Inferno 04 Lebendig Begraben Als Siegfried Lorenz die Bergmannssiedlung erreichte, war es schon nach neun Uhr abends. E...
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Inferno 04 Lebendig Begraben Als Siegfried Lorenz die Bergmannssiedlung erreichte, war es schon nach neun Uhr abends. Er bog mit seinem Motorrad in die Bachstraße ein und sah schon von weitem das Haus der Breuers, denn nur dort war alles erleuchtet, davor standen viele Autos, und die laute Musik hörte Lorenz schon, bevor er seine Maschine in der Nähe des Hauses anhielt. Heinis Fest ist schon in vollem Gange, dachte er, stieg ab, schloß ab und ging auf das Haus zu. Die Akkordeonklänge brachen ab, jemand lachte, viele Stimmen redeten unnatürlich laut, dann das schrille Gelächter einer Frau und nun wieder Akkordeonklänge, ein Walzer. Siegfried Lorenz stöhnte. Da werden wir einen Walzerabend haben, dachte er. Er sprang mit einem Satz die wenigen Stufen bis zur Haustür hinauf und schellte. Er fürchtete schon, man könnte das Klingeln gar nicht gehört haben, aber dann kam Inge und öffnete ihm. Sie sieht wieder Klasse aus, dachte er. Das Kleid paßt phantastisch zu ihren Haaren. Rotblond und dann dieses bunte Kleid. Na ja, immerhin arbeitet sie ja auch in einem Modegeschäft. Da sitzt sie ja an der Quelle. »Hallo, Sigi!« rief sie und strahlte ihn an. »Du kommst ja unheimlich spät.« »Ich mußte noch trainieren. Ich hatte dir gesagt, daß ich nicht so früh kommen kann. Dein Vater weiß das.« »Du konntest ja mal das Training ausfallen lassen«, meinte Inge Breuer und lachte. »Wir sind schon feste am Feiern. Papa hat schon einen in der Krone!« »Mensch du, der hat Frühschicht!« rief Lorenz. »Ja, dann mußte erst mal Anton Szymanski sehen! Der kann kaum noch laufen, so voll ist der«, behauptete Inge lachend. Sie ist wirklich verdammt hübsch, dachte er, als er sie ansah. Mein Gott, wo habe ich bloß meine Augen gehabt die ganze Zeit? Sie schien wohl etwas Ähnliches zu denken, denn sie fragte: »Hast du Helga nicht mitgebracht?« Er verzog das Gesicht, als hätte er Essig geschluckt. »Helga?
Aus der Traum!« erklärte er. Sie tat erstaunt, obgleich er geschworen hätte, daß sie alles wußte. »Aus der Traum?« »Ach komm, Inge, leg ’ne andre Platte auf, sonst bin ich sauer!« Sie nickte nur, ging voraus, öffnete die Tür des Wohnzimmers, und im ersten Augenblick sah Siegfried Lorenz nur Menschen, Menschen in einem ausgeräumten Zimmer, an dessen Decke eine Lampe halbverhüllt von Girlanden hing. Musik, Rauch, Gelächter, Singen, das quoll wie eine riesige Wolke Siegfried Lorenz entgegen. »Mensch, da kannste die Luft in kleine Stücke schneiden, da drin«, meinte er. Inge hatte nicht verstanden, der Lärm war zu groß. »Was sagst du?« »Schon gut, schon gut!« Er winkte ab und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Heini Breuer hatte er gleich entdeckt. Der stand hinten an der Wand, hatte wieder einen Hustenanfall. Mein Gott, Heini, dachte er, bei dir wird es auch Zeit, daß sie dich pensionieren. Nun ja, morgen ist deine letzte Schicht, und das feierst du ja. Er sah Anton Szymanski, diesen urwüchsigen, muskulösen Burschen, dessen Gesicht wie geschnitzt aussah. Szymanski war wirklich voll. Jetzt schielte er schon, sicheres Anzeichen für seinen Zustand. Jemand stieß Siegfried Lorenz von der Seite an. »Na, du Penner, wo kommst du denn her?« Siegfried Lorenz sah zur Seite, entdeckte einen Baum von Mann, hellblond, wuchtig, ein wahrhafter Bulle. »Ich hatte doch Training bei Schalke, weißt du doch«, erwiderte Lorenz. »Blödes Training! Heute, wo Heini Abschiedsfest feiert, kommst du so spät, Mensch. Wir haben alle schon einen geladen, und du kommst hier nüchtern rein.« »Es läßt sich alles nachholen«, meinte Siegfried Lorenz grinsend. »Wenn ich aber noch lange hier so trocken stehe, dann geh’ ich wieder.« »Ich bringe ja schon was, nun gib doch nicht so an«, rief Inge. Sie schlängelte sich durch die Tanzenden, denn das Büffet war auf der anderen Seite. Sie hatten da ein paar Bretter auf zwei Bierfässer gestellt, und dort schien es etwas Trinkbares zu geben.
Von hier aus war das alles nicht zu erkennen. Siegfried Lorenz beobachtete Inge, und Otto Zievers, der neben ihm stand, schien das wohl auch bemerkt zu haben. »Die gefällt dir, was? Die ist wirklich in Ordnung! Wer die mal kriegt, der kann sich die Hände reiben. Du, der hat sechs Richtige!« »Meinst du? Was ist denn sonst noch los hier, außer daß ihr Walzer tanzt?« »Nun blas dich nicht so auf! Es ist Heinis Fest, und Heini ist schon fünfundfünfzig. Die tanzen bloß Walzer und so Sachen. Deine wilden Tänze, die kannst du woanders tanzen, hier läuft da nix.« »Komm, wilde Tänze, nun mach mal halblang«, protestierte Lorenz. Dann fragte er etwas ernster: »Die haben wohl alle schon ganz schön geladen, du? Guck mal da drüben Scheuermann, der hat ’nen Kopf wie ’ne Tomate.« Sie blickten beide zu einem stämmigen, untersetzten Manne hin, der so Anfang Dreißig zu sein schien. Das kurz geschnittene schwarze Haar ließ Fritz Scheuermanns Gesicht noch breiter erscheinen, als es war. »Guck mal, Hung ist auch da. Der trinkt gar nicht. Ich glaube, der ist nüchtern, was?«, stellte Lorenz fest. »Ach, du weißt doch, wie die sind. Das ist doch ein Buddhist oder so was. Ich weiß nicht, ob der überhaupt trinken darf. Ich glaube, der darf gar nicht trinken, stimmt’s?« »Die trinken doch auch so ’n Zeug, Reiswein oder so was, hat er doch schon mal mitgebracht. Weißt du nicht mehr?« fragte Lorenz. Und dann beobachteten sie beide den Koreaner, der unweit von Fritz Scheuermann stand und sich mit einer älteren Frau unterhielt, die Lorenz nicht kannte. »Nee, auf alle Fälle is’ der morgen früh nicht müde, was glaubst du?« »Hör mal, Sigi, sieh mal nach links, kennst du die?« Siegfried Lorenz folgte der Blickrichtung von Otto-Otto und fragte: »Meinst du die Schwarzhaarige?« »Genau die!« »Sieht aus wie ’ne Zigeunerin.« »Nee«, sagte Otto-Otto, »aus Sizilien ist die, wohnt hier im Hause. Der Mann arbeitet in der Kokerei. Italienerin. Mann, Heini hat mir mal erzählt, daß die wahrsagen kann.«
»Wahrsagen?« fragte Lorenz. »Klar, wahrsagen, aus der Hand lesen und so!« »Mit Kaffeesatz?« Lorenz lachte. »Quatsch, aus der Hand liest die. Zukunft und so.« »Soll se auf’n Jahrmarkt gehn, kann se Geld damit verdienen.« Lorenz interessierte sich jetzt nicht mehr für die wahrsagende Italienerin. Er beobachtete, wie Inge mit vier Gläsern durch das Gewühl der Tanzenden kam. Aber dann fiel ihm etwas ein, und er fragte Otto-Otto: »War der Steiger noch nicht da?« »Doch, Watuschek ist vorhin dagewesen, aber er ist beizeiten wieder gegangen. Du weißt doch, wie die sind. Das war noch, als wir gegessen haben, Kartoffelsalat mit Würstchen. Wein ham wer getrunken. Mensch, war das ’n Essig. Der Watuschek hat was gesagt, ein paar Worte, ganz nett, der übliche Käse, weißt du. Die sagen ja immer dasselbe.« »Der Watuschek ist doch ganz in Ordnung, meine ich«, sagte Lorenz, »der kann auch menschlich sein.« »Ja, der schon!« Inge war mit dem Bier da. »Ich habe Vorrat mitgebracht«, rief sie lachend, »für jeden zwei.« »Und wo bleibst du?« fragte Lorenz. »Ich mag kein Bier, das weißte doch. Ich nipp’ mal bei dir. Mensch, ist das ’ne Hitze hier!« »Dann müßtest du mal auf neunte Sohle sein«, sagte Otto-Otto, »da ist die Luft noch was besser.« Die Männer tranken und Inge blickte über die Tanzenden hinweg und sagte plötzlich: »Mensch, ich glaub’, ich krieg ’n Kind, du! Jetzt liest die wieder aus der Hand.« »Wer, die aus Sizilien?« fragte Lorenz. »Ja, sieh doch hin! Mensch du, wir müssen uns mal von der die Zukunft sagen lassen, wir beide, ja?« Siegfried Lorenz grinste Otto-Otto zu und sagte: »Wir beide? Hat das was zu bedeuten?« Etwas distanzierter erwiderte Inge: »Vielleicht!« »Nu macht mal nich’ so ’n Schmus, ihr zwei. Geht hin und laßt euch die Zukunft sagen von der! Ihr müßt ja nicht glauben, was die sagt.« »Mensch du, sieh mal, die hat doch den kleenen Weier beim Wickel, den Berglehrling. Den hab’ ich bisher noch gar nich’ gesehn.«
»Du meinst Manfred«, sagte Inge, »wie heißt der noch?« »Weier«, sagte Otto-Otto, »großes W und kleine Eier.« Sie lachten alle drei und dann zwängten sie sich durch die Tanzenden hinüber zu jener Stelle, wo Heini Breuer, seine dicke Frau Elli, die Italienerin Anna Donati und der semmelblonde, etwas blasse Manfred Weier standen. Heini Breuer hatte seinen Hustenanfall hinter sich, strahlte glückselig in die Runde, während seine Frau ihm ab und zu skeptische Blicke von der Seite zuwarf. Elli Breuer galt hier in der Gegend als Original, weil sie die Dinge beim Namen nannte und nicht drumherum redete. Mittlerweile hatten noch andere bemerkt, was sich dort bei den Breuers tat. Sie hörten auf zu tanzen und kamen heran. Schließlich verstummte auch das Akkordeon und die gesamte Gästeschar umringte die Gruppe um die Italienerin. Die hatte Heini Breuers Hand in ihrer Rechten und betrachtete die Linien der Innenfläche. Sie war eine mittelgroße, dunkelhaarige Frau von etwa vierzig Jahren, der man ansah, daß sie den Kampf mit den Kalorien inzwischen aufgegeben hatte. In ihrem bunten Kleid wirkte sie ein wenig exotisch, fast wie eine Zigeunerin. »Nun sag schon, Anna, was mit Heini ist!« sagte die dicke Elli Breuer mit einer Gießkannenstimme, die alle anderen Gespräche übertönte. Plötzlich waren alle still, und sie hörten die Italienerin sagen: »Du gutes Herz«, verkündete sie, »und du machen weite Reise, bald, weite Reise nach Süden.« Sie sah auf und lachte. »Vielleicht du mich besuchen in Sizilien.« Breuer bewies jetzt, daß die vielen Korn und Biere nicht klanglos durch ihn hindurchgeronnen waren, verdrehte etwas die Augen, schluckte und erwiderte: »Wenn meine Olle einverstanden is’ komm’ ich!« »Nu fall man nich’ aus ’n Stiefeln, Heini«, röhrte Elli. »Erzähl weiter, Anna!« »Ich sehen Heini mit kleine Kind auf Arm«, verkündete Anna jetzt, »und ich sehen noch eine kleine Kind.« »Haben die kleinen Kinder schwarze Haare?« brüllte Otto-Otto über die Köpfe der anderen hinweg. Die Umstehenden brüllten vor Lachen, und Annas Antwort, daß die Kinder blonde Haare hätten, ging darin unter. Aber Elli Breuer meinte erzürnt: »Nu’ kommt mal wieder auf ’n Teppich! Das sind ja Enkelkinder, und nicht das, was ihr denkt.
