Jörg Böckem
Lass mich die Nacht überleben Mein Leben als Journalist und Junkie
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Jörg Böckem
Lass mich die Nacht überleben Mein Leben als Journalist und Junkie
scanned by unknown corrected by tz »Ich sah alle 90 Sekunden auf die Uhr. Die Rückreise nach dem Interview war eine Tortur. Eineinhalb Stunden würde ich noch warten müssen – auf den nächsten Schuss. Drogensucht macht die Zeit zum Feind. Doch wenn es etwas gab, das ich noch mehr fürchtete als die Entzugsqualen, dann war es, meinen Job zu verlieren. Mein bürgerliches Leben als erfolgreicher und angesehener Journalist.« ISBN: 3-421-05775-3 Verlag: Deutsche Verlags-Anstalt München Erscheinungsjahr: 2. Auflage 2004
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Er ist Journalist, schreibt seit den Neunzigern für die renommiertesten deutschen Zeitungen und Magazine. Und er ist ein Junkie. Im Alter von 14 Jahren hat er sich in den Drogenrausch verliebt, damals in der nordrhein westfälischen Kleinstadt. Haschisch, LSD, Kokain und Heroin. Mit 19 bringt ihn seine Heroinsucht zum ersten Mal ins Gefängnis, mit 33 versucht der Journalist im Drogenrausch seine Freundin zu erwürgen. Der Autor erzählt von seinem Doppelleben als Journalist und Junkie: von Verzückung und Verzweiflung, Haft und Hepatitis, Partys und Porno-Dreh, Karriere und Koma, Abstinenz und Absturz. Er durchbricht sein zehnjähriges Schweigen und ein gesellschaftliches Tabu. Wie viele andere Drogensüchtige, die im Beruf Erfolg haben und weiter funktionieren, hat er ein Doppelleben geführt. Ein Leben mit der Sucht – zerfressen von Versagensangst, Scham, Selbsthass und der ständigen Gier nach Drogen. Die Geschichte einer doppelten Karriere.
Autor
Jörg Böckem schlug sich nach dem Abitur als Schreiner, Metzger, Waldarbeiter, Germanistikstudent, Aktmodell, und einiges mehr durch. Seit den neunziger Jahren arbeitet er als freier Journalist unter anderem für »Tempo«, »jetzt«, »Die Zeit«, »Der Spiegel«. Seit drei Jahren führt der Autor ein Leben ohne Sucht.
Für meine Eltern »I need excitement, oh I need it bad And it’s the best I’ve ever had I wanna hold her wanna hold her tight Get teenage kicks right through the night« The Undertones 1978
Hamburg 1999 Draußen an der Tür zu meinem Büro klopft jemand. Es ist ein schnelles, flüchtiges Klopfen. Die Tür öffnet sich, es ist Runhild, die Sekretärin. »Oh, entschuldige«, sagt sie, »ich dachte, du bist zu Tisch. Ich wollte nur Bescheid geben, dass die Konferenz auf 15 Uhr verschoben worden ist. Lass dich nicht stören.« Sie ahnt nicht, wie sehr sie mich tatsächlich stört. Ich sitze mit dem Rücken zur Tür an meinem Schreibtisch im dritten Stock des Hamburger »Spiegel«-Gebäudes, in der rechten Hand halte ich ein Feuerzeug und in der linken einen rußgeschwärzten Suppenlöffel mit einer dampfenden braunen Flüssigkeit darauf. Unter der Tischplatte koche ich gerade mein Heroin auf. Ohne mich umzudrehen, schiebe ich den Löffel vorsichtig hinter einen Zeitschriftenstapel, den ich vorsorglich auf meinem Schreibtisch platziert habe. Sorgsam darum bemüht, meine Hände vor ihren Blicken abzuschirmen. Dann erst drehe ich mich um. »Alles klar, vielen Dank«, antworte ich und lächele ein wenig verkrampft. Schweiß steht auf meiner Stirn, meine Stimme zittert, ich hoffe, dass sie nichts merkt. Sie gibt mir einen Computerausdruck mit Ort und neuem Termin der Konferenz, auf der die Themen für die nächsten Hefte besprochen werden sollen. Nachdem sie die Tür wieder geschlossen hat, ziehe ich die braune Flüssigkeit in meine Insulinspritze, umwickele den Löffel mit Klopapier und verstecke ihn in der Schreibtischschublade. Dezember 1999. Seit beinahe einem Jahr arbeite ich als Pauschalist für »Spiegel Special«, das seit vergangenem Monat »Spiegel Reporter« heißt. Ich bin unter anderem für 5
den Themenbereich Film zuständig. Da ich Pauschalist bin und kein fest angestellter Redakteur, schreibe ich meist zu Hause. Mein Büro im Redaktionsgebäude betrete ich nur, wenn es sich nicht vermeiden lässt. Wenn Konferenzen anstehen, zum Beispiel. Ich hasse Konferenzen. Die schier endlosen, ermüdenden Diskussionen um Themen, Inhalte und Konzepte sind der unangenehmste Teil meines Jobs. Seit beinahe einem halben Jahr spritze ich wieder täglich Heroin, oft zusammen mit Kokain. Gebe jeden Tag 500 Mark für Drogen aus. Glücklicherweise verdiene ich gut, meine Wohnung verlasse ich so selten wie möglich, beschränke meine Kontakte mit den zuständigen Redakteuren auf E-Mail und Fax und gehe erst ans Telefon, wenn die Nachricht auf dem Anrufbeantworter keinerlei Aufschub mehr zulässt. In der Redaktion muss ich mich jede Minute zusammenreißen. Niemand darf meinen Zustand bemerken. Nehme ich zu viel Heroin, fällt es mir schwer, die Augen offen zu halten und gerade auf meinem Stuhl zu sitzen. Ist die Dosis zu niedrig oder dauert eine Konferenz besonders lange, kriecht der Entzug in meinen Körper, stinkender Schweiß bricht mir aus allen Poren, Schmerzen wüten in meinem Darm und meinem Magen; es gelingt mir kaum, den Durchfall und das Erbrechen zu unterdrücken. Ich zittere am ganzen Körper. Mit aller Kraft, die ich noch aufbringen kann, klammere ich mich an meine Arbeit. Gleichzeitig hasse ich sie. Bei jedem neuen Auftrag zerfrisst mich die Angst, all dem nicht mehr gewachsen zu sein. Ich begreife selbst nicht, wie es mir gelingt, Recherche-Reisen durchzustehen, Interviews zu führen, Texte zu schreiben. Arbeit auf Autopilot. Jeden Tag denke ich daran, alles hinzuwerfen. Toter Mann spielen. Aber ich mache weiter. Die Arbeit finanziert meine 6
Wohnung, meinen Wagen und vor allem meine Sucht, sie bewahrt mich vor der Kriminalität. Vor allem habe ich Angst, dass mir diese letzte Sicherheitsleine aus den Händen gleitet. Ich würde viel mehr verlieren als nur meinen Job. Ich schiebe die aufgezogene Spritze vorsichtig in meine Hosentasche. Dann gehe ich auf die Toilette, vergewissere mich, dass der Raum leer ist. Ich nehme die Kabine links an der Wand, die am weitesten von der Eingangstür entfernt ist. Ich schließe die Tür hinter mir, klappe den Toilettendeckel hinunter und setze mich darauf. Ich ziehe meinen Gürtel aus der Hose und binde meinen linken Unterarm ab. An diesem Morgen habe ich eine Ader an meinem linken Handgelenk entdeckt, die noch nicht zerstört ist. Für ein oder zwei Tage werde ich sie noch benutzen können. Normalerweise wage ich es schon seit längerem nicht mehr, mir auf der »Spiegel«-Toilette eine Spritze zu setzen. In den letzten Monaten ist diese Prozedur so langwierig und blutig geworden, dass das Risiko, aufzufallen, mir zu groß erscheint. Doch wenn ich einen ganzen Tag in der Redaktion verbringen muss, bleibt mir keine Wahl. Mein Körper verlangt nach der Droge, ohne sie stehe ich Konferenzen und Besprechungen nicht durch. In der Redaktion rauche ich meistens mein Heroin, entweder in meinem Büro oder auf der Toilette. Weil das ständige Klacken, mit dem das Feuerzeug zündet, wieder und wieder, und der eigentümlich riechende Rauch, der aus meiner Toilettenkabine oder meinem Büro quillt, Kollegen auffallen könnte, gehe ich meistens in der Mittagspause auf die Toilette, wenn die anderen Redakteure in der Kantine im Erdgeschoss sind. Trotzdem sitze ich dort mit vor Angst rasendem Puls, horche auf jedes Geräusch und wage kaum zu atmen, wenn jemand 7
die Toilette neben mir benutzt. Aber heute spritze ich, es dauert beinahe dreißig Minuten, bis ich die nur einen Millimeter große Ader treffe. Ich werde immer fahriger, mein Puls hämmert, mein T-Shirt habe ich ausgezogen, ich bin völlig verschwitzt. Immer wieder aufs Neue steche ich die Nadel in meinen Arm und ziehe den Bolzen mit dem Daumen nach hinten, hoffe sehnsüchtig, dass das Vakuum einen dünnen Blutstrom in die Spritze zieht. Jedes Mal versiegt das Blut schon nach wenigen Tropfen. Nach jedem vergeblichen Versuch entferne ich die Luft aus der Kanüle, dabei spritzen immer wieder Blutstropfen auf die Kacheln. Endlich schießen dünne Blutschlieren aus der Ader in die braune Flüssigkeit. Vorsichtig drücke ich den Inhalt der Spritze in meinen Arm. Sofort breitet sich das Heroin in meinem Körper aus, besänftigt die Schmerzen und den Aufruhr in meinem Kopf. Ich sinke auf dem Toilettendeckel in mich zusammen, den Rücken an die weißen Kacheln gelehnt, und genieße einige wenige Minuten die Entspannung. Dann säubere ich sorgfältig die Kabine, wische alle Blutspritzer mit Toilettenpapier auf. Jetzt bin ich für die Konferenz gerüstet. Erkelenz 1982 Der Streifenwagen bog langsam um die Ecke, ohne Licht. Keiner von uns sah ihn kommen. »Was machst du denn da? Lass mich mal.« Wir drängelten uns zu dritt um einen Süßwarenautomaten, Artur, Dieter und ich. Aus irgendeinem Grund gelang es uns nicht, dem Automaten mit unserem letzten Markstück eine Packung Gummibärchen zu entlocken. Vielleicht lag es an den 8
Temperaturen, eine klirrend kalte Winternacht, unsere Finger waren in den Handschuhen steif gefroren. Oder an den Lichtverhältnissen, an dieser Straßenecke in Erkelenz brannte nachts um zwölf keine Laterne mehr. Oder es lag einfach daran, dass zwei von uns total bekifft waren. Den Abend hatten wir in einem kleinen Laden mit einem Billardtisch, einem Flipper, einem Videospiel und rund einem Dutzend Geldspielgeräten vertändelt, der sich »Spielothek« nannte. Eine der wenigen Attraktionen, die unsere Kleinstadt am Niederrhein zu bieten hatte. Ich war gerade mal 16 Jahre alt und seit einem Jahr Stammgast. Eigentlich hätte ich den Laden gar nicht betreten dürfen, doch sie machten dort guten Umsatz mit Minderjährigen. Die Playstation war noch nicht erfunden. Und solange wir uns unauffällig verhielten und nicht zu viel Zeit an den Geldspielgeräten verbrachten, war alles in Ordnung. Als der Laden schloss, hatten wir uns auf dem Schulhof unseres Gymnasiums eine windgeschützte Ecke gesucht und Artur hatte sein Haschisch mit dem Feuerzeug erhitzt und in eine aus einem Wasserhahn gebastelte Pfeife gebröselt. Ich hatte das Haschischrauchen vor einiger Zeit aufgegeben. Es war mir einfach nicht mehr bekommen, das Haschisch bescherte mir immer häufiger Angstzustände und Verfolgungswahn. Ich wagte mich bekifft nicht mehr unter Menschen, weil ich dachte, jeder würde mir meinen Zustand sofort ansehen. Ich wollte mit niemandem reden, weil meine Zunge mir nicht mehr zu gehorchen schien. In Erkelenz gab es nachts nicht viel zu tun. Nicht, dass es tagsüber wesentlich aufregender gewesen wäre. Für die beiden Jugendzentren, in denen wir die letzten Jahre zahlreiche Abende am Kicker zugebracht hatten, fühlten wir uns zu alt; außerdem öffneten sie nur an festgelegten Tagen und schlossen früh. Für die meisten Kneipen 9
fühlten wir uns nicht alt genug. Und hofften, dass wir es niemals sein würden. Das einzige Kino der Stadt spielte nur sehr selten Filme, die uns interessierten, und die 24Stunden-Tankstelle, die sich einige Jahre später zum Zentrum des jugendlichen Nachtlebens entwickeln sollte, war noch nicht gebaut. Der einzige Ort, an dem Artur und Dieter ihr durch Haschisch ausgelöstes Zuckerbedürfnis stillen konnten, war dieser Süßwarenautomat, geschickt in der Nähe des Schulzentrums platziert. Den Polizeiwagen bemerkten wir erst, als er hinter uns bremste und die Beamten einen Scheinwerfer auf uns richteten. »Was ist hier los? Nehmen Sie die Hände über den Kopf und drehen Sie sich um!« Die Polizisten hatten Dieter von hinten erkannt. Er hatte sich schon im Alter von 18 Jahren als notorischer Kleinkrimineller einen Namen gemacht, diverse Einbrüche und Diebstähle gingen auf sein Konto. Von ihm lernte ich später, mit welcher Methode sich Zigarettenautomaten am einfachsten knacken ließen und wie man ohne Geld genügend zu essen bekam, indem man die Frischwarenlieferungen für die kleineren Supermärkte abgriff, die damals ganz früh morgens unverschlossen im Hinterhof abgestellt wurden. Kartonweise schleppten wir auf unseren Fahrrädern Mokkatorten, Quark und Joghurt weg. Dieter stellte sich bei seinen Einbrüchen oft so ungeschickt an, dass sie ihn regelmäßig erwischten. Einmal war er in einen Imbiss eingebrochen, hatte die Kasse und die Geldspielautomaten geknackt und sich anschließend über Alkohol und Lebensmittel hergemacht. Am nächsten Morgen fand ihn der Imbissbudenbesitzer sturztrunken und schlafend auf dem Tresen. Dass wir nur Gummibärchen ziehen wollten, glaubten uns die Polizisten nicht für eine Sekunde. Sie spulten die Verhaftungsroutine ab, wie ich sie bisher nur aus »Die 10
Straßen von San Francisco« kannte. Wir mussten uns an den Wagen stellen, breitbeinig, die Hände auf dem Dach, und wurden durchsucht. Sie fanden nichts. Also suchten sie die Umgebung nach Tatwerkzeugen ab. »Sagt uns am besten gleich, wo ihr die Brechstange hingeworfen habt«, sagte der eine. »Wir finden sie eh.« Der andere hielt den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf uns gerichtet und herrschte uns an. »Keine Bewegung!« Dann legten sie uns Handschellen an und fuhren uns ins Revier. Mein Herz raste. Ich fühlte mich großartig, verwegen und lebendig. Und das beste war, ich hatte nicht einmal etwas verbrochen. Sie konnten mir nichts anhaben. Laut machte ich meiner Empörung Luft. Was für ein Spaß! Es war das letzte Mal, dass ich mich bei einer Verhaftung so fühlen sollte. Als sie Artur und mich wieder laufen ließen, ungefähr nach einer Stunde, verzogen wir uns auf einen Spielplatz, in eine Lokomotive für Kinder, die ein wenig Schutz vor der Kälte bot. Da sie uns kein Verbrechen nachweisen konnten, hatten sie davon abgesehen, meine Eltern zu informieren. Dieter hatten sie dabehalten, vielleicht konnten sie ihm noch den einen oder anderen ungelösten Einbruch anhängen. Artur holte seinen letzten Krümel Dope aus der Tasche. Er hatte ihn bei unserer Verhaftung unbemerkt in die Fingerspitzen seiner Handschuhe geschoben. Ich klopfte ihm auf die Schulter. Dieses Mal wollte ich auch einen Zug. Wir saßen auf dem Spielplatz, bis die Sonne aufging.
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Das Ende der Straße Meine Zeugung war eine Mischung aus Unfall und Kontrollverlust aus Liebe. Nicht, dass meine Eltern mich das hätten spüren lassen. Im Gegenteil, es sollte viele Jahre dauern, bis mir auffiel, dass der Hochzeitstag meiner Eltern und mein Geburtstag nur wenige Monate auseinander lagen. Meine Mutter war 20 Jahre alt, als sie schwanger wurde. Damals arbeitete sie als Arzthelferin, für ein Mädchen vom Dorf ein Aufstieg. Da sie nicht nur jung und strebsam war, sondern auch schön, hofierten sie die jungen Männer in der Umgebung. Ihr weiteres Leben malte meine Mutter sich in leuchtenden Farben aus. Mein Vater war 26 und ein einfacher Handwerker, im Alter von 14 Jahren hatte er gelernt, aus Eisen Werkzeug zu schmieden, zwei Jahre später hatte er sich zum Heizungsmonteur weiterbilden lassen. Sein vornehmlicher Zukunftsplan war, meine Mutter zu heiraten. Als meine Mutter ihn am Tag meiner Zeugung bat, aufzupassen, sagte er »Jaja« und lies dann doch, von Lust und Liebe übermannt, den Dingen ihren Lauf. Einige Wochen später erfuhr meine Mutter, dass sie schwanger war. Sie gab ihren Beruf auf, heiratete meinen Vater und widmete ihre Zeit, ihre Energie und ihre ehrgeizigen Zukunftspläne stattdessen ihrem Sohn. Meine Eltern mühten sich nach Kräften. Ein großer Teil des Einkommens meines Vaters wurde für Spielzeug oder Familienausflüge in den Zoo und Vergnügungsparks ausgegeben, meine Mutter bastelte mit mir in zeitentrückter Versunkenheit oder las mir aus Kinderbüchern vor. Als zweieinhalb Jahre nach meiner Geburt mein Bruder zur Welt kam, entschied sie sich, 12
mich nicht in die Obhut eines Kindergartens zu geben. Die Aufgabe, ihr Kind zu erziehen, wollte sie nicht auf andere abwälzen. Außerdem zweifelte sie daran, dass andere diese Aufgabe mit der gebotenen Sorgfalt erfüllen würden. Derweil schuftete mein Vater auf dem Bau. Häufig ließ er sich von seinem Arbeitgeber auf weit entfernten Baustellen einsetzen, kassierte Überstunden- und Entfernungszuschläge, arbeitete bis zur totalen Erschöpfung und kam nur an den Wochenenden nach Hause. Damals erhielt ich einen klar umrissenen Auftrag für meinen weiteren Weg in der Welt. Jeder von uns bekommt so einen Auftrag in der Kindheit von seiner Familie erteilt, unausgesprochen meist, aber deswegen nicht minder eindeutig und verbindlich. Vor allem auf das älteste Kind werden die Träume, Wünsche, Erwartungen und Ängste der jungen Eltern mit großer Kraft projiziert. Mein Auftrag war simpel – ich sollte möglichst immer unter den Besten sein. Der perfekte Sohn. Wie in vielen Familien der unteren Mittelschicht zu jener Zeit fokussierte sich das stetige Bemühen meiner Eltern um ein besseres, sprich wohlhabenderes und gesellschaftlich respektiertes Leben in ihren Kindern. »Ihr sollt es einmal besser haben« war ihr Lebenscredo, und wie selbstverständlich erwarteten sie, dass wir mit der gleichen Aufopferung diesem Ziel nachstrebten. Aber ich sollte es nicht nur besser haben, ich sollte es vor allem besser machen. Schließlich hatte meine Mutter auf ihre Zukunft verzichtet. Also würde sie dafür sorgen, dass ich auf nichts würde verzichten müssen und an ihrer statt all die Dinge erreichte, die außerhalb ihrer Möglichkeiten lagen. Sie bereitete mich gründlich auf den Erfolg in der Welt vor. Förderte meine intellektuellen und kreativen 13
Interessen, soweit es ihr möglich war, und gab mir das Gefühl, dass irgendwo in der Welt am Fuße eines Regenbogens ein Topf mit Gold auf mich wartete. Sie belohnte mich für jede meiner Leistungen und versuchte alle Ambitionen zu unterdrücken, die ihr schädlich erschienen. Meine Mutter schlug mich niemals, ließ mich aber jedes Mal, wenn ich ihren Erwartungen nicht entsprochen hatte, ihre Enttäuschung spüren. War sie wütend auf mich, litt ich Qualen. Jedes ungeduldige Stirnrunzeln, jeder böse Blick, jedes laute Wort traf mich wie ein Stockschlag. Also mühte ich mich meinerseits nach Kräften, ihren Vorstellungen des idealen Sohns zu entsprechen. Ich lernte lesen, lange bevor ich eingeschult wurde. Und in den ersten zehn Jahren meines Lebens war ich ein gelehriger Schüler. Meine Kindheit verlebte ich in dem kleinen Dorf, aus dem meine Mutter stammte. Erkelenz, die nächste Kleinstadt, ist sieben Kilometer entfernt. Bis Düsseldorf sind es ungefähr 40, bis Köln 50 Kilometer. Mehr als anderthalb Jahrzehnte waren diese beiden Städte für mich nur Namen auf den Straßenschildern. Die Grenze zu den Niederlanden dagegen ist gerade mal 10 Kilometer entfernt. Jenseits dieser Grenze kauften meine Eltern Kaffee, Zigaretten und Diesel. Einige Jahre später verbrachten wir die ersten Familienferien auf einem holländischen Campingplatz. Das Dorf, in dem ich aufwuchs, bestand im Wesentlichen aus einer Durchgangsstraße, die zu beiden Seiten mit einigen Dutzend Häusern und Höfen bebaut war. Ein wenig erinnerte es mich an die Western-Dörfer, die ich aus Fernsehserien kannte – ein Saloon, ein Drugstore und eine Handvoll Häuser links und rechts der Mainstreet, umgeben von Prärie und Ackerland. Der Drugstore ein Tante-Emma-Laden, in dem wir Kinder 14
unsere Kaugummis kauften, der Saloon eine verrauchte Eckkneipe, in der mein Großvater Sonntagmorgens zum Frühschoppen verschwand. In der Mitte des Dorfes die Kirche, katholisch, der Glockenturm überragte alle anderen Gebäude. Die Schule auf der anderen Straßenseite war schon vor Jahren wegen Schülermangels geschlossen worden. Dahinter nichts als Felder, Wiesen und ein kleiner Wald. Statt der Pferde und Postkutschen preschten Autos und Motorräder durch das Dorf, die Landstraße verband einige der größeren Ortschaften in der Umgebung. Die Bauern rumpelten mit ihren Traktoren meist über die Wirtschaftswege jenseits dieser Straße. Sobald sie die Hauptstraße nehmen mussten, bildeten sich hinter ihnen lange Autoschlangen. Diejenigen Fahrer, deren Nummernschild sie als Bewohner der größeren Städte auswies, machten ihrem Ärger oft mit der Hupe Luft. Mir war, als würden die Landwirte dann ganz besonders gemächlich fahren. Den Verkehr und die Gebäude trennte nur der Gehsteig. Zur Straße hin zeigten die Häuser und Höfe hohe Ziegelmauern und vereinzelt Fachwerk, darin große Holztore, die meist geschlossen blieben und so die Tiere und Kinder drinnen und neugierige Blicke von Fremden draußen hielten. Die Fenster verhängten die Hausfrauen mit schweren weißen Gardinen. Meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich lebten im Haus meiner Großeltern mütterlicherseits. Unsere Wohnung lag im ersten Stock, das Erdgeschoss bewohnten meine Großmutter und ihr zweiter Ehemann. Der Vater meiner Mutter war im Krieg gefallen. Vielleicht war das der Grund dafür, dass ihr Stiefvater, den ich ganz selbstverständlich Opa nannte, mir immer ein wenig fremd blieb. Selbst dann noch, als er mir Skat beibrachte und mir zeigte, wie ich aus Schnur und Ästen Pfeil und Bogen bauen konnte. 15
Meine Oma hatte das Haus nach dem Krieg gebaut, nur mit ihrer bescheidenen Witwenrente, etwas Hilfe von Nachbarn und Verwandten und einer Menge Schweiß. Darauf war sie sehr stolz. Vor dem Haus hatte sie Rasen und einige dekorative Blumen gepflanzt und mit einer niedrigen Ziegelmauer eingefaßt; ein Vorgarten, der hier an der viel befahrenen Straße merkwürdig deplatziert wirkte. Da mir meine Eltern verboten hatten, in der Nähe der Straße zu spielen, erschien mir dieser Vorgarten meine ganze Kindheit hindurch gänzlich überflüssig. Hinter dem Haus hatten meine Großeltern einen Gemüsegarten angelegt, darin zogen sie Tomaten, Gurken, Bohnen, Erdbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren. In ihrem Garten pflanzten und ernteten sie den größten Teil ihrer Zeit, nachdem der Stahlbetrieb in Erkelenz meinen Großvater mit einer Dankurkunde und einer goldenen Uhr in Rente geschickt hatte. Als ich 15 war, starb mein Großvater dort in seinem Garten, sein Herzschrittmacher versagte, als er am Abend einen kleinen Spaziergang zu seinem Gemüse unternahm. Nach der Beerdigung wurde in derselben Gaststätte Kaffee und Kuchen serviert, in der mein Großvater vor seinem Ableben jeden Sonntagmorgen sein Bier getrunken hatte. Mir erschien sein Tod wenig tragisch. Schließlich war er an dem Ort gestorben, an dem er sich besonders wohl fühlte. Und außerdem, fragte ich mich, hätte er mit einem Herzen, das den Anstrengungen der Gartenarbeit nicht mehr gewachsen war, tatsächlich weiterleben wollen? Ich an seiner Stelle hätte das nicht gewollt. Damals dachte ich, dass so ein Ende wohl nicht das Schlechteste war. Meine Großmutter aber war danach nie mehr dieselbe. Hinter dem Haus meiner Großeltern, in der Mitte des Gartens, lag eine großzügige Rasenfläche, auf der vier Obstbäume und eine Birke wuchsen. Für einige Jahre war 16
mir diese Birke der liebste Platz der Welt. Immer, wenn ich traurig oder wütend war, kletterte ich bis in die letzte Astgabel oben im Wipfel, dorthin, wo mir niemand folgen konnte, da die schlanken Äste das Gewicht eines Erwachsenen nicht trugen. Wenn ich dort oben saß, hoch über den anderen, die Baumkrone schaukelte leicht im Wind, schrumpften die Dramen und Ängste, die das Leben eines kleinen Jungen beschatten, auf Spielzeuggröße und wirkten weniger bedrohlich. An einem dieser Tage erteilte ich mir selbst einen Auftrag. Nach einem Streit mit meinen Eltern war ich vor der Ignoranz und dem Unverständnis der Erwachsenen auf meine Birke geflüchtet und hatte dort einige Stunden auf meiner Astgabel in der Baumkrone gesessen, empört und wütend. Abends, vor dem Einschlafen, schrieb ich einen Brief an mich selbst. Ich konnte nicht begreifen, dass all die Erwachsenen, die, wie ich wusste, selbst einmal Kinder gewesen waren, so wenig Verständnis für meine Wünsche und Bedürfnisse hatten. Ich ermahnte mich in diesem Brief, niemals zu vergessen, was ein kleiner Junge von sieben Jahren so fühlt, träumt und fürchtet. Dann schwor ich mir, niemals selbst so zu werden wie all die Erwachsenen, die ich kannte, meine Eltern im Besonderen. Ich steckte den Brief in einen Umschlag, schrieb mit meiner Kinderschrift in großen Buchstaben »Achtung! Für Jörg Böckem, erst mit 18 lesen. Öffnen bei Todesstrafe verboten!« darauf, versiegelte den Umschlag gewissenhaft mit rotem Kerzenwachs und grünem Isolierband und versteckte ihn in meiner Spielzeugkiste. Der Brief ging im Laufe der Jahre verloren, die Botschaft nicht. Auf der anderen Straßenseite, ungefähr 200 Meter vom Haus meiner Großmutter entfernt, lag der Bauernhof meiner Urgroßeltern. Dort war meine Großmutter 17
aufgewachsen. Ihre Eltern waren tot, der Hof wurde mittlerweile von ihrer jüngeren Schwester und deren Mann bewirtschaftet. Meine Großtante und mein Großonkel hatten keine Kinder, ein großes Unglück für einen landwirtschaftlichen Familienbetrieb. Und ein großes Glück für meinen Bruder und mich. Es gibt kaum einen spannenderen Ort für kleine Jungs als einen Bauernhof, wir tobten durch Ställe und Scheunen, ritten auf Schweinen, Kühen und Pferden, tollten mit den Hofhunden und versuchten die verwilderten Katzen zu zähmen, was meist mit blutigen Striemen und Tränen endete. Als ich älter wurde, lernte ich Traktor fahren. In den Ferien halfen mein Bruder und ich bei Saat und Ernte und besserten so unser Taschengeld auf. Mein Großonkel war Herr in seinem kleinen Reich. Zusammen mit meiner Großtante erledigte er alle anfallenden Arbeiten, er wusste genau, wann die Ferkel von ihrer Mutter entwöhnt werden mussten und wann das Getreide reif war, erledigte kleinere Reparaturen und hatte für alle Schwierigkeiten auf einem Bauernhof eine Lösung und auf alle meine Fragen eine Antwort. Ich bewunderte und liebte ihn dafür. Dass er herrisch und launisch war, verzieh ich ihm. Und dass er strammer CDU-Wähler war, wurde erst zum Problem, als ich im Alter von 13 Jahren meine Haare wachsen ließ und offen mit den Grünen sympathisierte. Ich spielte ganze Tage auf dem Bauernhof meines Großonkels und in den umliegenden Wäldern, zusammen mit meinen Freunden baute ich Bretterbuden in den Bäumen und tiefe Höhlen im Stroh. Die ganze Welt war mir ein einziger Spielplatz. Am Baggersee bliesen die älteren Jungs Frösche auf, bis sie anschwollen und platzten. Später inhalierten wir dort den Rauch der ersten, verbotenen Zigaretten, bis unsere Gesichter die Farbe der Frösche annahmen. Doch davon ließ ich mir den Spaß 18
nicht verderben. Immer, wenn mich das Wetter oder eine Grippe von den Wiesen und Wäldern fernhielt, las ich. Ich verschlang »Robin Hood«, »Tom Sawyer & Huckleberry Finn«, »Robinson Crusoe«, »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, und was mir sonst noch an Abenteuergeschichten in die Hände fiel, Comics mit Batman und Spiderman, der damals noch »Die Spinne« hieß, Romanhefte um den Geisterjäger John Sinclair. Ich lauschte völlig gebannt Hörspielplatten von EUROPA, »Winnetou«, »Der Schatz im Silbersee«, »Siegfried und die Nibelungen«, allesamt vorgetragen von Hans Paetsch, dessen Stimme mich noch Jahrzehnte später rühren sollte, als ich im Auftrag des »kulturSpiegel« ein langes Interview mit ihm führte. All diese Geschichten erfüllten mich mit einer tiefen Sehnsucht nach Aufregung und Abenteuer. Mit einer Sehnsucht nach einem Leben, das bald nichts mehr mit dem zu tun haben würde, wie es sich meine Eltern für mich erträumten. Die Bücher waren nur der Anfang. »Raumschiff Enterprise« und »Arpad, der Zigeuner« im Fernsehen folgten, verwegene Weltraumcowboys, die dahin gingen, wo nie ein Mensch zuvor gewesen war. Arpads rassige Zigeunerfreundin, die erste Frau, in die ich mich so heftig verliebte, dass ich wie im Fieber war. Ein neues, wunderbares Fieber, von dem ich nicht genug bekam. Bruce-Lee-Filme in unserem zwei Kilometer entfernten Provinzkino, danach flog ich nach Hause und trat schattenhafte Gegner durch die Luft. Nichts hätte in der Dunkelheit lauern können, dem ich mich nicht gewachsen fühlte. Die ersten Singles aus der Musikbox meiner Eltern, »Ticket to Ride« von den Beatles und »Kenn ein Land« von dem deutschen Country-Sänger Ronny, die mich von fremden, wilden Orten und Gefühlen träumen ließen. 19
Später meine ersten eigenen Platten, The Sweet und Smokie, dann AC/DC und Blondie, die verführerische Kraft von Wut und Ekstase. Debbie Harry, die erste und einzige Sängerin, in die ich mich je verliebte. Dass sie heroinabhängig war, wusste ich damals nicht. Als ich sechs Jahre alt war, hatten meine Eltern mit den Bauarbeiten an ihrem Bungalow in einem neu erschlossenen Wohngebiet in dem Nachbarort begonnen, in dem ich eingeschult worden war, ungefähr zwei Kilometer vom Haus meiner Großmutter entfernt. Zwei Jahre später zogen wir dort ein. Nach und nach veränderte sich mein Leben. Im ersten Jahr fuhr ich noch beinahe täglich mit dem Fahrrad zu den Spielplätzen meiner frühen Kindheit. Irgendwann wurde mir die Entfernung lästig. Ich fand neue Freunde, mit denen ich auf Parkplätzen Rollschuhhockey spielte, und neue Wälder, in denen wir Baumhütten zimmerten. Außerdem nahm die Schule mich mehr und mehr in Anspruch. Seit meiner Einschulung waren die Erwartungen meiner Mutter immer konkreter geworden. Meine schulischen Leistungen standen von nun an im Mittelpunkt ihres Interesses. Glücklicherweise machte mir die Schule keine nennenswerten Probleme. Ich hatte Spaß daran, täglich etwas Neues zu lernen, die Hausaufgaben erledigte ich schnell. Und für jedes Zeugnis, das mich als Klassenbester auswies, wurde ich von meiner Mutter mit Zuneigung überhäuft. Bis zu meinem elften Geburtstag teilte ich mir mit meinem Bruder ein Zimmer im Erdgeschoss, dann zog ich um in den Kellerraum, der bis dahin unser Spielzimmer gewesen war. Mein Vater hatte dieses Zimmer mit einem großzügigen Lichtschacht und einem zweiflügeligen Fenster versehen. Schnell entdeckte ich, dass ich durch dieses Fenster von meinen Eltern unbemerkt ins Freie 20
klettern konnte. Gemeinsam mit einem Freund stromerte ich nachts durch die Straßen, erkundete mit in der Dunkelheit wild klopfendem Herzen den nahe gelegenen Waldfriedhof. Bei meinem vierten oder fünften Ausflug, in einer Vollmondnacht, traf ich meine Eltern, Hand in Hand bei einem Spaziergang im Mondschein. Ich erinnere mich nicht, wer von uns dreien das verdutzteste Gesicht machte. Die nächsten Wochen bekam ich Hausarrest. Im Jahr zuvor war ich auf das Jungengymnasium in Erkelenz versetzt worden. Erkelenz liegt ungefähr acht Kilometer entfernt, bis zur Gemeindezusammenlegung von 1973 war es Kreisstadt gewesen, mittlerweile hatte Heinsberg diesen Titel übernommen. Der Kreis Heinsberg besteht aus einigen Dutzend Dörfern und sieben Kleinstädten, verteilt auf 627,7 Quadratkilometer und nur durch schmale Landstraßen verbunden. Von diesen Landstraßen waren die umliegenden Orte schon von weitem zu erkennen, abgesehen von einigen wenigen Abraumhalden des Steinkohle-Tagebaus verstellte kein Hügel den Blick. Meist hing der Himmel so tief über den Häusern und Höfen, dass es aussah, als würden die Wolken die Gebäude am Wachsen hindern. Eine Anbindung an die Bahnstrecke Düsseldorf-Aachen gab es nur in Erkelenz, dort hielt der Regionalexpress. Die einzelnen Orte im Kreis verband lediglich ein lockeres Netz von Linienbussen, das hauptsächlich dazu bestimmt war, die Schüler aus den umliegenden Dörfern zu den weiterführenden Schulen in Wegberg, Erkelenz, Hückelhoven und Heinsberg und wieder zurück zu befördern. Für die acht Kilometer von meinem Heimatdorf nach Erkelenz benötigte der Schulbus ungefähr dreißig Minuten, da er auf seinem Weg alle Dörfer in der Umgebung ansteuerte. Außerhalb der Schulzeit fuhren die Busse nur sporadisch. Wer hier aufwuchs, sehnte sich früh 21
nach einem Auto, einem Moped oder was immer ihn schnell von hier fort brachte. Das Gymnasium veränderte meinen Blick auf die Welt. Gute Noten und ebensolches Benehmen waren plötzlich kein Garant mehr für den Respekt und die Sympathie der Mitschüler. Eine große Klappe, die richtige Jeansmarke und später die Bandnamen, die mit schwarzem Edding auf die Army-Taschen geschmiert waren, zählten deutlich mehr. Anfangs fühlte ich mich ziemlich verloren dort, zumal ich niemanden in meiner neuen Klasse kannte. Von meinen ehemaligen Mitschülern in der Grundschule war keiner aufs Gymnasium gewechselt. Noch einige Jahre war ich unter den Klassenbesten. Aber mehr und mehr begann ich, mich für andere Dinge zu interessieren. Ich wurde täglich daran erinnert, dass jenseits der Schule und der Erwartungen meiner Eltern eine aufregende Welt auf mich wartete, der Schulhof des benachbarten Mädchengymnasiums, beispielsweise. Und dass die Erwartungen und Tugenden meiner Eltern mir in dieser Welt nicht viel nutzten. In meinem dritten Jahr auf dem Gymnasium wählten meine Mitschüler mich zum Klassensprecher, im Jahr darauf zum Sprecher der gesamten Mittelstufe. Ich brachte mehr Zeit damit zu, mit den Lehrern über Schülerrechte zu streiten und Arbeitsgemeinschaften zu gründen, als dem Unterrichtsstoff zu folgen. Meine Mutter reagierte panisch auf meinen schleichenden Wertewechsel und versuchte mit aller Macht, mich in der richtigen Spur zu halten. Bald schienen mir der Erwartungsdruck und ihre vereinnahmende Zuneigung nur zwei Möglichkeiten offen zu lassen – die völlige Anpassung oder die totale Verweigerung. Anpassung hätte bedeutet, dass ich einige der Türen, durch die ich in diesen Jahren die ersten neugierigen Blicke geworfen hatte, wieder würde 22
schließen müssen. Aber ich wollte selbst herausfinden, was die Welt jenseits unseres Neubaugebiets zu bieten hatte. Ich entschied mich für die totale Verweigerung und warf mich von nun an kopfüber in alles, was nach Gefahr, Protest und Abenteuer aussah. Je weniger es meinen Eltern gefiel, desto interessanter erschien es mir. Mit 13 Jahren begann ich ehrenamtlich in einem selbst verwalteten Jugendzentrum in meinem Heimatdorf zu arbeiten. Thomas, ein gleichaltriger Junge, nahm mich das erste Mal mit dort hin. Wir hatten uns auf dem Kirmesplatz angefreundet, nachdem wir auf dem Autoscooter eine halbe Stunde lang wild ineinander gerast waren. Das Jugendzentrum lag in einem Viertel, das Welten vom Neubaugebiet meiner Eltern mit seinen Doppelgaragen, Vorgärten und Partykellern entfernt schien. Viele Menschen dort waren arbeitslos, andere schufteten unter Tage. In den Garagen wurden Mofas frisiert, statt der Vorgärten gab es nur die Straße und statt der Partykeller Kneipen, die zu jeder Tageszeit gut gefüllt waren. In unserem Jugendzentrum herrschten raue Sitten. Der Umgangston war barsch und laut, regelmäßig flogen die Fäuste und die eisernen Aschenbecher. Mehrmals im Monat stand der Krankenwagen vor der Tür. Der Träger der Einrichtung, die evangelische Kirche, drohte ständig mit Schließung. Bis sie einen jungen, idealistischen Sozialarbeiter fanden, der sich der Sache annahm und der in den ersten Jahren beinahe verzweifelte. Ich war einer der jüngsten Mitarbeiter dort. Alles, was ich sah und hörte, sog ich gierig auf. Ich verliebte mich in ein 16-jähriges Hippie-Mädchen, das mich mitnahm zu Ostermärschen der Friedensbewegung, Treffen der SPDJugendorganisation »Die Falken« und später zu Partys in besetzten Häusern. Eine neue, aufregende Welt, die ich 23
voller Leidenschaft und Eifer erkundete. Aber landen konnte ich bei ihr nicht. Ich war ihr wohl zu jung und zu schüchtern. An drei Abenden in der Woche öffneten wir den Partykeller in unserem Jugendzentrum und spielten bis um 22 Uhr bei gedämpftem Licht laute Musik. Diese Veranstaltungen nannten wir »Disco«. Wir legten Platten von Nina Hagen und Janis Joplin auf, aktuelle Hits von Madness, Talking Heads oder Judas Priest und Klassiker von den Doors, David Bowie, Iggy Pop, The Who und Deep Purple, dazwischen obskure Krautrock-Bands wie Kraan oder Guru Guru. Die Mädchen tanzten zu »Video Killed the Radio Star« von den Buggies oder »I Was Made for Lovin You« von Kiss, die Jungs lehnten betont lässig an den Wänden, Lederjacke um die Schultern, Bier und Zigarette in der Hand, bliesen Rauchringe und nickten zu »Paranoid« von Black Sabbath mit dem Kopf. Ab und an stakste einer von ihnen gemessenen Schrittes auf die Tanzfläche, stellte sich breitbeinig hin, reckte zu »T.N.T« von AC/DC die Faust gegen die Decke und spielte Luftgitarre. Die meisten Besucher waren zwischen 13 und 16, aber da unser Dorf für all jene, die Schützenverein oder Kegelclub nicht interessierte, sonst kein Nachtleben zu bieten hatte und die Getränke hier billiger waren als in den Kneipen, lungerten viele noch mit 18, 19 Jahren in unserem Jugendzentrum herum. Wir jüngeren sahen bewundernd zu ihnen auf, sie hatten mit den Jahren den gleichermaßen gelangweilten wie überheblichen Blick perfektioniert und meist ein Mädchen dabei, dem sie die Hand auf den Hintern legten und demonstrativ die Zunge in den Mund steckten. Jeder von ihnen trank übermäßig oder kiffte, sogar von härteren Drogen war die Rede, und einige hatten in gelegentlichen Schlägereien das Image 24
eines harten Kerls errungen. Bevor der neue Sozialarbeiter seinen Dienst antrat, führten einige engagierte Mütter, Mitglieder im evangelischen Gemeindeverein, die offizielle Aufsicht. Meist saßen sie rauchend in ihrem Büro. In der Disco und der so genannten Teestube im Erdgeschoss bestimmten wir Jugendlichen den Ablauf des Abends. Wir legten die Platten auf, kochten Tee, verkauften Getränke, räumten die Scherben und den Müll beiseite und fühlten uns ziemlich reif und abgeklärt. Außer mir gab es dort noch einen anderen Jungen, der auch das Gymnasium besuchte. Es kostete uns viel Anstrengung, den anderen zu beweisen, dass wir keine verweichlichten Klugscheißer waren. In unserem Jugendzentrum lernte ich Detlef kennen. Er war drei Jahre älter als ich, besuchte die Handelsschule und sang in der einzigen Rockband unseres Dorfes. Auf seinen linken Unterarm hatte er mit blauer Tinte schwungvolle chinesische Schriftzeichen tätowiert, über deren Bedeutung er sich ausschwieg. Detlef war ein kluger, einfühlsamer Junge, der beim Fußball die meisten Tore schoss und sich gut bei Schlägereien wehren konnte. Vielleicht der Einzige dort, der mit Sätzen ebenso gut umzugehen verstand wie mit seinen Fäusten. Die Jungs respektierten ihn, die Mädchen himmelten ihn an. Mit Detlef rauchte ich meinen ersten Joint. Wir kauften unser Haschisch von Harald. Harald mochten wir nicht besonders. Ein älterer Typ, um die zwanzig, der noch bei seinen Eltern wohnte, schlechte Witze erzählte und, wenn er breit war, damit prahlte, dass er seinen Hund regelmäßig mit der Grillzange befriedigte. Sein liebstes Hobby, noch vor Hundewichsen, bestand 25
darin, deutlich jüngere Mädchen bekifft zu machen und sie, wenn sie völlig weggetreten waren, zu vögeln. Aber Harald hatte gutes Dope, und wir waren keine Hunde und keine Mädchen. Wir kauften für 30 Mark zwei Gramm Haschisch, auf Haralds gläsernen Couchtisch klebte Detlef sorgfältig zwei Zigarettenblättchen zusammen und legte Tabak darauf. Dann hielt er die Flamme seines Feuerzeuges an das Haschisch und bröselte es auf den Tabak. Am Ende rollte er den Joint, zündete ihn an und sog den würzig riechenden Rauch tief in seine Lungen. Ich sah ihm fasziniert zu und nahm den nächsten Zug. Von meinen ersten Zügen wurde mir ziemlich schlecht. Detlef beruhigte mich, das sei immer so, ich solle einfach weiter machen. Bei dem zweiten Joint verflog meine Übelkeit. Ich lag weggetreten auf Haralds Fußboden, mein Kopf unter dem Glastisch, und sah wie verzaubert den Ringen aus Rauch zu, die Detlef mit dem Mund formte und auf der Glasscheibe über mir tanzen ließ. Haschisch begeisterte mich sofort. Nicht nur seine Wirkung, auch alles, was damit zusammenhing. Die konspirativen Drogenkäufe an abgelegenen Orten, später die Fahrten mit dem Fahrrad nach Roermond, der nächstgelegenen Kleinstadt in den Niederlanden, das rituelle Zubereiten der Dope-Tabak-Mischung, die ausgeklügelten selbst gebauten Rauchutensilien. Ich vertiefte mich ins Kiffen wie die Jungs im Informatik-Unterricht in ihre Programmiersprachen. Jeden Morgen traf ich Detlef vor dem Unterricht auf dem Sportplatz und rauchte den ersten Joint des Tages, abends lagen wir stundenlang auf dem Boden seines Zimmers, hörten »Shine on You Crazy Diamond« von Pink Floyd und konnten die Musik in unserem Körper spüren. Dass dieses Lied Syd Barrett gewidmet war, einem 26
Gründungsmitglied der Band, der sich im Drogenrausch verloren hatte und in der Psychiatrie gelandet war, wussten wir nicht. Aber es hätte uns sicher gefallen. Als im gleichen Jahr Bon Scott, Sänger meiner damaligen Lieblingsband AC/DC, nach einer durchzechten Nacht an seinem Erbrochenen erstickt war, erschien mir das ein würdiger Abgang für einen Rocker. So einer taugte zum Helden. Radikale Lebensentwürfe, jenseits des bigotten Kleinstadtkatholizismus in der Welt meiner Eltern, faszinierten mich. War ich halbwegs nüchtern, legte ich »Macht kaputt was euch kaputt macht« und »Keine Macht für niemand« von Ton Steine Scherben auf. Ich hatte der bürgerlichen Gesellschaft den Krieg erklärt. Meine Eltern wurden mein größter Feind. Wir stritten beinahe täglich, wegen meiner Haare, meiner Kleidung, meiner Freunde, den ständigen Beschwerden der Lehrer. Mit 15 schleppten sie mich völlig ratlos nacheinander zu einem Neurologen und einem Erziehungsberater, keiner konnte ihnen die erhofften Antworten und Ergebnisse liefern. Ich suchte mir woanders eine neue Familie, eine, die meinem Erfahrungshunger nicht im Wege stand, meine Freunde. Mein Dope-Konsum, meine Haare und die Anzahl der Löcher in meinen Jeans wuchsen ebenso schnell wie meine verstockte Ablehnung von Autorität. Bis ich ungefähr zwei Jahre nach meinem ersten Joint immer häufiger Angstzustände bekam und der Verfolgungswahn mir die Freude am Haschischrausch verdarb. Nächtelang lag ich mit galoppierendem Herzen wach, kontrollierte ständig, ob meine Zimmertür abgeschlossen war, und horchte auf Geräusche. Haschisch, musste ich bald einsehen, war keine Droge für mich. Später, bei meinen ersten Therapieversuchen, sollte die 27
Frage, ob Haschisch als Einstieg für harte Drogen wie Heroin und Kokain anzusehen ist, immer wieder auftauchen. Ich habe das nie so gesehen. Sicher, Haschisch war die erste illegale Droge, die ich ausprobierte. Weil sie auch für einen Teenager einfach zu bekommen war, vor allem im holländischen Grenzgebiet. Natürlich war Bier noch einfacher zu haben und machte einen auch ziemlich wirr im Kopf. Aber Alkohol gehörte in die Welt meiner Eltern, langweiliges, legales Zeug. Genau wie Zigaretten, die schon früh ihren Reiz für mich verloren hatten. Ich wollte etwas Neues, Eigenes, Verbotenes. Haschisch war nur eines der vielen Dinge, die mich damals anzogen. Und wenn es diesen einen Moment tatsächlich geben sollte, an dem alles seinen Anfang nahm, dann lag der wohl viel weiter zurück als mein erster Joint. Möglich, dass alles mit einer Autofahrt vor mehr als 30 Jahren begann, noch bevor ich lesen lernte. An einem sonnigen Frühlingsmorgen holte mich ein Freund meiner Eltern kurz nach Sonnenaufgang zu Hause ab. Er war Postbote, und ich durfte in seinen großen, gelben Wagen steigen und ihn für einen schier endlosen Vormittag auf seiner Tour begleiten. Meine Mutter musste mit meinem jüngeren Bruder zum Arzt. Es war der aufregendste Tag meines bisherigen Lebens. Wir fuhren durch diesen strahlenden Morgen, vorbei an Wäldern und Wiesen, und besuchten Orte und Menschen, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich konnte kaum still sitzen vor Aufregung. Schließlich kamen wir an eine kleine Straße, die kurz hinter dem letzten Haus endete. Der Asphalt hörte einfach auf. »Wo sind wir hier?«, wollte ich wissen. Der Postbote nannte den Namen des Ortes. Aber das meinte ich nicht. Ich war mir sicher, das hier musste das Ende der Welt sein. Denn warum sollte die Straße wohl sonst aufhören? Ich fragte 28
ihn. Er lachte. Nein, sagte er, es gibt kein Ende, es geht immer weiter, auch wenn die Straßen aufhören. Ich war wie elektrisiert. Eine Welt jenseits der Straßen schien mir unvorstellbar. Irgendwann musste ich herausfinden, wie es dort aussah. Als ich dann alt genug war, die Straßen meines kleinen Dorfes zu verlassen, waren Drogen und Sex das Aufregendste, was ich dort fand, wo der Asphalt endet.
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Artur Artur lernte ich 1981 auf einer Party des CusanusGymnasiums in Erkelenz kennen. Ein Jahr zuvor hatte die Schule, die wir beide besuchten, noch ganz profan »Jungengymnasium« geheißen. Doch im vergangenen Schuljahr hatte die Verwaltung beschlossen, auch Mädchen aufzunehmen, und Nicolaus von Kues, genannt Cusanus, den einzigen Gelehrten, der je in Verbindung zu Erkelenz stand, als Namenspatron gewählt. Uns Schülern gefiel die Veränderung. Endlich mussten wir uns nicht mehr auf den Schulhof des benachbarten Mädchengymnasiums schleichen und drastische Sanktionen riskieren. Artur war mit seinen 17 Jahren zwei Jahre älter als ich. In seinem schwarzen Lodenmantel sah er ziemlich erwachsen aus. Artur war in der Schule als Kiffer bekannt, und da mich mein Dealer am Nachmittag versetzt hatte, war ich verzweifelt auf der Suche nach ein paar kleinen Brocken Haschisch. Noch hatte ich das Kiffen nicht ganz aufgegeben, und eine Schulparty nüchtern erleben zu müssen wäre einfach zu öde gewesen. Wir verließen das Schulgelände, Artur wollte nicht riskieren, von einem Lehrer erwischt zu werden. Der Direktor wartete nur auf einen Grund, ihn von der Schule zu verweisen. Und es war ein offenes Geheimnis, dass die »We Don’t Need No Education«-Schmierereien auf dem Schulhof von Artur stammten. Beweisen konnte ihm die Schulleitung das allerdings nicht. Hinter der Sporthalle holte Artur sein Haschisch aus der Tasche, hielt sein Feuerzeug daran und brach ein Stück ab, nachdem die Hitze es warm und brüchig gemacht hatte. 30
»Ich verkaufe nichts«, sagte er und drückte mir das Stück in die Hand. »Hier, das wird wohl reichen für heute Abend. Viel Spaß damit. Und frag mich bitte nie wieder.« Ich verstand ihn nicht. Wenn er mir etwas verkaufen würde, erklärte er mir, würden unweigerlich andere davon erfahren und irgendwann würde er auf dem Schulhof von sämtlichen Kiffern belästigt werden. Daran habe er kein Interesse. Er wollte vor allem in Ruhe gelassen werden. Einige Monate später wurde Artur zum Schulsprecher gewählt, denn ebenso wie nach Ruhe verlangte es ihn nach einer Bühne, auf der er sich, seine Ideen und Überzeugungen in Szene setzen konnte. Aus ähnlichen Gründen ließ ich mich zu seinem Stellvertreter wählen. Zuerst waren wir erbitterte Konkurrenten, dann brachte uns der Kampf gegen die Engstirnigkeit der Schulleitung, die bürgerliche Gesinnung der meisten Lehrer, die Gleichgültigkeit unserer Mitschüler und vor allem gegen die Eintönigkeit des Schulalltags einander näher. Wir verteilten Flugblätter, in denen wir unsere Mitschüler über ihre Rechte aufklärten und zum Widerstand gegen Lehrerwillkür aufforderten, entwarfen Broschüren, in denen wir Aufrüstung und amerikanische Propaganda anprangerten, organisierten Rockkonzerte in der Schule und hielten während der Schulkonferenzen Vorträge über den Rassismus in Südafrika. In dem Klassenraum, der uns nach dem Unterricht für Sitzungen zur Verfügung stand, sabotierten wir beinahe täglich den Lautsprecher, über den der Direktor seine Durchsagen machte. Wir fürchteten, die Schulleitung würde uns abhören. An dem Tag, an dem wir mit einer Klebepistole den Mülleimer, einen Stuhl und einige Aktenordner an die Zimmerdecke geklebt hatten, wurden wir enge Freunde. Viel mehr noch als der Direktor hasste uns der Hausmeister. Artur wohnte mit seinen Eltern und seinem jüngeren 31
Bruder in einem schmalen alten Häuschen im Zentrum von Erkelenz, in der Nähe des Bahnhofs. Sein Vater war Vertreter, ein stiller Mann, der selten zu Hause war und meist milde lächelte. Dass er zu viel trank, erfuhr ich erst sehr viel später. Seine Mutter war Hausfrau, ihre unterkühlte Art flößte mir Furcht ein. In ihr Gesicht schien das Leid der Welt gegraben, und sie gab mir, wenn ich sie ansah, das Gefühl, Schuld daran zu haben. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte mich an meine Mutter. Jedes Mal, wenn sie die Tür öffnete, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Artur hatte ein winziges Zimmer unter dem Dach bezogen, in der größtmöglichen Entfernung zu den Räumen seiner Eltern. Dort stapelten sich im Laufe der Jahre Skizzenblöcke, Bildhauerwerkzeug, Ytongsteine in verschiedenen Phasen der Bearbeitung und Bücher, »Schwarze Spiegel« von Arno Schmidt, »Der Verfolger« von Julio Cortazar, Hermann Hesses »Siddhartha«, der Illuminaten-Zyklus von Robert Anton Wilson, »Die Lehren des Don Juan« von Carlos Castaneda, sämtliche auf Deutsch erschienenen Taschenbücher von Kerouac und Kotzwinkle. Außerdem sympathisierte Artur gerade mit der RAF und las alles, was ihm dazu in die Finger fiel. Auf dem Dachboden neben seinem Zimmer hatte Artur einen Getränkevorrat angelegt. Ein Kasten Wasser, ein Kasten Bier, hin und wieder eine Flasche Hochprozentiges, meist Wodka, hinter Kartons voller Gerümpel verborgen. Bei meinem ersten Besuch wunderte ich mich darüber, dass auch die geöffneten Flaschen mit Flüssigkeit gefüllt waren. Artur erklärte mir, dass er in den Flaschen seinen Urin entsorgte. Da sich die Toilette zwei Stockwerke tiefer befand, pinkelte er häufig in leere Flaschen, erst wenn der Kasten voll war, schüttete er den Inhalt in die Toilette. Nicht immer einfach zu 32
bewerkstelligen, aber eine gute Idee, wie mir schien. In den unteren Stockwerken bestand die Gefahr, seiner Mutter über den Weg zu laufen. Vor allem unter Drogeneinfluss erschien uns diese Vorstellung ziemlich erschreckend. Unter dem Dach fühlten wir uns sicher. Oft saß Artur ganze Tage allein auf seinem Dachboden, schloss sich in seinem Zimmer ein und wies seine Freunde ab. Sogar im LSD-Rausch, wenn wir anderen froh waren, der unvorhersehbaren Wirkung der Halluzinogene nicht allein ausgesetzt zu sein und unsere Erlebnisse miteinander teilen zu können, war Artur sich oft selbst genug. Einmal brachte er eine ganze Nacht auf LSD damit zu, hunderte Augenpaare aus Zeitschriften zu schneiden und zu einer DIN A1 großen Collage zusammenzukleben. Als ich am nächsten Tag das Ergebnis sah, machte ich mir zum ersten Mal ein wenig Sorgen um ihn. Selbst nüchtern machte mir das hundertfache Starren dieser Augen Angst. Monate später las Artur in einer einzigen, kokainberauschten Nacht Arno Schmidts Werk »Zettels Traum«, am nächsten Tag erklärte er mir mit rot geränderten Augen, welche tief greifenden Erkenntnisse ihm das Buch vermittelt hatte.
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LSD, juchhe »Du bist dran«, sagte Erik. Tom machte zwei Schritte nach vorne und drückte auf den Knopf. Wie er es schon viele Male zuvor getan hatte, denn er war eigentlich immer dran. Wir standen zu viert vor einer Fußgängerampel, die einzige Ampel in meinem Heimatdorf, es war spät in der Nacht. Das ganze Dorf war vor Stunden in den Schlaf gesunken, kein Mensch mehr auf den Straßen. Alle Kneipen, davon gab es ungefähr ein halbes Dutzend mehr als Ampeln, lange geschlossen. Wir amüsierten uns glänzend. Jeder Farbwechsel der Signallampen jagte bunte Lichtexplosionen durch unsere weit aufgerissenen Augen direkt in unser Hirn, immer wieder aufs Neue. Seit ungefähr 36 Stunden waren wir auf LSD. Meine Eltern waren für einige Tage verreist, also schliefen alle bei mir. Genau genommen schlief keiner von uns an diesem Wochenende. Am Morgen des Vortages hatten Artur, Erik und ich zwanzig Mikrotrips gekauft, so ziemlich das beste LSD, das der Markt hergab. Ralf, den Verkäufer, hatte Artur aufgetan, aber als er vor mir stand, entpuppte er sich als ein alter Bekannter. So war es eigentlich immer hier auf dem Land. Jeder kannte jeden oder zumindest jemanden, der den anderen kannte. Das galt auch für die Drogenszene, die wie eine Art Schützenverein funktionierte. Ralf und ich waren die ersten Jahre auf dem Gymnasium in die gleiche Klasse gegangen, als wir zehn oder elf waren, hatten wir oft zusammen mit unseren Big-JimAbenteuerpuppen gespielt. Ralf war Einzelkind und sein Vater verdiente ziemlich gut. In Ralfs Zimmer stapelten 34
sich Big-Jim-Zubehör, zwei Motorräder, ein Schnellboot, Tiefseeausrüstungen und vieles mehr. Sündhaft teures Zeug, das ich mir nicht leisten konnte. Nach meinem ersten Besuch nahm ich irrtümlich etwas davon mit nach Hause. Ralf bemerkte es nicht einmal. Selber Schuld, dachte ich, und steckte danach jedes Mal etwas ein – wer sein Spielzeug nicht zu schätzen weiß, hatte es nicht besser verdient. Da ich schnell immer gieriger und dreister wurde, fielen meine kleinen Diebstähle bald auf. Ralf lud mich nicht mehr zu sich nach Hause ein. Später erlangte Ralf kurz lokale Berühmtheit an unserer Schule, weil er in der achten Klasse während des Unterrichts immer wieder seinen Schwanz aus der Hose holte und onanierte, unter der Tischplatte verborgen und dennoch vor unser aller Augen. Anfangs war das ganz lustig, aber Ralf begriff nie, wann er aufhören musste. Als er von der Schule flog, verloren wir uns für ein paar Jahre ganz aus den Augen. Bis die Drogen uns wieder zusammenbrachten. Auch als Dealer stellte Ralf sich nicht klüger an, er wurde immer wieder verhaftet. Aber seine Trips an diesem Tag waren phantastisch. So gut, dass es im Bungalow meiner Eltern immer turbulenter zuging. Im Laufe des ersten Tages klingelte es ständig an der Tür, wir verkauften einige der Trips mit bescheidenem Gewinn weiter. Ein paar Leute warfen ihre direkt vor Ort ein und blieben gleich da. Wir lagen auf den mit Batiktüchern bezogenen Matratzen, die beinahe den gesamten Boden meines Zimmers einnahmen, und hörten wohlig weggetreten »Tales of Mystery and Imagination«, Alan Parsons musikalische Umsetzung der Kurzgeschichten von Edgar Allan Poe, und »Tubular Bells« von Mike Oldfield. Die Töne kribbelten auf unserer Haut und Klangfasern füllten den Raum. Mit unseren Fingern malten wir bunte Linien in die Luft. Die Vögel, 35
die in meinen Wandteppich gewebt waren, flogen gemeinsam mit Poes Raben durch den Raum. Am Mittag des zweiten Tages waren unsere Vorräte aufgebraucht, wir orderten zwanzig neue Trips. Ralf brachte sie uns wenige Stunden später. Dieses Mal würden wir gleich zwei oder drei nehmen müssen. Unsere Körper, das wussten wir, reagierten nach mehr als 24 Stunden Dauerrausch nicht mehr so empfindlich auf das LSD. »Vielleicht kann man die Dinger auch auflösen«, sagte Artur und starrte nachdenklich auf die kleinen, hellroten Stängchen in seiner Hand. »Bestimmt!«, sagte Erik aufgekratzt. »Gute Idee.« Der Vorschlag verwirrte mich. »Wieso, wollt ihr den Kram trinken?«, fragte ich. Artur sah mich irritiert an. »Blödsinn«, sagte er. »Aber vielleicht kann man sich die Dinger auch drücken. Das knallt bestimmt noch besser.« Dass die beiden vor kurzem angefangen hatten, Kokain zu injizieren, wusste ich. Trotzdem schien mir die Idee, irgendetwas könnte noch besser knallen, absurd. Als die beiden zwei der Trips auf einem Esslöffel auflösten und sich die Flüssigkeit mit einer Spritze injizierten, sah ich neugierig zu. Mein erster LSD-Trip lag erst wenige Wochen zurück. Ich nahm ihn kurz nach meinem 18. Geburtstag. Zuvor hatte ich beinahe zwei Jahre völlig drogenfrei gelebt, nicht mal legale Gifte wie Alkohol, Kaffee oder Zigaretten hatte ich zu mir genommen. Nachdem meine Angstattacken immer heftiger geworden waren, hatte ich das Interesse an Haschisch, an Drogen insgesamt, zunächst völlig verloren. Als ich 15 war, hatte ich Alice kennen gelernt. Sie war 36
meine erste große Liebe und das erste Mädchen, mit dem ich schlief. Sex und der Körper eines Mädchens waren neu und aufregend genug. Außerdem hatte ich andere Betätigungsfelder gefunden, in denen ich meine Lust am Widerstand ausleben konnte. Ich stritt in der Schülerverwaltung für Mitbestimmung an der Schule, organisierte Konzerte an unserem Gymnasium oder demonstrierte gemeinsam mit Alice gegen den NatoDoppelbeschluss und die Stationierung eines AWACSLuftabwehrgeschwaders in unserem Kreis. Wenige Tage nach meiner Trennung von Alice ließ ich mir die Haare schneiden und wandte mich wieder den Drogen zu. Mit einer Begeisterung, und vielleicht auch Verzweiflung, als gelte es, das Loch zu füllen, das sie in meinem Leben hinterlassen hatte. Artur hatte vor kurzem begonnen, mit LSD, Amphetaminen und Kokain zu experimentieren. Bei seinem Dealer traf er Erik. Erik war zwei Jahre jünger als ich und besuchte ebenfalls unser Gymnasium. Ein kompromissloser Bursche, der ohne Angst vor Blessuren durch die Welt preschte. Einer von denen, die beim Fußball immer den Mittelstürmer spielten und kaum zu halten waren. Ein wenig erinnerte er mich an Matt Dillon in Coppolas »Rumblefish«. Ich mochte ihn von Beginn an. Auch für LSD ließ ich mich sofort begeistern. Auf LSD war Erkelenz der aufregendste Ort im Universum. Artur, Erik und ich zogen zu dritt durch die Nacht, jeder Schritt ein Erlebnis, das meine Sinne erschütterte. Die Fahrbahnmarkierungen lösten sich vom Asphalt und sirrten durch meinen Körper, ich badete im Schein einer Straßenlaterne, konnte spüren, wie die Lichtfasern auf meiner Haut prickelten. Artur musste mich sanft weiter ziehen, ich hätte mich stundenlang nicht vom Fleck gerührt. Später standen wir auf einer Autobahnbrücke, die 37
Scheinwerfer der unter uns vorbeifahrenden Autos schabten wie gleißende Finger innen an unserer Kopfhaut. Das LSD schien unsere Gehirne auf wunderbare Weise zu vernetzen, jeder sah und spürte, was die anderen sahen und spürten. Wir handelten wie ein einziger Organismus. Am Bahnhof sahen wir einem vorbeifahrenden Güterzug zu, am Ende lag ich wie von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden. Der Zug war durch jede Zelle meines Körpers gerast. »Alles okay mit dir?«, fragte Artur und half mir auf. Der erste Trip ist meist der heftigste, und Artur machte sich Sorgen, dass es mir zu viel werden könnte. Ich lächelte ihn nur an, ich war so aufgewühlt, dass meine Stimme versagte. Mein Lächeln beruhigte ihn. Ich hatte nicht für eine Sekunde Angst gehabt. So fremd und neu all diese Erfahrungen auch waren, ich fühlte mich sicher. Artur und Erik waren an meiner Seite, meine Familie, und der große Abenteuerspielplatz, der die Welt war, hatte mir heute ein paar neue Attraktionen geboten. Das war alles. Golden Brown Ein nasskalter Wintertag, einige Wochen nach meinem 18. Geburtstag, steingraue Wolken pappten wie schmutzige Putzlappen am Himmel. Am Nachmittag war Erik in Roermond gewesen und hatte Heroin und Kokain gekauft, abends saßen wir zusammen mit Artur in Eriks Zimmer auf dem Boden, in der Mitte die beiden Drogenpäckchen, eine Dose Ascorbinpulver, ein Glas Wasser, ein Suppenlöffel, eine Packung Insulinspritzen und ein Feuerzeug. Mein Herz raste. Vor wenigen Tagen erst hatte ich zum ersten Mal Heroin geraucht und Amphetamine gesnifft, und obwohl mir eigentlich nur ziemlich übel 38
geworden war, hatte das meine Neugier auf das Drücken nur noch angefacht. Erik hatte »Golden Brown« von den Stranglers aufgelegt, eine Hymne an das Heroin. Der Sänger der Band, Hugh Cornwell, war ein Junkie. Genau wie Iggy Pop, Sid Vicious, David Bowie und einige andere, die ich bewunderte. Erik erzählte mir, ihm sei bei seinem ersten Druck so schlecht geworden, dass er sich den ganzen Tag übergeben musste. Trotzdem hatte ihn der Rausch für alle Übelkeit entschädigt. Artur entnahm mit der Spitze seines Taschenmessers etwas Heroin aus dem Päckchen und gab das Pulver auf den Löffel. Dann mengte er ungefähr die gleiche Menge Ascorbinpulver dazu, damit sich das Heroin auflöste. Anschließend kochte er das Heroin auf, gab dann das Kokain dazu und zog die Flüssigkeit in drei Spritzen auf. Ich verfolgte andächtig jede seiner Bewegungen. Die erste Spritze war für mich bestimmt, nach seinem eigenen Druck würde Artur minutenlang nicht in der Lage sein, sich um meinen zu kümmern. Das wollte er mir nicht zumuten. Ich band meinen Arm mit einem Gürtel ab, so wie ich es eine Woche zuvor bei Artur und Erik gesehen hatte. »Alles klar?«, fragte Artur mich. »Alles klar«, antwortete ich. Dann senkte Artur die Nadel in meine linke Armbeuge, durchstieß vorsichtig die Vene. Ich spürte, wie sich die Härchen auf meinem Arm aufstellten. Langsam drückte Artur den Inhalt der Spritze in meine Ader. Nur Sekundenbruchteile später schien mein Gehirn zu explodieren. Das Kokain brachte alle meine Nervenzellen wie mit einem Vorschlaghammer aus Daunenfedern zum Schwingen, ich fühlte mich wie eine Art riesiger chinesischer Gong aus Fleisch und Knochen. Mein Herz 39
hämmerte, jeder Zentimeter meiner Haut prickelte, ich atmete so schnell wie nach einem 100-Meter-Lauf. Als der Kick nachließ, setzte die Wirkung des Heroins ein. Mir war, als würde die Droge die Schwerkraft aufheben, mein Körper wurde völlig schwerelos. Ich fühlte mich ruhig und zufrieden. Jede meiner Bewegungen war verlangsamt, mir war, als würde ich fließen. Das Heroin konzentrierte sich in meiner Körpermitte, von dort strahlte es wohlige Wärme bis in meine Fingerspitzen. Umschloss mich wie die Fruchtblase den Fötus. Die Spritze war die Nabelschnur, die mich mit allem versorgte, was ich brauchte. Bis spät in die Nacht lagen wir in Eriks Zimmer, kochten unsere Drogen auf und hörten Platten von Lou Reed, David Bowie und Iggy Pop. Wir trieben weggetreten durch die Nacht, die Dunkelheit vor Eriks Fenster war angefüllt mit Verheißung, das Reich von Iggy und David schien zum Greifen nahe. Das Heroin war meine Eintrittskarte. Ich hatte mich in diesen Rausch verliebt, von der ersten Sekunde an. Nichts fühlte sich mehr so an wie zuvor. Einige Stunden später zog ich mich aus und kroch zu Eriks Schwester ins Bett. Wir hatten seit kurzem eine Affäre. Schlaftrunken schmiegte sie sich in meine Arme. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr, ihre nackte Haut an meiner, das Heroin und das Kokain pulsierten in meinem gesamten Körper. So ungefähr stellte ich mir das Paradies vor.
