschiedliche Musikgattungen an einem Ort zusammenzubringen. Im Programm standen demnach Acts aus der Hip-Hop-, Electronica-, lndustrialund Post-Punk-Szene. \Vährend der auftrittfreien Zeit konnte man sich zudem auf dem Gelände tätowieren oder piercen lassen. 1997 hatte das Lollapalooza allerdings seine Bedeutung en:vas eingebüßt. Kurt Cobain ·war schon gut drei Jahre tot, und die Alternative-Kultur ging in den Mainstream ein. Boygroups ('N Sync, Backstreet Boys) sowie die von Disney hochgezüchteten Teenage-Acts (Christina Aguilera, Britney Spears, Mandy Moore) dominierten die Charts. 137
1998 löste sich das Lollapalooza auf, als es den Organisatoren nicht gelang, fürs Festival einen Headliner zu verpflichten. Es wurde von dem 1999 gegründeten, dreitägigen Coachella Musikfestival, das einen ganzheitlieberen Ansatz verfolgt und in Kalifornien beheimatet ist, in Hinblick auf Bedeutung und Einnahmen ersetzt. Coachella verstand und versteht sich immer noch als ein Alternativfest, die Liste der dort auftretenden Künstler beweist Gespür für Balance. 2010 traten dort auf: Jay-Z, Radiohead's Thom Yorke, MGMT, Sly and the Family Stone, LCD Soundsystem, The Specials sowie Pavement. 2003 konnte Farrell, der eine Partnerschaft mit »Capital Sports & Entertainment« einging - dem heutigen »C3 Presents« - , das Lollapalooza nach dem Muster von Coachella \:vieder aufleben lassen. Es wurde ein mehrtätiges Musilüestival an einem festen Ort: Chicago. Genauer betrachtet, \:var Gagas Auftritt im Sommer 2007 ein eher kleiner Gig - sie trat noch nicht einmal auf einer der Nebenbühnen auf. Sie war für eine der kleineren Bühnen verpflichtet worden, die nach dem Namen ihres Sponsors - »Broadcast Music, Inc.« - BMI hieß. »In erster Linie sind wir an Musikern interessiert, die am Beginn ihrer Laufbahn stehen«, sagt Huston Po·well, Promoter bei »C3 Productions«, der Gaga für das Lollapalooza verpflichtete. »Denn die sind nicht besonders kompliziert. «
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Als Headliner standen auf dem Programm jenen
Jahres Pearl Jam, Daft Punk und Muse. Obwohl es ihr bis dahin größter Gig war, ließ sich Gaga lediglich von wenigen Leuten begleiten: von Fusari, einem Schulfreund sowie von Lady Starlight, die beim Festival als Gagas DJ fungierte. Gaga war am zweiten Tag dran, dem 4. August 2007. Als sie die Bühne betrat, war die Sonne noch nicht untergegangen. Von Beginn an lief es für sie nicht gut. Mehrfach hielt man sie für Amy \Vinehouse, was allerdings einen Vorteil hatte - die Paparazzi schenkten ihr viel Aufmerksamkeit. Starland bleibt dabei: Hinter Gagas Ähnlichkeit mit \Vinehouse lag keine Absicht. vVinehouse war mit ihrem Album Back to Black zu einem der größten Stars des Jahres geworden. Diese Platte, die- ganz wie Gagas Debüt- beinahe Verkaufsrekorde brach, handelte von einer Trennung, von Drogen betäubt, mit zerrissenem Herzen und voll Trauer durchlebt. »Massen an Reportern liefen Gaga hinterher, nannten sie Amy und fragten sie, was sie denn hierzu meine und dazu «, erinnert sich Starland. Gaga sagte ihr gegenüber immer wieder nur: »Ü mein Gott, wie furchtbar.« Sie wusste genau, was ihre erfolgreicheren Kolleginnen taten, schätzte es, aber mit ihnen verwechselt ·werden, das wollte sie nicht. Sie wusste von Lily Allen, die wie \Vinehouse eine dunkelhaarige, trinkfeste britische Sängerirr mit vulgärem Mundwerk ·war. Allen landete mit ihrer Single »Smile«, einem mit Dub-Elemen139
ten versehenen Lied, einen riesigen Crossover-Erfolg. »Als Lily ganz oben bei Charts und Verkäufen angelangt war«, meint Starland, »sagte Gaga: >Ich muss sie im Auge behalten. Da oben gibt's nur Platz für mich. <« Beim Soundcheck wackelte der DJ-Tisch , so dass Gaga Besencon um einen Ersatz bitten musste. Besencon aber improvisierte - behelfsmäßig stabilisierte er das ZU kurze Tischbein. vVas aber zur Folge hatte, dass während des Auftritts die von Starlight aufgelegten Platten uneben liefen. »Sie und Starlight wollten den Leuten im Publikum zeigen, was New York zu bieten hatte«, sagt Sullivan. »Sie waren auch der Meinung, dass man eine Open-Air-Show ganz anders aufzieht.« Gagatrat in einem schwarzen Bikinioberteil auf. Ihre Bewegungen zu den Dancefloorklängen stammten aus den Striptease-Sho-ws. Sie sorgte für Verwirrung, als sie dem Publikum den Rücken zudrehte und sich beugte und ·wand. »Von Beginn an ging sie hart ran«, sagt Powell von »C3«. »Sie schien sehr selbstsicher zu sein. Die Leute waren ziemlich fasziniert von ihr.« Er schätzt, dass sich ungefähr 7 5 000 Menschen auf dem Gelände befanden. Nur ein Bruchteil von ihnen - wie sich herausstellte, an die 200 - sah Gaga singen und tanzen. Immer noch das größte Publikum, vor dem sie je aufgetreten ·war. »Sie trat auf der kleinsten Bühne auf«, sagt Quinn Donahue, Talenteinkäufer bei »C3 Presents«. Donahue half Gaga beim Aufbau und war überrascht, dass sie lLID
lediglich ihren Manager sowie ihren DJ im Schlepptau führte. Er half ihnen mit den Plattenspielern und Mischpulten; er sagt: »Ich weiß nur noch, dass sie es mit dem Aufbau gerade so eben in der angesetzten Zeit schafften.« Genauso wie Powell kannte Donahue Gaga von MySpace. Doch er wusste überhaupt nicht, was er bei Lollapalooza zu erwarten hatte. Nichts an ihrem Sound schien ins Festivalkonzept zu passen , doch Gagas Bühnenpräsenz konnte niemand leugnen. »Sie hatte Charisma«, sagt Donahue, der ihren 45-minütigen Auftritt aufmerksam verfolgte. »Erst musste die Menge mit ihr warm werden. Als sie es tat, fuhr sie auf Gaga voll ab. Sie stahlallden anderen die Show.« Sullivan sagt, Gaga habe ihren Auftritt ganz anders erlebt: »Auf der Bühne musste sie sich mit jedem denkbaren technischen Problem rumschlagen. Sie fand sich deplatziert. Die Platten wackelten auf den Plattenspielern. Im Bikini postierte sie sich hinter einem Synthesizer, was ihr ausgesprochen unse.A.ry erschien. « Als DJane arbeitete Starlight nie mehr für Gaga. Sie wurde aber zu Gagas Stylistin. »Ich mag Starlight sehr«, sagt Sullivan, dessen Zusammenarbeit mit Gaga kurz nach Lollapalooza startete »aber als DJ war sie fehlbesetzt. Bei mir würde eine Platte rund laufen.« Beim Lollapalooza des Jahres 2010 ·war Lady Gaga einer der Headliner. \Vobei sie sich mit der Bekanntgabe, ihre Bühnenshow koste sie 150 000 Dollar, zu dem Festival-Headliner schlechthin krönte. lLll
Nach Lcllapalccza war Arbeit angesagt: Perma-
nent wurden Songs geschrieben, wurde aufgenommen und an Gagas Image gefeilt. Über einen eindeutigen ästhetischen Stil verfügte sie immer noch nicht. Aus Mangel an Ideen bevorzugte sie unverändert einen Heavy-Metal-Stripper-Look. Ihr war klar, dass sie stets außergewöhnlich auszusehen habe - sie sah allerdings aus wie ein Kandidat für die Flop-Seite der Zeitschrift Vice, in der die Hipster von New York City ihre boshaften Kommentare zur Street Fashion abgeben. Sie mühte sich ab, in den Dunstkreis von Jimmy lovine zu gelangen, dem 7 5-jährigen Boss von lnterscope, der das Unternehmen 1990 gegründet und unter anderem Platten für U2, Patti Smith, Tom Petty & The Heartbreakers produziert hatte. Iovine agierte außerdem als Koproduzent von 8 Mile, einem auf dem Leben Eminems beruhenden Kinofilm. lovines Ansehen stand also völlig außer Frage. »Auf seinem Gebiet, auf dem Gebiet der Popmusik und von Hip-Hop und R&B gilt lovine als Experte«, sagt ein Kenner der Branche. »Das Problem aber ist, dass man von ihm stets erwartet, ein >Künstler-Kumpel< zu sein«- die Sorte Produzent demnach, der Talenten Zeit für ihre Entwicklung lässt, sie bedingungslos fördert und unterstützt. »So ist es aber nicht«, fährt der Kenner fort. »Sein Ruf verleitet zu dem Gedanken, er würde jeden, von Grizzly Bear bis Beck, verstehen, doch es geht ihm dann 1LI2
doch nur um die nächste Erfolgssingle.« Angesprochen auf die Zusammenarbeit zwischen Iovine und Akon, gibt jener Kenner zu, dieser Idee skeptisch gegenüber gewesen zu sein, dennoch Akon dazu ermuntert zu haben. Die Zusammenarbeit wurde ein Erfolg. »vVir erkannten das Potenzial nicht«, gibt der Kenner zu. »\Vir erkannten Akons Stärke als Künstler nicht, Jimmy Iovine aber schon.« Iovine sei der Strippenzieher, der bei jedem Act der Universal, der Muttergesellschaft von Interscope, die Fäden in der Hand halte, sagt Starland. Zwar hoffe ein jeder Künstler bei einem abgeschlossenen Deal auf uneingeschränkte Förderung seitens der Plattenfirma, doch das Label selbst habe lediglich Geld, um eine geringe Anzahl von ihren Künstlern zu pushen. Eine Version der Ereignisse besagt, Iovine habe Akon in seinem Büro ein paar Musikstücke vorgespielt und ihn um seine Meinung gefragt. Als er »Boys, Boys, Boys« von Gaga auflegte, mochte Akon das Lied sofort. »Also rief Jimmy Iovine an einem Sonntagnachmittag Gaga an«, erzählt der Kenner, »sagte ihr: >Stefani, Gaga, wie auch immer du heißt: vVir mögen deinen Song und werden dich unterstützen.
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Akcn hat [jaga einmal als sein »Zugpferd« be-
zeichnet. Sie sei es, die es ihm ermöglichte, darüber nachzudenken, früh sich in Rente zu verabschieden. Als er sie zum ersten Mal hörte, sagte er zu Iovine: »Sie muss bei mir unterschreiben. Sie muss unter meiner Obhut arbeiten.« Unterzeichnen sollte sie bei Kon Live, jenem Label, das er unter dem Firmendach von Interscope leitete. Iovine sagte zu Akon: »Schön. Nimm sie. Mach's klar.« Und Almn machte es klar. Mit Gaga war da eine Künstlerin, die dank ihres unglückseligen Deals mit Island Def Jam eine ganze Reihe von ausgearbeiteten Stücken vorweisen konnte. Doch die reichten für ein ganzes Album nicht aus. Gaga musste ·w eiterschreiben. Jene Lieder aber, die ihr oder Iovine beziehungsweise Akon nicht gefielen, wurden an andere Künstler weitergeleitet, an die Pussycat Dolls, an die New Kids on the Block und an Gagas Teeniezeit-Idol Britney Spears - es handelte sich hierbei um das Stück »Quicksand«, an dem Gaga mitgeschrieben hatte. »Sie lehnten viele ihrer Songs ab, sehr viele sogar«, sagt Sullivan. »Dabei hatte Gaga für die Pussycat Dolls geschrieben. Doch das hinderte sie nicht daran, ihre Songs abzulehnen.« Ganz ähnlich wie beim Schreiben von >>The Farne« für Herbert spürte Gaga auch diesmal einen Druck, ahnte, dass dies erneut ein Schlüsselmoment war. Sie schrieb »Just Dance«, eine großartig dekadente Rock-'n'-RollNummer. Die Vorgeschichte dazu: Gaga zieht auf un-
bestimmte Zeit nach L. A., steigt dort aus dem Flieger, noch betrunken von ihrer Abschiedsparty am Vorabend, begibt sich ins Plattenstudio, Minuten später sprudelt dieses Lied, eine Ode aufs Feiern, aus ihr heraus. Sullivan bez\veifelt diese Geschichte aber. Er, wie so viele andere Freunde, kennt Gaga als jemanden, der sich, angetrieben vom Ehrgeiz, kaum den Drogen hingab. Er vermutet eher, sie habe sich bei »Just Dance« mit eisernem \Villen und Disziplin an die Arbeit gemacht. Es ging ja auch um einiges. Es galt ja, einen todsicheren Hit zu schreiben, ein Lied, das Interscope dazu bewegen sollte, aus Gaga einen Star zu machen. Derweil hoffte Starland auf eine gerechte Entlohnung ihrer Arbeit. Starland verbrachte vVeihnachten 2007 bei Gagas Familie, in der vVohnung an der Upper vVest Side. Laut Starland soll Gaga wütend auf Fusari gewesen sein, der zu kommen versprochen hatte, aber an jenem Abend nicht auftauchte. Gaga habe ihr, so Starland weiter, ein »Chanel 2.55«-Bag im Wert von mehreren Tausend Dollar geschenkt - dies sollte ein Lohn dafür sein, dass Starland sie entdeckt und Fusari vorgestellt hatte. Erst Tage später machte Starland, enttäuscht über ihr Verhalten, Gaga darauf aufmerksam, wie wertvoll Beziehungen und Kontakte im Leben sein könnten. Laut Starland erwiderte Gaga: »Beim nächsten Mal werde ich dir keine Tasche schenken, sondern einen 145
Urlaub.« Darauf Starland: »vVillst du mich linken? '"~o \värst du heute ohne all meine Arbeit, ohne meine Verbindungen?« Gaga dann: »Solltest du über Anwälte gehen wollen, werde ich kein vVort mehr mit dir reden , dann ist unsere Freundschaft vorbei. « Starland entschied sich gegen eine Klage - es sei nicht ihr Stil, sagt sie. Doch ihr Verhältnis zu Gaga war seither kühl und angespannt. »Bei den Meetings verhält sich Jimmy Iovine wie Steve Jobs. Er lässt warten, bis er bereit ist«, sagt Sullivan. »Und dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder es ist eine Sorte Meeting, bei dem es heißt: >Keiner von euch arbeitet anständig. Ich weiß gar nicht, warum ich euch eingestellt habe.< Oder es ist jene Sorte, zu der er die Leute einberuft, weil er Musik gehört hat, deren Vermarktung keinen Aufschub duldet.« »Iovine hörte >Just Dance< und meinte: >Das ist ein Hit. Auf den haben wir gewartet, seitdem sie bei uns unter Vertrag ist.«< Danach - wir schreiben das Jahr 2008 - führte Iovine Gaga ins Büro, wo sie ab nun am Meeting teilnahm. »Er sagte zu ihr: >Du hast all das getan, um was wir dich gebeten haben. 'Vir haben an dich geglaubt, wussten aber nicht warum. Jetzt wissen wir's.
der Maiausgabe der Zeitschrift Esquire - , rief sie Bert Padell, Madonnas früherer Geschäftsführer, auf ihrem Handy an. Er bot an, sich um ihre Geschäfte zu kümmern. Sie konnte es kaum glauben. Padell spielte immer in einer anderen Liga als sie, sie hatte bei ihm sogar mal als Teenager vorgesungen. »Gagas Vater ist ein sehr umsichtiger Geschäftsmann«, meint Sullivan. »Er kann praktisch mit jedem ein Treffen arrangieren.« Doch ihre Mutter scheint genauso umsichtig zu sein. Bevor nämlich Gaga bei Padell vorsang, erkundigte sie sich über ihn - und erfuhr, dass er Gedichte schrieb. Auf Gedichte sprach Padell die junge Stefani auch prompt an, schenkte ihr ein Exemplar seines Gedichtbands sogar. Aus Stefani war mittlerweile Gaga geworden und die sagte zu ihm jetzt: »vVir haben uns schon mal getroffen. Meine Mutter besitzt immer noch Ihren Gedichtband. « Zu Sullivan gewandt sagte sie aber: »Dies war das beste Telefonat meines Lebens.« Vlas Gagas Freund Lüc anbelangte, so wurde der zunehmend unglücklicher. »Lüc gab seine Rock-'n'-RollvVelt nie auf, obwohl er es als Drummer nicht gepackt hatte«, so Sullivan. »Er hoffte, dass eine Freundin mit einem Plattenvertrag seinen Status heben, Einladungen zu VIP-Sho-ws nach sich ziehen würde. Er ahnte nicht, dass Musiker zu sein, ein eigener Beruf war. Es bedeutete mitunter, dass seine Freundin viel unterwegs sein oder aber an ihrem BlackBerry hängen \Vürde.« 1-47
Die Beziehung der beiden gelangte zwangsläufig an ihr Ende. Als sie sich eines Abends wieder einmal stritten, weil sie arbeiten musste und er sich bei ihr darüber beschwerte, sagte Gaga: »Reich mir meinen Selbstbräuner, meinen Lippenstift und die DiscokugeL Es ist aus mit uns. «
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EINE PAILLETTE NACH DER ANDEREN
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=----m Netz
hatte sich Gaga eine ziemlich große
und solide Fangemeinde aufgebaut. Das ist keineswegs einfach, denn Internet sichert nur kurzzeitig Aufmerksamkeit und erzeugt unentwegt schnellvergängliche Phänomene. Eine Sorte Künstler, der ursprünglich aus dem Web kommt, sich auch im Fernsehen, in Zeitschriften und Zeitungen etablieren kann und den sogar Menschen ohne Computer kennen, diese Sorte Künstler ist rar. Susan Boyle, die ein paar Monate vor Gaga zu weltweitem Ruhm gelangte, kann als ein solches seltenes Beispiel gelten. Ihr Auftritt in der britischen Show Britain's Oot Talent wurde im \Veb platziert - achtzehn Monate später ·war sie Multimillionärin. Natürlich spielte dabei Boyles Lebensgeschichte eine Rolle (Boyle war eine Frau mittleren Alters, die mit ihrer Katze alleine lebte und noch nie verliebt gewesen war), ebenso die Machart des im \Veb vorgestellten Clips, vor allem aber der Mut einer hausbackenen Jungfer, in ihrem Lied Träume zu formulieren, sowie ihre Fä151
higkeit, em skeptisches Publikum mit Ehrlichkeit zu rühren. Gaga steckte aber nicht in Formaten wie American Idol bzw. Britain's Got Talent (in Deutschland: Deutschland sucht den Superstar). Sie sollte absichtlich verwirrend, sogar ein bisschen bedrohlich wirken. Gagas erste Single hob sich von der Masse der glatt produzierten Popstücke der Gegenwart überhaupt nicht ab. Sie war noch dabei, in einer vollkommen überladenen Musiklandschaft ihre eigene Identität herauszuarbeiten. Zuletzt gelang es ihr. »Sie hat einen gefährlichen Balanceakt gut gemeistert. Sie suchte die Nähe ihrer Anhänger, blieb aber trotzdem rätselhaft«, sagt Garland. »Mit Twitter und Facebook und MySpace gibt es zwar Plattformen sogenannter >Massenintimität<, die aber nur in den seltensten Fällen funktionieren. \Veil doch jeder inZ\vischen weiß, dass da nicht mit einem persönlich kommuniziert wird.« Garland sagt: »\Ver mit zehn Millionen vermeintlicher Freunde kommuniziert, findet keine Zeit für echte Nähe . Manchen Künstlern aber gelingt das trotzdem. \Vährend mancher Live-Auftritte haben selbst Leute auf den billigen Rängen das Gefühl, einer ganz persönlichen Sondervorstellung beizuwohnen. « Im Mai 2010 wurde ein YouTube-Clip eines zwölfjährigen Jungen mehr als achtzehn Millionen .Mal aufgerufen. Darin singt der Junge, Grayson Chance mit Nam en, eine Cover-Version von Gagas »Paparazzi«. Chance trat in der Ellen De Generes Show auf. Dort rief ihn Gaga 152
an. Sie schwärmte von seinem Talent und verhalf ihm zu einem Plattenvertrag. \Vie all die anderen traditionellen Medien - Fernsehen, Radio, Print - schlägt sich die Plattenindustrie sowohl damit herum, weiterhin für die Kultur relevant zu sein als auch - im Zeitalter des lnternets - ihre Gewinnmargen beizubehalten. Und obwohl eine Firma wie Interscope durchaus über die Infrastruktur verfügt, um eine Lady Gaga zu erschaffen und durchzusetzen, bedeutet es nicht automatisch langfristigen Erfolg. »Einen Star zu kreieren gestaltet sich heutzutage sehr schwierig«, sagt jemand, der die Strategien kennt, die lnterscope für die Gaga-Kampagne anwendete. »Einst konnten wir beim Musikkonsumenten einen Song durchdrücken. Das Lied wurde einfach täglich hundert Mal im Radio gespielt, so dass die Kids letztendlich meinten, dies müsse ein Hit sein. Und schon zogen sie los und kauften die Platte und machten sie tatsächlich zum Hit. Heute sind Popkonsumenten im Schnitt zwischen dreizehn und zwanzig Jahre alt und um einiges cleverer. Sie verfügen über eine Vielzahl an Informationsquellen. Sie kleben nicht nur am Radio und sagen dann: >\Venn Ryan Seacrest meint, das Lied sei ein Hit, dann ist es auch ein Hit<, sondern sie bilden sich unabhängig ihre eigene Meinung. Um einen Künstler zu etablieren, muss dessen Präsentation ein gewisses Etwas vorweisen können. Siehe Lady Gaga.« »Lady Gaga dürfte, was die Starentwicklung anbelangt, wahrscheinlich die großartigste Geschichte der 153
jüngeren Zeit sein«, sagt James Diener, Präsident von A&M Octone Records. Ihr Durchbruch sei nicht alleine auf ihre Person zurückzuführen, sie arbeite vielmehr härter als die meisten anderen, um erfolgreich zu sem. Und Garland meint gar: »Die Branche sollte sie an sich drücken, ihr einen I-laufen Geld schenken. Zur Zeit gibt es keinen besseren Geschäftspartner als sie.«
Die Marketingstrategie in der Phase der Vorver-
öffentlichung sah vor, Gaga als Teil der Schwulengemeinschaft zu etablieren. Damit hätte sie nicht nur einen treuen Konsumentenstamm mit ansprechendem Einkommen auf ihrer Seite, sondern könnte ebenfalls als Outsider gelten - trotz des kommerziellen Sounds ihrer Musik. Interscope beauftragte »FlyLife«, eine PRFirma mit Sitz in New York, die sich auf den Schwulenmarkt spezialisiert hat, Gaga-Gigs in angesagten Schwulenclubs zu verschaffen , entsprechende DJs zu kontaktieren, die ihre Platte auflegten, alles in allem: Gaga mit den für die Plattenpromotion hilfreichen Leuten zu umgeben. »Eindeutig. Sie pushten sie in Richtung eines schwulen Publikums«, sagt der Rapper Caz·well, der von »FlyLife« abgestellt wurde, mit Gaga aufzutreten. Inzwischen wollte Iovine Gaga auf der \Vinter Music Conference (WMC) auftreten lassen, bei der sich alles um Tanz dreht und die im März stattfindet. Sullivan 154
versucht, sich an jene Zeit zu erinnern. Er schaut in seinem Handy nach Datum und Zeit der von ihm damals gesendeten Nachricht. »Am 1. März schickte ich Gaga eine SMS, um 14:43 Uhr genaugenommen. Sie lautete: >\Virst du an deinem Geburtstag zu Hause sein?< Gaga rief mich sofort an und meinte: >Nein. Jimmy will uns pushen, wir werden in Miami sein, bei der \Vinter Music Conference , dort Branchenleute treffen. Sie sollen sich unsere Platte anhören. vVenn alles gut läuft, fliegen ·wir direkt danach nach Los Angeles, um ein Video für >Just Dance< zu drehen. <« \Vährend Gaga endlich dorthin zu gelangen schien , worauf sie hingearbeitet hatte, dennoch verhältnismäßig ruhig blieb, war Sullivan verwirrt: »Lange hat sich keiner unsere Auftritte angeschaut. \Vir mussten betteln, damit jemand in die Clubs kam. Jetzt flogen wir plötzlich nach Miami. « So aber verlief eben Gags Karriere: In der einen Minute schien es nirgendwohin zu gehen, in der anderen war alles drin.