Blond hat sie gesagt, blond!« Nun sahen alle auf Inge. Die wurde rot, und Fritz Scheuermann sagte: »Na ja, Sigi ist ja auch blond!« Wieder lachten alle und irgendwer schrie: »Musik!« Das Akkordeon spielte, aber nicht lange. Sie wollten jetzt aus der Hand gelesen haben, der eine und der andere. Die Umstehenden hatten ihren Spaß an diesen Prognosen. Schließlich hatte sie die Hand von Manfred Weier vor sich. Dieser etwas blasse Achtzehnjährige sah sie aus seinen wasserhellen Augen gespannt an. Aber Anna, die bisher immer gesprochen hatte, immer gleich erzählt hatte, was sie zu sehen meinte, die schwieg. Sie sagte gar nichts, ließ dann die Hand sinken, musterte den Jungen, wie es schien, etwas traurig und erklärte: »Ich nix mehr Konzentration. Ich jetzt müssen ausruhen. Ich nix mehr Kraft.« »Nun hör mal, Anna, nun sag doch dem Jungen auch noch, was du gesehen hast. Du kannst ihn doch nicht einfach so weglassen«, rief Elli entrüstet. Die Italienerin schüttelte den Kopf. »Ich müde, ich müssen schlafen«, erklärte sie entschieden. Otto-Otto hatte sich bis zu Manfred durchgedrängelt, legte dem viel kleineren Berglehrling den Arm auf die Schulter und rief: »Mach dir nix draus, Junge! Ist doch sowieso bloß Käse. Wer’s glaubt, wird davon selig… Lauter Mumpitz!« Anna sah in leichter Entrüstung zu ihm auf, schwieg aber, wandte sich ab und wollte nach draußen. Bevor sie die Tür erreicht hatte, holte Inge sie ein und sprach mit ihr. Dann verließ die Italienerin die Wohnung, Inge begleitete sie noch ein Stück, kam dann aber zurück. Siegfried Lorenz, der auf Inge wartete und hoffte, daß auf dem Akkordeon endlich mal etwas Modernes gespielt würde, damit er mit Inge tanzen konnte, sah sie zurückkommen. Inge war sehr ernst. Sie winkte Siegfried Lorenz, und er folgte ihr hinaus auf den Balkon. Inge schloß die Tür und sagte dann: »Du, hör mal, die hat mir was erzählt. Die sagt, sie hätte was ganz Furchtbares vorausgesehn bei Manni.« »Ach, hör auf, das ist doch alles Quatsch. Otto-Otto hat recht, das ist Mumpitz, weiter nichts.« »O nein, das ist bestimmt ernst. Du, das mit der Reise von Papa, das stimmt. Wir woll’n ihm eine Reise zu Weihnachten schenken, eine Reise nach Teneriffa, verstehst du? Wir haben dafür
gespart. Er weiß es nicht, nur wir wissen es. Und Anna weiß es natürlich auch nicht. Alles stimmt! Ich sage dir, ich glaube an so was.« »Mensch, hör auf! So ’n Quatsch! Was hat sie denn gesagt von Manfred?« wollte er wissen. »Sie sagt, daß er ganz furchtbar sterben wird, und zwar schon sehr bald.« »Ach, nun mach doch mal halblang, Mensch, und so ’n Käse heute abend! Ich denke, das ist ein fröhliches Fest, wußte ja nicht, daß ich aufs Begräbnis gekommen bin!« rief Siegfried Lorenz entrüstet. »Bist du ja auch nicht«, erwiderte sie, legte ihre Hände auf seine Schultern. »Woll’n wir hier draußen tanzen? Auf alle Fälle haben wir hier frische Luft.« Er lachte, zog sie an sich und sagte: »Weißt du, ich bin da nicht so sicher. Soviel frische Luft könnte dich umwerfen. Ich kann’s ja mal mit Mund-zu-Mund-Beatmung versuchen.« Und dann zog er sie so überraschend in seine Arme, daß ihr Widerstand nur noch eine Andeutung blieb. Und als sie sich küßten und er spürte, wie sehr sie darauf gewartet hatte, ertönte es von der Straße her: »Du hast Frühschicht! Mach nicht solche Zicken und komm mit! Du mußt jetzt ins Bett, morgen früh kommste wieder nich’ raus. Immer dasselbe mit euch Mannsvolk!« Ziska Szymanski, dachte Siegfried Lorenz noch, und dann schaltete er jedes Denken völlig ab. * Ziska Szymanski war eine Frau Mitte Vierzig, herb, abgearbeitet und von den harten Jahren an der Seite ihres Mannes gezeichnet. Sie hatte ihm drei Kinder geboren, und das jüngste war zwanzig und lebte noch im Hause. Den abgeschabten Bademantel über dem Nachthemd, trat sie ans Fenster, zog den Rolladen hoch und blickte hinaus auf die Straße. Sie hörte das Quietschen der Straßenbahnen vorn in der Kanalstraße, das Rauschen der vielen Autoreifen auf der regennassen Fahrbahn, das Rasseln des Rolladens von Lebensmittel-Meier schräg gegenüber und das Trommeln des Regens an die Scheiben. Mein Gott, dachte sie, es ist höchste Zeit! Sie wandte sich um, trat an das Bett ihres Mannes, rüttelte ihn an der Schulter und
sagte: »Anton, Anton, aufstehn, du mußt auf Schicht!« Anton schien in tiefstem Schlaf zu liegen. Er hatte den Mund geöffnet, Haare hingen wirr nach allen Seiten, gab einen grunzenden Laut von sich, dachte aber offensichtlich nicht daran, die Augen zu öffnen. »Anton, nu komm schon endlich, du mußt auf Schicht! Es ist gleich fünf, nu mach!« Anton drehte sich auf den Rücken, öffnete die Augen und sah seine Frau verwirrt an. »Hä?« machte er. »Ach, Anton, du mußt auf Zeche, nu steh auf!« »Nee, ich bin krank, mach’ blau, Grippe oder so.« Schon drehte er sich auf die andere Seite und wollte weiterschlafen. Aber sie ließ nicht locker. Sie rüttelte ihn an der Schulter. »Red kein’ Quatsch, Anton, du mußt auf Zeche! Die wissen doch alle, daß wir gefeiert haben. Du kannst doch nicht blaumachen. Gerade jetzt, wo sie wieder entlassen. Die warten doch nur drauf, daß sie solche in deinem Alter rausschmeißen können. Anton, hörst du?« Er drehte sich wieder auf den Rücken, gähnte, öffnete die Augen und maulte: »Scheißzeche! Laß mich endlich in Ruhe! Ich bin krank, verstehst du, krank.« »Du bist nicht krank, Anton, du bist kerngesund. Nur zuviel gesoffen haste gestern. Das is’ es. Steh jetzt auf! Ich muß den Kaffee machen!« Sie schlurfte hinaus in die Küche und brummte: »Ach, diese ollen Möbel, das olle Zeug hier. Man müßte mal was Neues haben. Ein neues Haus, irgendwo da draußen oder eine von den neuen Wohnungen. Aber das schaffen wir nicht mehr. Aus der Siedlung kommen wir nicht mehr raus.« Sie kniete sich vor den Ofen, um ihn anzumachen. »Ah, dieser Ofen«, murmelte sie, »dieses Monstrum. Wenn wir doch mal was Modernes hätten. Die Breuers, die Zievers, alle haben sie neues Zeug in der Küche, und ich hab’ noch diesen verdammten alten Herd. Ja, wenn drei Kinder in die Schule gegangen sind, da kommt man eben zu nichts. Und das bißchen Kindergeld! Daß ich nicht lache! Und der zieht auch wieder nicht. Dieser verdammte Qualm«, schimpfte sie vor sich hin und öffnete das Fenster. Das Quietschen der Straßenbahn von der Kanalstraße kam ihr wieder in die Ohren. Sie wollte die Kaffeeflasche von Anton vom Regal
holen, aber sie entglitt ihren Händen und fiel scheppernd zu Boden. Als sie sie aufhob, hörte sie das Klo rauschen. »Na, endlich ist er aufgestanden«, sagte sie, ging zur Tür und rief: »Anton!« »Ja doch, quengel doch nicht so!« kam es von oben. Eine Stimme hat der heute wieder, dachte sie. Plötzlich kam jemand rasch die Treppe herunter. »Was will Andreas denn schon?« fragte sie sich, »so früh kommt er Vaddern ins Gehege.« Ihr zwanzigjähriger Sohn tauchte auf dem Korridor auf, blieb unter der Lampe stehen, so daß sein dunkles Haar wie schwarze Seide schillerte. Andreas trug nur eine kurze Hose, sonst nichts, und Ziska Szymanski wollte gerade zu einer Predigt ansetzen, daß er sich erkälten würde, da sagte er: »Jetzt ist er wieder im Klo, was? Ihr wißt doch, daß ich weg muß.« »Schließlich hat er Frühschicht«, erwiderte sie. »Er müßte längst fort sein. Wieso ist er denn noch da?« empörte sich Andreas. »O Gott, Junge, wir warn’ doch bei den Breuers. Heini hat doch Abschied gefeiert, das weißt du doch.« »Natürlich«, erwiderte er, »und wie ich den Alten kenne, hat er sich wieder ordentlich vollaufen lassen.« »Junge, wie redest du von deinem Vater?« Er winkte ab und wollte wieder die Treppe hinauf. »Tauben, Saufen, Feiern, das ist euer Leben.« »Ja«, sagte sie, »und malochen vor allen Dingen, damit wir dich studieren lassen können. Das ist unser Leben: arbeiten und arbeiten. Nichts Vernünftiges hat man, alte Klamotten hat man. Alle haben sie schönes Zeug, aber wir, wir haben drei Kinder, aus denen was werden sollte, die alle drei studieren sollten. Und sie haben studiert, zwei sind fertig, und du wirst auch bald fertig sein, irgendwann mal. Und dafür haben wir gelebt, dafür haben wir gearbeitet. Was hat Vater denn noch? Nichts hat er, nur seine Maloche und die Tauben, sonst nichts!« Die Klotüre ging auf, Anton Szymanski schlurfte heraus, sah nur kurz zu seinem Sohn hin und brummte: »Immer Theater machen, immer Theater machen, sonst könnt ihr nix! Das Klo ist frei jetzt, nu geh auch schon rein!« Andreas kam die paar Stufen der Treppe wieder herunter und
verschwand in der Toilette. Anton Szymanski schlurfte in die Küche, sah zu dem qualmenden Ofen hin und brummte: »Das Ding zieht nich’. Muß ich auch mal machen. Ach, verdammte Frühschicht! Am liebsten würde ich blaumachen. Ich hab ein’ Kopf, ich könnt’ mich am Himmel kratzen.« Er setzte sich an den Tisch, schob den gegenüberliegenden Stuhl mit dem Fuß weg, daß es über die Fliesen polterte und maulte: »Kriegst du den Kaffee noch vor Weihnachten fertig?« »Kann ja auch nicht hexen, wenn der Ofen nicht zieht, ’nen elektrischen müßten wir haben, ham wer nur den kleinen Kocher. Das alte Dreckding, das taugt doch nichts. Die Trimbornsche, die hat einen, sag’ ich dir: vollautomatisch!« »Ich kann nich’ zaubern. Wenn se uns auch noch die Zulage kürzen, dann reicht’s hinten und vorne nich’. Wird eben Zeit, daß Andreas endlich Geld verdient!« »Da kannst du noch warten!« Anton Szymanski rieb sich die Brust. »Ein Gefühl hab’ ich im Magen, furchtbar.« »Von die Sauferei kommt das, nur von die Sauferei.« »Ach was! Irgendwie is’ mir komisch, so richtig komisch.« »Nee, blaumachen ist nich’! Denk mal an die Raten, die wir haben. Und wenn se dich vor de Tür setzen auf Zeche, dann is’ Schluß. Wer soll das bezahlen? Und der Junge kann dann auch nich’ mehr studier’n.« »Ich geh’ ja schon! Hör schon auf, ich geh’ ja! Mach den Kaffee endlich!« Wenig später, als der Kaffee fertig war, setzte sie sich ihm gegenüber, während er mürrisch frühstückte. »Haste gehört, was die Italienerin gestern abend gesagt hat?« »Was gehört?« »Na ja, von Manfred. Der ist doch bei dir.« »Ach, du meinst den Weier, ja, ja. Sie hat ja gar nichts gesagt. Ich hab’ nichts gehört.« »Ja, nich’ zu Manfred, aber nachher zu Inge. Zu Breuers Inge hat se gesagt, daß er bald furchtbar umkommen wird.« »Weibergequatsche!« fauchte Szymanski. »Immer dieses Zeug! So was nimmt man doch nicht ernst. Aufgeklärte Menschen, ham wir gesagt, sind wir. Dummes Zeug ist das!« »Ich weiß nicht! Ich weiß nicht! Bei Heini hat sie auch gesagt,
daß er ’ne große Reise machen wird. Und weißte, was mir die Elli gesagt hat? Sie woll’n ihm zu Weihnachten ’ne Reise schenken, nach Teneriffa.« »Ach hör auf! – Sind die Brote fertig?« »Ja doch!« »Ich muß jetzt auf Zeche.« »Und bring mir die Hose von der Reinigung mit, Anton, hörst du?« »Ja, ja, schon gut.« * Nasser Asphalt, Lichterketten von Autos, die Fabriksirene der Kokerei heulte, und der Dampf einer Rangierlok wehte wie ein gespenstischer Schleier über die Straße. Die kaputte Neonröhre über dem Supermarkt blinkte und das ferne Tatütata eines Polizeiautos klang aus weiter Ferne herüber. Überfüllte Straßenbahnen ratterten die Hauptstraßen entlang, Autokolonnen, hastige Fußgänger mit Aktentaschen unter den Armen strebten ihren Arbeitsplätzen zu. Ein paar Jungen schleppten auf einem Handwagen die Morgenzeitungen von Haus zu Haus. Wie ein Auftakt schallte das Klingeln von Förderturm 2 der Zeche herüber. Irgendwo quietschten ein paar Reifen. Ein Auto hupte. Unter der Laterne quälte sich ein älterer Mann mit einer Luftpumpe herum, die nicht funktionieren wollte, und der Reifen war platt. Ein gutes Stück weiter aber strömten die Menschen in die Zeche Max-Stissen II, rollten die Busse heran und suchten die Autofahrer Parkplätze, die hier so schwer zu finden waren, wie ein Brunnen in der Wüste. Der Frühjahrswind blies die Dunstschwaden unter dem Licht der Bogenlampen entlang, die über dem Zechentor eine geisterhafte, diffuse Beleuchtung hervorriefen. Es war ungemütlich und kalt. Überall spiegelten sich die Lichter in den Pfützen, und Siegfried Lorenz, der sein Motorrad abgestellt hatte, erschien dieser Tag noch grauer als sonst. Er hatte verschlafen und kaum gefrühstückt, nur ein Stück Brot und einen Schluck Wasser; zum Kaffeekochen hatte es nicht gereicht. Zu allem Überfluß hatte er noch die Brote vergessen und beschloß, sich am Stand noch etwas zu holen. Aber der Stand war noch zu, obgleich er sonst um die Zeit
immer geöffnet hatte. Da hilft eben alles nichts, dachte Siegfried, knurrte einen Fluch und betrat die Zeche, holte seine Marke, und ging dann im Strom der vielen in die Kaue. Was er jetzt zu tun hatte, das geschah bei ihm ebenso automatisch wie Luftholen und Ausatmen. Bei den Kleideraufzügen schloß er seine Kette auf, ließ die Arbeitskleidung herunter, zog sich um und hängte die saubere Kleidung an die Haken. Dann zog er die Kette hinauf, befestigte sie wieder und schloß sie ab, Handgriffe, die er jeden Tag tat, ohne darüber nachdenken zu müssen. Als er fertig war, ging er hinüber zu Scheuermann, der ebenfalls schon umgezogen war und sich die Augen rieb. Sie begrüßten sich und Hung Rhee, der Koreaner, dieser untersetzte, kompakte Bursche, trat dazu. Die beiden waren ja überhaupt unzertrennlich, Scheuermann und sein Gedingeschlepper. »Haste schon gehört?« fragte Scheuermann, »wir soll’n Streb 17 für eine neue Schrämmaschine vorbereiten.« »Wer sagt das?« fragte Siegfried. Hung Rhee fuchtelte ihm mit der Hand vorm Gesicht herum. »Watuschek sägen, Watuschek sagen, Streb 17 ausbauen für Schrämmer…« »Wofür?« »Für die neue Schrämmaschine, meint er«, erklärte Scheuermann. »Was denn, wir soll’n das machen? Mensch, auf Streb 17 is’ doch ’ne Störung. Und mir hat einer gesagt, Schrämmaschine geht nich’ bei ’ner Störung. Wer war denn das gleich?« Scheuermann winkte ab. »Auf alle Fälle sind’s ja nur drei Schichten, dann sind wer damit fertig, und dann könn’ die mit der neuen Maschine hinein.« »Was die sich immer ausdenken, Mensch. Da könn’ wer doch kaum Kohle machen. Is’ dir das klar? Glaubst du, die können mit die neuen Maschinen was werden?« Der wuschelköpfige, stämmige Helmut Geiger kam zu ihnen, grinste sie an und sagte: »Ja, Jungs, im Bergbau tut sich was. Jetzt wird modernisiert. Die Schrämmaschine macht Kohle, nich’ mehr wir. Die schicken jetzt wieder zwanzig Mann auf’n Lehrgang als Panzerfahrer. Da wird das auch mit dem Ausbau anders. Ihr kommt auch noch dran. Der ganze Bergbau wird anders, sag’ ich euch. Geht mal auf die neuen Zechen im Westfälischen. Die arbeiten heute schon so. Und ihr redet immer von Kohle machen.