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Teenage Kicks »Ist dir eigentlich klar, dass du dein Leben völlig ruinierst?«, fragte das Mädchen über mir. Mir war überhaupt nichts mehr klar. Ich hockte mit dem Rücken an die Außenwand einer Garage gelehnt, das Mädchen stand vor mir. Im Moment erschien es mir als die größte Leistung meines Lebens, diese verdammte Garage verlassen zu haben. Wir waren auf einer Party in einem Nachbarort, und ich war völlig weggetreten. Am Tag zuvor hatten Erik und ich in Amsterdam 200 LSD-Trips gekauft. Wir kauften die Trips für ungefähr 1,80 Mark pro Stück ein und verkauften sie für 10 bis 15 Mark weiter. Wir hatten zwei Platten mit je 100 Papers gekauft, einen Quadratzentimeter kleine Löschpapierpappen mit einem Fliegenpilz darauf gedruckt, zehn Reihen à zehn Stück. An den Rändern der Platten stand ein Streifen über, ungefähr ein Drittel so breit wie ein Trip und zehnmal so lang. Diese Randstreifen hatten wir abgeschnitten und eingenommen. Da das LSD großflächig auf die Platten geträufelt wurde, konnte man nie wissen, wie hoch die Konzentration an den Rändern war. An diesem Tag muss sie sehr hoch gewesen sein. Schon auf der Fahrt zur Party hob ich ab. Im Keller meiner Eltern hatte ich eine alte Schweißbrille meines Vaters gefunden, ein klobiges Plastikteil mit grünen Gläsern. Artur hatte mir mehrfach gesagt, ich sähe wie ein Vollidiot aus mit dieser Brille. Trotzdem weigerte ich mich stundenlang, sie abzulegen. Artur, Erik und ich fuhren zu der Party in Ralfs Scirocco, einem verunglückten Versuch von VW, eine Art Sportwagen zu entwerfen. Keiner von uns dreien besaß ein Auto, Erik und ich hatten nicht mal einen Führerschein, 41
aber wir waren ziemlich gut darin, Freiwillige zu finden, die uns durch die Gegend fuhren. Ralf war Krankenpfleger und kaufte regelmäßig LSD von uns. Er gehörte zu unseren bevorzugten Chauffeuren, der Scirocco fuhr schnell und war mit leistungsstarken Lautsprechern bestückt. Die Party gab Ralfs Arbeitskollege im Haus seiner Eltern. Der Scirocco flog durch eine grün getönte Nacht, aus den Boxen dröhnte Yellos »You Gotta Say Yes to Another Excess« und ich verlor völlig die Bodenhaftung. Auf der Party angekommen suchte ich zuerst die Garage. Meine Brille hatte ich mittlerweile abgenommen. In der Garage, hatte ich erfahren, standen die Wasserpfeifen. Haschisch funktioniert wie eine Art Turbo für das LSD, auch ein eher lahmer Trip kommt nach ein paar Zügen richtig in Fahrt. Mein Trip war vom Feinsten, ich hätte auf das Dope verzichten können. Aber vielleicht ging ja noch was. Ich setzte mich auf eine der Matratzen, die an der Garagenwand aufgereiht waren, und nahm einige tiefe Züge aus der Pfeife. Dann schloß ich die Augen und lehnte mich zurück. Die Schwärze unter meinen Lidern füllte sich mit Farben. Als ich die Augen wieder öffnete, waren die Farben immer noch da. Aber die Garage war verschwunden. Mein gesamtes Blickfeld wurde von einem gigantischen, dreidimensionalen grün-gelben Schachbrettmuster eingenommen. Ich sah nichts anderes mehr. Keine Wände, keine Decke, keinen Boden. Nur gelbe und grüne Quader, die sich langsam bewegten. Ich musste raus, an die Luft. Vorsichtig ertastete ich die Wand hinter mir, richtete mich langsam auf. Die Tür, erinnerte ich mich, war glücklicherweise in genau jener Wand, an der ich saß, einige Meter rechts von mir. Oder war es links? Ich schob mich langsam an der Wand lang, in die Richtung, in der 42
ich die Tür vermutete. Die grünen und gelben Quader waberten um mich herum, langsam wurde mir das Ganze wirklich unheimlich. Als meine Hand die Türklinke ertastete, beruhigte sich mein Puls ein wenig. Ich schob mich vorsichtig durch den Türrahmen und lehnte meinen Körper an die Außenwand, ganz langsam ließ ich mich zu Boden gleiten. Sog die frische Luft in meine Lungen und wartete, dass sich die Farbschleier vor meinen Augen auflösten. Das Mädchen vor mir erkannte ich nur an ihrer Stimme. Alice, meine erste Liebe, unsere Trennung war erst einige Monate her. Das erste Mädchen, mit dem ich geschlafen hatte. Diesen Tag würde ich nie vergessen. Auf den Wiesen und Wäldern in meinem Heimatdorf lag Schnee, es war der 6. Dezember, Nikolaus. Wir waren beide 15 Jahre alt. Nachmittags hatten wir stundenlang im Schnee herumgealbert; als wir uns schließlich in mein Zimmer flüchteten, waren wir völlig verfroren. Wir zogen unsere durchnässte Kleidung aus und schlüpften nackt in mein Bett. Langsam kroch die Wärme in unsere Körper zurück. Wir küssten uns, fassten uns an, es war so ähnlich wie die Balgerei im Schnee. Wenn ich sie ansah, war mir, als könne ich in ihren Augen, in ihrem Körper etwas finden, das ich lange schmerzlich vermisst hatte. Der erste Sex berauschte mich noch stärker als mein erster Joint, ein Gefühl wie Bäume klettern, Höhlen bauen und Geburtstag haben gleichzeitig, wie Spiele ohne Verlierer und freier Fall ohne Aufprall. Danach war mir, als könne ich fühlen, wie das Blut durch meine Adern rauschte und jeder Atemzug mich mit einem neuen, aufregenden Leben erfüllte. Ich wollte dieses Gefühl für alle Zeiten festhalten. Für zweieinhalb Jahre war Alice der Mittelpunkt meines Lebens gewesen. Jetzt wünschte ich sie so weit weg wie nur möglich. Doch sie stand genau vor mir, und ich sah 43
keine Möglichkeit, ihr zu entkommen. Ich wusste nicht, ob meine Beine noch die Kraft hatten, mich zu tragen. Ohne die Wand hinter mir wäre ich sicher sofort in dem grüngelben Wabern versunken. Aufstehen und Gehen schied damit aus. Auch meine Zunge gehorchte mir nicht mehr, ich konnte ihr nicht mal sagen, sie solle sich zum Teufel scheren. Stattdessen war ich dazu verurteilt, ihre Predigt über mich ergehen zu lassen. »Ich mache mir echte Sorgen um dich«, sagte sie. »Wenn du so weitermachst, bist du in ein paar Monaten völlig fertig. Du kannst so viel Besseres mit deinem Leben anfangen, als dich ständig zuzuknallen.« Ihre Umrisse ragten aus dem bunten Nebel vor mir auf. Ich sah hoch, konnte aber ihr Gesicht nicht genau lokalisieren. Ich fragte mich, ob alle Frauen irgendwann anfingen, wie meine Mutter zu klingen. Sie erinnerte mich daran, wie großartig unsere gemeinsame, drogenfreie Zeit gewesen war. An die Friedensdemonstrationen, an die Arbeit in der Schülervertretung meines Gymnasiums. An die Stunden, die wir damit zugebracht hatten, im Kerzenschein den Körper des anderen zu erforschen. Aber jetzt gefiel mir mein Leben besser. Mein Amt als Schülersprecher hatte ich noch nicht abgegeben, hauptsächlich, weil ich in dieser Funktion unserem Direktor wunderbar auf die Nerven gehen konnte und im Winter die Pausen in unserem beheizten Arbeitsraum verbringen durfte. Anstelle Erich Fromms »Die Kunst des Liebens« las ich jetzt »Aufzeichnungen eines Außenseiters« von Charles Bukowski und randalierte bei Punk-Konzerten. Vor einigen Monaten, kurz nach meiner Trennung von Alice, war ich zum Punk konvertiert. Ein Freund hatte mir die Haare geschnitten, die Wände meines Zimmers hatte ich schwarz und weiß gestrichen und alle Bettbezüge und Batiktücher schwarz gefärbt. Meine Pink-Floyd- und 44
Mike-Oldfield-Platten hatte ich verkauft, stattdessen hörte ich jetzt The Ruts, The Clash, The Undertones, Sex Pistols, Abwärts, KFC, Trio, Extrabreit und Fehlfarben. »Stimmt es, dass du angefangen hast, Heroin zu drücken?«, fragte Alice und versuchte meine irrlichternden Augäpfel zu fixieren. »Stimmt«, hätte ich ihr gerne geantwortet. »Eine tolle Sache, solltest du auch mal probieren.« Junk und Punk, das fügte sich meiner Meinung nach nicht nur phonetisch wunderbar zusammen. Beides verband Radikalität und Verweigerung – eine unschlagbare Kombination im Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft. Außerdem versetzten Drogen mich in einen ähnlichen Zustand wie Sex – das Gestern und Morgen warf keinen Schatten mehr auf das Hier und Jetzt. So ähnlich hatte ich mich als Kind gefühlt, wenn ich im Spiel versank und Zeit und Raum ihre Bedeutung verloren. Damals, als mein Kinderzimmer meine Burg war und meine Eltern mich vor allem Bösen abschirmten, das außerhalb der Mauern lauern mochte. Nur, dass Drogen dem Sex gegenüber einen großen Vorteil boten – ich brauchte niemand anderen dazu. Und Heroin war die Königsdroge. Sicher, auch LSD, Kokain und Haschisch verschafften mir aufregende, rauschhafte Momente. Aber sie waren nur Etappen auf meiner Suche. Heroin gab mir das Gefühl, an meinem Ziel angelangt zu sein. Wie auf Knopfdruck versetzte es mich in einen Zustand völliger Zufriedenheit, ich war eins mit mir, aller Druck, alle Wut und aller Trotz lösten sich auf, alle Sehnsucht und alle Begierden waren gestillt. Ein Gefühl, das ich mir ohne Drogen hart erarbeiten musste und in dieser Intensität trotzdem nur sehr selten erreichte. Außerdem war Heroin gefährlicher, verbotener als alle anderen Drogen, flößte den Menschen Angst ein. Heroin 45
schmiedete uns eng zusammen und verlieh uns das Gefühl besonderer Verwegenheit. Jedes Mal, wenn wir die Nadel in unsere Adern stachen, überschritten wir eine Grenze, vor der die anderen zurückschreckten. Das Aufkochen des Pulvers, das Aufziehen der Spritze und Abbinden der Arme, all diese Rituale gaben mir das Gefühl, Mitglied eines geheimen, verschworenen Ordens zu sein. Ich führte ein wunderbares Leben. Wollte ich mich für eine Party in Stimmung bringen, nahm ich LSD oder Amphetamine. Für einen lässig vertrödelten Tag war Heroin das Richtige. War ich mit einem Mädchen zusammen, nahm ich oft Kokain dazu; die zarteste Berührung ließ dann elektrische Wellen durch unsere Körper sirren. Wenn mir ein Mädchen gefiel, ging ich hin und sagte es ihr. Ich war so sehr davon überzeugt, dass sie darüber in Verzückung geraten würde, dass sie es meist auch tat. Und anschließend mit mir schlief. Mit genügend Stoff in der Tasche war es sogar noch leichter, Mädchen ins Bett zu bekommen. Ab einer bestimmten Menge schien der Sex beim Drogenkauf sogar im Preis mit inbegriffen zu sein. Leider hatte Heroin den Nebeneffekt, dass es Stunden dauern konnte, bis ich einen Orgasmus bekam, oft gelang es mir überhaupt nicht. Anfangs war ich davon begeistert, doch das legte sich schnell. Das Kunststück bestand darin, zu Beginn nur eine kleine Dosis zu nehmen und mir erst nach dem Sex eine Dröhnung zu verpassen, das perfekte Nachspiel, sozusagen. So nahm der Sex beinahe olympische Dimensionen an. All das hätte ich Alice gerne erklärt, wie sie neben der Garage über mir stand und auf mich einredete. Aber ich starrte nur apathisch durch sie hindurch. Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Die Farbschleier wirbelten durcheinander. Wieder sah ich meine Mutter. »Was mache 46
ich hier eigentlich, das hat doch eh keinen Zweck«, sagte Alice, drehte sich um und ging. Wäre meine Mutter nur auch so einsichtig, dachte ich. Irgendwann stand Artur neben mir und half mir auf die Beine. »Komm, lass uns ’ne Cola trinken gehen«, sagte er. Ich trank immer noch keinen Alkohol, hielt Schnaps und Bier für den Drogenersatz tumber Langweiler. Erst auf dem Weg zur Bar bemerkte ich, dass die meisten Gäste sich mit Anzügen und Abendkleidern ausstaffiert hatten, obwohl keiner älter war als 25. Sie erschienen mir unsagbar lächerlich. Die Veranstaltung war als Cocktailparty deklariert, wie deplatziert ich mit meiner abgerissenen Lederjacke und der zerrissenen Jeans mit Leopardenmuster wirkte, fiel mir ebenfalls erst in diesem Moment auf. Wahrscheinlich duldeten sie mich nur, weil ich ihnen Trips und Speed verkaufte. An der Bar geriet ich in den nächsten Farbrausch. Die Gastgeber hatten eine Vielzahl schreibunter Cocktails gemixt und ordentlich auf dem Tresen aufgereiht. Die Drinks funkelten mich an. »Vergiss die Cola«, dachte ich. Das hier schien wesentlich interessanter. Ich stürzte die Cocktails wie Wasser hinunter, einen nach dem anderen. Der Alkohol dämpfte meine Halluzinationen ein wenig, und ich glitt sanft hinüber in ein Stadium entspannter Trunkenheit. Alkohol zählte von nun an zu meiner Palette der probaten Rauschmittel.
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Too Drunk to Fuck Einige Wochen später lernte ich Barbara kennen. Sie war 16, anderthalb Jahre jünger als ich, ein hübsches blondes Mädchen mit Stupsnase, kleinem Hintern und großem Busen. Barbara war behütet aufgewachsen und begann gerade erst, ihre sexuelle Anziehungskraft zu entdecken. Ihr unschuldiger Kleinmädchencharme erschien mir sexy und aufregend. Ich musste mich am Anfang ziemlich anstrengen, um sie ins Bett zu bekommen. Eine Zeit lang war ich sehr in sie verliebt. Nach wenigen Monaten beendete ich unsere Beziehung, je mehr sie mich kritisierte, meinen Drogenkonsum, meine Unzuverlässigkeit, desto unattraktiver wurde sie. Ihre Eltern zeigten sich erleichtert über die Trennung, unsere Beziehung hatte ihnen eine Menge Sorgen bereitet. Barbaras Vater arbeitete in einer hohen Position im Jugendamt, er hatte von mir gehört, noch bevor wir uns kennen lernten. Als er mich das erste Mal sah, die Jeans völlig zerrissen, eine schwarzweiß gescheckte Ratte auf der Schulter, warf er mich aus seinem Haus und verbot seiner Tochter den Umgang mit mir. Im Herbst 1984, wenige Wochen nach unserer Trennung, lud Barbara mich auf ihre Party ein. »Komm bitte nüchtern«, schärfte sie mir ein. Am Tag vor Barbaras Party fuhren Erik und ich nach Amsterdam, 100 LSDTrips, einige Gramm Heroin, Kokain und Amphetamine kaufen. Solche Einkaufstouren unternahmen wir mittlerweile mehrmals im Monat. Meist sammelten wir zuvor Geld, und während wir unterwegs waren, saßen ein halbes Dutzend unserer Freunde zusammen in unserer Stammkneipe, der Wirt gehörte ebenfalls zu unseren 48
Kunden, oder in irgendeiner Wohnung und warteten ungeduldig auf unsere Rückkehr. Eine Art Warten aufs Christkind für Große. Eine offene Szene existierte in unserer Region nicht, der Drogenhandel fand nur in Privatwohnungen statt oder wenn man sich zufällig in Kneipen, Parks oder auf dem Marktplatz begegnete. Hin und wieder hatte ich selbst zu denen gehört, die wartend herumsaßen, ständig auf die Uhr sahen und darauf hofften, dass der Dealer auftauchte. Da ich es hasste, so zur Untätigkeit verdammt zu sein, machte ich mich, so oft es ging, selbst auf den Weg nach Holland, meist zusammen mit Erik. Artur zog es vor, zu Hause zu bleiben, sich in seinem Zimmer zu verbarrikadieren und die Wartezeit mit Lesen und Malen zu überbrücken. Da Erik und ich weder Führerschein noch Auto besaßen, mussten wir immer jemanden finden, der uns chauffierte. Für einen bescheidenen Anteil am Gewinn, der meist in Naturalien gezahlt wurde. An diesem Tag fuhren wir mit einem alten Citroen CX, ein riesiger Wagen, ausgestattet mit braunen Ledersitzen und einer Stereoanlage mit großer Wattleistung. Wenn die Zündung eingeschaltet wurde, hob sich der gesamte Wagen um einige Zentimeter an, wie ein Tier, das sich in Bewegung setzt. Wer auf dem Beifahrersitz saß, konnte die Füße ausgestreckt auf dem Armaturenbrett ablegen. Erik und ich stritten uns jedes Mal darüber, wer vorne sitzen durfte. Vor allem auf der Rückfahrt, wenn uns der Rausch umfangen hielt. Dieses Mal saß ich auf dem Beifahrersitz wie auf einem Thron, das Heroin und das Kokain rauschten in meiner Blutbahn. Ich versank in der Weichheit der Ledersitze und sah durch die riesige Windschutzscheibe zu, wie auf der Autobahn die roten Rücklichter und die gelben Scheinwerfer der holländischen Autos vorüberglitten. Aus den 49
Lautsprechern klang die Stimme von Sade, sie sang »Smooth Operator«, und mir war, als würde die Welt mir gehören. Zu Hause angekommen setzten wir uns noch einen Druck, dann fuhren wir in unsere Stammkneipe, wo unsere Kunden auf uns warteten, und verkauften unsere Drogen. Barbara wohnte ungefähr 6 Kilometer von meinem Heimatort entfernt, kurz vor der holländischen Grenze. An dem Abend, an dem ihre Party stattfand, legten viele ihrer Gäste einen Zwischenstopp am Haus meiner Eltern ein und kauften von mir Trips oder Koks. Als meine Eltern immer misstrauischer wurden wegen des andauernden Klingeins beschloss ich, meine restlichen Geschäfte direkt vor Ort zu erledigen. Zusammen mit Arthur und Sylvana, meiner neuen Freundin, fuhr ich zu Barbaras Party. Dort verkaufte ich in einer halben Stunde den größten Teil meiner Vorräte. Kurz vor Mitternacht standen wir zu dritt auf einer Waldlichtung, umgeben von riesigen Bäumen, die sich undurchdringlich wie eine Felswand vor dem blauschwarzen Nachthimmel türmten. Der Mond blieb hinter Wolken verborgen. Wir sahen uns um, in allen vier Richtungen das gleiche Bild. »Und was jetzt?«, fragte ich. »Keine Ahnung«, sagte Artur. Sylvana sah uns nur ängstlich an. Sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben LSD genommen und wirkte ziemlich verängstigt. Bei jedem Geräusch, das aus dem Wald zu uns drang, zuckte sie zusammen. Sylvana lebte in dem gleichen Dorf wie ich, ihren merkwürdigen Vornamen verdankte sie ihrem österreichischen Vater. Als wir 13 waren, hatte ich mich in sie verliebt, damals in unserem 50
Jugendzentrum. Ein stilles Mädchen mit slawischen Wangenknochen und langem, schwarzem Haar. Sylvana hatte schon früh einen Busen, auf ihrem Gesicht lag meist ein wehmütiger Ausdruck. Zu jener Zeit vergötterte sie Debbie Harry, die Sängerin der Band Blondie. Stundenlang hatten wir nebeneinander in einer zum Partyraum umfunktionierten Gartenlaube gesessen, Blondie-Platten gehört und, die Blicke in einander versenkt, ihren Schäferhund gestreichelt. Aber ihre Weiblichkeit und Fremdheit schüchterten mich zu sehr ein. Da wir wochenlang nicht von der Stelle kamen, trennte sie sich bald von mir. Damals schwor ich mir, so einen Fehler nicht noch einmal zu begehen. Wir verloren uns aus den Augen. Vor einigen Wochen, im Herbst 1984, hatte ich sie wieder getroffen. Fünf Jahre waren seit unseren vorsichtigen Annäherungsversuchen vergangen. An diesem Abend trug sie eine schwarze Lederjacke, auf die sie mit weißem Edding »Sex Pistols« geschmiert und ein großes A mit einem Kreis darum gemalt hatte, dazu ein Lederarmband mit spitzen Nieten. Sylvana war noch weiblicher und noch attraktiver als mit 13, die Wehmut in ihrem Blick hatte sich in eine Mischung aus Überdruss, Resignation und Wut verwandelt. Am gleichen Abend schliefen wir miteinander. Irgendwo jenseits der Bäume, die uns umringten, war Barbaras Party im Gange. Wir waren von dort aufgebrochen, als vor einigen Stunden die Wirkung des LSD eingesetzt hatte. Artur und ich wollten den umliegenden Wald erkunden, Sylvana nicht alleine zurückbleiben. Zwischen den Bäumen hatten wir rote Lichter tanzen gesehen. Artur und ich beschlossen, den Lichtern zu folgen. Kreuz und quer hatten uns diese Lichter durch den Wald geführt, wir kletterten über entwurzelte Bäume und stolperten über tiefe Furchen im 51
Waldboden. Irgendwann fanden wir uns auf dieser Lichtung wieder, umgeben vom Dunkel des Himmels und den Geräuschen des Waldes. Ich erinnerte mich an eine ähnlich mondlose Nacht, vor wenigen Monaten. Damals hatten Artur und ich gemeinsam mit einem halben Dutzend Freunden an einem Waldsee gezeltet, den späten Nachmittag hatten wir damit zugebracht, auf Pferdewiesen in der Umgebung halluzinogene Psylocybin-Pilze zu suchen. Am Abend fuhren Artur und ich mit einem kleinen Schlauchboot auf den See hinaus, in seiner Mitte aßen wir unsere Pilze. Benommen dümpelten wir in unserem Boot auf dem Wasser. Als die Nacht kam, verloren wir völlig die Orientierung. Mit einem Mal war um uns nur Schwärze, oben, unten, vor uns, hinter uns. Wir konnten nicht mehr unterscheiden, wo das Wasser war, wo der Himmel und wo das rettende Ufer. Wie gelähmt harrten wir in dem kleinen Boot aus, bis die Sonne aufging. Und stellten fest, dass das Ufer nur ungefähr zehn Meter entfernt war. Diesmal, da waren Artur und ich uns einig, würden wir nicht auf das Tageslicht warten. Wir wollten zurück auf die Party. Außerdem war es Herbst, die Kälte kroch uns in die Glieder. »Ich habe eine Idee«, sagte Artur, nachdem wir uns eine Weile ratlos angesehen hatten. »Wir drehen uns um 180 Grad, gehen hinter uns wieder in den Wald und suchen die roten Lichter. Dann folgen wir ihnen wieder zurück.« Sylvana sah ihn nur fassungslos an. Mir erschien sein Plan völlig einleuchtend. »In Ordnung«, sagte ich und drehte mich um. Die anderen beiden trotteten hinter mir zurück in den Wald, Sylvana umklammerte die ganze Zeit meine Hand. Kurz nachdem wir die Lichtung verlassen hatten, sahen 52
wir die Lichter wieder. Sie führten uns an exakt der gleichen Stelle aus dem Wald, an dem wir ihn betreten hatten. Kurz nach unserer Rückkehr geriet die Party außer Kontrolle. Barbara hatte geplant, die Feierlichkeiten nur auf die Kellerräume zu beschränken. Daran hielt sich längst niemand mehr. Tom hatte in der Garage das Rennrad von Barbaras Vater entdeckt und drehte damit immer schnellere Kreise im Wohnzimmer. Später stürzte er, als er versuchte, mit dem Rad die Kellertreppe hinunterzufahren. Artur hatte auf einer nächtlichen Wanderung durch das Dorf einen betrunkenen Landstreicher aufgelesen, dem er in der Küche etwas zu essen gab. Irgendwer spielte im Wohnzimmer in trommelfellzerfetzender Lautstärke »Too Drunk to Fuck« von den Dead Kennedys auf der Stereoanlage von Barbaras Eltern. Ich machte mich im Badezimmer daran, das Gegenteil zu beweisen. Halb hinter dem Duschvorhang verborgen stand ich in der Badewanne, die offene Hose bis auf die Springerstiefel heruntergerutscht. Sylvana kniete vor mir, sie trug nur noch ihren Minirock, den Slip, ihr T-Shirt und ihren BH hatte sie ausgezogen. Jeden, der uns störte, vertrieb ich mit einem Schwall Wasser aus dem Duschkopf. Da die einzige Toilette direkt neben der Wanne stand und irgendjemand den Schlüssel zur Badezimmertür im Klo runtergespült hatte, wurden wir recht häufig gestört und selbst ziemlich nass. Irgendwann gaben wir auf und setzten uns stattdessen hinter dem Duschvorhang verborgen noch einen Druck. Erst wenige Tage zuvor hatte ich Sylvana zum ersten Mal Heroin gespritzt, sofort hatte sie meine Begeisterung für die Droge geteilt. Nach dem Druck gaben wir das Bad wieder frei. Barbara hatte ihre anfänglichen Versuche, Ordnung zu schaffen, längst eingestellt und sich betrunken. 53
In den frühen Morgenstunden, als sämtliche Alkoholvorräte aufgebraucht waren, ging die Party langsam zu Ende. Artur hatte kurz zuvor in einem Schrank im Wohnzimmer eine Kristallkaraffe mit einem Rest Sherry darin gefunden. Als Barbara sah, dass er damit aus der Haustür wankte, wurde sie blass. Sie versuchte, ihn davon zu überzeugen, ihr das Gefäß auszuhändigen, und bot ihm an, den Inhalt in ein Glas zu schütten. Keine Chance, mit Artur war nicht zu reden. Er hütete den letzten Alkohol des Abends wie einen kostbaren Schatz. »Mein Vater liebt diese Karaffe«, beschwor Barbara mich, als wir gingen. »Außerdem ist sie sauteuer. Du musst dafür sorgen, dass sie heil bleibt. Klar?« Sie lallte ein wenig, trotzdem drang die Dringlichkeit ihres Anliegens irgendwie zu mir durch. Vielleicht, weil sie ihre Finger in meinen Arm bohrte und mich wild rüttelte. Auf dem Heimweg legte ich meinen Arm um Arturs Schulter und schärfte ihm ein, unter keinen Umständen die Karaffe loszulassen, egal, was passierte. Es funktionierte. Artur hielt die mittlerweile leere Karaffe immer noch fest im Griff, als wir die Kellertreppe im Haus meiner Eltern herunterwankten und uns auf meinen Matratzen schlafen legten. Erst als wir viele Stunden später völlig desorientiert wach wurden, warf jemand die Karaffe vom Tisch.
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Birthday Party Am 24.12.1984 traf ich Erik und einige Freunde nach der Bescherung in Toms Wohnung. Jeder von uns hatte Geld zu Weihnachten bekommen, also überredeten Erik und ich die anderen zu einem Trip nach Amsterdam. Kurz nach 1 Uhr brachen wir auf, kurz vor 2 Uhr ging Tom, dem Fahrer, mitten auf der Autobahn das Benzin aus. Die Tankstelle an der A1, auf die wir mit der letzten Treibstoffreserve rollten, öffnete erst um sechs. Vier Stunden bibberten wir ohne Heizung auf der Tankstelle in unserem Wagen, kurz vor 7 Uhr morgens kamen wir endlich in Amsterdam an. Natürlich war kaum jemand auf der Straße. Der einzige Junkie, der zu dieser Zeit unterwegs war, verkaufte uns für unser gesamtes Weihnachtsgeld braunen und weißen Zucker. Irgendwie war es ihm gelungen, die Päckchen zu vertauschen, noch nachdem wir den Inhalt getestet hatten. Als ich am ersten Weihnachtstag gegen Mittag völlig übernächtigt, übellaunig und pleite wieder zu Hause ankam beschlossen meine Eltern, an meinem Geburtstag in drei Wochen von Geldgeschenken abzusehen. Nach Weihnachten deckten sich alle unsere Kunden zu Silvester großzügig mit Kokain und LSD ein, was Erik und mir einige rauschende Tage bescherte. Am Silvesterabend musste ich Erik nach einer Überdosis Kokain aus meinem Zimmer tragen. Meine Eltern standen fassungslos im Flur und sahen uns zu, sie wussten schon lange nicht mehr, was sie noch sagen sollten. Als Erik wieder selbständig auf seinen Beinen stehen konnte, gingen wir auf eine Party, tollten nur mit T-Shirt bekleidet durch den Schnee und bewarfen die anderen Partygäste 55
mit Schneebällen, einige Gramm Kokain und Heroin im Körper. Vierzehn Tage später, an meinem 19. Geburtstag, sah es so aus, als müsste ich nüchtern bleiben. In den vergangenen Wochen war es immer schwieriger geworden, Geld aufzutreiben. Jeder schien pleite zu sein, sogar unsere Stammkunden wollten nichts kaufen. Ich war in finsterer Stimmung. Am Nachmittag des 15. Januar stand Erik mit einem Geschenk vor meiner Tür. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte er und drückte mir grinsend zwei gefaltete Papierbriefchen in die Hand. Ich sah ihn verwundert an. »Wo hast du das her?«, fragte ich. Erst 24 Stunden zuvor hatten wir beide zu unserem großen Entsetzen festgestellt, dass wir völlig abgebrannt waren. »Ich habe Schmuck von meiner Mutter versetzt«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Geburtstag nüchtern, das konnte ich dir nicht antun.« Wir schlossen meine Zimmertür ab, ließen die Rolladen herunter und setzten uns auf meine Matratzen. Dann zogen wir unsere Spritzen mit Heroin und Kokain auf und setzten uns einen Druck. Zwischendurch musste ich meine Ratte davonscheuchen. Sie lebte seit Monaten frei in meinem Zimmer, und sie war manchmal tagelang verschwunden. Wenn sie sah, dass ich meine Lederjacke anzog, kletterte sie an meinen Beinen hoch und machte es sich in der Innentasche meiner Jacke oder auf meiner Schulter bequem. Erst vor wenigen Wochen hatte ich sie durch das Zimmer verfolgt, nachdem sie sich mit einem Riegel LSD-Trips im Maul davonmachen wollte. Wenn wir unser Heroin oder Kokain auf einer Plattenhülle ausgebreitet und aufgeteilt hatten, leckte 56
meine Ratte jedes Mal die Reste weg. Und wann immer ich zugedröhnt auf meinen Matratzen lag, krabbelte sie auf mich, zog mit den Vorderpfoten meine Lippen auseinander, steckte ihren Kopf in meinen Mund und begann, meinen Speichel zu lecken. Ratten lieben menschlichen Speichel und menschlichen Schweiß, mein Speichel war oft noch so drogengetränkt, dass meine Ratte anschließend die Kontrolle verlor. Sie fuhr auf meinem Plattenspieler Karussell oder kletterte an den Vorhängen bis unter die Decke und ließ sich anschließend von zwei Metern Höhe wieder auf den Boden fallen. Und immer, wenn ich vergaß, die Mädchen, die ich mit zu mir nahm, vor dem Tier zu warnen, wurde ich mitten in der Nacht durch einen lauten Schrei geweckt, weil meine Ratte auf der Brust des Mädchens saß und nach dem Sex den Schweiß von ihrer Haut leckte oder versuchte, Speichel aus ihrem Mund zu trinken. »Und, was jetzt?«, fragte Erik, nachdem wir das Kokain und den größten Teil des Heroins aufgebraucht hatten. In Kürze würden meine Eltern nach Hause kommen, keiner von uns legte Wert darauf, ihnen zu begegnen. Mein familiärer Grabenkrieg hatte sich in den vergangenen Jahren immer weiter zugespitzt. Seit ich 18 war, ließ ich mir von meinen Eltern gar nichts mehr sagen, die meiste Zeit schrien wir uns an. Draußen herrschte eine klirrende Kälte, kaum Autofahrer auf den Straßen. Kein Tag zum Trampen, und anders kamen wir aus meinem Heimatdorf nicht hinaus. Schon auf dem Weg zu mir hatte Erik lange am Straßenrand warten müssen. Die Vorstellung, Stunden in der Kälte zu stehen, gefiel uns nicht. Und erst in einigen Stunden, nach Feierabend, würden wir jemanden finden, der bereit war, uns mit dem Wagen abzuholen. 57
»Lass uns irgendein Mädchen besuchen«, sagte ich. »Ich habe Lust auf Sex. Ist schließlich mein Geburtstag.« »Klar, warum nicht«, sagte Erik. Allerdings kannten wir beide nur ein einziges Mädchen in unmittelbarer Nähe, das für Sex in Frage kam. Sylvana, mittlerweile meine Exfreundin. Wir waren seit einiger Zeit getrennt, auch unser zweiter Versuch hatte nicht lange gehalten. Sylvana hatte schnell Gefallen am Heroin gefunden, und weil sie nicht auf meine Drogen und mein Geld angewiesen sein wollte, war sie nur Wochen, nachdem ich ihr den ersten Druck gesetzt hatte, nach Düsseldorf gefahren und dort auf den Strich gegangen. Kurz darauf hatte ich mich von ihr getrennt. »Was hältst du von einem Dreier?«, fragte Erik mich. »Super Idee«, antwortete ich. »Reicht unser Heroin noch für drei?« Es war genug Heroin übrig, Sylvanas anfängliche Skrupel zu beseitigen. Wir zogen uns aus, nahmen Sylvana in die Mitte und streichelten ihren nackten Körper. Aber ich vermisste die alles andere ausschließende Intimität, die entstand, wenn ich mit einem Mädchen allein war. Irgendwann zog ich mich zurück, setzte mir meinen letzten Druck für diesen Tag und sah den beiden zu.
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Amsterdamned »Schau dir das an«, sagte ich zu Ben, »Total irre! Drehen die hier einen Film oder so was?« Wir saßen in einem Lieferwagen, Ben hinter dem Steuer. Erik lag auf einer Decke im Laderaum, sobald wir die belebteren Stadtteile von Amsterdam verlassen hatten, wollten wir anhalten, und er würde zu uns nach vorne klettern. Das Führerhaus war nur für zwei Personen zugelassen, und wir wollten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich erregen. Schließlich transportierten wir viele unterschiedliche Drogen. Außerdem befand sich schon eine Menge Heroin, Kokain und LSD in unserer Blutbahn. Wir hatten gerade an einer roten Ampel angehalten, als auf der Kreuzung die Hölle losbrach. In allen Wagen in unserer unmittelbaren Nähe, vor uns, hinter uns, neben uns, rissen sie wie auf ein geheimes Zeichen die Türen auf, und die Insassen traten mit schnellen Bewegungen auf die Straße. »Abgefahren!«, dachte ich. »Was haben die denn vor?« Ich war völlig ergriffen von diesem Schauspiel, genoss die eigentümliche Choreografie, mit der sie unseren Wagen umringten. Erst als eine der Gestalten die Beifahrertür öffnete und mich mit vorgehaltener Waffe aufforderte, die Hände zu heben und langsam den Wagen zu verlassen, begriff ich. Die Uhr im Armaturenbrett des Lieferwagens zeigte 22.30 Uhr, später Abend, gegen Mittag waren wir in Erkelenz aufgebrochen. Für die 180 Kilometer nach Amsterdam benötigten wir normalerweise nicht viel mehr als 1,5 Stunden, mit Bens klapprigem Lieferwagen dauerte es deutlich länger. Aber Erik und ich hatten an diesem Tag keinen anderen Wagen auftreiben können. Der Wagen von Ben war langsam, unbequem und für Grenzüberquerungen 59
viel zu auffällig. Außerdem war Ben, ein dicker, über und über tätowierter Biker, wegen zahlreicher Verstöße gegen das Betäubungsmittel-Gesetz vorbestraft. Erik und ich hatten noch keine Vorstrafen, und obwohl wir uns zu Hause in Erkelenz viel Mühe gaben aufzufallen, vermieden wir das bei den Fahrten nach Amsterdam. Ich hatte statt der silbernen Leggins mit Schlangenmuster, die ich zur Zeit beinahe täglich trug, eine schlichte schwarze Lederjacke und eine ebenfalls schwarze Jeans angezogen, ohne dekorative Sicherheitsnadeln, aufgenähte Reißverschlüsse oder Risse. Dazu den Gürtel mit den flachen Nieten. In den Gegenden von Amsterdam, in denen wir verkehrten, fielen wir mit dieser Kleidung tatsächlich kaum auf. Als Erstes fuhren wir zu unserem Stammdealer. Glücklicherweise war er noch im Geschäft. Das änderte sich oft schneller, als uns lieb war. Da sie alle selbst abhängig waren, geschah es immer wieder, dass ein Dealer bei unserem nächsten Besuch in der Entgiftung, im Gefängnis oder in der Notaufnahme zu finden war. Wir kauften Heroin und Kokain, LSD führte unser Dealer nicht. Diese Märkte waren in der Regel streng getrennt, es geschah auch eher selten, dass ein Kunde nach Heroin und LSD gleichzeitig verlangte. Zu sehr unterschieden sich die beiden Drogen in Funktion und Wirkung. Uns hatte das Heroin die Freude am LSD noch nicht verdorben. Aber das sollte noch kommen. Außerdem war es wesentlich leichter, unseren Drogenkonsum mit dem Verkauf von LSD-Trips zu finanzieren, nicht nur wegen der großen Gewinnspanne. Die Nachfrage war größer als das Angebot, seit Ralf, unser LSD-Dealer in der Heimat, auf Heroin umgestiegen war. Wir waren jetzt die Einzigen, die regelmäßig Trips anboten. Daher konnten wir sicher sein, dass wir das LSD 60
in so kurzer Zeit verkauften, dass wir gar nicht dazu kamen, einen Großteil selbst zu konsumieren und so unseren Gewinn zu schmälern. Bei Heroin und vor allem bei Kokain verhielt es sich anders. Erst kürzlich hatten Artur, Erik und ich unseren gesamten Kokain-Vorrat, mit dem wir Geschäfte machen wollten, innerhalb einer Nacht vollständig in unsere Adern gejagt. Der eigentliche Kick hält nur wenige Minuten an, und die Gier nach dem nächsten Druck ist so stark, dass wir meist erst aufhörten, wenn das letzte Stäubchen verbraucht war. Also hatten wir beschlossen, Kokain und Heroin nur noch für unseren Gebrauch zu kaufen und das Geld dafür mit LSD zu verdienen. An diesem Tag versprach unser Deal eine Menge Gewinn abzuwerfen. Rolf, einer unserer Stammkunden, hatte 200 Trips bestellt, die 900 Mark, die wir ihm dafür berechneten, hatte er schon am Morgen vor unserer Abfahrt bezahlt. Für 540 Mark würden wir in Amsterdam 300 Trips bekommen, die übrigen 100 würden wir in Deutschland für rund 10 Mark das Stück weiter verkaufen. Und zusätzlich dazu blieben uns nach Abzug der Unkosten sogar noch 300 Mark für Heroin und Koks. So stellten wir uns einen rundum gelungenen Tag vor. Im Wartezimmer unseres Dealers, einem heruntergekommenen Raum mit Matratzen auf dem Boden, setzten wir uns den ersten Druck des Tages. Mit beinahe sakraler Hingabe kochte ich das Heroin auf, kühlte die hellbraune Flüssigkeit mit einem Spritzer Wasser ab und rührte dann das Kokain hinzu. Legte ein kleines Stückchen Watte auf den Löffel, das die Rückstände herausfiltern sollte, senkte die Nadelspitze in die Watte und zog die Flüssigkeit in die Spritze. Meinen Arm abzubinden war nicht nötig. Die Vene in meiner linken Armbeuge war so dick, dass es genügte, ein Feuerzeug unter meine Achsel zu klemmen und so den 61
Rückfluß des Blutes in meinem Arm kurz zu stauen. Satt und blau trat die Ader hervor. Ich stach die Spritze hinein. In dem Moment, in dem die Spitze mit einem leichten Knirschen in die Vene eindrang, meinte ich schon, das Kokain auf meiner Zunge zu schmecken. Ich zog den Bolzen am Ende der Spritze, dunkelrote Blutschlieren vermischten sich mit der braunen Flüssigkeit. Dieser Anblick elektrisierte mich jedes Mal aufs Neue. Ein heiliger Moment: Der Höhepunkt des Tages, der große Orgasmus, nur noch Sekunden entfernt. Sanft drückte ich den Inhalt der Spritze in meine Ader. Einen Herzschlag später explodierte das Drogengemisch in jeder Faser meines Körpers. Ich schaffte es gerade noch, die Spritze mit zitternden Fingern auf den Tisch zu legen, dann versagten meine Muskeln ihren Dienst. Langsam sank ich der Länge nach auf die Matratze. Erik war noch nicht so weit, er sah mich an, die Vorfreude brachte ein Lächeln auf sein Gesicht. Die Tür öffnete sich, unser Dealer steckte den Kopf herein. »He Jungs, seid vorsichtig«, sagte er, »das Koks ist heute besonders stark.« Er sah mich auf der Matratze liegen, nur noch dazu in der Lage, ihn mit weit aufgerissenen Augen anzustarren. »Oh, ich sehe, ihr wisst schon Bescheid.« Dann schloss er leise und vorsichtig die Tür. In den ersten Minuten nach einem Druck, das wusste er, konnten Lärm und hektische Bewegungen alles verderben. Erik musste kotzen, das geschah nur noch, wenn die Qualität besonders gut war. Erst Stunden später gingen wir. Nicht einmal in der Präsidentensuite des Hilton hätten wir uns heimeliger gefühlt als in diesem schäbigen Raum mit den stinkenden Matratzen. An einer Gracht, an der die Dealer und ihre Kunden zu jeder Tageszeit mehr oder weniger offen ihre Geschäfte machten, trafen wir einen Vermittler, den wir von früheren 62
Einkaufstouren kannten. Er brachte uns in eine Wohnung über einer Autowerkstatt. Dort, behauptete er, gab es zur Zeit das beste LSD in Amsterdam. Wir hatten keinen Grund, ihm nicht zu glauben. Der Vermittler wurde in der Regel von Dealer und Kunde mit Drogen bezahlt. Das bedeutete, er würde die gleiche Ware bekommen, die er uns besorgte. Also hatte er ein großes Interesse daran, dass die Qualität in Ordnung war. Gerade in Bezug auf LSD war es wichtig, dem Dealer halbwegs vertrauen zu können. Anders als beim Kokain und Heroin, wo schon ein paar Körner auf der Zunge reichen, ist der Test bei LSD eher schwierig. LSD wirkt erst nach einer halben Stunde, so lange wartet niemand auf den Abschluss eines Geschäfts. Da wir auch nicht gerne so lange auf den Rausch warteten, gingen wir immer häufiger dazu über, das LSD aufzulösen und zu injizieren. Von Null auf Hundert in Sekunden. Wenngleich die meisten Dealer, die mit Halluzinogenen, also LSD, handelten, eine echte Abneigung gegen Junkies hatten. Also mussten wir uns die Zeit nehmen, die Trips auf dem herkömmlichen Weg wirken zu lassen. Aber wir hatten es ja auch nicht besonders eilig, das Heroin versetzte uns in einen Zustand tiefster Gelassenheit, und unsere Kunden würden schon auf uns warten. Was blieb ihnen auch anderes übrig? Eine Stunde später machten wir uns vollständig zufrieden auf den Heimweg, das LSD war tatsächlich so gut, wie der Vermittler versprochen hatte. »Nehmen Sie die Arme auf den Rücken«, befahl mir der Beamte. Die holländischen Polizisten sprachen ziemlich gut Deutsch, vielleicht gehörte ein Sprachkurs zu ihrer Grundausbildung. Ich war weggetreten, streckte meine Arme seitlich vom Körper aus und versuchte, sie gerade und mit durchgestreckten Ellbogen hinter meinem Rücken 63
zusammenzubringen. Natürlich vergeblich, die Anatomie des menschlichen Körpers lässt so eine Bewegung nicht zu. »Warum verlangt der so etwas Dämliches von mir?«, dachte ich. »Wird das irgendein Test?« Auch der Schock der Verhaftung hatte mich nicht ausnüchtern können. »Geht nicht«, antwortete ich. Der Polizist wollte wissen, ob meine Arme gebrochen seien. Ich verneinte. »Willst du mich verarschen?«, fragte er mit gereizter Stimme und schlug kurz mit der Handkante in meine Armbeuge. Meine Unterarme klappten herunter, er bog meine Handgelenke widerstandslos auf den Rücken und legte mir Handschellen an. Ich starrte ihn verblüfft an. Auf die Idee, die Arme zu beugen, war ich tatsächlich nicht gekommen. Immerhin gelang es mir, den Zettel mit der Adresse unseres neuen LSD-Dealers aus meiner Hosentasche zu angeln und im Streifenwagen zwischen die Polster der Rückbank zu quetschen. Ich war ziemlich stolz auf diesen kleinen Sieg, nutzen sollte er mir gar nichts. Sie fuhren uns zum Polizeipräsidium. Dort wurden wir zuerst durchsucht und dann verhört, getrennt von einander. Ich musste meine Kleidung ausziehen, sie ließen keine Stelle meines Körpers aus. Suchten in Mund und Ohren, unter meinen Achseln und meinem Hodensack. Dann musste ich mich breitbeinig nach vorne beugen, damit sie auch in meinem After nachsehen konnten. Eine überflüssige Prozedur. Unseren gesamten Drogenvorrat, die 300 LSD-Trips sowie einige Gramm Heroin und Kokain, hatten sie schon bei der Verhaftung sichergestellt. Er befand sich sorgfältig in Plastikfolie eingeschweißt und mit einem Kondom überzogen in Eriks Hosentasche. Auf holländischem Boden fühlten wir uns sicher, die hiesigen Ordnungshüter waren bekannt für ihren großmütigen Umgang mit Drogensüchtigen. Hier hatten wir noch nie 64
Ärger mit der Polizei gehabt, Probleme machten normalerweise erst die Zöllner. Kurz vor der Grenze wollten Erik und ich dann je eines der beiden Päckchen in unserem Enddarm verschwinden lassen. Dass in Amsterdam Stadtratswahlen anstanden und die Bekämpfung des Drogentourismus zu einem Wahlkampfthema erklärt worden war, wussten wir nicht. Die Adresse unseres LSD-Dealers, erfuhr ich während des Verhörs, diese Adresse, die ich im Auto so elegant hatte verschwinden lassen, war den Polizisten bekannt. Den ganzen Tag hatten sie das Haus observiert, und als wir mit unserem deutschen Nummernschild vorgefahren waren, griffen sie zu. Obwohl sie bei mir nichts gefunden hatten, sagte mir der Beamte, es sei völlig sinnlos, meine Beteiligung an dem Drogenkauf zu leugnen. Schließlich waren wir beschattet worden. Außerdem habe der Vermittler schon gegen uns ausgesagt, und wenn sie den Dealer festnahmen, würde der mich garantiert auch nicht schonen. Überhaupt, wir seien ihnen völlig egal. Sie wollten nur den Dealer drankriegen. Und auf den müsste ich ja wirklich keine Rücksicht nehmen! Ich wusste nicht, ob er die Wahrheit sagte. Ich wusste nur, kein Mensch würde mir glauben. Und mir war der ganze Rummel jetzt schon entschieden zu aufreibend. Ich sehnte mich nach Ruhe. Außerdem hatten sie die Drogen ja gefunden. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, alles auf Erik abzuwälzen. Das kam nicht in Frage. Also gestand ich. So schlimm, dachte ich, würde es schon nicht werden, schließlich war ich nicht vorbestraft. Ich gab alles zu, von dem ich annahm, dass sie es sowieso wussten. Ja, wir hatten bei der genannten Adresse 300 LSD-Trips gekauft, kleine rosa Pappen mit dem Gesicht von Paulchen Panther darauf gedruckt. Ja, wir waren auf dem Weg nach Hause, über die deutsch-holländische Grenze. Nein, die 65
Drogen gehörten Erik und mir, Ben war nur der Fahrer, er wusste nichts von unseren Geschäften. Dass Ben mit seinen zahlreichen Vorstrafen sonst auf direktem Weg ins Gefängnis gehen würde, war mir trotz meines Zustandes klar. Dass eben diese Vorstrafen meine Aussage extrem unglaubwürdig klingen ließen, ebenfalls. Trotzdem blieb ich dabei. Die anderen beiden, da war ich mir sicher, würden das Gleiche behaupten. So hatten wir es abgesprochen, für den Fall, dass es an der Grenze Ärger geben würde. Was wir mit den vielen Trips vorhatten, fragte der Beamte. Jetzt wurde es kritisch. »Verkaufen« wäre eine fatale Antwort gewesen, das wusste ich. Die Strafen für Handel fielen wesentlich höher aus als die Strafen für Erwerb und Eigenkonsum. »Was sollen wir damit schon machen?«, antwortete ich. »Einwerfen. Nächste Woche bin ich mit meinem Abitur fertig. Danach wollte ich mir eine schöne Zeit machen.« Mit 300 Trips hätte ich mich ein halbes Jahr am Stück zudröhnen können und wäre anschließend in einer Anstalt gelandet. Das wusste auch der Polizist. Er lachte mich aus. Aber er hatte, was er wollte: ein Geständnis, das uns und den Dealer belastete. Und ich würde ihm schließlich auch nicht weglaufen. Also beließ er es zunächst dabei. Wie häufig ich Drogen nehmen würde, fragte er noch, ob ich heroinabhängig wäre und er einen Arzt informieren sollte, falls die Entzugserscheinungen zu stark werden würden. Ich wiegelte ab. Nein, abhängig war ich nicht. Ich nahm Drogen zum Vergnügen, behauptete ich, und das auch eher selten. Aus irgendeinem Grund war ich der Meinung, meine Lage würde sich bessern, wenn mich der Beamte für einen harmlosen Gelegenheitsjunkie hielt. Natürlich nutzte mir diese Aussage nicht. Ganz im Gegenteil, ich brachte mich damit nur um die Möglichkeit, Medikamente gegen die Entzugsschmerzen zu erbitten. 66
Nachdem sie mir meine Schnürsenkel, meinen Ohrring, meine Armbänder und den Nietengürtel abgenommen hatten, brachten sie mich in den Zellentrakt. Ben und Erik sah ich nirgends. Als der Beamte die Tür zu meiner Zelle öffnete, stockte er kurz. Die Zelle war besetzt. »Okay, raus mit dir«, sagte er zu dem Mann auf der Pritsche. So viel Holländisch verstand ich. »Und du, rein da«, sagte er zu mir. »Oh verdammt«, dachte ich. »Haben die den Typen da drinnen wirklich vergessen? Das sind ja großartige Aussichten.« Ich legte mich auf die Matratze, auf der eben noch dieser bedauernswerte Kerl geschlafen hatte, und dämmerte weg. Als ich die Augen öffnete, erlitt ich den schlimmsten Schock meines bisherigen Lebens. Ich sah mich um. Sah die blaue Metalltür, eine fleckige Kloschüssel aus Edelstahl, ohne Brille, darüber ein Waschbecken mit einem Stück Kernseife und einem Handtuch, einen Tisch und einen Hocker, im Boden vernietet. Über mir ein Fenster, mit Glasbausteinen vermauert. Rechts und links die Zellenwände, so nah, dass ich, wenn ich auf der Pritsche lag, nur Arme und Beine ausstrecken musste, wollte ich beide berühren. Mit einem Schlag waren der Schlaf und die letzten Drogenreste aus meinem Kopf verschwunden. Die Erinnerung an die vergangene Nacht überfiel mich, zum ersten Mal ungefiltert. »Ach du Scheiße«, dachte ich nur. »Oh verdammte Scheiße.« Nach einer Nacht auf Droge ging es mir am nächsten Morgen häufig dreckig, ich fühlte mich dann wie ausgesaugt, in meinem Gehirn ein Flimmern und Rauschen, und mein Körper schien Tonnen zu wiegen. Dieser Zustand endete normalerweise spätestens mit dem ersten Druck. Doch dieses Mal war keine Erlösung in Sicht, und die Zellenwände schienen mein Elend zu 67
reflektieren und in vielfacher Stärke auf mich zurückzuwerfen. Die Zellentür öffnete sich. Der Beamte gab mir zu verstehen, ich solle die Gummiauflage und die Wolldecke von meiner Betonpritsche nehmen und hinausbringen. Draußen reihte ich mich in eine Schlange ein. Erik stand einige Schritte weiter vorne. Als er seine Matratze abgegeben hatte, ging er auf dem Rückweg in seine Zelle an mir vorüber. Er blieb stehen, wollte mit mir reden. Der Beamte schob ihn weiter. Sein aschfahles Gesicht sah ich noch vor mir, als sich die Zellentür schon lange hinter ihm geschlossen hatte. Ich händigte die Gummimatratze und Wolldecke einem anderen Beamten aus, er schloss sie in einen Lagerraum ein. Dann wurde ich wieder in meine Zelle gebracht. Ich saß apathisch auf der Betonpritsche, meine Gedanken kreisten in einer Endlosschleife um immer den gleichen Satz: »Sie haben uns tatsächlich erwischt.« Bisher war die Gefahr, verhaftet zu werden, für uns nicht viel mehr gewesen als ein zusätzlicher Reiz. Verbrechen und Drogen waren mir einfach nur als ein wilder Spaß erschienen und unsere Einkaufstouren als eine Art Katzund-Maus-Spiel mit Polizisten und Zöllnern. Wir wussten natürlich, dass wir auch verlieren konnten, aber wir hatten nie wirklich daran geglaubt. Jetzt saß ich in einer Zelle im Amsterdamer Polizeipräsidium. Ich war 19 Jahre alt, in drei Tagen sollte meine mündliche Abiturprüfung stattfinden. Doch in diesem Moment schien mir ein Leben, in dem so etwas wie ein Schulabschluss existierte, in unerreichbare Ferne gerückt. Zum ersten Mal dämmerte mir, dass wir uns möglicherweise geirrt hatten. Dass Drogen mehr waren als nur ein aufregendes Spielzeug, mit dem wir anstellen konnten, was immer uns gefiel. Ich hatte die Kontrolle 68
verloren. Meine Zukunft begann sich aufzulösen wie in einem Säurebad. Ich wollte mit den Drogen der Enge eines bürgerlichen Lebens in der Kleinstadt entfliehen, und nun saß ich in einer Gefängniszelle. Irgendwann öffnete sich eine Luke in der Zellentür, der Wärter reichte mir mein Frühstück. Zwei labberige Weißbrote mit buntem Zuckerstreusel belegt, dazu Milchkaffee in einem Pappbecher. Die Luke schloß sich. Ich war wieder allein mit meiner Angst und meiner Verzweiflung. Minutenlang wand ich mich auf der nackten Betonpritsche, bis ich endlich eine nicht allzu schmerzhafte Position gefunden hatte. Starrte an die Wände und versuchte, in dem verschwommenen Grau hinter den Glasbausteinen einen Hinweis auf die Uhrzeit zu finden, das Wetter, irgendetwas, das mich mit der Welt da draußen verband. Bis ich resigniert die Augen schloss und mich in den Schlaf flüchtete. Ein lautes Knirschen weckte mich. Die Luke in der Tür wurde wieder geöffnet. »Mittagessen«, sagte der Mann hinter der Tür, dieses Mal bekam ich eine Plastikschüssel, gefüllt mit einem undefinierbaren Reisgericht, und einen Plastiklöffel. Das Frühstück nahm er wieder mit. Ich hatte es nicht angerührt. Obwohl ich meine letzte Mahlzeit am Nachmittag des Vortages zu mir genommen hatte, mochte ich auch jetzt nichts essen. Ich stocherte nur in meinem Reis, hob einen Löffel davon an die Lippen, konnte mich aber nicht überwinden, den Mund zu öffnen. Mir war übel, das Essen stank und es sah unappetitlich aus. Ich stellte die Schüssel beiseite und starrte wieder die Wände an. In einer der Nachbarzellen schlug jemand gegen die Stahltür und schrie nach Methadon, einem Heroinersatzstoff, der die Entzugssymptome verschwinden ließ. Wenn die Schläge und Schreie verstummten, konnte ich hören, wie er würgte und sich übergab. Er gab erst Ruhe, als sie ihm 69
einen Arzt in die Zelle schickten. Glücklicherweise hielten sich meine Entzugsschmerzen zu dieser Zeit noch in Grenzen. Schwitzen, Frieren, Müdigkeit und Gliederziehen wie bei einer leichten Grippe, das war alles. Da ich erst seit etwas mehr als einem Jahr drückte und nicht täglich Heroin nahm, hatte sich die Droge noch nicht vollständig in meinem Körper festgebissen. Ich hatte keine Vorstellung, wie viele Stunden vergangen waren, als meine Zellentür geöffnet wurde. Ein Polizeibeamter trat ein. »Umdrehen«, befahl er und legte mir Handschellen an. Anschließend führte er mich aus der Zelle, seine Hand auf meiner Schulter. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. »Wirst du schon sehen«, antwortete er und schob mich durch die Korridore der Polizeiwache. Niemand schien von mir Notiz zu nehmen. In einem der Büros konnte ich eine Uhr erkennen, sie zeigte kurz vor drei. Der Raum, in den er mich brachte, erschien mir vage vertraut. Ein Tisch, drei Stühle, ein Aufnahmegerät. In so einem Raum, erinnerte ich mich, war ich schon in der Nacht zuvor verhört worden. Dieses Mal ein anderer Beamter, der im Wesentlichen die gleichen Fragen stellte. Ich gab im Wesentlichen die gleichen Antworten. Nur fragte er genauer, verlangte nach Details. Hatte der Vermittler uns angesprochen oder wir ihn? Waren uns bei dem Dealer noch andere Kunden aufgefallen? Ich beantwortete alle Fragen, so gut ich konnte und so vage wie möglich. Nur, dass er mir jetzt deutlich zu verstehen gab, wie wenig er daran glaubte, dass Ben an unserem Deal völlig unbeteiligt gewesen sein sollte. Noch viel weniger glaubte er mir, dass die gesamte Drogenmenge für den Eigenkonsum bestimmt war. »Wir haben Sie auf dem Weg zur Grenze verhaftet«, sagte der Beamte am Ende des Verhörs. 70
»Sie haben zugegeben, dass Sie die Drogen gekauft haben und nach Deutschland ausführen wollten. Also werden wir Sie wegen internationalen Drogenhandels vor den Schnellrichter bringen. Bis ein Verhandlungstermin festgelegt ist, bleiben Sie hier. Dann werden sie in die Untersuchungshaft verlegt. Möchten Sie mit einem Anwalt reden?« Ich nickte nur stumm mit dem Kopf, seine Worte hatten mir die Sprache verschlagen. Wie ferngesteuert ließ ich mich zurück in meine Zelle führen, ich nahm nichts von dem wahr, was um mich herum geschah. Die Worte »internationaler Drogenhandel«, »Schnellrichter« und »Untersuchungshaft« hallten noch in meinem Kopf wider, als sie mir das Abendessen brachten. Einige Zeit später öffnete sich die Tür erneut, ich wurde aufgefordert, die Zelle zu verlassen und meine Matratze wieder aus der Kammer zu holen. Mechanisch folgte ich allen Anweisungen. Kurz darauf erlosch das Licht. Ich lag noch lange wach und starrte in die Dunkelheit. Mir war, als sei ich aus der Welt gefallen. Am zweiten Tag gewann ich ein wenig Orientierung zurück. Zumindest für die wenigen Momente, in denen die Monotonie der Haft durchbrochen wurde. Als ich meine Matratze abgab, zeigte die Armbanduhr eines Wärters 6 Uhr und fünf Minuten. Das Wecken erfolgte demnach um 6 Uhr. Irgendwo auf den Fluren spielte leise ein Radio, wenn ich aufmerksam zuhörte, konnte ich die Zeitansage während der Nachrichten verstehen. Mittagessen, erfuhr ich so, gab es pünktlich um zwölf. Zur gleichen Zeit, zu der meine Großtante Jahre zuvor das Essen auf den Tisch gestellt hatte, Tag für Tag. So würde sie es wohl auch heute halten, auf ihrem Bauernhof, nicht einmal 200 Kilometer von hier. 71
Das Abendessen wurde um 16.30 serviert, um 18 Uhr öffnete sich die Zellentür und ich bekam meine Matratze zurück. Um 20 Uhr erlosch die Neonröhre an der Decke. Bis sie um sechs wieder aufflammte und die Nacht beendete. Dazwischen nichts, nur zäh fließende Zeit, Mauern und Warten. Anders als in einem regulären Gefängnis gab es in Polizeigewahrsam weder Hofgang noch Umschluss mit anderen Häftlingen. Die einzige Waschgelegenheit das stählerne Becken in meiner Zelle. Mein Lebensraum war auf drei Quadratmeter Stahl und Beton geschrumpft. So oft es ging, versuchte ich zu schlafen. Ich träumte von Drogen und Sex. Wenn ich aufwachte, klammerte ich mich an diese Träume, bis auch die letzten Bilder völlig verblasst waren. Ich onanierte mehrmals am Tag. Meistens nach den Mahlzeiten, wenn wieder endlose Stunden vor mir lagen, bis sich die Luke in der Tür erneut öffnen würde. Außer meinem Körper war mir nichts geblieben, mit dem ich mich beschäftigen konnte, und irgendwie musste ich die riesigen, bedrohlichen Brocken Zeit zerteilen. Ich hoffte auf ein erneutes Verhör, irgendetwas, was die Monotonie aufbrach. Am dritten Tag öffnete sich die Zellentür am Nachmittag. Wieder wurden mir Handschellen angelegt. Auf dem Gang hörte ich Musik. Ein schrammeliger Kassettenrecorder spielte »Time after Time« von Cyndi Lauper, es klang wie ein Signal aus einer anderen Welt. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, hatte ich das Radio jedes Mal lauter gedreht wenn eines ihrer Lieder gespielt wurde. Sie erinnerte mich an ein Mädchen, das ich sehr mochte. Jetzt sang sie »If you’re lost you can look and you will find me/time after time/if you fall I will catch you I’ll be waiting/time after time«, und die Haare an meinen Armen stellten sich auf, die Reste des 72
Mittagessens in meinem Magen schienen sich in einen Stein zu verwandeln, ich schluckte, nur mit Mühe konnte ich die Tränen zurückhalten. In den nächsten Tagen hörte ich dieses Lied immer wieder. Einer der Beamten spielte jeden Tag bei Dienstantritt die gleiche Kassette. Es sollte Jahre dauern, bis ich dieses Lied wieder hören konnte, ohne in eine seltsame Stimmung zu verfallen. Der Polizeibeamte schob mich stoisch durch die Gänge. In einem Verhörraum wartete ein Anwalt auf mich. Der Beamte stellte uns vor und schloss die Zelle von außen ab. »Das sieht nicht gut aus«, sagte der Anwalt, runzelte die Stirn und verlas die Anklagepunkte. »Die Höchststrafe für die Ihnen vorgeworfenen Vergehen liegt bei sieben Jahren.« Er machte eine kurze Pause, nahm die Brille von seiner Nase, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah mich an. Ich hockte zusammengesunken auf meinem Stuhl, starrte ihn an. »Aber da Sie nicht vorbestraft sind und unter 21, wird die Strafe wohl deutlich milder ausfallen«, ergänzte er. »Was bedeutet das genau?«, fragte ich. »Genau kann ich Ihnen das auch nicht sagen, das hängt vom Richter ab«, antwortete er. »Aber ich würde sagen, Sie bekommen nicht mehr als zwei Jahre Haft.« So hatte ich mir eine milde Strafe nicht einmal in meinen Alpträumen vorgestellt. »Heißt das, ich bleibe jetzt zwei Jahre hier eingesperrt?«, fragte ich. »Gibt es keine Chance, vorher noch rauszukommen? Zumindest für ein paar Tage. Morgen ist meine Abiturprüfung, kann man da nichts machen?« »Wohl kaum«, sagte der Anwalt. »Da Sie Ausländer sind und bis zum Prozessbeginn das Land nicht verlassen dürfen, bleiben Sie in Haft. Spätestens nach zwei Wochen in Polizeigewahrsam werden Sie in ein 73
Untersuchungsgefängnis verlegt, der Verhandlungstermin wird innerhalb des nächsten halben Jahres angesetzt. Die Zeit in der Untersuchungshaft wird anschließend auf die Gesamtstrafe angerechnet.« Er riet mir, mich möglichst kooperativ zu verhalten, und verabschiedete sich. »Wir sehen uns wieder, wenn der Gerichtstermin feststeht. Ich versuche, die Sache zu beschleunigen. Bis dann.« Er gab mir die Hand, versprach, meine Eltern zu informieren, und klopfte an die Tür. Der Beamte öffnete und führte mich zurück in meine Zelle. Ich wusste nicht einmal, wie ich diesen Tag überstehen sollte. Zwei Jahre Haft lagen jenseits meiner Vorstellungskraft. Kurz nachdem sich die Zellentür wieder hinter mir geschlossen hatte, hörte ich jemanden leise meinen Namen rufen. Ich sprang auf und drückte mein Ohr an den feinen Schlitz zwischen Türblatt und Türrahmen. Da war es wieder, deutlicher jetzt. »Jörg, hörst du mich?«, fragte die Stimme. »Erik, bist du das?«, antwortete ich. Erik hatte meine Stimme erkannt, als ich auf dem Gang mit dem Beamten gesprochen hatte. Seine Zelle war auf der anderen Seite des Flures, wenn wir laut genug redeten, konnten wir uns unterhalten. Eriks Stimme vertrieb für einen Moment mein Elend. Ich erzählte ihm von dem Treffen mit meinem Anwalt, seiner hatte ihm in etwa dasselbe erzählt. Wir sprachen uns gegenseitig Mut zu. Obwohl unsere Sätze nicht mehr als Floskeln waren, zeigten sie Wirkung. Als wenige Minuten später ein Wärter »Ruhe« schrie und gegen meine Zellentür schlug, fühlte ich mich etwas weniger allein und verloren. Am vierten Tag holte mich der Beamte noch vor dem 74
Mittagessen. In dem Raum, in dem ich tags zuvor mit meinem Anwalt gesprochen hatte, saß diesmal eine junge, hübsche Frau mit langen blonden Haaren. Als sie aufstand und mich begrüßte, sah ich, dass sie einen Minirock und schwarze Netzstrümpfe trug. In diesem Zellentrakt erschien sie mir wie eine Fata Morgana. Als sie mich anlächelte, verschwamm der Raum vor meinen Augen. Ich nahm kaum wahr, dass sie sich als Mitarbeiterin einer Amsterdamer Drogenhilfe-Einrichtung vorstellte. Sie erkundigte sich nach meinem Leben, meinem Drogenkonsum und meinen Zukunftsplänen. Wenn sie sich vorbeugte, konnte ich tief in ihren Ausschnitt sehen. Ihr Anblick erschütterte mich mehr als alle ihre Worte. Ihr Busen, ihre Beine, ihr Lächeln versetzten mich in eine merkwürdige Stimmung. In meine Erregung mischte sich eine tiefe Traurigkeit. Sie hielt mir vor Augen, was ich alles leichtfertig aufs Spiel gesetzt und hinter den Wänden meiner Zelle zurückgelassen hatte, für Wochen, Monate oder Jahre. Es kostete mich viel Disziplin, ihre Fragen zu beantworten. Immer wieder verirrte sich mein Blick, dann verlor sich ihre Stimme irgendwo in der Ferne. Schließlich bot sie an, mich jede Woche zu besuchen, wenn ich Interesse an Gesprächen hatte, auch in der Untersuchungshaft. Natürlich hatte ich Interesse. Auch wenn mir normalerweise kluge Ratschläge von Leuten wie ihr eher auf die Nerven gingen, war mir ihre Gegenwart doch angenehm. Und in diesem speziellen Fall hatte ich sogar gegen Ratschläge nichts einzuwenden. Wieder zurück in meiner Zelle rief ich Eriks Namen. Er antwortete nicht. Also onanierte ich, Beine und Dekollete der Sozialarbeiterin vor Augen. Mir kam es sehr schnell, danach fühlte ich mich elender als zuvor. Kurz darauf hörte ich Eriks Stimme auf dem Gang, er klang ziemlich 75
aufgeregt. Auch er hatte eine Audienz bei dem blonden Drogenberatungsengel hinter sich. Wir erörterten ausführlich die Form ihrer Beine und ihres Busens. Für einen kurzen Moment fiel die bleierne Schwere, die mich seit Tagen umfangen hielt, von mir ab, und ich fühlte mich zum ersten Mal wieder wie ein aufgedrehter 19-jähriger Junge. Erik fragte sich laut, ob ihr wohl vorher klar gewesen wäre, welche Wirkung ihr Minirock und ihr tiefer Ausschnitt auf uns haben würde. »Wahrscheinlich«, antwortete ich. »So wie sie gegrinst hat. Ich denke, sie hat sich einen Spaß daraus gemacht.« »Hoffentlich«, sagte Erik. »Wäre wirklich schade, wenn sie nächste Woche im Rollkragenpullover kommen würde.« Wir machten alberne Scherze, bis der Beamte uns zur Ruhe mahnte. Am siebten Tag holten sie mich das nächste Mal aus meiner Zelle. Ich saß auf meiner Betonpritsche und warf seit Stunden kleine Kügelchen aus Klopapier in einen Plastikbecher, der auf dem Rand des Waschbeckens stand. Die Idee war mir am Vortag gekommen. Nach dem Frühstück hatte ich den Kaffeebecher einbehalten und mit meinen Wurfübungen begonnen. Mittlerweile wusste ich genau, wie dick ich das Toilettenpapier rollen musste, damit die Kügelchen in ihrer Flugbahn berechenbar waren. Meine Treffsicherheit machte erstaunliche Fortschritte. Der Beamte unterbrach meine Bemühungen und forderte mich auf, ihm zu folgen. Dieses Mal verzichtete er darauf, mir Handschellen anzulegen. Wir gingen an den Verhörräumen vorbei und verließen den Zellentrakt. »Wohin gehen wir?«, fragte ich. 76
»Du verlässt uns heute«, antwortete der Beamte. Das sollte wohl heißen, ich wurde in die Untersuchungshaft verlegt. So unerträglich meine Einzelzelle auch war, gegen die Vorstellung, in ein reguläres Gefängnis verlegt zu werden, umgeben von Schwerverbrechern, erschien sie mir beinahe heimelig. Wir gingen auf einen Büroraum zu, durch die Glasscheibe in der oberen Türhälfte erkannte ich Erik. »Gott sei Dank, wir werden zusammen verlegt«, dachte ich. Der Beamte öffnete die Tür und schob mich in den Raum. Ein Polizist in Uniform saß an einem Schreibtisch, Erik stand vor ihm. Hinter dem Uniformierten, am anderen Ende des Raumes, sah ich eine hagere Frau und einen bärtigen Mann mit Bauch. Eriks Mutter und mein Vater. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich zuletzt so darüber gefreut hatte, meinen Vater zu sehen. Der Polizist hinter dem Schreibtisch gab mir meinen Nietengürtel, meinen Ohrring, meine Armbänder und meine Schnürsenkel zurück und ließ mich die Übergabe quittieren. »Nehmen Sie die beiden mit und sorgen Sie dafür, dass wir sie hier nie wieder sehen«, sagte er zu Eriks Mutter und meinem Vater. Ein anderer Polizist öffnete die Tür und führte uns vier aus dem Gebäude. Erik und ich folgten ihm wie in Trance. Mein Vater sah mich nur wortlos an. Mir war immer noch nicht ganz klar, was mit mir geschah. »Fahren wir jetzt nach Hause?«, fragte ich meinen Vater, als wir in seinem Wagen saßen. Er nickte. Die Staatsanwaltschaft hatte beschlossen, die Anklage gegen uns fallen zu lassen. Sie hatten uns lediglich als unerwünschte Ausländer des Landes verwiesen und uns ein Einreiseverbot erteilt. Da wir beide unter 21 waren und daher noch unter das Jugendstrafrecht 77
fielen, hatten sie uns an unsere Eltern überstellt. Ben hatte weniger Glück. Da er vorbestraft war und als voll strafmündig galt, wurde er an die deutschen Behörden übergeben. »Ihr habt mehr Glück als Verstand«, sagte mein Vater. »Hast du nur für eine Sekunde darüber nachgedacht, dass du dein Leben ruinierst?« Ich habe diese Frage oft gehört in meinem Leben. Nie schien jemand eine Antwort zu erwarten. »Ganz zu schweigen davon, was du deiner Mutter antust«, fuhr mein Vater fort. »Aber das hat dich ja noch nie interessiert.« Er hatte Recht, zumindest mit dem zweiten Teil seiner Ansprache. Es war tatsächlich viele Jahre her, dass ich mich zuletzt um das Wohlbefinden meiner Eltern gesorgt hatte. Und es sollte auch noch einige Jahre dauern, bis ich das nächste Mal darüber nachdachte.