Obwohl sie ver einer Menge technisch versierter
Leute auftrat, gibt es von Gagas Auftritt auf der \V.MC kaum ein Dokument auf Film - lediglich einen unscharfen Clip mit schlechter Tonqualität sowie ein zehnminütiges Interview, das anscheinend gemacht wurde, um Kabelanschlüsse zu prüfen. Diese Bilder zeigen Gaga 155
im sogenannten »Discohöschen«, das aus lauter Spiegeln einer Discokugel zu bestehen scheint, einem flatternden weißen Piratenhemd, mit einer Sonnenbrille und frisch blondiertem Haar. Sie kämpft ständig mit ihrer Ponyfrisur und erzählt später einem Interviewer, wie sehr sie von Jimmy Iovine gemocht wird. »Ich gehöre zu der Sorte Mädchen, die er sicher gern zum Abschlussball ausführen würde«, sagt sie. »Ich bin eigenartig, komme aus Brooklyn, bin eine Italienerin.« Abgesehen davon, dass sie mit dem Brooklyn-Verweis eine Lüge produzierte, zeigte sich Gaga überaus charmant. Sie erklärte ihren Lebenssinn: »Ich verändere die Welt und lege dabei eine Paillette nach der anderen frei.« Sie fasste sich kurz, sprach kehlig und mit einem New Yorker Akzent- weiche 1"s und leicht verschleppte Vokale - hörte sich an wie eine immer gut aufgelegte TV-Köchin. Bei der vVTC trat Gaga tagsüber auf dem Dach des Raleigh auf, eines Viersternehotels. Es gehört Andre Balazs, der immer wieder in den Klatschspalten New Yorker Magazine auftaucht (richtig bekannt wurde er durch seine Verlobung mit Uma Thurman). Für den Hotel-Auftritt musste man improvisieren. »\Vir hatten kein Geld für Kostüme«, sagt Sullivan. »Jede der Backup-Tänzerinnen bekam einhundert Dollar auf die I-land. Es gab keine Einnahmen.« Es gab aber Nebelmaschinen, Reflektoren und Discokugeln. »Mit Hilfe von Haarspray warfen wir Flammen«, erinnert er sich. »Und hatten dabei viel Freude.« 156
Die »Coalition Media Group« sollte im Auftrag von Interscope Gaga promoten. Man hatte dort Erfahrung »Coalition« hatte die Band Scissor Sisters durchgesetzt, indem man sie auf Schwulenpartys und in Schwulenklubs auftreten ließ. »Sie verschafften uns einen Gig in einem Schwule nclub namens Score. Mitten in Miami. Die schwulen Jungs dort mochten uns sehr«, sagt Sullivan. »\~ir waren mit der blasierten Downtown-HipsterSzene durch. \~ir wollten für die Schwulen spielen. In den großen, irren Clubs, wo man uns zu akzeptieren bereit war. Dies war in Miami unser größter Auftritt. Ein Hammer. Danach flogen wir nach L. A., um den Videoclip für >Just Dance< zu drehen. « Das Budget für den Clip war extrem gering. »vVir mieteten ein verwahrlostes Haus«, sagt Sullivan, der den Dreh als chaotisch und vollkommen unglamourös in Erinnerung hat. »\~ir schütteten Champagner auf den zotteligen Teppich, sprangen auf den Möbeln rum, tanzten auf dem Couchtisch«, sagt er. »Dann ertönte der Ruf >Cut!< und wir setzten uns hin, holten tief Luft, und schon kroch der Hausinhaber hervor und meinte: >Du da, setz dich nicht auf die Sofaarmlehne, das tut der gar nicht gut.«< Gaga aber, die in einem Interview über die Cliparbeiten berichtete, übertrieb mächtig, wenn sie von einem »Martin Scorsese-Dreh « sprach. Gaga wohnte jetzt in L. A. Dort versuchte sie, das Album fertigzustellen. In etwa zur gleichen Zeit als der Videoclip zu »Just Dance« entstand, traf sie auf \Var\Vick Saint, einen Fotografen aus New York, der sie für 157
das Album ablichten sollte - Troy Carter, Gagas neuer Manager, den sie bei der Vertragsunterzeichnung mit Interscope eingestellt hatte, stattete Saint mit dem Auftrag aus. ( Carter, ein afroamerikanisches Kraftpaket, mit knapp 1, 70 Meter allerdings recht klein, hielt sich eher im Hintergrund auf; zu Carters Kunden zählen unter anderem die Bands Freeway und Eve.) Gaga traf sich mit Saint auf ein Bier im »House of Blues«. »Sie wirkte ziemlich sexy«, sagt Saint, »was aber keineswegs an ihrer Kleidung lag.« Gaga hatte eine Jeans an, ein locker sitzendes T-Shirt und eine Lesebrille auf. Saint fand sie sehr reif für ihr Alter. »Sie zeigte sich sehr gescheit, sehr kreativ«, meint er, »Sprach viel von ihrer Familie, speziell von ihrem Vater.« Kurz darauf hatte das Label einen Dreh in einer L.-A.-Bar angesetzt, die Bordello hieß - und z·war von sechs Uhr morgens an bis nachmittags um sechzehn Uhr. Saint erinnert sich, dass er von Gagas Stylistin ·wenig begeistert war. Sie übertrieb. Er empfahl Gaga eine Freundin, Martina Nilsson. Gaga lobte Nilsson sofort, indem sie Saint gegenüber sagte: »Sie 'veiß auf Anhieb, was ich will.« Nilsson war engagiert. Der Dreh begann, Gagas Musik kam aus den Lautsprechern, und Gaga selbst übernahm sofort das Kommando. Laut Saint ist das ungewöhnlich. »Es gibt Künstler, die stellt man vor eine Kamera auf. vVas dann folgt, das wirkt, als versuche man aus einem Stein Blut zu saugen«, sagt er. »Doch Gaga schaltete sofort auf Performerin. Für einen Fotografen ist dies ein Traum. 158
Sie nahm lauter beeindruckende Körperhaltungen ein. Ganz offensichtlich liebte sie es, vor einer Kamera zu posieren. Sie mochte es, alle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. « Nach dem Dreh schaute sich Saint mit Gaga die Bilder an. Trotz ihrer draufgängerischen Art am Set, sagt Saint, hätte sie Komplexe gehabt. »Vor allem wegen ihrer Nase. Sie dachte darüber nach, sie korrigieren zu lassen. Ich riet ihr ab.« Lady Gaga sollte vor den Interscope-Bossen auftreten und Aliya Naumoff sollte diesen Auftritt filmen (dies diente dazu, alle im Konzern wissen zu lassen , wen man da auf den Markt brachte). Naumoff erinnert sich, bei Gaga keine Unsicherheit bemerkt zu haben. Gaga trat auf einem Dach in Manhattans Midtown auf, begleitet von zwei Backup-Tänzerinnen, die sie nicht besonders gut kannte. »Es haute mich um, wie zuversichtlich sie war«, sagt Naumoff. »Dabei war sie doch das Mädchen , das die nächste Madonna, die nächste Britney werden sollte. Beide vielleicht sogar in einer Person .« Ein paar Abende später sah Naumoff Gaga im Mansion, einem Downtown-Club. »Der Laden war zu einem Zehntel gefüllt«, meint Naumoff. »Keiner hörte ihr zu.« Nach dem Auftritt ging Naumoff, die ihre Arbeit mit Gaga bei Interscope als angenehm empfunden hatte, zu Gaga hin, um sie zu beglückwünschen. »Sie schickte mich weg. Wünsche waren ihr egal«, sagt Naumoff lachend. »Ich war nicht beleidigt. Ich wusste: Sie schafft es. Niemand ·wird sie aufhalten.« 159
»Just Dance« wurde veröffentlicht, die Single lief schleppend an. Erst im Januar 2009, fast fünf Monate nach der Veröffentlichung, erreichte das Lied schließlich Platz eins von Billboards Hot 100. Saint sandte Gaga ab und an eine S.MS, in denen er ihr gratulierte, sobald er ihren Videoclip im Fernsehen sah. Und Gaga ihrerseits schrieb Saint etwa hoch erfreut: »Der kanadische Rundfunk spielt meine Lieder.« \Venn Gaga mit ihren anderen Freunden oder Bekannten sprach oder Nachrichten austauschte, dann ging es meistens um sie und ihre Karriere. Saint: »Je berühmter sie wurde, umso seltener antwortete sie einem.« Im April erhielt Starland, die ebenfalls gerade nach L. A. umgezogen ·war, einen Anruf von Gaga, die sagte: »Ich bin mit jemanden zusammen. Mit meinem Stylisten. « Dabei handelte es sich um Matt \Villiams, der so alt wie Gaga war und vor kurzem aus New York an die \\Testküste zog. »Er ist Unternehmer. Die Leute sind neidisch auf ihn, weil er erfolgreich ist« - dies erzählte Gaga Starland ebenfalls. Ferner berichtete sie von einem Interview, das sie gerade dem Rolling Stone gegeben habe und wo sie ihre Entdeckung Starland zuschriebe. Also sprachen sie wiederholt darüber, ob Starland eine Entlohnung dafür verdiene, Gaga mit Fusari zusammengebracht zu haben. Gaga, so Starland, hielt es für zu übertrieben, Geld dafür verlangen, wenn man zwei Künstler miteinander bekanntmacht. Gaga sagte, so Straland: »Irgendjemand hat dich doch auch Moby vorgestellt«- und wies damit 160
auf die Zusammenarbeit zwischen Starland und Moby bei dem Album Last Night (2008) hin und auf Starland als Leadsängerin auf der Moby-Single »I'm in Love«. Starland aber erwiderte, Moby habe sie auf MySpace aufgetan, jedoch es Gaga ohne ihre Hilfe vielleicht nie geschafft hätte ... Seither sprachen die Frauen nie wieder miteinander. Die Auseinandersetzung mit Starland scheint für Gaga untypisch, denn an sich liegt es ihr nicht, Menschen aus ihrem Leben zu verbannen oder gar zu entlassen. \Veit lieber verschwindet sie allmählich aus dem Leben der anderen. Bei Entlassungen schickt sie jemanden aus ihrem Mitarbeiterstab vor, behauptet - wenn zur Rede gestellt - von einer Entlassung nichts zu wissen. David Ciemny, der eineinhalb Jahre lang als Gagas Tourmanager fungierte, ·weiß genau, wie sie vorgeht. Als er nämlich Gaga zu einer Tour zu animieren versuchte, sagte sie: »Du siehst anders aus. Für eine Tour scheinst du mir noch nicht bereit.« Er sei verwirrt gewesen, meinte: »Doch, das bin ich.« \Vorauf Gaga: »Nein, das glaube ich nicht.« Einige Monate vergingen, dann schrieb Ciemny Gaga eine E-Mail, in der es hieß: »Keine Ahnung, ob es an dir oder deinem Manager liegt, doch mein Gehaltsscheck ist ausgeblieben.« Er fragte sie, woran er denn dran sei. Ob er nun entlassen wäre oder ob es doch noch eine Chance für ihn gäbe. Sie antwortete ihmperE-Mail zurück, schrieb: »Du bist immer noch bei mir angestellt. Von einem fehlen161
den Gehalt weiß ich nichts. Ich kümmere mich darum. Umarmungen und Küsse, Gagaloo.« Das war es. Von Lady Gaga hörte Ciemny nie mehr. Starland war nicht das einzige Problem aus Gagas Vergangenheit. Fast achtzehn Monate waren vorbei, als Fusari am 17. März 2010 eine Klage in Höhe von dreißigeinhalb Millionen Dollar einreichte. Das Schriftstück, verletzend und sehr emotional verfasst, dokumentierte die Art ihrer Liebesbeziehung. Die erste Seite der Klage beinhaltete eine äußerst unübliche »Einführung«, die als solche auch gekennzeichnet ist. Sie beginnt mit einem Spruch von \Villiam Congreve.
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Der Himmel kennt keinen Zorn wie Liebe, die zu Hass wird, nach kennt die Hiille eine Wut wie die einer verachteten Frau.
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Hiernach folgt eine Erläuterung von Fusari. »Jedes Geschäft ist personengebunden«, schreibt er. »vVenn persönliche Beziehungen zu romantischen Verstrickungen führen und Geschäftliches damit einhergeht, steht alles in Flammen, sobald die Beziehung zusammenbricht. Das geschah hier.« Er hätte als Tantiemen lediglich zwei Schecks von Lady Gaga erhalten, schreibt Fusari wei162
ter, einen über 203 000 Dollar sowie einen weiteren über 394 965. Wobei auf ihnen »der Unterzeichnende begleicht damit alle geschuldeten Summen« stehe. \Vas ja bedeutete, dass - sollte Fusari die Schecks unterzeichnen - er jegliche Ansprüche auf zukünftige Zahlungen verliere. Am 19. März reichte Gaga eine Gegenklage ein. Gaga argumentierte, dass Fusari sowohl als ihr Agent als auch ihr Manager fungierte, was laut einer befragten profilierten Medienanwältin gegen die Beschäftigungsgesetze verstoße. Doch was jene Anwältin, die ungenannt bleiben möchte, weit interessanter findet: Fusari, ein Branchenkenner, behaupte im Grunde genommen, er sei von einem jungen, branchenfernen Mädchen ausgebeutet worden. »Normalenveise ist es doch der Künstler, der gegen seinen Manager vorgeht. vVeil dieser ihn ausgenutzt, ihm seltsame Verträge aufgezwungen hat«, meint die Anwältin. Fusari sage in etwa: »Ich hätte einen der üblichen Deals abgeschlossen, doch sie und ihr Vater schlugen einen anderen vVeg vor. Den bin ich mit ihnen gegangen. Jetzt aber sagen sie: >Du kannst uns mal. «< Die Absicht beider Parteien sei es gewesen, sagt jene Anwältin, so viel Medienaufmerksamkeit wie möglich auf sich zu lenken: Fusari versuchte es mit seiner rührseligen Einleitung, in der er eine Liebesbeziehung offenbarte, und Gaga mit ihrer prompten Gegenklage. Der renommierte Medienanwalt Josh Grier glaubt, dass Fusaris Klage gerechtfertigt sei, jedoch Gaga, da 163
sie finanziell gut gestellt sei, die Klage aussitzen dürfte. Gagas Gegenklage hält Grier für außergewöhnlich dünn. »Alles nur abzustreiten, das reicht nicht«, meint er. Gaga kann aber Fusari auf lange Zeit in einen Rechtsstreit verwickeln, was von ihm mehr Geld abverlangen wird, als er sich leisten kann, so dass er schließlich gezwungen sein wird klein beizugeben. »Keiner zieht vors Gericht, so lauten die Spielregeln bei einem Rechtsstreit innerhalb der Musikbranche«, sagt Grier, und schätzt Fusaris Kosten für das Einreichen der Klage auf 25 000 Dollar. Ob Fusari über genug Geld verfügt, um die Klage durchzuziehen, stellt Grier infrage. »Die Prozessanwälte gelten als wahre Geldhaie. Vermutlich kommt es bald zu einem Vergleich. vVie die Details des Vergleichs aussehen, das werden wir aber nie erfahren.« Ganz so, als läse man ein Buch, dem das letzte Kapitel fehle.
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>>MEIN LEBEN DAS SEID IHR<<
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m Mai 2[][]9 trat Ciaga in Schwulenclubs auf, =---schrieb Blogs und gewährte jedem Interviews, der sie
darum bat. Der Zeitschrift HX erzählte sie: »Bei Auftritten in Schwulenclubs habe ich das Gefühl, für meine Freunde zu spielen. Man versteht dort alles, was ich tue.« Später verkündete sie, bisexuell zu sein, mit Frauen intimer verkehrt zu haben, bislang aber immer nur in Männer verliebt gewesen zu sein. >>Im Teenageralter stellten sich viele meiner Freunde als schwul heraus«, erzählte sie MTV. »Ich war auf etlichen Schwulenpartys zu Gast.« »Bei ihrem Image als eine Art schwuler Botschafterin, als Schwulenikone fast, da wird sie sich nicht auf ihre sexuellen Präferenzen festlegen wollen«, meint Ciemny. »Doch es steht fest, dass sie ein Mädchen ist, das Jungs mag. Punkt. Keine ihrer engen Schulfreundinnen ist lesbisch. Aber Künstler mit gewissen Geheimnissen sind nun mal interessanter. « Als Gaga in den USA ihren Durchbruch hatte und mit dem Popstar Katy Perry verglichen wurde, die ge167
rade mit »I Kissed a Girl« emen Hit gelandet hatte, stellte Gaga sich geschickt als authentisch dar, Perry aber als eine Angeberin. Gaga sagte: »Ich benutze meine schwulen Fans nicht, um mir eine Fangemeinde aufzubauen. Ich mag sie aufrichtig. Niemand soll sich von mir benutzt fühlen. « Einer der ersten Künstler, den Gaga für ihre Zwecke engagierte, war der Rapper und Songschreiber Cazwell. Sie ergänzten sich prächtig, denn Cazwell konnte sensibel sein und eine Nachtclub-Größe war er auch. Er hatte sich in der Szene mit Singles wie »All Over Your Face« und »I Seen Beyonce At Burger King« einen Namen gemacht. Schon sein aktuelles Pressefoto, auf dem Blut aus seiner Nase fließt, lässt Parallelen zu Gaga ziehen. Caz·well war erfahren, trat häufig mit Amanda Lepore auf, dem Superstar der Subkultur - dennoch wurde er von einem Mitarbeiter von »FlyLife« darauf hingewiesen, sein Engagement ja nicht zu vermasseln. Er berichtet, was man ihm von »FlyLife«-Seite aus antrug: »Lady Gaga arbeitet äußerst professionell, sei also pünktlich.« Seine Aufgabe bestand darin, bei einem Remix von »Just Dance« zu rappenund mit Gaga gemeinsam bei Gigs in New York aufzutreten. Cazwell berichte von einem Clubkonzert: »Überall im Club klebten Sticker, auf denen >Lady Gaga erobert die \Velt, eine Paillette nach der anderen< stand. « Gaga blieb in seinem Gedächtnis als ein nettes, höfliches, todernstes Mädchen hängen. »Unsere Bühne war in 168
etwa so groß Wie eme gewöhnliche vVohnungstür«, meint er. »\Vir führten trotzdem einen Soundcheck durch. In Sachen Choreografie ging Gaga sehr genau vor. Sie sagte: >Am Ende deines Raps möchte ich dich gerne in die Knie zwingen und dann auf dich steigen.< Und so kam es dann. Sie ritt auf mir. « Von Gagas Professionalität und Entschlossenheit blieb Cazwell tief beeindruckt. Das Publikum bestand laut Cazwell vorwiegend »aus Brooklyn-Hipstern und Downtown-Schwulen«, die von ihrem Auftritt gar nicht beeindruckt waren. Cazwell: »Sie standen allesamt mit verschränkten Armen da und schwiegen sich aus.« In der Musikszene konnte Gaga nicht richtig Fuß fassen, noch nicht einmal am Rande des Mainstream. Alternative Zeitschriften wie Nylon, Paper und V ·waren an ihrer Person überhaupt nicht interessiert. Interscope dachte daran, sie als Vorgruppe für die New Kids on the Block zu engagieren. vVährend viele der Musiker, die sich als »Künstler« bezeichnen, eine Zusammenarbeit mit einer Boygroup abgelehnt hätten, war Gaga bereit, jede sich bietende Möglichkeit zu ergreifen. Im Umgang mit dem vVeb agierte sie geradezu genial - ihr war bewusst, dass sie ihre Botschaften dort kontrollieren konnte. Sie twitterte ständig. Und suchte die Freundschaft des umstrittenen , bissigen Bloggers Perez Hilton, der inzwischen selbst eine Berühmtheit ist und für die Menschen, die er mag, unermüdlich 169
wirbt. Diejenigen, die er nicht mag, haut er hingegen skrupellos in die Pfanne. Gaga v,rar nicht nur immer wieder Thema in Hiltons Blog, sondern schaffte es sogar, dass Hilton sie sogar m ehrfach »meine Frau« nannte. »Sie sah in ihm nicht nur ein Sprachrohr der Schwulengemeinde, sondern auch einen Verbündeten, der ihre Karriere ankurbeln konnte«, sagt Ciemny. »Hinter dieser Freundschaft steckte vom ersten Tag an Berechnung. « Gaga lud Hilton zum Essen ein, telefonierte mit ihm oft. Als sie berühmter wurde, nahm sie ihn mit auf ihre Tour und zu ihren Maniküre- und Pediküreterminen, wo er sie fotografieren durfte. Die Bilder zeigte er dann auf seiner \Vebsite. Und an Halloween 2009 verkleidete sich Perez Hilton als Lady Gaga. »Sie schickte ihm Videoclips und Songs. Und z·war sofort, nachdem sie fertiggestellt waren. Sie sagte: >Die sind für Perez. Kein anderer soll sie kriegen«<, sagt Ciemny. »Und er lieferte ihr dafür gute Kritiken. Nie würde Hilton ein schlechtes \Vort über Gaga sagen.« Hiltons erster Beitrag zu Gaga erschien am 8. Juni 2008 und war ein Link zu ihrem Clip »Just Dance«. »Endlich mal wieder eine Künstlerin, die Amerikas Musikszene durchrüttelt und die Popmusik in alter Madonna-Manier aufleben lässt!«, schrieb Hilton da. Und weiter: »>Just Dance< is t die Leadsingle von ihrem neuen Album, und sie hat das Zeug, unsere Sommerhymne zu werden!!! Klickt hier drauf, um euch den 170