Seht mal, Heini und ich, wir arbeiten nu schon ewig an Störungen. Wir haben nie viel Kohle gemacht, immer nur ausgebaut, ausgebaut, mehr Zimmermann als Bergmann. Und weißt du was? Wenn ich auf meinen Lohnstreifen sehe, komme ich auf dieselbe Summe wie ihr mit euerm Kohle machen, Kohle machen. Und bin im Gedinge wie ihr.« »Da kann ich ja gleich in Schichtlohn gehn. Nachtschicht und am Tag Spazierengehen«, meinte Scheuermann. Helmut Geiger tippte sich an den Kopf. »Du hast ja ’ne Meise. Ich habe lange genug Nachtschicht gemacht. Hör auf mit Nachtschicht! Das is’ kein Leben, da gehste bei kaputt.« »Die Nachtschicht pennt bloß. Was machen die denn?« meinte Scheuermann, »Versatzblasen, rumsitzen! Die meiste Zeit sitzen sie auf der Gezähekiste und klönen.« »Dafür Verdienste ja auch bloß ’n Bruchteil von dem, was wir im Gedinge machen.« Geiger blickte an den anderen vorbei und rief: »Hallo, Heini, letzte Schicht?« Sie drehten sich nun alle um und sahen Heini Breuer kommen. Er machte ein Gesicht wie auf dem Begräbnis. »Mensch, ist der sauer«, meinte Helmut Geiger, »und das auf der letzten Schicht!« »Na ja, der hat och nich’ ausgeschlafen, genau, wie wir«, meinte Scheuermann. »Wenn Schicht zu Ende, hat Zeit zum Schlafen«, meinte Hung Rhee, »dann kann schlafen bis sterben.« »Nun hör auf vom Sterben, Hung«, knurrte Helmut Geiger. »Ich nix Angst vor Sterben«, sagte Hung Rhee. »Nach Sterben kommen schöne Leben.« »Der mit seiner Religion«, meinte Fritz Scheuermann, »aber das tröstet den. Der hat nie Angst, der Kerl.« »Apropos Angst«, sagte Siegfried Lorenz. »Habt ihr mitgekriegt, was die gestern erzählt hat, die Italienerin, die Anna?« »Hör bloß auf mit solchem Quatsch!« entgegnete Helmut Geiger. »Glaubst du auch an’ Weihnachtsmann und an’ Klapperstorch? Gut, daß ich an den Klapperstorch denke. Inge war ’n Mädchen für dich.« »Nun halt aber die Schnauze!« fauchte ihn Siegfried Lorenz an. Heini Breuer war zu ihnen getreten. »Hab’ grad den Watuschek getroffen«, sagte er, nachdem er sie begrüßt hatte. »Wißt ihr, was der sagt?«
»Wir können es raten«, erwiderte Scheuermann. »Uns hat er’s nämlich auch schon erzählt: Streb 17 für die Schrämmaschine vorbereiten…« »Und das auf meinem letzten Tag!« »Ach was denn, du fährst mit Vorkorb aus, mit den Steigern, oder noch besser, mit den Verletzten.« »Aber die sieben Stunden brumm’ ich doch ab, da hilft gar nichts.« »Was sind sieben Stunden, Heini? Die letzten sieben Stunden im Pütt, also!« »Da kommt er«, murmelte Helmut Geiger. Sie sahen sich um, und da kam er. Mit seinem semmelblonden Haar sah er sowieso schon immer sehr blaß aus, aber jetzt wirkte er bleich und blutleer. »Was is’ denn mit dir, Manfred? Hat’s dir ins Gemüse gehagelt?« fragte Helmut Geiger. »Ach, nichts, ach, nichts«, behauptete Manfred Weier. »Ja, Junge«, sagte Fritz Scheuermann, »heute wird’s anders auf Streb 17. Weißte was das is’, für die neue Maschine ausbauen? Alles muß gerade sein, bolzengerade.« Manfred Weier sah ihn fragend an. »Ja«, sagte Fritz Scheuermann, »das ist noch Kohlemachen mit ordentlich Steinstaub. Der richtige Ozon für deine Lunge. Vor allem ist dort das Hangende mies. Wir müssen feste ausbauen, weil sie diese neue Schrämmaschine einsetzen woll’n. Ja, Junge, bald kommen bessere Zeiten. Da wird nicht mehr drauf geschaufelt auf die Rutsche, immer drauf und mit dem Lufthammer gebrochen. Bisher haben wir die Kohle nur so gemacht. Es kommt die Schrämmaschine, prima Maloche. Tja, wie aufm Traktor sitzen. Und du wirst es erleben, mein Sohn.« »Und ’ne schöne dicke Störung drin«, meinte Siegfried Lorenz. »Der Streb 17 versetzt sich da um einen Meter. Weißt du, was das heißt, Fritz?« »Na und? Meinste, ich hätte noch nie ’ne Störung gesehn? Ich bin jetzt fuffzehn Jahre auf Zeche, mein Junge, mir erzählste da gar nichts.« »Nu mach mal nich’ so ’ne Wolke«, erwiderte Lorenz. »Da biste grade zwei Jahre länger da als ich. Glaubste, ich hätt’ was verpaßt? Aber auf Streb 17 die Störung, ein ganzer Meter! Da ist das Hangende wie ’n Krümelkäse. Wenn du da hustest, kommt der
ganze Mist runter. Alle Handbreit ’ne Kappe. Dat kennst du nich’, du mit dei’m Kohlemachen. Du setzt im Monat weniger Stempel, Kappen und Spitzen als wir in der Woche…« Scheuermann lachte, aber Heini Breuer nickte bedächtig und sagte: »Recht hat er, der Sigi. Störung is’ Störung, und da heißt es Ausbauen, Sicherheit zuerst, sonst liegen wir alle auf der Nase.« »Ach, macht euch nich’ in die Hosen, ihr Scheißer!« rief Fritz Scheuermann, gab Hung Rhee einen Wink, und die beiden zogen los. »Wird Zeit fürs Lampeholen. Auf zu Gott, im Himmel gibt’s Zigarren!« »Der macht immer einen Wind«, sagte Helmut Geiger, »wenn der nich’ Wind machen kann, ist der unglücklich. Schrubben, Kohle machen und große Schnauze, das hab’ ich gerne.« »Ach, hör doch auf«, beruhigte ihn Heini Breuer, »der muß ’n Auto abzahlen, der hat dicke Raten. Wenn der nicht ordentlich Kohle macht, denn ist nichts in der Tüte beim Abschlag. Haste noch nie gesehn, wenn seine Olle am Tor steht? Wenn es Abschlagzahlung gibt, da steht die doch vor Zeche, in jeder Hand ’ne dicke Tüte, das hat se alles schon eingekauft. Müssen se nachher noch schnell vorbeigehn und bezahlen. Mensch, du kennst das überhaupt nich’! Du bist Junggeselle, was weißt du von den Frauen?« »Nu mach mal halblang. Alle sind se wohl nich’ so«, meinte Siegfried Lorenz. Die anderen lachten und Heini Breuer meinte: »Na, warte mal ab, warte bloß mal ab! Falls du jetzt, von Inge redest, dann hat die bestimmt von ihrer Mutter ’nen ordentlichen Schlag mitgekriegt, du. Da kannste dich drauf verlassen. Weißte, ich geh’ jetzt auch meine Lampe holen, die Stunden abreißen und dann is’ endgültig Schluß.« Er bekam wieder einen Hustenanfall, mußte sich an die Wand lehnen, und als er damit fertig war, war sein Gesicht blaurot. »Eine Schande ist das«, murmelte Siegfried Lorenz. Helmut Geiger, der neben ihm stand, nickte: »Ja, Steinstaub, und immer an der Störung, ich auch, ich habe die ganze Zeit mit ihm gearbeitet. Ich bin bloß gespannt, zu wem mich Watuschek einteilt morgen. Ja, morgen krieg’ ich ’n andern Hauer. Oder ich muß auch auf’n Lehrgang für die Schrämmaschine.« »Dann wünsch dir bloß, daß du nicht zu Scheuermann kommst,
Fritz. Der holt et Letzte aus dir raus. Ich staune bloß über den Koreaner. Was der sich von ihm gefallen läßt, Menschenskind!« * Als sie ihre Marken abgegeben und die Lampe gefaßt hatten, ging es den üblichen Weg zu Schacht und dort ebenso üblich das Anstellen vor der Hängebrücke am Förderschacht. Immer dasselbe: Die Treppe hinauf, die Brücke, und dann einen Korb erwischen. Als sie so auf der Treppe standen und warten mußten, als die Klingelzeichen und das Rasseln der Gittertüren vom Förderschacht die beherrschenden Geräusche waren, da lockerte sich die bisher gedrückte Stimmung etwas auf. Die ersten Scherze flogen von Mann zu Mann, und dann sahen sie die mit den silbernen Helmen. Anton Szymanski, der ziemlich weit unten an der Treppe stand, sah sie zuerst. »Mann«, schrie er, »was sind denn das für welche? Sind die von der New Yorker Feuerwehr?« Alle rissen die Köpfe herum, blickten nach unten. Da standen doch sage und schreibe zwölf Mann mit silbernen Helmen, Helme wie die der englischen Armee, nur silbern. Eigenartig, so was hatten sie hier auf Zeche noch nie gesehen. Natürlich waren es Bergmannshelme. Es waren Lampen dran, aber es sah merkwürdig aus. Einer von denen da unten, die diese Helme trugen, hob das Gesicht und da erkannten sie ihn. Scheuermann brüllte: »He, Meier, wie läufst du denn rum? Willst du Krieg machen?« Meier lachte über sein breites Gesicht. Er sah aus wie ein westfälischer Bauer. »Nee«, sagte er, »die ham uns die Dinger zur Probe verpaßt, soll’n getestet werden. Hat sich so ’n Armleuchter oben am grünen Tisch ausgedacht. Na ja, is’ ja egal, von was einem schlecht wird.« Die anderen lachten und Scheuermann fragte: »Wo bist du denn jetzt, Meier, neunte Sohle wie wir?« »Ja, Streb 8.« »Streb 8? Ich denke, der ist geschlossen? Da hat doch gestern ein Wetterfrosch was festgestellt. Da war doch was!« Scheuermann sah sich um, als sollten die anderen das bestätigen, und
tatsächlich nickte Siegfried Lorenz und sagte: »Ja, ich hab’ auch so was gehört, da war was.« »Ja, da war was«, rief der Meier von unten, »aber is’ nich’ mehr. Wir fahr’n heute wieder rein. Da steht doch die neue amerikanische Schrämmaschine.« »Wird wohl auch getestet«, brüllte Scheuermann, »ihr seid so ’ne richtige Versuchskarnickel, was?« »Is’ mir doch piepegal«, meinte Meier unten. »Mich interessiert bloß die Abschlagzahlung, und die is’ gut. Soll’n sie doch testen, was sie woll’n, solange alles in Ordnung is’.« »Na ja«, murmelte Siegfried Lorenz, »solange alles in Ordnung ist.« * Als sie unten im gleißenden Licht des Querschlages ankamen, war ein Gewimmel wie auf einem Hauptbahnhof. Männer von der Nachtschicht standen an, um auszufahren. Unter ihnen war auch eine Kolonne, die vor Stein arbeitete, um neue Stollen vorzutreiben, neue Flöze zu erschließen. »Die treiben einen Blindschacht zur 10. Sohle«, sagte Scheuermann, »die neunte ist bald alle.« »Nie im Leben«, erwiderte Heini Breuer, »nie im Leben ist die leer. Hier ist noch massig Kohle, sag’ ich dir.« Anton Szymanski drängelte sich vor. »Was is’ denn mit dir?« meinte Geiger. »Was soll denn diese Hast? Willst du der erste sein?« Scheuermann reagierte gar nicht und ging auf einen Mann zu, den Geiger nicht kannte. Er sprach mit ihm, während die anderen weitergingen auf den Schienen entlang, die hier im Querschlag in fünf Reihen nebeneinander lagen. Je weiter sie kamen, desto öfter gingen Seitenstollen vom Querschlag ab. Da und dort verschwanden Männer. Es wurden immer weniger, ebenso wie die Lampen, die oben am Hangenden hingen und den Weg leuchteten. Nun mußten auch die Männer von Streb 17 in einen Seitenstollen, mußten eine Wettertür öffnen, die hart hinter ihnen wieder zuschlug. Von nun an war es dunkel. Nur ihre Lampen leuchteten ihnen den Weg. Sie hörten hinten wieder die Tür zuschlagen, und dann ertönte Scheuermanns Stimme, der rief: »He, wartet mal, ich hab’ was zu
sagen!« Geiger frotzelte: »Der wird immer was zu sagen haben; Kohle machen und was sagen, das ist sein Leben.« Aber sie warteten doch. Als Scheuermann bei ihnen war, erklärte er: »Ich habe eben mit dem Kumpel geredet, der an der Abteufung arbeitet. Junge, sag’ ich euch, die haben was vor!« Szymanski unterbrach ihn mit einem Hustenanfall. »Verdammt, ich krieg’ die Grippe!« sagte er. »Ach, Quatsch!« erwiderte Siegfried Lorenz. »Du qualmst zuviel, das is’ alles.« »Macht doch nix«, meinte Helmut Geiger, »bei dem ham die Bazillen freie Fahrt bis unten rein in die Lunge, alles geteert, alles asphaltiert, wie auf der Autobahn.« »Ja, wer gut teert, der gut fährt«, meinte Heini Breuer, aber nun mußte er auch husten, doch bei ihm hatte es andere Gründe. »Was is’ nun mit der Abteufung?« fragte Geiger, aber bevor Scheuermann dazu kam, etwas zu sagen, tauchte der Rutschenmeister Otto Zievers auf. »Hallo, Leute, wieder groß in Form heute, was? Mensch, ich hab ’n Kopp, da sind die Ameisen drin.« »Ich glaube, Elli hat was unter den Schnaps gemischt«, meinte Szymanski. »Was, Heini, hat sie was druntergemischt? Ich hab’ och so ’n Kopp!« »Wir mischen nix in den Korn. Das tun anständige Leut’ nich’.« »Schon gut, Heini, schon gut«, beruhigte ihn Otto Zievers und dann sagte er: »Habt ihr im Radio gehört? Schalke spielt gegen die Frankfurter Eintracht.« »Ja, ich weiß!« sagte Siegfried Lorenz. »Da ham die gestern abend schon davon erzählt. Aber ich glaube, so schlimm wird’s auch nich’. Schalke will ja sogar zwei Amateure mitnehmen.« »Na hör mal, das nennst du nich’ schlimm?«, empörte sich Helmut Geiger. »Da werden die wieder schreien in Frankfurt: Schalke 04 -Pleite vom Revier!« »Denen ihre Eintracht machen wir aber zu Hackfleisch, das sag’ ich dir«, meinte Otto-Otto. »Was die in letzter Zeit gezeigt haben, die Eintracht von Frankfurt, das war ja auch nicht das Größte.« »Aber die ham immer noch was in der Hinterhand«, meinte Geiger, »die könn’ ganz schön, wenn sie woll’n. Denk mal, was die mit den Kölnern gemacht haben!« »Na ja, so wie beim Damenfußball wird’s ja nich’ werden«,
meinte Scheuermann und alle lachten. »Was is’ los, Konferenz? Nix wollen arbeiten?« rief Hung Rhee. »Na, an deiner Stelle würde ich ja mikroskopisch kleine Brötchen backen, du«, knurrte Geiger. »An so ’n Vormittag wie heute kann ich urgemütlich werden.« »Nur nix aufregen, nix aufregen«, beruhigte ihn Hung Rhee. »Hier, Lehrling krank, Lehrling krank.« Sie sahen auf den Mann neben ihm und erkannten, daß es Manfred Weier war. Der sah wirklich aus, als hätte er die Hose voll. »Warum hast du sie voll, was ist passiert? Ham die dir irgendwelchen Quatsch erzählt von dieser Italienerin?« Manfred Weier nickte. »Was denn, und du hast doch Abitur, denk’ ich oder so.« »Nein, nur die mittlere Reife.« »Na ja, auf alle Fälle machste doch hier ’n Praktikum und willst dann irgendwie doch noch weitermachen, studier’n und so, Ingenieur werden. Und du glaubst an so ’n Quatsch? Ich denke, du bist aufgeklärt, Junge. Nu vergiß doch das, so ein Unsinn!« »Ich weiß nich’«, sagte Manfred Weier, »es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde…!« »Also, nu mach mal halblang, komm! Mag schon sein, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, aber da gehört die Anna nich’ dazu. Die steht doch mit beiden Beinen auf der Erde, ganz fest. Und was die redet, da glaubt die doch selber nich’ dran. Die muß ja selber lachen. Die verscheißert dich doch bloß. Also los!« Er legte ihm den Arm um die Schultern und fuhr tröstend fort: »Immer mit die Ruhe! Nichts wird so heiß gegessen, wie’s gekocht wird. Und nun auf, die Kohle wartet auf uns. Wie ich unsern Freund Watuschek kenne, der steht da schon Spalier, daß wir kommen.« »Und wenn es nun doch wahr is’?« fragte Manfred Weier. »Mein lieber Junge, wenn das alles, was ich schon geträumt habe, in Erfüllung gegangen wäre, mein lieber Freund«, meinte Anton Szymanski, »dann wär ich schon lange, lange tot. Ich hab’ schon so viele Sachen geträumt, dumme Sachen. Vergiß es! Wir komm’ in einen neuen Streb. Wir müssen unsern Kopf zusammennehm’, also, auf, auf!« »Ich habe trotzdem Angst«, sagte der Junge. Als sie am Blindschacht warten mußten, daß der Förderkorb