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Home Sweet Home Zu Hause angekommen rief ich sofort Ellen an und erzählte ihr, was geschehen war. Wir waren seit einigen Monaten ein Paar, kurz nach meiner Trennung von Sylvana hatten wir uns kennen gelernt. Ellen war ein Jahr jünger als ich und ging auf das Gymnasium in einem Nachbarort. Sie nahm keine harten Drogen. In den ersten Jahren suchte ich mir meine Freundinnen oft außerhalb der Junkie-Szene. So sorgte ich dafür, dass die Droge nicht mein gesamtes Leben bestimmte. Ellen hatte erst nach Tagen von unserer Verhaftung erfahren. Nachdem wir nicht wie erwartet mit unserer Drogenlieferung in unserer Stammkneipe angekommen waren, wo ein ganzer Tisch mit Kunden ungeduldig wartete, hatten schon einige unserer Freunde befürchtet, dass wir festgenommen worden waren. Andere, vor allem diejenigen, die uns ihr Geld anvertraut hatten, hatten uns lautstark der Unterschlagung verdächtigt. Aber erst, als meine Mutter Ellen anrief und sie bat, doch bitte alle verdächtigen Gegenstände aus meinem Zimmer zu entfernen, falls die Polizei eine Hausdurchsuchung durchführen würde, bekam Ellen die Bestätigung für ihre Ängste. In den Monaten zuvor war Ellen für mich eine Art Sicherungsleine geworden. Trotzdem schlief ich, wann immer sich die Gelegenheit ergab, auch mit anderen Mädchen. Nichts erschien mir erschreckender als eine verpasste Gelegenheit. Ellen erzählte ich von meinen Affären, und wir stritten uns dann häufig, trotzdem blieb sie bei mir. Wenige Wochen nach meiner Verhaftung durfte ich meine 79
mündliche Abiturprüfung nachholen. Meine Mutter hatte mich telefonisch bei der Schulleitung entschuldigt, sie hatte behauptet, ich sei bei einem Kurzurlaub an der Nordsee bettlägerig erkrankt und nicht in der Lage, zum Prüfungstermin zurückzukehren. Sie sorgte außerdem dafür, dass die Hausärztin unserer Familie mir ein gleichlautendes Attest ausstellte. So bewahrte meine Mutter mich davor, das letzte Schuljahr und die schon absolvierten schriftlichen Prüfungen wiederholen zu müssen. Ich bedankte mich nur halbherzig bei ihr. Unser Direktor fragte nicht nach Einzelheiten. Wahrscheinlich war ihm die Vorstellung, mich noch ein Jahr an seiner Schule ertragen zu müssen, ebenso unangenehm wie mir. In den letzten beiden Schuljahren waren wir häufig aneinander geraten, und das lag nicht nur daran, dass ich es mir in meiner Arbeit als Schülersprecher zum Sport gemacht hatte, so häufig wie möglich mit Autoritäten zu streiten. Im Laufe der Jahre war ich immer mehr zum lebenden Störfall im Schulbetrieb geworden. Ständig schlief ich im Unterricht ein, vor allem samstagmorgens, wenn ich ohne Bücher oder Schulhefte direkt aus der Disco oder von einer Party in die Schule kam. Häufig begleitet von meiner Ratte, die während der Schulstunde aus der Innentasche meiner Lederjacke kroch und durch das Klassenzimmer lief. Oft rannte eine meiner Mitschülerinnen schreiend aus dem Raum. Im Sportunterricht war ich immer wieder kollabiert oder hatte gebannt und völlig bewegungsunfähig die Flugbahn eines Volleyballes beobachtet, der mir geheimnisvolle Muster in die Luft zu malen schien. In meinem letzten Schuljahr, als meine Mitschüler begannen, sich auf das Abitur vorzubereiten und nur die Kurse besuchten, in denen sie geprüft werden sollten, musste ich als Einziger ein Pensum von 36 Wochenstunden absolvieren. Im Jahr 80
zuvor hatte ich aufgrund meiner hohen Anzahl von Fehlstunden einige Kurse nicht angerechnet bekommen. Die musste ich nachholen, und da ich mein Kontingent an erlaubten Fehlstunden auch in diesem Jahr schon nach wenigen Monaten ausgeschöpft hatte, musste ich den Rest des Schuljahres in jedem Zustand dem Unterricht beiwohnen. Oft war ich so zugeknallt, dass ich mitsamt Tisch und Stuhl umfiel oder mich im Mülleimer in der Klasse erbrach, weil ich es nicht mehr bis zur Toilette schaffte. Wenn ein Lehrer versuchte, mich zu disziplinieren, berief ich mich empört auf meine Schülerrechte oder saß die Strafe stoisch aus. Ich nahm mich gerade soweit zurück, dass die Schulleitung mich nicht ohne weiteres von der Schule verweisen konnte. Trotzdem verdankte ich es letzten Endes dem Langmut einiger motivierter Lehrer, dass ich halbwegs schadlos bis zum Abitur gekommen war. Als feststand, dass ich die mündliche Prüfung würde nachholen dürfen, bereitete ich mich so gewissenhaft vor wie seit meinem ersten Jahr am Gymnasium nicht mehr. Durchzufallen hätte bedeutet, dass die letzten Schuljahre verschwendete Zeit gewesen wären und all jene Recht behalten sollten, die behaupteten, mein Lebenswandel würde mich ruinieren. Das kam nicht in Frage, ich wollte allen – und vor allem mir selbst – beweisen, dass ich, wenn es darauf ankam, alles schaffen konnte, was ich mir vornahm. Jean-Paul Sartres Existenzialismus war das Prüfungsthema, es interessierte mich sehr. Ich bestand mit »sehr gut«. Nach dem Abitur suchte ich mir einen Job in der Baukolonne eines Stahlbetriebs, der Feuerschutztüren herstellte. Von einem Studium wollte ich nichts wissen. Die Baukolonne dagegen war ein neues Spielfeld, auf dem es galt, mich zu beweisen. Außerdem konnte ich mir mit dem Geld, das ich dort verdiente, endlich eine eigene 81
Wohnung leisten. Ich zog aus dem Kellerraum im Bungalow meiner Eltern aus und in eine 1,5-ZimmerWohnung in einem Mietshaus in Erkelenz ein. Ich strich das Badezimmer schwarz und lila, die Kochnische samt Kühlschrank rot und legte den Boden dort mit schwarzem PVC aus. Die Wände in Schlaf- und Wohnzimmer ließ ich weiß, im Schlafzimmer klebte ich Styroporplatten als Lärmisolierung an die Wand zu der Wohnung meiner Nachbarn, trotzdem begannen die Beschwerden schon wenige Wochen nach meinem Einzug. Ich schlief auf zwei alten Matratzen auf dem Boden, die restlichen Möbel suchte ich mir auf Dachböden in der Verwandtschaft oder auf dem Sperrmüll und bearbeitete sie anschließend mit Sprühfarbe. Von harten Drogen ließ ich zunächst die Finger. Stattdessen begann ich schon in der Mittagspause auf der Baustelle, Wodka zu trinken. An dem Tag, an dem unser Vorarbeiter eine Flasche 74-prozentigen Raki – ein Mitbringsel aus seinem Türkeiurlaub – an uns verteilte und ich mich kurz vor Feierabend noch halbwegs sicher auf dem Baugerüst bewegen konnte, hatte ich mir endgültig den Respekt meiner Kollegen verdient. Mehr als ein Jahr war seit meiner Verhaftung vergangen, da bekam ich Post von der Staatsanwaltschaft. Die holländische Justiz, erfuhr ich, hatte unsere Akten nicht an die deutschen Kollegen überstellt. Die Beamten im Drogendezernat hatten nur durch Zufall von unserer Verhaftung erfahren. Als sie einige Tage zuvor die Wohnung von Eriks damaliger Freundin durchsucht hatten, war ihnen deren Tagebuch in die Hände gefallen. Darin hatte sie unsere Drogengeschäfte säuberlich protokolliert. Danach hatten die Drogenfahnder die Akten in Amsterdam angefordert und Anzeige gegen Ben, Erik und mich erstattet. Einige Wochen später erhielt ich meine 82
erste Bewährungsstrafe, sechs Monate auf zwei Jahre. Der Richter war zu dem Schluss gekommen, dass ich noch unter das Jugendstrafrecht fiel, und hielt mir zugute, dass ich in den vergangenen Monaten laut ärztlichem Attest clean gewesen war. Außerdem wertete er die 150 Trips, die mir zugeordnet wurden, absurderweise als »geringe Menge«, da in Sachen LSD, anders als etwa bei Heroin oder Haschisch, keine verbindliche Festlegung existierte, wie die strafrechtlich relevante »nicht geringe Menge«, die auf Handel schließen lässt, zu taxieren sei. Ich war mit dem Schrecken davongekommen. Meinen Job als Bauhelfer gab ich wieder auf, sobald ich die Berechtigung zum Bezug von Arbeitslosenhilfe erworben hatte. Ich ließ mich wegen Rückenproblemen monatelang krankschreiben und kündigte schließlich aus gesundheitlichen Gründen. Danach schlug ich mich mit meiner Arbeitslosenhilfe durch. Ich trieb entspannt durch die Tage und Nächte. Ich lungerte ganze Nachmittage auf dem Erkelenzer Marktplatz herum, saß mit Erik auf einer der beiden Holzbänke unter einer alten Linde, die Füße auf dem zugehörigen Tisch, daneben ein Sixpack Diebels Alt, das Rathaus und die Kirche im Rücken. Vor unserer Verhaftung hatten wir auf dieser Bank unsere Geschäfte getätigt, die Kundschaft aus den umliegenden Orten fand sich hier ein, Tag für Tag. Unseren täglichen Druck hatten wir uns in der nahe gelegenen Ruine der Stadtmauer gesetzt. In den späten Nachmittagsstunden füllte sich der Marktplatz, irgendwann fuhr einer mit seinem Wagen auf den benachbarten Parkplatz, öffnete alle Türen, drehte die Stereoanlage bis zum Anschlag auf und spielte Punk, Gothic und Heavy Metal. Meist war es einer der Jungs aus 83
der Heavy-Metal-Fraktion, der einen Golf GTI mit schwarz getönten Scheiben und Kenwood-Anlage fuhr. Auf diese Stereoanlage wies ein monströser Schriftzug hin, den er auf die Heckscheibe geklebt hatte. Beschwerden der Anwohner ignorierten wir so lange, bis die Polizei vorfuhr. Abends, wenn in der Schreinerei, in der Artur gerade eine Ausbildung machte, Feierabend war, gesellte sich auch Artur zu uns. Wir tranken, flirteten, knutschten, klauten Alkohol in den umliegenden Geschäften und hin und wieder fing einer Streit an. Immer drehte es sich um Drogengeschäfte oder Mädchen, manchmal wuchs sich der Streit zu einer Schlägerei aus, die aber nie besonders bösartig wurde. Idyllische Tage, an deren Ende kleine Jungs aus der Nachbarschaft die leeren Bierflaschen einsammelten und sich am nächsten Morgen vom Pfandgeld ein Eis leisteten. An den Wochenenden stiegen wir am späteren Abend in die Autos, fuhren in eine der Discotheken in der Umgebung, oft bis nach Düsseldorf, an den Ort, wo die deutsche Punk-Szene besonders lebendig war und mit Bands wie Fehlfarben die Neue Deutsche Welle ihren Anfang nahm. Als der legendäre Punk-Club SO36 in Kreuzberg Wiedereröffnung feierte, fuhren wir sogar bis nach Berlin. Vor allem besuchten wir so ziemlich jedes Konzert unserer lokalen Punkrock-Band The Prost, ihre klassischen Textzeilen wie »Alkohol löst meine Probleme« oder »Wenn du da bist, wo es nicht mehr weiter geht komm zu mir – meine Tür ist zu wie ich« grölten wir schon auf der Fahrt. Meine Stammkneipe, ein kleiner Laden, der nacheinander die abstrusen Namen »Die Fluse« und »Sinus« trug, lag nur wenige Straßen von meiner Wohnung und dem Marktplatz entfernt. Da es in Erkelenz und Umgebung nur sehr wenige Gaststätten gab, in denen 84
ein junges Publikum verkehrte, versammelte sich hier eine bunte Mischung der Stile der vergangenen Jahrzehnte. Zwei, drei Punks in zerfetzten T-Shirts und BondageHosen, eine Hand voll Hippies und langhaarige Jungs und Mädchen in Jeans und Cowboystiefeln, dazu ein einzelner, wüst geschminkter New Waver und ein Skin mit roten Schnürsenkeln in seinen Doc-Martens-Stiefeln, die ihn als Linken auswiesen und der kurze Zeit später zum schwarz gewandeten Gothic-Anhänger mutierte. Dann die Fraktion der Heavy-Metal-Hörer in ihren schwarzen Motorradlederjacken und Jeanswesten mit bunten Aufnähern, sie waren leicht in der Überzahl. Hier in der Provinz dauerte es mitunter ein wenig länger, bis ein neuer Trend ankam, aber dafür hielt er sich dann auch hartnäckiger. Oft wechselten einzelne von uns zwischen den unterschiedlichen Stilen. Und da wir zu wenige waren, als dass sich zu jedem Stil eine eigene Szene hätte bilden können, standen alle mehr oder weniger einträchtig nebeneinander am Tresen. Dazwischen standen unauffällige Durchschnittstrinker und die ganz normalen Verrückten, die in der Provinz besonders gut zu gedeihen scheinen. Solche wie Pit, ein älterer Typ, der in seinem Leben zu viele schlechte Drogen konsumiert hatte und jetzt schwer soff. Alle paar Wochen knallte eine Sicherung in seinem Hirn durch. Dann lief er schreiend auf die Straße, riss sich die Kleidung vom Leib, wälzte sich nackt auf dem Asphalt und schrie »Die Erdmännchen kommen«. Und dennoch gelang es ihm in beinahe jedem Zustand der Trunkenheit, einen Kopfstand auf dem Barhocker vorzuführen. Damit gewann er eine ganze Anzahl Wetten um Schnaps und Bier. Einem anderen hatten die Anabolika so das Hirn verwüstet, dass er in seinem Bodybuilding-Wahn glaubte, auch seinen Penis trainieren zu müssen, da es sich ja 85
schließlich um einen Muskel handelte. Deshalb hängte er immer schwerere Gewichte daran und mühte sich, trotzdem eine Erektion zu bekommen. Abends beim Bier erzählte er von seinen Fortschritten. In dieser Kneipe traf ich meine Freunde, spielte ganze Nächte lang Tischfußball, während der Wirt laut Billy Idol, Fischer Z, The Fixx, The Art of Noise, The Cure und Talking Heads spielte, und trank auf Kredit. Der Wirt hatte früher zu meinen LSD-Kunden gehört, damals hatte ich meine Rechnung oft in Naturalien beglichen. Außerdem hatte ich ihm hin und wieder Kredit gewährt, also blieb auch ihm nichts anderes übrig, als sich großzügig zu zeigen, wenn meine Zahlungsmoral zu wünschen übrig ließ. Da das Arbeitsamt schließlich auch nur zweimal im Monat meine Arbeitslosenhilfe überwies, hielt ich es für selbstverständlich, dass ich im gleichen Rhythmus meine Rechnung bei ihm beglich. So großzügig verfuhr er bei den meisten Stammgästen, daher stand seine Kneipe immer kurz vor dem Konkurs. Als er dann schließen musste, weil die Bewohner des benachbarten Altenheims eine Beschwerde beim Ordnungsamt wegen Ruhestörung eingereicht hatten und die darauf folgenden Beschränkungen einen normalen Betrieb unmöglich machten, hatten sich viele hundert Mark offener Rechnungen angehäuft. Wenn ich gerade Geld brauchte, nahm ich irgendeinen Gelegenheitsjob an. In den Achtzigern war das Angebot an kurzfristigen Jobs noch ziemlich üppig, vor allem auf dem Bau und in den Handwerksbetrieben. Ich schleppte Steine, schaufelte Gruben, pflasterte Gehwege, zimmerte Dachstühle, hackte Holz oder schlachtete Schweine, immer schwarz, 10 bis 15 Mark die Stunde bar auf die Hand, fällig jeden Feierabend. Wenn mir ein Job nach einigen Wochen zu sehr auf die Nerven ging, kündigte ich 86
und leistete mir einen Urlaub an irgendeinem europäischen Strand. Ich lernte Schnorcheln und Tauchen mit Sauerstoffflasche; den Versuch, mir das Windsurfen selbst beizubringen, brach ich nach einigen Tagen frustriert wieder ab. Wie so häufig, wenn mir etwas nicht auf Anhieb gelang. Den nächsten Job suchte ich mir immer erst, wenn das Geld wieder knapp wurde. An einem Abend im Herbst saßen Artur und ich nebeneinander auf unserer Bank auf dem Marktplatz. Wir hatten keine Pläne, sahen zu, wie der Himmel langsam dunkler wurde, und tranken Bier aus der Dose. »Hattest du schon mal Sex mit einem Mann?«, fragte Artur ziemlich unvermittelt. Ich sah ihn überrascht an. »Ja, ist aber schon eine ganze Zeit her«, antwortete ich. »Als ich so 12 oder 13 war. An Mädchen haben wir uns damals noch nicht herangetraut. Und dann noch einmal mit 16, weil ich wissen wollte, ob mir das immer noch Spaß macht.« »Und, hat es noch Spaß gemacht?« »Ja, schon. Aber so aufregend wie mit einem Mädchen war es nicht.« »Ich wollte das schon länger mal ausprobieren«, sagte Artur. »Hast du Lust?« »Klar, warum nicht«, antwortete ich. Schließlich war Artur mir näher als die meisten der Mädchen, mit denen ich schlief, und möglicherweise würde mir etwas entgehen, wenn ich es nicht versuchte. »Jetzt gleich?« »In Ordnung«, sagte Artur. »Gehen wir zu mir.« In Arturs Mansardenzimmer zogen wir uns aus und 87
legten uns ins Bett. Anfangs wusste keiner so recht, wie er anfangen sollte. Nach einer halben Stunde brachen wir unser Experiment dann vorzeitig ab. Auch wenn ich es mochte, Artur anzufassen und von ihm angefasst zu werden – ich vermisste all das, was den Sex mit einem Mädchen so aufregend machte, die Weichheit der Haut, der Lippen und des Busens, die Fremdheit des Körpers, der Kitzel und die Spannung. Außerdem nervte mich das Kratzen von Arturs Bartstoppeln. Wir zogen uns an und gingen in unsere Stammkneipe, bestellten uns zwei Bier und kickerten. Oft saß ich ganze Tage an meinem Küchentisch und schrieb. Vor ungefähr zwei Jahren, noch vor meinem ersten Druck, hatte ich mit dem Schreiben begonnen. Gemeinsam mit Helmut und Bernd gab ich seitdem ein Punk-Fanzine heraus, das wir »Ausbruch – Zeitschrift für den geistig-moralischen Niedergang« getauft hatten. Helmut war drei Jahre älter als ich, wir hatten das gleiche Gymnasium besucht. Ein gewohnheitsmäßiger Kiffer, der hin und wieder Kokain schnupfte, Heroin und Spritzen aber verabscheute. Jahrelang hatte er an Weihnachten bekifft meine gesamten Schokoladenvorräte in wenigen Stunden verschlungen. Bernd war Schlagzeuger und ständig betrunken. Immer wieder fiel er bei Konzerten im Suff von seinem Schemel. In unserem Fanzine veröffentlichten wir wüste Pamphlete gegen alles und jeden, dezidierte Berichte unserer Alkohol- und Drogenexzesse, als Konzertkritik getarnt, Lobpreisungen unserer lokalen Punkrock-Band The Prost, die Band, bei der Bernd Schlagzeug spielte, sowie Kurzgeschichten und merkwürdige Textminiaturen voller Sex, Drogen, Gewalt und Pathos sowie abstruse, selbst gefertigte Fotos und Comics. Das Ganze tippten wir mit der Schreibmaschine 88
und korrigierten notdürftig mit Tipp-Ex, dann wurden die Vorlagen auf ramschigem Papier kopiert und in Handarbeit zusammengelegt und geheftet. Die Auflage von 400 Stück verkauften wir in Kneipen, auf Konzerten und heimlich auf Schulhöfen. Ich begeisterte mich von Beginn an für das Schreiben. So sehr, dass ich über die Arbeit an unserer kleinen Zeitschrift in den ersten Jahren sogar manchmal meine Freundin vernachlässigt und meinen Drogenkonsum eingeschränkt hatte. Auch während meiner wildesten Absturzphasen hatte ich nur geschrieben, wenn ich nüchtern war, und da auch Helmut und Bernd keine harten Drogen nahmen, bemühte ich mich, zu unseren Treffen halbwegs nüchtern zu erscheinen. So hatte ich mir in den vergangenen Jahren ein Reservat in meinem Leben bewahrt, das nicht von den Drogen beherrscht wurde. Jetzt half mir das Schreiben, die Löcher zu füllen, die entstanden, weil ich keine Drogen mehr nahm. Für eine kurze Zeit versuchte ich mich als Posaunist in einer Punkband und als Mixer für eine lokale Ska-PopGruppe – obwohl ich nicht die geringste Ahnung davon hatte, wie eine Posaune oder ein Mischpult funktionierte. Aber meine musikalischen Ambitionen beerdigte ich schnell, schließlich beschränkte ich mich darauf, Texte für befreundete Punk- und Heavy-Metal-Bands zu schreiben. Ich schrieb mehr als je zuvor. Ich veröffentlichte eine Kurzgeschichte in einer Rowohlt-Anthologie und versuchte mich sogar an einem Theaterstück. Der Essener Theaterbund hatte einen Preis von 10.000 Mark für einen Wettbewerb ausgelobt. Für diese Summe hätte ich alles geschrieben. Und ein Theaterstück sowieso, zumal ich mir im Jahr zuvor ein Abonnement für die Studiobühne am Mönchengladbacher Stadttheater geleistet hatte, nachdem 89
ich eine Aufführung von Samuel Becketts »Endspiel« gesehen hatte. Leider ging der Preis dann doch an jemand anderen. Mit dem Bruder eines ehemaligen Klassenkameraden, der Fotograf werden wollte, zog ich außerdem durch Parkhäuser, verfallene Fabriken und zugemüllte Fußgängerunterführungen und posierte für seine Bilder. Ich stand ihm auch Model für Aktaufnahmen. Irgendwann kam mir die Idee, mich im Kleinanzeigenteil einer Fotofachzeitschrift als Aktmodell anzubieten. Ich wurde tatsächlich von zwei Fotografen gebucht, für einen Stundenlohn von 50 Mark. Obwohl sich minutenlanges Stillsitzen als ziemlich anstrengend erwies, hatte ich mein Geld noch nie leichter verdient. Von dem Erfolg beflügelt, schaltete ich einige Wochen später eine Anzeige in einer regionalen Tageszeitung »Junger Mann, 20, sucht Jobs jeder Art«. Daraufhin bekam ich das seltsamste Angebot meines Lebens. Ein Mann, der am Telefon weder seinen Namen nennen noch darüber Auskunft geben wollte, welche Art Job er anzubieten hatte, drängte auf ein persönliches Treffen mit mir. Da mir das Ganze ein wenig unheimlich war, bestand ich auf einen gleichermaßen öffentlichen wie anonymen Ort. Wir trafen uns in der Bahnhofsgaststätte in Erkelenz. Hierher würde sich niemand verirren, den ich kannte. Trotzdem waren wir nicht allein. Der Mann, der dort auf mich wartete, war Mitte dreißig und schien sehr freundlich. Er sagte, er sei Vertreter. Seinen Namen wollte er mir immer noch nicht nennen. »Wenn ich dir erzähle, um was für einen Job es sich handelt, wirst du verstehen, warum«, sagte er. Seit drei Jahren, erzählte er und sah mir dabei fest in die Augen, sei er mit einer attraktiven, jüngeren Frau verheiratet, die er sehr liebe. Diese Frau sei Nymphomanin. Sie hätte alle 90
möglichen Therapien versucht, alle waren langfristig ohne Erfolg geblieben. Seine Frau brauchte Sex, mehrmals täglich. Anfangs, als er noch im Innendienst arbeitete, sei er in jeder Pause nach Hause geeilt und habe mit seiner Frau geschlafen. Seit seine Arbeit als Vertreter ihn häufig in weit entfernte Orte führte, fand er dazu nur noch an wenigen Tagen in der Woche Gelegenheit. Da sie im vergangenen Jahr ein Haus gebaut hatten, konnten sie aber auf die Mehreinnahmen, die ihnen seine Außendiensttätigkeit einbrachte, nicht verzichten. Also ging seine Frau, wenn der Drang nach Sex sie überwältigte, auf die Straße oder in irgendeine Kneipe und suchte sich wahllos einen fremden Mann, der ihren Trieb befriedigte. Diese Geschichte erzählte er mit großem Ernst und einem Anflug von Traurigkeit in der Stimme. Ich rutschte ein wenig unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. »Ich bin nicht eifersüchtig«, versicherte er mir. »Ich weiß, dass meine Frau krank ist und selbst genauso darunter leidet wie ich.« Mit der Tatsache, dass seine Frau mit anderen schlief, schien er sich tatsächlich abgefunden zu haben. Allerdings, fuhr der Mann fort, würde er sich sehr um seine Frau sorgen. Wie schnell konnte sie an den Falschen geraten, verletzt, misshandelt, ausgeraubt oder gar getötet werden. Und hier kam ich ins Spiel. Gemeinsam waren sie zu der Entscheidung gelangt, einen vertrauenswürdigen jungen Mann dafür zu bezahlen, dass er, wann immer der Trieb in ihr übermächtig wurde, mit ihr schlief. Wenn ich Interesse an diesem Job hätte, und nur dann, würde er mir seinen Namen und seine Adresse nennen. Vorausgesetzt natürlich, seine Frau wäre mit mir einverstanden. Aber darin sah er kein Problem. So einen Job hätte ich mir nicht einmal in meinen kühnsten pubertären Träumen vorstellen können, damals, 91
als die »Praline« noch als Wichsvorlage herhielt und Peter Maffays »Und es war Sommer« in meinen Ohren wie sexuelle Verheißung klang. Dafür bezahlt zu werden, mit einer attraktiven, älteren Frau zu schlafen, wäre mir damals wie eine Geschichte aus »Tausendundeiner Nacht« erschienen. Aber das, was mir der ernste Mann auf der anderen Seite des Tisches erzählte, das, was seine Blicke und seine Stimme ahnen ließen, war wohl eher dramatisch denn märchenhaft. Ich erbat mir Bedenkzeit. Er schrieb mir seine Telefonnummer auf, wir verabredeten, dass ich mich in den nächsten drei Tagen melden würde. Als ich ihn zwei Tage später anrufen wollte, konnte ich den Zettel mit der Telefonnummer nirgends finden. Er rief nie wieder an.
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Was ich nie über Sex wissen wollte »Was hältst du davon, in einem Pornofilm mitzuspielen?«, fragte ich Zanne. Wir lagen nackt auf meinem Bett, der Lichtstreifen einer Straßenlaterne fiel durch mein Fenster und verlieh den Schweißperlen auf Zannes Bauch einen matten Glanz. Auf meinem Plattenspieler lief leise »Smalltown Boy« von Bronski Beat, Jimmy Somerville sang mit glockenheller Stimme »Mother will never understand why you had to leave/ but the answers you seek will never be found at home/The love that you need will never be found at home / run away turn away run away«. Mit den Fingerspitzen streichelte ich sanft über Zannes Haut, spürte, wie die feinen Härchen auf ihrem Arm sich unter der Berührung aufstellten, als stünden sie unter Strom. Zanne sah versonnen dem Rauch ihrer Zigarette nach, ihr Kopf ruhte auf meiner Brust. Beinahe zwei Jahre waren seit meiner Verhaftung in Amsterdam vergangen. In einem Pornomagazin hatte ich einige Tage zuvor eine Anzeige gelesen, eine VideoProduktionsfirma suchte Modelle, wie sie es nannten, für eine Filmreihe, die deutsche Paare beim Sex zeigte. Ich hatte sofort unter der angegebenen Nummer angerufen und mich nach den Einzelheiten erkundigt. Eine Nummer mit dem eigenen Partner brachte 500 Mark pro Person, und die Videos, so wurde mir zugesichert, würden nur über Sexshops in den Verkauf gelangen. Zanne, da war ich mir ziemlich sicher, würde ich nicht lange überreden müssen. Wir kannten uns seit drei Jahren, obwohl wir kein Paar waren, schliefen wir regelmäßig miteinander. Meine Freundin wusste davon nichts. Zanne war 17, drei Jahre jünger als ich, hieß eigentlich 93
Susanne und hasste ihren Vornamen, vor allem dessen übliche Abkürzungen. Die Tatsache, dass sie der berühmtesten Susanne dieser Zeit, die unter dem Spitznamen Nena zum größten deutschen Popstar der Achtziger aufgestiegen war und von uns allen aus tiefster Seele gehasst wurde, ziemlich ähnlich sah, machte es nicht leichter für sie. Schon vor Jahren hatte Susanne sich deshalb den Namen Zanne gegeben. Mittlerweile kam niemand mehr auf die Idee, sie Susi oder gar Nena zu rufen. »Die zahlen uns 1000 Mark dafür, dass sie uns dabei filmen dürfen, wenn wir miteinander vögeln?«, fragte sie und sah mich nachdenklich an. Dann spürte ich an meinem Bauch, wie sie mit ihren Schultern zuckte. »Na klar, warum nicht«, sagte sie und lächelte mich an. Ich strich ihr eine klebrige Haarsträhne aus dem Gesicht und küsste sie. »Klasse, dann melde ich uns direkt morgen da an. Ich brauche noch ein Nacktfoto von dir.« »Kein Problem, ich bringe dir welche vorbei«, sagte sie, drehte sich auf den Bauch und stützte sich auf ihre Ellbogen. Jetzt war ihr Gesicht nur wenige Zentimeter von meinem entfernt, meine Hand lag auf ihrem Po. »Bist du sicher, dass der Film nicht in Videotheken angeboten wird?«, fragte sie. »Meine Brüder und mein Stiefvater leihen sich häufig Videos aus. Wäre ja möglich, dass die sich auch in der Porno-Abteilung umsehen.« »Zumindest hat die Frau von der Produktionsfirma das behauptet.« »Und wenn schon«, sagte Zanne nach kurzem Nachdenken. »Wer sich Pornos ansieht, hat kein Recht, sich darüber aufzuregen, wenn wir in einem mitspielen.« »Genau«, sagte ich. »So sehe ich das auch.« 94
Noch lange lagen wir nebeneinander und malten uns all die Dinge aus, die wir mit dem verdienten Geld anstellen würden. Ich hatte Zanne kurz vor meinem 18. Geburtstag kennen gelernt, auf einer Silvesterfeier an meinem Gymnasium. Einige Wochen zuvor hatte ich mich von Alice getrennt. Zanne feierte in dieser Nacht ihren 15. Geburtstag. Sie war eines von jenen Mädchen, deren bloße Anwesenheit eine Art elektrisches Spannungsfeld in ihrer Umgebung erzeugt. Ich verliebte mich in dem Moment, in dem ich sie das erste Mal sah. Noch am gleichen Abend küssten wir uns. Aber sie war ebenso aufregend wie anstrengend, sprunghaft und überdreht, ihr Redefluss stoppte nur, wenn wir uns küssten. Schon nach kurzer Zeit begannen die Schwierigkeiten. Zannes Mutter hatte vor Jahren zum zweiten Mal geheiratet, Zanne hasste ihren Stiefvater und beschloss einige Tage, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, sie könne es in diesem Haus nicht mehr aushalten. Sie selbst sorgte dafür, dass sie in ein Heim eingewiesen wurde, ungefähr 30 Kilometer von meinem Heimatdorf entfernt. Wenn ich sie sehen wollte, musste ich mit dem Bus und unserem Kleinstadtbummelzug mehr als eine Stunde durch die Landschaft fahren. Wir trafen uns beinahe täglich. Dann saßen wir frierend auf Parkbänken, hielten uns eng umschlungen und küssten uns. Wir schwelgten in unserer Verliebtheit und fühlten uns wie Romeo und Julia. Eine Zeit lang genügte uns das. Doch schon nach wenigen Wochen wurden wir beide unzufrieden. Zwischen den Küssen beschlich uns immer häufiger die Langeweile, und die Parkbank erschien uns von Tag zu Tag unbequemer. Aber die Hausregeln ihres Heimes erlaubten uns nichts sonst. Als sie zum ersten Mal einen ganzen Tag Ausgang bekam und mich zu Hause 95
besuchte, stellten wir uns im Bett ziemlich ungeschickt an. Unsere Beziehung ging dann schnell in die Brüche. Wir gingen uns einfach gegenseitig auf die Nerven. Seltsamerweise lief mit uns alles bestens, wenn wir kein Paar waren. Wir betranken uns in Kneipen, lagen stundenlang nebeneinander in der Sonne und redeten oder spritzten gemeinsam Heroin und Kokain, streichelten uns in drogenbefeuerter Zweisamkeit. Und wenn mir ihr Redeschwall oder ihre Rastlosigkeit auf die Nerven gingen, verzog ich mich nach Hause zu meiner Freundin, die von all dem nichts wusste. Zanne und ich vögelten nachts auf dem Sportplatz, auf dem Schulhof des Gymnasiums und auf den Ruinen der Stadtmauer, trafen uns tagsüber zum Sex in der Umkleidekabine des Hallenbades oder auf dem Solarium. Nachdem wir den Film »9 1/2 Wochen« im Kino gesehen hatten, experimentierten wir mit Lebensmitteln. Aber das gaben wir schnell wieder auf, Eiscreme oder Honig waren einfach nur klebrig und Sahne, mussten wir feststellen, hat die Eigenschaft, auf verschwitzter Haut sehr schnell sauer zu werden und unangenehm zu riechen. Wenn wir uns also schon aufführten wie in einem Sexfilm, dachte ich, dann konnten wir uns auch dabei filmen lassen und gutes Geld kassieren. An dem Tag, an dem die Dreharbeiten stattfinden sollten, trafen wir uns kurz vor Mittag. Unser Zug nach Köln ging am Nachmittag, das Filmteam würde uns dort am Bahnhof abholen. Zanne hatte eine Flasche »Southern Comfort« und zwei Flaschen Gingerale mitgebracht. Wir saßen in der Küche und stießen auf unseren baldigen Geldsegen an. Als die Flasche leer war, saß sie stöhnend auf mir. Bis zum Beginn der Dreharbeiten blieben uns noch einige Stunden, in denen wir wieder zu Kräften kommen konnten. Ich ahnte nicht, wie schwer dieses Geld 96
verdient sein würde und wie wenig das, was vor uns lag, mit dem zu tun hatte, was wir gerade taten. Der Regisseur las uns am Kölner Hauptbahnhof auf, zusammen mit dem zweiten Pärchen, das an diesem Tag gefilmt werden sollte. Er begrüßte uns überschwenglich. Als ich das andere Pärchen sah, verstand ich, warum. Jeder von den beiden kam ungefähr auf das gleiche Alter und das gleiche Gewicht wie Zanne und ich zusammen. Das Filmteam fuhr mit uns in eine Wohngegend am Rand von Köln. Die Dreharbeiten fanden in einem Swingerclub statt. Der Regisseur sah exakt so aus, wie ich mir jemanden vorgestellt hatte, der sein Geld mit der Produktion von Pornofilmen verdient. Seinen Bart hatte er seit Tagen nicht rasiert und seine Haare ebenso lange nicht mehr gewaschen. Kein Anblick, der uns für das, was wir vorhatten, besonders stimulierte. Das Gleiche galt auch für die Räumlichkeiten, in denen wir uns befanden. Die Besitzer führten uns voller Stolz durch die verschiedenen Zimmer des Swingerclubs. Was wir dort zu sehen bekamen, konnte einem die Lust auf Sex gründlich verderben: Räume mit Löchern in den Holzwänden, durch die Männer ihren Schwanz stecken konnten, merkwürdige Apparate, die wie futuristische Schaukeln oder Bohrmaschinen aussahen, ein Zimmer, das zu einer quietschbunten Gruppensex-Spielwiese aufgepolstert war und an eine Gummizelle erinnerte. Nach der Führung mussten wir am Tresen warten, die letzten Gäste der Party in der Nacht zuvor waren noch nicht gegangen. Ein Pärchen setzte sich auf die Barhocker neben uns. Die Frau war in den Vierzigern und stark geschminkt, der Spitzen-BH und der String-Tanga schnitten ihr tief ins Fleisch, das Fett an ihrem Hintern und 97
Oberkörper wölbte sich über die Ränder der Dessous. Die Strapse an ihren Beinen erinnerten mich an Wurstpellen. Ihr Mann war noch ein paar Jahre älter, er hatte eine Halbglatze und einen Schmerbauch. Seinen faltigen Hintern hatte er in einen Minislip mit Tigermuster gezwängt. »Hallo, ich bin der Erwin«, sagte der Mann und legte den Arm um die Frau. »Und das ist Karin, wir sind hier Stammkunden. Seid ihr das erste Mal hier?« Seine Augen hingen an Zanne, die auf der anderen Seite neben mir saß und mit ihrem Barhocker ein paar Zentimeter zurückrutschte. Ich nickte, ohne ihn anzusehen. »Ja, stimmt«, sagte ich. »Das ist ein wirklich toller Club«, sagte Karin und strahlte mich an. »Sollen wir euch die Räume zeigen?« »Nicht nötig«, antwortete ich, »wir haben schon genug gesehen.« »Was haltet ihr denn von Partnertausch?«, fragte Erwin. »Nicht viel«, sagte ich. Zanne starrte die beiden nur wortlos an. Dann erschien der Regisseur und bat Erwin und Karin, die Bar zu räumen. Die Dreharbeiten würden in wenigen Minuten beginnen. Zanne und ich setzten uns auf ein rotes Plüschsofa, noch vollständig bekleidet, vor uns der Kameramann und der Regisseur. Bevor wir beim Sex gefilmt wurden, sollten wir dem Zuschauer im Interview vorgestellt werden. So wollte der Regisseur deutlich machen, dass wir ein reales Paar waren und nicht die üblichen Profidarsteller der Branche. »Welche Sexpraktiken bevorzugt ihr beide denn?«, fragte uns der Regisseur zu Beginn des Interviews. 98
»Ich bevorzuge Sex zu zweit«, antwortete Zanne, immer noch mit Ekel in der Stimme. Das Interview machte uns beiden großen Spaß. Zanne nannte sich »Hilde aus Hagen« und erzählte die Lebensgeschichte, die wir uns während der Zugfahrt ausgedacht hatten, inklusive eines falschen Alters. Schließlich war sie noch minderjährig. Ich erzählte, wie aufregend es sei, im Freien zu vögeln und wie wir eines Nachts auf dem Sportplatz von einem Spaziergänger mit seinem Hund überrascht worden waren, als ich gerade Zannes Minirock hochraffte. Der Regisseur war begeistert. »Unser erstes Pärchen am heutigen Tag klingt ja sehr viel versprechend«, sagte er am Ende des Interviews. »Also Kamera ab.« Für unsere Sexszenen hatte der Regisseur den Pool als Drehort ausgesucht. Wir zogen uns aus und stiegen in den Pool. Im Wasser knutschten wir ein wenig. Ich bekam die Anweisung, Zanne auf einer Luftmatratze durch das Becken zu schieben und dabei zwischen ihren Beinen und an ihren Brüsten herumzuspielen. Ich kam mir völlig bescheuert vor. Das hier, dämmerte mir, würde wohl nicht so laufen, wie ich es mir vorgestellt hatte. Als wir den Pool verlassen und uns abgetrocknet hatten, dirigierten sie uns in die 69er-Stellung. Der Regisseur korrigierte ständig unsere Lage und gab dem Kameramann Anweisung. Ich lag zwischen Zannes Beinen, einem der wunderbarsten Orte der Welt, und fühlte mich elend. Auch wenn das hier später tatsächlich aussehen sollte wie Sex, woran ich erhebliche Zweifel hegte, mit Lust hatte es wenig zu tun. Ich bekam keine Erektion. Zanne gab sich alle Mühe, zum ersten Mal, seit wir uns kannten, ohne Erfolg. Der Regisseur beriet sich kurz mit seinem Kameramann. Sie entschieden, weiter zu drehen. Zanne sollte nach einigen Minuten einen Orgasmus mimen. Sie wollten die 99
Aufnahmen trotzdem verwenden. Am Ende druckten sie dann sogar unser Foto auf das Cover. Natürlich wurde das Video nicht wie zugesagt nur in Sexshops angeboten. Aber das erfuhren wir erst viele Monate später. In den Videotheken rund um Erkelenz war der Film monatelang ständig ausgeliehen. Als wir spät am Abend zu mir nach Hause kamen, redeten wir kaum miteinander. Das Geld warfen wir achtlos in eine Ecke meines Zimmers. Wir zitterten am ganzen Körper. Wir tranken den letzten Rest »Southern Comfort« aus der Flasche. Im Bett klammerten wir uns aneinander wie Kinder, die Angst vor der Dunkelheit haben. Wir behielten sogar unsere Kleidung an, die nackte Haut des anderen zu spüren bereitete uns zum ersten Mal Widerwillen. Am nächsten Tag traf ich mich mit Gaby, meiner damaligen Freundin. Sie wunderte sich, dass ich so still und abwesend war.