Hammerclip dazu anzusehen. Man hat das Gefühl, als ·würden LastNightsParty und The Cobrasnake wieder zum Leben erweckt. Dieses Lied ist ein verdammter Ohrwurm!« »Sie hatte ein untrügliches Gespür dafür, wie sie das Internet zur Vermarktung ihres Albums zu nutzen hatte, noch bevor dies im Radio lief, ins öffentliche Bewusstsein gelangte oder als Clip zu sehen war«, meint James Diener von A&M/ Octone Records. »Noch 2008 war man sich über sie nicht klar. Es umwehrte sie ein Hauch von Geheimnis. Man wusste nicht, wie sie genau aussieht, wohin sie will. Doch übers Internet hat sie eine Fangemeinde aufbauen können. Es gab viel Mundpropaganda in den Blogsphären. Die maßgeblichen Leute im vVeb sahen in ihr eine Popgröße heranwachsen. Als man ihre Singe dann im Radio aufzulegen begann, schlug sie wie eine Bombe ein.« Ende Juni drehte Gaga \Voche für Woche lauter Filme, die ihr Leben unterwegs dokumentierten. Sie nannte das Projekt Transmission Gagavision und stellte die Filme auf ihre vVebsite. Auf MySpace und Facebook war sie nach ·wie vor anwesend. Sie hatte eine Antwort auf die Fragen, die da lauteten: vVie schaffe ich es, das vVirrwarr des vVebs zu durchdringen und eine Präsenz im Internet aufzubauen, die nicht nur Aufsehen erregt, sondern auch noch länger währt? vVie schaffe ich es, eine Präsenz herzustellen, die beständig Leute in ihren Bann zieht, die sich von der 171
virtuellen auf die reale Welt überträgt und dort auch verbreitet? »Das Internet bietet jedem die Möglichkeit, sich nach Belieben weltweit darzustellen«, sagt DiSanto von MTV. »Doch ob man im Gedächtnis haften bleibt, berühmt wird, da kommt es letztlich doch auf den Inhalt an.« Hierbei verweist DiSanto auf den bisher außergewöhnlichsten Erfolg seines Senders, die TV-Realityshow Jersey Shore. »Es ist eine der Erfolgsgeschichten von MTV. vVir erzielen Wahnsinnsquoten«, sagt er. »V\Tenn die berühmte Comedysendung Saturday Night Life auf unsere Show verweist, dann ist das natürlich schön, denn auf diese \Veise werden Leute auf die Show aufmerksam. Aber letztendlich schalten sie nur wegen des Inhalts und der Machart ein. << Auf Gaga bezogen, so DiSanto ·weiter, hieße das: »Es gibt eine Million Künstler und eine Million Kids da draußen, die jeden Tag ihren Kram auf YouTube abladen. vVahrgenommen zu \Verden ist somit einfacher geworden , doch weit schwieriger ist es, bei der riesigen Auswahl, Berühmtheit zu erlangen.« DiSanto glaubt, dass aufgrund der Stoffmengen (denke ich sofort an die Textilindustrie ), die online angeboten ·werden, aufstrebende Künstler »die Dinge von Anfang an breitgefächert angehen müssen«. Und zwar: »Indem sie eine Nische besetzen und ihr Nischenpublikum in exzellenter vVeise bedienen. \Venn Regisseure wie J. J. Abrams oder James Cameron einen Film drehen, zei172
gen sie ihn zuerst auf der Comic-Con, Ameril{as größter Comicmesse. Sie bedienen also Nischenfans, überzeugen sie von ihrer Idee, ziehen sie auf ihre Seite. Da wird eine Nische als Ausgangsbasis benutzt, um von dort aus weiterzumachen. Gaga hat die schwule Fangemeinde brillant bedient, ihre Nische damit besetzt. Schwule wurden zu ihren eingefleischten Fans. Von dieser Fanbasis aus konnte sie ihre Karriere auf breiterer Ebene vorantreiben. Das meine ich mit breitgefächert.«
Bei ihrem ersten lV- Auftritt im Mai 2008, der anlässlich der Verleihung von NewNowNext Awards seitens des Fernsehsenders Logo stattfand, sang sie »Just Dance«. Dave Mace, Vizedirektor der Programmabteilung bei Logo, wusste über Gaga nicht viel: »Sie hatte da erst den einen Clip für >Just Dance\\Tas glaubt diese Frau, wer sie ist?< Es war aber kein Vorwurf. Solch einen Auftritt erwartete man nur nicht von 173
einem Mädchen in ihrem Alter. Sie erinnerte mich stark an Grace Jones. « Mace sagt: »Interscope hat ihr eindeutig mehr Geld zur Verfügung gestellt als den meisten anderen aufstrebenden Künstlern. Sie bezahlten ihr Tänzer, die sie haben wollte, damit sie den Raum bei ihrer Vorstellung füllten. « Der Auftritt fand in den Studios von MTV statt. Der Raum sollte wie ein Nachtclub aussehen, sah aber ganz und gar nicht danach aus. Für die Showproduktion war nicht viel Geld da, das Studio war klein - so klein, dass der größte Teil der Zuschauer nach Hause gehen musste, damit genügend Platz für Gaga übrig blieb. Letztendlich standen nur an die fünfzehn Leute um Gaga rum. Gegen Ende der Sendung kam Gaga zum Zug: Die Kamera blieb nahe an ihr dran, erfasste ihre geometrische Frisur, die mächtige Sonnenbrille, die schwarze Kapuze - sie verfolgte sie sogar auf ihrem \Veg zur Bühne, die sie zielstrebig enterte . Gaga folgten zwei unauffällige Backup-Tänzerinnen. In ihrer engen schwarzen Lederhose, mit dem Kettengürtel und den Schulterpolstern sah Gaga aus, als führte sie eine Miniarmee an, die Sagenhaftes durchzusetzen vorhatte. Christian Siriano, Modemacher und Teilnehmer einer Casting-Show für angehende Designer, traf Gaga bei der Aufzeichnung der Logo-Sendung. »Ich dachte, sie wäre eine weitere komische kleine Transe«, sagt er. Auch sonst 17LI
wenig schmeichelhafte Sätze seien ihm durch den Kopf gegangen, ·wie zum Beispiel: »\Ver ist das denn? Die ist doch ein Niemand. Sie sollte besser nicht so dick auftragen. « Siriano änderte seine Meinung, nachdem er Gagas Auftritt gesehen hatte. »Sie war besonders«, meint er. Als sich die beiden auf der After-Show-Party trafen, fanden sie sich auf Anhieb sympathisch. Gaga machte Siriano Komplimente, der kurz vor dem Finale der Designer-Casting-Show Project Runway stand. »Sie sagte, sie freue sich sehr, mich kennenzulernen. Und dass sie ein Fan von mir sei«, erinnert er sich. »Es war nett. « »Das Lied bei Logo klang großartig. Allerdings gelang die Probe noch besser als der eigentliche Auftritt. Gaga schien ein bisschen enttäuscht«, sagt Mace. Der leuchtende Stab, von ihr »Discostab« genannt, der zu einer ihrer Lieblingsrequisiten geworden war - die Bezeichnung stammt aus einem ihrer Liedtexte; »I wanna take a ride on your disco stick« heißt es dort - leuchtete nicht wie gewollt auf. Wenn man sich die LogoShow anschaut, merkt man unter Umständen, dass sie sich mit dem Stab ein wenig abmüht. >>Sie ist eine Perfektionistin«, sagt Mace. »Sie wollte ihren Auftritt wiederholen, aber das war leider aus Zeitgründen nicht mehr möglich. « Insgesamt war Mace von Gaga angetan. Als ihr Song endete, verharrte Gaga mit angewinkelten Ellenbogen die behandschuhten Hände mit gespreizten Fingern hoch, 175
rechts und links oberhalb ihres Kopfes, das Gesicht ausdruckslos. Sie verharrte in dieser Pose nicht nur ein paar Sekunden lang, sondern mindestens eine Minute, während sich die Moderatoren beim Publikum fürs Zuschauen bedankten und für einen ehemaligen Duettpartner von Gaga warben: »Unsere Show ist jetzt vorbei, aber der Spaß geht mit Cazwell im \Veb weiter. Dort stellt er seinen neuen Song »I Seen Beyonce At Burger King« vor.« Die blonde Comoderatorin streckte vor GagasNase einen Arm aus- Gaga aber stand da, zur Salzsäule erstarrt. Mace berichtet, wie er mit seinen Mitarbeitern fragende Blicke ausgetauscht habe, wie sich alle Anwesenden fragten: »vVas macht die denn da?« Ihnen war aber dann doch rasch klar, dass hier jemand, eine Künstlerin, in eine Rolle geschlüpft 'Nar und sie nicht so schnell verlassen konnte. Im September 2008 konnte Gaga einen kurzen Auftritt in einer Folge der MTV-Reality-Soap The Hills verbuchen, wo sie auf einer Feier sang. Kelly Cutrone, Modepublizistin sowie Reality-Star, erzählte den MTV News, wie es zu Gagas Gig kam: »\Vir waren in L. A. Es war heiß, um die vierzig Grad. Gaga erschien a la Alice Cooper. Ich sagte: >Das gefällt mir nicht, man muss da sofort an Marilyn Manson denken.«< Es ging hin und her, doch man überstimmte Cutrone schließlich. Penibel prüfte Gaga, wie oft ihre Lieder im Radio gespielt wurden. Da es nicht sehr häufig geschah, ging sie des Öfteren nachts in ein kleines Aufnahmestudio, um 176
stundenlang das Intro von »Just Dance« für die verschiedenen Radiosender aufzunehmen - dabei sang sie die Erkennungsbuchstaben des jeweiligen Senders vorweg. So dass zuletzt jede einzeh1e Radiostation in den Vereinigten Staaten über ihre eigene, auf sich zugeschnittene Single verfügte. »Sie kennt einige der Programmdirektoren beim Radio sehr gut«, sagt ihr Ex-Tourmanager David Ciemny, »und ·wenn sie ihr Lied nicht ins Repertoire aufnahmen, fragte sie sofort nach. Sie kannte auch buchstäblich alle Menschen bei ihrem Label. vVenn irgendwo etwas nicht voranging, intervenierte sie sofort: >Lass mich mal dort anrufen. Oder soll ich etwas anderes tun? Ich kann beim Sender vorbeigehen. Ich singe ein Geburtstagslied oder was auch immer. Ich tu alles, was von mir verlangt wird.«< Tatsache war nämlich: In den USA lief es für Gaga anfänglich nicht besonders gut. In et\:va den gleichen Elan zeigte sie auch in anderen Ländern. Ciemny: »\t\Tenn ihr einer sagte : >Wahnsinn, deine Single ist in zehn Ländern die Nummer eins<, enviderte Gaga nur: >Schön. Aber nicht in Japan. Dort kennt mich niemand. Auf nach Japan also. Sie haben dich aufs Cover des Rolling Stone gehievt, du bist jetzt berühmt<, sagte sie: >Stimmt. Aber auf dem Cover der Cosmopolitan ·war ich noch nicht. «< (Dieses Ziel erreichte sie im April 2010. Und am Ende desselben Monats zierte sie, gemeinsam mit Bill Clinton, das Titelblatt des Magazins 177
Time , das sie in jener Ausgabe zur einflussreichsten Künstlerin kürte.) Im Juli 2008 bemühte sich »FlyLife« darum, Gaga einen Gig auf einem für Schwule bestimmten Event namens Underwear Party zu verschaffen, das im August auf Fire Island angesetzt war. Es handelt sich dabei um eine Party, auf der Schwule lediglich in ihrer Unterwäsche erscheinen. Daniel Nardicio, der die Veranstaltung 2003 ins Leben gerufen hatte, erinnert sich: »Gagas Management kam auf mich zu und preiste sie als einen Knaller an, als richtig heiß und in jeder Hinsicht großartig. Ich aber fragte, ob sie nicht Stefani Germanotta sei, denn die kannte ich von früher. Die war echt klasse, doch eher der Typ Natalie Merchant.« Nardicio kannte Gaga von Michael1'.s »Motherfucker«Partys so-wie »aus der Szene«, hatte sie aber damals nicht weiter beachtet. Sie sei zwar niedlich gewesen, doch nicht weiter auffällig. »Sie hatte diese ·weinerliche Long-Island-mäßige Oberschichtattitüde«, sagt er. »So gar nichts an ihr war spektakulär.« Und dennoch: Nardicio ahnte, dass irgendwas Großes mit Gaga im Gange war. »FlyLife« hatte ihm eine Kopie von Gagas Single geschickt, und er hatte sie in seiner Sendung im East Viilage Radio aufgelegt. >»Just Dance< war eine tolle Platte«, meint Nardicio. »Dieses Lied ging richtiggehend ab. Ständig fragten Hörer danach. « Nardicio rief »FlyLife« an und sagte: »Sie soll auf Fire Island auftreten. Ich werde ihr ein riesiges Publikum verschaffen, sie promoten.« 178
Von »FlyLife« erhielt Nardicio nachfolgend eintausend Kopien der Single, die er in ziemlich allen I-laushalten auf Fire Island unterbrachte. Eine Wöche vor der Underwear Party trat Gaga bei So You Think you can Dance auf (in Deutschland: Let's dance). »Just Dance« war endlich im Radio unter den Top 40 gelandet, auch bei ZlOO, dem großen New Yorker Mainstream-Sender. Gaga war inzwischen auch kreuz und quer durch Europa gereist, hatte dort kleine Clubs bespielt. Sie erschien auch auf Perez Hiltons \Vebseite, mit durchschnittlich einem Beitrag täglich. Plötzlich schien sie mit einer irren Geschwindigkeit durch die äußere Schicht des Mainstream-Bewusstseins zu dringen. Und Nardicio geriet in Panik. Er rief bei Gagas Management an und sagte: »Sie ·wird sicher Fire Island absagen. Sie kommt ja gerade ganz groß raus. Und ich kann ihr nur fünfhundert Dollar zahlen. vVenn Sie also absagen wollen, dann bitte sofort, damit ich am Tag ihres Auftritts nicht wie ein Depp dastehe .« Von Gagas Seite aus hieß es aber: »Sie wird kommen. « Gaga stand nicht nur zu ihrem \Vort, sondern nahm ihren Trip nach Fire Island auch noch mit Humor. Dass sie am Tag ihrer Rückkehr aus Europa auf einer Unter\väsche-Party auftrat, bev.reist aber ebenfalls ihre professionelle Einstellung zur Arbeit sowie ihren unbändigen Ehrgeiz. Es erschienen genauso viele Zuschauer, wie Nardicio Platten verteilt hatte - nämlich eintausend. Nardicio: 179
»Ein Meer aus schwulen Kerlen in Unterwäsche brandete vor ihr auf. Sie rief den Kerlen zu: >\Visst ihr was? Mein Leben, verfluchte Scheiße, das seid ihr gerade.< Für mich war das ganz schön aufregend. Man erlebt selten Momente, wo man mit der richtigen Person am richtigen Ort einen Riesentreffer landet. Mir als PartyOrganisator gelang das mit den Scissor Sisters, mit Gaga und mit Levi Johnston.« Gaga sang auf Fire Island ganze drei Lieder: »Just Dance«, »LoveGame« und »Poker Face«. Im Hintergrund verrenkten sich zwei Tänzerinnen, aber zwischen den einzelnen Stücken sagte Gaga kaum en:vas. »Ihre Performance erinnerte mich an die frühen Bühnenauftritte von Madonna«, meint Nardicio, »als diese im TV bei American Bandstand auftrat. Aber bei Gaga lief es hochprofessionelL Da sie schon seit einer \Veile bei Interscope unter Vertrag stand, gab es um sie auf der Bühne Logos mit ihrem Konterfei.« Nardicio schätzte es sehr, dass Gaga tatsächlich live sang. Nach dem Gig aß Nardicio mit Gaga sowie deren Entourage in einem Fischrestaurant, das Jumping Jack's hieß. Sie trug eine Perücke, eine Sonnenbrille, Strumpfhosen und Schulterpolster. vVeder er noch sie ließen durchblicken, den anderen aus den Stefani Germanotta-Zeiten zu kennen. Nardicio fiel auf, dass Gaga beim Essen nichts trank. Er überlegte auch, sie zu fragen, ob nicht ein Platz in ihrem Mitarbeiterstab frei wäre, ob er nicht bei ihr anheuern 180
solle, verwarf aber die Idee gleich wieder. Er mochte Gaga zwar, spürte aber, dass irgendwas mit ihr nicht stimmte. »Erst dachte ich, sie wäre ein bisschen anspruchsvoll, täte auf privilegiertes reiches Mädchen«, sagt er. »Doch dann bemerkte ich, dass sie jene Sorte Mädchen wirklich war. Oder zumindest ein bisschen. Sie, mit ihrem Andy-vVarhol-Gehabe. Da ·wurde ich ein bisseben skeptisch. Ich fand, dass sie übertrieb, zu hoch griff. Ihre Single war schließlich lediglich ein Popsong, der darüber handelte, sich in einem Club zu betrinken und kräftig zu tanzen.« \Vas Nardicio nicht mitbekam - vielleicht war es damals auch noch nicht so offensichtlich -, war Gagas Sinn für Humor. Ihr Selbstbewusstsein schien riesig. Sie war Z\veiundzwanzig und clever genug, nur über Themen zu schreiben, bei denen sie sich auskannte: über nette Jungs und Partys. Und das gab sie 2008 auch zu: »Meine Texte mögen sich vielleicht dumm anhören, wenn man sie mit jenen von Bono vergleicht, der über den I-Iunger in der vVelt schreibt. Aber ich weiß von diesen Dingen noch nichts. Also schreibe ich über das, wovon ich etwas weiß.« »Mittlerweile hat sie Geld, kann ihre Show richtig groß aufziehen. Damals aber sah es noch ganz anders aus«, sagt Nardicio. »Ihre Perücke saß ganz und gar nicht perfekt. Sie musste mit einem bestimmten Budget auskommen und dementsprechend schäbiger als heute sah sie auch aus. « 181
Ihrer Makel war sich Gaga durchaus bewusst. Und überredete deshalb - noch bevor das Abendessen vorüber war - Nardicio, ihre Feier anlässlich der CD-Veröffentlichung zu organisieren , die für Oktober vorgesehen war. Nardicio reagierte begeistert. Er sagte zu und versicherte: »Ich nehme kein Geld dafür. Ich will nur dabei sein. Es ist der helle \Vahnsinn.«
Im Juli trat Lady Gaga bei der San-Franciscc-Gay-
Parade auf ( ein enges Ganzkörperkostüm in Schwarz\Veiß, schwarzer Smoking im New-\Vave-Stil, Sonnenbrille) . Im Laufe der Veranstaltung griff eine der Backup-Tänzerinnen in Gagas Schritt, \ :VO der Discostab herausragte. Sie begann mit »LoveGame«, sang dann »Beautiful, Dirty, Rich« und anschließend »Just Dance«. Die Bühne war schmucklos, lauter Kabel, ein paar Gaga-Poster. Gaga tat, als sänge sie vor einem ausverkauften Haus. Sie rief der Menge zu: »Hier zu sein, macht mich stolz!« Und die Menge jubelte dermaßen euphorisch, wie sie es noch nie erlebt hatte. Für den Rest ihres Konzerts nahm sie die Sonnenbrille ab. Wenn sie Intimität herstellen wollte, tat sie es ab da Immer. Genauso gut konnte aber das passieren, was bei einem Auftritt für MTV auf Malta geschah. Dort wurde Gaga von den Organisatoren gebeten , zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Song zu beenden. Sie flippte aus. Verlangte von ihrem Tom·manager, von Ciemny, 182
dagegenzuhalten; sie sagte: »Frag nicht weiter, tu 's einfach.« Ciemny war überrascht - obwohl Gagas kategorisches Benehmen jener Haltung entsprach, die sie ein paar Monate zuvor bei seinem Vorstellungsgespräch gezeigt hatte. Er wurde empfohlen, saß ihr gegenüber. »Sie war ganz in Schwarz geldeidet. Sie trug ein eng anliegendes Catwoman-Kostüm, ganz wie Halle Berry in dem Kinofilm, eine Ray-Ban-Sonnenbrille, Stiefel mit wahnsinnig hohen Pfennigabsätzen«, sagt Ciemny. »Und natürlich eine Kapuzenjacke. Ihr Haar verlängert hatte sie auch. Sofort stellte sie klar: >Ich nehme meine Arbeit sehr ernst. <« Nach einer Probezeit von fünf Tagen ·w urde Ciemny eingestellt- und bekam mit, ·wie ein Mitarbeiter nach dem anderen entlassen wurde. Bis zum Ende seiner Zusammenarbeit im Oktober 2009 wurden insgesamt hundertfünfzig Leute entlassen- natürlich nicht durch Gaga selbst, sondern durch diejenigen, die sie damit beauftragt hatte . »Bei ihr musste alles perfekt sitzen«, meint Ciemny. »\Venn es zu einem Fehler kam, konnte sie das nicht verstehen. Ab und zu brach sie deswegen nach der Show in Tränen aus. Sie ist sehr detailversessen. \Venn etwas schieflief, sagte sie sofort: >Erldär mir, warum das passiert ist. Versprich mir, dass es nie ·w ieder passiert.
Miss Universum in Vietnam auf. vVährend des \Vettbe\verbs sollte sie »Just Dance« singen. Die Moderatoren der Show hießen Jerry Springer und Mel B. , das ehemalige Spiee Girl. Gekleidet war Gaga wie bei ihrer Logo-Performance, lediglich die Schulterpolster erinnerten in ihren gigantischen Ausmaßen an Tina Turner und ihren Part in dem Actionfilm Mad Max. Sie trug allerdings ein kamelhaarfarbenes, dreiviertelärmeliges Jackett, das angenehm mit ihrem schwarzen PVC-Outfit sowie der platinblonden Frisur kontrastierte . Auf eine Sonnebrille verzichtete sie - sie wollte offenbar Blickkontakt mit dem Publikum und der Kamera suchen. Hinter ihr und den beiden Backup-Tänzerinnen tanzten - zum Teil sehr eigenwillig - fünfzehn Kandidatinnen der Miss Universum-\Vahl in Bikinis. Schon nach einer Liedstrophe verkündete Jerry Springer: »vVir starten den \Vettbewerb mit Venezuela!« Danach folgten Kosovo, Mexiko und Vietnam - Gaga stand da, ein Arm ausgestreckt, Kopf hoch. Gleich darauf kamen Südafril\.a, Australien und Japan an die Reihe Gaga bewegte sich nicht, dann die Dominikanische Republik. Gaga sang eine weitere Strophe, bevor sie durch Italien, Kolumbien, Russland, Ungarn, die Tschechische Republik, die USA und Spanien unterbrochen wurde. Die gesamte Veranstaltung wirkte, ganz wie Gaga selbst, ausgesprochen lächerlich - und dennoch auf eine mysteriöse Art clever. Kaum jemand wusste ja, wer Gaga \Var, aber sie ging mit einem längeren Remix von »Just lBLI
Dance« für zehn Minuten weltweit auf Sendung. Und ihren Diskostab durfte sie auch noch hervorzaubern. Diesen Stab ließ sie nie aus den Augen. Beim Flug gab sie ihn nie mit dem Gepäck auf, sondern platzierte ihn immer im Handgepäck, wobei sie jedes Mal deswegen vom Sicherheitspersonallänger aufgehalten wurde. Es machte ihr nichts aus.