kam, tauchten die Burschen vom Streb 8 auf mit den silbernen Helmen. Irgendeiner von ihnen schien einen Witz erzählt zu haben, denn sie brachen plötzlich in brüllendes Gelächter aus. Im Schein der beiden Lampen, die am Blindschacht brannten, waren die Gesichter dieser Männer zu erkennen. Jener Meier war wieder dabei, und er war es auch, der Anton Szymanski zurief: »Mein Kröpf er ist immer noch nicht zurückgekommen. Ich glaube, den kann ich abschreiben. Dabei war Minden gar nicht weit. Am Sonntag geht die Reise weiter! Was ist? Machst du mit?« »Klar, mach ich mit. Jülich, da war’n sie noch nie.« »War’n se nich’, soll aber gefährlich sein«, behauptete Anton Szymanski. »Da sind ’n Haufen Hochspannungen und so, Kraftwerke.« »Ach, meine komm’n da prima zurück. Bloß nach Belgien, da laß ich se nich’ mehr. Damals, weißt du noch, Brüssel? Von sechs Tauben nur eine zurückgekommen. Diese verdammten Belgier ham sie abgeknallt, glaubst du?« »Quatsch, glaub’ ich nich’! Bei mir sind se damals alle zurückgekommen«, sagte Szymanski. »Na endlich, jetzt kommt der Korb!« rief jemand. Der Förderkorb im Blindschacht war nicht groß genug, um sie alle aufzunehmen. So mußten sie in zwei Partien fahren, und Siegfried Lorenz blieb zusammen mit ein paar von den Silberhelmen, Fritz Scheuermann und Hung Rhee zurück. Als sie dann endlich hochfahren konnten und an ihrem Streb ankamen, war es genauso, wie es schon prophezeit worden war: Steiger Watuschek stand am oberen Ende der Rutsche und gab Instruktionen. Erich Watuschek war ein kleiner Mann, einer von denen, wo man sagt: klein, aber oho! Und daß er auch oho war, hatte Siegfried Lorenz schon oft erlebt. Er wollte an der Kuppe vorbeigehen, aber Watuschek hatte ihn schon gesehen und sagte: »Lorenz, bleiben Sie mal hier! Sie und Szymanski und Breuer und Geiger, ihr geht an die Störung!« Siegfried blickte in die Gesichter der anderen, soweit er etwas erkennen konnte. Aber es waren genug Lampen da. Wie es schien, hatten die anderen gegen die Einteilung nichts einzuwenden. Nur Siegfried war da anderer Meinung. »Steiger, ihr könnt doch Heini Breuer nich’ an die Störung stellen! Das ist seine letzte Schicht. Menschenskind, der hätte schon vor fünf Jahren pensioniert gehört. Ich weiß nich’, ob der noch ’ne
Viertellunge hat oder ’ne Zehntellunge, aber das andre ist doch alle versteinert. Da rührt sich doch nichts mehr. Lassen Sie den Mann doch hier oben, oder ganz unten, wo die Luft am besten ist, aber doch nicht an der Störung. Der hat dreißig Jahre an der Störung gearbeitet. Da soll er wenigstens seine letzte Schicht mal gute Luft haben, verdammt noch mal!« »Woll’n Sie mir vorschreiben, wo ich die Leute hinsetze, Lorenz?« fuhr ihn der Steiger an. »Ne, will ich nich’. Aber sagen wird mer ja wohl noch dürfen, vielleicht dran erinnern, daß es seine letzte Schicht is’. Und ich hab’ gehört, daß Sie gestern auch dagewesen sind und schöne Worte gebraucht haben. Aber von schönen Worten kriegt Heini keine Luft.« Die anderen sahen den Steiger betroffen an, rechneten mit einer heftigen Erwiderung, aber ganz überraschend sagte der: »Na ja, ausnahmsweise haben Se mal recht, Lorenz. Gut, Scheuermann, dann gehn Sie oberhalb der Störung. Aber bauen Sie mir bloß gut aus, das sag’ ich Ihnen. Hier machen wir keine Kohle, hier bau’n wir aus an der Störung. Ham ’Se gehört, Scheuermann?« »Ich steh’ ja nich’ auf’n Ohren, Steiger!« erwiderte Scheuermann. »Und unten, da arbeitet Szymanski. Szymanski, Sie sind ’n erfahrener Mann. Ich hoffe, sie bau’n genug aus. Breuer, sehn Se auch ab und zu mal nach dem Ausbau! Keiner hat die Erfahrung von Ihnen. Und laßt euch ruhig mal was sagen, wenn Breuer was nicht gut findet. Alles klar, Männer?« fragte Watuschek. »Alles klar, Steiger!« »Dann Glück auf!« »Glück auf, Steiger!« riefen die Männer. Watuschek ging an der Rutsche entlang nach unten. Das Flöz verlief mit einer Steigung von etwa dreißig Prozent. Im Augenblick hatte der Streb eine Breite von nicht ganz drei Metern, war zum großen Teil mit Stahlstempeln, Holzkappen, Holzspitzen ausgebaut, und die Rutsche lag stramm an der einen Seite. Diese Rutsche wurde von’ Preßluft auf und ab geschüttelt, so daß die Kohle, die man hineinschaufelte, abwärtsrutschte, hinab bis zum Bunker, unter dem dann die Förderwagen standen, um beladen zu werden. Es galt jetzt, diesen Streb so weit auszubauen, daß eine
Schrämmaschine eingesetzt werden konnte. Die Sache hier hatte aber einen Haken, und der Haken war eine Störung, das heißt soviel wie einen Abriß des Kohlenflözes, der nicht in gerader Linie weiterverlief, sondern um einen Meter versetzt war. Irgendwann, in grauer Vorzeit, hatte sich der Berg verschoben, waren Schichten des Gesteins und damit auch Schichten von Kohle verschoben worden. Das bedeutete, daß das Hangende, jene glatte Gesteindecke, die sich vorher oberhalb der Kohle befunden hatte, ebenfalls nicht mehr in glatter Linie verlief, sondern auch versetzt war. Und dort, wo dieser Abriß bestand, dort war das Hangende nicht mehr glatt und eben wie eine Zimmerdecke, sondern es mußte ein Übergang geschaffen werden. Und zwar schräg zum natürlichen Wachstum des Gesteins, das ja auch in Schichten aufgebaut war. Wurde aber schräg zum Gestein abgebaut, erträgt – wie man es nennt – das Gestein nicht mehr, es bröckelt ab. Und an diesen Störungen mußte besonders dicht ausgebaut werden, mußten die Abstützungen durch Kappen – das sind die querliegenden Rundhölzer – und Stempel – das sind die senkrechten Abstützungen – ausgebaut werden. Die Spitzen waren dünne Latten, die in engem Abstand nebeneinander vor abbrechendem Gestein am Hangenden zwischen den Kappen sicherten. War die Störung sehr steil, dann galt es, dicht an dicht auszubauen. Diese Arbeit erforderte große Sachkenntnis, und vor allem war es eine Arbeit, bei der wegen des Gesteins sehr viel Steinstaub in der Luft hing. Es mußte mit Wasser gearbeitet werden, um den Staub zu binden. Trotzdem kam noch genug Steinstaub in die Lungen der Männer, die an der Störung arbeiteten. Aus diesem Grunde erhielten sie besondere Zulagen, aber das machte ihre frühe Arbeitsunfähigkeit nicht wett. Heini war das wandelnde Beispiel, wie schnell ein Mann, der immer an der Störung gearbeitet hatte, zum Invaliden werden kann. Denn die Kohle bleibt nicht in der Lunge. Kohlenstaub spuckt man aus, aber Steinstaub geht nie wieder raus. Oberhalb des Flözabrisses sollten also Scheuermann und der Koreaner, unterhalb Szymanski und Siegfried Lorenz arbeiten; denn Siegfried Lorenz war der Gedingeschlepper des Hauers Szymanski, wie Hung Rhee der Schlepper von Fritz Scheuermann war. Heini Breuer aber und sein langjähriger Gedingeschlepper Helmut Geiger arbeiteten ein Stück unterhalb, während Manfred Weier, der Berglehrling, zusammen mit Siegfried Lorenz bei Szymanski arbeitete.
Die Preßlufthämmer wurden mit ihren Schläuchen an die oberhalb der Rutsche verlaufenden Preßluftleitungen angeschlossen, und kurz darauf kam schon das Klopfsignal auf die Preßluftleitung, daß die Arbeit losgehen müßte. Rutschenmeister Otto-Otto, wie sie Otto Zievers alle nannten, setzte die Rutsche in Gang. Zu dem dröhnenden Puffen des Preßluftantriebs gesellte sich dann unmittelbar danach das Hämmern vieler Preßlufthämmer auf dem ganzen Streb. Zweiunddreißig Mann waren sie, die hier im Streb 17 vor Ort arbeiteten, zweiunddreißig Männer, von denen viele eine Familie hatten, zweiunddreißig Schicksale. Und für eine Reihe von ihnen würde es kein »Glück auf« mehr geben. Nie mehr… * Durch die Eigenart des Berges befand sich der Streb 8 schräg oberhalb vom Streb 17. Da die Flöze alle starkes Gefälle hatten und nicht waagerecht verliefen, besaß auch Streb 8 eine Steigung von dreißig Grad und war von derselben Sohle aus erreichbar. Und hier in Streb 8 hatte man ein großes Versuchsprogramm angelegt, das nicht nur die Ausrüstung der Männer, ihr Gezähe, sondern auch den technischen Einsatz anging, mit dem man hier versuchte, größere Mengen Kohle unter geringerem Aufwand auszubeuten. Eine amerikanische Schrämmmaschine, wie sie in Europa noch nie eingesetzt worden war, sollte hier ihren Test für die Verwendbarkeit im Ruhrrevier unter Beweis stellen. Die Zechenleitung hatte eigens in Amerika geschultes Personal an dieser Maschine eingesetzt, und der Aufwand, daß in diesem Streb zwei Steiger anwesend waren, bewies das Interesse der Grubenleitung. Die Männer im Streb, die Kumpel, die jahrelang vor Ort gearbeitet hatten, zeigten sich den modernen Maschinen gegenüber skeptisch. Die Meinungen waren sehr geteilt, ob dieses amerikanische Monstrum ein Plus in der Kohleförderung war oder nicht. Nach Meiers Meinung, der hier den Wortführer spielte, weil er die längste Bergerfahrung hatte, war diese Schrämmaschine für den Einsatz im Ruhrrevier nicht geeignet. Aber er und die Männer im Streb ahnten nicht, welche Katastrophe dieses, wie Meier es nannte, »amerikanische Monstrum« auf der Zeche auslösen sollte. Die Männer der Frühschicht hatten um sechs Uhr die Kaue ver-
lassen, waren zur Seilfahrt angetreten und befanden sich seit Viertel vor sieben vor Ort. Es war heiß hier unten. Sie arbeiteten mit nackten Oberkörpern, in dessen Schweiß sich der Kohlenstaub mischte. Die Gesichter wurden schwärzer. An ihren Rücken rann es herab, und der infernalische Lärm vor Ort machte sie fast taub. Kurz vor zehn Uhr war es jetzt und prompt kam das Klopfzeichen zum Buttern, eine offiziell nie genehmigte Arbeitspause, die aber dennoch seit gut einem Jahrhundert eingeführt war und auch eingehalten wurde. Die Männer schalteten die Maschinen ab, Und mit einem Male wurde es im Streb totenstill. Sie holten ihre Kaffeeflaschen, tranken ihren Tee oder Kaffee, sie wickelten ihre Brote aus und sprachen über Tauben, über Fußball, über den Garten oder über die erwartete Lohnerhöhung. Sie debattierten über den Betriebsrat, über irgendeinen Gewerkschaftsvorschlag oder über Politik im allgemeinen. Das war hier im Streb 8 ebenso wie in den anderen Strebs, wo zur gleichen Zeit gebuttert wurde; zum Beispiel in Streb 17, wo Heini Breuer erzählte, was er denn machen würde, wenn er nicht mehr einführe, und wo Otto-Otto von seiner Urlaubsfahrt berichtete, die ihn wie all die Jahre mit dem Wohnwagen in ferne Länder führte. Zuletzt war er in Norwegen gewesen, und das nächstemal wollte er bis in die Türkei. Und Anton Szymanski hatte nur die Tauben im Kopf, sprach von ihren Reisen und auch von ihren Preisen. Fritz Scheuermann, der Autonarr, debattierte mit Helmut Geiger über neue Modelle auf dem Automobilsektor, während der Koreaner Hung Rhee sich mit Siegfried Lorenz über die Aussichten von Schalke 04 im Spiel gegen die Frankfurter Eintracht am nächsten Sonntag stritt. Und nur Manfred Weier, der Berglehrling, saß still in der Ecke, zusammengesunken, hatte nichts gegessen, nur ein paar Schlucke getrunken. Er schwieg gedankenverloren, allein mit sich und seiner Angst. Und in Streb 8 war der bullige Fahrsteiger Dollmann aufgetaucht. Gerade während des Butterns war er gekommen. Dollmann, den die Kumpels »Zampano« nannten, ein Gebirge von Mensch, war aber nicht unbeliebt. Dollmann stolzierte, von den Kumpels beobachtet, um die neue Schrämmaschine herum, inspizierte sie und setzte sich dann zu den Männern. Aber zu einem Gespräch kam es nicht mehr, denn das Signal zum Ende des Butterns trieb die Kumpels wieder an die Arbeit. Das Wasser für die
Staubbindung wurde aufgedreht, der Panzer bereitgemacht. Und genau in dem Augenblick, als der in Amerika ausgebildete Paul Schneider die Schrämmaschine in Gang setzen wollte, da geschah es! Da geschah das, was in die Annalen der Zeche MaxStissen II eingehen sollte, als Anlaß zu dem, was man später einen der schwärzesten Tage dieser Zeche bezeichnen sollte. Und genau in dem Augenblick geschah es, da der Wettersteiger mit einer Benzinwetterlampe den Streb betrat, um an der Farbe im Drahtkorb zu erkennen, ob die Gefahr schlagender Wetter drohte. Aber er kam zu spät. Der Fahrer der Schrämmaschine, jener Paul Schneider, schaltete die Maschine ein, und in demselben Augenblick, da er das tat, erfolgte die Explosion. Eine Stichflamme zuckte aus der Schrämmaschine, und im selben Augenblick gab es einen fürchterlichen Knall. Dollmann, den sie »Zampano« nannten, wurde ein paar Meter weit durch die Luft geschleudert. Den Maschinisten warf es zu Boden. Männer in der Nähe wurden vom Luftdruck umgerissen. Gesteinsbrocken flogen nach allen Seiten und dann, erst dann kam die wirkliche Schlagwetterexplosion. Es gab einen Donnerschlag, der mit einem Male den gesamten Stahlpanzer wegriß, der die Ausleger umknickte wie Streichhölzer, und fast augenblicklich kam das Hangende herunter. Vierundzwanzig Männer in diesem Streb überlebten die nächsten Sekunden nicht mehr, auch jener Meier nicht, der die Tauben so innig liebte wie Anton Szymanski. Mit einem Feuerblitz schien eine Welt unterzugehen, begrub die Männer, die amerikanische Schrämmaschine und den gesamten Streb 8. Zugleich erstickte der Berg damit das Feuer, das wie eine Schweißflamme loderte und fauchte. * In Streb 17 wurde eine Minute früher als in Streb 8 zum Ende des Butterns geklopft. Der Rutschenmeister schlug dazu mit einem Schraubenschlüssel an das Preßluftrohr, daß es durch den ganzen Streb dröhnte. Neben dem Preßluftrohr, das nur armdick war, hatte man zum Versatzblasen ein zweites Rohr aufgehängt, das etwa fünfzig Zentimeter Durchmesser besaß. Und oben befand sich eine Klappe, die irgendein Spaßvogel geöffnet hatte, um