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Gaby Der Tritt traf mich völlig unvorbereitet. Ich saß in einem italienischen Bistro am Erkelenzer Marktplatz, direkt gegenüber der Kirche. Der Laden war erst vor zwei Jahren eröffnet worden, mit Bambusmatten und Korbstühlen versuchte der Inhaber, seinem Etablissement mediterranen Chic zu verleihen. Ich hasste diesen Laden, seinen aufgesetzten Flair, den Wirt und sein schnöseliges Publikum. Und der Wirt hasste mich. Alle paar Monate gerieten wir in Streit, und er erteilte mir immer wieder aufs Neue Hausverbot. Aber da in Erkelenz jeder Gast zählt und ein Hausverbot für mich immer auch bedeutete, dass einige meiner Freunde und damit eine Reihe potentieller Kunden das Bistro mieden, ließ er mich jedes Mal nach wenigen Wochen wieder hinein. Und da meine Stammkneipe vor einigen Monaten geschlossen worden war und Erkelenz kaum Alternativen bot, kam ich immer wieder. An diesem Abend saß ich mit Zanne an einem Tisch in der Mitte des Raumes, ungefähr ein Jahr war seit unseren Pornoaufnahmen vergangen. Sie hatte Kaffee bestellt, ich eine Cola. So hielten wir es häufig, wenn uns einige Zutaten für unseren nächsten Druck fehlten – der Kaffee wurde mit einem Löffel serviert, den wir unauffällig einsteckten, und aus der Cola fischten wir die Zitronenscheibe. Heroin löst sich ohne ascorbinhaltige Zusätze beim Kochen nicht auf. Kurz sah ich das Erschrecken in Zannes Augen aufblitzen, da traf mich schon die volle Wucht des Trittes und riss mich mitsamt meinem Stuhl und dem Tisch nach vorne. Mit lautem Getöse polterte ich durch die Kneipe und landete hart zwischen den Stühlen der anderen Gäste 101
auf dem Boden. Meine Hüfte schmerzte, am nächsten Tag würde sie sich blau färben. Alle Gespräche erstarben. Da, wo ich kurz zuvor gesessen hatte, stand Gaby und starrte mit wutflackerndem Blick auf mich herunter. Dieser Blick setzte mir mehr zu als der Sturz und meine geprellte Hüfte. Sie drehte sich wortlos um, ging zum Tresen und bestellte sich ein Bier. Ich rappelte mich benommen auf und stellte Tisch und Stühle wieder an ihren Platz. Zanne sah unbeteiligt aus dem Fenster, als ginge sie das Ganze nichts an. Natürlich war ich es, den der Wirt aus der Kneipe warf. Zanne ging mit mir. Gaby drehte sich nicht einmal mehr nach mir um. Gaby und ich hatten uns vor mehr als zwei Jahren kennen gelernt, 1985, einige Monate nachdem ich aus dem Gefängnis in Amsterdam entlassen worden war und meine erste eigene Wohnung in Erkelenz bezogen hatte. Ich war 19 Jahre alt und clean zu dieser Zeit, meine Verhaftung und die Tage in Polizeigewahrsam waren mir noch deutlich in Erinnerung. Wir trafen uns auf einer Party, die Rolf, der mir im vergangenen Jahr 900 Mark für meinen LSD-Einkauf in Amsterdam gezahlt hatte, im Haus seiner Eltern gab. Ich besuchte die Party mit meiner damaligen Freundin Elke. Elke war einige Jahre älter als ich, sie studierte Kunstgeschichte an der Universität in Düsseldorf. Eine auffällige Erscheinung, ihr langes blondes Haar trug sie meist hochgesteckt wie die Sängerinnen der Band B-52’s, ihre Fingernägel waren knallpink lackiert. An diesem Abend trug sie einen karierten Minirock, ein schwarzes Bustier und ein rosa Hemd mit Rüschen, dazu hohe, klobige Schuhe und gestreifte Strümpfe. Elke pflegte merkwürdige Vorlieben. So sammelte sie zum Beispiel die Glanzbildchen, die die Mädchen in meiner Kindheit in 102
ihre Poesiealben geklebt hatten, und war ganz besessen von Engelsstatuen. Stunden brachte sie auf dem alten Friedhof in Erkelenz zu, völlig versunken in den Anblick der Grabsteine und Standbilder. Anfangs hatte sie all das interessant erscheinen lassen. Mittlerweile war ich an dem Punkt angekommen, an dem ich mich üblicherweise aus einer Beziehung verabschiedete und in die nächste flüchtete – der anfängliche Rausch der Verliebtheit und die Neugier auf den anderen waren verebbt, insgeheim suchte ich schon nach etwas Neuem, Aufregendem. Gaby begeisterte mich sofort. Ein blondes Mädchen, das vor Natürlichkeit, Temperament und Ausgelassenheit strahlte. Wie selbstverständlich war sie innerhalb von wenigen Minuten der Mittelpunkt, um den die Party kreiste. Kurz nach Mitternacht küssten wir uns in einem dunklen Zimmer im ersten Stock. Ein Gefühl wie Sonnenbrand unter der Haut, noch Tage später meinte ich, Gabys Berührungen zu spüren, und wurde beinahe krank vor Sehnsucht. Aber sie hatte mir unmissverständlich klargemacht, dass es nicht mehr als diesen Kuss geben würde, solange ich in einer festen Beziehung war. Elke bemerkte von all dem zuerst nichts. Dieses Mal war es von Vorteil, dass sie meist in ihrer eigenen Welt lebte. Erst nach Tagen fand ich den Mut, mich von ihr zu trennen. Ein wenig schüchterten mich ihre Eigentümlichkeiten auch ein. Zwei Tage, nachdem sie wütend und verletzt aus meiner Wohnung gestürmt war, beklebte sie nachts auf dem gesamten Weg von meinem Zuhause bis in meine Stammkneipe Bauzäune und die Masten von Straßenlaternen mit DIN A4 großen Flugblättern. Die Plakate waren Fotokopien von Aktaufnahmen, die ein Freund von mir geschossen hatte. Auf die Fotos hatte sie in dicken schwarzen Lettern »WANTED BY A REAL WOMAN« geschrieben. 103
Natürlich war ich beeindruckt. Aber dadurch wurde sie mir eher noch unheimlicher. Wenn ich nachts alleine nach Hause ging, fühlte ich mich die ersten Tage immer ein wenig unbehaglich und sah ständig über meine Schulter. Ich verliebte mich mit einer Leidenschaft in Gaby wie in noch kein Mädchen zuvor. Noch nach Monaten schwitzten meine Hände vor Aufregung, und mein Herz schlug vernehmlich in meinem Hals, wenn ich vor ihrer Tür stand und klingelte. Alles an ihr erschien mir einzigartig und begehrenswert, ihr Witz, ihre Schlagfertigkeit, die Weichheit ihrer Haut und ihrer Berührungen, ihr runder, fester Busen mit dem Leberfleck an der linken Seite, ihre Verletzlichkeit und ihre trotzige Kraft. Ganze Tage lagen wir auf meinem Bett, küssten und streichelten uns, im Hintergrund sang Loyd Cole »She ’s Got a Perfect Skin«. Nur machte es mich irgendwann schier verrückt, dass Gaby sich wochenlang strikt weigerte, ihre Jeans auszuziehen. Trotz ihrer 21 Jahre war Gaby noch Jungfrau. Auf eine schnelle, unverbindliche Nummer hatte sie keine Lust gehabt, und der einzige Junge, in den sie richtig verliebt gewesen war, war zu schüchtern gewesen. Ungefähr vier Wochen, nachdem wir ein Paar geworden waren, wurde meine Geduld belohnt. Ein strahlender Frühlingstag, der Himmel spannte sich über die Welt, als lebten wir im Inneren eines gigantischen, aufblasbaren Nivea-Balles. Die Türklingel und das Telefon hatten wir abgestellt, dieser Tag sollte nur uns gehören. Am nächsten Morgen würde Gaby mit ihrer Freundin für drei Wochen in den Urlaub fahren, unseren letzten gemeinsamen Abend durfte die Außenwelt nicht stören. Wir bestellten Pizza beim Lieferservice und aßen im Bett bei Kerzenschein. Ich hatte ABC aufgelegt, Martin Fry buchstabierte das »Lexicon of Love«. Wir küssten uns, zogen die Pullover 104
aus, ich streichelte Gabys Busen. Irgendwann zog Gaby auch ihre Jeans und ihre Unterhose aus. Vorsichtig berührte ich ihre Oberschenkel, langsam tastete ich mich weiter vor. Als wir schließlich miteinander schliefen, war ich so behutsam wie noch nie in meinem Leben. Trotzdem hatte Gaby Schmerzen, sie schrie kurz auf. Ich erschrak, wollte mich von ihr lösen. Aber sie hielt mich fest, schlang ihre Arme um mich und küsste mich lange und leidenschaftlich. Ganz langsam nahm ich meine Bewegungen wieder auf. Anschließend lagen wir noch Stunden berauscht nebeneinander, ihre baldige Abreise verlieh jeder Berührung zusätzliche Intensität. Nach ihrer Rückkehr verkrochen wir uns ganze Wochenenden im Bett, ausgestattet mit Chips, Tiefkühlpizza und Videofilmen, die wir selten zu Ende ansahen. Wir schliefen so häufig miteinander, dass ich montags keine engen Jeans tragen konnte. Gaby machte zu dieser Zeit eine Lehre als Maler- und Lackiererin. Sie war die einzige Frau auf der Baustelle, inmitten von einem halben Dutzend männlicher und in der Regel deutlich älterer Kollegen. Ein harter Job für ein junges, hübsches Mädchen. In den ersten Monaten gingen die meisten Sprüche und Witze auf ihre Kosten, und immer wieder landete eine Hand auf ihrem Hintern. Aber sie hatte schon früh gelernt, sich durchzusetzen, ihre Eltern waren Alkoholiker, in ihrer Kindheit fehlte der Familie oft das Geld, die Stromrechnung zu bezahlen und Gaby musste ihre Hausaufgaben bei Kerzenlicht oder im Schein einer Taschenlampe fertig stellen. Trotzdem hatte sie es auf die Realschule geschafft und mit guten Noten abgeschlossen. Auf dem Bau lernte sie, durchzuhalten und ihre Unsicherheiten hinter einer großen Klappe zu verstecken. Wenn sie von der Arbeit nach Hause kam, verschwitzt, voller Farbe und in einem verschmierten 105
Overall, wirkte sie unwiderstehlich auf mich. Trotzdem, oder vielleicht deswegen, schlief ich auch mit anderen Mädchen. Möglich, dass die Anziehungskraft, die Gaby auf mich ausübte, ihre immer größer werdende Bedeutung für mein Leben, mir Angst einflößte und ich die Affären mit anderen dazu nutzte, mich unabhängig und frei fühlen zu können. Vielleicht war ich aber auch nur unreif, selbstbezogen und unersättlich. Jedenfalls hielt ich beinahe zwanghaft an der bewährten Maxime fest, keine Gelegenheit auszulassen. Schließlich verzichtete ich ja schon auf illegale Drogen, mir auch noch den Reiz sexueller Abenteuer zu versagen erschien mir unzumutbar. Eine Sache hatte sich allerdings geändert. Zum ersten Mal legte ich großen Wert darauf, dass meine Freundin nichts von meinen Eskapaden erfuhr. Vor Gaby hatte ich es mit einer Offensivverteidigung gehalten, hatte alle Mädchen, mit denen ich eine Beziehung einging, von Beginn an gewarnt, dass ich von Treue nichts hielt und dass es immer auch One-Night-Stands geben würde. Alle hatten sich darauf eingelassen. Gaby, da war ich mir sicher, würde mir einen Tritt verpassen und mich zum Teufel jagen. Ich hatte eine höllische Angst, sie zu verlieren. 1986, ungefähr ein Jahr nachdem Gaby und ich uns kennen gelernt hatten, zog ich nach Baal, ein Dorf, ungefähr 6 Kilometer hinter Erkelenz. Zusammen mit Detlef, meinem ältesten Freund aus JugendzentrumTagen, mit dem ich meinen ersten Joint geraucht hatte. Ich war jetzt mehr als ein Jahr lang clean. Detlef hatte im Frühjahr seine Drogentherapie abgebrochen, nach ungefähr vier Monaten, und war zu mir in meine Wohnung in Erkelenz gezogen. Er war ungefähr zur gleichen Zeit auf Heroin gekommen wie ich; mehr als ein Dutzend der Jungs und ein paar der Mädchen aus unserem Jugendzentrum waren mittlerweile Junkies. Nachdem im 106
Vorjahr Thomas, sein jüngerer Bruder, bei einem Autounfall unter Heroineinfluss ums Leben gekommen war, hatte Detlef den Boden unter den Füßen verloren und sich in eine Therapie geflüchtet. Und obwohl er die Therapie nicht zu Ende gebracht hatte, war er zu diesem Zeitpunkt clean. Gemeinsam mit Charly, einem Werbetexter aus Düsseldorf, und ebenfalls gerade drogenfreier Junkie, mieteten wir ein zweistöckiges Haus. Obwohl nur Detlef als Schriftsetzer ein bescheidenes Einkommen vorweisen konnte – Charly und ich waren arbeitslos –, gelang es uns, den Vermieter von unserer Zuverlässigkeit zu überzeugen. Unser Wohnprojekt begann voller Enthusiasmus, wir strichen Wände und Türen grau und tapezierten den Flur in mühevoller Kleinarbeit mit Filmplakaten. Abends saßen wir beim Bier zusammen in der Küche, hörten The The und Frankie Goes To Hollywood und schmiedeten Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Ab und an besuchte Zanne mich, und wir schliefen in meinem Zimmer miteinander. Wenn Gaby anrief, deckte Detlef mich am Telefon. Auch an dem Tag, an dem Zanne und ich zu den Pornoaufnahmen nach Köln fuhren. Nach wenigen Monaten ging alles in die Brüche. Die Verwüstungen, die unsere Einweihungsparty nach sich zog, beseitigten wir nur halbherzig und kurz darauf zogen Heroin und Kokain in unsere Wohngemeinschaft ein. Die Mülltüten stapelten sich im Flur, das dreckige Geschirr in der Badewanne. Ich flüchtete zu Gaby, zog vorübergehend in ihre Zwei-Zimmer-Wohnung ein. Sie sollte mich vor dem Absturz bewahren. Immerhin war ich während unserer Beziehung bisher clean gewesen. Doch schon nach wenigen Wochen wurde mir alles zu eng, ihre Wohnung, unsere Beziehung. Ich ging zurück in unser Haus und 107
begann eine Affäre mit einer Studentin aus Düsseldorf. Bei unserem dritten oder vierten Treffen brachte sie ein Gramm Heroin mit. Dieser Versuchung konnte und wollte ich nicht widerstehen. Die Zustände in unserem Haus wurden von Tag zu Tag desolater. Bald lebten wir auf einer Mülldeponie. Als sich unsere Nachbarn beim Vermieter beschwerten, weil Maden aus unserer Garage zu deren Eingangstür gepilgert waren, bekamen wir die Kündigung. Bald nahm ich immer häufiger Heroin. Allmählich war die Erinnerung an meine Einzelzelle verblasst, und immer häufiger blitzten in meinem Gedächtnis die Bilder von Drogenpartys und heroinverschleierter Tage und Wochen auf. Sollte ich auf solche Erlebnisse tatsächlich für immer verzichten? Schließlich war ich doch aus der Sache mit der Verhaftung ganz gut herausgekommen. Wenn ich vorsichtig war und mich in Zukunft nicht mehr erwischen ließ, gab es doch keinen Grund, die Drogen ganz aufzugeben. Gaby hasste das Heroin und den unbeteiligten, unberührbaren Menschen, den es aus mir machte. Ich sah keine Veränderung, verstand nicht, was sie von mir wollte, und weigerte mich, ihr zum Gefallen auf meinen Rausch zu verzichten. Unsere Beziehung wurde immer schwieriger. Nachdem wir uns an einem Wochenende weit nach Mitternacht quer über den Erkelenzer Marktplatz angebrüllt hatten, bis die Anwohner die Polizei riefen, beschlossen wir, uns für einige Zeit nicht zu sehen. Wenige Wochen später, in einer regnerischen Nacht im Herbst, endete unsere Beziehung endgültig. Detlef war gemeinsam mit seiner Freundin Karin bei Gaby untergekrochen. Wir hatten seit Monaten die Strom- und Gasrechnung nicht mehr zahlen können, und unser Haus in Baal, in dem die beiden noch bis zum endgültigen 108
Räumungstermin ausharren wollten, war jetzt ohne Licht und Heizung. In dieser Nacht saß Gaby weinend zu Hause, unsere Trennung und mein distanziertes Verhalten in den letzten Wochen setzten ihr zu. Detlef beschloss, sie zu trösten. Voll gedröhnt mit Heroin und Pillen dachte er, die Trennung wäre für Gaby leichter zu ertragen, wenn sie wüsste, wie mies ich mich während unserer gesamten Beziehung aufgeführt hatte. Innerhalb einer Viertelstunde schilderte er Gaby ausführlich all meine Affären und OneNight-Stands der letzten anderthalb Jahre; erzählte von meinen Beischlafverabredungen mit Zanne und wie er mich am Telefon verleugnet hatte, wenn Gaby anrief, während ich gerade in meinem Zimmer mit einem anderen Mädchen schlief. Nur die Geschichte mit dem Pornofilm ließ er aus, aus welchem Grund auch immer. Gaby ging in die Küche, nahm ein Brotmesser aus der Schublade, zog ihre Jacke an und verbarg das Messer unter der Jacke. Dann streifte sie auf der Suche nach mir durch alle Erkelenzer Kneipen, fest entschlossen, mir das Messer zwischen die Rippen zu rammen. Sie hätte mich wohl in jener Nacht ohne jede Skrupel umgebracht. Glücklicherweise besuchte ich an diesem Wochenende Helmut in Düsseldorf, befand mich in sicherer Entfernung. Als ich hörte, was passiert war, kündigte ich Detlef die Freundschaft und ging Gaby aus dem Weg. Wir sahen uns erst Wochen später wieder, Anfang Januar des darauffolgenden Jahres. In dieser Nacht saßen Gaby und ich zusammen mit Helmut und Ruth im »Ratinger Hof« in der Düsseldorfer Altstadt. Der »Ratinger Hof« hatte Ende der Siebziger Jahre seine Hochzeit erlebt, damals galt er als eine Keimzelle des Punk in Deutschland und den Anfängen der Neuen Deutschen Welle. Auch Ende der Achtziger wurde 109
er noch aus sentimentalen Gründen von einige Punks und New Wavern frequentiert. An diesem Abend hatte Xao Seffcheque, ein Österreicher, der sich als Autor und Musiker in der Szene einen Namen gemacht hatte, irgendeine affektierte Kunstaktion vor der Tür inszeniert. Der Hof war gut gefüllt. Helmut feierte an diesem Abend seinen 24. Geburtstag. Er studierte mittlerweile Germanistik. Obwohl wir unser gemeinsames Fanzine eingestellt hatten, waren wir noch gute Freunde. Helmut war Anfang der Achtziger begeisterter Leser des Magazins »Sounds« gewesen, hatte ganze Jahrgänge archiviert und besaß eine kleine, aber ausgesuchte Sammlung schrammeliger Punkplatten aus der ganzen Welt, die meisten davon waren nur im Vollrausch zu ertragen. Aus irgendeinem Grund war Helmut auf die seltsame Idee verfallen, neben seiner Freundin Ruth nur Gaby und mich einzuladen. Vielleicht konnte er es nicht mehr mit ansehen, wie unser beider Leben nach der Trennung auseinander gefallen war. Gaby trieb sich Nacht für Nacht durch die Kneipen im Kreisgebiet und nahm jedes Wochenende im Vollsuff einen anderen Kerl mit nach Hause. Ich drückte wieder täglich Heroin, oft zusammen mit Kokain. Aber etwas Entscheidendes hatte sich verändert. Zum ersten Mal nahm ich Drogen, weil ich mich mies fühlte, weil der Rausch zumindest für Augenblicke die Leere in meinem Leben ausfüllte. Ich hatte Gaby verloren und irgendwie auch Detlef, meinen ältesten Freund. Erik hatte sich in die Drogentherapie abgesetzt, Artur war mit seiner neuen Freundin in einen entfernten Ort gezogen, und aus unserem zugemüllten Haus in Baal, schon seit langem weit davon entfernt, mir ein Zuhause zu sein, war ich geflohen. Mein Leben war ohne Halt und Ziel. Untergehen war nur eine Frage der Zeit. Doch ich gaukelte mir vor, alles sei in Ordnung. Stur 110
folgte ich den vertrauten Ritualen, die, wie ich meinte, mein Leben in den letzten Jahren ausgemacht hatten. Ich betrank mich in den gleichen Kneipen wie vorher, knallte mir den Kopf zu, so häufig es ging, und wechselte von einer Affäre in die nächste. Aber all das hatte viel von seinem ursprünglichen Reiz eingebüßt. Ich lebte mein Leben wie ein Verhungernder, der immer und immer wieder auf einem alten Stück Brot kaut, ohne zu merken, dass es seinen Geschmack und Nährwert schon vor langer Zeit verloren hat. Ich erhöhte die Dosis. Um Mitternacht stießen wir mit »Tequilla Rapido« auf Helmuts Geburtstag an, ein doppelter Tequila mit Sekt vermischt und in einem stabilen Glas serviert. Das Glas deckten wir mit einem Bierdeckel ab und schlugen die Unterseite mit Wucht auf einen anderen Bierdeckel, der auf dem Tisch bereitlag. Die Kohlensäure verwirbelte Sekt und Tequila zu einem schaumigen Gemisch, das wir in einem Zug hinunterstürzten. Ich kannte kein anderes Getränk, das so schnell und nachhaltig betrunken machte. Ich trank schneller als die anderen, Gabys Gegenwart machte mich nervös. Auch wenn sie an diesem Abend noch keine Anzeichen von Wut zeigte. Im Gegenteil, sie war charmant wie lange nicht mehr, lächelte mich an und berührte immer wieder wie zufällig meine Hand, meinen Arm oder mein Bein. Ich war völlig verwirrt. »Was machst du da?«, fragte ich sie. Sie wirkte an diesem Abend nicht weniger anziehend auf mich als auf der Party vor zwei Jahren. »Wieso?«, antwortete sie. »Du hast dich früher doch auch nicht so geziert.« Dann küsste sie mich, ihre Zunge tief in meinem Mund, ihre Hand zwischen meinen Beinen. Ich bestellte den nächsten Tequila und ergab mich in mein Schicksal. 111
In Helmuts Ein-Zimmer-Wohnung verzogen wir uns ins Badezimmer. Wir schlossen die Tür ab, küssten uns und zogen uns aus. Schnell und leidenschaftlich, wir ließen uns keine Zeit für Zweifel und keinen Raum für Skrupel. Streit und Trennung hatten eine spürbare Distanz geschaffen, aber sobald wir nackt waren, Haut an Haut, wurde es einfacher. Jede Berührung war vertraut, der Anflug von Fremdheit erhöhte nur die Spannung. Irgendwann lagen wir auf dem Badezimmerboden, Gaby stöhnte mit geschlossenen Augen unter mir. Dann, für einen kurzen Moment, erstarb ihr Stöhnen. Ich hielt überrascht inne. Sie sah mich kurz an, mit einem Blick, den ich nicht zu deuten wusste, ballte ihre rechte Hand zur Faust und schlug mir mit voller Kraft ins Gesicht. Ich zuckte von ihr zurück, völlig verstört. Mit einem Mal war mir entsetzlich kalt, mein ganzer Körper schmerzte. Ich sah sie an, suchte in ihrem Gesicht nach einer Erklärung, nach Bedauern, Trost, Wärme, irgendetwas, das die Schmerzen und die Kälte aus meinem Körper vertrieb. Doch sie sah nur mit promilleschwerem Blick durch mich hindurch und begann zu schluchzen. Ich wollte sie in den Arm nehmen, sie stieß mich von sich. Mir blieb nichts weiter, als mich mit Helmuts Bademantel dürftig zuzudecken und mich umzudrehen. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf. Am nächsten Morgen beim Frühstück sahen wir wortlos aneinander vorbei. Ich sah sie erst Monate später wieder, in jener Nacht, in der sie mich durch die Kneipe trat.
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Klara Als ich am 28. Juli des Jahres 1988, einem Donnerstag, abends meine Wohnung betrat, lag ein Foto auf meinem Tisch, das am Morgen noch nicht dagewesen war. Keine Ahnung, wieso es mir auffiel. In meiner Wohnung herrschte eine ziemliche Unordnung, aufgeräumt hatte ich seit einigen Wochen nicht mehr. Das Foto war ungefähr zwölf mal acht Zentimeter groß, ich sah es mir genau an, konnte aber die merkwürdigen schwarzweißen Ornamente darauf nicht deuten. Auf dem Foto stand mit schwarzem Filzschreiber »Herzlichen Glückwunsch« geschrieben. Zu dieser Zeit hauste ich in einer Dachwohnung in Mönchengladbach, für die ich 100 Mark Miete zahlte. Genau genommen war mein Zimmer ein Dachboden, der zu der Wohnung im Stockwerk darunter gehörte. Dort wohnte Michael, Zannes älterer Bruder. Er hatte seinen Dachboden an mich vermietet, ein Zimmer, 18 Quadratmeter. Das Ganze wies nur entfernte Ähnlichkeit mit einer Wohnung auf. Wände und Dach waren nicht isoliert, es gab keine Heizung, kein Badezimmer, und die Gemeinschaftstoilette befand sich im Treppenhaus zwischen den beiden Etagen. Anstelle einer Küche hatte der Vormieter eine marode Spüle im Flur installiert. Daneben hatte ich einen alten Kühlschrank aufgestellt, mit einer Kochplatte obenauf. Im Sommer staute sich die Hitze zwischen den Dachbalken, als Fenster diente nur eine kleine Luke, die kaum Frischluft hineinließ. Im Winter kroch der Frost ungehindert durch Decken und Wände, es wurde so kalt, dass ich meine steif gefrorene Kleidung jeden Morgen vor einem kleinen Gasofen auftauen musste. Doch das alles kümmerte mich nicht 113
sonderlich. Tagsüber arbeitete ich schwarz in der Schreinerei, in der Artur seine Lehre gemacht hatte, nach Feierabend wärmte mich das Heroin. Am Wochenende gönnte ich mir, wann immer mein Lohn es zuließ, ein paar Gramm Kokain dazu. Verwirrt ging ich zu Michael, er war der Einzige, der einen Zweitschlüssel zu meinem Zimmer hatte. Er musste wissen, wo das Bild herkam. »Karina war heute Nachmittag hier«, sagte Michael und machte ein Gesicht wie ein Polizist in einem Krimi, wenn der die Frau eines Kollegen von dessen Tod in Kenntnis setzen muss. »Sie hat sich meinen Schlüssel geliehen und das Foto auf deinen Tisch gelegt. Das ist ein Ultraschallbild. Darauf kann man erkennen, dass Karina schwanger ist. Es sieht so aus, als würdest du Vater.« »Ähm, herzlichen Glückwunsch«, sagte Michael noch. Völlig verwirrt rief ich von seinem Telefon Karina an, in meiner Wohnung gab es keine Telefonleitung, und fragte, ob sie sicher wäre, dass ich der Vater ihres Kindes sei. Sicher war sie nicht, zumindest nicht hundertprozentig. Eine Nacht mit einem anderen Mann hatte es in jener Zeit gegeben, aber damit standen meine Chancen immer noch ziemlich hoch. »Ich will dieses Kind bekommen«, sagte Karina. »Mit oder ohne Vater.« Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich wollte. Seit Monaten kämpfte ich verbissen darum, mich und mein Leben nicht vollständig den Drogen auszuliefern. Immer, wenn mir meine Situation zu bedrohlich erschien, klaubte ich ein wenig Geld zusammen und entgiftete an irgendeinem europäischen Strand. Bekam ich das Geld nicht zusammen, fuhr ich zu Detlef, meinem 114
Jugendfreund, der mittlerweile in Lübeck lebte, nach seiner zweiten Therapie völlig drogenfrei. Oder auf die schwäbische Alb; dort besuchte ich Hans, er war einer der Hobbyfotografen, die mich damals auf meine Anzeige hin als Aktmodell verpflichtet hatten. Hans lebte mit Frau und zwei Kindern in der Nähe von Ulm, dort bewirtschaftete er einen Familienbetrieb, zu dem Landwirtschaft, eine Metzgerei und eine Gaststätte gehörte. In den vergangenen Jahren war ich häufig in Krisenzeiten bei Hans untergekrochen. Wenn mein Zustand es zuließ, half ich ihm bei den anfallenden Arbeiten, hackte Holz, schlachtete Schweine, zog Rehen die Haut vom Körper oder servierte Getränke. Nach solchen Selbstentgiftungen schrieb ich mich im Wintersemester 87/88 für ein Studium der Germanistik und Philosophie an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf ein, machte meinen Führerschein und begann, für eine Mönchengladbacher Stadtzeitung zu schreiben. Eine Art Tauziehen mit der Sucht, das ich am Ende immer verlor. So besuchte ich in den zwei Jahren, die ich an der Universität eingeschrieben war, höchstens zehn Vorlesungen. All meine Bemühungen rissen mich immer nur für einige Tage, Wochen oder bestenfalls wenige Monate aus dem ewig gleichen Trott. An einem Freitagabend im Spätsommer 1987 brach ich gemeinsam mit Artur in dessen Golf nach Venedig auf. Wir wollten der öden Wochenendroutine, die zuverlässig im Drogenrausch endete, entkommen und uns ein entspanntes Wochenende gönnen. Aber Venedig war heiß, voller Menschen und stank. Schon in der Nacht auf Sonntag beschlossen wir, völlig betrunken, wieder nach Hause zu fahren. Wir kamen nur wenige Kilometer weit. Auf einer italienischen Landstraße rammte Artur bei 115
einem Überholversuch zwei Wagen, hinter uns kam es durch eine Vollbremsung zu einem weiteren Auffahrunfall. Als die Polizei am Unfallort eintraf, standen fünf schrottreife Autos auf der Straße und Artur lag auf der Motorhaube seines Wagens, tief und fest schlafend. Es gelang mir kaum, ihn aufzuwecken. Unsere Heimreise mussten wir am Sonntagnachmittag mit dem Zug fortsetzen, die Überreste von Arturs Auto und Teile unseres Gepäcks hatten wir dem Abschleppunternehmen als Bezahlung dagelassen. Am Bahnhof in Mönchengladbach angekommen, beruhigten wir unsere malträtierten Nerven als Erstes mit Heroin. Am 31.12.1987 feierten einige meiner Freunde eine Silvesterparty in einem ziemlich maroden alten Schloss, wo sie die obersten Etagen bewohnten. Mitternacht war lange vorüber, Artur und ich hatten uns mit Heroin, Kokain und ein wenig LSD zugeknallt und wanderten durch die Wiesen und Felder hinter dem Schloss. Artur wollte für eine Weile raus aus dem Trubel und erklärte mir unterwegs, dass er in dieser Nacht die Antwort auf alle Fragen der menschlichen Existenz gefunden, aber sofort wieder vergessen habe. Als wir zurück in das Schloss kamen, traf ich Karina, ein hübsches Mädchen mit leicht schräg stehenden Augen, im Flur. Sie hatte gerade ihre Jacke angezogen, war auf dem Weg nach Hause. Wir redeten nur kurz miteinander, irgendwann war sie verschwunden, ohne mir ihre Telefonnummer oder Adresse zu hinterlassen. Ich verliebte mich, wie so oft, auf Anhieb, wollte sie unbedingt Wiedersehen. Aber es kostete mich in den kommenden Tagen viele Telefonate mit Freunden und Bekannten, bis ich zumindest ihre Nummer herausgefunden hatte. Und selbst dann dauerte es noch 116
Tage, bis wir endlich länger miteinander reden konnten. Ich besaß schließlich kein eigenes Telefon und Michael vergaß häufig, mir Anrufe auszurichten. Karinas Telefon war gestört, oft brach die Verbindung mitten im Gespräch ab. Kurz nach unserem ersten Telefonat verabredeten wir uns, am gleichen Tag wurden wir ein Paar. Eine Zeit lang half mir meine Verliebtheit dabei, meinen Drogenkonsum im Zaum zu halten. Aber schon nach wenigen Monaten lief ich wieder in der ewig gleichen Tretmühle von Drogen- und Geldbeschaffung. Karina liebte Pferde und Hunde und arbeitete in einem Tierheim. Sie nahm keine harten Drogen, Haschisch und Alkohol genügten ihr. Einige Monate, nachdem wir uns kennen gelernt hatten, verlor sie ihren Job im Tierheim. Immer häufiger lag sie, wenn ich abends in die Wohnung kam, noch im Bett, weil es ihr zu lästig erschienen war, aufzustehen und aus den warmen Decken zu kriechen. Ihr kleiner Hund hatte indessen in die Wohnung gekackt. Oft ließ ich meine Wut dann an dem Hund aus. Bald stritten wir uns täglich. Im Juni trennten wir uns. Wenige Wochen, nachdem ich von Karinas Schwangerschaft erfahren hatte, entschied ich mich zu meiner ersten stationären Entgiftung. Ich wollte der Vater dieses Kindes sein, egal, was der Vaterschaftstest acht Monate nach der Geburt ergeben würde. Nur mit klarem Kopf, das wusste ich, hatte ich überhaupt eine minimale Chance, der bevorstehenden Aufgabe gewachsen zu sein. Außerdem waren mir die Drogen mittlerweile schal geworden, ich nahm sie aus Gewohnheit und vor allem, weil ich die Entzugserscheinungen und die Ernüchterung fürchtete. Der Heroinrausch hatte viel von seiner anfänglichen Faszination verloren. Ich meldete mich im Erkelenzer Krankenhaus an, aber in den achtziger Jahren waren die Ärzte dort auf einen 117
Drogenentzug nicht vorbereitet. Sie steckten mich in ein Mehrbett-Zimmer auf der Inneren Männerstation. Im Nebenbett lag ein älterer Mann, der sich von einem Herzanfall erholen sollte. Die Ärzte pumpten mich mit Medikamenten voll, die sie sonst bei Alkoholentzug einsetzten. Die meiste Zeit war ich so weggetreten, dass ich kaum auf meinen Beinen stehen konnte, wurde aber sogar durch den Medikamentennebel von Entzugsschmerzen und Schlaflosigkeit gepeinigt. Die halbe Nacht wankte ich wie ein Gespenst durch Zimmer und Flure. Meine stetige Unruhe trieb meinen Bettnachbarn beinahe in seinen nächsten Herzanfall. Wenn ich es gar nicht mehr aushielt, rief ich einen Freund an und ließ mir Drogen ins Krankenhaus bringen. Nach 14 Tagen wurde ich entlassen, immerhin soweit clean und stabilisiert, dass es mir gelang, mich ohne die Hilfe der Droge durch die Tage zu schleppen. Ich hielt mich von meinen Drogenfreunden fern und begleitete Karina zu ihren Vorsorgeuntersuchungen. Von Tag zu Tag fühlte ich mich besser. Karina war durch die Schwangerschaft auf wundersame Weise aufgeblüht. Innerhalb weniger Wochen hatte sie ihr Leben in den Griff bekommen, eine Wohnung gemietet und begonnen, sich, ihrem Kind und ihrem Hund ein Nest zu bereiten. Warum sollte mir das nicht auch gelingen? Ich fand einen Job als Speditionsfahrer, zuerst nur zur Aushilfe, aber immerhin, und mietete mir eine Drei-Zimmer-Wohnung in Mönchengladbach, wenige Straßen von Karinas Wohnung entfernt. Den Abend, an dem Karinas Wehen einsetzten, saß ich mit Helmut in meinem VW Jetta, jeder zwei Sixpacks Becks in Griffweite. Helmut hatte sein Studium in Düsseldorf beendet und wohnte wieder im Rheinland, wir sahen uns häufig. Vor allem, seit ich nicht mehr drückte. 118
Wir parkten auf einem abgelegenen Wirtschaftsweg, mein Autoradio spielte »Teenage Kicks« von den Undertones, »Lust for Life« von Iggy Pop und R.E.M.s, »It’s the End of the World as We Know It (and I Feel Fine)«, wir tranken unser Bier, sahen über die dunklen Felder in die mondhelle Nacht hinaus und redeten über all das, was vor und hinter uns lag. Helmut sprach mir Mut zu. Immer wieder erklärte er mir, wie gut es sei, endlich wieder normal mit mir reden zu können. In den letzten Jahren war Helmut meist die Aufgabe zugefallen, mir in Notsituationen Geld oder Wagen zu leihen und mir Obdach zu gewähren, wenn ich nicht mehr in der Lage war, zurück in meine Wohnung zu finden. Er erinnerte mich an einen Abend vor einigen Wochen, in seinem Wagen, auf einem Feldweg wie diesem. Ich hatte ihn gebeten, kurz anzuhalten, damit ich mir mit dem Wasser aus einer Pfütze an Wegesrand mein Heroin aufkochen und injizieren konnte. Damals, sagte er, sei er kurz davor gewesen, mich aufzugeben. Als ich Helmut nach Mitternacht in seiner Wohnung absetzte, wartete seine Freundin schon in heller Aufregung auf uns. Karina hatte angerufen, die Wehen hatten begonnen. Die Geburt dauerte zwölf Stunden. Ich hielt Karinas Hand, massierte ihren Rücken und redete ihr zu. Nachmittags um 14.10 Uhr wurde Klara geboren. Es war der beeindruckendste Tag meines Lebens. Noch Tage später saß ich in den Momenten, in denen ich nicht bei Karina und Klara im Krankenhaus sein konnte, nur mit abwesendem Lächeln in Kneipen oder bei Freunden herum, unfähig, an etwas anderes zu denken. Als Karina aus dem Krankenhaus entlassen wurde, suchte ich jede freie Minute die Nähe der beiden. Zu dritt unternahmen wir lange Spaziergänge oder besuchten meine Eltern, die ganz vernarrt in Klara waren. 119
Harmonische Nachmittage mit Kaffee und Kuchen, wie ich sie seit meiner Kindheit nicht mehr erlebt hatte. Dank Klara ruhte sogar der ewige Streit mit meinen Eltern. Trotz all der Kämpfe, die wir in den vergangenen Jahren ausgetragen hatten, erkannte ich, dass die beiden wunderbare Großeltern waren, freundlich und liebevoll. Oft blieb ich die Nacht über bei Karina, auch wenn wir unsere Beziehung offiziell nicht wieder aufgenommen hatten, so hatte uns die Geburt doch einander wieder näher gebracht. Lange hatte ich mich nicht mehr so im Frieden mit der Welt gefühlt. Doch nachts, wenn Klara in ihrem Bettchen schlief und ich untätig vor dem Fernseher saß, begann ich, mich unwohl zu fühlen. Ich war gerade 23 Jahre alt, hatte keine Ausbildung und keine Idee, wie mein Leben weitergehen sollte. War ich all dem wirklich gewachsen? Würde ich für ein Kind sorgen können und damit zufrieden sein, für den Rest meines Lebens mit einem Lieferwagen Kühlschränke durch Mönchengladbach zu fahren und vollgeschissene Windeln zu wechseln? Es dauerte nur wenige Monate, bis ich wieder zum Heroin griff. Der Heroinrausch vernebelte all meine Unsicherheiten und Ängste. Die Droge half mir, meinen Gelegenheitsjob so zuverlässig zu erledigen, dass mir bald eine feste Anstellung in Aussicht gestellt wurde. Ich entlastete Karina, wo immer ich konnte, fütterte und wickelte Klara, schob sie im Kinderwagen durch den Park und ging mit ihr zum Babyschwimmen. Wenn sie weinte, tröstete ich sie, warf sie hoch in die Luft, bis sie vor Vergnügen quietschte. Nie ging mir ihr Geschrei auf die Nerven. Doch je häufiger ich in den Heroinrausch flüchtete, der mich so verlässlich besänftigen konnte, desto weniger fühlte ich mich meinem Leben ohne die Droge gewachsen. Bald drückte ich wieder täglich. 120
Das Heroin wirkte gleichermaßen effektiv wie perfide. Zunächst brachte es mir Erleichterung, dann schaffte es ein Elend, das es nur selbst beheben konnte. Es half mir, unangenehme Zustände besser auszuhalten. Gleichzeitig wuchs meine Abhängigkeit. Irgendwann fühlte ich mich nicht mehr in der Lage, nüchtern mit meinem Alltag zurechtzukommen, egal, ob ich unter Entzugsschmerzen litt oder nicht. Mein Leben wurde wieder zusehends stumpfsinniger. Den Großteil meiner Zeit war ich damit beschäftigt, Geld zu verdienen. Davon kaufte ich mir Drogen, die wiederum gewährleisteten, dass ich Geld verdienen konnte. Mein Interesse an Sex und Zärtlichkeit war erloschen, Geborgenheit suchte ich beim Heroin. Mein Körper war eine Maschine, die nur mit dem richtigen Treibstoff funktionierte und ständig kurz davor stand, den Betrieb einzustellen. Ich dachte nicht weiter als bis zu meinem nächsten Druck. An einem Mittwochabend im November 1989 dröhnte ich mich dermaßen zu, dass ich nicht mehr ansprechbar war. Am Nachmittag hatte ich ein Schreiben des Mönchengladbacher Amtsgerichtes erhalten, das mit ein paar spröden Worten meine kleine Familie endgültig auseinander zu sprengen drohte. Ein Doktor Wolfgang Weber teilte mir mit, sein Blutgruppengutachten habe ergeben, dass ich, »der Beklagte, als Erzeuger der Klägerin nicht in Betracht« käme. Da Karina in der fraglichen Zeit ein Mal mit einem anderen Mann im Bett gewesen war, hatten wir uns für einen Vaterschaftstest entschieden. Doch mit diesem Ergebnis hatte ich nicht gerechnet. Klara war doch meine Tochter, daran gab es für mich keinen Zweifel. Das erste und letzte Mal in meinem Leben wünschte ich mir, bei einem Verfahren schuldig gesprochen worden zu sein. Nach dem negativen Vaterschaftstest klammerte ich 121
mich noch stärker an Klara. Ich liebte sie, daran konnte auch die genetische Abstammung nichts ändern. Und ich brauchte ihre Liebe wie ein Verhungernder die Nahrung. Nur wenn ich sie in den Armen hielt, ihr Lächeln sah, fühlte ich etwas anderes als die Taubheit des Heroin oder die Angst vor dem Entzug, gewann ich ein Gefühl für Gegenwart und Zukunft zurück. Als mein Drogenkonsum anstieg, kaufte ich hauptsächlich bei Dealern, die selbst Kinder hatten, mit denen Klara spielen konnte, während ich meine Geschäfte erledigte und mir auf der Toilette, vor ihren Augen verborgen, meinen Druck setzte. Wenn ich nach Holland fuhr, weil die Droge dort deutlich billiger war, nahm ich Klara mit über die Grenze, alberte mit ihr herum und sang »Alle meine Entchen«, während sie in ihrem Kindersitz neben mir saß. Auf dem Rückweg versteckte ich mein Heroin in ihrer Windel. Sobald ich für Momente zur Ruhe kam, quälte mich mein Gewissen. Aber ich sah keinen Ausweg, einem Leben ohne Droge fühlte ich mich nicht mehr gewachsen. Und ohne Klara wäre es nicht mal mehr ein Leben gewesen. Wenn Karina am Wochenende mit Freunden verabredet war, schlief ich in ihrer Wohnung. Wurde Klara nachts wach und schrie, trug ich sie durch die Zimmer, bis sie wieder eingeschlafen war. Dann saß ich vor dem Fernseher, ein 24-Stunden-Programm gab es noch nicht, einzig der Privatsender Tele 5 spielte damals die ganze Nacht hindurch Musikvideos. Immer, wenn ich das Video zu »Being Boring« von den Pet Shop Boys sah, war mir, als zöge jemand eine Schlinge um meine Kehle zusammen. Auf der Leinwand tummelten sich leicht bekleidet junge, schöne Menschen, in stilvollem Schwarzweiß fotografiert. Sie tanzten durch Zimmer und Flure einer Villa, lagen sich in den Armen und küssten sich. Dazu sang Neil Tennant »And we were never being 122
boring/and we were never being bored«. Mir war, als würde er von all dem singen, was ich in den letzten Jahren verloren hatte. Sehnsucht und Verzweiflung zerrissen mich. Noch nie hatte ich mich so abgestorben, so wertlos gefühlt wie in diesen Augenblicken. Wenn ich es gar nicht mehr aushielt, schlich ich in Klaras Zimmer, setzte mich neben ihr Kinderbett und streichelte sie, vorsichtig und unter Tränen. Karina bemerkte erst nach und nach, wie schlimm es tatsächlich um mich stand. Nachdem sie gesehen hatte, dass mir bei einer Autofahrt die Augen zugefallen waren, verbot sie mir, Klara in meinem Wagen mitzunehmen, wenn ich unter Drogeneinfluss stand.
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Schleudertrauma Ich erwachte durch einen heftigen Schlag. Mein Körper wurde aus dem Fahrersitz gerissen, hart schlug ich mit den Rippen gegen das Lenkrad des LKW. Erschrocken riss ich die Augen auf und trat auf die Bremse. Zu spät, die Wucht des Aufpralls schleuderte den vor mir fahrenden Toyota quer über die Fahrbahn in die Leitplanke auf der anderen Straßenseite. Ich lenkte meinen 3,5-Tonner mit zitternden Händen an den Straßenrand und schaltete die Warnbeleuchtung an. An dieser Stelle der A3 kurz vor Köln war die Straßenführung wegen einer Baustelle einspurig, wie durch ein Wunder war der Toyota einem Zusammenstoß mit dem Gegenverkehr entgangen. Ich starrte auf das verbogene Metall und versuchte panisch, meinen Kopf klar zu bekommen. Durch die Windschutzscheibe sah ich rote Warnleuchten blinken und Menschen aufgeregt gestikulierend über die Fahrbahn laufen. Die Uhr in meinem Armaturenbrett zeigte 19.45. »Na großartig«, dachte ich, »das wird mich ein paar Stunden kosten.« Mit großer Verspätung nach Hause zu kommen schien mir in diesem Moment die wahre Katastrophe zu sein, schon seit Stunden litt ich unter den ersten Entzugssymptomen. Am frühen Morgen, kurz nach 7 Uhr, hatte ich meine Fahrt begonnen. Da einer meiner Kollegen in der Spedition krank geworden war, bat mich mein Chef, dessen Tour zu übernehmen. Normalerweise fuhr ich auf der Nahverkehrstour zwischen Düsseldorf, Mönchengladbach und Erkelenz. Diese Arbeit machte ich bereits seit einigen Monaten, aus meiner Aushilfstätigkeit war ein Vollzeitjob geworden. Meine Route hatte ich so 124
geplant, dass sie mich jeden Tag ungefähr zur gleichen Zeit in die Nähe einer meiner Dealer führte. Dort füllte ich meine Drogenvorräte auf und machte mich anschließend wieder an die Arbeit. So kam ich ohne größere Probleme über die 12 bis 13 Arbeitsstunden. Wenn ich versuchte, mir einen Heroinvorrat für einige Tage zuzulegen, nahm ich meist viel mehr, als ich brauchte. Aus diesem Grund hatte ich auch vor einigen Monaten mal wieder mit dem Dealen Schluss gemacht. Immer, wenn ich eine größere Drogenmenge zu Hause hatte, wuchs meine Dosis von Tag zu Tag, irgendwann bekam ich schlicht Angst. Von meiner täglichen Arbeitsroutine abweichen zu müssen beunruhigte mich. Glücklicherweise bewahrte ich mir abends immer genug Heroin auf, so dass ich morgens aus dem Bett und problemlos über den Vormittag kam. Meine Dealer waren vor 14 Uhr selten ansprechbar. Jeden Abend zog ich mir zwei oder drei Spritzen fertig auf und legte sie neben mein Bett. Sobald ich die Augen aufschlug, setzte ich mir die erste. An diesem Tag hatte ich zwei in Reserve, mit viel Disziplin würde ich bis zum Abend damit durchhalten. Meine Tour führte mich tief in den Westerwald. Ich fuhr mit meinem kleinen LKW und einem mit Waschmaschinen, Kühlschränken, Hi-Fi-Lautsprechern, Salznüssen und Nivea-Produkten beladenen Anhänger über schmale Landstraßen, die sich in engen Kurven durch dichte Wälder, sattgrüne Hügel und bergige Ortschaften schlängelten. Für die Schönheit der Landschaft fehlte mir der Blick. Die Fahrt trieb mir schon nach wenigen Stunden den Schweiß auf die Stirn. Wenn mir ein anderer LKW entgegenkam, wurde es eng auf der Straße; mit dem voll beladenen Lieferwagen plus Hänger am Berg anzufahren erforderte Konzentration. Die einzelnen Lieferadressen lagen meist in weit voneinander entfernten Orten mit 125
merkwürdigen Namen, die Wege dorthin waren schlecht ausgeschildert, und meine Kunden schienen immer dann ihre Warenannahme zu schließen, wenn ich gerade auf den Hof fuhr. Gegen Mittag war ich so entnervt, dass ich meine erste Pause einlegte. Ich steuerte eine Parkbucht am Rande der Landstraße an, parkte den Wagen und nahm eine meiner beiden Spritzen aus dem Handschuhfach. Meine Laune besserte sich nach dem Druck nur unwesentlich. Da ich gerade mal ein Drittel meiner Waren zugestellt hatte, wusste ich, der Tag würde lang werden. Meinen nächsten Druck musste ich daher für den frühen Abend aufheben. Die Stunden bis dahin schienen mir endlos. Am frühen Nachmittag rutschte mir eine Waschmaschine aus der Hand. Mein rechter Oberschenkel fing den Sturz ab, die Waschmaschine blieb unbeschädigt. Im Gegensatz zu mir. Trotz der dämpfenden Wirkung des Heroins schoss ein stumpfer Schmerz in mein rechtes Bein. Danach spürte ich jedes Mal, wenn ich bremste, ein lästiges Stechen in meinem Oberschenkel. Anschließend vertändelte ich mehr als eine halbe Stunde damit, eine winzige Straße nach einem Kunden abzusuchen, dessen Hausnummer auf dem Lieferschein falsch angegeben war. Jetzt war mir alles egal. Ich fuhr auf einen einsamen Waldweg und jagte mir den Inhalt meiner letzten Spritze in die Adern, Stunden früher als geplant. Gegen 19 Uhr machte ich mich auf den Heimweg, die letzten beiden Firmen hatten schon geschlossen, als ich vorgefahren war. Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, Beine und Rücken schmerzten. Nur mit Mühe hielt ich meine Augen offen, mein Körper verlangte nach der nächsten Dosis Heroin. Bei Montabaur fuhr ich auf die A3 in Richtung Köln. Noch ungefähr eine Stunde, dann hatte ich es geschafft. Ich trat das Gaspedal durch, die 100 PS 126
beschleunigten den 3,5-Tonner auf 110 Stundenkilometer. Die Monotonie der Autobahn gab mir den Rest. Irgendwann nickte ich für einige Sekunden ein, mein Kopf sank mir auf die Brust. Genau in dem Moment zeigte ein Warnschild den Beginn der Bauarbeiten an, die Höchstgeschwindigkeit wurde auf 60 Stundenkilometer begrenzt. Nichts von all dem bekam ich mit. Auch nicht, dass die Fahrerin vor mir abbremste. Ich fuhr ungebremst mit 110 Stundenkilometern auf ihren Toyota auf. In den letzten Monaten war ich schon häufiger während der Fahrt kurz eingenickt. Beinahe jeden Morgen, wenn ich kurz nach dem ersten Druck meine Fahrt begann, fielen mir auf der Autobahn nach Düsseldorf für Sekunden die Augen zu. Jedes Mal wachte ich auf, kurz bevor ich die Leitplanke oder den vor mir fahrenden LKW rammte. Dann riss ich das Steuer herum oder trat auf die Bremse. Abgesehen von einem heftigen Adrenalinstoß, der mich endgültig aufweckte, war mir nie etwas zugestoßen. Vor einigen Wochen war es besonders eng geworden. Ich war nach Feierabend eingeschlafen, als ich mit meinem Jetta auf dem Weg nach Hause war. Ich wurde wach, weil mir ein heftiger Stoß beinahe das Lenkrad aus der Hand geprellt hatte. Als ich die Augen öffnete, sah ich, dass ich mit zwei Rädern auf dem Gehsteig fuhr. Glücklicherweise waren weder Fußgänger noch spielende Kinder oder geparkte Autos im Weg. Mein Herz hämmerte. Damals dämmerte mir, dass ich mich nicht dauerhaft auf schieres Glück verlassen konnte. Aber ich brauchte das Geld, das ich als Fahrer verdiente. Außerdem bot dieser Job mir die Möglichkeit, mein Einkommen hin und wieder, relativ risikofrei, mit dem Diebstahl von teuren Hi-Fi-Boxen bei einem unserer Großkunden aufzubessern. Die Vorstellung, meinen Drogenkonsum Tag für Tag durch Dealen finanzieren zu müssen, erschien mir ungleich 127
erschreckender. Dafür fehlten mir mittlerweile schlicht die Nerven. Eine Verhaftung und anschließende Verurteilung, da war ich mir sicher, würde ich kaum noch einmal durchstehen. Also vertraute ich weiterhin auf meinen Schutzengel. Dieses Mal war es also schief gegangen. Bevor ich aus dem Wagen kletterte, zwang ich mich nachzudenken. Ich überlegte gehetzt, wie ich möglichst schadlos aus dem ganzen Schlamassel herauskommen konnte. Punkt für Punkt hakte ich eine Liste der möglichen Katastrophen ab. Meine Spritzen hatte ich glücklicherweise direkt nach Gebrauch weggeworfen. Trotzdem sah ich im Handschuhfach nach. Es war leer. Als Nächstes musste ich die Tachoscheibe vernichten. Der Fahrtenschreiber eines LKW notiert Fahrtdauer und Höchstgeschwindigkeit, der Gesetzgeber erlaubt acht Stunden Lenkzeit und, für ein Gespann mit Anhänger, eine Geschwindigkeit von 80 Stundenkilometern. Ich saß seit ungefähr 13 Stunden hinter dem Steuer und war bis zu 110 Stundenkilometer schnell gefahren. Sollte der Polizei mein Fahrtprotokoll in die Hände fallen, wäre ich nicht nur meinen Führerschein los gewesen. Natürlich machte ich mich auch strafbar, wenn ich ohne eingelegte Tachoscheibe fuhr. Aber so blieb mir wenigstens die vage Hoffnung, mich herausreden zu können. Allemal besser als der Polizei einen Beweis für meine Verstöße zu überlassen. Ich öffnete den Fahrtenschreiber und zerriss die runde Papierscheibe. Die Fetzen stopfte ich in die Brusttasche meiner Jeansjacke. Dann dachte ich kurz nach. Was, wenn die Polizisten mich durchsuchen würden? Wegwerfen ging auch nicht, es war doch möglich, dass sie die Umgebung absuchten. Langsam wurde ich paranoid. Die Tachoscheibe musste endgültig und unauffindbar verschwinden. Also riss ich sie in noch kleinere Fetzen, steckte sie in den Mund, kaute sie kurz 128
durch und würgte den Papierbrei hinunter. Dann erst verließ ich das Führerhaus. Die Insassen des Toyota, die junge Fahrerin und ihre Mutter, hatten nur einige Prellungen und einen leichten Schock erlitten. Ich entschuldigte mich. »Hast du nicht gesehen, dass ich gebremst habe«, fragte mich die junge Frau mit noch immer angstgeweiteten Augen. Ich verneinte. Behauptete, ich hätte genau in diesem Augenblick in meinem Autoradio einen Sender mit Verkehrsfunk gesucht und deshalb für einen kurzen Moment nicht auf den Verkehr geachtet. Die gleiche Geschichte erzählte ich ungefähr eine viertel Stunde später auch dem Polizeibeamten, der meine Aussage zu Protokoll nahm. So erklärte ich auch das gänzliche Fehlen einer Bremsspur. Dass ich erst nach dem Aufprall gebremst hatte, als mein Wagen durch den Zusammenstoß schon verlangsamt war, machte es der Polizei unmöglich, meine genaue Geschwindigkeit im Augenblick des Unfalls zu ermitteln. Ich gab an, ordnungsgemäß 80 Stundenkilometer gefahren zu sein. Auf die Frage nach meinem Fahrtenschreiber antwortete ich dem Beamten, ich hätte am Morgen vergessen, eine Tachoscheibe einzulegen. Normalerweise, erklärte ich wahrheitsgemäß, fuhr ich eine andere Tour, ohne Hänger, was wiederum gelogen war, und die Zulassung meines LKWs erlaubte, für Solofahrten auf den Fahrtenschreiber zu verzichten. Eine Lüge, dachte ich, klingt überzeugender, je mehr Wahrheit in ihr steckt. Ich konnte nicht erkennen, ob der Beamte mir glaubte. Meinen desolaten körperlichen Zustand und mein Zittern schien er jedenfalls dem Schock zuzuschreiben. Nachdem sie alle Aussagen aufgenommen hatten, informierten die Polizisten meinen Chef. Da die komplette Front meines Wagens mitsamt den Scheinwerfern zerstört war, konnte ich meine Fahrt nicht 129
fortsetzen. Ein Kollege machte sich auf den Weg, den Hänger und mich zurückzuholen. Um den LKW kümmerte sich ein Abschleppunternehmen. Als ich gegen 23 Uhr auf dem Speditionsgelände eintraf, stand ich kurz vor dem Zusammenbruch. Kalter, übel riechender Schweiß brach mir aus allen Poren, schmerzhafte Krämpfe marterten meinen Darm, meine Nase lief und meine Beine trugen mich kaum noch. Ich betrat das Büro. Dieter, mein Chef, saß hinter dem Schreibtisch, er sah mich nur an, ein großes Fragezeichen in seinem Gesicht. »Frag mich bitte nichts«, würgte ich heraus. »Gib mir einfach nur mein Geld, ich erkläre dir morgen alles. Im Moment kann ich nicht reden.« Schweigend griff er in die Kasse, zog einen 100-Mark-Schein hervor und reichte ihn mir über den Schreibtisch. »Schlaf dich aus. Schaffst du es, bis morgen früh um zehn wieder auf den Beinen zu sein?«, fragte er nur. Ich nickte und sah ihn erleichtert an. »Dann bis morgen«, sagte er. Ich bedankte mich kurz und verließ fluchtartig das Büro. Die zwanzig Minuten, die ich zu meinem Dealer unterwegs war, zogen sich quälend in die Länge. Ich fuhr zu Steffi, Ralfs Freundin, die nur wenige Kilometer entfernt wohnte. Ralf, mein früherer LSD-Dealer, war schon vor Jahren auf Heroin umgestiegen und saß wieder einmal im Gefängnis. Jetzt fuhr Steffi täglich nach Holland und versorgte Ralfs Kundenstamm. Da der Preis für Heroin während der letzten Jahre in Holland deutlich gefallen war und Steffi mir die Droge zu einem guten Kurs verkaufte, ohne die üblichen Zuschläge für Kleinabnehmer, kam ich mit den 100 Mark, die ich täglich bar ausgezahlt bekam, meist über den Tag. Nur an den 130
Wochenenden wurde es eng. Als ich schließlich mein Heroin in den Händen hielt, zitterte ich so stark, dass ich nicht in der Lage war, den Löffel ruhig zu halten. Steffi hatte Mitleid und zog mir die Spritze auf. Kaum rauschte die Droge durch meine Adern, beruhigten sich alle Körperfunktionen in Sekundenschnelle. Als ich kurz darauf die Tür zum Bungalow meiner Eltern öffnete, fühlte ich mich beinahe wieder wie ein Mensch. Sie hatten mich wieder bei sich aufgenommen, als ich meine Miete nicht mehr zahlen konnte. Ich schlief in dem kleinen Zimmer neben der Eingangstür, das mein Bruder früher bewohnt hatte. Nach meinem Auszug hatte er das Kellerzimmer bezogen, und obwohl er in Köln studierte, fuhr er jedes Wochenende nach Hause zu meinen Eltern. Der Drogenberater in Mönchengladbach, bei dem meine Eltern schon vor Monaten Rat gesucht hatten, hatte ihnen eingeschärft, es sei ein großer Fehler, mich in ihrem Haus wohnen zu lassen und zu verköstigen, sie müssten mich mit meinem Elend alleine lassen, sonst würde ich niemals etwas gegen meine Sucht unternehmen. Doch das brachten sie nicht fertig. Zu meinem Glück und zum Unglück für meine Mutter, sie schien beinahe noch mehr unter meinem Elend zu leiden als ich. Während ich mich in den Heroinrausch flüchten konnte, blieb ihr nichts anderes übrig, als daneben zu stehen und zuzusehen, wie ich langsam vor die Hunde ging. Sie ging kaum noch unter Menschen und weinte jeden Tag viele Stunden. Immer, wenn ich mit dem LKW unterwegs war, stand sie Höllenängste aus, fiel erst in einen unruhigen Schlaf, wenn sie meinen Schlüssel im Türschloss hörte. Am Morgen nach dem Unfall wurde ich ins Lager versetzt. In Zukunft war ich dafür zuständig, die einfahrenden LKWs zu beladen und zu entladen und über 131
die Lagerbestände Buch zu führen. Ich fuhr nur noch kurze Strecken mit dem Gabelstapler. Dieter wollte keine weiteren Unfälle riskieren. Vorhaltungen machte er mir keine. Zum einen wusste er wohl, dass die Tour in vorgeschriebener Zeit und Geschwindigkeit kaum zu bewältigen war. Zum anderen hatte ich ihm gegenüber aus meiner Drogensucht kein Geheimnis gemacht. Er hatte wenig geschockt reagiert. Da er neben seiner kleinen Spedition noch ein teures Bordell in der Nähe von Düsseldorf unterhielt, waren ihm Drogen, Kriminalität und Ärger mit der Justiz nicht fremd. Außerdem war er Pragmatiker und wusste meine Arbeit zu schätzen. Nicht nur, dass ich meine Tour in Rekordzeit erledigte, ich war beinahe ständig verfügbar und kein Auftrag war mir zu viel. Die Heroinabhängigkeit hatte mich extrem genügsam gemacht. Solange sichergestellt war, dass ich meine regelmäßigen Rationen bekam, arbeitete ich wie eine Maschine. Zu abgestumpft, um gelangweilt zu sein, zu bedürfnislos, als dass ich viel Zeit mit Essen oder Schlafen verschwendet hätte. Ich dachte nur daran, dass jede Stunde mir mehr Geld für Heroin einbrachte. Es kam vor, dass mein Chef mich am späten Abend anrief, kurz nachdem ich meine zwölfstündige Tour beendet hatte, und mich bat, für einen erkrankten Kollegen die Nachtschicht zu übernehmen. Dann fuhr ich in die Firma, und Dieter zahlte mir mit den Worten »Gehst du dich wieder intravenös ernähren« einen Vorschuss auf die Nachtarbeit aus. Anschließend besuchte ich meinen Dealer, und gegen 23 Uhr war ich wieder bei der Arbeit. Nachdem ich die LKWs beladen hatte, schlief ich zwei, drei Stunden und saß morgens um sechs wieder am Steuer. Wenige Tage nach meiner Beförderung zum Lagerleiter schickte Dieter mich mit einem Scheck über 10.000 Mark 132
zur Bank. Ich war mir nicht sicher, ob das als Test oder Vertrauensbeweis gedacht war. Nachdem ich das Geld auf das Firmenkonto eingezahlt hatte, machte ich einen kurzen Abstecher zu Karin. Karin und ich hatten vor Jahren für eine kurze Zeit zusammengewohnt, in unserem Haus in Baal. Damals war sie Detlefs Freundin gewesen. Bis vor einigen Monaten hatten wir gemeinsam gedealt, ich hatte das Heroin in den Niederlanden geholt, sie hatte es in kleinen Portionen weiterverkauft. Seit ich aus dem Geschäft ausgestiegen war, verkaufte sie auf eigene Rechnung weiter. In unserer Szene wechselten Dealer und Kunde häufig die Rollen. Als ich an ihre Tür klopfte, war sie gerade auf dem Weg zu einem Kunden. Ich kaufte für 50 Mark Heroin, sie klaubte die Briefchen aus einem Tütchen in ihrer Unterhose. Seit ihr vor einigen Tagen jemand die Tür eingetreten und die Wohnung durchwühlt hatte, bewahrte sie ihre Drogen immer am Körper auf. Ich hätte mir gerne noch mein Heroin aufgekocht, doch Karin drängte zur Eile. Ich verstaute die Drogen in meinem Schlüsselanhänger, einem schwarzen Ledermäppchen mit je einem Reißverschluss auf der Vorder- und Rückseite. Als ich die Wohnung verlassen wollte, lief ich zwei Drogenfahndern in Zivil in die Arme. »Herr Böckem, wohin denn so eilig, bleiben Sie doch hier«, sagte der eine. Karin war noch in der Wohnung, durch die Eingangstür vor den Polizisten verborgen. Als sie die Stimme hörte, griff sie in ihren Slip und ließ das Tütchen mit dem Heroin mit einer schnellen Bewegung in ihrer Vagina verschwinden. Die Beamten wiesen Karin an, sich mit erhobenen Händen an der Wand aufzustellen und forderten per Funk eine Kollegin an, die sie durchsuchen sollte. Einer der beiden sah sich in der Wohnung um. Karin fragte nach 133
dem Durchsuchungsbefehl. Den brauchten sie nicht, erklärte der Zivilfahnder. Da wir im Zollgrenzbezirk lebten, wäre ein so genannter »begründeter Verdacht« ausreichende Legitimation für eine Leibesvisitation und Hausdurchsuchung bei »einschlägig bekannten Personen«. Der andere Beamte forderte mich auf, meine Taschen auszuleeren und ihm den Inhalt auszuhändigen. Mein Herz raste. Als Erstes gab ich ihm meinen Schlüsselbund, die Seite mit dem leeren Fach ihm zugewandt. Er öffnete den Reißverschluss, sah hinein, fand nichts und legte den Schlüsselbund beiseite. Ohne ihn umzudrehen und die andere Seite zu inspizieren. Ich schwitzte. Dann durchsuchte er meinen übrigen Tascheninhalt und meine Kleidung. Anschließend durfte ich gehen. »Noch mal Glück gehabt«, sagte der Beamte lapidar. Er hatte keine Ahnung, wie viel Glück ich tatsächlich gehabt hatte. Wieso sie just in diesem Moment hier aufgetaucht wären, fragte ich. Offensichtlich waren sie nicht auf eine Hausdurchsuchung vorbereitet, sonst wären sie nicht zu zweit und ohne weibliche Unterstützung aufgetaucht. »Wir haben Sie aus der Bank kommen sehen«, erzählte mir der Polizist. »Und wollten sehen, was Sie so vorhaben. Also sind wir Ihnen gefolgt. Als wir gesehen haben, wo Sie hinfuhren, dachten wir, es könne nicht schaden, Ihnen ein wenig auf die Finger zu sehen. Also bis zum nächsten Mal dann.« Dass meine Akte beim Drogendezernat zu dieser Zeit schon dicker war als das Telefonbuch von Erkelenz und die Polizisten nur noch auf den richtigen Augenblick für meine Verhaftung warteten, erfuhr ich erst Monate später. Auf der Fahrt in die Firma hing ich düsteren Gedanken nach. Die Schlinge um meinen Hals zog sich immer enger. 134
Nach Feierabend fuhr ich zu meinen Eltern. Ich schloss mich auf der Toilette ein und versuchte, mir mein letztes Heroin für den Tag zu injizieren. Aber ich konnte keine intakte Vene finden, die einzige Stelle, die viel versprechend aussah, befand sich an einer Stelle an meinem linken Oberarm, die ich nicht erreichen konnte. Nach einer halben Stunde gab ich entnervt auf. Ich schloss die Badezimmertür auf und rief meine Mutter. »Ich treffe keine Ader«, sagte ich ihr und hielt ihr die Spritze hin, die Flüssigkeit im Inneren war schon mit Blut vermischt, das bald verklumpen würde. »Mach du das. Du hast doch früher als Arzthelferin gearbeitet, du weißt doch, wie das geht.« Sie sah mich an, völlig entsetzt. »Bist du verrückt?«, stammelte sie, am ganzen Körper zitternd. »Stell dich nicht so an«, schrie ich. »Hilf mir, verdammt.« Schluchzend rannte sie aus dem Zimmer. Etwas später gelang es mir, eine Vene zu treffen. Anschließend entschuldigte ich mich unter Tränen bei meiner Mutter. So ging es seit Wochen. Wenn das Heroin durch meine Adern rauschte, war ich meist freundlich und pflegeleicht wie zuletzt vor sehr vielen Jahren. Dann empfand ich sogar so etwas wie Dankbarkeit, für mein warmes Zimmer, die Mahlzeiten, die meine Mutter mir zubereitete, die Zuneigung, mit der meine Eltern Klara in die Familie aufnahmen, auch nachdem der Bluttest ergeben hatte, dass ich nicht ihr leiblicher Vater war. Sobald jedoch der Entzug seine Klauen in meinen Körper schlug, tyrannisierte ich rücksichtslos jeden in meiner Familie. Erst vor wenigen Tagen hatte ich, völlig 135
weggetreten von einigen Schlaftabletten, meinen Vater übel beschimpft, weil der sich weigerte, mir meinen Autoschlüssel auszuhändigen, nachdem er gesehen hatte, dass ich kaum auf meinen Beinen stehen konnte und bei dem Versuch, den Flur zu durchqueren, gegen einen zwei Meter breiten Schrank gelaufen war. Am Ende erklärte er sich sogar bereit, mich zu meinem Dealer zu fahren. Ich war völlig am Ende. Erst jetzt entschied ich mich, es mit einer Drogentherapie zu versuchen.