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RUHM
he Farne wurde am 19. August 2008 veröffentlicht und erhielt zumeist gute Kritiken. Entertainment \tVeekly gab der Platte die Note zwei und bemerkte: »Der fröhliche Eskapismus hat seinen Reiz.« Selbst Alexis Petridis, ihre Angstgegnerin vom britischen Guardian, schrieb: »Jedes der Stücke hört sich nach einem Hit an.« The Fame, so Billboard, beweist, »dass sie mehr als nur einen Hit und ein paar Bühnentricks parat hat.« Den Sommer sowie den Herbst verbrachte Gaga damit, in Bussen und in der Economy Class kreuz und quer zu reisen. Aus jedem Hotelzimmer, in dem sie übernachtete, nahm sie - unerlaubterweise-ein Kopfkissen mit, um es auf der Fahrt zu ihrem nächsten Auftritt bequem zu haben. ( Ciemny bat den Hotels immer an, die Kissen zu bezahlen, wobei manche das Kissen verschenkten.) Gagas Terminplan wurde immer enger. Sie musste spätestens um sieben Uhr morgens aufstehen, bei Radiosendern für ihre Platte werben, mittags und/ oder abends mit Vertretern der Plattenfirma aus189
gehen, an manchem Abend in Clubs singen, morgens ·wieder früh aufstehen, in die nächste Stadt fliegen, vom Flughafen zum Radiosender kutschiert werden ... und so weiter und so fort. Auf diese \Veise vergingen die nächsten sechs Monate - mit vier Stunden Schlaf, wenn überhaupt. Sie spielte überall, angefangen bei Hip-Hop-Läden, über Top-40-Clubs bis hin zu schwulen Lokalen und Treffpunkten raubeiniger Cowboys. Sie trug jedes Mal dieselben Lieder vor: »Just Dance«, »Beautiful, Dirty, Rich« und »LoveGame«. Sie zeigte sich sogar dort, wo üblicherweise Kinderbands auftraten, ließ allerdings Schulen aus. Sie beschwerte sich nie, ließ nie durchblicken, dass diese Gigs unter ihrem Niveau wären, nicht cool genug für ihre Avantgarde-Show. Einmallud Ciemny seine Frau Angela zu einem Gig nach Südkalifornien ein. Angela erinnert sich, von Gagas \Vahl des Auftrittsortes überrascht gewesen zu sein. Sie fragte sich: »Sie tritt bei Raging \Vaters, dem Freizeitpark, auf? Das gibt es doch nichts außer ein paar \Vasserrutschen und einem I-laufen Kinder. « Um drei Uhr nachmittags betrat Gaga in hochhackigen Lederstiefeln und engem schwarzen Kostüm die Bühne, bei vierzig Grad Hitze. Die Zuschauer wussten nicht so recht, was sie von ihr halten sollten. Angela aber fand Gaga toll. »Ich ging mit David hinter die Bühne«, sagt sie, >Und er stellte mich ihr vor. \Vährend ich rede, zieht sie ihr Kostüm aus, deshalb frage ich: >\Varum ziehst du nicht 190
etwas an, in dem es nicht so heiß ist?< Wöraufhin sie antwortet: >Das ist nun mal mein Look. «< Im Oktober 2008 trat Gaga als Vorgruppe bei der Tour der New Kids on the Block auf. »Mit Gagas Erfolg habe ich nichts zu tun«, sagt Jared Paul, Manager der New Kids. Zwar habe er sie zu der Tour eingeladen, doch hätte mit seiner Einladung gezögert, wäre es trotzdem zu dieser Tour gekommen - die Interscope-Manager hätten ihm sicher klargemacht, dass Gaga so oder so mit touren würde, egal was er davon hielte. Paul erinnert sich, wie er bei einem Meeting sagte: »Uns interessiert dieses Mädchen zwar überhaupt nicht, doch wird sie mal ein großer Star werden.« Paul: »Das Label baute sie ganz offensichtlich massiv auf.« vVie so viele andere erinnert sich Paul noch genau, was Gaga bei ihrer ersten Begegnung trug: »Es war mitten im August, immens heiß, und sie hatte Kopfschmuck aufgesetzt. Ihre Handschuhe reichten bis zu den Ellenbogen.« Mit der Tour schien Gaga glücklich. Eine ganz genaue Vorstellung davon, wie ihre Show aussehen sollte, hatte sie auch schon. Jene Show sollte LED-Bildschirme enthalten, auf denen jedoch keine konventionellen Filme, sondern, wie sie sie nannte, »The Crevette Films« beziehungsweise »The Candy Vvarhol Films« liefen. Es handelte sich dabei um unbearbeitete, etwas unheimlich wirkende Kurzfilme, in denen Productplacement betrieben wurde - etwas, was sie in ihrem Videoclip zu »Telephone« zu einer Kunstform zu erheben versuchte. 191
Sie waren ungewöhnlich für eine Künstlerin, die kaum jemand kannte, die aber vor einem Mainstream-Publikum auftrat. Doch genau die merkwürdige Machart der Filme - ein sich kämmendes Mädchen wurde da etwa gezeigt, das unverständliches Zeug von sich gibt - weckte die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Diese spontanen Filmehen drehte Gaga an ihren freien Tagen in einem Lagerhaus in L. A. Die Idee für die Kurzfilme stammte von Ray Woodbury, den Gaga mit kreativen Aufgaben während der Tour mit den New Kids ausgestattet hatte. \V'oodbury traf Gaga das erste Mal in einem Tanzstudio in North Hollywood. »Sie hatte weder ein Kostüm an noch war sie sonst irgendwie gestylt«, sagt er. »Für den Dreh brauchten wir lediglich wenige Minuten. Ich hatte mir ein Konzept ausgedacht, bei dem während des Konzerts Bilder auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt werden, ein Prozess, der im Bühnenhintergrund abläuft. Für eine Vorgruppe war das eine völlig neue Idee. vVir stellten sie Gaga vor, die sie sofort verstand, die sie mochte. Gaga ·war oft verfügbar, nahm sich Auszeiten, um Dinge in dem Lagerhaus zu filmen, die dann auf die Leinwand projiziert wurden.« Bei Gagas New-Kids-Show kam auch ihr Discostab vor. Und eine besondere Sonnenbrille - riesig und schwarz. Auf ihrer Oberfläche wurden Videoclips ausgestrahlt. (Sonnenbrillen wurden zu Gagas Fetisch. Ein Koffer mit hundertfünfzig Brillen war auf allen Reisen dabei.) Diese Sonnenbrillen hatte sich das »Haus of Gaga« aus192
gedacht, das Gaga mit Andy \Varhols Factory vergleicht und über das sie nicht viel verrät. Man weiß nur so viel: Alle Mitarbeiter von Gaga sind auch Mitglieder des Hauses. Seine Aufgabe besteht darin, Gagas künstlerische Visionen zu verwirklichen. Ihren ganzen Vorschuss steckte Gaga in die Vorgruppen-Show. Zudem sang sie nach den Gigs in Clubs um zusätzlich Geld einzunehmen, das sie wiederum für ·weitere technische Spielereien ausgab. Und das, obwohl Interscope ihr schon einen weit größeren finanziellen Spielraum als den meisten anderen aufstrebenden Künstlern ihres Labels eingeräumt hatte. »Ihr Etat«, so \Voodbury, »ging über das einer Vorgruppe weit hinaus.« Doch bei Interscope schien man sich zu sagen: »Mit ihre landen wir todsicher einen Hit, also sollten ·wir nicht kleinlich sein.« Gaga unterzeichnete einen sogenannten »360 Deal«. Aufgrund der Krise, die die Plattenbranche durch die Verfügbarkeit der Musik im Internet erlitten hatte, waren die Labels dazu übergegangen, diese Art Verträge abzuschließen. Man investiert mehr in einen Künstler als bei einem herkömmlichen Plattenvertrag üblich - und meint damit seine Durchbruchchance zu steigern. Im Gegenzug hat das Label aber Anspruch auf einen Teil sämtlicher Gewinne, die der Künstler zum Beispiel mit Lizenzen, Downloads, bei Übertragung der Rechte oder bei T-Shirt-Verkäufen erzielt. So erhält das Label seinen Anteil auch bei den Deals, die Gaga mit Polaroid, M·A·C oder einer anderen Firma abgeschlossen hat. 193
»Als sich lnterscope entschied, auf Gaga zu setzen, ·waren sie bereit, sehr viel Geld auszugeben«, sagt jemand aus dem Plattenlabel-Umfeld, der nicht genannt werden möchte. Er sei dabei gewesen, als man von lnterscopes Seite bei Universal, der Muttergesellschaft, anfragte: »vVie habt ihr Gaga rumbekommen?« Der Universal-Mensch antwortete: »\Vir haben sie vollgestopft.« Mit Geld natürlich. »Sie haben unendlich viel für ihre Publicity getan«, erzählt derjenige weiter. »Sie hängten ihren Clip an andere Videoclips auf YouTube, so dass er dann auf dem Bildschirm erschien, wenn er nicht direkt aufgerufen wurde. Die Öffentlichkeit meint, Gaga sei über Nacht berühmt geworden. Doch so ist es ganz und gar nicht. Hinter ihrem Erfolg steckt viel Arbeit.« »Gaga hat Summen ausgegeben ·wie eine MehrfachPlatingewinnerin«, sagt jemand aus der Musikbranche. »Frauen wie Gwen Stefani oder Fergie, das sind Superstars. Dieses Mädchen kommt aus dem Nichts, ihre Kostüme sind teuer. \Vir reden hier über hunderttausend Dollar pro Auftritt. Und da ist die Band noch nicht mit eingerechnet.« Jener Musikbranchen-Kenner schätzt, dass sich die Kosten von Gagas weltweiter Konzerttour 2010 auf ungefähr 800 000 Dollar wöchentlich beliefen. >>All ihre Einnahmequellen müssen dafür herhalten«, sagt derjenige. »Und ihr Label schlägt die Kosten auf die Gesamtverkäufe von Gagaprodukten um, seien es \Verbeartikel oder irgendwelche Veröffentlichungen. Garantiert.« 194
Doch man sagt voraus, dass es Gaga eines Tages gelingen dürfte, genügend Druck auszuüben, um für sich einen vorteilhafteren Vertrag auszuhandeln. So erstaunte es niemanden, als Gaga gemeinsam mit ihrem Manager Troy Carter verkündete, noch vor der Veröffentlichung ihres Z\veiten Albums mit Interscope zu verhandeln. »Unterwegs gibt sie viel Geld aus«, sagt ein weiterer Kenner der Branche. »Sie hat den Designer Roy Bennett engagiert. Der hat schon für Madonna und Nine Inch Nails gearbeitet. Sie will ihre Konzerte zu atemberaubenden Erlebnissen machen. Sie will, dass die Leute aus der Halle gehen und ausrufen: >Gaga ist unvergleichlich.< Dafür hat sie unseren Beifall verdient, obwohl dies aus finanzieller Sicht kaum verantwortlich ist.« Gaga hingegen meinte von Anfang an, es sei riskanter, das Geld nicht auszugeben. 2008 sagte sie: »Das System der Major Labels ruft bei vielen Stirnrunzeln hervor. Ich aber nutze es zu meinem Vorteil. Ich möchte Außergewöhnliches schaffen. Ich möchte die Musikbranche wiederbeleben, ihr den wahren Superstar, den wahren Künstler wieder anbieten. Auch möchte ich den Superfan wieder erschaffen. Ich möchte so eine vVebseite betreiben, wie Perez Hilton es tut. Ich möchte den Menschen das Gefühl vermitteln, Teil meines Lebensstils zu sein.« Ihre Bereitschaft, viel Geld für Bühnendesign, Kurzfilme, Kostüme, Stylisten, Visagisten, Tänzer sowie First195
Class-Tickets auszugeben, soll zu Auseinandersetzungen mit ihrem Vater geführt haben - der ja bei Mermaid Music ihr Geschäftspartner ist. Ohnehin scheint die Geschäftsbeziehung der beiden für viele äußerst ungewöhnlich zu sein. »Mir ist eine solche Konstellation noch nie begegnet«, sagt Adam Ritholz, der als Medienanwalt 'N Sync beim Rechtsstreit mit deren früheren Manager vertrat. »Ich habe es noch nie erlebt, dass ein Elternteil fünfzig Prozent der Einnal1men seines Kindes für sich einbehält.« Ritholz sagt, dass es für ein managendes Elternteil in der Unterhaltungsbranche üblich sei, lediglich fünfzehn bis zwanzig Prozent von den durch sein Kind erwirtschafteten Einnahmen zu kassieren. Reitholz: »Einmal habe ich bereits erlebt, wie ein Vater den Karriereaufbau seines Kindes finanzierte. Er investierte beträchtliche Geldsummen, stellte Profis ein, beauftragte ein Marketing- und Promotionteam. Doch gleich die Hälfte der Einnahmen zu verlangen, das ist nicht gerechtfertigt. Da muss zwischen Gaga und ihrem Vater etwas vorgehen, was der Öffentlichkeit verborgen bleibt. «
Für ihr Label hatte [jaga inzwischen oberste Priorität - und das nicht zuletzt wegen ihrer überzeugenden Arbeitseinstellung. »Das Engagement, das sie bei ihren Auftritten demonstrierte, war für unsere Kampagnen ausschlaggebend«, sagt Woodburg. »\Vir alle brach196
ten uns finanziell dermaßen ein, weil \Vir in Gaga eine Künstlerin erkannten, die zu allem bereit war. Die nie davor zurückschreckte, sich ihre Hände schmutzig zu machen. \Venn jemand sein Ziel mit einer solchen Zuversicht wie sie verfolgt, unter dem klaren Motto >Ich will die Nummer eins sein<, dann geht das Konzept auch auf. « Mit der Zielgruppe der New Kids on the Block ging Gaga behutsam um- mit Frauen in ihren Dreißigern, an Haus und Hof gebunden, auf einem Nostalgietrip unterwegs. Vor ihrer Vorprogramm-Show, so David Ciemny, sagte sie allerdings: »\Vir werden den Schlampen schon einheizen !« Ciemny sagt, Gaga hätte diesen Kampfruf durchaus liebevoll gemeint. Sie sei sich bewusst gewesen, dass viele dieser Frauen verheiratet waren, tagein tagaus Kinder zu betreuen hatten, dass dieser Abend einer von den seltenen Abenden war, an denen sie ausgehen konnten. Gagas Extravaganzen kamen beim New Kids-Lager nicht besonders gut an, obwohl sie sich mit Bandmitglied Donnie vVahlberg prima verstand. An ein paar Liedern für das New Kids-Album The Block hatte Gaga sogar mitgeschrieben, zudem sang sie mit Wahlberg im Duett. »Die New Kids waren ziemlich nett, doch sie meinten schließlich: >Ihr seid nur die Vorgruppe. Dafür tragt ihr ein bisschen dick auf<«, berichtet jemand, der die Tour verfolgt hatte. »Das hieß nichts anderes als: >Tut uns leid, aber dies ist nicht eure, sondern unsere Show.«< 197
Solcherlei Kritik mochte Gaga nicht. Sie sagte, laut David Ciemny, zu ihm, er solle es wieder einrenken. »Ich versuchte es, doch aus dem New Kids-Lager hieß es nur: >Ihr habt zweieinhalb Meter Bühne zur Verfügung.< Oder: >Ihr könnt eure Bildschirme heute nicht aufbauen. < Oder etwas anderes in der Art. Und damit konnte Gaga nun wirklich nicht umgehen. « »Sie ·war um eine größere Bühnenpräsenz bemüht, als es die Produktion hergab«, sagt \Voodbury. »Sie übertrieb es zuweilen ein wenig. Konnte es nicht ausstehen, wenn man Nein sagte, zeigte keine Einsicht. Außer \Vahlberg freundete sich keiner der New Kids mit Gaga an. Abend für Abend fragte sie an, ob sie gemeinsam mit der Band einen Song singen könne, den sie für sie geschrieben habe. Jedes Mallautete die Antwort: »Klar. vVarte dort, am Bühnenrand, man ruft dich. « Nur ein einziges Mal sang man gemeinsam den Song. Es passierten noch andere unangenehme Dinge. Ciemny: »Gaga war bereits an alle Monitore und Mikrofone angeschlossen, stand bereit, wollte raus auf die Bühne. Auf einmal sagte man uns: >Heute gibt es keinen Auftritt.< Darauf sagte ich dem New Kids-Manager: >vVas soll das? \Vir könnten schon im Bett sein, anstatt hier vergeblich zwei Stunden zu warten. Ich habe da keinen Einfluss. Die Band entscheidet. «< Heute reiht sich Jared Paul, der Manager der New Kids, in die Schlange jener ein, denen von Anfang an 198
klar war, dass Gaga ein Star werden würde. Er hätte gespürt, sagt Paul heute, dass Gaga »viel eigenes Geld, viel Zeit, überhaupt etliche Ressourcen in ihre Karriere gesteckt hatte . Dieses Mädchen wollte es schaffen. Sie hatte alles im Griff. Und Troy, ihr Manager, stand ihr zur Seite, glaubte an ihre Vision.« The Fame brauchte Monate, um in die amerikanischen Charts zu gelangen. Die Platte landete am 15. November 2008 auf Platz siebzehn der Billboard Charts. Bis Januar des folgenden Jahres war Gaga auf Tour mit den New Kids. Der enge Zeitplan begann sie physisch \Vie psychisch auszulaugen. »Es war schon hart für sie«, sagt Ciemny. »Alle paar Monate war sie so fertig, dass wir unseren Aufwand auf null runterfahren mussten.« Manchmal blieb Gaga nichts anderes übrig, als eine Show abzusagen, was ihr ganz und gar nicht gefiel.
»Poker Face«, die zweite Single-Auskopplung des
Albums kam am 23. September 2008 heraus. Gaga fasste immer mehr Fuß in Europa und Australien, doch in den USA lief ihre Karriere zäh. Sie drehte einen Videoclip zu »Poker Face«, wofür mehr Geld bereitlag als für »Just Dance«. Im Clip trug sie eine goldfarbene Gesichtsmaske, auf ihrer rechten \Vange war ein metallfarbener Schmiss aufgemalt, auf ihren Fingernägeln waren Spielkarten abgebildet, und ihr Haar war zu einer Schleife gebunden. (Die Schleife aus Haaren war ursprünglich von der New-\Vave-Band The B-52's einge199
führt worden. Karl Lagerfeld klaute die Idee für seine Chanel-Show aus dem Jahr 2010.) Gaga trug erneut keine Hose, dafür ein neonblaues, enges Kostüm und aufgeklebte falsche vVimpern. In dem Clip steigt sie, flankiert von zwei hochgewachsenen Herren, aus einem Schwimmbecken, spielt mit ihnen Strip-Poker, dessen Partie in einer Orgie endet. Die Single wurde im April 2009 Nummer eins der Billboard-Hot-100-Singlecharts, in Großbritannien war Gaga da schon ein Riesenstar. Sie fühlte sich einsam. Den größten Teil des Jahres war sie unterwegs, hatte so gut wie nie frei. Die wenige Zeit, die ihr übrig blieb, verbrachte sie im Sonnenstudio, schaute sich Monsterfilme an oder ihre TV-Lieblingsserie Family Guy. Sie wollte keine Minute alleine sein, noch nicht einmal, wenn sie sich duschte oder ein Nickerchen machte. Ihre Abneigung gegen Einsamkeit, die Wendy Starland bereits achtzehn Monate zuvor aufgefallen war, verstärkte sich noch. Gaga hatte Angela, Ciemnys Frau, als persönliche Assistentin eingestellt und ihr versichert, für sie zu arbeiten, wäre »echt nett«. Als Angela bei dem Einstellungsgespräch zögerte, weil sie an sich schwanger \>verden wollte, überzeugte sie Gaga, indem sie sagte: »vVenn du mit mir auf Tour gehst, kannst du bei David schlafen. « Doch ihr Versprechen hielt Gaga nicht ein; Angela Ciemny: »An ziemlich jedem Abend hieß es: >Ange, von zehn bis Mitternacht kannst du es dir mit Dave hinten im Bus gemütlich machen.<« 200
Im Grunde hätte sie letztlich, so Angela Ciemny, häufiger bei Gaga als bei ihrem Mann geschlafen. In Hinblick auf Sex sei da zwischen ihr und Gaga allerdings nichts gelaufen, Gaga hätte einfach nicht alleine schlafen können. Ungefähr zum gleichen Zeitpunkt, als Gaga Angela einstellte, ging ihre Beziehung zu Matt vVilliams in die Brüche. \Villiams begann, wieder mit Erin Hirsh auszugehen. Innerhalb weniger Monate wurde Hirsch von Williams schwanger. Gaga tat diese Nachricht entweder mit einem Lächeln ab oder aber zeigte sich - in verwundbareren Augenblicken - recht verletzt. Sie vermisste Lüc, sprach die ganze Zeit von ihm. Noch immer war sie eine junge Frau, die in einem privilegierten und sicheren Umfeld aufgewachsen war, deren Eltern für sie sorgten. Ihre Freundinnen, viele z·weiundzwanzig Jahre alt wie sie, studierten und feierten und schleppten Jungs ab, kurierten nach durchzechten Nächten ihren Kater, büffelten für Prüfungen. Es war ein durchschnittliches Leben, ein Leben, das Gaga nie wollte. Und doch gestaltete sich ihr eigenes Leben - allemal unterwegs, zwischen lauter Menschen, die auf ihrer Gehaltsliste standen - weit schwieriger, als sie erwartet hätte. Die Leute um sie waren nett, doch keine echten Freunde. Gaga beließ Williams in ihrem Team, ging mit der für sie unangenehmen Situation einigermaßen professionell um. Es war beeindruckend - gerade für jemanden, der so haltlos war wie sie und soeben einen ihrer wenigen Vertrauten verloren hatte. Gelegentlich bat Gaga 201
einen ihrer Mitarbeiter als Mittler zu fungieren, um Williams Nachrichten zuzustellen. Doch zumeist hatte sie mit sich selbst zu kämpfen. Angela Ciemny versuchte ihr zu helfen. Sie sagt, sie sei in die Rolle einer »älteren Schwester« geschlüpft und schwärmt - als Beweis beidseitiger Freundschaft von den fünfzehnminütigen Ausflügen ins Sonnenstudio. \Venn Gaga frei hatte, ging sie online, um nachzusehen, ·was man über sie schrieb. Oder sie schaute sich handgeschriebene Zettel oder Geschenke ihrer Anhänger an, die sie in ihrer Handtasche trug. »\Vir schminkten uns morgens zusammen und machten uns abends gemeinsam fertig fürs Bett«, sagt Angela Ciemny. Sie duschten auch gemeinsam, denn sie mussten sich morgens beeilen. Dadurch, sagt Angela Ciemny, kämen sie sich auch näher und näher. Angela Ciemny erinnert sich ebenfalls an die wenigen Male, an denen sie abends mit ihrem Mann ins gemeinsame Zimmer verschwinden wollte. Da habe sich Gaga fürchterlich gewunden; während Angela Ciemny sagte: »Ich gehöre zu diesem Mann. Und bin im Zimmer nebenan.« Zunächst schien Gaga es zu verstehen, schickte ihr aber bald eine SMS mit dem \\Tortlaut: »Ange, ich vermisse dich so. Kannst du kommen?« Und zu Dave Ciemny meinte sie: »Kann deine Frau bitte bei mir heute die Nacht verbringen?« Angela Ciemny: »Also schlief ich bei ihr im Zimmer. \Vas bringt es mir schon, mit David auf dem Zimmer zu sein, wenn jeden Augenblick das Telefon klingeln könnte, ·weil sie mich anfordert?« 202
\Vie passt das Bild eines einsamen, anlehnungsbedürftigen Mädchens mit dem Bild der furchtlosen Performerin zusammen, die sich nach jeder Show als »unabhängige Schlampe« bezeichnet? Irgendwie schaffte es Angela Ciemany dennoch, unterwegs schwanger zu werden. Sie erzählt aber, dass ihr Verhältnis zu Gaga sowie deren Manager Troy Carter von da an zu leiden begann. »Ab dem zweiten Monat ·wurde mir morgens richtig übel. ZuGaga sagte ich also: >Um fünf Uhr werde ich dich nicht anrufen können, weil ich mich da gerade übergebe. Also sehen wir uns stattdessen um acht Uhr. Aber deine Taschen habe ich dir dann schon gepackt.«< Das war zunächst kein Problem -bis Gaga anfing, sich für ihre Show deutlich später vorzubereiten. Angela Ciemny: »Sie kam am Konzertort an, begann, sich eilig fertig zu machen, und meinte nur: >Ange hat gepackt, doch ich kann nichts finden. Wo sind meine vVimpern? In fünfzehn Minuten muss ich auf die Bühne! «< Kurz danach vergaß Angela Ciemny, ihr eine Strumpfhose einzupacken -wobei ihr sofort ldar war, dass ihr damit ein zu gravierender Fehler unterlief. So traf sie dann auch auf Troy, der sagte: »Soll das ein Scherz sein? Sie braucht Strümpfe ohne Löcher.« Angela Ciemny versicherte zwar, ein Fehler wie dieser werde nie wieder vorkommen, aber nach einer Zeit verließen sie ohnehin die Kräfte, so dass sie ihren Job bei Gaga niederlegte.
203
Kaum hatte [jaga die Tour mit den News Kids be-
endet, da wurde sie wieder als Vorgruppe, diesmal für die Europatournee der Pussycat Dolls verpflichtet. Die Reaktion der Dolls und deren Leute ähnelte der Haltung der New Kids sowie deren Manager: Man war verwirrt, zeigte an ihr kein sonderliches Interesse. »Es war wohl Jimmy Iovines Idee«, sagt Nicole Scherzinger, Leadsängerin der Dolls. Es ist noch früh am Morgen und Nicole will zur Probe bei Dancing with the Stars, wo sie gegen Kate Gosselin, den TV-Reality-Star, sowie den Astronauten Buzz Aldrin antreten wird. »Gaga hatte vielleicht eine Single draußen«, sagt Scherzinger. »\Vir hatten nicht viel von ihr gehört. Man teilte uns mit, dass sie mit uns touren soll, und wir fragten uns, \Ver sie denn eigentlich sei.« Doch immerhin hatte Scherzinger Gaga ein Mal vorher getroffen Mitte 2008, auf einer Party von Interscope im Foxtail Club. »Es war schon ein Ereignis«, sagt sie und meint damit Gagas Auftritt, nicht die Party. »Alleine ihre Erscheinung. Ihr Haar muss an die vierzig Pfund gewogen haben. Ihre Wimpern wogen auch schwer, denn sie hingen herunter. Doch ihre Tanznummer riss Gaga ab, als veranstalte sie Jazzgymnastik. Sie ist ein Energiebündel ohnegleichen. Sie denkt schnell und spricht schnell. Sie ist pures Dynamit.« Im März begann Lady Gagas eigene Tour durch die Staaten, wo sie in kleineren Lokalen wie dem House of Blues in Chicago und dem 9:30 Club in \Vashington auftrat. Sie nannte die Tour »I'he Fame Ball«. vVährend 204
sie mit den Pussycat Dolls unterwegs war, hatte das »Haus of Gaga« drei unterschiedliche, auf die jeweilige Größe des Veranstaltungsorts zugeschnittene Showversionen ausgearbeitet. Jedes der Tourmitglieder nahm Gaga persönlich in Augenschein. Sie lobte, laut David Ciemny, ein spezielles Rockkonzert, das ihr als Maßstab ihrer eigenen Show diente - an den Namen der Band kann sich David Ciemny leider nicht mehr erinnern, er weiß nur: »Es war eine von diesen typischen englischen Bands, bei denen alle gleich aussehen und Gitarre spielen.« Vor allem die Beleuchtung bei dem besagten Konzert konnte Gaga nicht vergessen, so dass sie David Ciemny befahl: »Finde den Beleuchter von damals.« Ciemny fand den Beleuchter tatsächlich- er hieß Martin Philipps und war eine erfahrene Fachkraft. Er hatte schon für Nine Inch Nails und Daft Punkt gearbeitet. David Ciemny flog nach London und stellte Philipps für die Gaga-Tour ein. Als die Tour im Gange war, liefen »Just Dance« und »Poker Face« rund um die Uhr im Radio. vVenn Gaga zwei Tage hintereinander frei hatte, drehte sie im Lagerhaus neue Kurzfilme, gab Interviews oder setzte sich mit Matt \Villiams zusammen, um Ideen für Kostüme, fürs Make-up und Bühnendesign zu sammeln. Ihr Look ·wurde raffinierter. Ihr Budget schränkte sie ein. Als ein ewiges Problem erwies sich die Verlängerung ihres Haares. Die Leute um Gaga waren ständig darum bemüht, Haare mit dem richtigen Blondton - meistens aus Indien - aufzutreiben und ihr Termine bei den \Ve205
nigen Friseuren zu verschaffen, die Haare gekonnt zu verlängern vermochten. Da man das verlängerte Haar nicht waschen kann, juckte Gagas Kopfhaut oft. Die Haarverlängerungen mussten alle drei \Vochen ersetzt werden, was jeweils vierhundert bis siebenhundert Dollar kostete. Die Prozedur dauerte ungefähr sechs Stunden. Manchmal ging es erst um zwei Uhr nachts los. »Es war dermaßen schmerzhaft, dass sie weinte«, sagt jemand, der die Prozedur miterlebte. »\Vas seltsam klingen mag, weil sie doch so hart im Nehmen scheint. Doch sie ist nun mal eine Sklavin ihres Images. Für dieses Image lebt sie. Deshalb ertrug sie die Prozedur nur. « Erst im Dezember 2008 befreite sich Gaga von den schmerzhaften Haarverlängerungsmaßnahmen. Und das kam so: Sie sollte beim Jingle Ball im Madison Square Garden auftreten, der jedes Jahr von ZlOO ausgerichtet wird, dem landesweit größten Radiosender. Sie war auch als Headliner des Silvesterballs in der vVebster Hall im East Viilage eingeplant. Das Haar musste also sitzen. Bereits um sechs Uhr morgens saß sie in einem Friseursalon, um die alten Haarverlängerungen zu entfernen, ihr Haar blond zu färben und Verlängerungen anbringen zu lassen. Angela Ciemny ·war nach New York geflogen, um Gagas Auftritt beizuwohnen. Sie holte Gaga zusammen mit Gagas Mutter Cynthia und ihrer Schwester Natali mittags vom Friseur ab. Gaga überraschte sie, denn sie hatte auf die Verlängerung verzichtet. Angela Ciemny berichtet, dass die 206