unmittelbar nach dem Abklopfen der Butterpause in dieses Rohr zu brüllen: »Nach dem eindrucksvollen Abschiedsfest bei Heini findet heute abend bei Sigi Lorenz eine hinreißende Sexorgie statt. Alle sind herzlich eingeladen, eigne Frauen und Kinder kein Zutritt!« Das schallte durch den ganzen Streb, und die Männer lachten; sie lachten, als das Beben durch den Berg ging. Aber dieses Lachen erstarb ihnen auf den Lippen. Denn plötzlich da war es, als stünden sie auf Wasser. Alles zitterte, der Boden schien ihnen unter den Füßen wegzugleiten, und an der Störung, wo Anton Szymanski mit Manfred Weier und Siegfried Lorenz standen, und wo oben Fritz Scheuermann gerade seinen Preßlufthammer einschalten wollte, und wo Hung Rhee auf die Schippe gestützt neben der Rutsche lehnte, dort brach das Hangende zuerst weg. Scheuermann sah es als einer der ersten und schrie: »Es kommt runter, es kommt runter!« Und dann sprang er schon los, war mit einem Satz bei Szymanski unten, prallte gegen Siegfried Lorenz, riß ihn fast um. Dann kam der Koreaner, und über ihnen prasselte es herab. Ganz plötzlich war im Berg ein Dröhnen, ein Poltern, ein Donnern, und sie alle stürzten, rannten, flogen hin, rafften sich auf, liefen abwärts. Eine gewaltige Platte brach vom Hangenden ab und binnen Sekunden war alles in dicken Staub gehüllt. Stempel und herumliegende Kappen verbauten den Fluchtweg. Die Schreie der Männer gellten durch diesen Lärm, den der Berg verursachte. Und die, die es zu spät hörten, die es nicht gleich wahrgenommen hatten, die kamen nicht mehr davon, gerieten unter diese viele tausend Tonnen schwere Last, die da jetzt herunterstürzte. Siegfried Lorenz hatte Anton Szymanski gepackt und mitgerissen. Szymanski war der Helm vom Kopf geflogen, und er war barhäuptig. Die Lampe hatte er auch verloren, deshalb konnte er nichts sehen. Aber viel sah auch Siegfried nicht mehr, denn der Staub, der war jetzt wie dickster Nebel, und den durchdrang auch die Lampe nicht. Das Gebrüll der Getroffenen, das Donnern des noch immer herabbrechenden Gesteins, das Knacken und Bersten der Stempel, die diese gewaltige Last nicht mehr aushalten konnten, übertönte alle anderen Geräusche. Szymanski brüllte einmal etwas, aber Siegfried verstand es
nicht. Er riß den Hauer mit, immer bergab, stieß gegen die Rutsche, einmal prallte er gegen einen Stempel, meinte, bewußtlos zu werden. Aber nach kurzer Zeit sah er wieder klar, und das war, als Szymanski ihm zubrüllte: »Weiter, Sigi! Weiter Sigi!« Andere prallten von hinten gegen sie, und dann hatten sie schon das Ende der Rutsche erreicht. Aus dem dicken Qualm ertönte plötzlich OttoOttos Stimme: »Zur Grundstrecke, Jungs, kommt zur Grundstrecke! Hier ist die Grundstrecke!« Ein Hustenanfall beendete sein Rufen. Sie alle mußten husten, bekamen kaum Luft. Lampen geisterten wie Glühwürmchen durch dicke Wolken von Staub. Wo eine Lampe war, da war ein Mann. »Der Steiger is’ hier!« rief jemand, dessen Stimme Siegfried unbekannt vorkam. »Watuschek ist verletzt!« hörte Siegfried Otto-Otto sagen. Siegfried tastete nach Anton Szymanski. »Anton, bist du verletzt?« fragte er. »Ich weiß nicht.« Szymanski mußte husten. »Ich weiß nicht, mein Kopf, da hab’ ich was draufgekriegt und dabei ist der Helm weg. Verdammter Staub, dieser verdammte Staub!« Szymanski mußte wieder husten. Und noch einer hustete, röchelte, als ob er ersticken müßte. Es muß Heini sein! dachte Siegfried. Mein Gott! Heinis letzte Schicht. Sofort dachte er an Manfred Weier. »Anton, der Junge! Wo ist der Junge?« fragte er. »Meinst du Manfred? Keine Ahnung, der war noch vor mir.« Ganz langsam begann sich der Staub zu legen, aber noch immer knackte es weiter oben in den Stempeln. Zum Teil hatten sie mit Stahl ausgebaut. Aber die Stahlstempel, die waren noch schlimmer. Die gaben ein hohes Singen von sich, bevor sie wegplatzten, verbogen wegknickten, als wären es Grashalme. Aber wenn sie erst knickten, ging es ganz schnell. Holz meldete sich vorher, lange vorher an. »Scheuermann hat wieder Kohle gemacht!« sagte plötzlich Helmut Geiger. »Er hat wieder geschrubbt. Scheiß Kohlemachen, aber jetzt sitzen wer im Dreck!« Da meldete sich Fritz Scheuermann: »Halt die Klappe, Helmut, es is’ nicht wahr! Wir haben ganz vorsichtig ausgebaut.« »Ich kenn’ dich doch«, antwortete Helmut Geiger von der ande-
ren Seite, »Kohlemachen, Kohlemachen! Und das an der Störung! Jetzt sitzen wer in der Scheiße!« »Ich sage, daß es nich’ wahr is’!« »Es war die Störung, die zuerst eingebrochen is’«, meldete sich Otto-Otto, »da deutelt keiner dran. Aber jetzt is’ es egal. Verdammt, der Steiger ist verletzt, schwer verletzt. Komm doch mal einer her und leuchte mal ins Gesicht!« »Was is’ mit Heini?« fragte Siegfried und prompt antwortete Helmut Geiger: »Heini is’ bei mir, aber kriegt kaum noch Luft, verdammter Staub!« »Pustet nich’ so rum, Jungs, komm doch mal einer mit ’ner Lampe! Will sehn, was mit dem Steiger ist«, rief Otto-Otto. Siegfried ging zu ihm und wäre bald auf den Steiger getreten. Der lag am Boden. Siegfried hielt die Lampe so, daß der Lichtstrahl auf den Steiger fiel. Erich Watuschek war von fallendem Gestein die Schulter aufgerissen worden, und er sah grauenhaft aus. Als Siegfried ihm mit Otto-Ottos Hilfe die Jacke herunterschnitt, lag der Steiger reglos, und wie es Siegfried vorkam, leblos am Boden. Er blutete schrecklich. »Sag mal, lebt der noch?« fragte Otto-Otto. Fragen sind das! dachte Siegfried. Wie soll ich das feststell’n? Der blutet ja noch, also lebt er noch. Oder kann jemand bluten, der tot is’? Verdammt, is’ das ’n Anblick. So wie damals bei dem Verkehrsunfall vorm halben Jahr. Ha, ich kann so was nich’ sehn! »He«, rief Otto-Otto, »lebt er nu oder lebt er nich’?« »Ach, Scheiße! Lebt er oder lebt er nich’! Ich weiß nich’! Verdammt noch mal, vielleicht leben wir gleich alle nich’ mehr!« Szymanski kam näher, kniete sich neben Siegfried, fühlte dem Steiger den Puls. »Der is’ tot, verdammt!« »Die oben sind, sind auch tot, da is keiner weggekommen. Der ganze Mist is’ runtergefall’n«, sagte Fritz Scheuermann, der auch neben den Steiger getreten war. »Wieso denn oben? Ich denke, an der Störung is’ es zusammengebrochen?« fragte Siegfried. »Ich meine, hinter mir is’ alles runtergekommen«, sagte Scheuermann, »alles, da is’ nix geblieben. Das ganze Hangende is’ runtergekommen, wie ’ne flache Platte. Die ganze Firste is’ zusammengebrochen, da is’ nix mehr da.«
»Sagt mal«, wandte Otto-Otto ein, »drüber, oben über uns, da ist doch Streb 8, die mit der komischen Schrämmaschine, mit der amerikanischen!« »Still!« rief Siegfried, »hör doch mal, sei doch mal still! Da schreit einer. Verdammt noch mal, da ist einer noch oben am Leben. Den muß ich holen!« »Bleib hier!« sagte Otto-Otto. »Nicht weitergehn, da hinten knacken schon alle Stempel weg. Da kannst du jetzt nich’ hin.« »Mensch, Otto-Otto, du kannst doch kein’ verrecken lassen, der da oben liegt. Wir müssen den doch versuchen zu hol’n.« Fritz Scheuermann drängte sich heran. »Los, Sigi, wir hol’n ihn, ich hör’ ihn auch. Wenn das mal nich’ der Junge is’.« Der Koreaner kam auch. »Wir drei«, sagte er, »wir drei ihn holen.« »Drei sind zuviel, los, Fritz, wir zwei!« sagte Siegfried. Dann gingen sie los. Der Boden war bedeckt mit Gestein. Hier vorne wogte auch noch viel Staub. Es war, als wenn sie in dicksten Nebel eindringen müßten. Und je weiter sie kamen, um so lauter wurde das Knacken der noch stehenden Stempel; zum Teil waren es Stahlstempel, die begannen sich auch schon zu biegen. Wo noch Holzausbau war, da knackte es verdächtig. Manche der Stempel hatten sich richtig aufgebläht, hatten Bäuche, waren auseinandergesplittert. Aber noch hielten sie. Dann sahen sie den ersten Einbruch, wo die Firste heruntergekommen war, wo sich das Gestein aufeinander getürmt hatte. Und unter diesem Gestein, da ragte ein Mensch heraus, nur sein Körper, nicht die Beine, die waren unterm Gestein. Und es war Manfred. Manfred Weier, großes W und kleine Eier, hatten sie im Scherz gesagt, als einmal einer nicht wußte, ob er sich mit ei oder ey schreibt. Ja, der Junge, der war nicht tot, o nein, der Junge lebte, und er war es auch gewesen, den sie schreien hörten. Jetzt, wo sie bei ihm waren, wo das Licht ihrer Lampen auf sein Gesicht fiel, da schrie er. Aber aus seinen großen, in Tränen schwimmenden Augen sah er sie an, und dann formten, seine Lippen ein Wort. Sie verstanden es nicht. Dann hörten sie ihn sagen: »Sie hat… sie hat recht gehabt.« Mein Gott, dachte Siegfried, den kriegen wir niemals hier raus! Dem müßten wir die Beine abschneiden. Das kriegen wir nicht weg, was hier runtergekommen is’. Der liegt mit den Beinen rich-
tig drunter. Ein paar Tonnen von Geröll. Wenn wir hier nur einen Stein bewegen, kommt der ganze übrige Krempel noch runter und dann sind wer alle weg. O Himmel, was hat der Junge getan, daß er so gestraft wird? War er doch tot, aber der lebt! Gibt es eine Gerechtigkeit auf dieser Welt? »Wir werden dich freilegen!« versprach Fritz Scheuermann, und diese fromme Lüge kam ihm von den Lippen wie Öl. »Wirklich?« flüsterte der Junge. Nun gab sich auch Siegfried Lorenz einen Ruck. »Natürlich, Junge, natürlich!« Und er dachte: Lieber Gott, laß ihn doch jetzt sterben, laß ihn wenigstens bewußtlos werden und dann hinüberschlummern, in eine andere Welt. Aber das geschah nicht. Manfred Weier blieb hellwach. »Es ist komisch, ich spür’ gar nichts mehr«, sagte er, »ich habe keinen Schmerz. Aber ich bin verloren! Meine Beine, ob sie überhaupt noch dran sind?« »Nu’ mach dir man keine Sorgen!« sagte Siegfried Lorenz. »Wir werden dich schon freibuddeln. Mach’ mer langsam. Es sind noch ’n paar unten, die’s überlebt haben, die helfen mir.« In diesem Augenblick knackte es in den restlichen Stempeln und mit einem lauten Knall barst ein Holzstempel. Sogleich ging ein auf der anderen Seite stehender Stahlstempel zu Bruch, der platzte regelrecht auseinander. Und dann knackte es auch oben, am Hangenden. »Weg, weg!« schrie Fritz Scheuermann. Sie sprangen zurück, und der Junge schrie: »Ihr könnt mich doch nicht liegen lassen! Laßt mich doch nicht liegen, Sigi, Sigi!« Und dann kam es herunter. Siegfried war es, als bekäme er einen Tritt in den Rücken, und etwas schnitt ihm wie ein Peitschenhieb über das Gesäß. Er fühlte sich von Scheuermann gepackt und mitgerissen, stolperte, blieb aber auf den Beinen, während hinter ihm das Schreien des Jungen jäh erstarb, unterging im Donner der Gesteinsmassen, die herunterkamen. * Frau Szymanski war beim Fensterputzen, als sie das Tatütata aus der Ferne näher und näher kommen hörte, und als unten auf der Straße der alte Opa Brettschneider vorbeiging, der Pensionär mit seinem Korb, den ihm Oma Brettschneider immer mitgab,
wenn sie ihn einkaufen schickte. Und wie immer pfiff Opa ein fröhliches Lied. Jetzt allerdings blieb er stehen, hörte auf zu pfeifen, hielt die linke Hand gegen das linke Ohr, blickte dann hinauf zu Ziska Szymanski und sagte: »Die fahr’n auf Zeche.« Ziska Szymanski lauschte auch. Jetzt hörte sie wieder ein Tatütata und dann noch eins von einer anderen Richtung. Es kam näher und näher, bog von der Kanalstraße ein, und jetzt sah sie sie sogar vom Fenster aus: zwei Krankenwagen. Sie fuhren in Richtung auf das Zechentor. »Schacht I«, rief Opa, »da is’ wieder was passiert. Drei sind es, hab’ ich gezählt.« Und dann tauchte die dicke Elli Breuer, Heinis Frau, auf. Sie hatte drüben beim Kaufmann Meier geputzt. Es waren so ein paar Mark nebenbei in ihrer Einkaufstasche, denn der Kaufmann Meier entlohnte sie mit Naturalien. So kam sie vollbepackt über die Straße. Sie blieb neben Opa Brettschneider stehen, sah zu Ziska Szymanski hinauf und rief: »Hast du’s auch gehört, Ziska?« Ziska nickte nur, und Opa Brettschneider meinte: »Wird wieder was passiert sein.« Opa Brettschneider, der einen Kopf hatte wie aus Wurzelholz geschnitzt, mit einer knolligen Nase darin und noch immer vollem, aber schneeweißem Haar, einem prächtigen Bart, dieser Alte war jahrzehntelang selbst Bergmann gewesen und hatte, wie er es nannte, der Knappschaft ein Schnippchen geschlagen und war nicht beizeiten gestorben wie so viele, sondern erfreute sich auch als Rentner noch bester Gesundheit. Ein Auto kam vorüber gebraust. Ein hellblauer Ford fuhr in Richtung Zeche. Aufgeregt deutete Elli Breuer auf den Wagen und rief: »Das war doch der Kunze, der Helga ihr Mann! Der gehört doch zum Rettungstrupp. Dem ham se doch extra Telefon gelegt. Wenn der man nich’ auf Zeche fährt! Jetzt glaub’ ich wirklich, da is’ was passiert! O Gott, mein Heini! Wenn nur meinem Heini nichts passiert ist!« »Wenn deinem Heini was passiert is’«, rief Ziska herunter, »dann is’ auch mit dem Anton was, und der hat gar nich’ auf Zeche gewollt. Blau hat er machen woll’n. Keine Lust hat er gehabt. Scheißzeche, hat er gesagt. Und ich hab’ gesagt: ›Du mußt auf Zeche gehn, weil sie wieder entlassen‹. Und Angst hab’ ich gehabt, daß sie ihn entlassen. Is’ ja auch schon achtundvierzig, der