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Die Anstalt Beinahe ein Jahr dauerte es, bis ich endlich in der Drogentherapie aufgenommen wurde. Die Wartezeit wäre mir beinahe zum Verhängnis geworden. Nachdem ich meine Bewerbungsunterlagen im Frühjahr 1990 eingeschickt hatte, bekam ich einen Aufnahmetermin zugeteilt. An einem Montag Anfang Dezember sollte ich mich vormittags vollständig entgiftet in der Klinik einfinden. Im November kündigte ich meinen Job in der Spedition und ließ mich von meiner Hausärztin zur Entgiftung in ein Krankenhaus einweisen. Die Therapieeinrichtung bestand darauf, dass die Entgiftung in einer geschlossenen Station durchgeführt wurde. Anfang der neunziger Jahre existierten in Deutschland nur eine Handvoll solcher Entzugsstationen. In meiner näheren Umgebung gab es keine davon, im Rheinland wurden stationäre Entgiftungen daher in der geschlossenen Psychiatrie durchgeführt. Dort fanden einige der Insassen noch nach Monaten den Weg von ihrem Zimmer in den Speiseraum nicht, andere warfen nachts die Möbel durch den Raum, bis ein Pfleger sie an das Bett fesselte. Wer als selbstmordgefährdet galt, wurde mit Pillen ruhig gestellt, bis er nur noch abwesend aus dem Fenster starrte. Die Alkoholiker, die oft im Koma eingewiesen wurden, fantasierten noch Stunden nach der Einlieferung im Delirium. Viele hier waren zwangseingewiesen, manche sogar entmündigt. In meiner ersten Nacht schlief ich nicht eine Minute. Der Entzug wütete in meinem Körper. Ich bekam keine Medikamente gegen die Schmerzen, sogar Kohletabletten gegen meinen Durchfall und die Darmkrämpfe musste ich 137
mir erbetteln. Kalter Entzug hieß das, der Arzt würde erst dann eingreifen, wenn die Symptome lebensbedrohlich wurden. Die gesamte Nacht über schleppte ich mich über den Flur, von meinem Zimmer in den Aufenthaltsraum und wieder zurück. Sobald ich lag, fühlten sich meine Arme und Beine an, als seien sie in eine Streckbank geraten, ein Ziehen und Reißen, das mich wahnsinnig machte. Mein Körper stand in Flammen. Meinem Verstand ging es noch schlechter. Nachdem die Taubheit der Droge verflogen war, hatten mich nackte Angst und bodenlose Depressionen gepackt. Ich heulte, zitterte; als die Nachtwache mich fragte, was los sei, konnte ich kaum reden. »Ich halte das nicht aus«, stammelte ich. »Ich will nur, dass es aufhört.« Vor allem wünschte ich mir, dass das Denken aufhörte. Ich hatte mein Leben gründlich an die Wand gefahren. Diese Erkenntnis vergiftete jeden meiner Gedanken. Meine Lage erschien mir ohne Ausweg, ich sah keine Chance, alles wieder in Ordnung zu bringen. Dazu, da war ich mir ganz sicher, fehlten mir Mut und Kraft. »Da musst du jetzt durch«, sagte die Nachtwache. »Schließlich hast du dir das selbst zuzuschreiben. Und in der Therapie wird es dir oft noch schlechter gehen.« Hätte ich die Kraft dazu gehabt, ich wäre ihm an die Kehle gegangen. Am nächsten Morgen ließ ich den Arzt noch vor der Visite rufen und unterschrieb, dass ich auf eigene Verantwortung und gegen ärztlichen Rat das Krankenhaus verlassen wollte. Sobald sich die Türen der Station hinter mir geschlossen hatten, rief ich meinen Dealer an und bestellte mir von dem Geld, das meine Mutter mir für kleinere Einkäufe am Krankenhauskiosk zugesteckt hatte, ein Taxi. 138
Sobald das Heroin die Entzugssymptome beseitigt hatte, bedauerte ich meine Flucht aus dem Krankenhaus. Mit Hilfe meiner Hausärztin, die mich schon seit meiner Geburt behandelte, besorgte ich mir am Tag darauf einen neuen Entgiftungsplatz. In der kommenden Woche sollte ich mich in einer ähnlichen Klinik melden. Die Therapieeinrichtung erklärte sich bereit, meinen Aufnahmetermin eine Woche nach hinten zu verlegen. Dieses Mal hielt ich den kalten Entzug nur einen Tag länger durch. Nach meinem Abbruch ging ich nicht zurück zu meinen Eltern. Meine Situation war jetzt völlig verfahren, der nächste Aufnahmetermin in der Therapie war erst im Mai, ich hatte keine Ahnung, wie ich bis dahin durchhalten sollte. Rolf, mein früherer LSD-Stammkunde, vermietete mir ein Zimmer in seiner Wohnung. Dort dämmerte ich tagelang mit dem Rücken zur Heizung auf meiner Matratze, ein anderes Möbelstück gab es nicht, schluckte Pillen gegen den Entzug und starrte die Wände an. Ich wagte mich kaum mehr auf die Straße, sogar die Vorstellung, Drogen zu kaufen, flößte mir Furcht ein. Nur, wenn einer meiner Freunde mich mit seinem Wagen abholte und direkt zu unserem Dealer fuhr, verließ ich die Wohnung. Ab und zu rief Karina mich an, dann redete ich nur vom Tod. Einen anderen Ausweg sah ich nicht mehr. Als ich meine Miete nicht zahlte, warf Rolf mich aus der Wohnung. Wieder nahmen meine Eltern mich auf, unter der Bedingung, dass ich alles dafür tat, meinen nächsten Aufnahmetermin in der Therapie einzuhalten. Sollte ich diesen Termin wieder verstreichen lassen, würden sie mir nicht mehr helfen. Ich fand einen Arzt, der mir Hustenblocker verschrieb. Medikamente wie Remedacen, Kodipront oder Kodein Compretten enthalten einen relativ 139
hohen Anteil an Kodein, ein dem Heroin verwandter Wirkstoff, der, ausreichend hoch dosiert, die Entzugserscheinungen lindert. Ein Wirkstoff, der in geringerer Dosierung auch dem Hustensaft beigemischt war, den ich in meiner Kindheit von unserer Hausärztin verschrieben bekommen hatte. Und vor der Einführung von Methadon das einzig probate Mittel zur Substitution bei Junkies. Anfangs nahm ich 60 Stück täglich, die bei starkem Husten empfohlene Dosierung lag bei zwei Tabletten am Tag. Täglich verringerte ich meine Dosis um ein bis zwei Tabletten. Meine Mutter päppelte mich derweil mit Vitamintabletten und warmen Mahlzeiten notdürftig wieder auf. Mit letzter Kraft stand ich diesen Selbstentzug durch. Wenn ich es wieder nicht in die Therapie schaffen würde, da war ich mir völlig sicher, würde ich spätestens in einem halben Jahr tot sein. Dieses Leben würde ich nicht mehr länger durchstehen. Völlig egal, ob meine Eltern mich nun hinauswarfen oder nicht. Als die stationäre Entgiftung begann, hatte ich es immerhin geschafft, meine Dosis auf vier Kodeintabletten täglich zu reduzieren. Dieses Mal hielt ich die vollen 14 Tage durch. An einem Dienstag im Mai wurde ich in der Fachklinik Hahnenholz im hessischen Reddighausen, einem Dorf an den Ausläufern des Rothaargebirges, aufgenommen. Zu einer neunmonatigen »Entwöhnungsbehandlung«. So nannte es zumindest die BfA, mein Rentenversicherer, der für die Kosten der Therapie aufkam. Am nächsten Vormittag fand, wie jeden Mittwochmorgen, die so genannte Großgruppe statt. Normalerweise waren die 40 Patienten in vier Kleingruppen aufgeteilt, die das Therapieprogramm gemeinsam durchliefen. Nur mittwochs trafen sich alle 140
Patienten mit allen Therapeuten und besprachen jene Angelegenheiten, die die gesamte Hausgemeinschaft betrafen. Dazu gehörten auch krasses Fehlverhalten und disziplinarische Maßnahmen. An diesem Mittwoch ging es um Heike, eine Frau Anfang dreißig, die kurz vor ihrer regulären Entlassung stand. Sie hatte bereits sieben der neun Therapiemonate hinter sich und war am Abend zuvor von ihrem ersten Wochenendurlaub zurückgekehrt. Jedes Mal, wenn ein Patient das Klinikgelände für längere Zeit verließ, wurde bei der Rückkehr sein Gepäck von zwei anderen Patienten durchsucht. So sollte verhindert werden, dass Drogen, Alkohol oder Medikamente in die Klinik geschmuggelt wurden. In Heikes Gepäck wurde bei der Durchsuchung eine Packung Abführtee gefunden. Sie sollte disziplinarisch entlassen werden. Heike musste in der Großgruppe um ihr Verbleiben in der Klinik kämpfen. Ich verstand das alles nicht. Hier ging es doch nur um Tee. Wo war das Problem? Heike war ja nicht wegen Teeabhängigkeit hier, sondern wegen ihrer Heroinsucht. Aber die Therapeuten werteten Heikes Versuch, Abführtee in die Klinik zu schmuggeln, als Rückfall in ein suchttypisches Verhaltensmuster, einen so genannten »Verhaltensrückfall«. Zum einen, weil Heike, wie viele drogensüchtige Frauen, lange unter Magersucht gelitten und Abführmittel zur Gewichtskontrolle benutzt hatte. Zum anderen, weil sie versucht hatte, die Regeln zu umgehen – seit Monaten bedrängte sie den Klinikarzt, ihr ein Abführmittel zu verschreiben, aber der hatte sich mit dem Hinweis auf ihre Essstörung geweigert. Heike durfte bleiben, unter der Voraussetzung, dass sie in genau 14 Tagen in der Großgruppe glaubhaft darlegen konnte, dass sie aus diesem Vorfall etwas gelernt und Konsequenzen gezogen hatte. Gelang ihr das nicht, würde sie in zwei Wochen ihre Koffer packen müssen. 141
Da sie die Therapie anstelle einer Haftstrafe angetreten hatte, erklärte mir Uwe, bedeutete das, sie müsse zurück ins Gefängnis. Die Haftstrafe eines verurteilten Drogensüchtigen konnte zur Bewährung ausgesetzt oder sogar erlassen werden, wenn der sich zu einer Langzeittherapie bereit erklärte. Mehr als die Hälfte der Patienten hatten die Therapie unter diesen Bedingungen angetreten. Ich war freiwillig hier. Aber das hätte auch anders laufen können, seit Ende des vergangenen Jahres lag der Staatsanwaltschaft ein Haftbefehl gegen mich vor, der nur nicht vollstreckt worden war, weil die Drogenfahnder lange Zeit nicht gewusst hatten, wo ich mich aufhielt. Von diesem Haftbefehl erfuhr ich erst, als ich schon in der Therapie angekommen war und damit relativ sicher vor dem Strafvollzug. Ich durfte in der Klinik bleiben, meine Haftstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Uwe hatte sich im Gefängnis für die Therapie entschieden. Er war einige Jahre älter als ich, ein tätowierter Harley-Fahrer mit langen, schwarzen Haaren und einem buschigen Schnauzbart. Uwe hatte lange für eine deutsche Firma in arabischen Staaten als Monteur gearbeitet, dort hatte er zum ersten Mal Haschisch und später Heroin genommen. Dort war er auch wegen Drogenbesitzes auf dem Marktplatz ausgepeitscht worden. Ein gutmütiger Kerl, der viel freundlicher war, als er aussah. Uwe hatte sich vor mehr als zehn Jahren mit HIV infiziert. Die gängige Lehrmeinung damals besagte, dass einem HIV-Positiven vom Tag der Infizierung an noch ungefähr zehn bis 15 Jahre bis zu seinem Tod blieben. Wenn die nächsten Jahre tatsächlich seine letzten sein sollten, dann wollte Uwe sie genießen, drogenfrei und mit klarem Verstand. Ich bewunderte ihn. Uwe hatte bei meiner Aufnahme in der 142
Therapieeinrichtung die Patenschaft für mich übernommen. Jeder Neuankömmling wurde in den ersten Wochen von einem erfahrenen Patienten betreut. Ich konnte Uwes Hilfe gut gebrauchen. In den ersten Wochen erschien mir die Therapie wie eine völlig absurde Welt, deren Regeln ich erst nach und nach begriff. Und Regeln gab es viele. Der Tagesablauf war streng durchstrukturiert. Morgens um sieben wurden wir geweckt, 15 Minuten später mussten wir uns im Hausflur versammeln, dort wurde die Anwesenheit abgehakt. Für einige der verhassteste Moment des Tages. Vor allem Frank, ein 21-jähriger Junge aus Gießen, sah jeden Morgen aus, als würde er noch im Stehen schlafen. Er bekam seine Augen kaum auf, und wenn sein Name aufgerufen wurde, gelang es ihm nur unter großer Anstrengung, den Arm zu heben und »hier« zu sagen. Trotzdem quälte er sich jeden Morgen aus den Kissen. Denn wer fehlte, wurde aus dem Bett geholt und musste in seiner Mittagspause den Spüldienst übernehmen. Da bei jeder Mahlzeit ungefähr 40 Patienten am Tisch saßen, eine sehr lästige Angelegenheit, und Frank war seine Mittagsruhe heilig. Bei mehrmaligem Verschlafen drohten dann krassere Sanktionen. Um 7.30 Uhr begann der Frühsport, er dauerte ungefähr zehn Minuten. Die Teilnahme war für alle verpflichtend. Frank wurde regelmäßig ermahnt, weil er sich immer noch bewegte, als würde er in Treibsand stecken. Eine halbe Stunde später wurde das Frühstück eingeläutet, wer zu spät kam, wurde wieder mit Spüldienst bestraft. Auch das Frühstück selbst war klar geregelt, jeder bekam ein Brötchen, eine kleine Schale Speisequark, Butter, Marmelade und genau zwei kleine Tassen Kaffee. Jeden Morgen florierte bei Tisch ein lebhafter Tauschhandel mit 143
Kaffee, halben Brötchen und Quarkschüsseln. Nach dem Frühstück fanden die verschiedenen Therapiegruppen statt, Gruppengespräche, Sport-, Arbeitsund Kunsttherapie, drei Stunden lang. Dann Mittagessen. Anschließend Mittagsruhe bis 14 Uhr, jeder musste auf sein Zimmer. Von 14 bis 14.30 Uhr gab es Kaffee, wieder maximal zwei Tassen für jeden, und Gebäck. Um 15 Uhr begann das Therapieprogramm aufs Neue. Nach dem Abendessen wurde die Post verteilt, über den Rest des Abends konnten wir relativ frei verfügen. Von 19 bis 20 Uhr durften wir im Gemeinschaftsraum unsere Platten hören, abgesehen von einem Radio war auf den Zimmern keine Musik erlaubt. Ein Plattenspieler für 40 Patienten, ein Plan regelte, wer wann an der Reihe war. Von 20 bis 22 Uhr lief der einzige Fernseher, jeden Tag wurde über das Programm abgestimmt. Zwischen 19 und 21 Uhr konnten wir auch angerufen werden, allerdings nur von Angehörigen und Freunden, mit denen der Therapeut den Kontakt vorher genehmigt hatte. Wieder nur ein Telefon für 40 Patienten, wer die Leitung zu lange blockierte, riskierte eine Menge Ärger. Soziale Kontrolle der Gruppe über den Einzelnen war ein wichtiger Teil des therapeutischen Alltags. Wir durften niemanden anrufen. Wer wollte, durfte in den Abendstunden auch das Schwimmbad, die Sauna, die Sporthalle oder das Volleyballfeld neben dem Spielplatz benutzen. Diejenigen, die schon kurz vor der Entlassung standen und eine entsprechende Ausgangsberechtigung besaßen, durften in den umliegenden Wäldern spazieren gehen oder in der einzigen Gaststätte des Ortes Billard spielen. Rauchen war innerhalb des Gebäudes nur in einem einzigen Zimmer gestattet, dem so genannten Teeraum. Wurden auf einem Zimmer Zigaretten oder Streichhölzer gefunden, konnte das zur Entlassung führen. Cola war auf 144
dem gesamten Klinikgelände verboten. Der therapeutische Leiter der Klinik, ein Mann, der von uns allen respektiert und ein wenig gefürchtet wurde, erklärte uns immer wieder, Drogensüchtige hätten in der Regel ein Strukturproblem. Sie seien in ihrer Persönlichkeit meist nicht gefestigt, hätten weder Halt noch klare Ordnungskonzepte und Grenzen. Außerdem seien sie in ihren Bedürfnissen und Ansprüchen maßlos. In den Jahren auf der Szene sei die Fähigkeit verkümmert, in sozialen Gruppen angepasst zu leben. Süchtige, hieß es, besäßen zudem eine extrem niedrige Frustrationstoleranz und seien es gewohnt, jede Kränkung, jede Verletzung oder Stimmungsschwankung mit Hilfe der Droge augenblicklich zu kurieren. In der Therapie sollten daher Sozialverhalten und neue Bewältigungsstrategien schon im täglichen Zusammenleben eingeübt werden. Erst in den letzten Therapiemonaten ging es dann um Themen wie Eigenverantwortung, Außenorientierung und Selbständigkeit. In der Klinik war beinahe alles verboten, was das Leben draußen ausgemacht hatte: neben Drogen, Alkohol, Gewalt und Gewaltandrohung auch Sex und Beziehungen. Nur wer als Paar aufgenommen wurde, bekam ein gemeinsames Zimmer. Für alle anderen konnten schon heimliche Küsse zur Entlassung führen. Drogensucht, wurde uns beigebracht, sei eben auch der Ausdruck einer schweren Beziehungsstörung, und bevor wir in der Lage wären, uns auf eine Partnerschaft einzulassen, müssten wir lernen, mit uns und unserem Leben alleine zurechtzukommen. Außerdem galt Verlieben als Therapieflucht. Wer verliebt war, so hieß es, schotte sich in der Beziehung von der Außenwelt ab und sei für den Therapeuten nicht mehr zu erreichen. Ein Paar, das sich in der Therapie verliebt, erklärten uns die Therapeuten, sei 145
wie zwei Invalide, die sich aneinander klammern, um stehen zu können. So aber würden sie nie gehen lernen und lediglich irgendwann gemeinsam fallen. Ein Gedanke, der uns allen durchaus einleuchtete. Abgesehen von denen, die sich verliebt hatten. Über alles, was wir taten oder nicht taten, mussten wir Rechenschaft ablegen, in der Gruppe, vor den Therapeuten oder, im schlimmsten Fall, in der Großgruppe. Demjenigen, der jeden Abend nur vor dem Fernseher saß, wurden genauso Verhaltensregeln auferlegt wie dem, der jede freie Minute zum Sport nutzte. So sollten wir darauf trainiert werden, ein maßvolles Gleichgewicht zu finden, bestimmte Muster in unserem Verhalten zu erkennen, zu hinterfragen und zu verändern. Alle Konflikte, alles Fehlverhalten mussten offen in der Gruppe ausgetragen werden, und oft entschieden die Patienten gemeinsam mit den Therapeuten darüber, ob eine ausreichende Verhaltensänderung zu erkennen war. Wer über einen Konflikt in der Therapiegemeinschaft oder einen heiklen Punkt seiner Lebensgeschichte nicht reden wollte, konnte meist sicher sein, dass die Therapeuten besonders nachhaltig insistierten. So wollten sie uns dazu bringen, Verantwortung für unser Leben und Handeln zu übernehmen. Und für unsere Sucht – wir sollten begreifen, dass niemand zufällig oder durch widrige Umstände in die Abhängigkeit rutscht, sondern dass sich jeder von uns an bestimmten Punkten seines Lebens für die Droge entschieden hatte. Nur wenn wir unsere ganz persönlichen Gründe für diese Entscheidung verstehen würden, wären wir in der Lage, in Zukunft eine andere Wahl zu treffen. Deshalb gab es sogar Regeln für den Sprachgebrauch. Wir wurden angehalten, das Wort »man« und damit die Unverbindlichkeit aus unseren Sätzen zu streichen, »ich« zu sagen, wenn es um uns ging, oder »du«, wenn wir unser 146
Gegenüber meinten. Wir sollten lernen, Verantwortung schon mit der Sprache zu übernehmen. Gemeinplätze und Plattitüden waren verpönt, ganz oben auf der roten Liste stand der Satz »Ich kann nicht«. In den meisten Fällen, erklärten uns die Therapeuten, bedeute dieser Satz lediglich »Ich will nicht«. Hier bekam ich zum ersten Mal eine Ahnung davon, dass Sprache die Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern auch gestaltet, dass die Art und Weise, wie ich die Welt und meine Beziehung zu ihr benenne, auch das Wesen dieser Beziehung bestimmt. In der Woche, in der ich aufgenommen wurde, hatten sich die so genannten Regelverstöße so gehäuft, dass die Therapeuten beschlossen, alle Patienten mit Sanktionen zu belegen. Für die Dauer von 14 Tagen wurde eine Kontaktsperre nach außen verhängt, niemand durfte angerufen werden, Briefe wurden nur weitergeleitet, wenn sie von offizieller Stelle kamen. Außerdem mussten Fernseher, Plattenspieler und Radios zwei Wochen ausgeschaltet bleiben, und statt des Kaffees wurde morgens und am Nachmittag Tee serviert. Wer sich nicht daran hielt, riskierte den Rauswurf. Vierzig Junkies, viele von ihnen direkt aus dem Gefängnis hierher verlegt, mussten sich damit abfinden, dass sie behandelt wurden wie kleine, unartige Kinder. In vielen brodelte es. Die ersten verließen die Klinik nach wenigen Tagen. Abgesehen von der schlechten Stimmung im Haus kümmerten mich die Sanktionen nicht sonderlich. Zu Beginn meiner Therapie bereitete mir der normale Tagesablauf schon genug Schwierigkeiten. Ich war so verstört, dass die alltäglichsten Anforderungen mich heillos verunsicherten. In den letzten Jahren war ich nur noch im Rausch durch mein Leben gewankt, ich hatte völlig verlernt, ohne Drogen oder Medikamente mit meinem Alltag, meinen Gefühlen, der Welt und den 147
Menschen zurechtzukommen. Wenn ich durch einen Raum voller Menschen ging, stolperte ich beinahe über meine eigenen Füße, weil ich mich beobachtet fühlte und mich darauf konzentrieren musste, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Wollte ich abends an unserem Klinikkiosk Schokolade kaufen, legte ich mir vorher jedes Wort zurecht. Alles um mich herum erschien mir fremd und merkwürdig, sogar mein eigener Körper. Mir war, als säße ich eingesperrt in einem Burgturm mit dicken Mauern und würde die Welt durch die schmalen Schießscharten betrachten. Die Welt der Therapie war erfüllt von merkwürdigen Menschen und dramatischen Geschichten. Menschen wie Udo, einem Büroangestellten aus Berlin, der mit Ende dreißig in die Therapie kam, weil er seinem Arbeitgeber als notorischer Kiffer aufgefallen war. Udo vertrat die Ansicht, er sei zudem abhängig von Cola und dem – eher milden – Schmerzmittel Thomapyrin. Noch bei seiner Aufnahme war er davon ausgegangen, eine Drogenklinik sei eine Art Sanatorium, in dem er im Liegestuhl in der Sonne dösen dürfe und Krankenschwestern mit kurzen Röcken ihm Mineralwasser servieren würden. Er brauchte Wochen, um sich an die Ansprüche und Abläufe der Therapie zu gewöhnen. Und Monate, den Schock zu verdauen, dass er von Junkies und Kriminellen umgeben war. Hier traf ich auch auf Menschen wie Björn, einen cholerischen Jungen von 21 Jahren und ungefähr 1,60 Meter Größe, der in breitem hessischen Dialekt davon erzählte, wie er im Amphetaminrausch seine Mutter mit dem Baseballschläger zusammengeschlagen hatte, weil die es gewagt hatte, die Sicherung herauszudrehen, als er gerade in trommelfellzerfetzender Lautstärke Speed Metal hörte. Und bei seiner Schilderung völlig unbeteiligt klang, 148
so, als würde er von einem Film erzählen, den er gesehen hatte. Schon nach wenigen Wochen in der Therapie entging er nur knapp einem Rauswurf: Er hatte die Arbeitstherapie in der klinikeigenen Schreinerei dazu genutzt, ein Nunchaku zu basteln, eine chinesische Schlagwaffe, die häufig in Kung-Fu-Filmen benutzt wird. Hier hörte ich auch Geschichten wie die einer jungen Italienerin, die von ihrem Cousin und dessen Freunden drei Tage lang eingesperrt und vergewaltigt wurde. Seit damals hatte sie ihre Wut und ihre Scham jahrelang mit Heroin bekämpft. Jetzt, nüchtern in der Therapie, ging sie auf jeden los, von dem sie sich bedrängt fühlte. Auch meine eigenen Geschichten erschienen hier in einem anderen Licht. Ich erzählte in einer Therapiestunde beiläufig davon, dass ich einige Monate lang ein Mädchen, das ich kannte, jeden Abend mit meinem Wagen über die Grenze nach Holland gefahren hatte. Dort war sie auf dem Straßenstrich anschaffen gegangen, während ich die Autonummern der Freier notierte, zu denen sie in den Wagen stieg. Das tat ich für den Fahrer gut sichtbar, damit er nicht auf die Idee kam, dem Mädchen ungestraft etwas antun zu können oder sie um ihren Lohn zu prellen. Anschließend kauften wir von dem Geld, das sie verdient hatte, Heroin und teilten es untereinander auf. Dieser Episode hatte ich nie besondere Beachtung geschenkt, für mich waren solche Dienstleistungsgeschäfte unter Junkies nichts Ungewöhnliches – wer ein Auto besaß, wurde eben dafür entlohnt, dass er denjenigen, der keines hatte, chauffierte. Doch meine Therapeutin gab nicht eher Ruhe, bis ich widerwillig zugab, dass ich mich wie ein Zuhälter verhalten hatte. Ich sprach über meine Furcht vor Nähe, die Unreife und Rücksichtslosigkeit, mit denen ich meine Liebesbeziehungen geführt hatte. Darüber, dass ich 149
jahrelang dem Rausch des Verliebtseins hinterhergejagt war und immer, wenn das anfängliche Hochgefühl verebbte, das jeweilige Mädchen fallen gelassen hatte wie eine leere Tüte Chips. Wenn es darum ging, Arbeit in eine Beziehung zu investieren, hatte ich mich verdrückt. Und wenn es mir nicht gelang, mich aus einer Beziehung davonzustehlen, benutzte ich dazu die Drogen und Affären mit anderen Mädchen. Langsam dämmerte mir, dass ich vor dem Erwachsenwerden und der Furcht vor dem Versagen in den Heroinrausch geflohen war. Heroin war schließlich die wirksamste Medizin gegen Angst und Unzufriedenheit. Drogenkonsum, begann ich zu begreifen, hatte viel mehr mit Feigheit denn mit Mut zu tun. Manchmal gab mir das Verhalten der Therapeuten auch Rätsel auf. Nach ungefähr vier Monaten, als ich von den unter der Hand kursierenden Porno-Magazinen, die Patienten ins Haus geschmuggelt hatten, gelangweilt war, bat ich Helmut, mir auf dem offiziellen Postweg Nachschub zu schicken. Als das Paket im Haus eintraf, wurde ich umgehend zu einem Gespräch mit meiner Therapeutin gebeten. Sie wollte wissen, wozu ich die Pornos brauchte und aus welchem Grund sie mir diese Magazine aushändigen sollte. Ich erklärte ihr, dass nach all den Jahren, in denen die Droge jedes Interesse am Sex, jedes körperliche Bedürfnis fast völlig unterdrückt hatte, sich der Sexualtrieb jetzt umso stärker bemerkbar machte und dass es mit der Zeit schlicht öde wurde, wenn ich bei der Selbstbefriedigung nur auf meine Fantasie oder auf die ewig gleichen Hefte angewiesen war. Außerdem war ich erwachsen und Pornos weder illegal noch per Hausordnung verboten. Ich war überzeugt davon, nichts Unrechtes zu tun. Trotzdem stand ich jetzt mit dem Rücken an der Wand, gezwungen mich zu rechtfertigen. Die Therapeutin ließ mich spüren, wie sehr sie 150
Pornografie und deren Konsum verabscheute, redete von Frauenfeindlichkeit und dem verzerrten Bild von Sexualität, das diese Hefte vermittelten. Ich erklärte ihr, dass ich Pornos nicht ernster nahm als die Comics meiner Kindheit; Fantasiekonstruktionen, von denen ich sehr wohl wusste, dass sie mit realen sexuellen Beziehungen nicht viel zu tun hatten. Wenn ich Pornos zur Selbstbefriedigung nutzte, hieß das nicht, dass ich anschließend über Frauen herfallen würde wie die Männer in den Heften es taten. Schließlich versuchte ich ja auch nicht, Häuserwände hinaufzuklettern, nachdem ich Spiderman-Comics gelesen hatte. Die Therapeutin ließ nichts davon gelten, am Ende händigte sie mir die Hefte nur aus, weil deren Besitz nicht gegen die Regeln verstieß. Sie sagte, ich sei der einzige Patient in den vergangenen fünf Jahren gewesen, der sich seine Pornos nicht heimlich besorgt hatte. So wie sie mir zugesetzt hatte, verstand ich auch, warum. Nur langsam gewöhnte ich mich in der Klinik ein, und doch dachte ich in den gesamten neun Monaten nicht einen Tag darüber nach, meine Koffer zu packen. Nichts von dem, was hier von mir verlangt wurde, konnte mich so erschrecken wie das, was draußen auf mich wartete. In den ersten Monaten versteckte ich mich regelrecht vor der Droge. Ich versuchte, so viel wie möglich von dem zu nutzen, was mir in der Therapie beigebracht werden sollte. Ich brauchte eine Art Schutzwall zwischen mir und meiner Sucht. Schließlich war ich hier, weil ich alleine nicht mehr zurechtkam. Doch es dauerte bis wenige Wochen vor meiner Entlassung, dass ich mir ein Leben ohne Drogen außerhalb der Therapie überhaupt vorstellen konnte. Zu sehr hatten die Drogen in den vergangenen Jahren mein Leben, mein Bild von mir selbst und meinen Blick auf die 151
Welt bestimmt. »Stellt euch vor«, hatte der Leiter der Klinik uns erklärt, »die Welt, in der ihr lebt, wäre ein Kreis. Eure ganz persönliche Welt, die im Normalfall aus eurer Familie, einer Arbeitsstelle, der Straße, in der ihr wohnt, euren Freunden und Hobbys besteht. Wenn ihr auf Drogen seid, hat dieser Kreis einen ziemlich engen, aber genau umrissenen Radius. Alles außerhalb der Droge hat darin keinen Platz. In dem Kreis hat alles eine ganz klare Ordnung, jeder Tag, alles, was ihr tut, hat ein eindeutiges Ziel, und ihr wisst ganz genau, wie ihr mit Dealern, Polizisten und anderen Junkies umzugehen habt. Euer Platz ist ganz genau in der Mitte dieses Kreises, ihr befindet euch im Zentrum eurer Welt. Wenn ihr hier rausgeht und versucht, ein Leben ohne Drogen zu führen, wird es diesen eindeutigen Zustand nie mehr geben. Ihr werdet dem Mittelpunkt nahe kommen, mal mehr und mal weniger, aber ihn nie erreichen. Damit müsst ihr lernen, zurechtzukommen. Sonst werdet ihr garantiert irgendwann rückfällig.« Er hatte Recht. Ohne die Droge hatte ich völlig die Orientierung verloren. Ich hatte kein Gefühl mehr dafür, wer ich war und was ich mir jenseits des nächsten Drucks vom Leben erhoffte. Mir war, als sei ich schon immer ein Junkie gewesen, mein einziger Lebensinhalt die Droge. Alles andere musste ich mir mühsam zurückerobern. In den letzten Jahren war mir Verweigerung zum Selbstzweck geworden. Nur langsam begann ich herauszufinden, was ich wollte und konnte. Als Erstes schloß ich Frieden mit meinem Körper. Ich hatte vergessen, wie es war, morgens wach zu werden, ohne dass der Entzug mich niederdrückte. Mich den gesamten Tag über kräftig und ausgeruht zu fühlen, nicht auf chemische Hilfe angewiesen zu sein. Mit Appetit zu 152
essen. So lange ich abhängig gewesen war, hatte ich meinen Körper nur dann gespürt, wenn er mich mit Entzugsschmerzen peinigte oder mir mit überflüssigen Bedürfnissen nach Schlaf und Essen Zeit und Geld raubte. Langsam begann ich, Schlaf und regelmäßige Mahlzeiten zu genießen. Oder das Gefühl von Wind und Sonne auf meiner nackten Haut. Nach kurzer Zeit begann ich, Sport zu treiben. Neben den drei Stunden Sporttherapie in der Woche spielte ich in meiner Freizeit Volleyball oder Tischtennis. An den Wochenenden joggte ich durch die nahe gelegenen Wälder. Bisher hatte ich mir aus Sport nicht viel gemacht, in den letzten Jahren war mir jede Bewegung lästig gewesen. Jetzt begeisterte mich das Gefühl, wenn ich nach dem Training jeden einzelnen Muskel spürte, wenn nach dem Joggen das Blut durch meine Adern pulsierte und Endorphine durch meinen Körper rauschten. Oder wenn mir beim Tischtennis ein punktgenauer Schmetterschlag gelang. An drei Abenden in der Woche trainierte ich gemeinsam mit Bernd, einem Junkie aus Köln, in der kleinen Sporthalle mit Kurzhanteln und Medizinbällen, erarbeitete mir mit Hilfe des Sporttherapeuten ein intensives Trainingsprogramm. An einem dieser Abende hatten wir ein Radio mit in die Turnhalle genommen. Während des Trainings spielte der Hessische Rundfunk »Smells Like Teen Spirit« von Nirvana. Ich hörte dieses Stück zum ersten Mal. Beinahe wäre mir die Hantel aus der Hand gefallen. Ich vergaß mein Training, hastete zum Radio und drehte es bis zum Anschlag auf. Dass ich damit riskierte, dass mir das Radio abgenommen wurde, interessierte mich nicht. Seit »Teenage Kicks« von den Undertones hatte ich so ein Lied nicht mehr gehört, die schiere Energie der Melodie, der Überdruss und die Wut in Kurt Cobains 153
Stimme ließen meinen Puls rasen, die Haare auf meinen Armen stellten sich auf. An den folgenden Abenden saß ich gemeinsam mit Peter gebannt vor dem Radio und wartete darauf, dass der DJ Nirvana spielte. Einige Wochen später begann ich, zögerlich zuerst, wieder zu schreiben. Am Anfang nur wenige Sätze, in denen ich versuchte, meine Angst in Worte zu kleiden. Im Spätsommer lud ich meine Eltern in die Klinik ein. Es war Teil des Therapiekonzeptes, Gespräche mit den Angehörigen zu suchen. Sucht, so hieß es, sei immer auch ein Hinweis auf eine Störung in der Familie. Eine These in der Suchttheorie besagt, dass in einer Familie meist der Sensibelste die Störungen im gesamten Beziehungsgeflecht auslebt. Dieser so genannte Symptomträger wird häufig drogensüchtig, Alkoholiker, essgestört oder verletzt sich selbst. Außerdem gingen die Therapeuten davon aus, dass das Umfeld eines Drogenabhängigen meist unbewusst und unbeabsichtigt dazu beiträgt, ihn in seiner Sucht festzuhalten. CoAbhängigkeit hieß das, und die Therapie würde nur dann erfolgreich sein können, wenn diese Co-Abhängigen ebenfalls erkannten, wie Sucht funktionierte und ihr Verhalten änderten. An diesem Tag führte ich zum ersten Mal in meinem erwachsenen Leben ein wirkliches Gespräch mit meinem Vater. Erzählte ihm, wie wütend ich in meiner Kindheit auf ihn gewesen war, weil ich ihn vermisst hatte, wenn er für Wochen auf weit entfernten Baustellen arbeitete und nur an einem Wochenende im Monat nach Hause kam. Erzählte ihm von meiner Enttäuschung und Unsicherheit; davon, wie mir in der Pubertät sein männliches Vorbild gefehlt hatte. Er erklärte mir, wie schwer es ihm gefallen war, eine Beziehung zu mir zu finden. Dass ich ihm von Jahr zu Jahr 154
mehr zu verstehen gegeben hatte, wie wenig er und sein Leben mich interessierten und wie sehr er darunter gelitten hatte. Von seinem Bedauern darüber, dass ich seine Leidenschaft für Fußball nie geteilt hatte. Am Ende umarmten wir uns vorsichtig, das erste Mal seit 15 Jahren. Meine Mutter und ich hatten es noch schwerer. Schließlich war sie immer diejenige gewesen, mit der ich all meine Kämpfe um Selbstbestimmung und Identität ausgetragen hatte. In den vergangenen zehn, zwölf Jahren hatten wir uns in einem Geflecht von Schuld, Enttäuschung, Wut, Scham und Angst verstrickt, das wir kaum aufzulösen vermochten. Obwohl ich ihr für ihre Hilfe und Unterstützung in den letzten Jahren dankbar war – viel mehr als eine Art wohlwollender Waffenstillstand war noch nicht drin. Im September besuchte mich Karina in der Klinik. Diesen Besuch hatte ich seit Wochen gefürchtet, aber ich wusste, dass ich ihn nicht aufschieben konnte. In den letzten Monaten war ich in den Therapiegesprächen zu der Überzeugung gekommen, dass es mir nur dann gelingen würde, drogenfrei zu leben, wenn ich ganz neu anfing, weit weg vom Rheinland, wo mich jede Straßenecke, jedes bekannte Gesicht an die Droge und mein Junkiedasein erinnerte. Weit weg von den Erwartungen und Ängsten meiner Eltern, mit denen ich nicht umzugehen wusste. Und, wenn ich ehrlich war, auch weg von Karina und Klara, von einer Vaterrolle, der ich nicht gewachsen war. Doch diese Gedanken behielt ich zunächst für mich, sie machten mich beinahe verrückt. Klara war das Einzige in diesen elenden letzten Jahren gewesen, was mir gut und richtig erschienen war. Und das sollte ich jetzt aufgeben müssen? Und mit ihr den Traum vom idyllischen Familienleben? 155
Meine Schuldgefühle zerrissen mich. Karina war immer für mich da gewesen, als es mir dreckig ging. Als ich ihr nichts zu geben hatte, nicht einmal Sex oder Zärtlichkeit. Aber ich wusste, dass sie mich immer noch liebte und auf eine Beziehung mit mir hoffte. Wie konnte ich sie dann jetzt, wo es mir wieder besser ging, verlassen? Allein bei dem Gedanken fühlte ich mich wie ein verräterisches Schwein. Und ohne Klara hätte ich die letzten Jahre möglicherweise nicht einmal überlebt. Wenn ich einem Menschen auf diesem Planeten etwas schuldete, dann ihr. Wie konnte ich ihr ihren Vater vorenthalten, wo ich doch selbst meinen Vater in der Kindheit oft schmerzlich vermisst hatte? Ich klammerte mich an die Hoffnung, gemeinsam mit Karina einen Weg aus diesem Durcheinander zu finden. Nach einem Gespräch mit Karina und meiner Therapeutin bekam ich den Tag frei. Karina und ich spazierten Hand in Hand durch Wiesen und Wälder, ein warmer Spätsommertag, die Sonne wärmte unsere Haut. Stundenlang lagen wir im Gras einer Waldlichtung, redeten, streichelten und küssten uns. Ihre Berührungen prickelten auf meiner Haut, als hätte ich zum ersten Mal ein Mädchen im Arm. Trotzdem, in dem Moment, in dem ich sie in die Arme nahm, wusste ich, dass wir keine Chance hatten. Ich liebte sie nicht. Das spürte ich genau, trotz all der Zärtlichkeit und Geborgenheit, die ich empfand. Doch ich brachte es nicht fertig, ihr das zu sagen. Auch nicht, als sie am Abend nach Hause fuhr, erfüllt von Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft. Es dauerte beinahe zwei Wochen, bis ich den Mut aufbrachte, Karina zu beichten, dass ich nicht ins Rheinland zurückkommen würde. Ich hatte nicht die Nerven, es ihr am Telefon zu sagen, also schrieb ich einen langen Brief. Ausführlich erklärte ich ihr die Gründe für 156
meine Entscheidung, erklärte ihr, dass ich mir nichts so sehr wünschen würde, wie ein harmonisches Familienleben mit ihr und Klara. Wie sehr die Erkenntnis, damit überfordert zu sein, mich quälte. Erklärte ihr, wie wichtig es an diesem Punkt meines Lebens für mich sei, zunächst Verantwortung für mein eigenes Leben zu übernehmen. Erst dann konnte ich für andere da sein. Die größten Probleme bereitete es mir, ihr zu schreiben, dass ich sie nicht liebte. Dann bat ich sie um Verzeihung. Der schwierigste Brief meines Lebens, viele Male fing ich von neuem an und zerriss ihn anschließend wieder. Meinen siebten Versuch steckte ich schließlich in einen Umschlag und gab ihn in die Post. Karinas Antwort kam nur wenige Tage später. Nach dem Abendessen verteilte die Nachtwache die Post. Mit schweißnassen Fingern und galoppierendem Puls riss ich den Umschlag auf. Karina hatte mir meinen Brief zurückgeschickt, mit schwarzem Edding hatte sie darunter geschmiert: »Es hat mich gefreut, Sie kennen gelernt zu haben.« Dieser Satz traf mich wie ein Tritt in den Unterleib. Der Schmerz trieb mir die Tränen in die Augen. Peter saß neben mir. Wir teilten uns seit Monaten das Zimmer in der Klinik. »Was ist denn mit dir los?«, fragte er. Ich zeigte ihm den Brief, wortlos, es gab nichts mehr zu sagen. Schon wieder hatte ich alles kaputtgemacht, hatte den Menschen wehgetan, die mir am meisten bedeuteten. Ich lief aus dem Aufenthaltsraum. Musste raus, an die Luft, weg von den anderen, ich fühlte mich so nackt, dass ich niemanden in meiner Nähe ertragen konnte. Doch eigentlich wollte ich weg von mir, am wenigsten konnte ich mich selbst ertragen. »Kommst du klar?«, fragte Peter mich eine halbe Stunde 157
später. Ich zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, oder?« Wir saßen nebeneinander auf dem Klettergerüst eines Spielplatzes, ungefähr zwei Meter über dem Boden, und starrten in den Nachthimmel. Selten zuvor war mir das Licht der Sterne so kalt erschienen. Bis vor wenigen Minuten hatte ich alleine dort oben gesessen, regungslos, und zugesehen, wie die Welt nach und nach in Dunkelheit versank. Irgendwann hatte ich meine Scham und meine Hilflosigkeit in die Nacht hinaus geschrien. Noch immer liefen Tränen über mein Gesicht. Peter legte wortlos seine Hand auf meine Schulter. Peter war Anfang dreißig, vor einigen Jahren hatte er seiner Freundin versehentlich eine tödliche Überdosis Heroin gespritzt. Seit dieser Zeit fraß ihn sein Selbsthass schier auf. Kein sehr umgänglicher Mensch; Peter hatte ein aufbrausendes Temperament, wurde oft sarkastisch und behandelte alle anderen meist mit der gleichen Gnadenlosigkeit, mit der er sich selbst verurteilte. Trotzdem, ich schätzte seinen scharfen Verstand, seine Aufrichtigkeit, Loyalität und Konsequenz. Außerdem verband uns die Begeisterung für den britischen Punk der späten siebziger Jahre und dessen Epigonen, wie ich mochte Peter Bands wie die Undertones, The Clash, The Jam, Joy Division, Echo and the Bunnyman, ABC oder The Smiths. Nach kurzer Zeit waren wir enge Freunde geworden. Und im Moment konnte ich einen Freund gut brauchen. Dieser Tag war der fürchterlichste meiner bisherigen Therapie. Ich fühlte mich wie ausgehöhlt. »Gib ihr Zeit«, sagte Peter. »Sie ist eben verletzt und hat jedes Recht der Welt, wütend auf dich zu sein. Aber du hast die richtige Entscheidung getroffen. Solltest du zurückgehen, würde ich dir kein halbes Jahr geben, bis du 158
wieder drauf bist. Die beiden haben mehr von dir, wenn du weit weg bist und es dir gut geht. Irgendwann wird Karina das auch so sehen.« Ich sah ihn dankbar an. Natürlich hatte er Recht. Aber es dauerte noch Monate, bis ich selbst davon überzeugt war. Am zweiten Weihnachtstag besuchten mich meine Eltern in der Klinik. Sie brachten Klara mit, die mir sofort entgegenstürmte und um den Hals fiel, als sei nichts geschehen. Karina hatte entschieden, den Kontakt zu mir nicht abzubrechen. Ich spielte eine wichtige Rolle in Klaras Leben – und Klara in meinem. Auch wenn wir nicht mehr Vater und Tochter sein konnten, so wollte Karina uns die Möglichkeit geben, selbst herauszufinden, was für eine Art von Beziehung für uns beide sonst noch möglich war. Langsam begann ich, an eine Art Zukunft zu glauben. Auch wenn ich noch nicht wusste, wie sie aussehen würde. Am 6. Januar 1992 wurde ich in diese Zukunft entlassen. Jeder Patient bekam zu diesem Anlass von der Klinik ein kleines Heft mit Gedichten und Sinnsprüchen überreicht. Es war Tradition in Hahnenholz, dass auch einige der Patienten sich darin verewigten, eine Art Poesiealbum für Junkies. »Danke, dass du meinen Arsch ein paar Mal gerettet hast durch einen Tritt in denselben«, schrieb Peter auf die erste Seite meines Heftes. Ein paar Seiten weiter ergänzte er, neben Zitaten aus Liedern von Sham 69, der PIL und den Talking Heads: »Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder bist du heiß oder kalt. Die Lauwarmen spuckt der Herr aus.« Sein Eintrag auf der letzten Seite endete mit »so long, asshole«. Ich zog in eine Nachsorge-Wohngemeinschaft in Hamburg. Dort traf ich Frank wieder, den Jungen, der jeden Morgen beim Frühsport beinahe eingeschlafen war. 159
Er hatte vier Wochen vor mir die Therapie beendet und war in eben diese WG gezogen. Die neu gewonnenen Freiräume nutzte er in den ersten Wochen hauptsächlich dazu, bis mittags im Bett zu bleiben. Peter brach seine Therapie wenige Wochen später ab. Kurz darauf zog die Feuerwehr seine Leiche aus einem Fluss nahe seiner Heimatstadt.
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Frohes neues Jahr Als ich in Hamburg aus dem Zug stieg, eine Sporttasche mit einigen wenigen Kleidungsstücken, eine Menge Pläne und ebenso viel Angst im Gepäck, fühlte ich mich ein wenig wie Tarzan bei seinem Besuch in New York. Die Großstadt überfiel mich mit ihren Menschen und Möglichkeiten, meine Zukunft breitete sich in schillerndsten Farben vor mir aus. Für Hamburg hatte ich mich entschieden, weil ich Journalist werden wollte. Seit ich im Alter von 16 Jahren begonnen hatte, zusammen mit Freunden unser Punk-Fanzine herauszugeben, träumte ich davon, mit dem Schreiben meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. In der Nachsorge-Wohngemeinschaft von Therapiehilfe e.V. in der ich wohnte, sollten aus der Therapie entlassene Ex-Junkies unter Aufsicht den Wiedereinstieg in die Gesellschaft lernen. Eine Art Pufferzone zwischen der totalen sozialen Kontrolle einer Therapie und der völligen Selbstbestimmung. Die Kosten für mein WG-Zimmer in einem Altbau im Hamburger Stadtteil Eppendorf trug das Sozialamt. Erst Jahre später konnte ich mir so eine Wohnlage auf eigene Kosten leisten. Unzählige Stunden streifte ich durch die Straßen, eroberte mir Stück für Stück die Stadt. Die WG war das sichere Nest, in das ich zurückkehrte, wenn mir die Anonymität, die Geschwindigkeit und das Reizbombardement der Großstadt zu viel wurde. Dort fand ich Ruhe und Geborgenheit – Alkohol und Drogen waren nicht erlaubt – und die Gesellschaft von Menschen, die sich in der gleichen Situation befanden. Ich brauchte eine Weile, mich an den Alltag in der 161
normalen Welt, jenseits der Regeln und Mauern der Klinik, zu gewöhnen. Während der Therapie war ich so auf Wahrnehmung und Reflexion gedrillt worden, dass ich auf die Frage »Wie geht es dir« minutenlange, erschöpfende Antworten gab und erst am Ende begriff, dass mein Gegenüber nur eine höfliche Floskel benutzt hatte und nicht an einer dezidierten Beschreibung meines Gemütszustandes interessiert war. An den ersten Tagen blieb ich vor jeder roten Ampel stehen, auch dann, wenn kein Auto in Sicht war, und dachte so lange darüber nach, ob ich die Straße überqueren durfte, bis die Ampel auf Grün umsprang. In der WG lebten wir zu dritt auf 120 Quadratmetern. Mit Frank, der einige Wochen vor mir in der WG aufgenommen worden war, hatte ich mich schon in Hahnenholz gut verstanden, jetzt wurden wir enge Freunde. Petra, ein hübsches Mädchen mit langem schwarzen Haar und perfektem Busen, zog kurz nach uns ein. Sie stammte aus Berlin. Nachdem wir uns eines Abends beim gemeinsamen Fernsehen auf der Wohnzimmercouch wild geküsst hatten, schlich ich mich nachts häufig in ihr Zimmer, und wir schliefen miteinander. Manchmal war sie es, die klopfte. Aber immer im Verborgenen, sie hatte damals einen festen Freund, der in einer anderen Wohngemeinschaft lebte. Im Frühjahr begann ich, Hapkido zu trainieren, eine traditionelle koreanische Kampfkunst. Davon hatte ich geträumt, seit ich als kleiner Junge meinen ersten BruceLee-Film im Kino gesehen hatte. Ich trainierte, so oft ich konnte. Nicht nur, weil ich all die Tritte und Schläge lernen wollte, die mich als Kind fasziniert hatten. Ich begriff schnell, dass sie mir dort noch einiges mehr beibringen konnten. Unsere Lehrer legten einen großen Wert auf die für kleine Jungs eher unspektakulären Anteile 162
des Trainings, auf Atemübungen, Meditation, Akupressur, sie wollten uns lehren, sensibler für unseren Körper zu werden, in der Bewegung unsere Mitte und einen Fokus zu finden. Solche Lektionen konnte ich gut gebrauchen. Zum ersten Mal wurde mir klar, was begreifen tatsächlich bedeutete – nicht nur rational verstehen, sondern anfassen, mit seinen Sinnen spüren. Als ich das erste Mal die Bedeutung einer Fallübung wirklich begriff, über den technisch genauen Bewegungsablauf zu der Erkenntnis gelangte, dass Fallen Teil einer Bewegung sein kann und nicht das Ende der Bewegung bedeuten muss, erschien mir diese einfache Einsicht wie eine Offenbarung. Kurz darauf wurde ein weiterer Traum für mich wahr. Ich hatte mich bei so ziemlich allen Redaktionen Hamburgs um ein Praktikum beworben, schon nach wenigen Wochen kam die Zusage von »Tempo«. Normalerweise waren Wartezeiten von einem halben Jahr auf einen Praktikumsplatz üblich, zufällig war ein Praktikant abgesprungen, wenige Tage nachdem meine Bewerbung auf dem Schreibtisch der geschäftsführenden Redakteurin gelandet war. Sie fragte mich, ob ich schon in der nächsten Woche anfangen könne. Im April begann ich mein vierwöchiges Praktikum. Vor Aufregung schlief ich in den ersten Nächten kaum. »Tempo« war immer meine erste Wahl gewesen. In den achtziger Jahren war die Zeitschrift angetreten, den etablierten Zeitschriftenmarkt in Deutschland gehörig aufzumischen. Die Redakteure hatten ein LifestyleMagazin voller Größenwahn, Subjektivismus, frischen Ideen, einer eigenen, oft radikalen Weltsicht und einem aufrichtigen Bemühen um Stil und Haltung etabliert. »Tempo« scherte sich nicht um die Regeln der Branche. Der Chefredakteur hatte einen Koch angestellt, der ihm während der Arbeit im Büro die Mahlzeiten zubereitete. 163
An feste Arbeitszeiten hielt sich niemand, einige der Redakteure betraten erst gegen Mittag ihr Büro und saßen noch spät in der Nacht dort. Und als es der Redaktion 1988 nicht gelang, ein Heft rechtzeitig zum Erscheinungstermin fertig zu stellen, wurde beschlossen, diese Ausgabe schlicht ausfallen zu lassen und im nächsten Monat eine Doppelnummer auf den Markt zu bringen. Anfang der Neunziger ging die große Zeit des Magazins langsam zu Ende, einige der Redakteure, die den Stil und den Geist von »Tempo« geprägt hatten, waren zu anderen Zeitschriften gewechselt. Michael Jürgs, ehemals Chefredakteur des »Stern«, hatte das Blatt gerade übernommen und sollte die fallenden Auflagenzahlen stabilisieren. Er mühte sich mit nachsichtiger Strenge, die häufig sehr jungen Redakteure zu disziplinierter Arbeit und seinem Verständnis von journalistischer Professionalität zu erziehen, nicht immer erfolgreich. Aber auch noch Anfang der Neunziger bot »Tempo« die spannendste Spielwiese im deutschen Journalismus, in der Redaktion arbeiteten ausgewiesene Könner und Exzentriker. Unter ihnen Astrid Proll, ein früheres Mitglied der RAF, und Annette Simons, die in den achtziger Jahren kurz Berühmtheit als Sängerin der NDWBand Bärchen und die Milchbubis errungen hatte. Ich begegnete Redakteuren wie Otmar Jenner, in den Achtzigern Saxophonist der Hamburger Punkband Ledernacken, der zeitweise in der Redaktion auf seinem Teppich gen Mekka betete. Oder Christian Kracht, in späteren Jahren eine der Galionsfiguren der deutschen Popliteratur, der in der Redaktion an seinem ersten Roman schrieb, eine Nachttischlampe auf seinem Schreibtisch aufgestellt hatte und immer, wenn er nachdachte, an seinem Daumen lutschte. 164
Christoph Dallach, ein besessener Plattensammler, war zu »Tempo« gestoßen, nachdem er Ende der Achtziger seine Kopie einer nie veröffentlichten Platte eines britischen Popstars den Redakteuren für eine Geschichte überlassen hatte. Später sorgte er als Volontär dafür, dass sich »Tempo« als erste große Zeitschrift Deutschlands in jeder Ausgabe mit Comic-Neuerscheinungen befasste. Andreas Banaski hatte vor rund einem Jahrzehnt unter dem Pseudonym Kid P. als Pop-Chronist und schonungsloser Polemiker in der vor Jahren eingestellten Musikzeitschrift »Sounds« für Furore gesorgt. Mittlerweile hatte er das Schreiben eingestellt und verbarg sich in der Dokumentation, einem Raum voller Aktenordner und Zeitschriften, vor der Welt. In den ersten Wochen sprach er mit niemandem in der Redaktion. Für »Tempo« schrieb auch Peter Glaser, dessen Texte ich schon im Düsseldorfer Stadtmagazin »Überblick« bewundert hatte. Ein an den Rollstuhl gefesselter Computerpionier und begnadeter Autor, der Anfang der Achtziger eng mit der Düsseldorfer Musikszene verbunden war und, wie ich meinte, eine Sprache in der Literatur gefunden hatte, die den gleichen Geist, die gleiche Melodie und Haltung transportierte. Viele von denen, die in den Achtzigern und Neunzigern für »Tempo« schrieben, bekleideten Jahre später gehobene Positionen bei Magazinen und Zeitschriften wie »Spiegel«, »Stern«, »Merian«, »Die Welt«, »Süddeutsche Zeitung«, »Cosmopolitan«, »Bild«, »Taz«, »FAZ« und »Die Zeit«. Mir war, als hätte ich eine fremde Welt betreten. Noch gestern, so schien es mir, hatte ich in meiner Therapie einen Antrag stellen müssen, wenn ich mit dem Rad in das Nachbardorf fahren wollte. Und erst vorgestern hatte ich, bekleidet mit einer wild gemusterten Schlafanzugjacke 165
und silbernen Leggins mit Schlangendruck, auf dem Erkelenzer Marktplatz gesessen und darüber nachgedacht, an welchem Grenzort zu den Niederlanden die geringste Gefahr bestand, von Zöllnern kontrolliert zu werden. Jetzt saß ich in Redaktionskonferenzen, auf denen die letzten musikalischen Entwicklungen in Tokio, Tel Aviv und Ibiza oder Modetrends aus London und New York diskutiert wurden. Meine neuen Kollegen jetteten zu Interviews mit Hollywoodstars in weit entfernte Metropolen oder bereisten die Krisengebiete der Welt auf der Suche nach einer aufregenden Geschichte. Noch nie hatte ich Menschen getroffen, die mir so lebenstüchtig, selbstbewusst und weitläufig erschienen. Ich wollte einen Platz finden in dieser Welt. Ich erwischte einen Traumstart. Schon mein erster Text wurde für gut befunden und mit nur minimalen Veränderungen gedruckt. Ich hatte ein Porträt des Autors Helmut Rellergert geschrieben, der unter dem Pseudonym Jason Dark die Groschenromane um den Geisterjäger John Sinclair verfasste. In meiner Kindheit hatten diese Romane mich begeistert. Mein zweiter Artikel wurde bei der monatlichen Heftkritik sogar ausdrücklich gelobt. Aus meiner Drogenvergangenheit hatte ich von Anfang an kein Geheimnis gemacht. Wie hätte ich die großen Lücken in meinem Lebenslauf auch sonst erklären können? Aber hier machte niemand großes Aufheben um mein Vorleben. Obwohl die wilde Zeit in der Redaktion vorüber war – noch vor wenigen Jahren, hieß es, hatten während rauschhafter »Tempo«-Feiern einzelne Redakteure völlig zugekokst zur Musik von Primal Scream, den Stone Roses und den Pet Shop Boys auf den Leuchttischen der Grafiker getanzt, bis Glasscheiben und Tische zu Bruch gingen –, traf ich immer wieder einzelne Kollegen in den Hamburger Clubs, bekifft, besoffen oder zugekokst. 166
Michael Jürgs, der Chefredakteur, erwies sich als höchst liberal und gab mir, dem Ex-Junkie, die Chance, die ich brauchte. Als ich mich am Ende meines Praktikums um die gerade frei werdende Stelle als Volontär bewarb, beauftragte er mich, eine Reportage zu schreiben. Von diesem Text würde er seine Entscheidung abhängig machen. Ich schrieb über die Tournee der Rockband Böhze Onkels, die in den Achtzigern wegen ihrer rechtsradikalen Texte als Nazis galten und sich mittlerweile geläutert gaben. Eine Woche, nachdem ich meine Reportage abgegeben hatte, unterschrieb ich meinen Vertrag als »Tempo«-Volontär. Kurz darauf begann meine Ausbildung, ich flog nach New York, London und Paris, traf die japanische Band Shonen Knife, die isländische Sängerin Björk, die französische Schauspielerin Julie Delpy, den amerikanischen Musiker Moby und den Comiczeichner Jeff Smith. Doch mehr als alle Reisen und Begegnungen nahm mich das Schreiben gefangen. Wenn meine Erlebnisse sich zu Geschichten verdichteten und die Menschen, die ich getroffen hatte, in meinen Texten Kontur annahmen, wenn mir Sätze voller Rhythmus und Melodie gelangen, geriet ich in einen Rausch. Schreiben ordnete die Welt. Wann immer mir die fremden Länder zu fremd und die Großstädte zu groß erschienen, suchte ich mir einen Auftrag, der mich zurück in die vertraute Enge der Provinz führte. Alle sechs bis acht Wochen besuchte ich Klara. Sobald sie mich sah, flog sie mir strahlend in die Arme, kein anderer Mensch schien mehr für sie zu existieren. Ich empfand dasselbe. Obwohl sie mittlerweile wusste, dass ich nicht ihr leiblicher Vater war, nannte sie mich noch jahrelang Papa. Auch mit meinen Eltern verstand ich mich langsam besser. Als sie mich im Sommer in Hamburg 167
besuchten, gemeinsam mit Klara, freute ich mich tatsächlich, sie zu sehen. Ende 1992 zog ich aus meinem WG-Zimmer in eine 45-Quadratmeter-Wohnung in Dulsberg, einem Stadtteil im Nordosten Hamburgs. Mein Leben hätte kaum noch aufregender werden können, da traf ich Miriam. Als ich an meinem ersten Arbeitstag nach dem Urlaub in die Redaktion kam, sah ich sie im Nachbarbüro sitzen. Eine 21-jährige italienische Schönheit, ausdrucksstarkes Gesicht, sanft geschwungene Lippen und ein bezwingendes Lächeln, gerahmt von langem schwarzen Haar, das in lockeren Wellen auf ihre schmalen Schultern fiel. Ein zierlicher Körper, dezent, aber unverkennbar teuer und geschmackvoll gekleidet. Eine Mischung aus Elizabeth Taylor in »Die Katze auf dem heißen Blechdach« und Audrey Hepburn in »Frühstück bei Tiffany«. Miriam war die neue Praktikantin, und ein großer Teil meiner männlichen Kollegen hofierte sie. Anfangs hielt ich mich fern. Mädchen, die derart umschwärmt wurden, bedeuteten in der Regel nur jede Menge Arbeit und ebenso viel Ärger. Außerdem musste es bei zu offensichtlichen Vorzügen immer einen Haken geben, da war ich mir sicher. Als mich der Chefredakteur bat, sie auf eine Recherche mitzunehmen, kapitulierte ich vor ihrem Charme und ihrer Schönheit. Noch lange nach Feierabend saßen wir zusammen und unterhielten uns. An den folgenden Tagen fuhr ich sie nach der Arbeit häufig nach Hause, der Mercedes ihrer Mutter, den sie normalerweise benutzte, war in der Werkstatt. Stundenlang saßen wir dann in meinem VW Jetta und redeten, unempfindlich für die Kälte des Hamburger Winters. Schon nach wenigen Tagen erzählte ich ihr von meiner Drogensucht. Sie war ebenso neugierig auf mich und mein Leben wie ich auf sie. Wir küssten uns das erste Mal an einem frostigen Winterabend 168
Anfang Dezember, auf einer Mauer im Stadtpark. Jeden Tag verliebte ich mich ein wenig mehr in sie. Miriam erinnerte mich an die Mädchen in den Kurzgeschichten von F. Scott Fitzgerald, die ich zu dieser Zeit gerade las. Sie war einer jener Menschen, die wissen, dass sie in dieser Welt einen Hauptgewinn gezogen haben, und die dieses Wissen sicher über die Fallgruben des Lebens trägt. Wenn ich mich verliebte, sah ich in dem jeweiligen Mädchen meist ein Zauberwesen aus einem fremden Universum. Das Problem war, Miriam stammte tatsächlich aus einer völlig anderen Welt. Sie hatte eine internationale Schule besucht und in Mailand studiert, sie sprach neben Deutsch fließend Englisch und Italienisch, außerdem gut Französisch und Russisch. Ihre Großeltern lebten in New York und ihre Eltern wohnten in einem geräumigen Haus in einer Villengegend der Hamburger Elbvororte. Außerdem war Miriam Jüdin. Mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass unterschiedliche Religionszugehörigkeit zu einem Problem in der Beziehung werden könnte. Ich war katholisch erzogen worden, weil meine Eltern und Großeltern katholisch waren. Der Glaube, die Religion und ihre Rituale bedeuteten mir nichts. Miriam bedeuteten die ihren sehr viel. Die meiste Zeit, vor allem an den zahlreichen jüdischen Feiertagen und bei den nicht minder häufigen Familienfesten, lebte sie in einer Welt, die ich nicht verstand und zu der mir der Zugang verwehrt blieb. Dann konnte ich sie weder sehen noch anrufen, ihre Eltern sollten nicht von mir erfahren, sie hätten eine Beziehung zu einem Nichtjuden niemals akzeptiert. In manchen Stadtteilen mussten wir auf getrennten Straßenseiten gehen, wenn wir uns trafen. Nur bei Dunkelheit und in dem Außenbezirk von Hamburg, in dem ich lebte, schlenderten wir Hand in Hand durch die Stadt. 169
Wann immer Miriam sich unter vielfältigen Vorwänden davonstehlen konnte, stürzten wir uns aufeinander. In diesen Stunden schien die Welt einen Schritt zurückzutreten. Vergangenheit und Zukunft, Ängste, Pläne und Träume verblassten zu Schatten am Rande meiner Wahrnehmung. Nur dieser Moment zählte, alles im Universum schien an den richtigen Platz gerückt. Sogar der Rest Sehnsucht, der sonst auch in meinen glücklichsten Momenten irgendwo in den hintersten Regionen meines Bewusstseins gespukt hatte, schien verschwunden, alle Unruhe besänftigt. Ein Zustand, den ich sonst nur für kurze Augenblicke erreichte, an einem guten Tag bei meinem Hapkido Training etwa. Wenn ich Sätze schrieb, die mich begeisterten. Wenn ich beim Tischfußball einen Ball perfekt traf und ich für einen endlosen Augenblick stärker schien als die Schwerkraft und die Gesetze der Physik. Ganze Nachmittage lagen wir auf meinem Bett, redeten und küssten uns, meine Stereoanlage spielte Portishead und das erste Album der Tindersticks, wenn Stuart Staples sang »I lay awake that night/listening to her breathing/thinking how strange it would be if I awoke and she wasn’t there/I can feel myself, feel myself changing/no longer me, I was only a part of her«, wusste ich genau, was er meinte. Ich versank in Miriam, wie ich Jahre zuvor im Drogenrausch versunken war. Ihren Körper zu spüren wurde mir zu einem drängenden Bedürfnis. Wir schliefen so häufig miteinander wie nur irgend möglich, in meinem Bett, auf dem Rücksitz des Wagens oder in klimatisierten Hotelzimmern mit Zimmerservice, die wir eigens zu diesem Zweck gemietet hatten. Danach stand sie irgendwann auf und ging. Anfangs schien mir das Ganze noch romantisch, meine 170
ganz persönliche West-Side-Story. Beinahe jeder meiner Texte geriet zu einer Liebeserklärung an Miriam, gleichgültig, ob ich über Filme, Musik, Flipperautomaten oder Mädchenbäuche schrieb. Doch bald zerfraß das ständige Warten, das andauernde Versteckspiel meine Nerven, und als ich erfuhr, dass ihre Eltern regelmäßig junge jüdische Männer aus guter Familie einluden in der Hoffnung, Miriam würde unter ihnen einen passenden Heiratskandidaten wählen, wurde ich schier verrückt. Wenn wir uns nicht sehen konnten, saß ich nur noch abwesend da und fragte mich, was sie wohl gerade tat und mit welchen perfiden Methoden der Kerl, mit dem sie zum Essen verabredet war, sie verführen würde. Irgendwo hatte ich gelesen, dass die Schwänze von jüdischen Männern besonders groß sein sollten. Danach ging es mir noch schlechter. Wir stritten uns immer häufiger. Ich begriff nicht, warum sie so viel Rücksicht auf ihre Eltern nahm, warum sie nicht das Recht einforderte, sich zu verlieben in wen immer sie wollte und ihre Zeit so zu verbringen, wie es ihr gefiel. Ich hatte das mein ganzes Leben getan. Sie war verletzt, dass ich nicht verstand, wie viel ihre Familie ihr bedeutete, und dass sie den Menschen, die sie liebte, nicht wehtun wollte. »Aber so tust du mir weh«, schrie ich sie an. »Ich weiß«, antwortete sie dann und fiel mir weinend in die Arme. »Egal, was ich tue, immer muss jemand leiden, den ich liebe.« Bald waren wir beide am Ende unserer Kräfte, Miriam aß kaum noch und kollabierte einmal in der Woche. Ich wurde fahrig und gereizt, fand kaum noch Schlaf. Irgendwann erfuhren ihre Eltern von unserer Beziehung. Wenig später, im Dezember 1994, flüchtete Miriam nach London. Dort wollte sie für ein halbes Jahr eine 171
Sprachschule besuchen und Hebräisch lernen. Ein Bruder ihres Vaters hatte ihr eine Wohnung besorgt, zwei Blocks von seinem eigenen Haus entfernt. Der folgende Jahreswechsel war der Anfang vom Ende unserer Beziehung. Am zweiten Weihnachtsfeiertag flog ich zu ihr nach London, aber etwas Entscheidendes schien sich verändert zu haben. Miriam war in England aufgeblüht, hier war sie, befreit vom Ballast der Heimlichkeit und der enttäuschten Erwartungen, wieder zu dem unbeschwerten und lebensfrohen Mädchen geworden, in das ich mich verliebt hatte. Nur, dass ich in dem neuen Leben und unter ihren neuen Freunden keinen Platz hatte. Ich blieb 14 Tage. Silvester verbrachte ich mit Miriam und ihren Freunden. Auch wenn wir noch ein Paar waren und sogar endlich jede Nacht nebeneinander schliefen, so spürte ich doch deutlicher als je zuvor den tiefen Graben, der uns trennte. Miriam begann zu begreifen, was ich in meiner romantischen Sturheit nicht einsehen wollte – dass unsere Beziehung keine Chance hatte, im Alltag zu bestehen, und unsere Leidenschaft füreinander uns mehr schadete als nutzte. Anfang Februar, drei Wochen, nachdem ich wieder nach Hamburg zurückgekehrt war, beendete Miriam unsere Beziehung am Telefon. Ich redete wütend und verzweifelt auf sie ein, versuchte, sie umzustimmen. Sie legte auf und war für den Rest der Nacht nicht mehr erreichbar. Miriam war in London, wie ich wusste, mit einem anderen Mann verabredet, und ich in Hamburg, ohne Ventil für meinen Schmerz und meine Frustration. Ich brach zusammen, lag schreiend und heulend auf dem Zimmerboden. Warf meine Möbel durch die Wohnung und schlug mit der bloßen Faust durch die Glasscheibe in meiner Eingangstür. Als ich aus zahlreichen Schnittwunden blutete, beruhigte ich mich ein wenig. 172
In dieser Nacht ging mehr zu Bruch als meine Wohnungseinrichtung. Monatelang schlief und aß ich kaum, jedes Lied, das ich hörte, jede Straße, durch die ich fuhr, quälte mich mit der Erinnerung an Miriam. Ein Drogenentzug erschien mir nur unwesentlich dramatischer. Aber auf eine merkwürdige Weise verliehen auch die Trennung und der Verlust meinem Leben Form und Richtung. So lange sich alle meine Gedanken um Miriam drehten, so oder so, gab es in meinem Leben keinen Platz für die Droge. Am Ende des Sommers schließlich hellte sich mein Gemütszustand langsam auf. Am 1.1.1996 gegen 4.30 Uhr stand ich an einer Haltestelle der Hamburger Hochbahn, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, und sah in den Himmel. Neujahrsmorgen, noch immer explodierten vereinzelte Raketen und überzogen die Nacht für flüchtige Augenblicke mit silbernem Glanz. In den Straßen prosteten sich die Menschen zu und schwankten Hand in Hand in das neue Jahr. Ich war 29 und fühlte mich älter, als ich je werden wollte. Von dem neuen Jahr versprach ich mir nichts Gutes. Die nächste Bahn fuhr in zwanzig Minuten, in dieser Nacht ein Taxi zu bekommen war in Hamburg ungefähr so wahrscheinlich wie ein kompletter Dezember ohne Regen. Also wartete ich. Ich hatte es nicht eilig, nach Hause zu kommen. Den Silvesterabend hatte ich mit zwei befreundeten Pärchen und einer Kollegin gefeiert. Zu sechst hatten wir in Christophs Wohnung zu Abend gegessen. Christoph war 31 und arbeitete wie ich für »Tempo«, seit dem vergangenen Jahr gehörte er zu meinen engsten Freunden. Nach dem Essen, kurz vor Mitternacht, waren wir mit zwei Flaschen Champagner und einem Dutzend Raketen im Gepäck an das nahe gelegene Alsterufer aufgebrochen, hatten die Flaschen 173