Erleichterung, die alle auf der Fahrt zurück verspürt hätten, überwältigend gewesen sei. »\\Tir fingen alle an zu '
Stress«, sagt David Ciemny. »Nach jeder Aufzeichnung ·wollte sie das Filmmaterial begutachten - bevor es gesendet wurde natürlich. Oft wollte sie mit dem Regisseur sprechen oder den Produzenten, die seit dreißig Jahren in Hollywood arbeiteten und pro Minute fünfhundert Dollar verdienen. Der Regisseur fragte nicht selten: >Vver sind Sie denn?<« - redete aber mit Gaga dennoch. Die Aufzeichnung betrachtete sie, laut David Ciemny, auf eine \Veise, ·wie Athleten es wohl tun; sie kommentierte: »Üh Gott, war ich da wirklich so zickig? Ist das cool? Geht das so?« Meist konnte man einen, in Gagas Augen, misslungenen Auftritt nicht mehr wiederholen, doch das war für sie noch lange kein Grund, nicht darum zu bitten. »Michael Jackson war genauso«, sagt David Ciemny. Im Dezember 2008 ·w urde »Just Dance« für einen Grammy nominiert. Im Februar 2009 trat Gaga bei den Brit Awards auf und sang, verkleidet als Teetasse, zusammen mit den Pet Shop Boys. Im April 2009 hatte sie es in Großbritannien endgültig geschafft: Ihr Album \Vurde Nummer eins, sie war der Liebling der Klatschpresse. Da fing sie an, immer und überall eine lilafarbene Teetasse mit sich zu führen, was sie als Performance-Kunst bezeichnete. Die Teetasse erfuhr ein großes Medienecho . .Man wollte Genaueres über sie wissen. »Sie hat zwar keinen Namen, ist aber inzwischen ganz schön berühmt«, sagte Gaga damals. Als sie Gast der 208
BBC-Show Friday Night with Jonathan Ross war, brachte Gaga die Tasse mit und hielt sie zehn Minuten lang in die Kamera. Das Interview gelang in die Schlagzeilen, weil Ross sie nach den Gerüchten zu ihrem Geschlecht gefragt hatte. Ob sie nun ein Mann oder ein Zwitter sei, fragte er. »Ich verfüge über den Schwanz eines Esels«, meinte Gaga- und erntete dafür großes Gelächter seitens des Publikums. Sie ahmte Lady Diana nach, indem sie sich gespielt tapfer gab und Ross' Fragen in einer Kleinmädchen-Stimme beantwortete, den Talkmaster über ihren Pony hinweg anschaute, als erwarte sie ängstlich seine Zustimmung. Gaga hat schon häufig gesagt, The Fame und The Fame Monster wären teilweise von Diana und ihrem Tod im August 1997 -nach der Autoverfolgung durch Paparazzi - inspiriert worden. ( Gaga sagte auch, ihr bahnbrechender Auftritt bei den MTV Video Music Awards, der etwas später im gleichen Jahr folgte, ·wäre als Kommentar zu Dianas Tod zu verstehen, was nun wirklich sehr weit hergeholt ist.) Gaga mag es, Paparazzi in ihrem Schlepptau zu wissen, sagt ihr Freund, der Fotograf \Vanvick Saint, der sie an diesem Abend in England begleitete. »Nach der BBC-Show stiegen wir in einen Minivan. Als ich durch das abgedunkelte Fenster sah, ·waren da überall um uns rum Motorräder«, erinnert er sich. »Nicht ohne Stolz meinte Gaga nur: >Das ist noch gar nichts. <Öffentliche Aufmerksamkeit scheint ihr natürlicher Lebensraum zu sein. Sie braucht Aufsehen wie die Luft zum Atmen. Zu ihren Leuten im 209
Auto sagt sie in solchen Situationen: >Seht bloß zu, dass ich gut aussehe. <« Nach dem Abendessen im Hakkasan, einem protzigen chinesischen Restaurant in Soho, zog die Entourage weiter zum exklusiven Groucho Club. Egal ob das, was dann passierte, wahr ist oder nicht - es war den Zeitungen und den Blogs eine Meldung wert, und das war Gagas Ziel. Also: Nach dem Abendessen wurde Gaga ins Hotel gefahren. Erst auf ihrem Zimmer bemerkte sie, dass sie beim Chinesen ihre Tasse vergessen hatte. Sie wurde unruhig. Schickte sogleich jemanden, der die Teetasse wieder auftrieb. Die Sun - Großbritanniens billigstes Klatschblatt lieferte einen dramatischen Bericht über das lächerliche Begehren eines Popstars: Ein nicht näher benannter Mann erzählte der Sun: »Sie stänkerte rum und verlangte nach jemanden, der ihre Teetasse abholt. Sie wollte aus nichts anderem trinken. Doch für mich sah diese Teetasse wie jede andere x-beliebige Tasse aus, auf der unten >Made in China< steht. Sie machte viel Lärm um nichts.« Ein Sprecher von Lady Gaga sagte dann auch noch: »Lady Gaga möchte über die Teetasse selbst nichts preisgeben, doch Ing·w ertee tut Sängern gut.« Saint freute sich sehr, als ihn Gaga in letzter Minute bat, sie zu begleiten - er verschob dafür sogar einen Flug am folgenden Tag. Saint erzählt, den Abend mit ein paar gut gemixten Martinis und hervorragendem Essen verbracht zu haben, \vobei Gaga die Rechnung 210
beglich- seither habe er allerdings von ihr nichts mehr gehört. In den Staaten kämpfte Gaga immer noch um Anerkennung, die sie in Großbritannien schon lange genoss. Im März sollte sie bei der morgendlichen Talkshow The View auftreten, die live aus Disneyland gesendet wurde. Ein paar Tage zuvor hatte sie der Journalist Jonah vVeiner in L. A. interviewt. Sie kam gerade von einem Auftritt bei KIIS FM in Burbank, wo sie im Funkhaus live gesungen hatte. »Wir sollten uns in ihrer Wohnung in Koreatown treffen« , sagt vVeiner. Bei der Adressensuche entdeckte er, dass Gaga in einem typischen Viertel der Mittelschicht wohnte, mit Reihenhäusern und Minivans vor der Tür. Doch schon rief Gagas Pressesprecher an und änderte den Treffpunkt - \Veiner sollte nun mit Gaga in einem Betonpark zusammenkommen, \VO Angestellte umliegender Firmen ihre Mittagspausen verbrachten. Beim Treffen trug Gaga dann eine weiße Latexhose, einen lavendelfarbenen Blazer, an dessen Ärmeln Handschuhe angenäht waren, und eine trapezförmige Sonnenbrille. Ihr Verhalten deutete darauf hin, dass sie im Umgang mit Medien noch nicht geschult worden war. Sie hatte noch nicht gelernt, permanent Gesprächsbereitschaft zu signalisieren, laufend höfliche Antworten parat zu haben, von unangenehmen Themen abzulenken, Positionen geschickt zu verteidigen. »Sie schien in Eile. Wusste nicht, welches Gesicht sie aufsetzen, wie viel sie von sich preisgeben sollte«, be211
richtet \Veiner. »Das war damals ihr erstes großes Interview. Ein Intervie\:\,', wo eine vielschichtige Persönlichkeit in einem Artikel von dreitausend \\Torten offenbart wird.« Zugleich schien ihm Gaga, das gesteht vVerner ebenfalls , immer einen Schritt voraus zu sein. Als er eine Flasche Wein für sie bestellte, lehnte Gaga mit der Begründung ab, sich mitten in den Proben zu befinden - bestand dann aber darauf, dass der Kellner \\'einer immer ·w ieder nachschenkte. Sie wüsste, sagte sie vVeiner, wie das Spiel der Journalisten abliefe: Sie versuchten immer, ihre Gesprächspartner betrunken zu machen, doch bei ihnen beiden liefe es genau umgekehrt ab. »Sie legte diese entwaffnende Koketterie an den Tag. Sagte Sätze in dicken Anführungszeichen«, sagt vVeiner, »SO als kommentierte sie die Strategien der Befragten und die im Interview verwendeten rhetorischen Figuren des Fragenden.« Sie flirtete mit ihm - aber auf eine Art und vVeise, als erkenne sie im Gesprächsverlauf, so \\'einer, spionageähnliche Aktionen. Aktionen, bei denen sich die gegenüberstehenden Personen Informationen zu entlocken versuchten. »Sie sprach mit einer aufgesetzten Kleinmädchenstimme, achtete allzu penibel auf ihre Aussprache«, meint vVerner. »So eine Vorgehensweise macht sich zweifellos gut bei solch anzüglichen Liedtexten wie >Poker Face<.« Bei ihrem Gespräch war sie gleichermaßen widersprüchlich. Einerseits schien sie ein offenes Buch zu sein 212
andererseits gänzlich unverbindlich. vVenn vVeiner ihr eine Frage stellte, die sie nicht beantworten ·wollte diese betrafen meistens das Thema Sex -, sagte sie: »Dazu möchte ich nichts sagen.« Oder aber: »Das geht niemanden außer mir etwas an.« Dann trat sie bei der Sendung The View auf. Und Gagas Benehmen dort unterschied sich erheblich von ihrer für Großbritannien angeeigneten schelmischen Hochmütigkeit. Sie gab nun das durch und durch amerikanische Mädchen, das sich seit ihrem vierzehnten Lebensjahr »ins Zeug legte«, das »dankbar« war, Nacht für Nacht Gebete gen Himmel schickte und dessen wachsender Erfolg »furchtbar aufregend! « war. Ihr Haar war zu einem weißen Bubikopf frisiert und mit lilafarbenen Strähnen durchsetzt, sie steckte in einem Minikleid. Gaga sang »Just Dance« für ein kleines, einfach gestricktes Publikum aus dem Mittleren \Vesten, das verlegen mithüpfte. vVeiner war bei der Aufzeichnung dabei, wurde sogar gebeten, Gagas vVohnwagen zu besuchen. Diejenige Frau, die ihn dorthin geleiten sollte, meinte: »Sie können sich ja so glücklich schätzen.« Und als Weiner fragte: »\Varum?«, sagte sie: »Gaga möchte Ihnen etwas zeigen, was bisher noch niemand gesehen hatte.« Gaga wurde im vVohnwagen geschminkt. Weiner war gespannt. Und dann zeigte ihm Gaga ganz aufgeregt ein Bild von einem neuen Teil ihrer Bühnenshow, an dem noch gearbeitet wurde: ein Klavier aus Acrylglas, gefüllt mit durchsichtigen Seifenblasen. 213
Sie fragte: »Ist das nicht cool?« Weiner antwortete: »Ja« - dann durfte er den Vvohnwagen verlassen. Das mit Seifenblasen gefüllte Klavier war als Pendant zum Seifenblasenkleid konzipiert, das Gaga beim Auftakt der Farne Ball-Tour getragen hatte. Sie war darin ebenfalls auf dem Cover des »Hot Issue« der Zeitschrift Rolling Stone zu sehen. Es war ein Plagiat eines Kleides von Hussein Chalayan, das in dessen Frühjahrskollektion aus dem Jahr 2007 vorkam - dies aber erwähnte Gaga natürlich nicht. Im Februar 2010, als sie zum ersten Mal mit ihrem sogenannten »Living Dress« auflief - einem langen, kunstvollen, weißen Kleid aus üppiger Gaze und feenartigen Flügeln, die selbstständig auf- und zusammenklappten-, unterlief ihr dieser Fehler nicht noch einmal: Bevor sie das Kleid bei ihrem Konzert in Liverpool vorzeigte, schrieb sie in einem 1weet: »Heute Abend wird der von Hussein Chayalan inspirierte und vom Haus of Gaga entworfene >Living Dress
Gaga, die mit den Tänzern einen Tango vorführte, trug ein eng anliegendes Kostüm aus Spitze, darunter einen BH und einen Tanga. Ein Reporter von E\V.com war bei der Aufzeichnung im Studio dabei und beschrieb die Reaktion des Publikums wie folgt: »Die Zuschauer starrten gebannt auf das Spektakel. Man musste sie daran erinnern, dass eine Kamera auf sie gerichtet war. Dass sie sich bitte begeistert zeigen sollten.« Für Gaga gestaltete sich der Mai ganz toll. Sie gab ihr inzwischen berühmt gewordenes Konzert im New Yorker Terminal 5, zu dem auch Madonna mit ihrer Tochter Lourdes erschien. Plötzlich schenkte ihr die Branche ihre geballte Aufmerksamkeit. Vier weitere Konzerte folgten, eines in Austin, Texas, die restlichen drei in Kalifornien, wo Gaga unter anderem auch beim »Dinah Shore \Veekend« sang, einem jährlichen Treffen lesbischer Frauen in Palm Springs. >>Als ich bei ihr anfragte, war sie noch kein Star«, sagt Mariah Hanson, die Besitzerin eines Clubs namens Skirts, dem Veranstaltungsort jenes \Veekends. Als Gaga aber dort auftrat, kletterte »Poker Face« in den amerikanischen Charts gerade nach oben. Als Hanson sah, wie sehr sich Gaga bei ihrem Palm-Springs-Konzert hineinkniete, war sie tief beeindruckt: »Sie ließ das Publikum spüren, ·wie sehr sie es schätzte. Sie hatte das Seifenblasenkleid mit und machte vVitze über ihre Bisexualität sowie über die Hintergründe ihrer Songs. Die Zuschauerblicke klebten an ihren Lippen, ihr Enthusiasmus wuchs stetig an.« 215
Hanson engagiert viele Acts, deren Karrieren gerade beginnen - und ·wurde oft von ihnen enttäuscht. »In diesem Jahr war Ke$ha bei uns«, sagt sie. »Ihre Show ist okay, aber nicht großartig. Doch Lady Gaga ist für die Show geradezu geboren. Sie weiß, wie wichtig es ist, Kunst und Marketing miteinander ZU verbinden. vVenn wir an Lady Gaga denken, sollten wir uns an Cher und an Madonna erinnern. « Am 28. Mai sickerte Gagas gewaltige, von dem eigenwilligen Regisseur J onas Ak.erlund (Madonna, U2, Smashing Pumpltins) in Szene gesetzter Videoclip zu »Paparazzi« durch. Gaga beschwerte sich auf 1\:vitter, was - zusammen mit dem nachfolgenden Streit Z\Vischen ihren Gegnern und Anhängern - dem Clip Aufmerksamkeit bescherte. In dem mehr als siebenminütigen Clip spielt Gaga einen Star, der von ihrem Freund - gespielt von Alexander Skarsgärd, dem Darsteller aus True Blood, der durch seine angebliche Äußerung, Gaga nur mit vViderwillen geküsst zu haben, zum Streit beitrug - vom Balkon gestoßen wird. Nun sitzt Gaga im Rollstuhl, hat eine Halskrause an, geht auf Krücken, tanzt, so gut es geht, macht mit HeavyMetal-Typen auf einer Couch rum. Am Ende tötet sie ihren Freund. \Vie stets unterstützte Perez Hilton Gaga nach Kräften; stellte etwa den Clip mit folgender Kritik auf seine Blog-Seite: »Die neue Prinzessin des Pop hat ein Meisterwerk geschaffen! Es ist ihre bisher überzeugendste Arbeit. Der Clip ist ein Minifilm. Ist Kunst. Ist visuelle 0
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Pornografie. Satire. Eine Stellungnahme. Der Clip ist brilliant! \Vir übertreiben nicht. « Es war Gagas bis dahin anspruchsvollstes vVerk. Es war eine Rückkehr zu den langen, sich um eine Handlung drehenden Minifilmen, die Acts ·wie Michael J ackson, Madonna und Guns N' Roses in den Achtzigern und Neunzigern gedreht haben. Der Clip bezieht sich unter anderem auf Alfred Hitchcocks Vertigo , die HairMetal-Band vVarrant und auf Minnie Mouse, deren Outfit Gaga in der Mordszene nachahmt. Gagas ausgeklügeltes Styling darf man auf Äkerlunds Frau, B. , zurückführen. Sie schuf unter anderem den aufgemotzten Rollstuhl. Gaga stellte B. ein. Sie verstanden sich gut miteinander, wenngleich B. nicht lange bei ihr blieb. Gaga verließ sich hauptsächlich auf vVilliams. So-wohl David als auch Angela Ciemny sind der Meinung, Gaga und \Villiams ähneln sich im Z\vischenmenschlichen wie kreativen Bereich »wie ein Ei dem anderen«. (Ein ähnlich wichtiges Teammitglied, Matt Williams vergleichbar, ist die Choreografin Laurie Ann Gibson.) »Matt ist kein sehr sozial orientierter Mensch, aber dafür ungemein kreativ«, sagt Angela Ciemny. »Er interessiert sich leidenschaftlich für altes Design, für Technik, für Kleidung, im Prinzip für alles.« Laut Angela Ciemny recherchieren Gaga und vVilliams gemeinsam, stöbern seltene Designbücher auf und alte Biografien, entwerfen daraufhin modernere Versionen des Alten, optimieren Elemente, erarbeiten Abläufe. »Obwohl mir 217
Gaga viel über die Menschen in ihrem Umfeld erzählte«, gesteht Angela Ciemny, »und Matt ganz gewiss jemand ist, der ihr wirklich en:vas bedeutet, weiß ich über ihn nichts.« Leute, die \Villiams noch aus seiner New Yorker Zeit kennen und mit ihm in L. A. zusammengearbeitet haben, wissen so gut wie nichts über ihn zu berichten. \Vas man weiß: Er wollte wohl unbedingt in der Modebranche arbeiten. Ob er Praktikant bei dem Mode-Label Proenza Schouler gewesen ist, scheint nicht sicher. \Villiams redet nicht viel. Er tauchte eines Tages in L. A. auf, wo er eine Beziehung mit Erin Hirsh begann. Den Rest kennen wir bereits: Hirsh selbst wollte für Gaga nicht arbeiten, empfahl ihr aber \Villiams, der Hirsh verließ und mit Gaga anbandelte ... An was sich nahezu alle erinnern können: \Villiams scheint ein Opportunist zu sein, und dies nicht gerade subtil. »Er sah unglaublich gut aus«, sagt jemand, der 2007 noch in New York auf Williams traf. \Villiams sei entschlossen gewesen, in einen gesellschaftlichen Kreis zu gelangen, der sich aus Schauspielern und Designern zusammensetzte und dessen Kopf Jack McCollough vom Mode-Label Proenza Schouler war. Laut einer Informationsquelle wollte McCollough nichts mit \Villiams zu tun haben. Williams verbrachte daraufhin viel Zeit mit Ben Cho, dem jungen, talentierten und bekannten .Modedesigner, der im Mittelpunkt der Szene an der Lower East Side stand. Cho ·war mit einflussrei218
chen Leuten der Subkultur befreundet. Er brachte Skater mit Filmsternchen zusammen, Filmsternchen mit Fotografen und Fotografen mit Künstlern, Designern und Musikern. Zu seinem Bekanntenkreis zählten unter anderem die Schauspielerinnen Chloe Sevigny, Christina Ricci und Natasha Lyonne, der Fotograf Ryan McGinley, der inzwischen verstorbene Künstler Dash Snow und die Songwriterin Chan Marshall, als Cat Power bekannt. Cho ·war ferner Gastgeber einer sonntäglichen Tribute-Party zu Ehren der britischen Band The Smiths in einem Club namens Sway. \\Tollte man in die Erste Liga der Downtown-Kunstszene eintreten, galt Ben Cho als der Schlüssel dorthin. »vVir haben Matt von Anfang an nicht vertraut«, sagt ein Freund von Cho. »Ben mochte Matt, und Matt war die ganze Zeit über mit ihm zusammen. Doch \Vir, Bens Freunde, fanden Matt zwielichtig, nicht vertrauens\vürdig. Er versuchte bloß über Ben die gesellschaftliche Leiter hochzuklettern.« »Matt war stets berechnend«, sagt ein anderer Informant. »Ich erinnere mich an ein Abendessen mit ihm und Ben im \Vest Village. Ben war verrückt nach Matt, doch der war ja ein Hetero. Trotzdem saß er mit süßlicher Miene da, redete ganz eifrig mit. « »Auch ich habe Matt als jung und eifrig in Erinnerung«, sagt ein anderer Bekannter aus dieser Zeit. »Er stand total auf Mode und hing ewig mit Ben zusammen, aber auch mit dem Fotografen David Sherry. Es stimmt. Er wollte ganz offensichtlich die richtigen Leute ken219
nenlernen. Dennoch hat er bei mir keinen schlechten Eindruck hinterlassen.« Laut Erendan Sullivan bestand \Villiams Umfeld hauptsächlich aus schwulen Männern, die in der Modebranche tätig waren. »vVenn Männer an ihm Interesse zeigten«, sagt ein anonym bleibender Berichterstatter, »übernachtete er zwar bei ihnen, doch überschritt er nie eine bestimmte Grenze.« Eine Freundin von Cho kann sich erinnern, dass dieser vVilliams als seinen Freund vorstellte. Eine andere Freundin von Cho vermutet, die beiden seien ein Paar gewesen. Sie meint ebenfalls, vVilliams sei es egal gewesen, wen er verletzte, wen er benutzte und wen er - hatte derjenige seinen Dienst getan verließ. Als vVilliams plötzlich seine Sachen packte und nach Kalifornien ausflog, sei Cho am Boden gewesen - das berichten viele, die beide Männer in jenen Tagen kannten. Doch weder ·wusste einer von ihnen, ·warum Matt vVilliams New York verließ, noch, was er plante.
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ATTACKE AUF DIE ANATOMIE
urück zum Mai 2009 und zurück nach L. A.,
wo Gaga in der Ellen de Generes Show mit ihrem inz·w ischen berühmt gewordenen rotierenden, kreisrunden Kopfschmuck auftrat. »Das ist meine Schranke«, erzählte siede Generes. »Das ist meine Gaga-Schranke.« Dann sang sie »Poker Face«. Das Lied begann als Kabarettnummer und ging in eine Tanznummer über. Noch am gleichen Tag wurde Gaga von 17:30 Uhr bis Mitternacht von einem Fotografen für das Cover des jährlich erscheinenden »Hot Issue« der Zeitschrift Rolling Stone abgelichtet. Am nächsten Tag, dem 12. Mai, trat sie live bei Dancing with the Stars auf. Am Abend darauf flog sie nach Australien, um sich der Tour der Pussycat Dolls anzuschließen. >>\\Tir saßen beim Catering, studierten örtliche Zeitungen. Deren Aufmacher berichteten nur von Gaga<<, sagt David Ciemny. »Die Dolls saßen neben uns. Es war schon peinlich.« Nicole Scherzinger, die Sängerin der Dolls, beobachtete Gaga an einem Abend in Australien von der Ku223
Iisse aus. »Ich sah mal kurz in ihre Augen«, sagt Scherzinger. »Und die machten mir Angst.« Sie führt aus: »Es gibt Dinge, die ich als Künstlerin ausdrücken möchte, die auch ziemlich viel Mut verlangen. Dennoch setze ich mir Grenzen. Gaga aber kennt keine Grenzen. Kennt keine Furcht. Sie teilt sich unglaublich kreativ und theatralisch mit. Sie hat viele neue Ideen und trägt die erstaunlichsten Kreationen, vornehmlich auf ihrem Kopf.« Hatten die Dolls nicht das Gefühl, die Show entglitte ihnen, weil Gaga dermaßen präsent war? Scherzinger: »vVir hatten keine Angst. \Vir nahmen sie nur als Konkurrentin wahr, mit der man rechnen muss. « In dieser Zeit ging Gaga mit einem Kerl aus, der sich Speedy nannte (sein wirklicher Name: Franl{ Lopera). Sie und vVilliams hatten sich ja getrennt; vVilliams war ·w ieder mit Erin Hirsh zusammen. vVomit Speedy sein Geld verdiente, bleibt unklar. Er wurde abwechselnd als männliches Model, als Künstler oder als Unternehmer in Energy-Drinks bezeichnet. Im Rolling StoneArtikel sagt Gaga, Speedy sei für sie eine Stütze, so wie einst Lüc, den sie als ihre große Liebe bezeichnet. »Es war ·wie bei Grease. Ich war seine Sandy und er mein Danny«, erzählte sie. Über ihre Bisexualität wollte Gaga mit dem Rolling Stone nicht reden - dies wäre, als bemühe sie sich um Effekte bloß. Ihre Aussagen zu Lüc waren aber sehr aufschlussreich. Sie hatten sich zwar getrennt, doch alle um sie herum wussten, dass Gaga immer noch an Lüc hing. 22Ll
»Über Lüc wird sie wohl nie hinwegkommen«, meint Angela Ciemny. Ihr Mann stimmt ihr in diesem Punkt zu. »Sie mochte ihn immer über alle Maßen. \Vas er auch wusste und ausnutzte.« Lüc tauchte bei der Feier zur Veröffentlichung von Gagas Album auf, die in dem inzwischen nicht mehr vorhandenen Virgin-Megastore am New Yorks Union Square stattfand. »Er wirkte auf sie wie eine Droge«, sagt Angela Ciemny. »Wir haben stundenlang über ihn geredet. Vor dem Megastore standen Hunderte von Kids Schlange, doch sie war völlig auf Lüc fixiert. Egal mit welchem Mann sie ausging, sobald sie in New York war, schien sie nur mit Lüc zusammen zu sein.« Niemand verstand, was Gaga an Lüc fand. Er redete wohl dauernd darüber, dass sie zu häufig Playback sang und er sie davon abzuhalten versuchte. Die allgemeine Abneigung Lüc gegenüber fasst Sullivan so zusammen: »Lüc. Fucking Lüc.« »\\Tas Speedy anbelangte, schien sie total gaga zu sein«, meint Scherzinger, die ihr vVortspiel offensichtlich nicht bemerkt hat. »Ich kann mich an ein Gespräch erinnern, in dem sie erwähnte, mit ihm in Urlaub fahren zu wollen.« (Die beiden wurden im Juni am Strand von Hawaii abgelichtet. Es waren die ersten Paparazzi-Fotos von einer ungeschminkten Lady Gaga, seit sie zu Lady Gaga geworden war. Sie trägt einen einteiligen schwarzen Badeanzug und Flipflops. Ihre Augenbrauen sind blond gefärbt, und ihr echtes Haar sieht kaputt und spröde aus. Die Fotos erwecken den eigenartigen Ein225
druck, als wüsste sie von den Fotografen. Bei einem Bild sieht sie direkt in Richtung Kamera.) >>Speedy war ein Freund des Fotografen David LaChapelle«, so eine Quelle. »Gaga verehrt LaChapelle sehr. vVenn man Speedy nach seinem Broterwerb fragte, meinte er ungefähr das: >Äh. < Der Kerl war das Gesprächsthema schlechthin. Er war wohl in der Lendengegend gut ausgestattet. Davon sprach Gaga zumindest oft.« Amanda Lepore, die transsexuelle Größe des New Yorker Nachtlebens, lernte Speedy und Gaga durch LaChapelle kennen, der Lepore »Muse« nennt. Auch mit dem Rapper Cazwell ist Lepore befreundet - er hat ihre erste Platte mitproduziert (einer der Titel darauf heißt »My Hair Looks Fierce«). Lepore sagt, Speedy seit seinem fünfzehnten Lebensjahr zu kennen, er sei Promoter einer Schwulennacht gewesen, die sich Beige nannte und in der Bmvery Bar veranstaltet \vurde. LaChapelle bestellte Lepore und Cazwell zu seinem Treffen mit Gaga in sein New Yorker Büro, wo das Konzept für die Rolling Stone- Fotostrecke besprochen werden sollte. Anschließend lud sie Gaga zum Abendessen nach Queens ein, in Speedys Elternhaus. »Sie zeigte sich bodenständig«, sagt Lepore. Gaga war zwar geschminkt, trug aber Leggings und flache Schuhe. »Sie sprach von Lady Gaga in der dritten Person: >Gaga würde das so oder so tun. < Jedenfalls nicht so, als meinte sie damit sich selbst. Ich glaube, sie hatte da bereits eine gewisse Grenze überschritten.«
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Gaga hatte ebenfalls einige ihrer alten Freunde eingeladen. »Die trugen alle eine Sonnenstudiobräune zur Schau, sahen aus, als spielten sie bei Jersey Shore (einer Reality-TV-Show auf MTV) mit«, sagt sie. »Einer ihrer Freunde hatte seine Augenbrauen gezupft, überhaupt all seine Körperhaare abrasiert.« Gaga hatte für alle Spaghetti gekocht, womit sie die gesamte Gesellschaft überraschte. Doch entsprach dies nicht letztendlich nur dem Bild eines gut katholischen Mädchens aus einer moderaten italienischen Familie, das schon immer behauptete, ein Teil von ihr möchte lediglich einen Mann heiraten, mit ihm glücklich werden? Als Angela und David Ciemny Gaga im Oktober 2009 in ihrem neuen L. A.-Zuhause besuchten, führte sie Gaga in die Küche, wo sie gerade - auf Stöckelschuhen, in enger Hose und schwarzem BI-I - das Abendessen für Matt \Villiams kochte, mit dem sie seit fast einem Jahr ·wieder zusammen war.