Anton, und wenn einer mal über vierzig is’, dann zählt er ja nich’ mehr. Sie woll’n ja nur di Jungen. Die Alten möchten sie am liebsten rausschmeißen!« Opa Brettschneider nickte gedankenverloren vor sich hin, und dann sagte er: »Es is’ eine Wegwerf-Gesellschaft. Ich sage immer: alles werfen sie weg, die Tüten, die Autos, die Reifen, die Radios, die schönsten Schränke und die Menschen – die Menschen werfen sie auch weg. Schlimme Welt! Schlimme Welt!« Dann ging er weiter. Seinen Korb in der Hand, so zog er dahin. Aber diesmal interessierte es die Frauen nicht. Sie dachten an ihre Männer. Und dann kam auch die Frau Zievers, Otto-Ottos Frau. Sie kam mit dem Fahrrad, den Gepäckständer bepackt mit einem großen Karton, in dem sie ich wieder neue Heimarbeit geholt hatte. Otto-Ottos Frau machte zu Hause Lötarbeiten für eine Elektrofirma. Aber Ziska Szymanski sah das gar nicht mehr, denn sie hatte sich einen Mantel angezogen und lief schon durch den Flur, stieß die Haustür auf und rannte ins Freie. »Wo willst du hin, Ziska?« fragte Elli. »Ich gehe nach Zeche. Ich will wissen, was mit mei’m Anton is’.« »Die Schicht ist sowieso gleich zu Ende, Ziska. Da könn’ wir auch hier warten«, meinte Elli. »Wie oft sind sie schon mit dem Wagen dagewesen, mit dem Krankenwagen mein’ ich, und ich hab’ auch gewartet, und Heini is’ immer gekommen.« »Dann bete, daß er auch heute kommt!« sagte Ziska und lief schon weiter. »Meinst du, daß die auf Zeche sind? Ich hab’ sie auch gehört«, sagte Otto-Ottos Frau. Sie war eine hagere, fast knochige Frau, früher mochte sie vielleicht einmal hübsch gewesen sein, jetzt wirkte sie verhärmt. Fünf Kinder hatte sie, und zwei davon waren noch sehr klein. Deshalb konnte sie sich keine Arbeit suchen. Es gab auch so genug zu Hause zu tun. Wieder näherte sich von irgendwoher ein Krankenwagen, dann ein zweiter. Und jetzt wurde auch Elli Breuer unruhig. »Ich muß sehen, was ist«, meinte sie. »Ziska muß jetzt bald dort sein.« »Ich gehe mit«, sagte Otto-Ottos Frau, »ich komme mit. Ich muß nur schnell Bescheid sagen, daß die Oma nach den Kindern sieht. Die andern komm’n ja bald von Schule.« »Ich geh’ schon mal. Mit dem Rad ist man ja sowieso schneller.«
Je näher die dicke Elli Breuer dem Zechentor kam, um so mehr Menschen strömten auf die Zeche zu, obgleich jetzt noch kein Schichtwechsel war. Viele von denen, die da auf das Zechentor zueilten, waren Frauen. Und dann sah auch Elli, daß das Zechentor geschlossen war. Als sich ein Polizeifahrzeug näherte, ebenfalls mit Blaulicht und Sirene, da wurde dieses Tor vom Werkschutz geöffnet und sofort wieder geschlossen. Als Elli ankam, standen gut fünfzig Menschen vor dem Zechentor. Und da hörte Elli die tollsten Gerüchte. Aber eines schien zu stimmen: In der Schachtanlage war ein Unfall passiert. Es mußte ein gewaltiger Unfall sein, nach diesem hektischen Hin- und Hergerenne, das Elli auf dem Zechenhof sehen konnte. Sie drängelte sich durch, bis sie neben Ziska Szymanski stand. Ziska preßte das Gesicht zwischen zwei Gitterstäben des Tores hindurch, und Elli sah, wie Ziska die Tränen über die Wangen rannen. Ihre Lippen zuckten, und die Knöchel ihrer Finger, die sie um die Gitterstäbe krampfte, waren weiß. »Hätt’ ich ihn doch machen lassen! Hatt’ ich ihn doch nich’ auf Zeche geschickt, er wollte ja nich’! Er muß es geahnt haben!« stöhnte sie. »Ach was, Ziska, es muß ja nich’ uns’ren Männern passiert sein. Es können ja ganz andre sein.« Ein Mann vom Werkschutz kam näner, um einen Krankenwagen aufzumachen, der bis vors Tor gerollt war. »Machen Sie doch bitte Platz! Lassen Sie den Krankenwagen rein!« »Was’ ist passiert? Wo is’ es? Auf welchem Streb?« rief Elli. »Ich kann keine Auskunft geben. Machen Sie doch Platz für den Krankenwagen!« sagte der Werkschutzmann. Ein Reporter von der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung war da, wollte durch, zeigte seinen Presseausweis und rief lautstark, daß er von der Presse sei. Der Werkschutzmann ließ ihn durch. Und die Frauen riefen: »Sagen Sie uns, was passiert ist! Sagen Sie’s uns, sobald Sie was wissen!« Der Reporter, ein rotblonder sympathischer Mann, drehte sich um, nickte und rannte dann hastig weiter auf das Verwaltungsgebäude der Zeche zu. Dann kam ein Steiger. Elli Breuer, der die meisten Beamten der Zeche bekannt waren, kannte auch ihn. Er war ein Obersteiger, ein Mann über die Fünfzig, ziemlich korpulent. Mit Leichenbitter-
miene kam er zum Tor und sagte: »Es ist ein Unfall passiert. Wir wissen noch nichts. Aber die Rettungstrupps sind schon unterwegs. Es wird alles getan! Es wird alles getan!« Mehrere Frauen riefen: »Wo, wo? Wo ist das?« »Wir haben noch keine Übersicht«, sagte der Obersteiger. »Es ist auf der 9. Sohle, aber es wird alles getan. Es kann nicht viel sein.« »Um Himmels willen, auf der 9. Sohle!« rief Ziska Szymanski. »Auf der 9. Sohle, o Anton! O Anton! Hätte ich dich doch nich’ auf Zeche geschickt. Hätte ich dich doch nich’ auf Zeche geschickt. Und er wollte blaumachen, er hat sich so schlecht gefühlt, und ich habe ihm zugeredet zu gehen. O Himmel! O Himmel, hilf!« »Laß das doch, Ziska!« mahnte Elli. »Vielleicht hat’s unsre gar nicht getroffen. Nimm dich doch zusammen!« »Zusammennehmen, was wird denn, wenn Anton tot is’? Was mach’ ich denn da?« »Wer wird denn gleich so was denken! Sieh mal, mein Heini hatte nur noch diese eine Schicht. Ich denke nich’ dran, daß er tot is’. Ich denke so was nich’, ich hab’ das nie gedacht. Natürlich hab’ ich gezittert, Ziska, immer gezittert. Aber, daß er tot sein könnte, das hab ich nie gedacht. Heini kommt wieder, das weiß ich ganz genau. Stell dir doch man vor, wir haben doch für seine Reise gespart. Es is’ doch alles schon gebucht. Nee, das tut er uns doch nich’ an, das tut mir mein Heini nich’ an. Der fährt mit mir nach Teneriffa, ganz bestimmt!« * Der Staub hatte sich gelegt. Es war still im Streb. Die Männer brauchten sich beim Zählen, wie viele sie waren, nicht anzustrengen. Sieben lebten noch, sieben von zweiunddreißig. Sie dachten, daß vielleicht der eine oder andere von denen, die an der Kopfstrecke gearbeitet hatten, davongekommen sein könnte, aber wahrscheinlich war das nicht. Sie löschten ihre Lampen bis auf eine. Otto-Otto übernahm als Rutschenmeister das Kommando. Mit heiserer Stimme sagte er: »Männer, den Steiger könn’ wir nich’ hierlassen. Wir schaffen ihn nach oben. Aber vorher, alle Kaffeeflaschen auf eine Stelle. Wer noch eine Kaffeeflasche hat, hierher, wer noch eine findet, herbringen! Wir gehn jetzt zu zwei
Mann und suchen systematisch den Streb ab. Vielleicht finden wir auch noch einen Helm oder eine Lampe, und dann müssen wir sehn, wie es unten aussieht, vielleicht komm’n wir durch. Wenn wir uns bis zum Füllort durchschlagen können, dann haben wir gewonnen.« »Wenn der Einbruch nur an der Verwerfung, also an der Störung, stattgefunden hat«, sagte Scheuermann, »dann könnte meines Erachtens nur unser Streb kaputt sein. Dann müßten die andern ja noch da sein, die müßten uns ja hören.« »Wenn, wenn, wenn du nicht soviel Kohle gemacht hättest, war’ der ganze Mist nich’ zusammengefall’n!« schimpfte Helmut Geiger. »Fängst du schon wieder an?« schrie Scheuermann. »Wir haben vorschriftsmäßig ausgebaut. Verdammt noch mal, du warst ja gar nich’ da, du hast das ja gar nich’ gesehn.« »Ruhe!« mahnte Otto-Otto. »Hier gibt’s kein’ Streit. Wir sitzen viel zu tief in der Scheiße drin. Also streitet euch nich’ wie die Marktweiber!« Und nach einer kurzen Pause wandte er sich an Siegfried und sagte: »Komm, Sigi, wir zwei gehn zunächst mal los!« Sie nahmen die Lampen. Otto-Otto ermahnte Siegfried: »Bleib dicht bei mir, aber laß deine Lampe noch aus. Im Notfall kannste dann Licht machen.« Siegfried Lorenz hatte eine Rückenwunde. Szymanski hatte sie ihm notdürftig verpflastert Zum Glück war der Verbandskasten vom Streb nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Er hing nach wie vor an seinem Platz. Hier unten war überhaupt alles noch intakt. Aber das böse Erwachen, das kam sehr rasch, als sie noch weiter zur Grundstrecke vordringen wollten. Dort war jetzt ebenfalls alles zusammengebrochen. Von Streb 8 führte eine Wendelbunker als Abteufung vom oberen Streb herab zur Ladestrecke von Streb 17. Diese Wendelbunker waren so ähnlich wie eine Wendeltreppe gebaut, nur ohne Stufen. Die Kohle rutschte darin herab und konnte unten Zug um Zug auf die Wagen verladen werden. Dieser Wendelbunker war völlig zerstört und zum großen Teil eingestürzt. Als Otto-Otto und Siegfried das genau in Augenschein nahmen, meinte der Rutschenmeister: »Wenn du mich fragst, Sigi, dann hat das überhaupt nix mit der Verwerfung zu tun, oder damit, daß Fritz eventuell zuviel Kohle
gemacht hat und zuwenig ausgebaut haben könnte. Der Segen kam von oben, mein Lieber. Streb 8, da muß was passiert sein, und wir hier unten sind die Dummen. Der ganze Salat is’ da zusammengeknallt, guck dir das an!« Sie sahen nur ein Gewirr von Stahlbeton, Gesteinsbrocken, zerbrochenen Kappen und Stempeln, Berge von Schutt und dann sogar ein Bein. Es ragte eigenartig aus diesem Trümmergewirr heraus. Otto-Otto leuchtete auf den Schuh. Dann blickte er Siegfried an und fragte ihn: »Weißt du, wer das ist?« In diesem Augenblick entdeckte er ein Stück weiter rechts den silbernen Helm, der so blank war, daß sich das Licht von OttoOttos Lampe darin spiegelte. »Das ist einer von Streb 8«, dachte Siegfried laut. »Ja, eben, dieser neue Schuh und da drüben der Helm. Die Teststrecke! Wer weiß, was die getestet haben. Vielleicht wollten die mal testen, ob die Schachtanlage einen kleinen Erdrutsch aushält, verdammt noch mal!« »Ob das stimmt, was du da sagst, weiß kein Schwein«, meinte Siegfried. »Wir komm’n hier nich’ raus. Sieh dir das an, alles zu! Und wir sitzen hier in einer Strecke von dreißig bis vierzig Metern und niemand kann uns sagen, wie lange das hält.« »Otto-Otto, die Preßluftleitung«, sagte Siegfried, »immerhin geht die ja durch. Man müßte uns irgendwo hören könn’.« »Komm, wir gehn zurück zu den anderen!« Als sie bei ihnen anlangten, nahm Otto-Otto einen größeren Gesteinsbrocken, trat an die Leitung und gab Klopfsignal. Dann warteten sie, lauschten, ob von irgendwoher eine Antwort kommen würde. Doch das Rohr blieb still. Otto-Otto klopfte wieder, abermals keine Antwort. Scheuermann räusperte sich und sagte: »Das klingt gar nich’ so richtig, das ist zu, das Ding. Das schallt gar nich’.« Otto-Otto preßte das Ohr an die Stahlleitung. »Es hört sich aber an, als wenn irgendwie Luft reinkommt.« Er drehte an einem der Anschlußstücke herum, wo sonst die Preßlufthämmer angeschlossen wurden. »Preßluft ist jedenfalls keine mehr drin«, stellte er fest, »aber Luft kommt raus, normale Luft.« Er schnupperte an dem Anschluß. »Kein Gas, gute Luft!« »Dann macht doch alle Anschlüsse auf«, schlug Scheuermann
vor, »und vor allen Dingen, helft Heini! Setzt ihn an so ein’ Anschluß, wenn da wirklich frische Luft rauskommt! Er ist ja halb erstickt.« Otto-Otto blickte in Heinis Richtung und damit fiel auch der Strahl der Lampe auf den alten Hauer, der dort in der Ecke hockte, die Arme ausgebreitet, das Gesicht blaurot vor Anstrengung, den Mund weit offen, wobei ihm die Augen fast aus den Höhlen traten. Und Heini keuchte, und seine Lunge rasselte, daß sie es hören konnten. »Heini, komm, steh auf!« sagte Siegfried, und Helmut kam noch dazu. Sie halfen dem Hauer auf die Beine, führten ihn an die Preßluftleitung, wo er sich festklammerte und das Gesicht ganz dicht an die Öffnung brachte, wo die Luft austrat. »Wo mag die Luft herkommen?« fragte Otto-Otto. »Verdammt noch mal, ich kann mir das gar nich’ erklä’rn. Ob die Leitung irgendwo geknickt is’ und so ein ganz klein bißchen Preßluft noch durchkommt? Wie sollte es sonst sein?« »Wie es auch ist, auf alle Fälle wird es Heini gleich besser gehen«, meinte Siegfried. Hung Rhee, der Koreaner, hatte noch eine Kaffeeflasche gefunden und legte sie zu den anderen. »Ist volle Flasche!« sagte er. »Wir werden jeden Tropfen brauchen«, meinte Otto-Otto, »es sieht nich’ aus, als wenn die ganze Geschichte von einem Wassereinbruch herrührte. Das war ’ne Kohlenstaubexplosion, das sag’ ich euch. Das hat auch nix mit der Störung zu tun. Da is’ irgendwo was passiert. Wenn ihr mich fragt, da war’s in Streb 8. Fragt mal Sigi, was wir gefunden haben!« »Ja, ja, der ganze Wendelbunker is’ zu, und einer von Streb 8 liegt dort.« »Mensch«, meinte Scheuermann, »vielleicht is’ der ganze Pütt zusamm’gefall’n und wir sind die einzigen, die’s überlebt haben. Mann, Mann, Mann, wat soll bloß meine Frau machen? Wir hab’n doch Schulden, daß die Schwarte knackt. Die kriegt mein Mädchen doch nie bezahlt!« »Vom Auto?« fragte Otto-Otto. »Ach nee, nich’ bloß vom Auto. Du weißt doch, ich hab’ doch das Obergeschoß ausgebaut, alles in Holz, Mensch! Und neue Möbel, verdammt noch mal! Wenn ich hier nich’ rauskomme, is’ meine Frau erledigt. Mensch, un’ die Kinder erst!« »Die zahlen gut, und die Knappschaft langt ordentlich rein. Hast