geleert, auf das neue Jahr angestoßen und in den leeren Champagnerflaschen unsere Raketen gezündet. Bald froren unsere Füße und Hände, und wir gingen zurück in die behagliche Wohnung. Christoph spielte Platten von Frank Sinatra und Dean Martin, und wir unterhielten uns. Dass ich immer melancholischer wurde, lag nicht nur an der Musik. Mir wurde klar, dass ich irgendwann alleine nach Hause gehen würde, und ich fühlte mich trotz der Menschen um mich herum ziemlich einsam. Bald darauf verabschiedete ich mich. Auf dem Weg zur Haltestelle verfinsterte sich meine Stimmung zusehends. »Soll es das jetzt gewesen sein?«, dachte ich. Was hatte ich von einem Jahr zu erwarten, das so langweilig begann? In zwei Wochen würde ich 30 Jahre alt werden, eine Zahl, die mir Angst machte. Hörte ich jetzt endgültig auf, jung zu sein? War der Spaß unwiderruflich vorbei? Sollte so meine Zukunft aussehen, nette Leute und nette Abende, die ereignislos dahinplätscherten? Die Vorstellung erinnerte mich so sehr an das Leben meiner Eltern, dass mich schauderte. Ich dachte an Miriam. Daran, wie sehr ich sie vermisste. Oder wie sehr ich es vermisste, sie zu vermissen, ich war mir nicht ganz sicher. An diesem Neujahrsmorgen, fast ein Jahr nach unserem letzten Zusammensein, war sie aus meinem Sehnen genauso verschwunden wie aus meinem Leben. Ich starrte in den illuminierten Nachthimmel, der gerade zwischen roter und grüner Färbung changierte, als sei dort irgendeine Spur von ihr zu finden. Ich fühlte mich leer und verlassen. Sie war nicht mehr da, unbemerkt hatte sie sich aus meinen Gedanken gestohlen. Ich dachte an unseren letzten, gemeinsamen Jahreswechsel. Damals hatten meine Sehnsucht und meine Träume noch ein Ziel und einen Namen gehabt. Jetzt schienen sie mir erschreckend form- und richtungslos. Als die U-Bahn 174
endlich einfuhr, stieg ich ein und setzte mich in die letzte Bank, so weit weg wie nur möglich von den anderen, trunkenen Fahrgästen und ihrer Silvesterseligkeit. Mir war nicht nach Feiern zumute. Wie war es möglich, dass mein Leben mir in dieser Nacht mit einem Mal so fade und unsäglich langweilig erschien? Abgesehen davon, dass ich gerade keine Freundin hatte, lief doch alles großartig. Mein Volontariat hatte ich erfolgreich abgeschlossen, und auch meine neue berufliche Selbständigkeit ließ sich gut an. Ich schrieb weiterhin als Pauschalist für »Tempo« und nebenbei als freier Autor für »Die Woche« und »jetzt«, das Jugendmagazin der »Süddeutschen Zeitung«. Im vergangenen Jahr hatte ich die Hapkido-Prüfung zum 6. Kup, dem Blaugurt, bestanden. Ich war jetzt in der fortgeschrittenen Stufe angelangt. Alles hätte wunderbar so weiterlaufen können, ich liebte meine Arbeit und mein Training. Aber in den letzten Jahren hatte beides viel von seinem anfänglichen Glanz verloren. Schreiben und Hapkido gehörten jetzt zu meinem Alltag. Ein wenig öde war das schon. Wie ein Kaugummi, den man zu lange im Mund behält, war mir mein Leben schal geworden. Ich sehnte mich nach Aufregung. Verlieben wäre nicht schlecht gewesen, aber das ging leider nicht auf Befehl. Und in zwei Wochen würde ich auch noch meinen 30. Geburtstag feiern und damit, so schien es mir, mein fades Leben in Zement gießen. »Ich kann nichts dagegen tun, 30 zu werden«, dachte ich. So schlecht, dass ich mich hätte umbringen wollen, ging es mir nämlich auch wieder nicht. »Aber ich kann dafür sorgen, dass die zwei Wochen bis zu meinem Geburtstag aufregender werden als der heutige Abend.« An der Haltestelle Hauptbahnhof-Süd stieg ich aus. Am Hamburger Hauptbahnhof und den umliegenden Straßen 175
wurde zu jeder Tages- und Nachtzeit Heroin und Kokain verkauft. An Silvester, nahm ich an, würden Angebot und Nachfrage besonders hoch sein. Einen Dealer zu finden war tatsächlich nicht besonders schwierig. Nachdem ich mich einige Minuten suchend auf dem Bahnhofsvorplatz umgesehen hatte, schlenderte ein junger Kerl in einer Trainingshose von Adidas und einer schmuddeligen Bomberjacke an mir vorüber. »Suchst du Schore?« Ich bejahte und folgte ihm in die U-Bahn-Haltestelle unter dem Bahnhof. In einer abgelegenen Ecke kaufte ich für 50 Mark sechs kleine Briefchen, aus zerschnittenen Lottoscheinen gefaltet, mit je ungefähr einem Zehntel Gramm Heroin darin. Eines der Briefchen öffnete ich, der Inhalt sah aus wie Heroin aussehen sollte, ein feines, hellbraunes Pulver. Ich machte mir nicht die Mühe, das Pulver genauer zu untersuchen. »Jetzt kommt der Abend endlich in Schwung«, dachte ich. An der Haltestelle trat ich ungeduldig von einem Bein auf das andere. Die Kälte spürte ich nicht mehr, meine Haut prickelte vor Aufregung, und der Silvesterbraten rumorte in meinen Eingeweiden. Beinahe hätte ich mich übergeben müssen, so flau war mein Magen. Meine düstere Stimmung und die Langweile waren verschwunden. Für einen Augenblick fühlte ich mich tatsächlich wieder wie der Teenager, der zum ersten Mal Drogen über die Grenze schmuggelt. Oder wie der elfjährige Junge, der nachts aus seinem Fenster geklettert war und mit klopfendem Herzen den Waldfriedhof erkundet hatte. In diesem Moment schien mir alles so einfach. Beinahe alle Erinnerungen an meine Teenagerjahre waren durchsetzt mit Drogen. Was lag also näher, als Drogen zu Hilfe zu nehmen, wenn ich die Panikattacken vor meinem 30. Geburtstag eindämmen wollte? 176
Die Angst, die in immer wiederkehrenden Wellen in mein Bewusstsein drängte, rang ich entschlossen nieder. Meine Hochstimmung wollte ich mir auf keinen Fall verderben lassen. Dass ich eine Entscheidung getroffen hatte, die mein Leben unwiderruflich verändern sollte, wollte ich nicht sehen. »Ich bin seit fünf Jahren clean«, dachte ich. »Ich weiß, dass ich ohne Drogen wunderbar leben kann. Kein Problem, mich ein Wochenende lang zuzudröhnen und danach mein normales Leben wieder aufzunehmen.« Einer der schwersten Irrtümer meines Lebens. Zu Hause angekommen, holte ich einen Streifen Aluminiumfolie, ein kleines Messer und ein Feuerzeug aus der Küche, ließ die Jalousien herunter und setzte mich auf meine Couch. Ich schob eine Pulp-CD in meine Stereoanlage, Jarvis Cocker sang »Common People«, ein Lied, in dem er von seiner Beziehung mit einem reichen griechischen Mädchen erzählt. Ich dachte an Miriam, wie immer, wenn ich dieses Stück hörte. Nach einigen Sekunden schaltete ich die Stereoanlage wieder aus, Musik konnte ich jetzt nicht brauchen, erst recht keine, die mich an Miriam erinnerte. Dann riss ich ein zwanzig Quadratzentimeter großes Stück aus der Aluminiumfolie und glühte es mit der Flamme des Feuerzeuges durch. So konnte ich sicher sein, dass ich keine Rückstände von der Folie einatmen würde, wenn ich das Heroin rauchte. Ich wollte mir keine Spritze setzen. So vernünftig war ich noch. Zu deutlich erinnerte ich mich daran, wie viele Junkies in genau dieser Situation an einer Überdosis krepiert waren – der erste Druck nach einer längeren Cleanphase, die Gier nach der Droge und kein Gefühl mehr für die angemessene Dosierung. So ein Risiko war mir mein Ausflug in den Rausch nicht wert. Ich öffnete das erste Briefchen und häufte eine 177
Messerspitze des braunen Pulvers auf die Alufolie. Dann rollte ich einen 20-Mark-Schein zu einem Röhrchen, steckte ihn zwischen die Lippen und nahm die Aluminiumfolie vorsichtig in die linke Hand. Meine Finger zitterten leicht. Mit der rechten hielt ich das Feuerzeug, langsam führte ich die Flamme von unten an die Folie. Die Hitze ließ das braune Pulver zu einem schwarzen Brei schmelzen, der langsam verdampfte. Tief sog ich den Rauch in meine Lungen. Die Wirkung des Heroins setzte ein, als ich das zweite Päckchen zur Hälfte geleert hatte. Wohlige, vertraute Mattigkeit umfing mich. Nicht so aufregend, wie ich gehofft hatte, aber immerhin. Das dritte Päckchen leerte ich noch zur Hälfte. Die Nebenwirkungen setzten mit einer Heftigkeit ein, die ich nicht erwartet hatte. Meine Nase juckte höllisch, und wenn ich die Augen schloss, war mir, als sei ich auf einem Riesenrad festgeschnallt, die Welt um mich herum wogte langsam vor und zurück. An Schlaf war nicht zu denken in dieser Nacht. Aber ich war zufrieden, belämmert auf meiner Couch zu sitzen, Musik zu hören, die angenehm, aber bedeutungslos war, ins Nichts zu starren und an noch weniger zu denken. Mein 30. Geburtstag war in neblige Ferne gerückt. Das Heroin hatte den Überdruss und die Langweile ebenso zuverlässig vertrieben wie die Angst vor der Zukunft. Ich dachte nicht darüber nach, was für ein Feigling ich war. Darüber, dass ich mich in den Drogenrausch und zweifelhafte Teenagerfreuden aus zweiter Hand flüchtete, weil mir das, was vor mir lag, eine höllische Angst einflößte. »Solange du mehr Angst vor dem Leben hast als vor dem Tod, wirst du immer wieder Drogen nehmen«, hatte mir der Leiter der Therapieeinrichtung vor vier Jahren zum Abschied gesagt. Er hatte Recht behalten. Einem Leben als Erwachsener mit all seiner Routine, 178
seinen Verbindlichkeiten, Kompromissen und Zugeständnissen, seinen kleinen, alltäglichen Herausforderungen und Frustrationen, fühlte ich mich nicht gewachsen. Stattdessen versteckte ich mich in einem trotzigen Traum von jugendlicher Rebellion und vernebelte alle Fragen und Unsicherheiten mit Heroinrauch. Noch am nächsten Tag, als ich völlig gerädert, mit wundgeriebener Nase und vom Schlafmangel und Heroin getrübten Augen, den Inhalt der letzten Briefchen rauchte, redete ich mir ein, am Montag sei dieses Intermezzo beendet und vergessen. Wenige Stunden später fuhr ich zum Hauptbahnhof und kaufte noch drei Briefchen für die Nacht. Heißer Sand Die erste Welle des Entzuges erwischte mich schon im Flughafen von Marrakesch. Meine Nase lief, Schweiß stand auf meiner Stirn. Alle zehn Minuten schleppte ich mich zur Toilette, mein Darm konnte den Durchfall nicht halten. »Reisekrankheit«, erklärte ich dem Reiseleiter und der zehnköpfigen Journalistengruppe, mit der ich unterwegs war. Dann schluckte ich die ersten fünf meiner 25 Kodeintabletten. Als zwanzig Minuten später die Wirkung einsetzte, fühlte ich mich ein wenig besser. Trotzdem war mir völlig rätselhaft, wie ich die kommenden elf Tage durchstehen sollte. Schon als ich im Mai den Auftrag angenommen hatte, war mir klar gewesen, dass schlimme Stunden vor mir lagen. Wie grausam es tatsächlich werden würde, dämmerte mir allerdings erst jetzt. Noch vor zwei Wochen schien mir diese Reise durchaus eine gute Idee zu sein. Der Ressortleiter der Hamburger Wochenzeitschrift »Die 179
Woche« hatte angefragt, ob ich eine Reportage über eine Trecking-Tour in der Sahara schreiben wolle. Die Reise sollte in der nächsten Woche losgehen und zwölf Tage dauern. Wir würden nach Marrakesch fliegen und von dort in die Sahara aufbrechen, von Beduinen und Kamelen begleitet, sechs Tage zu Fuß durch die Wüste ziehen, bei völligem Komfortverzicht, Abseits der Zivilisation. Der Vorschlag klang reizvoll. In der Zivilisation fühlte ich mich zur Zeit nicht besonders wohl. Bei meinem geplanten Wochenendurlaub im Land der Morphinträume war es nicht geblieben. Seit zwei, drei Monaten rauchte ich wieder regelmäßig Heroin, zuletzt täglich. In den ersten Wochen des Jahres hatte ich mir noch längere Pausen verordnet, hatte sorgfältig darauf geachtet, mein Training und meine Arbeit nicht zu vernachlässigen. Aber immer häufiger fand ich eine Nische in meinem Alltag, die mir Platz bot für den Rausch. Mein ganz privates, heimliches Vergnügen, von dem ich keinem meiner Freunde erzählte. Sie hätten sich nur unnötig gesorgt. Anfang April 1996 stellte der Jahreszeitenverlag, für uns Mitarbeiter völlig überraschend, dann »Tempo« ein. Die Mai-Ausgabe, die schon weitgehend fertig gestellt war, wurde nicht mehr gedruckt. Mir war, als hätte man mir ein Stück Heimat weggenommen. Bald griff ich jedes Wochenende zum Heroin. Irgendwann wurden die Pausen noch kürzer, und mein Alltag erschien mir ohne die Droge nur noch stumpf und anstrengend. Schon nach wenigen Rückfallen begann mein Körper, sich wieder an die vertraute Wirkung des Heroins zu gewöhnen. Ohne sie fühlte ich mich müde, lustlos, ohne Energie und Antrieb. Wenn aber das Heroin in meinem Blut zirkulierte, war ich erfüllt von seltsam geduldigem Tatendrang, sogar Arbeiten wie Putzen und Spülen gingen mir leicht von der 180
Hand. Ich legte die neuesten CDs von Supergrass, Teenage Fanclub, Oasis und Underworld ein, und ehe ich mich versah, waren Stunden vergangen und meine Wohnung sauber und aufgeräumt. Am nächsten Tag, wenn die Wirkung der Droge verflogen war, lag ich nur auf meiner Couch, starrte abwesend in den Fernseher oder saß an meinem Schreibtisch und mühte mich durch einen Artikel. Ging es um meine Arbeit, misstraute ich der Droge und der selbstgefälligen Genügsamkeit, die sie erzeugte. Ich schrieb nur, wenn ich halbwegs nüchtern und klar im Kopf war. Kurz vor Pfingsten 1996, frühmorgens direkt nach dem Aufwachen, kehrten auch die körperlichen Entzugserscheinungen zurück. Bis dahin hatte ich mir noch vorgaukeln können, mein Rückfall sei nur ein kurzes Intermezzo und bald wieder vorüber. Jetzt stand unwiderruflich fest, ich war wieder abhängig. Ich war dem Zustand, vor dem ich mich vor Jahren in die Therapie geflüchtet hatte, wieder gefährlich nahe gekommen. Panik stieg in mir auf, benommen und bewegungsunfähig starrte ich an meine Zimmerwand. Wie hatte es so weit kommen können? Sollten all die Anstrengungen der letzten Jahre umsonst gewesen sein, das Leid in der Entgiftung, die Therapie, die vier Jahre, in denen ich mir in Hamburg ein neues Leben aufgebaut hatte? In mir gärte Hass auf mich selbst. Wieso hatte ich verdammt noch mal geglaubt, bei meinem kleinen Spiel mit dem Feuer unbeschadet davonzukommen? War ich tatsächlich so ein größenwahnsinniger Idiot? Hatte ich in all den Jahren der Sucht und den vielen Monaten der Therapie gar nichts gelernt? Die Flucht in die Wüste verhieß mir Rettung. Dort würde ich meine Verfehlungen der letzten Monate abbüßen und gleichzeitig zur Entgiftung gezwungen sein – 181
dass ich mich in einem arabischen Land nicht mit Heroin erwischen lassen durfte, war mir nicht erst klar, seit mir Uwe in der Therapie erzählt hatte, dass er in SaudiArabien wegen Haschischbesitzes auf dem Marktplatz ausgepeitscht worden war. Und vielleicht würde ich dort, fernab von Drogen und Alltag, unter dem weiten Wüstenhimmel, endlich wieder klar sehen und mit mir selbst ins Reine kommen. Bis die Reise losging, blieben mir noch zehn Tage. Das sollte ausreichen, mich halbwegs vom Heroin zu entwöhnen. Also sagte ich zu. Natürlich wurde nichts aus meiner Entgiftung. Ich brachte den Mut und die Disziplin einfach nicht auf. Also besorgte ich mir einen Tag vor der Reise eine Schachtel Schlaftabletten und einen kleinen Vorrat an kodeinhaltigen Hustenblockern gegen die Entzugserscheinungen. Diese Tabletten waren zwar rezeptpflichtig, aber einige Ärzte verordneten sie als Substitutionsmittel. Und wer selbst keinen hilfsbereiten Arzt fand, kaufte die Pillen eben auf dem Schwarzmarkt am Hamburger Bahnhof. Dummerweise gab der Schwarzmarkt an dem Tag vor meiner Abreise nicht viel her, und ich musste mich mit einem weit geringeren Vorrat auf den Weg machen, als mir lieb war. Die erste Nacht in Marokko verbrachten wir in einem Hotel am Rande der Wüste. Meine Mitreisenden genossen den letzten Tag in der Zivilisation, entspannten sich im türkischen Bad und sahen von der Hotelterrasse zu, wie die Sonne über der Ebene unterging. Ich flüchtete mich sofort in mein Bett, von Entzugsschmerzen und Angst gemartert, suchte ich wie im Fieber nach einem Ausweg, irgendeiner Ausrede, die es mir erlaubte, den nächsten Flieger nach Hause zu nehmen. Ich fand keine. Selbst wenn ich behauptete, krank und nicht reisefähig zu sein – 182
den Vorschuss des Verlages hatte ich schon komplett ausgegeben, und der Reiseveranstalter hatte vertraglich festlegen lassen, dass jeder von uns die Kosten für eine verfrühte Rückreise selbst tragen musste. Meine Gedanken jagten sich im Kreis. Irgendwann schluckte ich meine Tabletten und wartete auf den Schlaf. Als die Jeeps uns am nächsten Morgen in der Wüste absetzten, war ich kurz davor, mich schreiend an meinen Sitz festzuklammern. So sehr fürchtete ich mich davor, diese letzte Bastion der Zivilisation aufzugeben. Doch ich riss mich zusammen, nahm noch zwei Kodeintabletten und stieg aus. In den ersten Tagen litt ich fürchterlich. Meine Arme und Beine fühlten sich an, als seien sie mit Blei ausgegossen. Mit schweren Schritten schleppte ich mich durch Wüstensand, dessen Farbe mich unablässig an Heroin erinnerte. Zwischen den Felsbrocken und mickrigen Sträuchern, die wie weggeworfen auf der Schotterebene verteilt waren, fauchte der Wind und blies mir Sand in die Augen. In meinen Ohren rauschte es unablässig. Die Sonne stach durch meine Sonnenbrille, schien meine Augäpfel zu versengen. Der Boden voller Geröll, das meine nackten Zehen in den Treckingsandalen malträtierte. Mein Rücken schmerzte, als hätte jemand ein Messer in meine Wirbelsäule gerammt, mein Rucksack schien Tonnen zu wiegen. Nur meine spärlichen Kodeinrationen hielten mich aufrecht, jeder Schritt eine Qual, die Hitze schien die letzten Kraftreserven aus meinem Körper und allen Verstand aus meinem Kopf zu schmelzen. Das brackige Wasser aus den Schläuchen der Beduinen schmeckte wie vorverdaut, nach jedem Schluck revoltierte mein Magen, mit großer Anstrengung hielt ich die Flüssigkeit unten. Glücklicherweise halfen das Kodein und der Flüssigkeitsmangel einigermaßen gegen meinen Durchfall. 183
Ich marschierte völlig apathisch, den Blick gesenkt. Mein Körper und mein Verstand arbeiteten nur noch mechanisch. Irgendwann tauchten in meinem Kopf die Zeilen eines Liedes auf, das ich als Kind in der Musikbox meiner Eltern gefunden hatte: »heißer Sand und ein verlorenes Land und ein Leben in Gefahr/heißer Sand und die Erinnerung daran, dass es einmal schöner war«. Wenn ich kurz davor war, alles hinzuwerfen und zusammenzubrechen, sang ich diese Sätze im Stillen vor mich hin, wieder und wieder, wie eine Platte mit Sprung. Solange mein Gehirn mit irgendetwas anderem beschäftigt war, dachte ich zumindest nicht jede Sekunde daran, einfach in den Wüstensand zu sinken und liegen zu bleiben. »Einfach weitergehen«, sagte ich mir, den Blick fest auf meine Füße gerichtet. »Einfach nur weitergehen. Nur noch ein paar Schritte.« Dann begann ich aufs Neue zu singen. Mit meinen Mitreisenden sprach ich kaum, hielt mich meist abseits der Gruppe. Abends breitete ich meine Isomatte und meinen Schlafsack aus, nahm zwei Schlaftabletten, verfluchte mich und betete darum, am nächsten Morgen nicht mehr aufwachen zu müssen. Morgens, wenn ich die Augen öffnete und mich umsah, hätte ich mein Elend gerne herausgeschrien. Am dritten Tag in der Wüste schluckte ich mittags meine letzte Kodeintablette. Am vierten Tag fühlte ich mich deutlich besser. Es war, als hätte die Wüste das Heroin in Rekordzeit aus mir herausgebrannt. Meine Beine trugen meinen Körper wieder ohne große Anstrengung, ich fühlte mich seltsam leicht und beschwingt. Ich hob meinen Kopf, zum ersten Mal seit Tagen, und sah die Wüste mit anderen Augen. Sah, wie die Sonne frühmorgens über den Rand der Welt lugte und die Schatten einer Hügelkette über die Ebene schob. Feine Wolkenschwaden schlierten wie 184
Fäden von Zuckerwatte am Himmel, das Blau leuchtete zart. Berge verstellten den Horizont erst in weiter Ferne. Am nächsten Tag legten wir nachmittags eine Rast ein, die Beduinen bereiteten mit groben Decken und Kamelsätteln ein Lager im Schatten einer Akazie. Stunden lag ich auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, sah in den weiten Himmel und lauschte auf die Geräusche der Wüste, das Flirren der Insektenflügel, das Scharren von Ziegenhufen in der Ferne. Die Beduinen kochten Tee und buken Brot im heißen Wüstensand. Langsam nahm ich meine Mitreisenden wahr. Eine Frau aus Celle lobte lautstark die Vorzüge alkoholfreien Bieres und die Freuden der Gartenarbeit und ging damit so ziemlich jedem auf die Nerven. Ein Globetrotter aus dem Ruhrgebiet erzählte von einem isländischen Vogel, der stinkenden grünen Schleim auskotzt, wenn er sich bedroht fühlt. Irgendwann unterhielt ich mich mit einem jungen Lokalzeitungsredakteur aus Hessen. Es tat gut, zu reden und zuzuhören. Als es dunkel wurde und alle Geräusche verweht waren, meinte ich in der Stille ein Pulsen und Sirren zu hören. Die Stille, erkannte ich, war tatsächlich selbst eine Art Laut. Ich dachte an einen Satz von Truman Capote: »Dämmerung, die Nacht brach an. Und die Lautfasern, die man Schweigen nennt, woben eine leuchtend blaue Maske.« Ich begann zu ahnen, was er gemeint hatte. Nachts lag ich im Wüstensand unter einem sternenübersäten Himmel, tausende Kilometer von zu Hause entfernt, und fühlte mich seit langer Zeit zum ersten Mal entspannt und getröstet, meine Zukunft war in leuchtenden Farben in den Nachthimmel gemalt und zum Greifen nahe. Der schlimmste Entzug meines Lebens war zugleich der kürzeste gewesen. 185
Back in Business »Du musst mir helfen«, sagte ich zu Kirsten. »Ich schaffe es nicht alleine.« Wir standen auf der Schwelle ihrer Wohnung, Kirsten hielt die Türklinke noch in der Hand. Sie schaute mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. »Oh Mann, wie siehst du denn aus! Komm rein«, sagte sie und gab die Tür frei. Kirsten war zwei Jahre jünger als ich, sie studierte Kulturwissenschaften und schrieb nebenher für einige Frauenmagazine. Im vergangenen Jahr hatten wir eine kurze, heftige Affäre gehabt. Damals war ich erst einige Monate von Miriam getrennt, und Kirsten hatte als Erste mein Interesse an Sex und Zärtlichkeit neu geweckt. Aber unsere Leidenschaft hielt nur wenige Wochen an, also wurden wir kein Paar, sondern gute Freunde. Ich folgte ihr in die Küche. Schwer ließ ich mich auf den Stuhl sinken. Ich war am Ende meiner Kräfte. Meine Haut war totenbleich mit einem leichten Graustich, mein Haar hing mir ungewaschen auf die Schultern und meine Augen waren dumpf und wässrig. Kirsten gab mir ein Glas Wasser, setzte sich mir gegenüber und sah mich lange an. »Also, was ist los?«, fragte sie. Seit meiner Wüstentour war ungefähr ein halbes Jahr vergangen. An meinem letzten Tag in Marokko war ich krank geworden, eine schwere Magen-Darm-Grippe hatte mich erwischt. Ich fieberte, litt unter Durchfall und Erbrechen. Meine Reise war zu Ende, und im Grunde fühlte ich mich kaum besser als an dem Tag, an dem ich aufgebrochen war. Dass mein Zustand dieses Mal wohl von einem Virus verursacht worden war, machte das Ganze nicht leichter. Doch auch ohne die Krankheit wäre 186
meine Stimmung düster gewesen, diesen Teil einer Reise hatte ich schon immer gehasst. Packen war mir lästig, meist wurde ich erst in der letzten Minute fertig und lief Gefahr, den Flug zu verpassen. Dann das endlose Warten am Flughafen, die Stunden, die ich an Bord zwischen Fremden eingezwängt war, meine Füße in den Schuhen angeschwollen. Aufdringliche Parfüms, stinkende Menschen und klimatisierte Luft, die meine Lunge und meine Nasenschleimhäute reizte. Das Virus in meinem Körper schwächte mich zusätzlich und machte mich noch empfindlicher. Als ich in Frankfurt aus dem Flugzeug stieg und auf mein Gepäck wartete, war mir mein Zustand unerträglich geworden. Am Hauptbahnhof beschloss ich, die Wartezeit auf den ICE nach Hamburg zur Selbstmedikation zu nutzen. Ein wenig Heroin wäre jetzt genau das Richtige. Heroin würde die Krankheitssymptome verfliegen lassen und mir den Rest der Reise erleichtern. In Hamburg würde mir dann immer noch genug Zeit bleiben, mich in mein Bett zu legen und die Krankheit auf dem üblichen Weg aus meinem Körper zu schwitzen. Oder besser noch, mich in Petras Bett zu legen und mich von ihr pflegen zu lassen. Petra hatte ich vor Jahren in der »Tempo«-Redaktion kennen gelernt, wir hatten dort gleichzeitig das Praktikum absolviert. Seit wir nach meiner Geburtstagsfeier im Januar zusammen im Bett gelandet waren, schliefen wir häufig miteinander. Seit meiner stationären Drogentherapie, in der ich neun Monate mit Junkies aus ganz Deutschland zusammengelebt hatte, wusste ich ziemlich genau, wie die Szene in den verschiedenen Teilen der Bundesrepublik funktionierte. Aber auch ohne dieses Wissen wäre es kein Problem gewesen, an Heroin zu kommen. Wer jahrelang 187
harte Drogen nimmt, erkennt einen anderen Junkie meist auf Anhieb, an jedem Ort. Sogar während meiner Urlaubsreisen war ich mit schöner Regelmäßigkeit in den fremden Ländern und Städten irgendwann zufällig auf die Drogenszene gestoßen. Als würde die Droge über eine magnetische Kraft verfügen, die ihre Konsumenten aufeinander zutreibt. Die Szene war für Eingeweihte leicht auszumachen – die auf Stecknadelkopfgröße geschrumpften Pupillen der Junkies, die merkwürdige verdrehte Körperhaltung derer, die ihren Heroinrausch mit Schlaftabletten unterfütterten, der unstete, ständig suchend umherschweifende Blick der Dealer und Käufer, die fahrigen Bewegungen der Kokser. Auf der B-Ebene unter dem Bahnhof in Frankfurt kaufte ich, nur hinter einem Pfeiler vor den Passanten verborgen, für 50 Mark Heroin von einem Unbekannten. Mit einem kleinen Plastiklöffel maß er die Pulvermenge ab und schüttete sie in ein Papierbriefchen, das ich zwischenzeitlich gefaltet hatte. Ich leckte über meinen Mittelfinger, senkte die Fingerkuppe vorsichtig in das Pulver und kontrollierte mit der Zunge den Geschmack. So konnte ich ausschließen, Gewürze oder Sand zu kaufen. Doch obwohl ein Drogendeal immer ein gewisses Risiko darstellt, vor allem auf einer unbekannten Szene, so funktioniert das unsichere Geschäft in der Regel reibungslos. Da Käufer und Dealer aufeinander angewiesen waren und sich die Rollen schnell ändern konnten, hielten sich die meisten an die Regeln. Natürlich gab es immer jemanden, der versuchte, Sand als Heroin zu verkaufen oder dem Dealer die Drogen zu entreißen und sich davonzumachen, ohne zu zahlen. Aber solche Betrugsversuche hielten sich meist in Grenzen und die entsprechenden Junkies waren auf der Szene bald gebrandmarkt. 188
Auch dieses Mal ging alles glatt. Ich besorgte mir noch ein Feuerzeug und eine Rolle Aluminiumfolie, dann schloss ich mich auf der Bahnhofstoilette ein. Als der ICE einfuhr, waren meine Übelkeit, mein Durchfall und meine üble Laune verraucht, selbst mein schwerer Seesack erschien mir leicht und handlich. Während der fünfstündigen Fahrt döste ich in meinem Sitz und sah versonnen zu, wie Wälder und Wiesen vor dem Zugfenster vorüberglitten. »Eigentlich leben wir in einem verdammt schönen Land«, dachte ich, wie so häufig, wenn ich aus einem Zugfenster auf deutsche Landschaften und Kleinstädte sah. Zum ersten Mal an diesem Tag empfand ich Vergnügen an der Reise, freute mich, nach Hause zu kommen. Zwischendurch verzog ich mich auf die Zugtoilette und rauchte mein restliches Heroin. Als der Zug im Hamburger Bahnhof einlief, war mir, als sei ich eben erst losgefahren. Kurz nach meiner Ankunft traf ich Petra. Kaum war sie durch die Tür, da zog ich sie schon in meine Arme. Leider verhinderte das Heroin, dass ich einen Orgasmus bekam. Irgendwann hatte sie genug und schlief ein, ich lag noch Stunden wach, völlig aufgedreht und berauscht. Am nächsten Tag kroch die Krankheit wieder in meinen Körper, jetzt ging es mir so übel, dass ich das Bett kaum verlassen konnte, der Durchfall war schlimmer als zuvor, und ich wurde von Schüttelfrost geplagt. Petra war noch bei mir, aber ich empfand ihre Anwesenheit und ihre Besorgnis als anstrengend und lästig. Als sie mich am Nachmittag verließ, weil sie in der Universität eine Vorlesung besuchen musste, war ich erleichtert. Einen Tag hielt ich diesen Zustand aus, schleppte mich sogar zu einem Arzt, der mir Medikamente und Bettruhe verordnete. Nichts davon half mir. Am Tag darauf fuhr ich zum Hauptbahnhof und kaufte mir das »Medikament«, das 189
mir schon in Frankfurt die Krankheit in Minuten vom Hals geschafft hatte. Innerhalb einer Woche setzte sich das Heroin wieder in meinem Leben fest. Ich fuhr jetzt beinahe täglich zum Hauptbahnhof und kaufte dort meine Ration, ohne die Droge kam ich kaum mehr durch den Tag. Ich beendete meine Beziehung mit Petra, das Heroin ließ keinen Raum für Sex und Zärtlichkeit. Bald begann ich wieder, Heroin zu spritzen. Rauchen erschien mir zu teuer und zu ineffektiv, intravenös verabreicht genügt eine deutlich kleinere Menge, um einen ungleich stärkeren Effekt zu erzielen. Wenn ich schon täglich Heroin nahm, dann konnte ich es auch gleich richtig tun. Henry war der Einzige von meinen Freunden, der mich bei meinen Ausflügen in den Rausch begleitete. Henry war drei Jahre älter als ich und stammte aus Berlin. Dort war er nach seiner Frisörlehre auf dem Schwulenstrich und in einschlägigen Bars anschaffen gegangen. Vor ungefähr vier Jahren hatte er ebenfalls eine Drogentherapie hinter sich gebracht. Ich hatte ihn in der NachsorgeWohngemeinschaft kennen gelernt, seit dieser Zeit verband uns eine enge Freundschaft. Henry wohnte nur wenige Straßen entfernt und war ungefähr zur gleichen Zeit rückfällig geworden wie ich. Oft fuhren wir gemeinsam zum Hauptbahnhof, einer spähte nach Zivilpolizisten, während der andere die Einkäufe tätigte. Anschließend saßen wir gemeinsam in meiner Wohnung, kochten das Heroin auf und dämmerten Seite an Seite auf meiner Couch durch den Tag. Für eine kurze Zeit fühlte ich mich wieder wie vor einem Jahrzehnt im Rheinland, als das Heroin und die Freundschaft zu Erik und Artur mich wärmten wie ein Kaminfeuer. Doch dieses Mal bröckelte die Idylle schon nach wenigen Wochen. Das Wissen, dass wir geradewegs auf einen Abgrund 190
zusteuerten, war nach vielen Monaten der Therapie unauslöschlich in unserem Verstand eingebrannt, sobald der Rausch nachließ, drängte es an die Oberfläche. Dann konnten wir die Gegenwart des anderen kaum ertragen; Henry war der Spiegel, der mir mein Versagen und mein Elend vor Augen hielt. Je mehr Drogen wir konsumierten, desto häufiger gerieten wir in Streit, um Geld oder um die Drogenmenge, die jedem zustand. Irgendwann fuhren wir beide auf getrennten Wegen zum Hauptbahnhof. Bis ich erfuhr, dass eine junge Frau, von der wir hin und wieder Heroin gekauft hatten, in meiner Nachbarschaft wohnte, nur wenige Häuser entfernt. Jetzt konnte ich sogar den ungeliebten Weg zum Bahnhof umgehen, das mitunter langwierige Suchen nach einem Dealer, das Risiko, bei Unbekannten zu kaufen oder auf der offenen Szene verhaftet zu werden. Von Tag zu Tag spritzte ich immer größere Mengen in immer kürzeren Abständen. Ich verließ meine Wohnung kaum noch. Immer, wenn ich gerade an einem Artikel arbeitete, mühte ich mich nach Kräften, meinen Konsum zu zügeln und die Kontrolle zu behalten. Zu dieser Zeit schrieb ich regelmäßig als freier Autor für »jetzt«, die Jugendbeilage der »Süddeutschen Zeitung«, für »Die Woche« und als freier Filmredakteur für »Spiegel Kultur Extra«, die Abonnentenbeilage des »Spiegel«. Ich rezensierte die neu anlaufenden Filme oder porträtierte Schauspieler und Regisseure. Pressevorführungen, bei denen Journalisten neue Kinofilme Wochen oder Monate vor dem eigentlichen Starttermin gezeigt wurden, betrat ich immer erst, wenn das Licht im Kino gerade erloschen war und meine Kollegen schon alle im abgedunkelten Vorführraum saßen. Sobald der Abspann lief, verließ ich fluchtartig das Kino, noch bevor die Beleuchtung wieder aufflammte. Wenn ich Interviews führte oder Texte schrieb, nahm ich 191
nur so viel Heroin, dass ich den Entzug nicht spürte und ich mich halbwegs normal fühlte. Erst wenn die Arbeit erledigt war, gönnte ich mir eine größere Dosis. Oft mit Kokain vermischt, eine Art besondere Belohnung, wenn ich diszipliniert gearbeitet hatte und mit dem Ergebnis besonders zufrieden war. Oder wenn ich gerade eine größere Menge Geld verdient hatte. Als ich für ein Interview mit dem Regisseur David Cronenberg nach Toronto reisen musste, rief ich Ellen an, meine Exfreundin aus dem Rheinland. Ellen lebte mittlerweile in Bochum und arbeitete als Sozialpädagogin in der Drogenhilfe. Kurz nach meiner Therapie, Jahre nach unserer Trennung, hatte ich wieder Kontakt zu ihr aufgenommen. Mittlerweile waren wir gute Freunde. Erst jetzt, als ich ihre Hilfe brauchte, erzählte ich von meinem Rückfall. »In meinem Zustand stehe ich die Reise nicht durch«, sagte ich ihr am Telefon. »Und in Hamburg schaffe ich es nicht, clean zu werden. Kann ich zu dir kommen und entgiften?« Ellen war einverstanden. Eine Woche lang blieb ich bei ihr, schluckte Kodeintabletten und Schlafmittel, verringerte täglich meine Dosierung. Dann flog ich nach Toronto, immer noch geschwächt, aber soweit entgiftet, dass ich auch ohne Heroin wieder gerade stehen und Fragen stellen konnte. Nach dem Interview kaufte ich einen Burger bei McDonald’s und flüchtete mich in mein Hotelzimmer, die fremde Stadt überforderte mich. Nur im Hotelbett vor dem Fernseher fühlte ich mich halbwegs sicher. Ich verließ mein Zimmer erst wieder am nächsten Morgen, als mein Flieger zurück nach Hamburg ging. Kaum war ich zu Hause angekommen, kaufte ich mir wieder Heroin. Bald wurden diese Selbstentgiftungen zu einem 192
merkwürdigen Ritual. Wann immer ein Interview oder eine Recherche einen Aufenthalt in fremden Ländern und Städten nötig machte, kroch ich einige Tage zuvor bei Ellen unter. Nach der Reise ging das ganze Spiel wieder von vorne los. Meine Hamburger Wohnung verwahrloste zusehends. In meinem Wohn- und Arbeitszimmer türmten sich Zeitschriften auf mehreren Quadratmetern bis unter das Fensterbrett, immer häufiger ungelesen, auf meinem Schreibtisch Papierberge, über die ich irgendwann den Überblick verlor. In der Küche Stapel von dreckigem Geschirr, das ich erst dann spülte, wenn der Geruch zu penetrant wurde. Mein Zustand war nicht viel besser als der meiner Wohnung. Ich ernährte mich beinahe ausschließlich von Joghurt, kauen war mir lästig, und duschte nur noch, wenn wichtige Termine mich unter die Menschen zwangen. Das Gefühl von Wasser auf meiner Haut war mir zuwider. Zu einem Frisör war ich seit Monaten nicht gegangen, bis zu meinem Rückfall hatte Henry meine Haare geschnitten. In seinem jetzigen Zustand wollte ich ihn mit einer Schere nicht in meine Nähe lassen, und einen anderen Frisör zu suchen erschien mir unverhältnismäßig aufwendig und kostspielig. Der Tatendrang, den Heroin und Kokain anfänglich in mir ausgelöst hatten, war schnell verweht und einer dumpfen Betäubung gewichen. Geld wurde immer häufiger zu einem Problem. Ich benötigte 150 bis 200 Mark am Tag, allein für Drogen. Die Summen, die ich verdiente, reichten da oft nicht aus. Dazu kam, dass die Zahlungen oft unregelmäßig erfolgten und sich mitunter um Wochen verzögerten. An manchen Tagen stand ich mit wild rasendem Puls vor dem Geldautomaten, sobald ich hörte, dass der Automat das Geld abzählte, atmete ich befreit auf. Kein Geräusch der 193
Welt versetzte mich dermaßen in Verzückung wie das Rattern des Geldautomaten. Musik hörte ich kaum noch. Viele Jahre lang hatten Popsongs meine Stimmungen gespiegelt, Musik war eine Art Gefühlsverstärker gewesen, der meiner Melancholie, meiner Sehnsucht oder meiner Euphorie Nahrung gab. Jetzt war sie nur noch lästiges Geräusch, und ich war froh, wenn ich von meinen Gefühlen so wenig wie möglich spürte. Ich ging nicht mehr auf Konzerte, und wenn der Geldautomat nichts ausspuckte, schleppte ich alles, was noch einen Wert besaß, in ein nahe gelegenes Pfandhaus – zuerst den Videorecorder, dann die Stereoanlage und meine CDs. Anschließend begann ich, die ComicSammlung, die ich mir in den letzten Jahren sorgfältig aufgebaut hatte, Stück für Stück an einen Händler zu verkaufen. Vor allem entwickelte ich große Kreativität darin, mir Geld zu leihen. Meine Sucht verheimlichte ich immer noch den meisten Menschen, nur vor einigen wenigen engen Freunden hatte ich sie nicht mehr verbergen können. Die anderen, Bekannte oder Kollegen, rief ich nacheinander an, meist an Wochenenden oder spät am Abend, erzählte, ich sei zum Essen verabredet und habe gerade bemerkt, dass meiner EC-Karte nicht funktioniere und dass ich dringend 100 oder 150 Mark brauchte. Ob sie mir das Geld leihen und mit einem Taxi zu mir nach Hause schicken könnten? Ich war so überzeugend, dass ich mein Geld bekam und niemand Fragen stellte. Sobald das nächste Honorar angewiesen wurde, zahlte ich meine Schulden zurück. Zumindest in den ersten Monaten. Ich nahm jeden Auftrag an, den ich bekommen konnte. Nicht nur, weil ich das Geld brauchte. Meine Arbeit war die letzte Sicherungsleine, die mich noch vor dem endgültigen Absturz bewahrte. Das Hapkido-Training 194
hatte ich schon kurz nach Pfingsten aufgegeben, und bei meinen Freunden meldete ich mich nur noch sehr selten. Auch meine Besuche bei Klara waren immer unregelmäßiger geworden, in ihre Nähe wagte ich mich nur noch, wenn ich halbwegs entgiftet war. Und auch dann war jeder Besuch überschattet von Scham und einem diffusen Gefühl von Schuld. Im Sommer stand ich zum ersten Mal kurz vor der beruflichen Katastrophe. Wie in jedem Jahr fand im August die Popkomm statt, Deutschlands größte Musikmesse, damals noch in Köln beheimatet und ein Pflichttermin für jeden Journalisten, der sich mit Popmusik beschäftigte. Zu keiner anderen Gelegenheit versammelte sich in Deutschland eine so große Zahl internationaler Künstler, auf der Popkomm ließen sich in drei Tagen zahlreiche hochkarätige Interviews führen und Kontakte knüpfen, im Rahmenprogramm traten Bands aus aller Welt auf, die sonst nur selten den Weg auf deutsche Konzertbühnen fanden. Schon im Frühjahr hatte ich mich gemeinsam mit Christoph, meinem Freund aus »Tempo«Tagen, für die Messe angemeldet. Christoph arbeitete mittlerweile als Musikredakteur für den »Spiegel«, wir hatten geplant, eine Reihe Interviews gemeinsam zu führen und einige Konzerte und Partys zu besuchen. Auch unser Hotel hatten wir lange im Voraus gebucht. Der Sommer schritt voran, meine Sucht ebenso. Mir dämmerte, dass sich die Popkomm für mich zu einem großen Desaster entwickeln würde. Schon in den wenigen Stunden, in denen ich den direkten Kontakt zu Redaktionen und Plattenfirmen in meinem normalen Arbeitsalltag nicht vermeiden konnte, kostete es mich große Anstrengung, mich zusammenzureißen und einen halbwegs unauffälligen Eindruck zu machen. Drei komplette Tage unter den Augen der Branche, in einer 195
fremden Stadt, weit weg von meiner Dealerin und meiner Wohnung, in der ich mich verbergen konnte, würde ich nicht durchstehen. Außerdem reagierte Christoph, einer der wenigen meiner Kollegen, die von meinem Rückfall wussten, sehr verstört und oft entnervt auf meine Sucht. Schon Wochen vor Messebeginn bedrängte er mich, ihm rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn ich mich unseren gemeinsamen Interviews nicht gewachsen fühlen sollte. Doch eine Absage wäre einer Kapitulation vor der Sucht gleichgekommen. Das kam nicht in Frage, auf keinen Fall. Die Popkomm begann an einem Donnerstag, an dem Freitag der Vorwoche flüchtete ich wieder einmal aus Hamburg. Ich kroch bei Artur unter, der zu der Zeit in Mönchengladbach lebte, nur 40 Kilometer von Köln entfernt. Ellen hatte mich gebeten, sie erst wieder zu besuchen, wenn ich clean sei. Sie wollte meine ständigen, erfolglosen Entgiftungsversuche nicht mehr mitansehen. Artur war seit einigen Jahren clean und hatte sich als Schreiner selbständig gemacht. Er hatte sich mit Hilfe einer sektenähnlichen Gemeinschaft aus der Sucht herausgekämpft und erzählte mir von Feuerläufen, energetischen Reinigungsritualen und Psychospielen, die mir höchst suspekt erschienen. Doch ihm hatte all das scheinbar geholfen. Bevor ich losfuhr, deckte ich mich mit meinem üblichen Vorrat an Husten- und Schlaftabletten ein, in den fünf Tagen, die mir bis zur Messe blieben, wollte ich soweit wieder auf die Beine kommen, dass ich drei drogenfreie Tage in der Öffentlichkeit durchhalten würde. Ein Interview mit dem Schauspieler Ben Stiller, das ich am Montag im Auftrag von »Spiegel Kultur Extra« führen sollte, übernahm Christoph für mich. Artur bereitete mir ein Lager auf der Couch vor seinem Fernseher. Er bat mich, den Platz in seiner Wohnung, an 196
dem er die meiste Zeit saß, eine Ecke auf der Fensterbank, zu meiden. Meine negativen Energien würden die Aura dort vergiften. Von meiner Matratze erhob ich mich sowieso nur, wenn ich auf die Toilette musste. Tag für Tag lag ich vor dem Fernseher, sah mir alte Serien an und glitt immer wieder in einen fiebrigen Halbschlaf, der von heftigem Schüttelfrost begleitet wurde. Wenn ich erwachte, war mein T-Shirt meist völlig durchnässt. Neben meinem Lager stand eine Flasche Cola, daneben meine Pillen, eine Tafel Schokolade und eine Packung Riesenfruchtzwerge – den Tee und die Rohkostmahlzeiten, die Artur mir zubereitete, behielt ich nicht bei mir – und ein Wecker. Der Wecker klingelte jeden Tag um 15 Uhr, zu dieser Zeit strahlte Sat1 täglich eine Folge von »Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert« aus. Der Höhepunkt meines Tages, den ich auf keinen Fall verpassen wollte. Ich begleitete Captain Picard und seine Besatzung bei ihren Abenteuern in fremden Galaxien, wo nie zuvor ein Mensch gewesen war. Besonders Data, der Android ohne Emotionen, faszinierte mich. So strukturierte einzig das Fernsehprogramm meine Tage. Donnerstag, am Tag des Messebeginns, fuhr ich morgens mit dem Zug nach Köln. Am Bahnhof war ich mit Christoph verabredet, der mit dem ICE aus Hamburg kam. Seit dem Vortag konnte ich wieder auf meinen Beinen stehen, meine Schweißausbrüche traten nur noch sporadisch auf, und kleinere Mahlzeiten behielt ich mittlerweile bei mir. Doch ich war weit davon entfernt, mich der Messe, der bedrohlichen Menge an Menschen und Kontakt, gewachsen zu fühlen. Die Droge fehlte mir, nicht nur körperlich. Ich fühlte mich dünnhäutig, schutzlos und ausgeliefert. Bis Christophs Zug im Kölner Bahnhof einfuhr, blieben mir nur ungefähr zwanzig Minuten. Wie 197
in Hamburg und Frankfurt traf sich auch in Köln die Drogenszene in Bahnhofsnähe, auf dem Domplatz und in der U-Bahn darunter. Ich kaufte ein Gramm Heroin und rauchte eine kleine Menge davon. Gerade so viel, wie nötig war, damit der wattige Schutzpanzer des Heroins meinen Körper stärkte und meinen Geist polsterte. Da ich fünf Tage kein Heroin genommen hatte, brachten mich vier Zehntel Gramm halbwegs über den Tag. Das Gramm hielt somit bis Samstag vor, den Tag unserer Abreise. Die Droge half mir wieder zuverlässig, ich stand die Interviews durch und erreichte gemeinsam mit Christoph, dem ich meinen Heroinkonsum verschwieg, bei dem Kickerturnier einer Plattenfirma ungefährdet das Endspiel, in dem wir knapp unterlagen. Als ich Samstagnachmittag in Hamburg aus dem Zug stieg, kaufte ich noch am Bahnhof erneut Heroin. Zur Belohnung gönnte ich mir eine Dosis Kokain dazu. So hangelte ich mich wieder im alten Trott durch die Wochen. Im Herbst unterbreitete mir der Verlag Gruner+Jahr ein Angebot, das ich nicht ausschlagen konnte. In Kooperation mit dem Musiksender Viva wollte der Verlag, in dem der »Stern« und »Geo« erschienen, ein Jugendmagazin entwickeln, das der mittlerweile etwas angestaubten »Bravo« Konkurrenz machen sollte. Der Arbeitstitel lautete »Splash«. In der Entwicklungsredaktion saßen Redakteure, mit denen ich schon bei »Tempo«, »jetzt« und »Die Woche« zusammengearbeitet hatte. Einer von ihnen hatte mich angerufen und zu einer Besprechung in die Redaktion eingeladen. Ich hasste solche persönlichen Treffen, wenn es irgend möglich war, wickelte ich geschäftliche Unterredungen am Telefon ab. Der Redakteur erzählte mir, die Arbeit an der Nullnummer ihres Magazins hätte 198
gerade begonnen, eine Art Testheft, das fertig gestellt und in der Zielgruppe erprobt wird, bevor ein Verlag entscheidet, ob er den neuen Titel auf den Markt bringen wird. Er bot mir an, in dieser Nullnummer eine mehrseitige Rubrik als verantwortlicher Redakteur zu betreuen. Sollte ich interessiert sein, würde er die Einzelheiten gerne mit mir und seinen Kollegen in der Redaktion besprechen. Natürlich war ich interessiert. Am nächsten Tag duschte ich, wusch mir die Haare, legte ein wenig Parfüm auf und spritzte mir nur eine kleine Dosis Heroin. Dann fuhr ich zu Grüner+Jahr. Der Verlag residiert in einem imposanten Gebäude an der Elbe, die nächste U-Bahn-Haltestelle liegt vor der Tür. Wir wurden uns schnell einig. Ich sollte eine Strecke von zwölf Seiten inhaltlich mit entwickeln und anschließend als verantwortlicher Redakteur in Eigenregie und in Absprache mit dem Redaktionsleiter füllen. Seiten, auf denen neue Filme, CDs, Comics und was den jungen Leser sonst noch interessiert vorgestellt werden sollten. Ein sehr interessanter Auftrag, für den sie mir eine angemessene Summe boten. Ein Auftrag, den ich einfach annehmen musste. Vor allem, da eine erfolgreiche Markteinführung des Titels mir dauerhaft ein gutes Einkommen garantieren würde. Leider aber auch ein Auftrag, von dem ich wusste, dass ich ihm in meinem jetzigen Zustand, zusätzlich zu meinen Verpflichtungen bei »Spiegel Kultur Extra«, kaum gewachsen war. Ich würde häufig Interviews in anderen Städten führen müssen, mit Plattenfirmen, Filmverleihern und der Redaktion verhandeln, eine Menge Texte schreiben. Dazu fehlten mir die Zeit, die Kraft und vor allem die Nerven. Dazu kam, dass mein Videorecorder und meine Stereoanlage in der Pfandleihe waren und ich nicht genug Geld besaß, sie auszulösen. Wie sollte ich also CDs hören 199
oder Videofilme sichten, die ich bewerten sollte? Trotzdem, Ablehnen kam nicht in Frage. Also stürzte ich mich verbissen in die Arbeit. Und verzweifelte schon nach wenigen Tagen. Der Termindruck wurde immer größer, und in gleichem Maße wie meine Versagensangst wuchs mein Heroinkonsum. Immer, wenn ich versuchte, mich zusammenzureißen und mich mit einer geringeren Dosis der Droge oder Hustentabletten über den Tag zu retten, klingelte irgendwann meine Dealerin an meiner Tür. Sobald ich sie sah und mit ihr das Heroin, zum Greifen nahe, war es, als würde ein Schalter in meinem Kopf umgelegt. Wenige Minuten später stach ich die Spritze in meinen Arm. Hatte ich kein Geld, ließ sie mich erst betteln und gab mir das Heroin anschließend auf Kredit. Dann stand ich in ihrer Schuld, war ihren Launen ausgeliefert. Sie genoss die Macht, die ihr das Heroin über mich verlieh. So würde ich keine brauchbare Arbeit abliefern können, niemals. Der Supergau stand unmittelbar bevor. Die Flucht zu Kirsten schien mir der einzig mögliche Ausweg. »Kann ich für ein paar Wochen bei dir wohnen, zumindest bis ich den Auftrag erledigt habe?«, fragte ich Kirsten, nachdem ich ihr meine Situation geschildert hatte. »Wenn ich in meiner Wohnung bleibe, bekomme ich das niemals hin.« Obwohl ich Kirsten von meiner JunkieVergangenheit im Rheinland erzählt hatte, entsetzte sie meine Geschichte noch mehr als mein Aussehen. Sie dachte nicht lange nach. »Ich will nicht, dass du auch noch deinen Job verlierst«, sagte sie. »Wahrscheinlich würdest du dann völlig abstürzen. Du kannst hier bleiben, bis die Nullnummer fertig ist. Aber danach musst du dir etwas einfallen lassen, 200
wie du wieder auf die Beine kommst.« Kirsten nahm mich nicht nur bei sich auf, sie bot mir sogar an, mich bei der Arbeit zu unterstützen. Wir einigten uns darauf, dass sie Interviews übernahm, die mir zu strapaziös waren, und dafür von mir das übliche Autorenhonorar erhielt, sobald G+J mich bezahlt hatte. In den Redaktionen gab ich Kirstens Telefonnummer an und behauptete, ich hätte mir ein Büro gemietet. So wurde Kirsten auch meine Sekretärin. Dass Kirstens Wohnung in unmittelbarer Nähe des Gruner+Jahr-Verlagshauses lag, sparte mir zusätzlich Zeit und Kraft. In den nächsten Wochen arbeiteten wir gemeinsam unter Hochdruck. Saßen zu zweit an Kirstens Küchentisch, hörten uns durch neue CDs, bereiteten Interviews vor und wählten die Filme aus, die uns einer Rezension würdig erschienen. Wenn mir das Geld für Heroin ausging, lieh Kirsten mir kleinere Summen. Ich reduzierte meinen Heroinkonsum, schrieb Texte, dachte mir neue Rubriken aus und schleppte mich zu Redaktionsbesprechungen. Wenn sich jemand erkundigte, warum ich so angeschlagen aussah, erzählte ich wahlweise von Virusinfekten oder von Beziehungsproblemen. Die Erklärungen schienen jeden zufrieden zu stellen. Spätabends fiel ich völlig ausgepumpt auf meine Matratze, wie immer vor dem Fernseher. Ab und an versuchte Kirsten mich zu Kino- oder Konzertbesuchen zu bewegen – und blieb erfolglos. Stattdessen sah ich mir mit ausgeschaltetem Hirn amerikanische TV-Serien wie »Melrose Place« und Historienschinken wie die restaurierte Vier-Stunden-Fassung von »Cleopatra« an. Wenn Kirsten für uns beide kochte, aß ich nur wenige Gabeln. Ich ernährte mich beinahe ausschließlich von Löffelbiskuit, Nutella und Kokosmilch. Meistens nachts, die Schlaftabletten, die ich häufig zusätzlich oder anstelle 201
des Heroins nahm, machten mich hungrig. Da ich mich kaum bewegte, wurde ich immer fetter. Wahrscheinlich war ich der einzige fette Junkie auf diesem Planeten. Kirsten wunderte sich täglich, dass ich nicht zusammenbrach und trotz meines Zustandes in kurzer Zeit brauchbare Arbeit ablieferte. Ich schrieb um mein Leben. Die Angst, alles zu verlieren, mobilisierte Kräfte, von denen ich sicher war, dass ich sie gar nicht mehr besaß. Mit Kirstens Hilfe gelang es mir, meine Arbeit fristgerecht und zur Zufriedenheit der Redakteure abzuliefern. Als der erlösende Anruf aus der Redaktion kam, saß ich noch Minuten später wie betäubt vor dem Telefon, nur ganz langsam sickerte die Erkenntnis in meinen Verstand, dass ich es geschafft hatte. Statt Stolz und Freude empfand ich nur eine schier grenzenlose Erschöpfung. Sobald ich mich wieder bewegen konnte, fuhr ich zum Hauptbahnhof und gönnte mir eine große Dosis Heroin und Kokain. Erst danach fühlte ich mich wirklich erleichtert. Schon am nächsten Tag war die Angst wieder da. Mein Auftrag war erledigt, doch die Vorstellung, in meine verwahrloste, einsame Wohnung und in die Nachbarschaft meiner Dealerin zurückzukehren, schauderte mich. Ich bat Kirsten, in ihrer Wohnung einen erneuten Entgiftungsversuch mit Schlaf- und Kodeintabletten versuchen zu dürfen. Sie willigte ein. Wenige Tage später saßen wir nebeneinander in der Küche. Ich verbarg meinen Kopf in meinen Händen, von Heulkrämpfen geschüttelt, Rotz lief mir aus der Nase. Kirsten legte mir ihren Arm um die Schultern. »So schlimm ist das auch wieder nicht«, sagte sie. »Doch, das ist es«, antwortete ich. »Soweit durfte es einfach nicht kommen.« 202
Am Tag zuvor hatte ich ungefähr ein Dutzend von Kirstens CDs versetzt. Ich hatte den Entzug einfach nicht mehr ausgehalten, und meine Geldquellen waren sämtlich versiegt. Zum ersten Mal hatte ich einen meiner Freunde bestohlen, sogar damals im Rheinland hatte ich so etwas nie getan. Freunde bestehlen oder betrügen kam nicht in Frage, so eine Art Junkie wollte ich nie sein. Schließlich waren meine Freunde das Wichtigste in meinem Leben, wichtiger noch als die Drogen. An dieser Überzeugung hatte ich mich immer festgehalten. Scham und Angst schnürten mir die Kehle zu, ich meinte, daran ersticken zu müssen. Jetzt hatte ich den Kampf mit der Sucht wohl endgültig verloren. Ich hatte eine Grenze überschritten, dahinter lauerten der totale Verfall und der Tod. Kirsten hatte meinen Diebstahl nicht einmal bemerkt, ich hatte die CDs sorgfältig ausgesucht und nur unhörbares Zeug wie Sting oder Phil Collins verkauft, CDs, die ihr Plattenfirmen unentgeltlich als Rezensionsexemplare zugesandt hatten. Aber das war nicht der Punkt. Ich konnte mir selbst nicht mehr trauen. »Wenn du das nächste Mal das Haus verlässt, schließ bitte die Tür hinter dir ab«, bat ich Kirsten und gab ihr den Zweitschlüssel zurück, den sie mir überlassen hatte. »Bist du verrückt?«, antwortete sie und starrte mich ungläubig an, dieser Vorschlag erschütterte sie offensichtlich weitaus mehr als das Geständnis meines Diebstahls. »Ich soll dich hier einschließen?« »Ja, bitte«, sagte ich. Der Junkie, der ich geworden war, gehörte weggesperrt. Eine andere Lösung fiel mir nicht ein. Einige Tage später zog ich zurück in meine Wohnung. Ich hatte den Entzug nicht durchgestanden. 203
Sympathy for the Devil »Daran ist nur der Teufel schuld«, sagte die Frau, die mir gegenüber auf der anderen Gangseite des Busses saß. Ich war kurz weggedämmert, ihre Stimme weckte mich auf. »Wie bitte?« fragte ich benommen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon sie redete. »Der Teufel lockt Sie in die Abgründe des Schlafes, um Sie zu verderben. So will er verhindern, dass Sie von unseren Predigten und Gebeten profitieren und doch noch Ihr Seelenheil finden«, erklärte sie mir. Freitagmorgen kurz nach 7 Uhr, die Sonne war gerade aufgegangen. Eine kalte, klare Frühlingssonne, die grell in meine Augen stach. In ungefähr zwölf Stunden sollte ich dem Teufel begegnen, dem großen Verführer, der Manifestation des absolut Bösen. Auf einem Parkplatz in Würzburg war ich in diesen Bus gestiegen, der 50 deutsche Pilger nach Arluno fahren sollte, einem kleinen Ort in Italien, 30 Kilometer vor Mailand. Dort zelebrierte der katholische Erzbischof Emmanuel Milingo so genannte Befreiungsgottesdienste. Der Bischof galt seinen Anhängern als wundertätiger Mann, der Geister und Dämonen austrieb und Kranke von Verwünschungen und Flüchen befreite. In diesen Gottesdiensten, so hieß es, rang er mit Dämonen und Teufeln. Einige Wochen zuvor hatte ich eine kurze dpa-Meldung über den Bischof gelesen und den gescheiterten Versuch eines TV-Teams, eine seiner Messen zu filmen. Mehrere Wochen hatte ich recherchiert, bis ich den zuständigen Reiseveranstalter in Deutschland ausfindig machen konnte. Obwohl ich im Auftrag der Zeitschrift »Die 204
Woche« an dieser Exorzismus-Butterfahrt teilnahm, gab ich mich nicht als Journalist zu erkennen. Während meiner Vorrecherche hatte ich erfahren, dass die fanatischen Christen, die diese Fahrt organisierten, die Presse beinahe ebenso verabscheuten wie den Teufel. Möglich, dass sie in Journalisten sogar Handlanger des großen Verführers sahen. Bei meiner Anmeldung hatte ich stattdessen behauptet, dass ich mich gerade in einer großen Lebenskrise befand und verzweifelt nach Orientierung suchte. Eine durchaus glaubhafte Erklärung, in diesem Frühjahr schienen mir meine eigenen Dämonen schier unbezwingbar. Am Vorabend war ich in Würzburg angereist, mit dem letzten Zug. Ich hatte in einem Hotel übernachtet, geschlafen hatte ich nur wenige Stunden. Schon im Zug hatte ich mein letztes Heroin genommen, da ich es nicht riskieren wollte, an der italienischen Grenze mit Drogen erwischt zu werden. Als um 5.30 Uhr mein Wecker klingelte, plagte mich schon der Entzug. Ich hielt ihn mit einigen Kodeintabletten notdürftig in Schach. Als der Bus losfuhr, stand kalter Schweiß auf meiner Stirn. Ich zog die Vorhänge vor die Fenster, das Licht schmerzte in meinem Kopf. Ich wollte von der Welt, die draußen am Bus vorüberzog, nichts sehen. Auch vor die Welt im Inneren des Busses hätte ich gerne einen Vorhang gezogen. Dort predigte mit lauter Stimme ein Abbe von der Gefahr der Verdammnis. Breit und stiernackig saß er neben dem Fahrer auf dem Platz des Reiseleiters und pries statt der Sehenswürdigkeiten am Straßenrand die Segenswürdigkeiten des Himmelreiches. Meine Mitreisenden, die sich alle von ähnlichen Pilgerfahrten zu kennen schienen, erzählten einander von stigmatisierten Priestern, Marienerscheinungen und Exorzismen oder tauschten Broschüren mit Titeln wie 205
»Hilferufe aus dem Fegefeuer«. Es schien, als hätte ich die mir bekannte Welt verlassen, hier und jetzt, in diesem Bus, galten andere Wahrheiten, existierten ungeahnte Bedrohungen. Der Mann neben mir umklammerte einen Rosenkranz, hielt sich daran fest wie ein Bergsteiger an seinem Sicherungsseil. Seine zittrigen Finger spielten mit den Perlen des Rosenkranzes, seine Lippen murmelten unablässig Gebete, »Gegrüßet seist du, Maria« und das »Vaterunser«. Den Kopf hielt er gesenkt, er wackelte leicht vor und zurück. Auf den Hinterkopf hatte er sich ein Taschentuch gelegt, mit Weihwasser getränkt. Gegen das Pochen in seinem Kopf, erklärt er mir mit leiser Stimme. Er sah mich kaum an dabei. Von Bischof Milingo versprach er sich Linderung seiner Schmerzen, kein Neurologe oder Psychotherapeut hatte ihm helfen können. Ein wenig beneidete ich ihn um diese Hoffnung. Ich hoffte bestenfalls darauf, am Ende der dreitägigen Reise meinen Drogenpegel wieder auf ein moderates Maß gesenkt zu haben. Daran, dass meine Entzugsversuche irgendwann von dauerhaftem Erfolg sein würden, konnte ich nicht mehr glauben. In den vergangenen zwölf Monaten war ich einfach zu oft gescheitert. Alle meine Entgiftungsversuche, die Monate bei Kirsten oder die Besuche bei Ellen, hatten damit geendet, dass ich noch in der Stunde, in der ich in meine Wohnung zurückkehrte, wieder zum Heroin griff. Ich wusste nicht mehr weiter. Nach dieser Reise, hatte ich entschieden, würde ich mich um einen Platz in einer Therapie bewerben. Zum zweiten Mal in meinem Leben. Bisher hatte ich mich geweigert, über eine erneute Therapie und den zugehörigen Entzug in einem Krankenhaus nachzudenken. Mit dieser Entscheidung, so glaubte ich, kapitulierte ich endgültig vor der Droge. Ich 206
machte mein Versagen amtlich, mich aus eigener Kraft aus der Misere, die ich selbst verschuldet hatte, hinauszuarbeiten. Doch nach Dutzenden erfolglosen Versuchen, der Sucht Herr zu werden und wieder die Kontrolle über mein Leben zu erlangen, blieb mir nichts anderes übrig, als meine totale Niederlage einzugestehen. So konnte ich nicht weitermachen. Ich versuchte, mich in den Schlaf zu flüchten. Der Entzug gewährte mir nur ein fiebriges Dämmern, in das sich immer wieder Teile der Predigt oder das monotone »Vaterunser« aus 50 Kehlen mischte. In meinen Fieberträumen tauchten fast vergessene Bilder aus meiner Kindheit auf, Bilder eines gestrengen Gottes, der in dunklen Häusern aus Stein wohnte und hoch über den Altären thronend einen kleinen Jungen zwang, auf harten Bänken zu knien, bis seine Beine schmerzten; der ihn lateinische Lieder singen ließ, die er nicht verstand, wo er doch viel lieber an sonnigen Sonntagmorgen auf der Wiese hinter der Kirche Fußball gespielt hätte. Die Erinnerung an Scham und Angst; an den Tag, an dem ich als Sechsjähriger bei einem sonntäglichen Kirchbesuch in die Hose gepinkelt hatte, weil ich mich fürchtete, die Messe vor dem letzten Lied zu verlassen. Die Erinnerung an einen Gott, den ich zwischen der ersten Jeans und dem ersten Sex für alle Zeiten entmachtet hatte. Immer wieder schrak ich auf, schweißnass und mit wild hämmerndem Herzen. Vielleicht lag es an den Entzugserscheinungen und den Predigten, die in ununterbrochener Folge in mein wundes Hirn hämmerten, aber in diesem Moment erschienen mir Sucht und Gottesverehrung nach den gleichen Gesetzen zu funktionieren. Die Droge, die mein Leben beherrschte, forderte mit der gleichen Gnadenlosigkeit die totale 207
Unterwerfung wie der Gott, dem die Menschen in diesem Bus huldigten. Ich schleppte mich auf das Bordklo und schluckte meine nächste Ration Tabletten. Wieder auf meinem Platz angekommen, schloss ich die Augen, lehnte meine Stirn an den Sitz vor mir und wartete auf die gnadespendende Wirkung des Kodeins. »Sie müssen der Predigt zuhören«, mahnte mich die Frau auf der anderen Gangseite zum wiederholten Mal. »Der Abbe ist ein heiliger Mann. Er weiß genau, wie man den Versuchungen des Teufels widersteht.« Die Frau hatte unsere Reise organisiert, schon in Würzburg hatte sie mich begrüßt. Jetzt wollte sie sich mit mir unterhalten, schließlich war ich der einzige Unbekannte in diesem Bus, der Einzige, den sie nicht schon häufiger auf solchen Reisen begleitet hatte. Wann ich mich zu dieser Pilgerfahrt entschieden hatte, fragte sie mich. Ich erzählte ihr von einer schmerzhaften Trennung, dem Verlust des Arbeitsplatzes und einem Todesfall in der Familie. Von Alkoholexzessen und davon, wie mein Leben mehr und mehr aus der Spur geraten war. In dieser Situation, sagte ich ihr, hätte ich eine kurze Zeitungsnotiz über Bischof Milingo gelesen und augenblicklich das starke Bedürfnis verspürt, Trost und Unterstützung bei Gott zu suchen. Meine Geschichte gefiel ihr, und ich sah so erbarmungswürdig aus, dass sie in mir ein geeignetes Missionierungsobjekt sah. Stundenlang erzählte sie mir von den Zeichen, die das nahe Ende der Welt anzeigten. Von den Gebeten, die einem das Fegefeuer ersparten, von den fürchterlichen Qualen, die all jene ereilten, die nicht taten, wie von Gott befohlen. Sie erzählte von den tückischen Verlockungen der modernen Welt, zumeist finstere Winkelzüge des Teufels. Von einem amerikanischen Industriellen und Satanisten, der im Fernsehen zugegeben hätte, dass alle 208
Produkte seiner Firma, inklusive Einwegwindeln für Babys, verhext seien. Der Gläubige, erfuhr ich, war allzeit umringt von Gefahr und Versuchung. Sobald mir während ihrer Monologe die Augen zufielen, weckte sie mich erneut auf. »Sie müssen sich gegen den Teufel zur Wehr setzen!«, beschwor sie mich jedes Mal mit ernstem Blick. In diesen Momenten schien sie selbst mir eine Ausgeburt der Hölle zu sein, deren Auftrag auf Erden darin bestand, mich zu martern. Ich war in einem Alptraum gefangen. Doch das sagte ich ihr nicht. Als wir am frühen Abend an unserem Bestimmungsort ankamen, hatte ich kaum Schlaf gefunden und der Entzug hielt mich fest in seinen Klauen. Die Kirche, in der die Gottesdienste an diesem Wochenende stattfinden sollten, erinnerte an eine Fabrik. Eine große Halle aus Wellblech, davor säuberlich gestapeltes Baumaterial. Nur die Menschen, die das Gelände bevölkerten, wollten nicht so recht in eine Fabrik passen. Die Gläubigen hatten sich für ihre Audienz bei Bischof Milingo herausgeputzt, auf vielen Gesichtern lag ein feierlicher Glanz. Die einzigen dämonischen Mächte, deren Wirken ich feststellen konnte, tobten in meinem Inneren. Ich schlich über das Gelände, mit hängenden Schultern, und wünschte mich in das Hotel zurück, in dem die gesamte Reisegruppe zuvor eingecheckt hatte. Am Eingang zum Gelände vertrieben die Ordnungskräfte ziemlich rabiat ein Kamerateam des italienischen Fernsehens. Ich verbarg die Sofortbildkamera, mit der ich zuvor in unbeobachteten Momenten Bilder für »Die Woche« geschossen hatte, vorsorglich unter meiner Jacke. Der Befreiungsgottesdienst begann pünktlich um 20 Uhr. Die Halle, in der die Messe stattfand, hatte zwei Eingänge; der rechte, direkt neben dem Altar, war für die Kranken 209
und Besessenen reserviert. Bänke gab es nur dort und in den vordersten Reihen vor dem Altar. In der Halle drängten sich Hunderte Menschen, ich postierte mich ziemlich weit hinten und betete darum, dass dieser Spuk bald vorüber sein würde. Lange würden meine schmerzenden Beine mich nicht mehr tragen, immer häufiger brach mir kalter Schweiß aus, die Gebete und Lieder dröhnten in meinen Ohren und der Geruch des Weihrauchs verursachte mir Übelkeit. Als Bischof Milingo den heiligen Geist anrief, brach neben dem Altar die Hölle los. Die Besessenen schrien in den unterschiedlichsten Sprachen und Stimmlagen, sie rissen sich die Haare aus oder fielen einfach stocksteif zu Boden. Ein junges Mädchen gebärdete sich schlimmer als Linda Blair in »Der Exorzist«, sie tobte, schlug um sich, stampfte mit den Füßen auf den Hallenboden, fluchte in vielen Stimmlagen, ihr hübsches Gesicht zu einer Teufelsfratze verzerrt. Als sie versuchte, aus der Halle zu fliehen, mussten sie drei Männer halten. Ich hätte es ihr gerne gleichgetan. Über allem dröhnte die Stimme des Bischofs und die Gebete der Gläubigen. »Die Dämonen ertragen die Anwesenheit des heiligen Geistes nicht«, flüsterte mir einer meiner Mitreisenden zu, der neben mir stand. Dann erhob er seine Stimme wieder zum Gebet. Ich war in einen surrealen Horrorfilm geraten. Als ich versuchte, die Szene mit der Sofortbildkamera festzuhalten, war sofort ein Ordner neben mir. Er führte mich aus der Halle, nahm mir das Foto ab und erklärte mir, dass fotografieren nicht erlaubt sei und ich beim nächsten Mal des Geländes verwiesen würde. Obwohl ich kein Italienisch verstand, war seine Botschaft unmissverständlich. An der frischen Luft atmete ich einige Male tief durch, bevor ich mich wieder an meinen Platz in der Halle begab. 210
Im Anschluss an die Messe weihte der Bischof Wein, Essig und Salz der Gläubigen, alles im Reisepreis inbegriffen, und erteilte den Einzelsegen. Vor mir in der Schlange stand ein kräftiges Mädchen, auf deren T-Shirt Gesicht und der nackte Oberkörper von Jean-Claude Van Damme gedruckt waren. Als der Bischof seine Hand auf ihre Stirn legte, brüllte sie mit fremder Stimme Verwünschungen. Der Bischof sprach gebieterisch auf sie ein. Sie zuckte am ganzen Körper, fiel stocksteif nach hinten und verlor das Bewusstsein. »Der Dämon hat sie verlassen«, erklärte mir meine Reiseleiterin, die einige Meter hinter mir stand. Als der Bischof seine Hand auf meinen Kopf legte und mich segnete, geschah nichts. Ich würde mit meinen Dämonen ohne göttlichen Beistand fertig werden müssen.