Gagas Stern in Australien stieg. Ihr Lied »Love-
Game«, das dort als Single veröffentlicht wurde, landete im April auf Platz 19 der Charts. Ihr Videoclip wurde verboten, unter anderem auch, weil sie keine Hose trug. (\Vas zum Zeitpunkt des Drehs als überspannt galt, hatte sich im Sommer 2009 zu einem Trend in der Stadt verwandelt. In New York City begannen die Mädchen, Oxford-Hemden mit einem Gürtel zu tragen. Dazu Schuhe und sonst nichts - so gingen sie zur Arbeit.) 227
Mitte Mai trat Gaga bei der Talk Show Rove auf und trug ein einfaches weißes Kleid mit V-Ausschnitt und auf ihrem Kopf eine 45 cm hohen Pyramide aus geflochtenem Haar. Sie sah aus wie ein Mitglied der Coneheads aus Saturday Night Life. Gagas Stimme hatte die raue, für New York typische Note verloren. Jetzt klang sie weit mädchenhafter. Ihr heimischer Akzent war weg, nun hörte sie sich an wie eine Nachrichtensprecherin. Sie benahm sich auch auffallend bescheiden. Doch sich selbst zu gratulieren , hatte sie nicht ganz aufgegeben »Seitdem du das letzte Mal hier warst«, sagte der Moderator Rove McManus, »bist du ununterbrochen auf Tour. Inzwischen fast zwölf Monate schon.« »Es sind ganz genau zwölf Monate«, korrigierte ihn Gaga. McManus: »Vlie lief es denn für dich bisher?« Gaga: »Erstaunlich gut. Ich bin so dankbar, kann es nicht glauben. Gestern bin ich in Neuseeland aufgetreten« - sie holte Luft- »zwölftausend Menschen haben meine Lieder mitgesungen.« Sie trat auch bei Sunrise auf, dem australischen Pendant zu The Today Show, wobei sie in der australischen Presse unter Beschuss geriet, weil sie Playback gesungen hatte . »In Australien muss man live singen. Man duldet dort kein Playback«, sagt David Ciemny. Er sagt außerdem , Gaga habe am Abend vor Sunrise einen Gig absolviert und nur drei Stunden Schlaf abbekommen. Als sie aufwachte, versagte ihre Stimme. 228
Sie litt unter Schlafmangel, unter dem Jetlag, lebte streng nach einer von ihr selbst auferlegten Diät. »Ich darf das nicht essen. Nein, ich darf das einfach nicht essen«, soll sie mantragleich sich eingetrichtert haben , so David Ciemny. »Sie wollte immer nur Salat, Fleisch und Käse vom Feinkostladen. Und Rummus und Hühnchen. Hummus mit gegrilltem Hühnchen, das mochte sie am meis ten. \\Tenn sie aber Gebratenes gegessen hatte, sagte sie anschließend: >Ich hab es richtig krachen lassen. «< \\Tie jede andere berühmte junge Frau musste Gaga ihr ohnehin lächerlich geringes Gewicht mindestens halten. »Ein Beispiel: Zwischen unserem ersten Treffen, wo wir ihre Maße genommen hatten, und der endgültigen Kostümanprobe hatte sie zwanzig Pfund abgenommen«, sagt eine Person von der Ausstattung, die noch letztes Jahr für Gaga gearbeitet hat. »Sie hätte \Vochenlang nicht gegessen, nur um in die Kleider zu passen , das sagte sie mir.« Gagas Zeitplan wurde immer enger, obwohl dies kaum möglich schien. David Ciemny erzählt, Gaga persönlich mindestens sechs Mal in verschiedenen Ländern ins Krankenhaus gebracht zu haben. Ein Krankenhaus aufzusuchen, das rieten ihr manchmal Freunde, manchmal rief sie aus ihrem Zimmer an und bat Ciemny selbst darum. »Ihr Werbezeitplan war ein vVitz«, meint David Ciemny. »Sie war krank, sowohl physisch als auch psychisch. Der wenige Schlaf und die vielen Shows hatten sie voll229
kommen ausgelaugt. Das ging so weit, dass sie aus purer Erschöpfung zu weinen begann. Sie solle in den nächsten drei Tagen lediglich schlafen, riet ihr ein Arzt. Daraufhin sagten wir all ihre Termine ab. Allerdings nur für die nächsten zwölf Stunden.« »Sie war völlig ausgebrannt«, sagt Angela Ciemny ihrerseits. »\Vir, David und ich, versuchten zu Gagas Manager durchzudringen, sagten ihm, dass sie nicht auftreten könne, dass sie länger als bis fünf Uhr morgens schlafen solle. Doch seitens des Managements hieß es immer: >Du Ange, mach, dass sie auftritt. Mach, dass sie isst. Mach, dass sie sofort schläft.<« Angela Ciemny glaubt, Gagas einziger Ausweg sei das Krankenhaus ge,:vesen. Da wurde sie zu einer Auszeit gezwungen. Gagas Erschöpfungszustand sei üblicherweise mit einem Infusionsbeutel behandelt worden, der Kochsalz, Elektrolyten und Vitamin B12 enthielt, sagt David Ciemny, der gelegentlich bei Gagas Eltern anrief, um sie über die Krankenhausaufenthalte zu informieren. Er berichtet: »Gagas Eltern sprachen sofort mit Gagas Manager, überschütteten ihn mit unangenehmen Fragen: >vVie kannst du nur unserer Tochter einen solch engen Terminplan aufbürden? Bist du irre? vVas denkst du dir bloß dabei?< Daraufhin bestellte mich der Manager zu sich, fragte seinerseits: >\Varum scheuchst du ihre Eltern auf, versetzt sie in Schrecken?<«
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Vom 1. bis zum 13. Juni, nach der Konzertreihe mit den Pussycat Dolls, begab sich Gaga nach Asien, um ihre Single zu promoten. Bereits am 26. Juni begann ihre zweimonatige Tour durch Europa. Dazwischen leistete sie sich jenen Urlaub, über den sie mit Scherzinger gesprochen hatte. Sie verbrachte ihn mit Speedy im Haus von David LaChapelles Eltern. Über Erin Hirsh, Gagas Stylistin, kam es zum Kontakt zu Kanye \Vest, der mit Gaga gemeinsam touren ·wollte. Nun war es so weit. \Vest flog nach Hawaii ein, \VO Gaga ihn traf und wo LaChapelle beide a Ia Tarzan und Jane fotografierte. »Etliche aus ihrem Team hielten nicht viel von der Idee einer gemeinsamen Tour. Kanye, das hat sich rumgesprochen, ist eine einzige wandelnde Katastrophe«, sagt David Ciemny. »Anthony Randall, zuständig für die Produktion, war derjenige, der gegenüber Gaga kategorisch wurde: >\\Tenn du dich mit Kanye zusammentun willst, dann ohne mich<, sagte er. Doch das war ihr egal. Randall gehörte nicht mehr lange zu Gagas Mannschaft.« \\Test und Gagagaben ihre gemeinsame Tour, »Farne Kills« betitelt, am 15. September 2009 bekannt. »Das Konzept für die Show basierte auf einer ausgeklügelten Zusammenarbeit«, sagt jemand aus dem \\Test-Umfeld. »Es war nicht dieser übliche Hier-die-Vorgruppe-undda-der-Hauptact-Kram. In der Show gab es viele Duette und einige gänzlich neue Songs. Und dann war da noch diese aufwendige Bühne. Das Ganze erschien mir sehr aufwendig und anstrengend für eine Künstlerin, die gerade mal durchstartet.« 231
Am 1. Oktober wurde die Tour abgesagt. Als Ursache der Absage gilt vVests Auftritt bei den MTV Video Music Awards. Da platzte er nämlich in die Dankesrede von Taylor Swift hinein, die für den besten Clip ausgezeichnet wurde, um zu sagen, dass an sich Beyonce den Videoclip-Preis verdient hätte. Es könnte aber nur einer der Gründe für die Absage gewesen sein. Es war wohl noch der beste Zeitpunkt gewesen, um sich einigermaßen galant voneinander zu verabschieden. Denn Kanye West war nach der MTV-Sendung in der Öffentlichkeit zu einem Feindbild geworden, seine Plattenverkäufe brachen ein. Sogar Donald Trump rief zum vVest-Boykott auf. Gaga indessen wurde zunehmend berühmter, wandelte sich vom Objekt der Neugierde zu einem von der Branche umarmten Star. Ihre Fangemeinde wuchs beständig an. »Es gab, ·was die Gestaltung der Show anging, interne Differenzen. Kanye selbst hat mir das erzählt«, sagt eine \\Test-Vertraute; das Verhältnis zwischen Gaga und \\Test sei angespannt gewesen. »Doch wenn es den Vorfall bei den Awards nicht gegeben hätte, hätte man sicher nach einem anderen Trennungsanlass gesucht. Jedenfalls wollte Kanye diese gemeinsame Tour nicht mehr. « »Im Nachhinein muss man sagen, dass die Absage das Beste war, was ihr passieren konnte«, meint Gary Bongiovanni, Chefredakteur der Fachzeitschrift Pollstar. »Sie war ohnehin die treibende Kraft der Tour. Nun machte sie als Headliner, als Showstar weiter.« (Laut 232
Poilstar nahm Lady Gaga auf Tour- vom 28. Oktober 2008 bis 14. März 2010 - 12,8 Millionen Dollar brutto ein.)
2009 trat Ciaga auf den beiden größten engli-
schen Festivals auf, »Glastonbury« und »Tin the Park«. In Glastonbury konnte sie wettmachen, was ihr Z\vei Jahre zuvor beim Lollapalooza nicht gelungen war: einen Open-Air-Auftritt hinlegen, bei dem alles tadellos luappte. Während ihres einstündigen Auftritts wechselte sie fünf Mal ihre Kostüme, war unter anderem gekleidet wie einst Dale Bozzio von den Missing Persons - in einem futuristischen Kleiderfetzen. Im Hintergrund tanzten auch noch drei Tänzer. Die Choreographie geriet etwas schwierig, denn Gaga begleitete eine neue Band. Es schauten ihr insgesamt fünftausend Menschen zu, darunter auch Mädchen, die sich ihr zu Ehren einen Blitz über einem Auge aufgemalt hatten. Nahezu alle Anwesenden kannten ihre Liedertexte. Ihr Funken sprühender BH sorgte für Begeisterung. Gegen Ende des Songs >>LoveGame« warf Gaga ihren Discostab hoch und begann zu hüpfen. Die Zuschauer taten es ihr nach. Dies wurde bei ihrer Konzerttour 2010 zu einem Ritual - inmitten der Show hüpfte man. Anschließend schrieb \Villiam Dean im Guardian: »Eine verrückt-brillante Popshow einer Künstlerin, die sich vor eine Riesenmenge zu Hause fühlt. « 233
Und bei Nadia Mendoza von der Sun hieß es: »Die irre Popdiva Lady Gaga begeistert die Menge mit einer Show, die man eher in einer glitzernden Halle als auf einem dreckigen Festival erwartet hätte.« Die Daily Mail bemerkte hingegen, wie sehr Lily Allen - jene britische Popsängerin, von der Gaga einst sagte, sie müsse sie »im Auge behalten« - bei ihrem Glastonbury-Auftritt Gaga in Dingen wie Kleidung und Make-up nachahmte. Hinter der Bühne trug Allen eine schulterlange platinblonde Perücke, auf der Bühne hingegen eine lilafarbene. Sie klebte sich zudem zwei rosafarben glitzernde Halbmonde unter ihre Augen, zog einen lilafarbenen einteiligen Hosenanzug an und zu Ehren von Michael Jackson , der einen Tag zuvor, am 25. Juni, gestorben war, einen weißen Handschuh. David Ciemny erinnert sich: »Am letzten Tag unserer Proben, also einen Tag vor Glastonbury, erfuhr ich von Jacksons Tod. Im Proberaum noch berichtete ich Gaga davon. Sie erwiderte nur: >Hör doch auf. Ich will nichts davon hören. Keine Witze. Halt den Mund! <Erst eine Stunde später begriff Gaga. Und zeigte sich erschüttert. Sie mochte Jackson sehr und wusste, dass auch er sie schätzte.« Noch immer machten - vor allem im Internet - Gerüchte die Runde, sie sei ein Zwitter oder gar ein Mann. Ein ins Netz gestelltes, immens unscharfes Video blickt unter ihren hochgerutschten Rock, wo ein Etwas hin und her baumelt. Dazu kommt ein angebliches Zitat von 23Ll
Gaga: »Ich schäme mich nicht. Doch es gibt da etwas, ·was ich nicht in die vVelt hinausposaunen möchte.« Mehrere vVochen lang diskutierte man über das Thema und Gaga tat nichts, um die Gerüchte zu entschärfen. Bis sie endlich Stellung bezog und sagte: »Ich bin nicht beleidigt, aber meine Vagina ist es.« (Daraufhin spekulierte man in Blogs darüber, ob Gaga die Debatte nicht bewusst gesteuert hatte, um Aufmerksamkeit zu erzeugen.) Gaga selbst bemerkte, das \Vichtigste für sie wäre, innerhalb von sechs Monaten vier Millionen Platten verkauft zu haben. Und sie stellte eine scharfsinnige Theorie auf, warum das Gerücht so viel Aufmerksamkeit erlangt hätte: »Wir verbinden Stärke nun einmal mit Männern, und ein Penis ist das Symbol männlicher Stärke schlechthin, wissen Sie - er ist, was er ist.«
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NEUER LOOK
~~!lb-"m~ Juli 2009 tourte Gaga durch Eurcpa. ln die-
ser Zeit lernte sie Nicola Formichetti kennen, der sie für Fotoaufnahmen des V Magazine - eines semiextravaganten amerikanischen Modeheftes, das sich in einer Nische eingerichtet hat - stylte. Der dreiunddreißigjährige Formichetti - halb Italiener und halb Japaner ·wird allgemein für den talentiertesten Stylisten seiner Generation erachtet. Er steht in den Impressen von Vogue Hommes Japan, V, V Man, AnOther und AnOther .N!an. Zusätzlich ist er als Kreativdirektor bei der britischen Zeitschrift Dazed and Confused tätig und hat mit so unterschiedlichen Marken wie Prada, Levi's, Missoni, H & M, Max Mara und Alexander McQueen zusammengearbeitet. Egal wie talentiert vVilliams war, wie brillant er es verstand, Gagas Look zu formen, Formichetti galt schlicht als Genie. Keiner der namhaften Designer wollte etwas mit Gaga zu tun haben, an sie Kleidungsstücke verleihen - bis Nicola Formichetti in Gagas Leben trat. Er brachte sie weg vom kostümhaften, effekthascherischen Look und hin zur Exzentrizi239
tät der Raute Couture. Jedenfalls kämpfen heute große Designer darum, Gaga einkleiden zu dürfen. »Nicola allein zeichnet für ihren kantigen GlamourLook verantwortlich«, sagt ein Branchenkenner. »Er verfügt über jene Finesse, an der es Gaga manchmal zu mangeln scheint. Allzu häufig hatte sie zu viele Sachen gleichzeitig an, so dass letztendlich nichts zueinanderpasste. An ihrem Outfit legten zu viele Leute die Hand an. Ihr katastrophaler Look erscheint nun weniger katastrophal. Da wird Formichettis Einfluss spürbar.« Ein Ausstatter, der Gaga bei einer ihrer Touren beraten hat, ist der gleichen Meinung: Vor Formichetti hatte es anscheinend in Sachen Erscheinungsbild keine durchdachten, schlüssigen Entscheidungen gegeben. »Es schien, als wäre ihr Ruhm so schnell gewachsen, dass keiner damit umgehen konnte«, sagt eine Gaga nahe stehende Person. »Es passierte dermaßen viel, dass der Eindruck entstand, ihr Team hätte nicht unbedingt alles unter Kontrolle. Es schien lediglich und immer zu heißen: >Machen wir es, so gut es geht, Hauptsache wir tun etwas.«< Bei den Fotoaufnahmen fürs V Magazine entströmte ihre Musik den Lautsprechern - genauso wie früher bei vVarwick Saint in L. A. Der Dreh begann um neun Uhr morgens, in den Splashlight Studios/ New York City. Soeben flog Gaga aus Kanada ein, trug noch das Makeup vom Vorabend. Gaga bat um Sushi, erzählt eine Assistentin, die bei der Fotosession dabei war. »Sie hatte nicht geschlafen, trug noch il1r Auftrittskostüm«, sagt 2LID
die Assistentin. »Dennoch strahlte sie positive Energie aus. Sie schien für alles offen.« Gaga zeigte sich durch ihren Donatella-Versace-Look topmodisch - und sowieso ihrer Zeit voraus: Sie besaß ihn lange Zeit bevor sich Jersey Shore, das Reality-TV, den Look zu kultivieren anschickte. Angela Ciemny behauptet, Gaga würde alleine aus Spaß zwischen weißem Teint und gebräunter Haut hin- und herschwanken. Den einen Tag sprühte sie einen Selbstbräuner auf ihre Haut, am nächsten Tag wusch sie ihn weg. Dabei verschwendete sie keinen Gedanken daran, was sie da ihrer Haut antat. Sie ging unter die Sonnenbank, wenn eine dunklere Hautfarbe zu ihrem Look zu passen schien. »Es kam immer nur auf den Look an, den sie anstrebte«, sagt Angela Ciemny. »Für diese Aufnahmen hatte sie sehr viel Selbstbräun er aufgetragen«, sagt die Assistentin. »Sie ist klein, ihre I-laut ist eher orangefarben. Sie sah wie eine Angehörige vom Zwergenvolk der Oompa Loompas aus.« Gagas Entourage blieb im hinteren Raum, \Villiams wurde am Set nicht gesichtet. Im Gegensatz zu ihrem Drang, alles unter Kontrolle haben zu wollen, zeigte sich Gaga in den Gesprächen mit Formichetti sehr gelassen. \Vie ein Informant berichtet, soll Gaga von ihrer falschen Bräune, ihrer fürchterlichen Frisur, der billigen Aufmachung überhaupt ziemlich begeistert gewesen sein. »Sie war damals ungefähr drei Kleidergrößen dicker. Hinter geschlossenen Türen wirkte sie total normal.« 2Lll
Jener eben zitierte Informant - der auch Matt vVilliams sowie Erin Hirsh kennt - behauptet, die Wandlung der Lady Gaga zur Stilikone sei allein Formichettis Verdienst. Als er Designer um Kleider für die V-Aufnahmen bat, erwähnte Formichetti mit keinem \Vort, wen er da zu fotografieren beabsichtigte. Er wusste: vVenn er Gaga erwähnte, ·würde man ihm keine Kleider zur Verfügung stellen. Sie ·war auf dem V-Cover vom Herbst 2009 - kastanienbrauner Teint, ihr Haar leuchtete weiß. Die Überschrift lautete: »lt's Lady Gaga's vVorld ... vVe're Just Living in I t! « Nach dem Ende der Fotosession fürs V Magazine stellte Gaga Formichetti an - oder wie sie sich auszudrücken pflegt: Sie lud ihn ein, ihrem I-laus beizutreten. »Sie ließ Formichetti stets viel Spielraum«, sagt David Ciemny. »So ist sie eben. vVenn sie einen guten Draht zu einer kreativen Person hat, räumt sie ihr viel Spielraum/ Macht ein.« Bald schon schloss die I-laute Gouture Gaga in ihre Arme. Formichettis vVeigerung, Kleider von Designern zu beziehen, die sich ehedem Gaga gegenüber ablehnend verhalten hatten, machte auf Gaga Eindruck. Ein Bekannter Formichettis schildert: »Nicola ist zwar ein geselliger Mensch, der sich gern in der Szene bewegt, er ist aber ebenso still und verschlossen. Er öffnet sich Leuten gegenüber nicht häufig.« Gaga ist da ähnlich. Beide fanden ihre Seelenverwandtschaft schnell heraus. 2LI2
Die beiden tauschten - zumeist telefonisch und per E-Mail - Ideen miteinander aus, während Formichetti bei TV-Auftritten und wichtigen Events vor Ort war. »Die meisten Stylisten haben einen fertigen Look«, sagt David Ciemny. »Doch Nicola lieferte Gaga lediglich einzelne Elemente. \Vie beim Puzzle setzte sie die Teile zusammen, fügte ihre eigenen Accessoires hinzu. « »Soweit ich weiß«, sagt ein Designer, der mit Gaga zusammengearbeitet hat, »besteht ihr Team aus Nicola und Matt. Obwohl sie es immer so darstellt, als würden alle Eingebungen von ihr stammen. « Gaga war wieder mit \Villiams zusammen, der inzwischen einen Sohn hatte . »Matt lief Gaga richtiggehend hinterher«, sagt jemand, der \Villiams als Opportunisten einstuft. »Er bemühte sich tierisch um sie. \Var in ihrer Nähe, selbst wenn sie mit anderen Typen rummachte. Doch warum sollte er es nicht tun? Sie ist derzeit der größte Popstar der \Velt. Es wäre ganz schön dämlich, es nicht zu versuchen. «
Es ist recht schwierig, den genauen Zeitpunkt zu
bestimmen, wann sich das Blatt für Gaga wendete. \Vann aus der unbekannten Künstlerin eine fixe Größe, dann eine Berühmtheit und schließlich ein Superstar wurde. Höchstwahrscheinlich brachte der Auftritt bei den MTV Video MusicAwardsam 13. September die Trendwende. Sie erschien dort mit Kermit, dem Muppet-Show-Frosch, ließ ihn allerdings in der Limousine zurück, nahm wäh2-43
rend der Feier neben ihrem Vater Platz. Der Abend begann mit ihrem Part. In einem weißen Kostüm lag sie da auf der Bühne - es sollte eine Hommage an Madonnas Auftritt von 1984 sein - bei gleichem Anlass sang sie »Like a Virgin«: Es wurde Madonnas Durchbruch. In der Liedmitte von »Paparazzi« setzte sich Gaga ans Klavier, legte sogar einen Fuß auf die Klaviatur. Sie wechselte zum hinteren Bühnenteil, Blut kam an ihr auf, sie verschmierte es sich im Gesicht, dann brach sie zusammen. Umringt von Tänzern, die den Blick auf sie verdeckten, wurde sie an einem Seil hochgezogen. »Bei den Awards präsentierte sich Lady Gaga einem Branchenpublikum, das sie unter Umständen noch gar nicht kannte, auf einem riesigen Präsentierteller« sagt Liz Gateley. »Ihr Auftritt an jenem Abend war unvergesslich.« Sie gewann den Preis als beste neue Künstlerin. Beinahe hätte sie es geschafft, die Schlagzeilen des nächsten Tages zu bestimmen - wenn dies nicht Kanye vVest vereitelt hätte, indem er Taylor Swift angriff. Dennoch wurde Gaga danach auch in den USA zum Mainstream-Star. Im Oktober verlieh ihr die Zeitschrift Billboard den ersten Preis in der Kategorie »Rising Star of 2009«. Am 4. Oktober trat Gaga bei Saturday Night Life auf, wo sie in einem Sketch mitspielte, der auch einen lautstarken Disput zwischen ihr und Madonna beinhaltete. Ihre musikalischen Einlagen schnitten viel besser ab als die von Madonna. »Gaga sah gelöst und nicht so einstudiert aus und stimmte ein besonderes Medley an«, schrieb Todd Martins auf dem
Musikblog der L. A. Times. »Es war schön, einen Popstar zu sehen, der sich nicht nur, um nackte I-laut zu zeigen, reckte und streckte.« »Am meisten ers taunte mich ihre Intelligenz«, sagt die Tänzerin Christina Grady, die mit Gaga bei einigen Fernsehauftritten zusammengearbeitet hatte. In ihren Augen ist Gaga eine sehr kontrollierte, sehr bestimmt auftretende Person. Grady war dabei, als Gaga eine z·weite Version von »Bad Romance« komponierte, die balladenartig beginnt und in ein Medley übergeht, sich aber hauptsächlich als eine Ode an New York City versteht. »Sie komponierte diese Version in meinem Beisein. Ihre Band war auch dabei«, sagt Grady. »Sie hatte alles bereits geordnet in ihrem Kopf, teilte jedem der Bandmitglieder mit, welche Note er zu spielen hatte. Bereits nach zwanzig Minuten hatte sie die Version komplett. « Gagas Ansehen, auch als Künstlerin, wuchs stetig weiter. Sie war die Hauptrednerin auf dem National Equality March in \Vashington D. C. sowie eingeladen beim Human Rights Campaign National Equality Dinner, wo Präsident Obama ·witzelte: »Es ist mir eine Ehre, die Vorgruppe von Lady Gaga zu sein.« Noch im gleichen Monat sang sie ebenfalls bei der Feier zum dreißigjährigen Jubiläum des Museums für zeitgenössische Kunst in Los Angeles. Der Künstler Francesco Vezzoli schuf ein Porträt von Gaga in Petit-Point-Stickerei. Sowohl Ihr Kleid als auch die Kostüme ihrer Tänzer stamm245
ten von Miuccia Prada, während Damien Hirst ihr Klavier entwarf, Frank Gehry aber ihren Hut. Am 23. November veröffentlichte Gaga The Fame 1\fonster, eine Platte, die im Grunde genommen einer Neuveröffentlichung von The Fame glich, aber dann doch acht neue Titel aufwies. Das Cover stammte vom französischen Designer Hedi Slimane, der auch schon Plattenhüllen für Daft Punk und Phoenix entworfen hatte - richtig berühmt hatten ihn jedoch seine Entwürfe für Dior gemacht, wo er von 2000 bis 2007 arbeitete. The Fame Mon..<:;ter landete zuerst auf Platz fünf der Billboard Hot 200, schaffte aber in acht anderen Ländern Platz eins. Gaga habe mit der Veröffentlichung ihren Status als Star zementiert, meinte die britische Fachzeitschrift New Musical Express. Und Josh Modell von der Zeitschrift Spin schrieb: »>Bad Romance< hört sich an wie der beste Madonna-Song seit Ewigkeiten.« Die Zeitschrift Rolling Stone hingegen zeigte sich ein bisschen verhaltener und bezeichnete das Album als »größtenteils gelungen«. Selbst die selbstgerechte, anspruchsvolle Netz-Musikseite Pitchjork - die sich auf Indierock spezialisiert hat - sah sich gezwungen, Gagas Album zu rezensieren. Sie lobte die Platte sogar in den höchsten Tönen, bezeichnete die Single »Bad Romance« als »die wohl beste Popsingle und das beste Popvideo 2009«, als »fern von Schablonen«. Pitchfork verglich Gaga mit Madonna und Prince zu deren Bestzeiten und nannte sie »den einzigen echten Popstar, den es zurzeit gibt«. 2-46
Das Musikvideo als Epos wiederzuentdecken, das ·war zweifellos Gagas Verdienst. Der von Akerlund inszenierte Clip ·war nicht nur wegen seiner unerschrockenen Extravaganz und dem makabren Humor bemerkenswert, sondern auch wegen seines Schlusses: Man platzierte Gaga neben einem Skelett, wobei sie sich auch noch an einer verkohlten Matratze abstützte - aus ihrem schwarzen BH sprühten Funken. (Der BH ist inzwischen zu einem Markenzeichen ihrer Live-Shows geworden.) Plötzlich geschah Unerwartetes. Gaga, der lange von Kritikern wie von Musikerkollegen vorgeworfen worden war, hochkulturorientierten Ideenklau zu betreiben, wurde selbst nachgeahmt. Fast auf einen Schlag bedienten sich viele Popstars bei Gaga, vor allem ihren Look kopierend, Popstars wie Fergie, Beyonce, Ke$habesonders aber Christina Aguilera, die einst an Gagas Geschlecht Z\veifelte, indem sie sagte: »Es scheint mir unsicher, ob sie ein Mann oder eine Frau ist.« Sowohl Aguileras neuer Look als auch der Sound ihrer Musik sowie ihre Videoclips zeugten von Gagas starkem Einfluss. Gaga, die Leute bis dahin für zu billig, unattraktiv, zu klein, zu einfallslos, für eine Kreation von Stylisten gehalten hatten, war zu seiner Modeikone aufgestiegen, um die sich die vVelt drehte. Von Gagas Aura zehrten sämtliche Modeshows im Herbst 2009, egal ob in New York, Paris, London oder Mailand. Riccardo Tisei von Givenchy hatte bereits im Januar jenes Jahres auf Gaga 0
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hingewiesen, als in seiner Kollektion eng anliegende Kostüme auftauchten. Und Derek Lam, ein amerikanischer Designer, der für zurückhaltende Eleganz steht, schickte Models ohne Hosen über den Laufsteg. Die Modeshow von Michael Kors begleitete Gagamusik vom Band. Im Herbst 2009, bei Mark Jacobs After-Show-Party- dem Höhepunkt der New Yorker Fashion \Veek- trat Gaga als Ehrengast auf. Jean-Paul Gaultier griff den hosenlosen Look auf und schickte ein Model mit einem metallfarbenen, körperbetonten Kostüm den Laufsteg herunter. Die Models der Chanel-Show zeigten sich mit Schleifen aus Haar ( Lagerfeld hatte im Jahr zuvor auf Gagas Konkurrentin, Amy \Vinehouse, Bezug genommen, während Lily Allen, ebenfalls eine Gaga-Konkurrenz, für Chanel wirbt). McQueens Show war ein gagaeskes Fest cartoonartiger Schönheit - mit Models, die auf paillettenbesetzten, sogenannten »Armadillo-Schuhen« über den Laufsteg stöckelten. (Sie gehörten zum McQueen-Outfit, das Gaga im Clip zu »Bad Romance« anhatte.) In der amerilmnischen Vogue vom Dezember 2009 war Gaga dann in einer Fotoserie zu sehen, die sich thematisch mit den Märchen der Gehrüder Grimm befasste. Und im Januar 2010 erschien sie auf dem Titelblatt der amerikanischen Ausgabe von Elle. Die Modezeitschrift Women's Wear Daily berichtete, die Verkäufe für teure Dessous, besonders für Korsetts, schnellten nach oben - ein Trend, den die Branche Lady Gaga zuschrieb. Dem People Magazin sagte Gaga, eines ihrer 2-48
Ziele sei, Gegenstand einer Ausstellung des Metropolitan Museum of Art's Costume Institute zu sein. Im Dezember spielte Lady Gaga für die englische Königin auf, bediente - ungefähr sieben Meter über der Bühne aufgehängt - ein hochgehievtes Klavier, das in seiner Pracht dort oben schauerlich wirkte. Sie trug ein rotes Latexkleid, ihre Augen umrandete roter Glitzer. Barbara vValters ernannte sie ZU einer der »10 Most Fascinating People of 2009«. Anlässlich der WaltersSendung kleidete sich Gaga ähnlich wie ihre achtzigjährige Gesprächspartnerin ein, der dieser Scherz allerdings entging. Im Januar war sie Gast von Oprah Winfrey, sang in einer Kulisse, die an eine verdreckte Straße im East Village erinnern sollte. Sie sorgte bei dem aus schwulen Männern und gutbürgerlichen Hausfrauen bestehenden Publikum für ausgelassene Stimmung. Die gemeinsten Kommentare zu ihrer Person musste sich Gaga von den Branchenkollegen anhören. Neben der bereits erwähnten bissigen Bemerkung von Christina Aguilera - nach der sich Gaga öffentlich bei ihr bedankte, sie mit ihren vVorten ins Gespräch gebracht zu haben - sowie der Äußerung von Grace J ones hat sich kürzlich auch die Rapperin M. I. A. der kritischen Sichtweise einiger Popstars auf Lady Gaga angeschlossen. »Sie ist eine gute Nachahmerin, progressiv ist sie jedenfalls nicht«, meinte M. I. A. »Sie klingt mehr nach mir, als ich es selbst tue! Sie ist die letzte '~affe, die die 249
Musikindustrie auffährt, um sich wichtigzumachen. Dabei hämmert sie uns ein: >Du brauchst unser Geld, unsere Unterstützung, die Stadien.