du nich’ ’ne Lebensversicherung oder so was? Und deine Frau kriegt Rente!« meinte Otto-Otto. »Nu’ redet noch nich’ so ’n Blödsinn«, sagte Helmut, »wir hab’n noch alle Chancen. Wenn sie nur erst mal hören könnten. Wenn sie uns hören, dann komm’ sie auch her. Wie oft sind wir denn beim Rettungstrupp gewesen. Sigi, du warst doch auch ma’ne Zeit dabei, nu’ sag doch was!« »Natürlich war ich dabei«, meinte Siegfried, »und einmal, du weißt doch!« »Ja, da war’s hoffnungslos, und die war’n auch schon alle tot. Aber meistens ham wer sie doch rausgeholt.« »Ja, ich war auch beim Rettungstrupp«, sagte Otto-Otto, »jahrelang, was heißt das? Das war’n kleine Geschichten. Hier, geht mal hinten hin, seht’s euch an! Das ist nich’ so wie sonst, so ’n bißchen was zusammengefall’n, gebuddelt und wieder rausgeholt! Hier is’ das anders. Das hier sieht wirklich so aus, als wäre die halbe Schachtanlage im Eimer. So was hab’ ich noch nie gesehn, und ich bin lange genug im Pütt, das sag’ ich euch.« »Hung, komm mal her!« rief Helmut. »Komm mal mit her zu Heini! Heini, was is’ denn, wird’s besser jetzt?« Otto-Otto richtete den Lichtstrahl auf Heini Breuer und Helmut Geiger, der ihm unter die Arme griff und ihn etwas hochzog. »Hört mal! Heini geht es ganz beschissen. Hung, komm mal her! Wir setzen ihn drüben an die Wand, und einer von euch, Jungs, macht mal vom Hammer ’nen Preßluftschlauch los und schließt ihn hier an! Und dann kann Heini den Schlauch in die Hände nehm’ und kann da atmen, aber stehn, das hält er nich’ aus.« Hastig lösten sie den Schlauch von einem Hammer, schlossen ihn an der Anschlußstelle an, während Hung Rhee und Helmut Geiger den völlig apathischen Heini an die Wand setzten, wo er wieder röchelte. »Mensch, dem sein Kreislauf! Der kann jeden Augenblick umkippen«, meinte Otto-Otto. »So eine verdammte Sauerei, einen wie Heini noch so lange in ’n Pütt zu schicken. Der hätte schon vor zehn Jahr’n aufhörn’ müssen. Erst pumpen sie ihm die Lunge voll Dreck, und jetzt, wo er kaum noch atmen kann, jetzt sagen sie: Aha, nun geh mal auf Rente, jetzt, wo er halb erledigt is’.« »Reg dich nich’ auf!« sagte Scheuermann. »Daß du dich hier aufbläst, hilft ihm nich’ weiter. Hast ja recht, natürlich hast du
recht!« »Ach nee«, meinte Otto-Otto, »daß du das schon mal einsiehst, das is’ schon ’n Fortschritt. Sonst hast du doch bloß Kohlemachen im Kopf.« »Mensch, nu’ hört doch endlich auf mit diesem Mist!« sagte Siegfried. »Was soll denn das?« Und Anton Szymanski meinte: »Eine Kameradschaft unter Kumpels zeigt sich immer dann, wenn du im Dreck sitzt. Große Worte in der Kaue oder beim Bier oder aufm Fußballplatz, das is’ all nix. Jetzt, hier könnt ihr zeigen, ob ihr Kerle seid oder verdammte Pfeifen, die sich die ganze Zeit angiften und das noch schwerer machen, was schon ist Menschenskind, nu’ reißt euch doch man am Riemen. Nehmt verflucht noch mal ’n bißchen Rücksicht auf Heini!« Otto-Otto versuchte es wieder mit Signalen am Preßluftrohr. Aber es war wie vorhin: keine Antwort. Er preßte das Ohr an die Leitung. Doch so sehr er auch lauschte, außer einem Rauschen war nichts zu hören. »Na, so allmählich glaub’ ich auch, daß hier mehr als bloß ein paar Strebs zusamm’gebrochen sind. Das is’ nich’ bloß an unsre Strecke, ich denke, das hat womöglich auch den Schacht in Mitleidenschaft gezogen. Wenn wir nur durch den Wetterschacht rauskämen. Aber wir komm’ ja hier nich’ mal weg.« »Seid mal ganz still! Ganz still!« ermahnte sie Siegfried. Sie hielten die Luft an, bis auf Heini. Das Rasseln von dessen Bronchien, das hörten sie alle. »Ich hör’ bloß Heini«, sagte Helmut. »Nein, da war ein Tropfen. Ich meine, Wassertropfen gehört zu haben«, sagte Siegfried. Otto-Otto kletterte über das Geröll hinweg und leuchtete mit seiner hellen Lampe nach allen Richtungen. »Ich seh’ nix«, sagte er. »Seid mal still, dann hör’n wir’s vielleicht«, riet Siegfried. Sie schwiegen wieder. Und dann hörten sie es wirklich: pitsch, pitsch, pitsch, machte es. Es kam von unten her. »Das is’ unten am Stoß!« »Mensch, das fehlt grad noch, daß wir hier absaufen!« meinte Szymanski. »Das hat grad’ noch gefehlt. Vor Wasser hab ich’ immer den meisten Schiß hier unten.« Otto-Otto ging nach unten, leuchtete, und dann strahlte seine Lampe auf ein und dieselbe Stelle. Sie konnten es von oben aus
sehen, wie es da aus einem Riß im Firstegestein herausrann. Es kam aus dem Hangenden: tropf, tropf, tropf. Unten befand sich schon eine Lache. Otto-Otto hielt die Hände unter die Tropfen, fing etwas davon auf und roch daran, leckte. »Gutes Wasser! Es schmeckt wie gutes Wasser!« »Gib mal die Lampe!« sagte Szymanski zu Siegfried, und als der ihm die Lampe gab, nahm sie Szymanski und ging zu der Stelle, wo das Wässer herabtropfte, strahlte es an, fuhr mit dem Fingernagel über das Hangende, wo jener Riß zu erkennen war, aus dem das Wasser quoll. »Siehst du was Besonderes?« fragte Otto-Otto. »Nee«, erwiderte Szymanski, »es sieht nich’ danach aus, als ob hier viel Wasser drauf drückt. Das sickert einfach durch. Das Wasser ist oberhalb. Wenn da ’n Einbruch ist’«, meinte Anton Szymanski, »dann is’ er nich’ bei uns. Aber ’s sickert halt durch. Im Laufe der Zeit könnte ’s mehr werden.« »Und wenn nun die Pumpe ausgefall’n ist«, meinte Helmut Geiger, »was dann? Es könnte ja das Wasser im Schacht stehen und fließt von da aus überall in die Querschläge, in die Stollen, in die Strebs. Wenn die Wasserhaltungsmaschine funktioniert, bleibt der Schachtsumpf niedrig. Aber wenn se nich’ funktioniert, dann steigt das Wasser rasch, und dann werden wir hier überflutet. Und ich habe den dumpfen Verdacht, daß der ganze Schacht kaputt ist« »Ach, Unsinn, dann wäre der Wetterschacht noch da, der liegt ja höher. Und dort pumpen sie ja auch das Wasser ab«, erklärte Otto-Otto. Da meldete sich plötzlich Heini Breuer. Heiser sagte er: »Männer, Männer, hört mal her!« Sie traten um ihn herum, waren plötzlich alle still. Und das Licht von Otto-Ottos Lampe und auch das von der Szymanskis fiel auf den erfahrenen Hauer, der heute eine fröhliche letzte Schicht hatte einfahren wollen. Vielleicht war es für sie alle die letzte Schicht, obgleich sie noch die Hoffnung beseelte. »Hört mal«, sagte Heini, dem es offensichtlich mit Hilfe der frischen Luft besser ging, »es is’ kein Sumpfwasser, was da kommt! Über uns, in Streb 8, da hatten sie die neue Schrämmaschine, diese amerikanische. Die arbeitet mit Wasser. Das spült vorn am Schneiderad am Ausleger. Und über ein Band, das am Kohlenstoß entlanggezogen wird, fließt die Kohle ab. Versteht ihr? Sie
braucht viel Wasser, unheimlich Wasser. Und ich nehme an, die ganze Geschichte ist in Streb 8 passiert. Und das Wasser, das läuft jetzt immer noch dort aus und kommt hier durch. Und wißt ihr, das beweist noch etwas! Wir dürfen hier nicht bleiben, nicht hier! Wir müssen weiter hinunter. Unten, auf der Grundstrecke, da sind wir sicherer. So weit wie möglich nach unten!« »Aber Wasser läuft ja auch nach unten«, sagte Szymanski, »da unten saufen wir doch glatt ab!« »Es ist nicht das Absaufen, was uns gefährlich wird«, erklärte Heini. »Das Wasser hier oben kommt durch, weil das Hangende brüchig ist. Das Deckgestein ist schlecht, sonst würde das Wasser nicht durchsickern. Es wird nicht mehr lange halten. Aber unten, an der Grundstrecke, da ist das Hangende besser, da ist es auch viel höher. Wir müssen zum Wendelbunker!« »Der Wendelbunker ist auch eingestürzt«, erklärte ihm OttoOtto. »Das macht nichts«, erwiderte Heini, »das macht gar nichts. Aber da unten, da ist mehr Sicherheit. Da ist das Hangende fest. Ich kenne den Berg. Wir geh’n runter! Hier oben fällt alles noch ein. Das bricht zusammen, hier bleibt nichts.« Sie debattierten nicht. Sie hörten, was Heini, der erfahrene Hauer, gesagt hatte. Und sie wußten, daß sie darauf was geben konnten. Heini war kein Mann der leeren Worte. Wenn Heini etwas zu sagen hatte, standen immer astreine Tatsachen dahinter, denn sonst hielt Heini lieber die Klappe. Also folgten sie seinem Rat und gingen tiefer nach unten, und dort war auch die Luft besser, so daß es Heini nicht mehr nötig hatte, sich frische Luft aus dem Preßluftschlauch zu holen. Siegfried Lorenz lehnte sich an die Kohle und dachte an Heinis Tochter, an Inge. Ob ich sie noch einmal wiedersehe? fragte er sich. Es war schön, gestern abend. Ich habe gar nicht gewußt, daß Inge so ein herrliches Mädchen ist. Natürlich, wir haben uns gekannt. Jeder kennt jeden in der Siedlung, und schließlich war mein Alter auch Bergmann. Aber irgendwie war Inge bisher nie mehr als der ehemalige Spielkamerad aus den Tagen, da sie noch Fangen und Kästchenhüpfen gespielt hatten. Daß aus dieser bezopften, sommersprossigen und in ihrer Kindheit sehr schlaksigen Inge Breuer einmal so eine Wucht von Mädchen würde, hätte er sich nicht träumen lassen. Komisch, sie ist mir nie aufgefallen, sagte er sich. Und ein paar Augenblicke lang vergaß Siegfried
seine Umwelt und sein Schicksal. Die Gedanken an Inge entrückten ihn dem Schlamassel, in dem er sich befand. Und er träumte Dinge, die vielleicht für immer ein Traum blieben. Er sah sich mit Inge im Gras liegen, an einem herrlichen Sonnentag. Und er hörte richtig, wie die Vögel zwitscherten, spürte, wie ihm Inges schlanke Finger über den Nacken streichelten, so wie sie es gestern abend getan hatte, als sie in Inges Zimmer gelegen und sich geliebt hatten. Mensch, dachte Siegfried, wenn ich hier rauskomme, dann mach’ ich ihr einen Antrag. Die ist ganz anders, die ist nicht so wie die Mädchen, die ich bisher gehabt habe. In der könnt’ ich mir meine Frau vorstellen. Teufel noch mal, ich war immer so verdammt gegen die Heirat, und jetzt, einen Abend mit Inge zusammen, da denk’ ich schon an so was, verrückt! Was mag sie bloß machen jetzt? Vielleicht weiß sie schon, daß hier im Pütt alles zusammengefallen ist. Ob sie das weiß? * Inge sah gar nicht auf, als ihre Kollegin, die dicke Frau Koch, einen ganzen Stapel von Kleidern auf Inges Schreibtisch fallen ließ. »Danke«, murmelte Inge und beschäftigte sich weiter mit der Preisauszeichnung. »Fräulein Breuer«, sagte Frau Koch mit dunkler Stimme, »da is’ irgendwas in Karnap passiert, auf der Zeche.« Einen Moment lang saß Inge wie erstarrt. Was heißt das? dachte sie. Da ist was auf Karnap passiert, auf Zeche? Sie zuckte herum. »Welche Zeche, Frau Koch?« Sie blickte aufgeregt in das breite mütterliche Gesicht der viel älteren Frau. »Auf Stissen II, Krankenwagen und so. Irgendwas soll unten passiert sein. Sie sagen ja mal wieder nich’, was. Aber ich dachte, ich müßte ’s Ihnen sagen. Ihr Vater arbeitet ja dort.« Inge nickte gedankenverloren. »Ja«, sagte sie, »und nicht nur er. Papa wollte seine letzte Schicht fahren, o Gott! Ich glaub’, ich muß sofort hin.« »Fräulein Breuer, Sie können jetzt nicht weg. Rufen Sie doch erst mal an. Vielleicht ist gar nichts weiter. Vielleicht ist mit Ihrem Vater alles in Ordnung.« »Ja, ich glaube, ich ruf mal an. Ich ruf gleich mal an!« Sie stand auf, ging hinaus, ohne sich noch um Frau Koch zu kümmern. Doch es war nicht ihr Vater, an den sie zuerst dachte. Natürlich
kam auch ein Gedanke an ihn. Aber zu allererst, da dachte sie an Sigi. Und als sie den Gang entlanglief bis ans andere Ende, wo der Münzapparat für Privatgespräche stand, da dachte sie in einem fort: Laß ihm nichts passiert sein! Laß Sigi nichts passiert sein! Endlich hab’ ich einen, der mir so gefällt, so sehr, wie noch keiner zuvor! Ich liebe ihn. Es darf ihm nichts passiert sein, es darf nichts passiert sein! Sie krampfte die Daumen in die Hände, die sie zu Fäusten geballt hatte. Sie lief, rannte, prallte gegen einen Kollegen, der ihr mit einer Stange Kleidern entgegenkam, sich entschuldigte. Aber auch darauf achtete sie überhaupt nicht. Als sie das Telefon erreicht hatte, suchte sie in ihrer Jackentasche nach Groschen. Die hatte sie da immer, wegen der Parkuhr. Und dann wählte sie hastig, verwählte sich, mußte neu wählen, die ganze Prozedur wiederholen, und dann endlich… da kam Besetztzeichen. Die Nummer der Zeche war besetzt. »Das gibt es doch nicht!« murmelte sie, »die haben doch einen Riesenanschluß. Da sitzen doch -zig Telefonistinnen. Das kann doch nich’ sein, daß da besetzt is’.« Sie wählte erneut, hektisch drehte sie die Scheibe. Aber der Erfolg war der gleiche: besetzt. »Mein Gott, diese Post! Immer wenn man das Telefon braucht, dann geht’s nicht!« Sie versuchte es noch einmal, und endlich kam sie durch. Die Telefonistin meldete sich, Inge nannte ihren Namen und sagte, daß ihr Vater und – das war eine kühne Behauptung von ihr – ihr Verlobter auf Streb 17 seien, ob dort das Unglück passiert wäre? »Am Telefon geben wir keine Auskunft!« »Aber ich bin doch hier in Horst; ich kann doch jetzt nich’ nach Karnap rüberfahren. Sagen Sie doch, ob auf Streb 17 was passiert is’!« »Es tut mir sehr leid! Wir geben grundsätzlich am Telefon keine Auskunft!« sagte die Telefonistin. »Da müssen Sie sich schon herbemühen.« »Aber mein Gott, ich kann doch nicht aus dem Geschäft weg!« »Tut mir sehr leid! Ich muß auflegen! Es kommen noch viele Anrufe. Auf Wiederhören.« Und schon war die Verbindung unterbrochen. »Dieses Biest!« keuchte Inge. »Was mach’ ich denn nur?« Als sie sich umwandte, sah sie ein paar Schritte entfernt ihre Kollegin stehen, die sie in banger Spannung ansah.