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Abstellgleis Kurz nach meiner Rückkehr aus Italien bewarb ich mich erneut um einen Platz in einer Drogentherapie. Wenn ich das Wenige retten wollte, was von mir und meinem Leben übrig war, blieb mir keine andere Wahl. Schließlich hatte meine letzte Therapie mir zumindest fünf drogenfreie Jahre beschert. Und obwohl ich mich davor fürchtete, dass mich eine Zwangspause von mehreren Monaten beruflich zurückwerfen konnte, wusste ich, in meinem jetzigen Zustand würde ich nicht mehr lange durchhalten. Wieder nach Hahnenholz zu gehen, in meine erste Klinik, erschien mir wie ein Rückschritt. Dieses Kapitel war abgeschlossen. Ich war sechs Jahre älter und hatte mir in diesen Jahren ein neues Leben aufgebaut. Obwohl ich wieder Heroin drückte, sah ich keinen Grund, mein jetziges Leben hinter mir zu lassen und wieder ganz von vorne anzufangen. Ich wollte am Ende der Therapie nach Hamburg zurückkehren und wieder als Journalist arbeiten. Ich musste einfach nur wieder zu Kräften kommen, um mich einem Alltag ohne Drogen gewachsen zu fühlen. Musste herausfinden, weshalb ich wieder Heroin genommen hatte und wie ich in Zukunft darauf verzichten konnte. In den vergangenen sechs Jahren hatten sich auch die Therapien verändert, angefangen bei den formalen Rahmenbedingungen. Als ich meine erste Therapie angetreten hatte, gehörte die mit einer Laufzeit von neun Monaten noch zu den kürzesten, in manchen Kliniken blieben die Patienten bis zu 18 Monate. Mittlerweile belief sich die Therapiedauer für Drogenabhängige nur noch auf 212
vier bis sechs Monate. Ich entschied mich für die Kliniken Wied, eine Therapieeinrichtung im Westerwald. Die Kliniken Wied gehören zu den ältesten Suchttherapien in Deutschland, anfangs hatten sie dort nur Alkoholiker behandelt. Seit einigen Jahren nahmen sie auch Drogen-, Medikamentenund Spielsüchtige auf. Ich wählte ganz bewusst eine Klinik, in der nicht nur mit Drogensüchtigen gearbeitet wurde. Zum einen, weil ich meinte, für den Rest meines Lebens genug Junkies getroffen, genug von den ewig gleichen Geschichten und Anekdoten gehört zu haben. Zum anderen, weil in diesen Kliniken das Konzept meist weniger rigide war. Da Alkoholiker in der Regel sozial angepasster lebten als Junkies, Familie und Berufe hatten, war der Tagesablauf und das Therapieprogramm in solchen Kliniken weniger strikt. Stures Einhalten von Regeln spielte keine so große Rolle. Stattdessen sollten die Patienten von Beginn an selbst Verantwortung übernehmen. In so einer Klinik fühlte ich mich besser aufgehoben. Vor der Therapie fürchtete ich mich nicht. Nur vor dem, was danach kam. Davor, wieder clean als Journalist zu arbeiten, meinen Freunden wieder zu begegnen, die mein Elend der letzten Monate mit ansehen mussten. Vor den ereignislosen Abenden, an denen ich allein in meiner Wohnung sitzen würde. Dagegen waren die überschaubaren Erwartungen und Regeln in einer Drogenklinik beinahe einfach zu bewältigen. In der Klinik war ich sicher, vor meinen eigenen Ansprüchen, vor der Einsamkeit, vor der Langeweile, vor der Droge. Erst danach ging es um das Überleben. Einige Wochen später bekam ich den Bescheid, dass ich 213
im September 1997 meine Therapie in den Kliniken Wied antreten konnte. Jetzt galt es, die kommenden Monate möglichst schadlos zu überstehen. Arbeiten fiel mir zusehends schwerer, und mein Heroinkonsum stieg immer weiter an. Mit dem Geld, das ich verdiente, konnte ich meine Sucht schon seit einiger Zeit nicht mehr finanzieren. Mein Konto war über das Limit belastet, ich hatte meine sämtlichen Wertgegenstände verpfändet und seit zwei Monaten keine Miete mehr gezahlt. Im nächsten Monat würde mein Vermieter mich aus der Wohnung werfen. Der Gerichtsvollzieher hatte auch schon vor meiner Tür gestanden. Ohne Hilfe würde ich nicht bis zur Therapie durchhalten. Als ich nicht mehr weiterwusste, rief ich Anke an und schilderte ihr meine Probleme. Anke arbeitete als Redakteurin bei »Spiegel Kultur Extra«. Wir hatten uns 1994 kennen gelernt, damals schrieb ich für »jetzt«, das Jugendmagazin der »Süddeutschen Zeitung«, wo sie als Redakteurin meine Texte betreute. Vor zwei Jahren war sie nach Hamburg gezogen, seit dieser Zeit waren wir gute Freunde. Bevor ich rückfällig geworden war, hatten wir uns einmal in der Woche zum Skatspielen getroffen. Neben Christoph und Kirsten war Anke die einzige meiner Kollegen, der ich von meinem Rückfall erzählt hatte. Trotzdem kostete mich dieses Gespräch große Überwindung. Ich hasste das Gefühl, für alle meine Freunde nur eine Last zu sein. »Okay, was brauchst du?«, fragte Anke mich, als wir uns am darauf folgenden Tag in ihrer Mittagspause trafen. Wir saßen an der Alster, die Sonne schien, Anke trug einen dünnen Rock, der über ihrem Knie endete. Neben uns übten einige Skater spektakuläre Sprünge und Figuren. Ich nahm all die Schönheit um mich nur am Rande wahr, den strahlend blauen Himmel, Ankes Beine, die 214
Ausflugsdampfer auf der Alster, die schnittige Eleganz der Skater. »Eine Menge Geld«, antwortete ich. »Ich denke, mit 1000 bis 2000 Mark komme ich erst mal über die Runden. Aber zurückzahlen kann ich das erst irgendwann nach meiner Therapie. Keine Ahnung, wie lange es dauern wird.« Anke dachte kurz nach. »In Ordnung, ich leihe dir 1500 Mark. Sonst kommst du möglicherweise gar nicht in der Therapie an. Gib sie mir zurück, wenn du kannst.« Ich bedankte mich. In meine Scham mischte sich große Erleichterung. Bevor Anke zurück in die Redaktion ging, hob sie 800 Mark von ihrem Konto ab und drückte mir die Scheine in die Hand. »Den Rest gebe ich dir nächsten Monat, ist das in Ordnung?«, fragte sie mich. »Klar, kein Problem«, sagte ich, obwohl ich mich mit dem gesamten Geld deutlich besser gefühlt hätte. Anschließend fuhr ich zum Hauptbahnhof und kaufte einige Gramm Heroin und Kokain. Zumindest die nächsten Tage musste ich den Entzug nicht mehr fürchten. Aber auch Ankes Geld würde mich nicht über die komplette Distanz bis zur Therapie bringen, das war mir klar. Am nächsten Tag meldete ich mich im Amt für Wohnungssicherung. Diese Abteilung des Hamburger Sozialamtes war dafür zuständig, drohende Obdachlosigkeit mit kurzfristigen Hilfeleistungen abzuwenden. Ich schilderte der zuständigen Sachbearbeiterin meine Situation. Das Amt für Wohnungssicherung übernahm meine Mietschulden in Form eines unbefristeten Darlehens und zahlte auch in den 215
nächsten Monaten, bis zum Beginn meiner Therapie, meine Miete. Außerdem riet mir die Sachbearbeiterin, Sozialhilfe zu beantragen. Das Sozialamt bewilligte mir eine bescheidene Hilfe zum Lebensunterhalt. In den kommenden Monaten würde ich also nicht aus meiner Wohnung fliegen und konnte meine Stromrechnung zahlen. Unabhängig davon, ob ich noch in der Lage war, zu arbeiten. Das nächste Problem war das Heroin. Ankes Geld war bald aufgebraucht. Also bewarb ich mich um einen Platz im Methadon-Programm. Seit einigen Jahren bot die Stadt Hamburg Junkies die Möglichkeit, auf Kosten der Krankenkassen mit dem Heroinersatzstoff Methadon oder Polamydon versorgt zu werden. Methadon und Polamydon sind dem Heroin verwandte Stoffe. Tropfen, die mit Saft vermischt getrunken werden. Methadon und Polamydon nehmen die Entzugserscheinungen, haben aber den Nachteil, dass der Rauschzustand und vor allem der Kick, dem jeder Junkie nachjagt, weitgehend ausbleiben. Normalerweise dauerte es wegen des großen Andrangs Monate, bis ein Platz in diesem Programm frei wurde. Da ich die Zusage der Klinik für einen Therapieplatz vorweisen konnte, wurde ich kurzfristig aufgenommen. Bis zu meinem Therapieantritt würde ich Polamydon bekommen. Bevor ich substituiert werden konnte, musste der zuständige Arzt eine Blutuntersuchung vornehmen. Er musste sichergehen, dass ich tatsächlich heroinabhängig war. Einen Nichtsüchtigen konnte die Menge Polamydon, die nötig war, meinen Entzug zu bekämpfen, umbringen. Bei dieser Blutuntersuchung wurde routinemäßig auch nach Krankheiten wie Aids und Hepatitis C gesucht, Virusinfektionen, die unter Junkies weit verbreitet waren. Die Blutabnahme gestaltete sich ziemlich schwierig. Der Arzt, obwohl erfahren im Umgang mit Junkies, fand 216
keine intakte Vene, weder an meinen Armen noch an meinen Beinen. Also entschied er sich, das Blut aus der Leiste zu entnehmen. Die Vene dort liegt ungefähr zwei bis vier Zentimeter unter der Haut und ist von außen nicht zu erkennen, daher wird sie von Junkies eher selten benutzt. Nachdem der Arzt mir die fünf Zentimeter lange Nadel tief in meine Leiste gebohrt hatte, konnte ich zwei Tage kaum laufen. »Nehmen Sie Platz«, sagte der Arzt, nachdem ich die Tür zu seinem Sprechzimmer hinter mir geschlossen hatte. Eine Woche war seit der Blutabnahme vergangen. Ich setzte mich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, er blätterte in der Akte, die vor ihm auf der Tischplatte lag. »Waren Sie in der letzten Zeit krank, abgesehen von den Entzugserscheinungen?«, fragte er mich. Ich dachte kurz nach. Dann erinnerte ich mich an die Rückreise nach meiner Wüsten Wanderung. Ich erzählte ihm davon. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte ich. »Das Labor hat Hepatitis-C-Antikörper in Ihrem Blut gefunden«, sagte er. »Das heißt, Sie haben sich mit diesem Virus infiziert. Manchmal fühlt man sich dann, als hätte man einen grippalen Infekt.« »Was bedeutet das genau?«, fragte ich. »Wir wissen zu diesem Zeitpunkt nur, dass Sie Kontakt mit dem Hepatitis-C-Virus hatten, ob Ihr Immunsystem die Infektion überwunden hat, kann ich noch nicht sagen.« sagte der Arzt. »Wir müssen jetzt testen, ob die Infektion noch aktiv ist, ob in Ihrem Blut Viren zu finden sind.« Hepatitis C, erklärte er mir, ist eine unberechenbare 217
Krankheit mit zyklischem Verlauf, die häufig chronisch wird und im schlimmsten Fall zu Leberzirrhose oder Leberzellenkrebs führen und tödlich enden kann. Eine verlässliche Behandlungsmethode existierte damals nicht. Auch wenn der Körper Antikörper produziert und keine Viren im Blut nachzuweisen sind, kann die Krankheit noch Jahrzehnte später unvermittelt ausbrechen. Manchmal bleibt das Virus auch für den Rest des Lebens inaktiv oder heilt, in sehr seltenen Fällen, sogar spontan vollständig aus. Da Hepatitis C von Blut zu Blut übertragen wird und schon kleinste Mengen genügen, hatte sich das Virus in den vergangenen Jahren unter Junkies rasend schnell ausgebreitet. Auch unter meinen Freunden, sowohl Frank als auch Henry waren infiziert. Mittlerweile hatte Hepatitis C Aids als klassische JunkieSeuche längst abgelöst. Unglücklicherweise wussten die meisten von uns in den ersten Jahren nach Entdeckung des Virus nicht, welche konkreten Vorsichtsmaßnahmen zum Schutz vor der Infektion mit Hepatitis C nötig waren. Da das Hepatitis-CVirus Stunden und Tage außerhalb des Körpers überlebt, auch in Wassergläsern oder auf Löffeln, bestand schon Ansteckungsgefahr, wenn wir unsere Spritzen in dem gleichen Wasserglas reinigten oder den gleichen Löffel zum Aufkochen benutzten. Wahrscheinlich hatte ich mich auf diesem Weg bei Henry angesteckt; denn seine Spritzen hatte ich nie benutzt – ich wusste, dass er HIV positiv war. Hepatitis C, erfuhr ich, konnte damals nur mit Interferon behandelt werden, einem Medikament aus der Krebstherapie, das den Körper extrem belastete. Die Behandlung dauerte ein Jahr. Ein Jahr, in dem viele Patienten täglich unter Übelkeit, Schweißausbrüchen und oft schweren Depressionen litten; ein Jahr, in dem sie ständig müde waren, ihnen die Haare ausfielen, ihr ganzer 218
Körper aufschwemmte. Trotzdem lagen die Heilungschancen nur bei ungefähr bei 30 Prozent. Als Teenager hatte ich so viele Jahre exzessiv Drogen genommen, ohne mich um irgendwelche Vorsichtsmaßnahmen zu scheren, und war ohne bleibende Schäden geblieben. Jetzt war ich gerade mal 18 Monate rückfällig und hatte mich mit einer lebensgefährlichen Krankheit infiziert. Welchen Verlauf die Krankheit bei mir nehmen würde, konnte erst im Laufe der Jahre prognostiziert werden. Also blieb mir nichts anderes übrig, als abzuwarten und das Beste zu hoffen. Jetzt musste ich mich zuallererst darum kümmern, meine Sucht in den Griff zu bekommen. Am Tag nach meinem Arztbesuch nahm ich zum ersten Mal Polamydon. Der Arzt hatte mir ein Rezept ausgestellt, das ich in einer Apotheke abgab. Der Apotheker mischte den Ersatzstoff mit Himbeersirup und Wasser. Die Apotheke lag nur wenige Minuten von meiner Wohnung entfernt, jeden Morgen trank ich dort meine Dosis, immer unter Aufsicht. Nur am Samstag füllte der Apotheker mir die Sonntagsration in ein kleines Fläschchen. Ganze Wochenrationen wurden den Patienten erst nach einigen Wochen oder Monaten ausgehändigt, wenn sie sich als halbwegs zuverlässig erwiesen hatten. So sollte verhindert werden, dass die Substituierten mit dem Ersatzstoff Handel trieben. Eine sinnvolle Vorsichtsmaßnahme, am Hamburger Hauptbahnhof florierte mittlerweile ein reger Schwarzmarkt für Methadon und Polamydon. Das Polamydon wurde mir schnell widerlich. Es nahm mir die Entzugssymptome, sicher, das funktionierte schon. Das Medikament bot tatsächlich einen Notausgang aus der zermürbenden Tretmühle der Drogenbeschaffung. Aber es versetzte mich in einen Zustand, der mir unerträglich war – ich stumpfte vollends ab. Auf Drogen ging es mir 219
wenigstens ab und an so elend, dass ich mich im Vergleich dazu an anderen Tagen beinahe gut fühlte, und die Notwendigkeit, Geld zu verdienen, marterte mich zwar, zwang mich aber auch zur Arbeit, dazu, zumindest ansatzweise am Leben teilzunehmen. Und wenn auf meinem Konto eine größere Zahlung einging, fühlte ich sogar etwas Ähnliches wie Freude. Polamydon dagegen versetzte mich in ein dumpfes Dämmern, ein diffuses Gefühl von wunschlosem Unbehagen, nichts hatte mehr Bedeutung. Völlige Antriebslosigkeit, ich schlurfte morgens in meine Apotheke, und das war es. Arbeiten ging gar nicht mehr. Warum auch? Ich saß nur noch vor meinem alten Fernseher, stundenlang, und glotzte wahllos alles, was mir vorgesetzt wurde, von der Tour de France im Ersten bis zu »Unsere kleine Farm« auf Kabel 1. Vor meine Fenster hatte ich dichte Vorhänge gezogen. Draußen brannte die Sonne, es war ein außergewöhnlich heißer Sommer. Aber auch ohne die Hitze trieb mir das Polamydon den Schweiß aus allen Poren. Beides zusammen war kaum auszuhalten. Wenn ich mich morgens die wenigen Schritten zur Apotheke schleppte, war mein T-Shirt anschließend völlig durchnässt. Also verbrachte ich die Tage regungslos in meiner abgedunkelten Wohnung. Wenn ein wenig Geld übrig war, kaufte ich mir davon Kokain. Der Kick, den das Kokain mir verschaffte, war das Einzige, was mich für Momente aus dem Polamydondämmern riss. Das Polamydon weckte meinen Heißhunger auf Süßes. Ich ernährte mich beinahe ausschließlich von Eis und Schokoladenpudding, die ich mir vom Pizza-Lieferservice an die Haustür bringen ließ. Nutella löffelte ich pur aus dem Glas. Schon in den Monaten zuvor hatte ich ziemlich an Gewicht zugelegt. Jetzt wurde ich noch fetter, das Polamydon ließ mich zudem wie aufgequollen aussehen. 220
Ein Grund mehr, die Wohnung nicht zu verlassen. Ich fühlte mich wie ein ausrangierter Zug auf dem Abstellgleis. Anfang September, drei Wochen vor Therapiebeginn, trat ich meine Entgiftung im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll an. Der kalte Entzug gehörte der Vergangenheit an, jetzt bekamen Drogenabhängige in der Klinik ebenfalls Methadon oder Polamydon. Jeden Tag wurde die Dosis schrittweise verringert, erst in der letzten Woche wurde auf den Ersatzstoff verzichtet. In den ersten zehn Tagen fühlte ich mich von Tag zu Tag besser. Ich spielte mit den anderen Patienten Volleyball oder saß viele Stunden im Garten der Entzugsstation und las; ließ mir Akupunkturnadeln in mein Ohr stechen, die den Entzug erleichtern sollten, und nahm an einem QiGong-Kurs teil, den einer der Pfleger anbot. An einem Wochenende fuhren die gesamten Patienten sogar gemeinsam mit dem Pflegepersonal in ein nahe gelegenes Kino. Dort sahen wir uns »Das fünfte Element« an, Milla Jovovich in ihrem knappen Bondage-Kleid von Jean-Paul Gaultier erschien nächtelang in meinen Träumen. Langsam fand ich ins Leben zurück. Nach einer Woche begann ich, mich mit der Krankheit zu beschäftigen, die mein Leben bedrohte. Im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll arbeitete ein Arzt, der maßgeblich in der Hepatitis-C-Forschung in Deutschland involviert war. Dass in meinem Blut keine Virentätigkeit festzustellen war und meine Leber keine erhöhten Werte oder gar Schäden aufwies, wusste ich schon. Daher, erklärte mir der Arzt, sah er auch keinen Anlass zu einer Interferon-Behandlung. Dazu würde er mir erst raten, wenn die Krankheit tatsächlich akut war. Trotzdem bestand natürlich weiterhin die Gefahr, dass die 221
Krankheit unvermittelt ausbrach. Bei ungefähr 80 Prozent der Infizierten, so die Statistik, wurde die Krankheit im Laufe der Jahre chronisch, bei einem Drittel dieser 80 Prozent entwickelte sich daraus im Laufe der Jahrzehnte eine Leberzirrhose. Ganz so finster, dachte ich mir, sah meine Situation dann ja doch nicht aus. Außerdem, erklärte mir der Arzt, erhöhten sich mit jedem Jahr ohne Befund meine Gesundungschancen, einmal, weil die Forschung ständig Fortschritte machte und mit jedem neuen Behandlungsverfahren die Heilungsquote stieg. Zum anderen bestand ja auch immer noch die Möglichkeit, dass ich zu den wenigen gehörte, bei denen die Infektion nie wieder ausbrach und von selbst ausheilte. Eine Möglichkeit, die ich entschieden favorisierte. Wenn es eng wurde, hatte ich mich doch meistens auf mein Glück verlassen können. Doch die beste Nachricht war, dass die Hepatitis-CInfektion das Sexleben weitaus weniger drastisch einschränkt als zum Beispiel HIV. Da der Erreger nur von Blut zu Blut übertragen wird, erklärte mir der Ar/t, sei eine Infektion über Schleimhäute und andere Körperflüssigkeiten kaum wahrscheinlich. Es sei denn, es gäbe offene Wunden. Das Risiko, sich bei ungeschütztem, normalem Geschlechtsverkehr zu infizieren läge unter einem Prozent. Allerdings sei bei Analverkehr und vor allem Sado-Maso-Praktiken besondere Vorsicht geboten. »Das heißt, ich kann ohne Kondom mit einer Frau schlafen?«, fragte ich ihn zum Schluss. »Als Arzt«, antwortete er, »muss ich Ihnen zu einem Kondom raten. Einfach, weil das Ansteckungsrisiko nicht völlig ausgeschlossen werden kann. Würden Sie mich allerdings privat fragen, würde ich empfehlen, das in einer festen, vertrauensvollen Beziehung gemeinsam mit der 222
Partnerin zu entscheiden.« Das klang doch alles in allem nicht so schlecht, wie ich nach der ersten Diagnose gefürchtet hatte.
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Daniela Ich sah Daniela zum ersten Mal an meinem ersten Tag in den Kliniken Wied. Es war September, ein sonnenmatter Spätsommerabend. Die Klinik lag malerisch inmitten des Westerwaldes. Ich fühlte mich schrecklich. Das Frösteln in meinem Körper ging mir bis auf die Knochen, auch der Sonnenschein hatte die Kälte nur kurz vertreiben können. Erst in der letzten Hälfte meiner Entgiftung hatten die Entzugserscheinungen eingesetzt, seit beinahe zwei Wochen hatte ich kaum noch geschlafen, 45 Minuten pro Nacht, im Höchstfall. Ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Da ich schon vor der Entgiftung beinahe ein halbes Jahr Polamydon genommen hatte, zog sich mein Entzug schier endlos. Anders als der Heroinentzug, der ungleich schmerzhafter abläuft, aber dafür auch überschaubarer – nach vier oder fünf Tagen geht es langsam aufwärts, nach zwei Wochen ist das Gröbste überstanden –, wollte die Chemikalie nicht aus meinem Organismus, der dumpfe Schmerz und die Taubheit bissen sich für viele Wochen in meinem Körper fest. Beinahe drei Monate dauerten diese Schlafstörungen an, mehr als eine Stunde pro Nacht war nicht drin, keine Liegeposition konnte ich lange aushalten. Manchmal stand ich kurz davor, meinen genussvoll schnarchenden Zimmerkollegen zu erdrosseln. Tagsüber schleppte ich mich über das Klinikgelände, musste mich am Geländer festhalten, wenn ich eine Treppe hoch wollte, weil mir sonst die Beine weggesackt wären. Daniela war schon zwei Monate hier, als ich aufgenommen wurde. Ein zierliches Mädchen aus Süddeutschland, als ich sie zum ersten Mal sah, saß ich 224
auf der letzten Stufe einer Treppe, ausgelaugt und bewegungsunfähig. Sie schien die Treppe hinaufzufliegen. Anfang zwanzig und das schönste Mädchen, das ich seit langer Zeit gesehen hatte, sie schien zu flirren vor Energie und Leben. Anfangs hielt ich Abstand. In den Kliniken Wied herrschte, wie in den meisten Drogentherapien, Männerüberschuss, nur ungefähr ein Viertel der Patienten waren Frauen. Und die wenigsten von ihnen waren auch nur annähernd so jung und hübsch wie Daniela. Die Männer umschwärmten sie. Ich hielt mich aus den Balzspielen heraus. Mir fehlten schlicht die Kraft und das Selbstbewusstsein dazu. Außerdem hatte ich genug andere Probleme, ich musste mich nicht auch noch wegen eines Mädchens zum Affen machen. Nach zwei Wochen war sie es, die mir bei einem Spaziergang im Klinikpark gestand, dass sie sich in mich verliebt hatte. Nie war ich so anfällig für Verliebtheit und die Sehnsucht nach Intimität wie in diesen Momenten: Kurz nach dem Drogenentzug war mir jedes Mal, als sei meine Haut verkehrt herum auf den Körper getackert. Schutzlos, offen, allem ausgeliefert – all den Reizen und Bedrohungen, die von außen auf mich eindrangen oder in meinem Inneren tobten. Mehr als ein Jahr hatten die Opiate alle anderen Bedürfnisse beinahe völlig ausgeschaltet. Jetzt kamen sie mit Macht zurück. Daniela ging es ähnlich. Wir stürzten uns wie Verhungernde aufeinander, auf die Nähe, die Berührungen, den Sex. Erlösung. In Wied wurde auch mit Beziehungen unter den Patienten anders umgegangen als damals in Hahnenholz, meiner ersten Therapie. Gern sahen es die Therapeuten auch hier nicht, wenn sich zwei Süchtige zusammentaten. Aber eine 225
Beziehung wurde geduldet, wenn das frisch verliebte Paar bestimmte Auflagen erfüllte. Genau genommen bestehen die Kliniken Wied aus drei verschiedenen Therapiehäusern, die im Umkreis von zehn Kilometern in winzigen Dörfern des Westerwaldes gelegen sind. Die ersten zwei Wochen verbringen alle Patienten im Haupthaus in Wied, wo ich Daniela begegnet war. Danach entscheiden die Therapeuten, ob ein Patient in eines der beiden anderen Häuser verlegt werden soll oder ob er seine Therapie im Haupthaus fortsetzen wird. Verliebten sich zwei Patienten, wurden sie getrennt. Damit die Beziehung die Therapie nicht störte. Treffen durften sich Paare nur in ihrer Freizeit. Wir fanden häufig Gelegenheit, uns nahe zu sein. Während der Woche telefonierten wir jeden Abend. An den Wochenenden trafen wir uns zu langen Waldspaziergängen, gegenseitige Besuche auf unseren jeweiligen Zimmern in der Klinik waren streng untersagt. Dann lagen wir für entrückte Stunden auf einer Lichtung in der Spätsommersonne, streichelten und küssten uns. Bei schlechtem Wetter flüchteten wir in die Cafes der Umgebung. Wir redeten über unsere Vergangenheit, von unseren Ängsten und Träumen und begannen schon bald, zaghafte Pläne für eine gemeinsame Zukunft zu schmieden. Seit meiner Trennung von Miriam hatte ich mich nicht mehr so verliebt. Wenn ein Tag verging, ohne dass ich sie sah oder ihre Liebesschwüre am Telefon hörte, wurde ich schier wahnsinnig. Nach einigen Wochen mieteten Daniela und ich uns an einem Sonntagmittag ein Hotelzimmer in einem kleinen Landgasthof. Dort schliefen wir zum ersten Mal miteinander. Wir blieben den gesamten Nachmittag im Bett, erst spät am Abend, kurz bevor wir in unsere Therapiehäuser zurückkehren mussten, verließen wir das 226
Hotel, völlig berauscht voneinander. Wann immer unsere Zeit und unsere Finanzen es zuließen, schliefen wir auch an den kommenden Wochenenden in den Hotelzimmern der Umgebung miteinander. Ich hatte Daniela schon nach wenigen Tagen von meiner Hepatitis-C-Infektion erzählt. Sie gehörte zu den wenigen Junkies in der Klinik, die nicht infiziert waren. Trotzdem wollte sie keine Kondome benutzen, zur Verhütung nahm sie die Pille. Mir war das sehr recht, mir verdarben Kondome immer den Spaß am Sex. Die Zeit, in der wir uns nicht sehen konnten, nutzte ich dazu, meinen Körper wieder in Form zu bringen. Ich nahm so ziemlich jedes Sportangebot wahr und obwohl ich vom Schlafmangel geschwächt war, joggte ich mehrmals in der Woche mit einem Mitpatienten durch den Westerwald. Zuerst hielt ich nur wenige Minuten durch, doch von Woche zu Woche steigerte sich meine Leistungsfähigkeit. Da ich eh kaum schlief, leitete ich jeden Morgen den Frühsport ein. Neben der räumlichen Trennung bestanden die Therapeuten darauf, dass wir über unsere Beziehung ausführlich in den Gruppensitzungen redeten. Meine Therapeutin machte es mir nicht leicht. Sie sah meine Beziehung sehr skeptisch. Vor allem, da Daniela mir nach Wochen gestanden hatte, dass sie unter Bulimie litt, einer schweren Essstörung, die im schlimmsten Fall zum Tod durch Nierenversagen führen konnte. »Ich denke, du unterschätzt, wie krank das Mädchen tatsächlich ist«, sagte meine Therapeutin. »Es kann noch Jahre dauern, bis Daniela ihre Essstörung und ihre Drogensucht in den Griff bekommt, sie ist erst Anfang zwanzig. Und du unterschätzt deine eigene Sucht. In den nächsten Jahren wirst du genug damit zu tun haben, clean zu bleiben, auch ohne dich um Daniela zu kümmern.« 227
Unser Plan, nach der Therapie gemeinsam in Hamburg zu leben, gefiel meiner Therapeutin nämlich noch weniger. »Ich kann verstehen, dass ihr euch nach Zärtlichkeit und Sex sehnt«, sagte sie. »Aber ich wäre vorsichtig damit, aufgrund dessen meine Zukunft zu planen. Du kannst gar nicht absehen, worauf du dich einlässt. Langfristig sehe ich keine großen Chancen für euch beide.« Sie erinnerte mich daran, dass Beziehungen, die in Therapien entstehen, dem Alltag selten standhalten. Mehr als 90 Prozent aller Partnerschaften zwischen zwei ehemaligen Drogenabhängigen enden mit Rückfall. Aber Statistiken, dachte ich, konnten Daniela und mir nichts anhaben.
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Reset Als ich an einem Freitag im November nach Hause in meine Hamburger Wohnung kam, öffnete ich als Erstes die Fenster. Die Luft roch nach Staub, abgestandenem Rauch, verdorbenen Essensresten und verschwitzter Wäsche. Ich sah mich in meiner Wohnung um. Der Anblick war genauso trostlos, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Auf dem Boden Gebirge von Zeitschriften und schmutziger Wäsche, der Schreibtisch übersät mit Papieren, an der Wand zahlreiche Spritzer von getrocknetem Blut. Es würde mich eine Menge Zeit und Arbeit kosten, die Wohnung wieder in einen bewohnbaren Zustand zu versetzen. Aber dazu blieben mir nur knapp drei Tage. Am Sonntagabend wurde ich in den Kliniken Wied zurückerwartet, meine Therapie würde erst in vier Wochen beendet sein. In der letzten Therapiephase schickte die Klinik den Patienten an zwei oder drei Wochenenden nach Hause. Wir sollten uns schrittweise an unsere bevorstehende Rückkehr in den Alltag herantasten. Bevor ich mit dem Aufräumen begann, hörte ich meinen Anrufbeantworter ab. Da alle Freunde wussten, wo ich mich aufhielt, und ich mich vor Therapieantritt bei meinen Arbeitgebern wegen einer ausgiebigen Urlaubsreise abgemeldet hatte, erwartete ich keine aufregenden Neuigkeiten. Doch die letzte Nachricht stammte von dem damaligen Chefredakteur der Zeitschrift »Max«. Er suchte einen Medienredakteur für sein Magazin. Glücklicherweise war die Nachricht erst wenige Tage alt. Ich rief sofort zurück. Der Chefredakteur erzählte mir, dass mich ein Kollege, den ich während meiner Arbeit für »Tempo« kennen gelernt hatte, empfohlen hätte, und bat 229
um ein persönliches Treffen. Wir verabredeten einen Termin in zwei Wochen. An dem Wochenende, an dem ich zum letzten Mal vor der Entlassung aus der Therapie nach Hamburg fahren würde, um alles für meine Rückkehr vorzubereiten. Davon erzählte ich dem Chefredakteur nichts. Als der Chefredakteur und ich uns dann trafen, einigten wir uns darauf, dass ich den Posten des Medienredakteurs übernehmen würde. Eine Anstellung als Redakteur bekam ich nicht, ich war Pauschalist, mein Vertrag sah vor, dass ich an zehn Tagen im Monat für »Max« arbeiten würde. In dieser Zeit hatte ich für jede Ausgabe sechs Seiten zu füllen. Anwesenheitspflicht in der Redaktion bestand für mich nur an den Tagen, an denen die Medienseiten des jeweiligen Heftes druckfertig gemacht wurden. Dafür wurde mir ein Honorar gezahlt, mit dem ich jeden Monat meine gesamten Rechnungen begleichen konnte. Außerdem blieben mir immer noch zwei Wochen, in denen ich frei für andere Redaktionen arbeiten und etwas Geld dazuverdienen konnte. In den ersten Januarwochen sollte ich gemeinsam mit dem Art Director und dem Chefredakteur ein neues Konzept für die Medienseiten entwickeln, im Februar sollte die Arbeit an der ersten Ausgabe beginnen. Da meine Therapie in der ersten Januarwoche endete, passte alles perfekt zusammen. Mein Glück schien mich noch nicht gänzlich verlassen zu haben. Am 5.1.1998 wurde ich nach 16 Wochen aus der Therapie entlassen. Daniela folgte mir vier Wochen später nach Hamburg, ihre Therapie hatte sechs Monate gedauert. Im Februar zog sie in der Wohngemeinschaft ein, in der auch ich in meinen ersten Monaten in Hamburg gelebt hatte. Im Mai übernahm ich bei »Max« zusätzlich noch die Urlaubsvertretung für einen Kollegen und 230
verfasste immer häufiger auch Texte für andere Ressorts des Magazins. Für all diese Arbeit bekam ich ein zusätzliches Honorar. Außerdem schrieb ich wieder für »jetzt« und »Spiegel Kultur Extra«. Ich verdiente mehr Geld als jemals zuvor. Meine ersten Honorare investierte ich in eine neue Garderobe. Ich kaufte Hosen, Pullover und T-Shirts von Helmut Lang und Jacken der italienischen Marke Stone Island, schließlich musste ich doch bei meinen Treffen mit der Werbebranche in etwa wie ein »Max«-Redakteur aussehen. In meinem Kleiderschrank war in den letzten zwei Jahren nicht mehr viel Vorzeigbares übrig geblieben. Dann zahlte ich nach und nach meine Schulden zurück. Daniela schenkte ich Kleider von Donna Karan und Unterwäsche von Calvin Klein. Ich genoss diese Einkäufe mit Daniela, sie freute sich wie ein kleines Mädchen über jedes meiner Geschenke. Als sie in ihre eigene, kleine Wohnung zog, lieh ich ihr die Summe, die sie für Renovierung und Einrichtung brauchte. Mit jedem Hunderter, den ich für Kleidung, Möbel, Restaurantbesuche oder kleine Wochenendtrips ausgab, kaufte ich mir auch ein Stück Normalität zurück. Trotzdem sammelte sich, da ich kein Geld mehr für Drogen ausgab, auf meinem Sparkonto erstmalig in meinem Leben ein fünfstelliger Betrag an. Der Neustart meines Lebens war gelungen. Nur hin und wieder begegnete ich meiner Vergangenheit. Im Frühling 1998 zum Beispiel, als ich die jährliche ADC-Preisverleihung besuchte. Eine Veranstaltung der Werbeindustrie, auf der herausragende Arbeiten aus den Bereichen Werbung und Layout prämiert werden. Dort war die Exorzismus-Reportage ausgestellt, die ich im Vorjahr unter großen Entzugsqualen für »Die Woche« gefertigt hatte, inklusive meiner heimlich geschossenen Polaroidfotos. 231
Im Sommer dann recherchierte ich für eine Reportage über die deutsche Sexfilm-Szene, anlässlich des Kinostarts von »Boogie Nights«, einem von der Kritik hoch gelobten Film über die amerikanische Porno-Industrie der siebziger Jahre. Bei einem Drehbesuch in Berlin traf ich eben jenen Regisseur, der vor mehr als einem Jahrzehnt in dem Sexclub in Köln meinen stümperhaften Porno-Versuch mit Zanne dirigiert hatte. Zu meiner großen Erleichterung erkannte er mich nicht wieder. Daniela, die ausgebildete Krankenpflegerin war und in diesem Beruf nicht mehr arbeiten wollte, besuchte ein Abendgymnasium. Beinahe jeden Abend holte ich sie nach Unterrichtsschluss von der Schule ab. Wir gingen zum Essen, ins Kino, trafen uns mit Freunden auf ein Bier oder saßen einfach nur aneinander geschmiegt auf meiner Couch, sahen fern oder hörten CDs. Meine CD-Sammlung hatte ich sofort nach meiner Rückkehr aus der Pfandleihe geholt. Die wunderbar melancholischen CDs des britischen Musikers Stephen Duffy und seiner Band The Lilac Time spielte Daniela ein ums andere Mal. Beinahe täglich schliefen wir miteinander. In ihrer Wohnung war sie nur selten. Meist übernachtete sie bei mir, morgens frühstückten wir gemeinsam. An den Weihnachtsfeiertagen reisten wir zunächst ins Allgäu, zu Danielas Familie, und anschließend ins Rheinland. Danielas Familie nahm mich freundlich auf, und Daniela verstand sich großartig mit meinen Eltern und mit Klara. Noch nie war ich einem geregelten Leben so nahe gekommen, einem Leben mit klaren Umrissen und einer Zukunft. Und noch nie hatte ich mich mit diesem Zustand so wohl gefühlt. Ich war 32 Jahre alt. Endlich war ich zur Ruhe gekommen. Erwachsen geworden. Beinahe unvorstellbar, dass es noch kein Jahr her war, dass mich mein Elend in die Therapie getrieben hatte. 232
Im November 1998 endete meine Zusammenarbeit mit »Max«. Der Chefredakteur bemängelte, dass auf meinen Medienseiten zu wenig Klatsch und Tratsch – er nannte es »Insiderinformationen« – aus der Medienszene zu finden sei, und bat mich, doch in meiner Freizeit Partys der Fernseh- und Werbebranche zu besuchen, um dort persönliche Kontakte zu knüpfen. Allein die Vorstellung gruselte mich, also beendeten wir die Zusammenarbeit. Im Monat darauf schrieb ich eine Reportage für »Spiegel Special«, das Monatsmagazin des »Spiegel«, das nach einem Wechsel der Redaktionsleitung einen Neuanfang versuchte. Ich besuchte Walter Zabel, einen Mann, der mit dem Down Syndrom auf die Welt gekommen und vor 25 Jahren Titelheld der ZDF-Serie »Unser Walter« gewesen war. Der Chefredakteur war von meiner Reportage beeindruckt und bot mir eine Redakteursstelle an. Doch die Vorstellung, Tag für Tag in einer Redaktion sitzen zu müssen, schreckte mich. Wir einigten uns auf einen Autorenvertrag. Für vier Tage Arbeit pro Woche bekam ich ein großzügiges Honorar. Nebenher schrieb ich, wann immer mir dazu Zeit blieb, als freier Autor für »Die Zeit« und »jetzt«. Vor einem Jahr erst hatte ich die Therapie beendet und war schon dort angekommen, wo sich beinahe jeder junge Journalist hin wünscht. Und all meinen Erfolg hatte ich mir mit eigener Kraft erarbeitet. Darauf war ich sehr stolz. Im Frühling zog ich in eine geräumige Altbauwohnung in Alsternähe. Am ersten Abend nach dem Einzug spazierte ich mit Daniela Hand in Hand am Alsterufer entlang, umgeben vom Grün der Bäume und Sträucher, die Silhouette der Stadt auf der anderen Flussseite ein Scherenschnitt vor dem mauvefarbenen Himmel. An diesem Tag konnte ich mein Glück kaum fassen. 233
Lust for Life Kurz darauf schlich sich die Sucht langsam wieder in unser Leben, schon Monate, bevor einer von uns beiden rückfällig wurde, war sie da. Daniela schmiss nach wenigen Monaten die Abendschule, es gelang ihr einfach nicht, einen geregelten Tagesablauf einzuhalten. Sie lebte sich nur sehr langsam in Hamburg ein. Nach einem Jahr kannte sie kaum jemanden in der Stadt, sie wusste nichts mit ihrer Zeit anzufangen und klammerte sich immer stärker an mich. Unsere Beziehung wurde enger, hermetischer, abhängiger. Jede freie Minute hingen wir zusammen, meine Freunde sah ich kaum noch. War ich in der Redaktion, brachte Daniela ihre Zeit immer häufiger damit zu, zu essen, sich den Finger in den Hals zu stecken und zu kotzen. Um dann wieder von vorne zu beginnen. Immer häufiger stritten wir uns wegen ihrer Fressanfälle. Dann verschwand sie manchmal für mehrere Tage. Dass sie mit Bergen von Lebensmitteln in ihrer Wohnung hockte, den ganzen Tag aß und kotzte und das Telefon und die Türklingel ignorierte, erfuhr ich erst später. Nach und nach begriff ich, mit welcher Kraft ihre Brechsucht sie gefangen hielt. Daniela unterschlug mir Geld, um ihre Fressgelage zu finanzieren, und wenn wir gemeinsam einkaufen gingen, warf sie riesige Mengen von Fertiggerichten in unseren Wagen, von denen ich wusste, dass sie am nächsten Tag allesamt in der Kloschüssel enden würden. Irgendwann war ich soweit, dass ich keinen Supermarkt mehr betreten konnte, ohne dass sich mein Magen zusammenkrampfte. Wenn wir essen gingen, verschwand Daniela alle zehn Minuten auf die Toilette. In mir gärte Wut, meine Hilflosigkeit schnürte mir die Kehle 234
zu. Nach und nach verlor ich selbst die Freude am Essen. Eines Abends im Frühjahr 1999, ich hatte erst vor kurzem begonnen, an vier Tagen die Woche für »Spiegel Special« zu arbeiten, kam ich gegen 19 Uhr aus der Redaktion nach Hause und fand den Notarzt in meiner Wohnung vor. Daniela war kollabiert und wand sich unter Krämpfen auf dem Boden. Der Arzt injizierte ihr Valium, sie lag auf meinem Bett und dämmerte weg. Ich saß daneben und fand keine Ruhe, aufgewühlt, verängstigt und gelähmt. Im Laufe der folgenden Wochen häuften sich die Zusammenbrüche. Danielas Anfälle, erklärte mir der Arzt, seien wahrscheinlich psychosomatisch und würden durch Hyperventilation ausgelöst, möglicherweise begünstigt durch ihren akuten Kaliummangel, eine Begleiterscheinung der Bulimie. Ich war bald am Ende meiner Kräfte, mein neuer Job war schon schwierig genug. Schließlich musste ich erst einmal beweisen, dass ich mein Geld wert war und beständig Texte abzuliefern vermochte, die dem Anspruch des »Spiegel« genügten. Und dessen war ich mir oft selbst nicht sicher. Ich hatte das Gefühl, als würde ich langsam ausbluten. Meine Arbeit, meine Beziehung, alles zehrte stetig an meiner Kraft. Und es gelang mir nicht, irgendwo eine Grenze zu ziehen. Ich nahm jeden Auftrag an, den ich bekommen konnte. Außerdem versuchte ich, Daniela zu helfen, ihr Halt und Zuversicht zu geben. Mir ging es schließlich besser als ihr, ich war in dieser Stadt zu Hause, hatte einen guten Job und Freunde, also musste ich dafür sorgen, dass unsere Beziehung am Leben blieb. Dass Daniela am Leben blieb. Sie war meinetwegen nach Hamburg gezogen, ich war dafür verantwortlich, dass sie hier Fuß fasste. Doch vor allem träumte ich immer noch von unserer gemeinsamen Zukunft. Ich klammerte mich 235
an diesen Traum, ihn aufzugeben erschien mir unerträglich, hier durfte ich nicht schon wieder versagen. Sonst würde ich mit 40 immer noch von einer Beziehung in die nächste hetzen, ohne Halt und Heimat. Gemeinsam mit Daniela besuchte ich eine ambulante Paartherapie, nichts änderte sich. Dass ich von alldem völlig überfordert war und mich mit großen Schritten auf den Burnout zubewegte, wollte ich nicht sehen, trotz der Warnung des Therapeuten. Bis der Heroinrausch irgendwann das Einzige war, das mir Linderung verhieß. Mein Rückfall begann mit Schlaftabletten. Nach Danielas drittem oder viertem Krampfanfall nahm ich selbst zwei der Valium, die der Arzt ihr für den Notfall verordnet hatte. Danach trank ich zwei Bier, und mit einem Mal löste sich all der Druck, der meinen Kopf in den letzten Wochen wie eine Schraubzwinge umschlossen hatte. Lange hatte ich mich nicht mehr so entspannt gefühlt. Daniela und ich schluckten immer häufiger Schlaftabletten, zuerst nur am Abend. Dann räumten wir leicht weggetreten die Wohnung auf, gingen essen, nicht einmal Danielas regelmäßiges Kotzen regte mich noch auf, oder betranken uns in der Kneipe um die Ecke. Anschließend schliefen wir dann wie in Zeitlupe miteinander. Aber auch diese Abende fraßen meine Energie stetig auf, mir fiel es immer schwerer, meine Arbeit gewissenhaft zu erledigen. Nach kurzer Zeit nahm Daniela ihre Pillen schon tagsüber und lag zugedröhnt auf dem Bett, wenn ich nach meiner Arbeit in der Redaktion nach Hause kam. Irgendwann erkannte ich an ihren nur stecknadelkopfgroßen Pupillen, dass sie wieder Heroin genommen hatte. Wütend schrie ich sie an, ob sie den Verstand verloren 236
habe und dass ich sie aus meiner Wohnung werfen würde, wenn ich sie noch einmal mit Heroin erwischte. Am nächsten Tag lag sie wieder von Krämpfen geschüttelt auf dem Fußboden, als ich von der Arbeit nach Hause kam. Ein paar Abende später fuhr ich selbst zum Hauptbahnhof und kaufte mir Heroin. Die Schlaftabletten genügten einfach nicht mehr, die Angst und den Aufruhr in meinem Kopf zu besänftigen. Kurz darauf rauchten Daniela und ich unser Heroin gemeinsam, bald wieder täglich. Nicht lange, und wir begannen zu drücken. Wir verfielen beide zusehends. Schon nach einigen Wochen wog Daniela nicht einmal mehr 40 Kilo, ihre Gesichtshaut sah aus wie zu eng auf ihren Schädel gespannt. Ich wurde immer bleicher, die Anspannung und die Droge gruben tiefe Furchen in mein Gesicht, meine Augen waren von dunklen Ringen umschattet. Da wir kaum noch vor die Tür gingen und ich immer häufiger zu Hause arbeitete, bemerkte keiner meiner Kollegen etwas davon. Auch meinen Freunden verschwieg ich meinen Rückfall, so lange es eben ging. Anfang Mai versuchte ich, die Notbremse zu ziehen. Am zweiten Maiwochenende waren Daniela und ich zur Taufe von Ankes Sohn in Keitum auf Sylt eingeladen. Da auch ihr Mann beim »Spiegel« arbeitete, waren Ankes Gäste zumeist Kollegen aus der »Spiegel«-Redaktion oder von der »Süddeutschen Zeitung«. Bei der Taufe würde es von Journalisten nur so wimmeln. Kollegen, die nicht erfahren durften, dass ich Drogen nahm. Absagen kam trotzdem nicht in Frage. Nicht nur, weil ich wusste, wie wichtig Anke dieses Fest war und dass sie sich sehr freuen würde, mich dort zu sehen. Meine Freunde und meine Arbeit waren der Anker, der mich noch mit der Normalität verband. Ich durfte der Sucht mein Leben nicht wieder völlig ausliefern. Wenn ich das tat, würde ich nicht mehr 237
lange durchhalten. Welchen Sinn hätte mein Leben noch, wenn ich all das verlor, was ich mir in den letzten Jahren aufgebaut hatte? Also musste ich dafür sorgen, dass Daniela und ich bis zur Taufe wieder halbwegs auf die Beine kamen. Am 1. Mai traf ich eine Vereinbarung mit Daniela. Wir wollten die nächste Woche zur Entgiftung nutzen, jeder für sich, jeder in seiner Wohnung, und uns erst am Tag vor der Taufe wieder treffen, beide clean. Ich kaufte Kodeintabletten für uns und fuhr Daniela am 2. Mai in ihre Wohnung. Fünf Tage später holte ich sie dort wieder ab. Sie sah schlimmer aus als vorher. Ich war selbst weit davon entfernt, mich fit zu fühlen, aber ich kam mittlerweile immerhin halbwegs schmerzfrei über den Tag. Daniela hatte erst am Abend zuvor mit ihrer Entgiftung begonnen, ihr ging es hundeelend. Trotzdem drängte sie darauf, mich zu begleiten. Noch ein Wochenende alleine, sagte sie, würde sie nicht aushalten. Zumal sie kein Geld mehr besaß und ihr Kühlschrank völlig leer war. Mittags trafen wir uns mit Christoph und seiner Freundin in Niebühl, von dort fuhren wir gemeinsam mit dem Autozug auf die Insel. Die beiden hatten im gleichen Hotel Zimmer gemietet. Christoph war ziemlich geschockt, als er uns beide sah. Wir hatten uns in den vergangenen Wochen kaum getroffen. »Seid ihr sicher, dass ihr mitfahren wollt?«, fragte er mich, als wir einen Moment alleine waren. »Daniela wirkt, als würde sie jeden Moment umfallen. Und viel besser siehst du auch nicht aus.« »Ich fahre auf jeden Fall mit«, sagte ich. »Ich kann Anke jetzt nicht mehr absagen. So schlecht geht es mir gar nicht, ich komme schon klar. Und Daniela kann ich in dem 238
Zustand nicht alleine lassen.« Auf Sylt checkten wir in unserem Hotel ein. Daniela holte eine Streichholzschachtel voller Pillen, darunter Kodein, Schlaftabletten und Psychopharmaka, aus ihrer Hosentasche und warf eine Handvoll davon ein. »Bist du irre?«, schrie ich sie an. »Das ist viel zu viel, das wird dich total umhauen.« »Lass mich in Ruhe. Ich brauche die Pillen, mir geht es total beschissen. Und du hast mir schließlich verboten, Heroin mitzunehmen.« Kurz darauf trafen wir uns mit Christoph und seiner Freundin im Restaurant von Jörg Müller, einem der besten Köche Deutschlands. Christophs Freundin hatte den Vorschlag gemacht, dort zu essen. Sie liebt gute Restaurants. Ich fühlte mich unbehaglich dort, das gediegene Ambiente schüchterte mich ein und die Preise konnte ich mir kaum leisten. Trotzdem, ich wollte den Abend mit meinen Freunden verbringen, zumindest für Stunden so tun, als würde mir gutes Essen noch etwas bedeuten. So tun, als würde ich ein normales Leben führen. Daniela gelang es kaum, die Augen offen zu halten oder einem Gespräch zu folgen, immer wieder sah es so aus, als würde sie vom Stuhl fallen. Alle zehn Minuten verschwand sie auf der Toilette, der teure Fisch endete in der Kloschüssel. Nach dem Essen tranken wir einen Cocktail an der Hotelbar. Daniela rutschte nach nur wenigen Schlucken besinnungslos vom Barhocker. Ich trug sie in unser Zimmer. Am nächsten Morgen wurde Ankes Sohn in der Keitumer Kirche getauft. Daniela und ich kamen spät, die anderen Taufgäste warteten schon vor der Kirchentür. Wir sahen fürchterlich aus. Mein Gesicht aschfahl, dunkle 239
Ränder um meine Augen. Daniela hatte sich stark geschminkt, was die Blässe ihres Gesichtes aber eher betonte als überdeckte. Sie schwankte so stark, dass ich sie fest an mich drücken musste. Schnell rettete ich mich mit Daniela in die Kirche. Der Pfarrer predigte von Glaube, Hoffnung und Liebe. Für mich nur noch schemenhafte Erinnerung. Sogar die Momente, in denen ich Zärtlichkeit für Daniela empfand, wurden immer seltener. Daniela fielen immer wieder die Augen zu, und ihr Kopf sank auf die Brust. Wenn wir während des Gottesdienstes stehen mussten, sackten ihre Beine weg. Mir gelang es nur mit Mühe, sie aufrecht zu halten. Nach der Kirche fuhren wir sofort in unser Hotelzimmer. Daniela sank wie tot auf das Bett. Wie gern hätte ich mich zu ihr gelegt. »So kann ich dich unmöglich mit zum Essen nehmen«, sagte ich. »Dann lass mich doch hier, wenn du dich vor deinen tollen Kollegen für mich schämst. Mir doch egal«, sagte sie. »Besorg mir noch eine Flasche Schnaps, bevor du gehst.« Kurz darauf war sie eingeschlafen. Es sah so aus, als müsste ich Daniela vor allem vor sich selbst schützen. Ich suchte die Streichholzschachtel mit ihren Schlaftabletten und steckte sie in meine Tasche, ließ nur eine kleine Ration auf ihrem Nachttisch liegen, so viel, dass sie sich damit unmöglich umbringen konnte. Dann zog ich mein Jackett über, verließ das Hotelzimmer und schloss die Tür hinter mir ab. Ich musste verhindern, dass Daniela in ihrem Zustand auf die Straße ging. Oder sich tatsächlich eine Flasche Schnaps besorgte. Anschließend fuhr ich mit Christoph und seiner Freundin zum Landhaus Stricker, wo das Abendessen serviert wurde. 240
Insgeheim beneidete ich Daniela. Über Sylt hing ein schmutzgrauer Himmel, von Osten wehten kräftige Böen über die Insel, die Nässe und Kälte drangen bis auf die Haut. Bei diesem Wetter schien mir unser Hotelbett ein verlockender Ort zu sein. Es kostete mich enorme Anstrengung, den neugierigen Blicken der Taufgäste zu begegnen, gefälligen Smalltalk zu halten und ein ums andere Mal zu erklären, dass Daniela im Hotel geblieben war, weil sie sich nicht wohl fühlte. Das Essen zog sich endlos, jede weitere Rede folterte mich. Bei der ersten Gelegenheit flüchtete ich mich in unser Hotelzimmer, wo Daniela noch immer völlig weggetreten auf dem Bett lag. Am nächsten Morgen verließen wir fluchtartig die Insel. Wieder in Hamburg angekommen, fuhr ich sofort zum Hauptbahnhof und kaufte mir ein Gramm Heroin. Bald drückte ich wieder täglich, zusammen mit Daniela. In den folgenden Monaten versuchte ich immer wieder, mich mit Kodein selbst zu entgiften. Ohne Erfolg. An einem Nachmittag im August saß ich in einer Suite des Hamburger Hotels Atlantic. Ich fror. Die Klimaanlage des Hotels lief auf vollen Touren, keine Chance für die Hitze, auch wenn draußen die Sonne brannte. Das Wasser der Alster vor dem Fenster reflektierte das Licht, es stach in meinen Augen. Trotz der Kühle des Zimmers brach mir immer wieder der Schweiß aus. Seit meinen ersten Interviews vor ungefähr acht Jahren war ich nicht mehr so unsicher gewesen. Vielleicht hätte ich etwas mehr Heroin nehmen sollen. Oder doch eher weniger? Auf dem Sofa gegenüber saß Iggy Pop. Einer der Helden meiner Jugend. Einer von denen, die mich beinahe 20 Jahre zuvor hatten spüren lassen, dass irgendwo jenseits des Neubaugebietes meiner Eltern eine wilde, aufregende Welt auf mich wartete. Einer, der meinen Hunger auf diese Welt der Drogen und Exzesse noch angefacht hatte. 241
Dessen Musik für Jahre der Soundtrack zu meinem Leben gewesen war. Aber in diesem Sommer des Jahres 1999 war alles anders. Iggy Pop war clean, seit vielen Jahren schon. Dieser Mann, der mir gegenübersaß, wirkte wach, freundlich und so lebendig, dass ich es kaum ertrug. Die Drogen hatten im Laufe der Jahre ihre Spuren tief in sein Gesicht gegraben, aber über all dem Schmerz lag eine große Gelassenheit. Jedes Mal, wenn ich ihn ansah, war mir hundeelend. Ich fühlte mich wie ausgesaugt, spürte mit brutaler Deutlichkeit, wie Heroin und Kokain mein Leben auffraßen. Iggy Pop war beinahe zwanzig Jahre älter als ich, aber ich fühlte mich in seiner Gegenwart entsetzlich müde und verbraucht. Gegen ihn war ich ein Greis. Vor dem Interview hatte ich meine Nervosität mit einer kleinen Menge Heroin eingedämmt, wie immer in den vergangenen Monaten. Dieses Mal war ich mit der Dosierung noch vorsichtiger als sonst. Was würde Iggy Pop tun, wenn er meine geschrumpften Pupillen bemerkte? Die Gefahr war groß, schließlich hatte der Mann viele Jahre selbst Heroin und Kokain gedrückt. Wenn meine Sucht jemandem auffallen würde, dann ihm. Möglich, dass er mich aus dem Zimmer jagen würde. Ich an seiner Stelle hätte so gehandelt. Hätte die Droge, die ich so mühsam aus meinem Leben verbannt hatte, nicht in meiner Nähe geduldet. Viele Ex-Junkies hassen Junkies. Ich sah ihm so selten in die Augen wie möglich. Wenn er in eine andere Richtung sah, wischte ich mit dem Ärmel meines Sweatshirts den Schweiß von der Stirn. In einem T-Shirt hätte ich mich nicht zu diesem Termin gewagt. Iggy hätte die kleinen roten Einstichpunkte an meinen Armen sicher sofort bemerkt. Im Auftrag der »Zeit« fragte ich Iggy Pop nach seinen Träumen. Keine Ahnung, ob ihm mein Zustand auffiel. Er 242
blieb freundlich, lachte häufig. Erzählte vom Älterwerden, von seinem Wunsch, zu wachsen. Davon, wie viel Mut es braucht, erwachsen zu werden. Erzählte mir von seinem Traum, gemeinsam mit einer Frau, die er liebt, Kinder aufzuziehen. Von seinen Tagträumen, in denen eine Horde kleiner, braunhäutiger Bastarde durch sein Haus in Mexiko tobt. Jetzt, mit 52, fühlte er sich langsam bereit dafür. Ich fühlte mich für nichts anderes bereit als den Druck, den ich mir nach dem Interview setzen würde. Dann stellte ich ihm die Frage, die mich mehr interessierte als alles andere. »Einige Ihrer Freunde sind im Laufe der Jahre an Heroin zugrunde gegangen, sie selbst waren häufig kurz davor. Bedauern Sie heute, Drogen genommen zu haben?« Er dachte nicht lange nach. »Eigentlich nicht«, sagte er. »Sicher, ich bin wahnsinnig froh, noch am Leben und clean zu sein. Aber alles, was passiert ist, alles, was ich getan habe, all die Exzesse und Überdosen, haben mich dahin geführt, wo ich heute bin. Und da fühle ich mich sehr wohl. Wer weiß, wo ich sonst gelandet wäre? Für irgendetwas werden all der Irrsinn und all das Leid wohl gut gewesen sein.« Seine Sätze hätten mich trösten können. Hätten mir die Hoffnung geben können, dass die Sucht auch für mich nicht die Endstation war. Aber sie deprimierten mich. Wofür bitte sollte es gut sein, dass ich mir das Leben selbst so zur Hölle machen musste? War ich tatsächlich so verkorkst?