Die New York Post veröffentlichte eine Reihe von Fotos, auf denen Fans zu sehen waren, die sich ·wie ihr Idol, wie Gaga, gekleidet hatten. Die New York Times deren Kritik für ihre Show im Terminal 5 acht Monate zuvor vernichtend gewesen war- schwärmte: »Ihre Stimme ist kräftig genug, um a cappella zu singen. Sie begleitete sich selbst am Klavier. Schmetterte, eingehüllt in eine schwarze Federboa, »Speechless«. Sie klang wie das weibliche Pendant zu Elton John. Und zu ihren Showkünsten meinte der Times-Autor Jon Pareles: »In Sachen Kopfschmuck kann es niemand in der Poplandschaft mit ihr aufnehmen.« »Die Lieder - mitreißende, üppige Discohymnen sind in dieses überwältigende Fest eingebettet, ohne dass sie untergehen«, schreibt Rob Rarvilla von Village Voice. »Vorgetragen werde sie von einer geschmeidigen, sicheren, gewaltigen Stimme.« Im Februar sang sie bei den Grammys ein Duett mit Elton John und eröffnete damit die Show. In einer vorher aufgenommen Feier gewann »Poker Face« den Preis als beste Tanzplatte und The Farne als bestes Tanzalbum. Gagas Outfits stammten allesamt von Giorgio Armani. Im Laufe des Abends trug sie ein lilafarbenes, mit Swarovski-Steinen besetztes und mit schmalen Reifen versehenes Kleid; ein grünes, paillettenbesetztes, hautenges Kostüm, das sie wie eine Außerirdische aussehen ließ, sowie ein Minikleid, das sich hintenrum hochwölbte und Einblicke auf ihr Gesäß gewährte. Das Outfit wurde gekrönt durch einen Hut, 251
der aussah, als hätte sich ein Blitz mit einem Gletscher gepaart. Die Fernsehsendung hatte die besten Einschaltquoten seit sechs Jahren. Die einhellige Meinung der Branche war, dass dies zum Großteil dank Gaga geschah. Hinterher flog Gaga nach England, um dort ihre erste Hallentournee, um The Monster Ball zu starten.
Ende April gehörte Lady Gaga laut Time Magazin
zu den hundert einflussreichsten Menschen des Jahres 2010. »Die Aufgabe eines Künstlers ist es, den Moment einzufangen - sei es durch Worte, Töne, Texte oder Lieder. Es gilt für ihn festz uhalten, was es heißt, im Jetzt zu leben«, schrieb Cyndie Lauper in jenem Magazin. »Die Kunst von Lady Gaga spiegelt unser heutiges Leben wider.« Egal \vie viel Wahrheit in diesen \\Torten stecken mag- Gaga isteine extravagante, funkelnde Abwechslung in einer Zeit andauernder Rezession und zwei aus der Sicht der USA - offensichtlich nicht enden wollender Kriege. Sie möchte die Leute an sich nur zum Tanzen bewegen - und treibt nebenbei die Popkultur voran. Ihre 2010-Konzerttour, die sie als »postapokalyptische House Party« konzipiert hat, darf gleichzeitig als der schwulste Nichtschwulerr-Nachtclub bezeichnet werden, bei dem Leuchtstäbe geschwenkt ·werden und schweißnasse, haarlose Backup-Tänzer wild umhertoben. Ihre Tour läuft weltweit bestens, zieht Menschen aller 252
Altersstufen an. Die seltsame Pansexualität, der sie in ihrer Show huldigt, geht sowohl mit der Zeit und ist ihr gleichzeitig voraus. Momentan wird bei uns viel über gleichgeschlechtliche Ehe diskutiert. Bei diesem Thema reagiert die Gesellschaft gespalten. Derweil der gegenwärtige ameril{anische Präsident die »Don't ask, don't tell«-Praxis - nach der homosexuelle Soldaten nur so lange beim Militär mitmachen dürfen, solange sie sich nicht als homosexuell outen - aufheben will. Alleine schon der im April von amerikanischen Soldaten in Afghanistan nachgespielte Clip zu Gagas Single»Telephone« spricht für Gagas immense Popularität. Darin wirbeln sich Soldaten gegenseitig durch die Luft, fallen sich in die Arme und führen - halbverkleidet und halbnackt - einen Tanz in Reihe und Glied auf. Um den Hals eines Soldaten hängt sogar ein riesiges »LG«-Logo. Der gesamte Clip ist geprägt von Ernsthaftigkeit für ein Lied, das doch nur von einem Mädchen handelt. Von einem Mädchen, das seinem Freund sagt, er solle es anzurufen aufhören, denn es sei in einem Nachtclub zu Gast. »Extremes fasziniert uns. Und diese Sonderbarkeit macht sich Gaga zunutze«, meint Ann Powers, PopmusikRedakteurin bei der L. A. Times. »Dinge, die früher mal lediglich am Rand besprochen v,rurden, stehen plötzlich im Mittelpunkt des Interesses. Der erfolgreichste Film der letzten Zeit hieß Avatar. Im Fernsehen dürfen wir allzeit Menschen mit sonderbaren Verhaltensmustern bei ihren Sonderbarkeiten zuschauen. Überall 253
stoßen wir auf \Verbung für Schönheitsoperationen. Kurz: vVir leben im Zeitalter der Freaks.« Gaga ist berühmt - und scheint sich darüber zu freuen. Penibel achtet sie darauf, ausschließlich in ihrer Rolle als Lady Gaga abgelichtet zu werden, was für ihre Arbeitseinstellung spricht. In einer Zeit, wo sich talentlose Privatmenschen vor Fernsehkameras drängeln und danach über Blogs, Gerüchte und Paparazzi entrüsten, schreibt eine junge Frau einen Song darüber, sowohl Paparazzi zu verfolgen als auch von ihnen verfolgt zu werden. Im Gegensatz zu einer Paris Hilton und ähnlich tickenden Gestalten gibt es kaum ein Foto, auf dem Gaga von Drogen umnebelt wirkt. Ihr Privatleben breitet sie nicht in der Öffentlichkeit aus. Man hat sie noch nie bei etwas ertappt, das sie nicht sagen oder tun ·wollte. Sie wollte berühmt ,:~,,erden und macht nun nicht den Anschein, der Ruhm wäre ihr eine Last. Sie belässt die Öffentlichkeit im Glauben, berühmt zu sein, sei genauso wunderbar, wie diese sich das vorstelle. Damit agiert sie wohltuend anders. »In ihrem Dasein als Berühmtheit verhält sie sich sehr cool«, sagt DiSanto von MTV. »Sie spielt die aufstrebende Diva. Diese Rolle ist ihr auf den Leib geschneidert.« Über den Ruhm spricht Gaga häufig, ganz so, als sei es ein alles bestimmendes Thema. Selbst als sie es noch nicht war, behauptete sie, berühmt zu sein. Sie versucht allerdings, und dies ist ein Verdienst, ihren vVunsch nach Ruhm zu einer Art Kunst zu erheben. Und wenn 25Ll
man mal behauptet, dies und das sei Kunst - wer will da einem schon widersprechen, wer soll wie das Gegenteil beweisen? Die einzige Person, die derzeit ebenfalls mit den Themen Kunst, Berühmtsein, Profit sowie der devoten Haltung der Konsumenten ähnlich geschickt spielt, dürfte der britische Künstler Banksy sein. Er wurde Ende 2006 weltweit bekannt, als er mit dem Produzenten und Performer Danger Mouse fünfhundert Kopien von Paris Hiltons Debut-CD (mit Titeln wie »\Vhy am I Famous?«, »\\'hat am I for?«) mit Kunst versah. Er schaffte es ebenfalls auf die Liste der hundert einflussreichsten Menschen im Time-Magazin. Shepard Fairey, Straßenkünstler, beschreibt Banksy als ein Sinnbild der Kunstwelt, denn: »Er vermengt Authentisches mit Absurdem.« Im Gegensatz zu Gaga gibt Banksy aber - abgesehen vom Film Exit Through the Gift Shop - keine Interviews, hat sein Äußeres nie offenbart. Eine hochrangige Persönlichkeit aus der Musikbranche hält Gagas Leutseligkeit für ihren einzigen Fehler. »Sie hat alles goldrichtig gemacht. Bis auf die Interviews. Die sollte sie lieber lassen«, meint derjenige. »Damit nimmt sie die Spannung raus. Stellen wir uns doch mal David Bowie als Ziggy Stardust bei Oprah vor. Da würden wir doch auch nur aufschreien: >Gottogott! Bitte nicht! vVie gruselig!< Bei uns auf der Schule bezogen manche Kids Prügel, weil sie ihr Haar falsch frisiert hatten und deswegen >FreakSchwuchtel< gerufen wurden. \Väre ich Gagas Manager, würde ich 255
ihr jedenfalls sagen: >Keine Interviews. Du bist größer als das Leben selbst. Du hast enorme Fantasien in den Köpfen der Menschen freigesetzt, lass sie also damit arbeiten, zerstöre sie nicht. «< »Sie ist eine audiovisuelle Künstlerin. Eine solche haben wir seit Madonna und Michael Jackson, seit den Anfangstagen von MTV, nicht mehr gesehen«, sagt jemand aus der Branche. »Viele haben es versucht, doch niemand schaffte es, seine Videoclippremieren in die Sphäre von Events zu heben.« Als Ausschnitte aus Gagas Clip zu »Alejandro« im Internet durchsickerten - gedreht von Steven Klein, der früher mit Madonna zusammenarbeitet hat - und man bei Gaga ein fehlendes Bein registrierte, wuchsen sich die Blob-Diskussionen zur Hysterie aus. Hat sich Gaga da tatsächlich ein Bein amputieren lassen? Das fragte man sich im Ernst. Gaga spricht alle Schichten, Menschen unterschiedlichen Alters an. »Ich mag sie. Und ich bin fast sechzig«, schrieb Toto Kubwa der Daily Mail - als Antwort auf einen Artikel zum »Telephone«-Clip. Gaga war Gegenstand eines Cartoons im New Yorker und Thema eines Gorniebuchs von Bluewater Productions. Es kamen Gerüchte auf, wonach Johnny Weir, Fan von Gaga und Eiskunstläufer, bei den olympischen Winterspielen zu ihrer Musik eistanzen würde. Zwar kam es dazu letztendlich nicht, aber ein Bild von Gaga hing in vVeirs Olympiadorf-Zimmer. \Veir sagte zudem vor Ort über Gaga: »Sie muss über uns \Vachen, uns beschützen.« Ein Clip auf YouTube, der Weir bei einer Show in Japan 256
Anfang 2010 zeigt, wo er zur Musik von »Poker Face« Schlittschuh läuft, wurde im Netz eine Million Mal aufgerufen. Die New York Times berichtete im April 2010, dass Teenager in China inZ\vischen anstau »Üh mein Gott« nun »Üh meine Lady Gaga« sagten. Im Vorspann zur Fernsehshow How to .Nfake It in America auf I-IBO ist unter anderem ein Mädchen zwischen zwanzig und dreißig zu sehen, das mit ihrer Hand die Geste eines »kleinen Monsters«, so werden die Gaga-Anhänger genannt, vollführt. Sie formt einen Halbmond, der allgemein für »Ich bin ein Lady Gaga Fan« steht. Manny Pacquiao, philippinischer Boxchampion, engagierte für seine Geburtstagsfeier - auf den Philippinen quasi ein landesweiter Feiertag- eine Lady-Gaga-Imitatorin. Als Tarnara Barney von der Realityserie Real Housewives of Orange County des Fernsehsenders Bravo TV im Frühjahr dieses Jahres ihre Scheidung verkündete, rief sie nach Gagas Art aus: »I'm a free bitch!« (Ich bin eine unabhängige Schlampe!). Im April erheiterte das Maskottchen der Baseballmannschaft von Philadelphia - im roten Spitzenoutfit a la »Bad Romance«Gaga - die Zuschauermenge, die schrie und lachte. Lady Gaga war nach Madonna die zweite Künstlerin, der die Sendung Glee, ein Serienhit auf dem Sender Fox, eine Folge widmete. In Modemagazinen oder Massenblättern ist Gaga ohnehin ständiges Gesprächsthema. Irgendwo auf dieser \Velt ist sie täglich der Aufmacher. 257
Im Musikbusiness ist man überzeugt, dass ihr eine jahrzehntelange Karriere bevorsteht. »Wäre sie nicht ein solches Naturtalent, könnte ihre Masche nicht funktionieren«, sagt ein Branchenkenner und fügt hinzu, dass sich Gaga - genauso wie ihre Idole Madonna und Bowie - immer wieder neu erfinden müsse. »Es gibt da bestimmte Künstler, von denen man nicht mehr viel erwarten kann. Von Gaga schon. Genau aus diesem Grund unterstützen sie eine Madonna, ein Elton John oder eine Cyndie Lauper, aus diesem Grund besuchen sie Gagas Konzerte. Gaga vereint die Meister der alten Schule und etablierte Superstars wie Beyonce. Und das hat Zukunft.«
ln der letzten Januarwoche 2010 drehte [jaga zu-
sammen mit Beyonce den Videoclip zu »Telephone«. vVie schon bei »Bad Romance« führte Jonas Akerlund Regie. Es wurde ein Mix aus verschiedenen amerikanischen Filmgattungen, angefangen bei Women-in-Prison-Sexploitation-Filmen über Grindhause-Streifen bis hin zu geklauten, skurrilen, gemeingefährlichen Szenen aus Quentin Tarantinos Pulp Fiction und Kill Bill. Vol. 1 (Tarantino lieh Gaga sogar den »Pussy vVagon«, der in jenem Film eine wichtige Rolle spielte); das Filmende verweist auf Ridley Scotts Thelma und Louise. Die Handlung: Gaga wird ins Gefängnis geworfen, Beyonce ruft sie an, holt sie raus; beide machen sich aus dem Staub. Es gibt da etliche Doppeldeutigkeiten, mit 0
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denen man spielt. Die beiden Damen fahren bei einem Lokal vor, in dem Gaga so tut, als sei sie Kellnerin, doch zuletzt alle außer Beyonce vergiftet. Eine Tanznummer kommt selbstverständlich ebenfalls vor. Zuletzt liefern sich Gaga und Beyonce mit der Polizei eine Verfolgungsjagd. Und stürzen mit ihrem \Vagen- wahrscheinlich - von einer Klippe ab. Dank Gaga sowie jenem Videoclip verschaffte sich Beyonce ein noch cooleres Image als durch ihre Heirat mit Jay-Z: Einer der mustergültigsten und saubersten Stars, die es in der R&B-Szene gibt, mimte doch tatsächlich nicht nur die Geliebte einer Knastinsassin, sondern offenbarte sich selbst als eine gemeingefährliche Irre. (Genauso wichtig wie Beyonce scheint allerdings Gagas Sonnenbrille zu sein, die in jenem Clip aus lauter qualmenden Zigaretten besteht. Diese Brille hat in~:vischen ihre eigene Seite auf Facebook.) In jenem Clip macht sich Gaga zudem über die Zwitter-Gerüchte lustig. Ein Gefängniswärter, der Gaga ausgezogen und in eine Gefängniszelle geworfen hat, sagt da nämlich zu einem anderen Wärter: »Ich hab dir doch gesagt, dass sie keinen Schwanz hat.« »Der Clip ist ganz nach Gagas Vorstellungen entstanden«, sagt eine »Telephone«-Komparsin namens Alektra Blue, die als Pornostar arbeitet. Porno? Mit Hilfe von vVicked Pictures, eines Unternehmens, das in der Unterhaltungsbranche für Erwachsene tätig ist, rief Äkerlund zu einem Casting für »Telephone« auf. Alektra Blue: »Im Grunde genommen führte Gaga selbst Regie. 259
Sie macht ihre eigenen Regeln, kann dabei sehr leidenschaftlich sein. Sie sagte etwa: >Ich will das so haben. Und diese Aufnahme so. Und könnten wir das da wiederholen? \Vir haben es nicht ganz hingekriegt. < \Vas die Aufnahmen anbelangte, war sie schon sehr hartnäckig.« »Das Konzept stammte zwar zum Großteil von ihr, doch Jonas brachte Struktur hinein«, sagt der Pornostar Jessica Drake, die ebenfalls als Komparsin bei den Gefängnisszenen mitspielte. Genauso wie Blue war auch Drake begeistert von Gagas Detailliebe. Gaga hätte jede Aufnahme noch am Set via Bildschirm verfolgt, hätte jedes Mal etwas zu sagen gehabt, so Drake. Seit jeher hat sich bei Gaga ziemlich alles um Kontrolle gedreht. Als sie 2008 von einem Journalisten, der ungenannt bleiben möchte, interviewt wurde, verteilte sie ebenfalls Anweisungen: »Ich möchte nicht zu sonderbar oder zu klug rüberkommen«, meinte Gaga zum Beispiel zu ihm. Oder sagte : »Ich habe viel erlebt, aber ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als wäre ich ein \Vunderkind gewesen. « »Beim Dreh kontrollierte sie alles. Wobei sie keinen Befehlston an den Tag legte«, sagt Drake. »Sie war nur auf beeindruckende Weise präsent. War nie fordernd oder divenhaft, aber brachte sich komplett in den Clip ein und v,riederholte ein Mal ums andere. Sie gibt alles, geht bis zur Schmerzgrenze.« Alektra Blue erinnert sich, wie Gaga um die \Viederholung einer Nahaufnahme bat, weil sie vergessen hatte, einen klobigen Ring anzuziehen. Er war ein wichtiges 260
Requisit, denn aus ihm sollte sie später das Giftpulver entnehmen. (Damit wird ein Bezug zum >>Bad Romance«Clip herstellt, in dem Gaga ebenfalls mit Gift ihren Freund tötet.) »Sie nimmt ihre Kunst sehr ernst«, meint Alektra Blue. Sie sei am Boden zerstört gewesen, als Gaga aufgrund von Zeitproblemen bei der Duschszene nicht habe mitmachen können. Mit »Telephone« schuf Lady Gaga etwas auf den ersten Blick Albernes und dann doch nachhaltig Tiefsinniges. Der Clip selbst löste eine Debatte aus. Man debattierte darüber, ob es für das Musikvideo eine Zukunft gäbe. \\Taren die Clips von Gaga nur eine Ausnahme? vVar ihr »Telephone«-Clip, mit seiner Mischung aus Sex, Mord und dreistem Productplacement, nun witzig oder lediglich anzüglich? Die Blogger drehten förmlich durch. Man fahndete nach sämtlichen im Clip vorkommenden Produkten und fand vor: Miracel vVhip, Wonder Bread, ein Handy von Virgin Mobile, eine Polaroidkamera ( Gaga fungiert bei Polaroid als Kreativ-Direktorin für eine besondere Produktlinie) , eine Sonnenbrille von Chanel, ein Laptop von HP, das auch in »Bad Romance« auftaucht, die Kopfhörer Heartbeats by Lady Gaga, die Dating-vVebseite PlentyOfFish.com, das Hefegebäck von Honey bun, das Gaga und Beyonce sich teilen - und natürlich die Colalight-Dosen, die unauslöschlich als Gagas Lockenwickler in Erinnerung haften bleiben. (Den LockenwicklerLook griff Gaga noch einmal auf, als sie mit ihnen zwei 261
Monate später durch den Flughafen von Sydney spazierte.) Adam Kluger, Direktor der Kluger Agency, die die PlentyOfFish.com-Seite in den »Telephone«-Clip einfügte, meint: »Productplacement, besonders in Liedtexten, gibt es schon seit langem.« Productplacement gehe auf eine kleine Pause im siebten Inning eines Baseballspiels, den sogenannten »Seventh-Inning-Stretch« zurück, wo es im Jahr 1980 hieß: »Kauf dir ein paar Erdnüsse und Cracker Jacks. « (Seine Agentur gründete Klinger 2006; nachdem er festgestellt hatte, dass die Erwähnung der Bekleidungsfirma Abercrombie & Fitch im Liedtext zu »Summer Girls« der Band LFO sowie das Auftauchen der Firmenprodukte im dazugehörigen Clip die Firmenaktie nach oben schnellen ließ.) Lediglich Virgin Mobile, PlentyOfFish und Miracel vVhip hätten für das Plazieren ihrer vVaren bezahlt, sagt Kluger. Gaga erwies Polaroid »einen Gefallen«, ·weil sie ja mit der Firma zusammenarbeitet. Und die als Lockenwickler verwendeten Coladosen seien, so Kluger, »Gagas Hommage an jemanden von früher. « (Gagas Mutter wickelte in den Siebzigern ihre Haare in dieser vVeise auf.) Mit dem Platzieren der Produkte von Hewlett-Packard so-wie von Kopfhörern wurden, so ein Bericht von Ad Age, »Gagas Marketingpartnerschaften mit jenen Firmen ausgedehnt«. »Gerade das Virgin-Handy ist besonders übel in Szene gesetzt«, meint Jeff Greenfield, ein Experte für Branded 262
Entertainment bei dem Marketingunternehmen 1sr Approach. »Niemand dürfte daran glauben, dass Lady Gaga oder jemand aus ihrer Fangemeinde ein Telefon benutzt, das so aussieht.« Greenfield glaubt zudem, dass die Telefon-Nahaufnahme den Zuschauer aus dem ClipFluss reiße, ihn zu sehr mit der Nase auf das Produkt stoße. Greenfield: »Das ist dämlich. Weil das Lied ja >Telephone
als ein Kommentar zu unserem Land, zu unserer Daseinsart. « Gagas Kritiker sahen das nicht ganz so. Tanner Stransky von E\\T.com bezeichnete den Clip als ein »vVeihnachtsfest für Schwule« und auf Interview.com stand: »Die gestrige Premiere des Videoclips zu >Telephone< stellte in schwulen Bars und Coffeeshops ein wichtiges Ereignis dar. Man sah bei der Versöhnung zweier seit langem zerstrittener moderner Stämme zu: der Fans von Lady Gaga und der Fans von Beyonce. « Selbst die erfahrenen Pornodarsteller, die als Komparsen im Clip dienten, zeigten sich begeistert. »Mir fiel die Kinnlade runter, als sie aus dem vVohnwagen stieg«, sagt Drake. »Auf Film sieht Gagas Outfit zahmer aus, als es tatsächlich war.« Der »Telephone«-Clip rief man in den ersten vier Tagen siebzehn Millionen mal im Netz auf. Unterdessen wurden in den britischen wie amerikanischen Boulevardblättern Schlagzeilen und Kolumnen voll Empörung verfasst, die mit der folgenden Frage zusammengefasst werden können: vVas löst so ein Clip bei den Kindern aus? Sogar CNN berichtete darüber, dass MTV den Clip nicht für sendefähig halte, ·weil er zu explizit sei. Gawker. com sah MTV's Vorgehens·weise in dieser Angelegenheit äußerst kritisch: »Seit Jahren kultiviert MTV das Reality TV, überschwemmt sein eigenes Programm damit, sendet kaum noch Musil\.videos. Und dann fühlt sich genau dieser Sender dazu veranlasst, die Ausstrah26Ll