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Im »Spiegel« Kurz bevor im Herbst die Zeitschrift »Spiegel Reporter« das ehemalige »Spiegel Special« mit neuem Konzept und neuer Leitung an den Start ging, entschied ich mich zu einer ambulanten Entgiftung. In ein Krankenhaus wollte ich nicht gehen, nicht solange meine Stellung beim »Spiegel« und bei der neuen Redaktionsleitung nicht wirklich gesichert war. Sechs Wochen lang fuhr ich jeden Morgen zu einer Drogenberatungsstelle in Rahlstedt, ungefähr eine halbe Stunde mit dem Auto von meiner Wohnung entfernt, nahm dort mein Methadon ein, jeden Tag etwas weniger, und raste anschließend in die Redaktion. Nach Feierabend war ich so erschöpft, dass ich nur noch lethargisch auf der Couch liegen konnte. Daniela lebte seit kurzem ständig in meiner Wohnung, sie hatte ihre Miete nicht mehr zahlen können. Einige Tage, nachdem ich meinen ambulanten Entzug begonnen hatte, brach sie an einer Kreuzung, wenige Straßen von meiner Wohnung entfernt, zusammen und wurde auf die Intensivstation eingeliefert. Dort stellten die Ärzte fest, dass der Kaliumwert in ihrem Blut lebensbedrohlich niedrig war. Sie willigte ein, direkt im Anschluss eine stationäre Entgiftung in einem Krankenhaus zu beginnen. Nach drei Wochen wurde sie dort entlassen, kurz darauf schloss ich meine ambulante Entgiftung ab. Aber auch dieses Mal dauerte es nur Wochen, bis wir beide wieder täglich drückten. Meine ständigen Entzüge wurden mehr und mehr zu einem scheinbar sinnlosen Ritual. Im Winter gab ich schließlich jeden Tag 500 Mark für Heroin und Kokain aus. Glücklicherweise arbeitete ich die meiste Zeit zu Hause. Wenn Konferenzen mich in das 244
»Spiegel«-Gebäude zwangen, hielt ich auf dem Weg in die Redaktion an der U-Bahn-Haltestelle Jungfernstieg in der Hamburger Innenstadt, nur wenige Minuten vom »Spiegel« entfernt. Dort warteten junge Schwarze an der Rolltreppe oder an den Gleisen auf ihre Kunden. In den Gängen oder in den Bahnen wickelten sie dann ihre Geschäfte ab. Die Schwarzen hatten ihr Heroin und Kokain in winzig kleine Plastikkügelchen gepackt, jeweils ein Zehntel Gramm. Die Kügelchen bewahrten sie in ihrem Mund auf, und wenn sie sich unbeobachtet fühlten, spuckten sie sie in ihre Handfläche. Die Käufer steckten die Kügelchen ihrerseits sofort nach dem Deal in den Mund. Sobald die Polizei auftauchte, schluckten Dealer und Kunden ihre Kügelchen kurzerhand hinunter. War die Gefahr vorüber, würgten sie sie wieder hervor. Die Drogenszene in Hamburg hatte eine funktionierende Infrastruktur entwickelt. Neben dem Hauptbahnhof und der U-Bahn wurde auch in dunklen Seitenstraßen des Szene-Stadtteils Schanzenviertel beinahe rund um die Uhr Kokain und Heroin verkauft. Nachts erinnerte das Ganze an ein Drive-In-Restaurant – wenn ich einen Dealer sah, fuhr ich mit meinem Wagen langsam neben ihn, kurbelte das Fenster runter und nickte ihm zu. Nickte er zurück, bremste ich, der Dealer stieg ein, und wir wickelten das Geschäft ab, während ich langsam die Straße entlangtuckerte. An der nächsten Ecke ließ ich den Dealer wieder aussteigen. An einem Abend Anfang Dezember rief Lothar, einer der beiden Redakteure, die »Spiegel Reporter« leiteten, und gleichzeitig Redaktionsleiter des »kulturSpiegel«, mich nach der Konferenz in sein Büro. Am Nachmittag hatten wir die Themen für die nächsten Hefte besprochen, ich würde in den kommenden Monaten Interviews mit den Regisseuren Wim Wenders und Roman Polanski, dem 245
Musiker Moses Pelham und der Schauspielerin Lucy Liu führen. Anschließend hatte ich auf der Toilette noch ein halbes Gramm Heroin geraucht, die Konferenz hatte so lange gedauert, dass ich nicht mehr warten konnte, bis ich nach Hause kam. Nachdem ich eingetreten war, bat Lothar mich, die Tür zu schließen. Das tat er nur sehr selten. »Irgendetwas stimmt nicht«, sagte er, als ich ihm an seinem Schreibtisch gegenübersaß. »Nimmst du Drogen?« Lothar und ich kannten uns schon seit vielen Jahren. Lange bevor er mein Chef bei »kulturSpiegel« und »Spiegel Reporter« geworden war, hatten wir gemeinsam bei »Tempo« gearbeitet. Nach dem Ende von »Tempo« war er zu »Die Woche« gewechselt und hatte auch dort als Redakteur meine Texte betreut. Dann waren wir uns im »Spiegel« wieder begegnet. Es war wohl nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihm mein desolater körperlicher Zustand auffiel, mein Bemühen, jedem direkten Kontakt aus dem Weg zu gehen. Vor allem, da er bei der Taufe auf Sylt vor einem halben Jahr in der Kirche nur wenige Meter von mir entfernt gesessen hatte. Leugnen war also sinnlos. Ich schluckte schwer und rutschte unbehaglich auf meinem Stuhl hin und her. »Wie kommst du darauf?«, fragte ich. »Sieh dich doch an«, antwortete Lothar. »So mies hast du in all den Jahren, in denen wir uns kennen, nie ausgesehen. Und dass mit deiner Freundin was nicht stimmt, war schon bei der Taufe kaum zu übersehen. Außerdem ist mir in der letzten Zeit aufgefallen, dass deine Texte oft keine Struktur mehr haben. Keine große Sache, in der Regel genügt es, einige Passagen umzustellen, und der Text ist in Ordnung. Aber es fällt auf.« 246
Beinahe hätte ich lachen müssen. Wie hätten meine Texte auch klar strukturiert sein können, wenn mein Leben das reinste Chaos war. »Du hast Recht«, antwortete ich. »Ich bin seit einigen Monaten wieder drauf. Aber ich bekomme das unter Kontrolle, versprochen.« Lothar sah mich lange an. »Das hoffe ich«, sagte er. »Kann ich dir irgendwie helfen?« Ich nickte. »Gib mir einfach weiter die Möglichkeit, für dich zu schreiben«, sagte ich. »Das reicht völlig.« »In Ordnung«, antwortete er. »Versuch deine Termine einzuhalten, und sag mir bitte, wenn du merkst, dass es nicht mehr geht.« »Danke«, antwortete ich, beinahe wäre ich ihm um den Hals gefallen. Für einen kurzen Augenblick war mir, als hätte der Henker auf dem Weg zum Richtblock im letzten Moment meine Fesseln gelöst und mich in die Freiheit entlassen.
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White Christmas Am Nachmittag des 22. Dezember 1999 saß ich in einer exklusiven Hotelsuite in München und interviewte den Regisseur Wim Wenders. Ich bemühte mich krampfhaft, meine Hände zu verbergen. Da ich seit Monaten in die kleinen Adern auf meinem Handrücken und den Fingern injizierte, die Venen an meinen Armen waren völlig zerstört, sahen meine Hände mittlerweile aus wie Klauen aus einem Horrorfilm – geschwollen, entzündet, zerstochen. Ich trug nur noch Pullover mit sehr langen Ärmeln, unter denen nur die Fingerkuppen hervorsahen. Glücklicherweise war es Winter. Wenders hatte schöne schlanke Hände. Hände, die ständig in Bewegung waren. Die mit meinem Aufnahmegerät oder seiner Nike-Uhr spielten, wenn er nachdachte, und seinen Worten Form gaben, wenn er redete. Hände, mit denen er seine Welt zu gestalten schien. Er erzählte mir von den Dreharbeiten zu seinem aktuellen Film »The Million Dollar Hotel«, von seinen Erfahrungen als Werbefilmer, den Hochs und Tiefs seines Lebens und seiner Begeisterung für The Lilac Time und The House of Love, zwei britische Bands, die ich sehr gemocht hatte, damals, als Popmusik mir noch etwas bedeutete. Wenders erzählte davon, wie wichtig es war, die Kraft und den Mut aufzubringen, weiterzumachen, wenn man am Boden war, und wie die Musik ihm dabei geholfen hatte. Mir fiel es irrsinnig schwer, mich auf unser Gespräch zu konzentrieren. Ich hatte mit dem Flugzeug anreisen müssen, war seit dem frühen Morgen unterwegs. Meinen letzten Druck hatte ich mir vor vielen Stunden gesetzt, vor 248
dem Abflug. Heroin an Bord zu schmuggeln war mir zu riskant erschienen. Außerdem gelang es mir so gut wie nie, einen ausreichenden Drogenvorrat mit auf eine Reise zu nehmen. Je mehr Heroin ich besaß, desto häufiger nahm ich es, in immer größeren Mengen. Also versuchte ich, meinen Konsum wenigstens ansatzweise zu kontrollieren, indem ich jeden Tag nur eine bestimmte Menge kaufte. Am Ende des Tages wurde es daher oft eng. Langsam spürte ich, wie die Wirkung der Droge nachließ. Ich wurde unruhig, litt unter Schweißausbrüchen. Ich wollte nach Hause. Jetzt gleich. Es bereitete mir beinahe körperliche Anstrengung, meine Aufmerksamkeit auf irgendetwas anderes zu richten. Dennoch gelang es mir, das Interview durchzustehen. Mir blieb schließlich keine Wahl. Denn wenn es etwas gab, das ich noch mehr fürchtete als die Entzugsqualen, dann war es die Vorstellung, meinen Job zu verlieren. Also saß ich in diesem Hotelzimmer und redete, zerfressen von Versagensangst, Scham, Selbsthass und Drogengier. Reiß dich zusammen, dachte ich immer wieder. Halte durch. Nur diese verdammten 45 Minuten. Dann hast du es überstanden. Wenn es mir tatsächlich gelang, alles an den Rand zu schieben und mich nur auf das Interview zu konzentrieren, ging es mir besser. Die Rückreise nach dem Interview war eine Tortur. Schon im Taxi dämmerte ich weg, ein flacher, fiebriger Erschöpfungsschlaf, aus dem ich ständig hochschreckte. Ein Film von kaltem Schweiß bedeckte meine Haut. Jeder Pulsschlag dröhnte in meinem Körper und bereitete mir Übelkeit. Die Fahrt vom Hotel zum Münchner Flughafen dauerte beinahe eine Stunde, ich war spät dran. Es sah danach aus, dass ich meinen Flug verpassen und eine spätere Maschine würde nehmen müssen. Allein die 249
Vorstellung machte mich schier wahnsinnig. Noch eine Stunde länger auf meinen nächsten Druck warten zu müssen schien mir unerträglich. Ich sah alle 90 Sekunden auf die Uhr, die Minuten zogen sich endlos. Ich war nur einige hundert Kilometer von zu Hause entfernt, aber es schien mir wie das Ende der Welt. Zu Hause, das war da, wo die Drogen auf mich warteten. Die Drogensucht hatte mir die Zeit zum Feind gemacht. Ich wartete. Ständig, in endloser Wiederholungsschleife, immer wieder aufs Neue. Auf das Ende der Schmerzen, die Droge, das nächste Geld, einen Platz in der Entgiftung oder einfach nur darauf, dass der Tag endlich zu Ende ging. Dass alles endlich zu Ende ging. Und dieses Warten machte mich krank. Zerrte an meinem Verstand, zerrüttete meine Nerven, trieb mich um wie ein Tier im Käfig. Nur die wenigen Momente, in denen die Droge meinem Bewusstsein mit Macht kurz die Augen zudrückte, verschafften mir Linderung. Aber nur für einen flüchtigen Augenblick. Nach jedem Druck lief die Uhr wieder unaufhaltsam gegen mich. Und mit jeder Stunde wuchs der Berg an Unerledigtem, Beiseitegeschobenem, der sich drohend an den Rändern meiner Wahrnehmung auftürmte und Schatten warf, die irgendwann sogar der Rausch nicht mehr zu vertreiben vermochte. Nichts strukturiert das Leben mit solcher Eindeutigkeit wie die Sucht. Sie lässt keinen Raum für Zweifel, nicht mal für Entscheidungen. Jeder Tag hat ein klar umrissenes Ziel, alle Energie und Aktivität richtet sich darauf. Zufriedenheit misst sich an der vorhandenen Drogenmenge. Sucht ordnet die Welt. Vielleicht ist das das Hinterhältigste an der Sucht – sie macht dir alles und jeden zum Feind. Die Zeit, deinen Körper, der nur durch lästige Bedürfnisse und Entzugsschmerzen auf sich aufmerksam macht; Freunde und Familie, deren Fragen du nicht beantworten, deren 250
Sorgen du nicht zerstreuen kannst; eine Welt, die nur Forderungen stellt, denen du dich nicht gewachsen fühlst. Bis irgendwann nur noch die Droge bleibt. Dass ich den Flieger noch erreichte, konnte meine Unruhe nur kurzfristig zügeln. Der Start verzögerte sich, ich dämmerte wieder vor mich hin, wäre gern fest eingeschlafen, aber den Gefallen tat mir mein Körper natürlich nicht. Jedes Mal, wenn ich die Augen öffnete und sah, dass die Maschine immer noch auf dem Rollfeld stand, hätte ich heulen können. Der Entzug kroch langsam in meine Glieder und biss sich in den Knochen fest. Ein inwendiges Reißen in Armen und Beinen, als seien Muskeln und Sehnen zu kurz. In meiner Wohnung wartete Daniela mit den Drogen auf mich. Sie war nachmittags bei unserem Dealer gewesen, einem jungen Schwarzen, und hatte Heroin und Kokain gekauft. Das nötige Geld hatte ich ihr vor meinem Abflug gegeben. Das war mittlerweile unser ganz persönlicher Deal – ich verdiente das Geld, und sie ging los, Drogen besorgen. Ich hasste alle Junkies, wollte mit der Szene so wenig wie möglich zu tun haben. Wohl, weil ich viel mehr mit ihnen gemein hatte, als mir lieb war. Wie so häufig in den vergangenen Wochen saß ich stundenlang im Bad und versuchte, eine Ader zu finden, die noch nicht völlig zerstört war. Vor allem das Kokain hatte meine Venen zerfressen, die zahllosen Einstiche mit nicht sterilen Spritzen taten das Übrige. Jeder Injektionsversuch war zu einer Art operativem Eingriff geworden. In meinem Badezimmer sah es mittlerweile aus wie in einer Schlachterei – Blutschlieren im Waschbecken und auf dem Boden, Wände und Decke bespritzt. Die Entzugserscheinungen war ich halbwegs losgeworden, indem ich zunächst ungefähr ein Gramm Heroin geraucht hatte. Mittlerweile empfand ich das als 251
gleichermaßen unangenehm wie unbefriedigend: Da die Droge den Umweg über die Lunge nehmen muss, lässt die Wirkung einige Minuten auf sich warten, eine Ewigkeit also. Der Rausch steigt, anders als beim intravenösen Konsum, nur langsam und bedächtig in den Kopf, der erlösende Kick bleibt aus. Ein wenig wie Sex ohne Orgasmus. Außerdem war das Inhalieren eine Tortur für mich. Da ich Asthmatiker bin, rasselte meine Lunge schon nach kurzer Zeit, jeder Zug schmerzte wie ein Messerstich und löste Übelkeit und Brechreiz aus. Mit jedem vergeblichen Injektionsversuch wuchs meine Unruhe. Ich verzehrte mich nach der erlösenden Wirkung des Heroins, danach, dass die Droge in einer warmen Woge meinen Körper überschwemmte und mir einen Moment der Ruhe verschaffte. Aber wenn ich ehrlich war, hechelte ich diesem Gefühl seit Jahren vergeblich hinterher. Einem Gefühl, das sich schon lange nicht mehr einstellte, egal, wie viele Gramm ich in meinen Körper pumpte. Das nur noch in meiner Erinnerung existierte. Und trotzdem in meinem Hirn festgebrannt war. So deutlich, dass es wehtat. Die Erinnerung daran, dass Drogen vor anderthalb Jahrzehnten all die vollmundigen Versprechen der Zigarettenwerbung einzulösen schienen – wir gingen meilenweit für den nächsten Druck, und Junk schmeckte nach Freiheit und Abenteuer. Jetzt hielt ich die erlösende Spritze in den Händen und fand noch nicht einmal einen Weg in meine Blutbahn. Irgendwann spät in der Nacht kapitulierte ich. Einfach unmöglich, eine intakte Vene zu finden. Ich hatte schon zwei oder drei volle Spritzen wegwerfen müssen, da durch die vergeblichen Injektionsversuche Blut in die Kanüle gelangt war, das irgendwann verklumpte. Mein linker Arm war taub geworden, nachdem ich die Suche nach einer 252
Vene aufgegeben und das Heroin-Kokain-Gemisch völlig entnervt in das Gewebe meines Unterarms injiziert hatte. Einmal hatte ich versehentlich eine Arterie erwischt, ein fataler Irrtum. Statt der ersehnten Betäubung nur ein Gefühl wie flüssige Lava in den Adern, man möchte schreien vor Schmerz, zum Verrücktwerden. Hände und Füße waren verklebt von geronnenem Blut, einige Einstichstellen würden am nächsten Morgen entzündet sein. Einige Wochen zuvor hatte ich mir so eine Blutvergiftung eingehandelt. Ich hatte sogar schon versucht, in die Venen auf meinem Penis zu injizieren. Was sich verhältnismäßig schwierig gestaltete, da die Haut und die Adern nur im erigierten Zustand über die nötige Spannung verfügen. Der Versuch, diesen Zustand aufrechtzuerhalten und gleichzeitig eine Spritze hineinzustechen, ging meist daneben. Daniela lag im Schlafzimmer auf dem Bett. Lag da wie eine Marionette, der man die Schnüre zerschnitten hatte, weltentrückt, rauschverloren. Es machte mich schier irre, sie so zu sehen. Zum einen fraß der Neid mich beinahe auf, nach diesem Zustand hatte ich mich seit Stunden gesehnt. Zum anderen ekelte mich ihr Anblick an. Das war vielleicht das Schrecklichste an einer Junkie-Beziehung – die fast symbiotische Verstrickung erzeugt immer sehr schnell sehr viel Hass. Der andere wird zum Spiegel, in dem du all das erkennst, was du an dir selbst verabscheust. Du verachtest ihn dafür. Weil es einfacher ist, als sich selbst zu hassen. Dein Partner ist gleichzeitig dein wichtigster Verbündeter und dein schlimmster Feind. Die Sucht kettet aneinander, aus den falschen Gründen, sicher, aber mit unglaublicher Macht. Manchmal ist Hass und Wut das Einzige, das dir Raum verschafft. Luft zum Atmen. Den anderen verletzen, zumindest mit Worten, weil du in diesem Moment eine Ahnung davon bekommst, 253
wo du aufhörst und der andere anfängt. Daniela und ich hatten uns mit diesem Leben abgefunden. Jeder brauchte den anderen, damit sein Alltag halbwegs funktionierte. Sie brauchte mein Geld, meine Wohnung. Ich brauchte sie, damit ich mich von der Szene fernhalten konnte und nicht Gefahr lief, verhaftet zu werden. Brauchte sie, weil sie mir immer wieder eine Art Galgenfrist verschaffte. Wie hätte ich noch Zeit und Energie für meine Arbeit finden sollen, wenn ich mich auch noch jeden Tag um die Drogenkäufe hätte kümmern müssen? Außerdem konnte ich mich an ihr aufrichten. In manchen Momenten schien sie mir viel kaputter und süchtiger, als ich selbst es war. Das half mir, mich ein wenig besser zu fühlen. Wir hatten uns einander ausgeliefert. Oft schrien wir uns an, vor allem, wenn es darum ging, die letzten Drogenreserven aufzuteilen. Als ich herausfand, dass sie ein paar Dutzend meiner CDs verkauft hatte, weil ihr die Kokainmenge, die ich bezahlte, nicht ausreichte, warf ich sie aus meiner Wohnung. Am nächsten Abend stand sie wieder vor meiner Tür. Ich ließ sie herein. Wir hatten beide von Anfang an gewusst, dass es so ausgehen würde. Nachts im Bett klammerten wir uns wie Ertrinkende aneinander, so wie ich mich als kleiner Junge an meinen Teddy geklammert hatte. Sex oder gar Zärtlichkeit spielte keine Rolle mehr. Die Hände waren das Erste, was ich sah, als die Nebel in meinem Kopf durchlässiger wurden. Hände an ihrem Hals. Sie schrie. Ich konnte sie nicht hören, aber ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten. Sie wand sich, trat, schlug um sich. Zerrte an den Händen, die sie würgten und am Boden 254
festhielten. Nur langsam sickerte in mein Bewusstsein, dass diese Hände meine waren. Wie durch Treibsand arbeitete sich mein Verstand an die Oberfläche, es dauerte Minuten, bis ich realisierte, was gerade geschah. Was ich gerade tat. Ich ließ sie los, abrupt, erschrocken, verstört. Mein Herz pumpte im Stakkato gegen meine Rippen, mein Kopf war wie wund, jeder Gedanke schmerzte. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war. Daniela hatte mir einen Druck gesetzt, das war das Letzte, an das ich mich erinnerte. Mehr als ein halbes Gramm Kokain, in meine Halsvene. Etwas, was ich nur sehr selten tat. Weil Einstichstellen am Hals schwer zu verbergen sind, vor allem, wenn der Druck daneben geht und einen Bluterguss im umgebenden Gewebe zurücklässt. Daniela hatte mir die Spritze setzen müssen, weil ich mit den seitenverkehrten Bewegungen vor dem Spiegel nicht zurechtkam. Dann, erzählte sie mir, war ich umgefallen. Hintenübergefallen, mit dem Kopf hart auf dem Boden aufgeschlagen und bewegungslos liegen geblieben. Mein Körper wurde steif und meine Lippen färbten sich blau. Ich hatte eine Überdosis Kokain erwischt. Irgendwann öffnete ich die Augen und sah, dass sich jemand über mich beugte. Dass es Daniela war, die panisch vor Angst an mir rüttelte, kapierte ich nicht. Ich lag am Boden, mir ging es elend, und da war jemand über mir. In meinem Gehirn flogen alle Sicherungen raus. Alles entlud sich, und Daniela war das Ziel. Ich erinnerte mich daran, sie durch die Wohnung gejagt zu haben. Möbel warf ich um, Türen riss ich aus den Angeln, bis ihr Hals in meinen Händen war. Und ich erinnerte mich an Wut. Kalte, zerstörerische Wut, ein unbändiger Hass und der unbedingte Wille, ihr wehzutun. Völliger Kontroll Verlust, animalisch und bösartig. 255
Nach und nach klärte sich mein Verstand. Die Bilder in meinem Kopf sortierten sich zu Erinnerung. Der Schock ließ mich am ganzen Körper zittern, ich würgte, der Geschmack von Galle in meinem Mund. Daniela wand sich unter Heulkrämpfen und schrie immer wieder, warum ich sie so sehr hassen würde. Es klingelte an der Tür. Zunächst begriff ich kaum, was dieses Geräusch zu bedeuten hatte. Ich war einfach zu weit weg. Dann sah ich den Widerschein von Blaulicht, der durch mein Fenster fiel. Auf der Straße vor meinem Haus ein Krankenwagen und ein Einsatzfahrzeug der Polizei. Daniela sagte, sie hätte den Notarzt gerufen, als ich regungslos mit blauen Lippen auf dem Boden gelegen hatte. Sie hatte sich nicht anders zu helfen gewusst. Ich geriet in Panik. In meiner Wohnung lagen umgestürzte Möbel, auf dem Dielenboden benutzte Spritzen und auf dem Küchentisch einige Gramm Heroin und Kokain. Es klingelte wieder, diesmal direkt an meiner Wohnungstür. Ich fragte, wer da sei. Der Polizist antwortete, er hätte einen Notruf erhalten, und wenn ich nicht öffnen würde, wäre er berechtigt, die Tür aufzubrechen. Ich öffnete. Wie es mir gelang, die Beamten zu beruhigen, weiß ich nicht mehr. Irgendwann gingen sie, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, dass auch Daniela wohlauf war. Gingen, ohne meine Wohnung betreten zu haben. Als sie weg waren, schluckte ich meinen gesamten Vorrat an Valium, trank vier Flaschen Bier und rauchte so viel Heroin, wie ich in meine Lunge zwingen konnte, ohne zu erbrechen. Sog den Rauch in meine Lungen, als sei ich gerade dem Ersticken entronnen. Danach brach ich heulend zusammen. Ich klammerte mich an Daniela, heulte, wimmerte und stammelte »Bitte hilf mir«, immer wieder diesen einen Satz. Es war kurz vor Mitternacht. Am 256
nächsten Morgen musste ich um 8.30 Uhr am Hauptbahnhof einen Zug erreichen, mittags sollte ich in der Nähe von Stuttgart ein wichtiges Interview führen. In meinem Kopf war nur noch ein einziger Gedanke. Obwohl ich seit Jahrzehnten an keine Religion mehr glaubte, klang es wie ein Gebet: »Lieber Gott, lass mich diese Nacht überleben.« Am nächsten Morgen um sieben klingelte mein Wecker, ich fühlte mich völlig zerschlagen. Ich rauchte ein Gramm Heroin gegen die Schmerzen, die meinen Körper und meinen Verstand marterten. Sobald ich im ICE nach Stuttgart saß, fiel ich in einen komaähnlichen Schlaf. Am Nachmittag besuchte ich eine Fabrik, in der Geisterbahnen entworfen und gebaut wurden. Ein Geisterbahn-Designer erklärte mir, wie aufregend es sei, der Angst und dem Schrecken eine Gestalt zu verleihen. Ich fühlte mich selbst wie eine der Schreckgestalten in seinem Gruselkabinett. Und doch stand ich auch diese Reise, dieses Interview durch. Als ich am Abend wieder nach Hause kam, war unser Drogenvorrat ziemlich zusammengeschrumpft. Ich suchte nach den beiden Spritzen mit dem Heroin-KokainGemisch, die ich am Tag zuvor in eine Ecke des Badezimmers geworfen hatte, nachdem mein Blut darin verklumpt war. Mit ein wenig Mühe ließ sich der Inhalt wieder verflüssigen und dann erneut injizieren. Die beiden Spritzen waren nirgendwo zu finden. Daniela hatte sie sich schon am Nachmittag in ihre Adern gejagt, mitsamt meinem Blut darin. Obwohl ihr klar war, dass sie sich so mit großer Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit dem Hepatitis-C-Virus infizieren würde. Ich konnte es nicht fassen. Ihre Drogengier hatte ihren Verstand scheinbar komplett ausgeschaltet. Sie hatte für einen Druck ihr Leben riskiert. Monatelang hatte ich mich panisch bemüht, jedes Infektionsrisiko zu vermeiden. Völlig umsonst. 257
Till It’s Gone Der Mann in der blauen Uniform winkte mich zur Seite. »Stellen Sie sich bitte breitbeinig hin und heben Sie die Arme«, sagte er. Dann fuhr er mit einem Metalldetektor an meinem Körper auf und ab. Flughafen HamburgFuhlsbüttel, ein Freitag im März 2001, morgens um kurz vor sieben. Ich war spät dran. In 20 Minuten ging mein Flieger nach Paris. Dort sollte ich gemeinsam mit Christoph, meinem Freund aus »Tempo«-Tagen, für den »Spiegel« Janet Jackson interviewen, das einzige Einzelinterview, das die erfolgreiche amerikanische Sängerin und Schwester von Michael Jackson einem deutschen Magazin gewährt hatte. Christoph wartete am Gate auf mich. Der Sicherheitsbeamte legte den Metalldetektor beiseite. Dann begann er, meinen Körper mit den Händen abzuklopfen. Das Blut schoss mir in den Kopf, und mein Puls begann zu rasen. Da wir in Paris übernachten mussten – das Interview war für den Abend angesetzt, wir würden den letzten Flieger zurück nach Hamburg nicht bekommen –, war ich gezwungen gewesen, meine Heroinration für die Nacht und den folgenden Tag mit auf die Reise zu nehmen. Mit Tabletten allein würde ich kein Interview und keine Übernachtung mehr durchstehen. Kurz bevor ich zum Flughafen gefahren war, hatte ich mein Papierbriefchen mit zwei Gramm Heroin in den linken Strumpf gesteckt. Ich hatte völlig vergessen, dass die Sicherheitsbeamten am Flughafen bei ihrer Suche nach Waffen häufig die Beine der Passagiere abtasten. Die Hand des Beamten strich über meine Oberschenkel. Die Angst schnürte mir die Luft ab. Sollte er das Heroin 258
finden, würde ich in einer Zelle landen und meine Zeit als »Spiegel«-Autor wäre wohl endgültig vorüber. Einen Interviewtermin mit einem der erfolgreichsten Popstars der USA verstreichen zu lassen, weil ich am Hamburger Flughafen mit Heroin verhaftet worden war, würde meiner Laufbahn als Journalist aller Wahrscheinlichkeit nach den Todesstoß versetzen. Der Beamte war bei meinen Unterschenkeln angelangt. Er strich flüchtig an der Außenseite der Wade entlang, kam dem Heroin immer näher, das innen an meinem Fußgelenk steckte. Tastete sich bis zu den Fesseln vor. Ich stand völlig verkrampft da, zwang mich, meinen Atem ruhig zu halten, und versuchte, meine Beine unmerklich zu drehen, so dass die Innenseite meiner Fußgelenke den suchenden Händen entzogen war. Der Beamte richtete sich auf und wies mich an, weiterzugehen. »Guten Flug«, wünschte er mir zum Abschied. Ich verschwand, so schnell ich konnte, mit großen Schritten hastete ich zu meinem Gate. »Mann, siehst du fertig aus«, sagte Christoph. Später am Abend saßen wir in einem Restaurant im Pariser Stadtteil Montparnasse und warteten auf unser Abendessen. Vor zwei Stunden, nach unserem Interview, war ich sofort mit dem Taxi in unser Hotel gefahren, Christoph hatte noch in einigen Plattenläden gestöbert. Ich konnte es nicht erwarten, auf mein Zimmer zu kommen. Dort hatte ich ungefähr ein Gramm Heroin geraucht. Trotzdem war ich am Ende meiner Kräfte. Die Reise, die Aufregung am Zoll und das 45-minütige Interview hatten mir alles abverlangt, was ich noch an Selbstbeherrschung und Konzentration aufzubringen vermochte. Ich hing in meinem Stuhl, als seien all meine Knochen aus Gummi. 259
Christoph hob sein Bierglas und prostete mir zu. »Trotzdem«, sagte er, »Glückwunsch, super Interview. Ich wüsste gerne, wie du es in deinem Zustand immer wieder schaffst, wenn es darauf ankommt, tatsächlich in Form zu sein.« Ich stieß mit ihm an und rang mir ein Lächeln ab. »Das wüsste ich auch gerne«, antwortete ich. Das Interview war tatsächlich gut gelaufen. Janet Jackson hatte uns von ihrer problematischen Kindheit erzählt, der Bürde ihres Nachnamens und ihrer Freude am Sex. Der »Spiegel« würde dieses Interview später an zahlreiche ausländische Zeitungen verkaufen. Wir hatten gute Arbeit geleistet. Lange, das wusste ich, würden mir solche Interviews nicht mehr gelingen. Zu knapp war ich in den vergangenen Monaten immer wieder an der Katastrophe vorbeigeschlittert. Der Tag, an dem ich beinahe Daniela erwürgt hatte, lag ungefähr ein Jahr zurück. Allein die Erinnerung daran bereitete mir immer noch Übelkeit. Schon einige Monate zuvor, bei den Filmfestspielen in Venedig im September 1999, wäre mein Interview mit Brad Pitt beinahe geplatzt, da ich nicht genügend Pillen eingepackt hatte. Der Entzug erwischte mich kurz vor meinem Gesprächstermin. Nur mit Mühe hatte ich das Interview durchgestanden, während des Rückfluges übergab ich mich. Als ich in Hamburg aus dem Flieger stieg, konnte ich kaum auf meinen Beinen stehen. Und im vergangenen Jahr hatte ich so häufig im Allgemeinen Krankenhaus Ochsenzoll entgiftet, dass ich einen großen Teil meiner Texte im Krankenbett hatte schreiben und in die Redaktion faxen müssen. Häufig war es mir nur mit allerletzter Kraft gelungen, meine Abgabetermine einzuhalten. 260
Noch hielt Lothar mir den Rücken frei, aber sobald ich einen Auftrag vermasseln würde, wäre das auch vorüber. Ich erzählte Christoph von meinem Erlebnis mit dem Zöllner am Hamburger Flughafen. »Oh Mann«, sagte Christoph. »Ich möchte nicht dabei sein, wenn dein Schutzengel in Rente geht.« Das wollte ich auch nicht. Deshalb hatte ich mich wieder für eine Therapie entschieden.
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Am Ende Am 15. Mai 2001 riss mich der Reisewecker um 5.30 Uhr mit enervierendem Fiepen aus dem Schlaf. Obwohl ich erst vor drei Stunden zu Bett gegangen war, schlug ich sofort die Augen auf. Mein Herz hämmerte und Schweiß stand auf meiner Stirn. So ging es mir jedes Mal, wenn ich nachts mit dem Gedanken eingeschlafen war, auf gar keinen Fall verschlafen zu dürfen. Selten war dieser Gedanke so drängend gewesen wie in der vergangenen Nacht. Ich ging in die Küche und rauchte ungefähr ein Gramm Heroin, bis die Schmerzen in meiner Lunge mich zwangen, aufzuhören. Dann legte ich mir vier Subutextabletten unter die Zunge, meine tägliche Ration, setzte mich an meinen Schreibtisch und schaltete meinen Computer an. Seit einigen Wochen wurde ich wieder substituiert. Im vergangenen Jahr hatte die Drogenambulanz in Hamburg begonnen, neben Methadon und Polamydon auch einen Ersatzstoff namens Subutex zu verabreichen. Für mich ein Geschenk des Himmels, meine Erfahrungen vor drei Jahren hatten mir Methadon und Polamydon mehr als verleidet. Subutex ist ein opiatähnliches Schmerzmittel, das zum Beispiel in Frankreich schon seit einem Jahrzehnt erfolgreich in der Substitution eingesetzt wird. Die Tabletten werden unter die Zunge gelegt und lösen sich dort auf. Subutex nimmt die Entzugserscheinungen, macht aber in wesentlich geringerem Maße abhängig als Methadon und lässt den Kopf deutlich klarer. Vor allem für meine Arbeit ein großer Vorteil. Trotzdem nahm ich zusätzlich noch wie zwanghaft mein Heroin, obwohl das Subutex dessen Wirkung drastisch verringert. 262
Der Text, den ich am gestrigen Sonntag zu schreiben begonnen hatte, war erst gut zur Hälfte fertig. Ich schrieb über die Gorillaz, ein Bandprojekt aus England, das komplett aus Cartoonfiguren bestand. Ausgedacht hatten sich das Ganze Dämon Albarn, Sänger der britischen Erfolgsband Blur, und Jamie Hewlett, ein Zeichner, der vor Jahren mit Comics um die gleichermaßen apokalyptische wie anarchische Heldin Tankgirl für Aufsehen gesorgt hatte. Hewlett zeichnete die Musiker, Albarn schrieb die Musik. Beide wollten im Hintergrund bleiben. Die Stars sollten die Zeichentrickfiguren sein. Einige Wochen zuvor hatte ich Albarn und Hewlett in London zu einem Interview für den »kulturSpiegel« getroffen, für den Vormittag hatte ich Lothar den fertigen Text zugesagt. Ich begann erst Sonntagmittag zu schreiben. Bis zum Sonntagabend hatte ich 6000 der geforderten 10.000 Zeichen fertig. Den Rest musste ich wohl oder übel am anderen Morgen schreiben, mein Hirn war ausgebrannt, die letzte halbe Stunde hatte ich nur komatös auf den Bildschirm gestarrt. Außerdem hatte ich noch eine Menge zu erledigen in dieser Nacht. Zum einen war mein Drogenvorrat aufgebraucht, ich musste einen Termin mit meinem Dealer vereinbaren. Anfang des Jahres hatte ich mich endgültig von Daniela getrennt, kurz nachdem ich mich zu meiner dritten Therapie entschieden hatte. Ich hatte endlich begriffen, dass wir zusammen nicht die geringste Chance hatten, zumal Daniela ihre Entgiftungsversuche mittlerweile völlig aufgegeben hatte und in ihrem Drogenkonsum immer gnadenloser geworden war. Einmal war sie für zwei volle Tage verschwunden, ich fuhr stundenlang durch die Stadt, fand sie nirgends. Am dritten Morgen rief sie mich aus dem Krankenhaus an. Sie war auf der 263
Intensivstation zu sich gekommen und hatte kaum noch eine Erinnerung an die vergangenen Tage. Ich erkannte, dass ich der Letzte war, der ihr noch helfen konnte, mit ihrer Sucht fertig zu werden. Seit einigen Monaten kaufte ich mein Heroin bei einem jungen Schwulen, den ich am Hauptbahnhof kennen gelernt hatte. Er war einigermaßen zuverlässig, sein Heroin günstig und von guter Qualität. Für ein Tütchen mit fünf Gramm, ein Beutel hieß das auf der Szene, zahlte ich 150 Mark. Mit dieser Menge, zusätzlich zu meinen acht Milligramm Subutex täglich, kam ich ungefähr drei Tage aus. Wir verabredeten uns an einer U-BahnHaltestelle, ich kaufte meinen Beutel und fuhr wieder nach Hause. Dort wartete noch eine Menge Arbeit auf mich. Am nächsten Morgen wurde ich um 9 Uhr in einem Krankenhaus bei Bargteheide, 20 Kilometer vor Hamburg, erwartet. Zu einer stationären Entgiftung, der, wie ich hoffte, letzten meines Lebens. In den vergangenen Monaten hatte ich immer wieder darüber nachgedacht, mich meiner Sucht endgültig zu ergeben. Seit über einem Jahr fühlte ich mich, als würde ich mit aufgeschnittenen Pulsadern durch die Welt wanken, alle Kraft, alle Hoffnung, alle Träume schienen aus mir herausgeflossen zu sein. Ungefähr ein halbes Dutzend stationärer und eine ambulante Entgiftung hatte ich in dieser Zeit durchgestanden, jedes Mal war ich nach wenigen Tagen wieder rückfällig geworden. Warum also nicht einfach so weitermachen, die rund 400 Mark in der Woche für Heroin konnte ich mir durchaus leisten, schließlich verdiente ich gut. Vielleicht sollte ich endlich akzeptieren, dass ich ein Junkie war und bleiben würde. Aufhören zu kämpfen und mich mit diesem Leben arrangieren, das nur aus Geldverdienen, apathisch auf der Couch liegen und 264
Drogen nehmen bestand. Aber so wollte und konnte ich nicht weitermachen. Immer wieder war ich in den vergangenen Monaten nach dem Aufwachen in Tränen ausgebrochen und hatte mit meinen Fäusten gegen die Wand meines Schlafzimmers geschlagen. Hatte mir, sobald der Schlaf verflogen war und die Erkenntnis in mein Hirn sickerte, dass mir ein Tag bevorstand, der exakt so ablaufen würde wie die vorherigen, nichts mehr gewünscht, als tot zu sein. Aber sterben wollte ich noch nicht. Also hatte ich mich entschieden, es wieder mit einer Therapie zu versuchen. Denn wenn ich eines gelernt hatte in den vergangenen zwei Drogentherapien, dann, dass ich es schaffen konnte. Zwei Mal hatte ich die Droge schon aus meinem Leben verbannt, zumindest vorübergehend. Warum sollte es mir nicht ein drittes Mal gelingen? Wenn alles gut ging, sogar für immer. Und wenn nicht, erkaufte ich mir so zumindest einige suchtfreie Jahre. Trotzdem fiel mir die Entscheidung für eine dritte Therapie sehr schwer. Die beiden vorherigen Versuche hatten mit meinem Rückfall geendet. War es die Mühe wirklich wert, wenn ich am Ende doch immer wieder bei der Droge landete? Überhaupt, was sollte ich denn in einer dritten Therapie noch lernen, was sie mir in den ersten beiden nicht beigebracht hatten? War ich denn wirklich so schwer von Begriff, dass ich das alles noch einmal wiederkäuen musste? Und was, wenn ich am Ende wieder rückfällig würde? Ein weiteres Versagen würde ich mir nicht verzeihen können. Außerdem hatte ich große Angst davor, meine berufliche Existenz aufs Spiel zu setzen. Arbeiten konnte ich trotz meiner Sucht relativ zufriedenstellend, das zumindest hatte ich mir im vergangenen Jahr bewiesen. Doch wie würde meine berufliche Situation nach fünf Monaten Pause aussehen? Würden meine Auftraggeber nicht längst 265
mit anderen arbeiten, wäre meine Pauschalistenstelle beim »kulturSpiegel« dann nicht anderweitig besetzt? Aber ohne Therapie, wie hoch die Risiken und wie gering die Erfolgsaussichten auch sein mochten, würde ich über kurz oder lang alles verlieren. Ohne die Hilfe meiner Freunde hätte ich nicht einmal die vergangenen Monate durchgestanden. Oft fragte ich mich, warum sie alle überhaupt noch zu mir hielten, so wertlos wie ich mich fühlte. Meine Freundschaft nutzte niemandem mehr etwas. Ich fürchtete den Tag, an dem meine Freunde das auch so sahen und aller Kredit, den ich noch bei ihnen zu haben schien, verspielt sein würde. Also bewarb ich mich. Denn eines wusste ich ganz sicher – die Therapie würde mir zumindest die Möglichkeit bieten, fernab der Droge Ruhe und Erholung für meinen gequälten Körper und Verstand zu finden und wieder zu Kräften zu kommen. Wie auch immer es am Ende ausgehen würde. Vorher musste ich meine Wohnung herrichten. Da ich die Therapie direkt im Anschluss an die Entgiftung antreten würde, hatte ich meine Wohnung über die Mitwohnzentrale für drei Monate untervermietet. Ich musste Ordnung und etwas Platz in Schränken und Regalen schaffen. Da ich mich darum sorgte, ob der Untermieter meine Comics angemessen pfleglich behandeln würde, hatte ich beschlossen, sie auszulagern. Meine CDs befanden sich eh allesamt in der Pfandleihe. Ich warf meine Spritzen und die blutbefleckten Handtücher in den Müllcontainer hinter dem Haus, die Wäsche, die ich nicht mit in die Therapie nehmen wollte, stopfte ich zusammen mit den Papieren auf meinem Schreibtisch in Plastiksäcke und trug sie auf den Dachboden. Dann packte ich meine Comics in acht Umzugskartons, lud sie in meinen Wagen und schleppte 266
sie gegen Mitternacht mit Hilfe einer Freundin in die Büroräume eines befreundeten Kollegen, der sie bis zu meiner Rückkehr aufheben würde. Am Dienstag, den 31. Mai 2001, sollte ich vormittags in der Bernhard-Salzmann-Klinik in Gütersloh aufgenommen werden. Bis dahin musste ich entgiftet sein. Am Montag, den 15. Mai, kurz nach 6 Uhr morgens, setzte ich mich an meinen Computer und schrieb weiter an meinem GorillazText. Gegen acht hatte ich meinen Artikel beendet, ich mailte ihn in die »Spiegel«-Redaktion und schaltete meinen Computer aus. In der Nacht zuvor hatte ich alles, was ich für die Therapie benötigen würde, in den Seesack gepackt, den ich mir vor Jahren für meine Wüstenreise gekauft hatte. Den Seesack lud ich in meinen Jetta. Dann stopfte ich ein wenig Wäsche, Toilettenartikel, Bücher, Comics und die Gorillaz-CD in eine Sporttasche. Meinen Laptop nahm ich ebenfalls mit, bis zum Ende der Woche hatte ich Lothar noch einen Text zugesagt, den ich im Krankenhaus schreiben und von dort in die Redaktion faxen wollte. Als ich alles Gepäck in meinem Wagen verstaut hatte, rauchte ich noch ein Gramm Heroin und suchte auf der Straßenkarte den Weg nach Bargteheide. Dann schloss ich meine Wohnungstür hinter mir ab und fuhr los. Ein bewölkter Frühlingstag, leichter Nieselregen nässte die Fahrbahn. Kurz nachdem ich die Stadtgrenze von Hamburg hinter mir gelassen hatte, kurbelte ich das Seitenfenster meines Wagens herunter und warf das Papierbriefchen mit meinen letzten zwei Gramm Heroin aus dem Fenster.
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Epilog Februar 2004. Ich bin 38 Jahre alt, mein erster Druck liegt 20 Jahre zurück. Vor drei Jahren habe ich zum letzten Mal entgiftet, im September 2001 habe ich meine letzte Therapie beendet. Seitdem habe ich kein Heroin, kein Kokain und keine Schlaftabletten mehr genommen. Nicht mehr gesnifft, nicht mehr geraucht, nicht mehr gespritzt, nichts mehr. Ob es diesmal so bleibt, wird sich zeigen. Ich arbeite wieder als Journalist, immer noch mein Traumberuf. Ich lebe in Hamburg, der schönsten Stadt Deutschlands. Vor zwei Jahren habe ich mich verliebt. Meine Freundin nimmt keine Drogen, seit einem Jahr wohnen wir zusammen. Ich liebe sie sehr. In den vergangenen drei Jahren habe ich schwere Krisen und Alltagstristesse überstanden, ohne rückfällig zu werden. Ich bin angekommen, denke ich. Sucht kommt von Suchen, hieß es in meiner ersten Therapie. Und tatsächlich habe ich im Drogenrausch vieles gesucht – Spaß, Aufregung, Identität, Heimat. Und ich habe es auch gefunden, zumindest anfangs. Drogen funktionieren, sie sind sogar sehr gut in dem, was sie tun. Sonst würde sie niemand nehmen. Irgendwann aber ist der Spaß vorbei und der Preis für den Rausch zu hoch. Ich kenne niemanden, dem es gelungen ist, rechtzeitig aufzuhören. Meine Sucht hat einen hohen Preis gefordert. Ich habe weit mehr als eine halbe Million Mark für Drogen ausgegeben und ungefähr 50.000 Euro Schulden angesammelt, bei der Bank und dem Finanzamt. Meine Eltern haben für mich eine Hypothek auf ihr Haus aufgenommen, die ich in monatlichen Raten abbezahle. Es 268
wird viele Jahre dauern, bis ich wieder schuldenfrei bin. Ich wurde mehrfach verhaftet und zu zwei Bewährungsstrafen verurteilt. Ein Verfahren gegen mich wurde eingestellt. Ich bin mit Hepatitis C infiziert. Ich habe vier Mädchen, vielleicht sogar fünf, ihren ersten Druck gesetzt. Ich habe Menschen, die mir viel bedeuten, belogen und bestohlen. Und ungefähr ein halbes Dutzend meiner Freunde und Freundinnen sind heute tot. Detlef, mein ältester Freund, mit dem ich vor 24 Jahren meinen ersten Joint geraucht habe, hat überlebt. Wenn auch nur knapp – vor zwölf Jahren wäre er beinahe in einer Gefängniszelle in Lübeck gestorben. Zu dieser Zeit hat er mehr Drogen genommen als je zuvor in seinem Leben, Methadon, Heroin, Kokain, Schlaftabletten, jeden Tag in großen Mengen. Er wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt. Dort bekam er keine Medikamente. Der Entzug brachte ihn beinahe um, an seinem zweiten Tag in der Zelle sah er seinen eigenen Körper auf der Pritsche liegen, während sein Geist sich immer weiter entfernte. Seit damals hat er keine Drogen mehr angerührt. In diesem Sommer werden es zwölf Jahre. Vor sechs Jahren hat er geheiratet, seit drei Jahren lebt er mit seiner Frau wieder im Rheinland, nur wenige Kilometer von dem Jugendzentrum entfernt, in dem wir uns kennen gelernt haben. Vor zweieinhalb Jahren wurde sein Sohn geboren. Auch Detlef hat sich mit dem Hepatitis-C-Virus infiziert. Im vergangenen Jahr hat er sich einer Interferon-Therapie unterzogen. Sechs Monate lang litt er täglich unter Depressionen, Fieber, Übelkeit, Schweißausbrüchen und 269
Mattigkeit, fühlte sich völlig fremd in seinem Körper. Er hat durchgehalten. Wenn er ein wenig Glück hat, bleibt das Virus jetzt für immer aus seinem Körper verschwunden. Zanne, das Mädchen, mit dem ich den Pornofilm gedreht habe, ist heute ebenfalls clean. Sie lebt mit ihrem Freund in der Nähe von Köln und arbeitet als Floristin. Karina und Klara leben heute in dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Karina hat vor Jahren geheiratet und eine zweite Tochter bekommen. Klara feiert demnächst ihren 15. Geburtstag. Als ich in ihrem Alter war, lag mein erster Joint schon mehr als ein halbes Jahr zurück. Wie ihre Mutter liebt Klara Pferde. Drogen nimmt sie keine, soweit ich weiß. Ich hoffe sehr, dass es so bleibt. Klara und ich sehen uns immer noch regelmäßig, im Frühling wird sie mich zusammen mit ihrem Freund in Hamburg besuchen. Ich freue mich sehr darauf. Auch Daniela, das Mädchen, das ich beinahe erwürgt hätte, lebt. Noch. Im Herbst vorigen Jahres ist sie zurück ins Allgäu gezogen, da wog sie keine 40 Kilo mehr, war substituiert, nahm Drogen und trank exzessiv Alkohol. Im Januar wurde sie mit 5,4 Promille auf der Intensivstation eingeliefert. Zur Zeit wartet sie auf einen Therapieplatz. Möglicherweise ihre allerletzte Chance. Artur, mein Freund aus dem Rheinland, der mir meinen ersten Druck gesetzt hat, starb im vergangenen Sommer. Von seinem Tod erfuhr ich durch Gaby, meine Exfreundin, die mich vor mehr als 15 Jahren durch die Kneipe in Erkelenz getreten hatte. Sie hat mir schon lange verziehen. Arturs Todesanzeige hatte sie in einer Lokalzeitung gelesen. Artur und ich hatten uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Wenige Monate vor seinem Tod hatte er mich angerufen. Hatte mir von seinem Leben in der Schweiz erzählt, wo er seit einiger Zeit wohnte. Vom 270
Bergsteigen und Snowboard fahren. Von einer geplanten Reise nach Indien. Und von seinem letzten Kokainrückfall einige Wochen zuvor, der ihn in tiefe Depressionen gestürzt hatte. Deshalb war mein erster Gedanke auch »Überdosis«. Artur, erfuhr ich von seinem Vater, war abgestürzt. Aber nicht so, wie ich vermutet hatte. Er war bei einer Klettertour aus der Wand gefallen. Sie fanden ihn erst einige Tage später leblos in einer Schlucht. Auf eine seltsame Weise war ich erleichtert. An einer Felswand zu scheitern erschien mir weniger tragisch, als an der Sucht zu scheitern. Ich rief Erik an, damals der dritte in unserer FreundesFamilie, und erzählte ihm von Arturs Tod. Erik lebt heute in Berlin. Er ist seit vielen Jahren clean, trägt den schwarzen Gürtel in einer koreanischen KampfkunstDisziplin und arbeitet als Sozialpädagoge. Arturs Tod, sagte er, erinnere ihn an all die verpassten Chancen seines Lebens. Daran, wie ihm die Sucht vor Jahrzehnten die Unbeschwertheit geraubt hat und wie oft er selbst schon hat nicht mehr leben wollen, weil ihm alles absolut hoffnungslos erschien. Auch Erik ist mit Hepatitis C infiziert, bei ihm ist die Krankheit chronisch und zerfrisst langsam seine Leber. »Damals habe ich viele Fehler gemacht, die ich heute bereue«, sagt er. »Ich habe viele falsche Entscheidungen getroffen, die mein Leben heute noch beeinträchtigen.« Eriks Sätze gingen mir lange nicht aus dem Kopf. Viele dieser Fehler hatten wir schließlich gemeinsam begangen. Sicher, es gab in der Vergangenheit viele Momente, in denen ich mich für meine Sucht verflucht hatte und beinahe alles dafür gegeben hätte, meinen ersten Druck rückgängig zu machen. In denen ich das Elend kaum mehr ertragen konnte. Vor allem in den letzten Jahren, in denen 271
meine Drogensucht beinahe alles aufgefressen hatte, wofür ich so lange gearbeitet hatte, meine berufliche Existenz als Journalist, meine Gesundheit, meine Freundschaften, eben alles, was mein Leben ausmachte. Und dennoch. Die Vorstellung, für einen großen Teil meines Lebens nur Reue zu empfinden, gefällt mir nicht. Jetzt, drei Jahre nach meinem letzten Druck, begreife ich, was Iggy Pop mir fünf Jahre zuvor klar machen wollte – dass er nichts bereut, weil ihn all seine Exzesse und Überdosen zu dem Menschen gemacht haben, der er heute ist. Ich habe in den vergangenen 20 Jahren Unmengen von Drogen genommen und dutzende Entzüge durchgestanden. Manchmal war ich mir nicht einmal sicher, ob ich den nächsten Monat, den nächsten Tag überleben würde. Ob ich ihn überleben wollte. Aber ich habe überlebt. Und dieses Leben ist großartig. Möglich, dass ich all das erst jetzt wirklich schätzen gelernt habe. Vielleicht war es für mich tatsächlich nötig, ein paar Lektionen unter Schmerzen zu lernen. Ich werde mein Leben so schnell nicht wieder aufs Spiel setzen.
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Dank Ich danke all denen, die mir in den vergangenen Jahrzehnten geholfen haben, am Leben zu bleiben. Und all denen, die mir in den vergangenen Monaten geholfen haben, mich zu erinnern. Einige Namen habe ich geändert. Für die Unterstützung bei diesem Buch danke ich besonders Lothar Gorris, Anke Dürr, Otmar Jenner, Cordt Schnibben, Andreas Banaski und vor allem Linda Arckel.
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