lung eines Clips zu untersagen, weil er den für zu provokant hält. Ironischerweise stellt der Sender damit die einzige Künstlerin ins Abseits, die überhaupt noch daran interessiert ist, ein gutes Musikvideo zu drehen. « (MTV News berichtete später, dass der Sender den Clip nicht verboten, sondern es vielmehr etwas verspätet gezeigt habe.) Gagas Management und ihr Label zeigten den Clip zum ersten Mal auf E!Network. Dort räumte man Gaga zwanzig Minuten Sendezeit ein. Troy Carter erzählte Ad Age, das Video würde ungeschnitten gesendet werden, »ganz so, wie es sich gehört.« Der »Telephone«-Clip sei ein Meisterwerk, schrieb Stransky von EvV.com. »Es stimmt, es hinterlässt einen etwas verwirrt. Es wird zunehmend offensichtlicher, dass niemand im vergangenen Jahrzehnt mehr für das Genre des Musikvideos getan hat als diese Lady.« »Der Clip ist ein Meisterwerk des Pop, gemacht von einer Künstlerin, die sich in ihrem Fach auskennt«, schrieb vVilliam Goodman auf Spin.com. »Lady Gaga ist für YouTube das, was Madonna und Michael Jackson für MTV waren: ein Killerheilmittel«, schrieb das Magazin New York. »Ihr ist es zu verdanken, dass das Musikvideo wieder an Bedeutung gewinnt. Sie liefert den Beweis, dass Plattenverkäufe und Konzerteinnahmen mit Hilfe eines gelungenen Clips wieder hochklettern können.« An sich hatte sich Alcerlund aus dem Videoclipgeschäft zurückgezogen - doch für »Paparazzi« und »Telephone« kehrte er zurück. »Im 265
Augenblick sucht mich die Erinnerung an die große Zeit von MTV auf. Als das, was man da drehte, noch richtig Eindruck hinterließ«, sagt er. »Die Leute kommen wieder auf mich zu, zweigen sich begeistert, weil sie meinen Clip gesehen haben. Das kam jahrelang nicht vor.«
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BIE:i IN JAPAN
~~~
=----m japanischen
Osaka - wc sie bis ver zwei
Jahren noch niemand kannte - gibt Lady Gaga in der ausverkauften Kobe \Vorld Kinen Hall ein Konzert. Es ist ein Gebäude, das mit seinem roten Ziegelstein für eine Grundschule gehalten ·werden könnte. Das Gebäude befindet sich auf einer ungewöhnlich sauberen und ruhigen Straße, wird umgeben von Büros. In Japan beginnen Rockkonzerte sehr früh - manchmal um achtzehn Uhr, spätestens aber um zwanzig Uhr. Es wird kein Alkohol ausgeschenkt, die Konzerte enden spätestes punkt zweiundzwanzig Uhr. Die Zuschauer haben während der Vorstellung in den ihnen zugewiesenen Hallenbereichen zu verbleiben. Das Popkonzertpublikum setzt sich aus genauso unterschiedlichen Gruppen zusammen wie in Europa, wie in Manchester etwa. Es reicht von Männern und Frauen mittleren Alters, über Teenager beiderlei Geschlechts bis hin zu kleinen Kindern. In Japan sprechen nur wenige Englisch, doch als das Licht ausgeht, der erste Kurzfilm auf der ·weißen Stoffkulisse und den seitlich 269
platzierten Bildschirmen anläuft, Gaga in Zeitlupe rotiert, in Schwarz-\Veiß, das Gesicht verdeckt, das roboterartige Mantra »I'm a free bitch« in den Raum hineinhallt, versteht die Menge dies sehr wohl - und beginnt zu toben. Die Show wirkt kompakter als bei der Premiere in Manchester. Als sich Gaga in der Mitte ihrer Show ans Klavier setzt, um Balladen zu singen, und ein amerikanischer Fan »Stefani!<< ruft, spielt sie erst weiter, sagt dann: »Was? vVas hast du gesagt?« Sie reißt ihre Augen auf und schaut leicht verdrossen umher, was Gelächter hervorruft. »vVas isst du gern?«, fragt der Fan. Die Unterhaltung der beiden beginnt komisch zu klingen, scheint beinahe abgesprochen schon. »Ich esse Sushi gern«, erwidert sie mit ausdruckslosem Gesicht; legt eine Pause ein, bevor sie das japanische Nationalgericht erwähnt: »Shabu Shabu.« Und tut dann, als rolle sie Sushi. Die Menge applaudiert, hört gleich auf, wird plötzlich ganz still. Man ist hingerissen. Auch Gaga hält inne, ·wird ernst. Sie spricht davon, wie sie vor ein paar Tagen mit ihrem weißen Birkin Bag (ab ein paar Tausend Euro zu haben) durch den Flughafen von Tokio schlenderte und sie die Paparazzi fotografierten. Da hat sie mit einem schwarzen Marker eine Botschaft in gebrochenem Japanisch auf die Tasche geschrieben. Frei übersetzt lautet sie: »Ich liebe kleine Monster. Tokio. Liebe.« 270
Tränen steigen ihr in die Augen, Gagas Stimme zittert. »Ich habe meine Lieblingshandtasche mitgebracht, ·wollte gern, dass all meine japanischen Fans sie signieren. Damit ich euch alle für immer bei mir weiß«, sagt sie. »Mode bedeutet mir wirklich viel, aber nicht mehr als meine Fans.« Das ist keineswegs ironisch gemeint. Gaga glaubt an die Tiefe ihrer Gesten. Fairerweise muss man sagen - die Menge ebenso. Gaga, die clever, gewitzt und geistreich sein kann, glaubt an den Kult um Gaga. Gegen Ende jeder Show, wenn sie sich hinter der Bühne ein letztes Mal umzieht, erklingt ihre aufgezeichnete Stimme durch Lautsprecher mit einer vermeintlich bescheidenen, in \Virklichkeit jedoch verherrlichenden Botschaft, die sie »Das Manifest des kleinen Monsters« nennt: »Es hat einen heldenhaften Aspekt, wie exakt, beflissen und stolz meine Fans mit ihren Kameras umzugehen wissen. Als wären sie Könige, die die Geschichte ihres Volkes niederschreiben. An deren produktivem \Vesen liegt es, dass sie ein Königreich herbeiführen, das später vollends wahrgenommen wird. Die eigentliche \Vahrheit über die Lady-Gaga-Fans, über meine lieben Monster, umfasst dieses Gefühl: Sie sind die Könige. Sie sind die Königinnen. Sie schreiben die Geschichte des Königreichs, und ich bin so etwas \vie ein ihnen ergebener Hofnarr.« Jene Ausführungen scheinen gänzlich widersprüchlich - doch schon als sie erfuhr, dass Elvis Presley bereits einen Song mit dem Titel »Money Honey« ge271
schrieben hatte, sagte sie treffend: egal. So fährt Lady Gaga also mit ihren philosophisch angehauchten Gedankengängen ungehindert fort: »Es liegt in der Theorie der \Vahrnehmung, dass wir eine gemeinsame Verbindung oder besser gesagt eine Lüge hergestellt haben, für die wir zu töten bereit sind. vVir sind nichts ohne unser Abbild. Ohne unsere Projektion. Ohne das spirituelle Hologramm, mit dessen Hilfe wir erst mitbekommen, wer wir sind oder in der Zukunft sein werden.« Es ist ein Spaß - und kein bisschen ergreifend - , an diese Sätze zu denken und sich gleichzeitig Lady Gaga eine \Voche später in dem exklusiven Soho House vorzustellen. Einem Club in L. A., der immer dermaßen mit Prominenten vollgepackt ist, dass einst Jane Fonda es begab sich während des Mittagessens - quer durch den Raum wanderte, um sich Madonna vorzustellen. Ihre Sonnenbrille nahm sie dabei nicht ab. An diesem Mittwochabend im Soho House war Lady Gaga ein gewöhnliches vierundzwanzigjähriges Mädchen, das Rotwein trank, Pizza und überbackene Makkaroni aß, mit ihrem Freund rumknutschte und Dampf abließ. Doch ganz frei hatte sie auch an diesem Abend nicht. »Sie hatte ein hauchdünnes, körperbetontes Kostüm an«, sagt jemand, der dabei war, »das unendlich viele Kristallsteine und viel Strass schmückte. Dazu dann noch all diese Armbänder. Über ihr Kostüm hatte sie einen schwarzen Tanga gestülpt, von dem Kettenähnli272
ches baumelte. Und Plateauschuhe mit wahnsinnig hohen Absätzen hatte sie auch noch an. Ihr blondes Haar ·war total aufgebauscht, darüber lag ein Schleier.« Sie verursachte Unruhe, weil sie mit ihrer ganzen Entourage auf einer Couch lümmelte, dazu noch: »Mit Matt Zungenküsse austauschte, rittlings auf ihm saß.« Im Mai trat Gaga bei der Costume Institute Gala des New Yorker Metropolitan Museum of Art auf - eine Art Oscar-Abend der Modebranche 'var dies. Anna \Vintour, Chefredakteurin der Vogue, fungiert hierbei als Vorsitzende. Laut mehrerer Berichte erlitt Gaga zuvor einen Nervenzusammenbruch, so dass sie sich weigerte, ihre Garderobe zu verlassen. Keine Geringere als die Mitvorsitzende Oprah \Vinfrey musste sie beruhigen. Beobachter empfanden Gagas Verhalten als unberechenbar und eigensinnig, als für Gaga gänzlich untypisch. Mit einer Stunde Verspätung betrat sie schließlich die Bühne. Die Zeit davor war extrem anstrengend für sie. Gaga befand sich auf einer Konzerttour durch Europa, flog aber für einen Live-Auftritt bei American Idol in die USA ein. Bei der Modegala schien sie lustlos, ihre Stimme schwächelte. Anschließend wurde sie mit ihrem Freund, dem Künstler Terence Koh, im Museum of Modern Art fotografiert, wie sie sich in einer Schlange anstellte, um sich zu der Performancekünstlerin Martina Abramovi&cacute$ zu gesellen. Danach flog sie wieder nach Europa. Dort verbrachte sie eine \Voche, bevor sie erneut für 24 Stunden nach New York zu273
rückkehrte, um in der Carnegie Hall bei Stings Benefizkonzert zur Erhaltung des Regenwaids zu singen. Zusätzlich befand sie sich noch mitten in Vorbereitungen für ihr zweites Album, schrieb Lieder, zeichnete sie auf. War sie mal wieder in New York, nahm Gaga jede Möglichkeit wahr, um denkbar normal zu erscheinen abgesehen von dem einen Mal im Juni 2010 vielleicht, bei der Highschool-Abschlussfeier ihrer Schwester. »Als wir uns einmal trafen, sah sie sehr straßentauglich aus, gar nicht aufgedonnert jedenfalls«, sagt eine Freundin, die namentlich nicht erwähnt werden möchte. »vVir suchten die uns von früher bekannten Bars und Läden auf, trafen Freunde aus alten Zeiten. Sie fiel nicht auf. Doch ohne Stöckelschuhe war Gaga dann doch nicht zu haben. << Nach der Metropolitan-Gala stattete Gaga ihrem vergangenen Leben einen Besuch ab. Im Royalton Hotel, vielmehr in dessen an eine Skihütte gemahnende Empfangshalle, arbeitete ihre Freundin Lady Starlight als DJ bei einer Rock-'n'-RollParty. Kaum jemand erkannte Gaga dort. Sie trug ihr Haar offen, hatte roten Lippenstift aufgelegt, steckte in einem Jackett mit einem Büstenhalter darunter. Hiernach machte sie sich auf zu St. Jerome's, wo Lüc an der Bar stand. Sie unterhielt sich mit seiner Freundin und flirtete dabei die ganze Zeit über mit ihrem Ex.
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Die Reaktion, die [jaga an jenem Aprilabend bei
ihrem japanischen Publikum auslöst, kommt selten vor. Alle stehen auf - und bleiben für die zw·e i Stunden der Konzertdauer stehen. Die Menschen schwenken hingebungsvoll Leuchtstäbe, wippen, werfen ihre Arme in Euphorie hoch. Das passiert in Japan selten. Normalerweise bleiben die Zuschauer höflich und ruhig und unbeweglich sitzen. »Diese Überschwänglichkeit ist untypisch und unglaublich«, sagt Tom Daniel, ein fünfunddreißigjähriger Amerikaner, der seit Jahren in Japan lebt. »Ich habe viele Konzerte hier besucht, aber das ist eindeutig das lebendigste von allen. Bei Madonna etwa blieben sämtliche Zuschauer das gesamte Konzert über sitzen.« (Madonna tritt ungern in Japan auf, nannte die Zuschauer dort mal »Eskimos aus Eis«.) Japaner reagieren stark auf physische Präsenz, sagt Natasha Cordele, eine siebenundzwanzigjährige Australierin, die in Japan lebt. Ihr Kopf umhüllt schwarze Spitze, in ihrem Haar steckt eine schwarze Krone. (Sie hat die Krone nach der Arbeit innerhalb einer halben Stunde gefertigt, gut dreißig Euro fürs Material ausgegeben.) Sie sagt, Lady Gaga zeige sich immer so »ausdrucksvoll mit ihrer Ausstattung«, dies mache alle sprachlichen Schwierigkeiten z·wischen ihr und den Japanern wett. Die Reaktion des japanischen Publikums mutet wie ein Phänomen an, allemal angesichts einer Nation, die zwischen Individualität und Gleichförmigkeit, Tradition 275
und Moderne pendelt- und sich der wachsenden sozioökonomischen Macht der Frauen überall auf der vVelt gegenübersieht. »vVeltweit hat der Feminismus im letzten Jahrzehnt große Fortschritte gemacht«, hieß es in einem Leitartikel der Japan Times, der in der gleichen Woche erschien, in der Lady Gaga in Osaka auftrat. »Es läuft noch lange nicht perfekt, doch nutzen etliche Gesellschaften inzwischen die Talente jener Bevölkerungshälfte, die nun mal weiblich ist, weit besser als in den Jahren zuvor. Japan scheint von diesem weltweiten Trend abgeschnitten.« \Vomit die vVirkung einer Lady Gaga für - zum Beispiel -junge japanische Frauen deutlich wird. »Sie bedeutet uns alles«, sagt eine neunundzwanzigjährige Anhängerin, die sich Junko Monster nennt. »Außer Gaga gibt es für uns rein gar nichts.« Sie steht vor der Kobe Kinen Hall mit ihrer besten Freundin, mit Megumi Monster - in deren Tasche: eine laminierte Tafel mit Bildern der beiden Mädchen samt Lady Gaga. Die Tasche nimmt Megumi Monster überall mit. »Sie meinte zu uns, wir seien kostbar«, sagt Megumi Monster. >>Ihre Musik, ihre Kunst, ihre Energie, das überträgt sich auf uns unmittelbar«, sagt Junko Monster.
Zwei Abende später ist Lady Ciaga in Vokohama
zu Gast und verlangt Anerkennung und Liebe. Sie beginnt mit ihrer Tinker Bell Nummer: Sie liegt auf der 276
Bühne und sagt, dass Tinl{er Bell sterben wird, wenn man ihr nicht sofort applaudiere. >>Schreit nach mir! <<, ruft sie - es scheint, als bräuchte sie dringend Unterstützung. »Findet ihr mich sexy?« ist ein weiterer Lieblingsspruch von ihr. Sie stachelt die Menge an. Bis sie ein Ja! wie aus einer Kehle erreicht. Gaga möchte schön wirken, obwohl sie sich bewusst gegen das herkömmliche Bild eines auf SeA.'Y getrimmten Popstars entschieden hat. Nie setzt sie Sexualität für den Ruhm ein. Sie trägt eine Perücke, deren blondes Haar kurz geschnitten ist. Sie hat schwarzen Eyeliner sowie einen rosafarbeneu Lippenstift aufgetragen. Sie ist zwar auf hübsch zurechtgemacht, trägt aber ein weißes Charlestonkleid, dazu einen Kopfschmuck, der von der Addams Family stammen könnte. Auch Junko Monster und Megumi Monster sind bei diesem Konzert dabei. Junko trägt Coladosen in ihrem Haar. Sie reisten - zufällig, wie sie betonen - in demselben Hochgeschwindigkeitszug nach Yokohama an wie Gaga. Sogar von der Bühne aus erzählte Gaga von den beiden jungen Frauen. Nach dem Konzert übergaben sie ihr ein handgemachtes Geschenk, brachten ihr auch ein paar japanische Vokabeln bei. »>Geil< und >Scheiße
macht. Vielleicht kann ich auch mal etwas Selbstständiges kreieren. Inspiration, das ist sehr wichtig.« Auch hier Bilder wie in Manchester: Eine Frau in ihren Zwanzigern trägt eine Brille aus Zigaretten. Scharenweise Mädchen mit Schleifen aus Haar, mit blonden Perücken, in körperbetonenden Kostümen, in Neonhemden und zerrissenen Strumpfhosen . . . Die Überschwänglichkeit und Detailtreue, mit der japanische Fans Gagas Look rekonstruieren, ist unübertroffen. »Japan wird mir fehlen«, sagt Lady Gaga von der Bühne herunter. »Ihr seid alle so schön angezogen.« Wirklich und tatsächlich genial an Gagas Shows wie an ihr selbst - dürfte die Mischung aus Radikalität und Routine sein, aus Meta- und Mainstream. Einerseits dürfen die Shows als das innovativste, anspruchsvollste, fesselndste Poperlebnis seit jeher gelten, andererseits wirken sie auch altmodisch und kitschig. Nebel, Feuerwerkseinlagen und ein Keyboard, das umgeschnallt wird, sind unerlässliche Requisiten. Der Leadgitarrist ist ein Muskelfreak in enger Jeans, ohne Hemd, mit eingeöltem Oberkörper, langem, dauergewelltem Haar, das zu einem der schmierigsten Pferdeschwänze überhaupt zusammengebunden ist. Er spielt, als stehe er kurz vorm Orgasmus, und glaubt vermutlich, dass jeder der Zuschauer auf ihn steht. Es gibt da auch noch das gigantische Farne Monster, einen riesigen ausgestopften Drachen , der durch Bühnenarbeiter bewegt wird, ferner einen Baum und eine Bank, die beide an den New Yorker Central Park gemahnen sollen, sowie einen 278
nachgebauten U-Bahn-\Vagen. \Vas erstaunt: All das passt zusammen. Gagas \Vorte bei einem ihrer Auftritte 2007, als sie noch eine unbekannte Künstlerin mit einem riesigen Ehrgeiz war, schlagen sich in dieser Tour nieder, für die sie mehrere Millionen Dollar ausgegeben hat: »Meine Performance hat sich entwickelt«, sagte sie damals. »Ich habe zwar meine Stripperinnenschuhe gegen die von Jimmy Choo getauscht, aber mein Charakter, harte Arbeit und ein paar Dosen Haarspray sind immer noch da. Diese Show ist die Haute-Couture-Version meiner Downtown-Performance. Sie ist wilder. Ich trete seit Jahren auf und feile an meiner Show. Und gehe weiter meinen vVeg.« Ihre Show funktioniert punktgenau, die einzelnen Elemente gehen nahtlos ineinander über, sie wirkt kompakter und visuell beeindruckender als noch in Manchester vor acht vVochen. Doch natürlich: Verbessern kann man sich immer. »Gute Nacht, Japan«, ruft Lady Gaga. Und dieses Mal sprühen die Funken nicht nur aus ihrem BH. Sie sprühen auch aus ihrem Schritt.
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BIBLI[][iRAFIE
ARTIKEL
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BILDNACHWEIS
Seitenaufmacher S. 5 und 15: © Mario Anzuoni I Reuters I Corbis; S. 6 -7: Brian J. Ritchie / Hotsauce I Rex / Rex USA.
Kapitelöffner © The Toronto Star/ ZUMA Press.
Bildteil I S. 1: Seth Poppel/Yearbook Library; S. 2: Seth Poppel l Yearbook Library (alle); S. 3: Scott McLane I Retna Ltd. (links), Josie Miner (rechts); S. 4: David Ciemny (oben und unten); S. 5: Jason Squires I Wirelmage; S. 6: Hal Horowitzhvww.halhorowitz.com (oben) , © Chris Walter I Retna Ltd. (Mitte) , Yui Mok l PA Archive / Press Association Images (unten); S. 7: © Planet Photos I ZUMApress.com (links) , Aaron Fallon / JBG Photo (oben rechts), Phil Poynter I Art-Dept.com / trunkarchive.com (unten rechts); S. 8: © Francois Berthier I Gorbis (oben) , © Mario Anzuoni/Reutersi Corbis (unten). 285
Bildteil II S. 1: Michael Buckner I Getty Images; S. 2: Scott Weiner I Retna Ltd.; S. 3: © The Toronto Star I ZUMA
Press (oben); Theo Wargo I Getty Images for VEVO (unten); S. 4: Michael Caulfield / \\Tireimage (oben links), Sonia Moskowitz / Globe Photos (oben rechts), \\TENN (unten und Hintergrund); S. 5: Yui Mok / PA vVire / Press Association Images (links), Splash News (rechts); S. 6: Kevin Mazur / vVireimage (oben), Brian J. Ritchie / Hotsauce / Rex/ Rex USA (Mitte), Jeremy Kost/ \\Tireimage (unten); S. 7: Kevin Mazur / \\Tireimage (oben links), Brian J. Ritchie / Hotsauce / Rex / Rex USA (oben rechts), Larry Busacca/ Getty Images (unten); S. 8: Rennio Maifredi / trunkarchive.com, 2009.
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