Inge zuckte die Schultern. »Sie geben am Telefon keine Auskunft.« »Das ist schlecht!« sagte Frau Koch. »Wenn sie keine Auskunft geben, dann ist immer was Dickes passiert. Das ist immer verdächtig. Fahr’n Sie hin, Fräulein Breuer, fahr’n Sie sofort hin! Der Chef muß das begreifen.« »Ach, Sie wissen doch, wie die sind.« »Nein, wenn die am Telefon keine Auskunft geben, dann müssen Sie hinfahr’n, dann ist was. Das ist immer verdächtig. Haben Sie gesagt, wo Ihr Vater arbeitet?« »Natürlich, und sie geben einem einfach keine Auskunft, ganz schnippisch.« »Ja, das müssen die. Fahr’n Sie hin, Fräulein Breuer. Fahr’n Sie jetzt hin! Nehmen Sie sich am besten ein Taxi; die Straßenbahnen fahr’n um diese Zeit so selten.« »Mein Gott, so dick habe ich das doch auch nicht«, stöhnte Inge. »Ein Taxi, das kost’ bald zwanzig Mark!« »Dann nehm’n Sie eben die Elektrische«, sagte Frau Koch, »aber fahren Sie jetzt endlich! Mein Gott, Kind, das regt mich selbst so auf.« Inge lächelte schmerzlich und nickte. »Ja, ja, ich geh’ ja schon, will ja nur meine Handtasche holen.« Ein paar Minuten später war sie schon am Fahrstuhl, als sie Frau Koch schreien hörte: »Fräulein Breuer, Fräulein Breuer! Warten Sie mal! Da fährt jemand nach Karnap, der kann Sie mitnehmen. Warten Sie doch!« Die Tür des Lifts hatte sich schon geöffnet, aber Inge trat zurück, und Frau Koch kam angekeucht. »Der Günter fährt, der Günter fährt doch mit dem Lieferwagen. Fahr’n Sie doch mit ihm mit! Ich hab’ ihm schon Bescheid gesagt. Er wartet unten. Fahr’n Sie mit dem Günter mit!« »Danke, Frau Koch, vielen Dank«, sagte Inge. Als sie im Lift stand, da dachte sie: Ausgerechnet Günter, mein Gott. Der ist immer hinter mir her gewesen. Der wird es jetzt auch wieder auszunützen versuchen. Aber Günter nutzte es nicht aus. Er spürte, daß sie jetzt andere Sorgen hatte und fuhr mit ihr bis vor die Zeche. Und daß dort was los war, konnte man von weitem sehen. Eine ganze Traube von Menschen hing vor dem geschlossenen Tor. Gerade schien die Zechenleitung wieder ihren Sprecher zu den Leuten geschickt zu
haben. Als Inge ausstieg, hörte sie eine Männerstimme sagen: »Aber bitte, beruhigen Sie sich doch! Wir tun, was wir können. Es wird alles getan!« Inge erkannte Frau Szymanski, die ziemlich weit am Rande stand und drängelte sich, zu ihr durch. Ziska Szymanski hatte gerötete Augen, und die Tränen rannen ihr nur so übers verhärmte Gesicht. »Frau Szymanski, wo ist es, Streb 17?« Ziska Szymanski nickte, ohne eine Antwort zu geben, und wieder schluchzte sie, preßte das Taschentuch an die Nase und schluckte. Inge entdeckte ihre Mutter, die gar nicht weit entfernt stand. »Mama, Mama, was ist denn? Wo ist es passiert, Mama?« Die dicke Elli Breuer sah sie verzweifelt an. »Oh, Ingekind«, schluchzte sie. »Vorhin war Annas Mann da, der Carlo, du weißt doch, er war verletzt, und er sagt…« Elfi Breuer konnte nicht weitersprechen. Sie schluchzte, preßte die Hände vors Gesicht und schüttelte sich vor Entsetzen. »Was hat der Carlo gesagt? Mama, rede doch, bitte, Mama!« Elli Breuer zwang sich, ihr Schluchzen zu unterdrücken und erwiderte gepreßt: »Er sagt, daß sie alle… alle im Streb… von Papa… daß da keiner mehr leben kann.« »Um Gottes willen«, entfuhr es ihr, »ist das sicher?« »Sie sagen ja nix«, mischte sich Ziska Szymanski ein, »die sagen nix. Die sagen nur, sie würden alles tun und so und nicht mehr. Die Rettungstrupps sind unten. Immerzu komm’ welche hoch, Verletzte. Und irgendwer hat erzählt, es wäre im Streb 8 passiert. Da lebt keiner mehr, sagen sie. Aber die Strebs rundherum sind auch betroffen.« Die Unruhe der Menschen vor dem Tor wuchs. Da kam der Reporter. Ziska Szymanski sah ihn von weitem, diesen sympathischen jungen Mann. Er kam auf das Tor zu und sagte: »Bis jetzt sind’s über vierzig Tote und, was weiß ich, wieviel Verletzte. Zwölf Ärzte arbeiten in der Sanitätsstation, vier sind mit eingefahren, um Erste Hilfe zu leisten. Weiter weiß ich auch nichts, Leute.« Alle schrien durcheinander, wollten wissen, wo genau es passiert ist. Aber er verstand keinen, zuckte nur die Schultern und wandte sich wieder ab, um zurückzugehen zum Verwaltungsbau. Auf dem Hof standen die Krankenwagen aufgereiht. Auch ein
Fahrzeug der Feuerwehr war da. Überall war Werkschutz. Polizei patrouillierte, und ab und zu fuhr einer der Rettungswagen zum Schacht hinüber. Kurz darauf kam er mit Blaulicht und Sirenengeheul zurück. Dann wurde das Tor geöffnet. Die Leute mußten zurücktreten. Sie versuchten, einen Blick ins Innere des Krankenwagens zu werfen, und manchmal gelang es einem, den Betreffenden zu erkennen, der da auf der Trage lang. Und endlich dann kam ein Steiger zum Tor. Er hielt eine Liste in der Hand und rief den Leuten zu: »Wer Verwandte hat, Verwandte hier auf Zeche, aber nur nächste Verwandte, und das muß nachgewiesen werden, der wird eingelassen. Alle andern müssen draußen bleiben!« Eine Viertelstunde später waren die beiden Breuer-Frauen und Ziska Szymanski im Hof, und sie wurden mit den anderen Frauen und auch Männern ins Verwaltungsgebäude geführt. Und hier wurden dann die Namen aufgerufen, die Namen von denen, die schon gefunden worden waren, tot oder verletzt. Es gab sogar ein paar Unverletzte. Und es waren viele Namen von Männern, die tot waren. Ein Bergwerksbeamter las die Namen mit monotoner Stimme herunter. Und in dem großen Raum, wo die Menschen dicht an dicht standen, empfand es Inge jedesmal als körperlichen Schmerz, wenn plötzlich irgendwo jemand aufschrie, weil der Name genannt worden war, der dem Vater oder dem Mann oder dem Bruder gehörte, der Betreffenden, die da schrie, die, da schluchzte und deren ganzes Elend sich vor den Ohren und Augen der anderen abspielte. Aber sie saßen alle im selben Boot. Und jene, die noch auf einen Namen warteten, deren Name noch nicht genannt worden war, die hofften, die beteten, die krampften die Finger zusammen und wünschten sich voller Inbrunst, daß ihr Mann oder Vater, oder Bruder, oder Geliebter nicht aufgerufen werden würde. Lieber Gott, dachte Inge, laß sie nicht dabeisein, Papa nicht und vor allem Sigi nicht! Sigi! Es war so herrlich gestern. Es war so wunderbar. Ich hätte nie gedacht, daß er so zärtlich sein kann. Seine Hände! Ein wunderbarer Mann! Ich möchte gerne seine Frau sein. Noch nie hab’ ich mir gewünscht, eines Mannes Frau zu sein, eines bestimmten Mannes und jetzt, jetzt wünschte ich, er würde mich bitten, seine Frau zu werden. O Sigi, wenn du wieder rauskommst, wenn du nur lebend herauskommst! Ich weiß nicht,
was ich dann täte vor Glück. O Himmel, gib ihn mir wieder! Gib ihn mir wieder! Ja, es ist noch nicht lange her, daß wir uns nähergekommen sind, aber ich liebe ihn. Ich liebe nichts so sehr wie ihn. Gib ihn mir wieder, lieber Himmel! Ich bin so glücklich wie nie im Leben gewesen wie gestern abend und noch heute morgen, und jetzt, nein, es darf nicht zu Ende sein! Das darf nicht zu Ende sein. Sie hörte, wie der Sprecher vorne mit ebenso monotoner Stimme sagte: »Die Namen der Verletzten lauten…« Und nun las er vor. Wieder eine lange Liste. Inge zählte sie nicht mit, diese Namen, die da kamen. Aber keiner hieß Breuer, und keiner hieß Lorenz. Doch es waren viele Namen dabei, die sie kannte, ebenso wie die der Toten. Und um sie herum, da offenbarte sich ein menschliches Elend, wie sie es in ihren jungen Jahren noch nie erlebt hatte. Und da draußen, da heulten wieder die Sirenen der Krankenwagen. Da waren wieder welche gefunden worden, jagten die Fahrzeuge mit Blaulicht und Sirene zum Knappschaftskrankenhaus. Jemand trat zu dem Sprecher, überreichte ihm einen Zettel. Der legte ihn unter seine anderen und las weiter. Und - als er die Verletzten genannt hatte, da hatte er wieder den Tod von zwölf weiteren Männern zu vermelden, die inzwischen gefunden worden waren. Und wieder dieses Hoffen, dieses Bangen, diese Angst, daß der Name Heinrich Breuer kommen könnte, oder etwa gar Siegfried Lorenz’. Nein, dachte Inge, das träume ich alles. Das erlebe ich gar nicht in Wirklichkeit. Das ist ein Alptraum. Ich muß im Fieber sein. Das gibt es doch nicht. Es ist alles gar nicht wahr. Aber als sie dann ins Gesicht ihrer Mutter sah, oder in das von Ziska Szymanski, da wußte sie, daß das kein Traum war. Es war eine verdammte, elende Wirklichkeit. * »Was ich nicht begreife«, meinte Anton Szymanski, »das ist die Geschichte mit der Luft hier. Wieso haben wir Luft? Die muß doch von irgendwoher kommen. Die quetscht sich doch nicht von selbst in die Leitung, und wenn Luft in die Leitung kommt, Männer, dann ist nich’ alles kaputt, wie wir gedacht haben. Dann muß doch irgendwo noch alles intakt sein. Denn wo kommt die Luft denn sonst her? Die kann doch nur von einem Wetterschacht
kommen oder von der Preßluftanlage. Und selbst, wenn das Rohr geknickt ist, da muß es doch irgendwohin führen, wo man es hören kann, wenn wir dranschlagen. Verdammt, Männer, das muß man doch hören können, so was dröhnt doch! Ihr wißt doch, wie das ist, wenn ich an ein Rohr schlage oder an eine Schiene. Das hört man doch mitunter Hunderte von Metern weit. Das muß man hören!« »Wir haben’s doch schon versucht. Du weißt das doch«, sagte Otto-Otto, »keine Antwort.« »Dann versuchen wir es eben wieder«, entschloß sich Heini Breuer, »immer wieder, immer wieder. Jeder kommt mal dran. Wenn einem der Arm müde wird, macht’s der nächste.« »Davon werden wir ja verrückt!« meinte Otto-Otto. »Dieses Geschlage an die Leitung. Da wird man ja wahnsinnig!« »Wenn sie uns hören, ist es unsre Rettung. Wenn sie uns aber aufgegeben haben«, sagte Heini, »is’ es aus. Noch sind alle Chancen drin. Jetzt is’ das erst ’ne Weile her. Aber wenn es Tage her ist, oh, sie sind schnell bereit, aufzugeben. Da brauch bloß einer auf die Idee kommen, daß nach menschlichem Ermessen, wie sie so schön sagen, nix mehr zu machen ist. Ich weiß doch, wie das zugeht bei den Rettungstrupps. Einer reißt die Schnauze auf und sagt: ›Da kann niemand mehr leben!‹ Und sie sind müde, verstehst du, wenn sie schon tagelang dran sind. Sie möchten gerne hoch. Sie haben die Nase voll. Da stimmen die andern zu. Da einigen sie sich, daß aus der Vermutung eine Tatsache wird. Die wird dann oben verkündet, verstehst du, und dann is’ Schluß. Wenn sie uns hör’n, dann können sie nich’ umkehr’n, da müssen sie suchen. Sie müssen uns hören!« »Schon gut, Heini, wir machen, was wir könn’«, sagte OttoOtto. »Also los, ich fange an. Geb’n wir Klopfzeichen!« Wieder schlug er mit seinem Stein gegen die Rohrleitung, machte es immer wieder und wieder. Der Lärm, der dabei entstand, löste Schallwellen aus, die das Hangende an manchen Stellen zum Bröckeln brachten. »Hör auf, hör auf!« schrie Szymanski. »Wir könn’ das nich’ ewig weitermachen. Die Sache ist nich’ ungefährlich!« »Genau das wollte ich euch auch sagen«, meinte Helmut. »Diese Schallwellen bringen den ganzen Mist zum Einstürzen hier. Das ist auch nicht der wahre Jakob, was wir uns da ausgedacht haben. Also, neue Idee wird gesucht.«
Siegfried Lorenz hatte bis jetzt geschwiegen. Aber nun meldete er sich zu Wort: »Hört mal, wir sollten das Wasser, was da unten tropft, irgendwie auffangen, und wenn wir’s nur in die Helme laufen lassen. Wer weiß, wie dringend wir das Wasser noch brauchen.« Sie folgten seinem Vorschlag und sammelten das Wasser, aber sie ließen es nicht in die Helme laufen, sondern bereiteten aus Steinschutt eine Art Ringdamm um die Stelle, wo es herabtropfte, so daß es sich wie in einer Wanne sammeln konnte. Bei der Gelegenheit sahen sie auch, daß Heini Breuers Prophezeiung, das Hangende werde dort nicht aushalten, sich bewahrheitete, denn rund um die Stelle, wo das Wasser durchsickerte, brach vom Deckgestein etwas ab, und die Platten, die sich da gelöst hatten, wurden immer größer. Auch die Wassermenge nahm zu. Jetzt kam nicht mehr ab und zu ein Tropfen, jetzt tropfte es schon sehr rasch. Es würde nicht mehr lange dauern, daß ein dünner Strahl vom Hangenden unten in die Lache lief, die sich da schon innerhalb des Ringwalls angesammelt hatte. Noch überwog die Hoffnung bei den Männern. Das Gerede, die gesamte Zeche könnte zerstört sein, war etwas, an das sie selbst noch nicht glaubten. Natürlich hatten sie Angst, aber ihr Optimismus überwog. Sie glaubten noch, daß man sie retten würde, daß eine riesengroße Chance bestand. Aber sie irrten sich. Ihre Chance war so klein, so winzig, daß – hätten sie die Übersicht über alles gehabt, was im Zusammenhang mit der Zeche geschah – sie ihre Hoffnung schnell fahrengelassen hätten. Ihre internen Probleme nahmen sie noch voll in Anspruch. Als Helmut Geiger sich einmal entfernte und die weitentlegenste Ecke aufsuchte, um seine Notdurft zu verrichten, war es unvermeidlich, daß die anderen vom Gerüche her etwas davon spürten. Fritz Scheuermann fluchte, aber die anderen schwiegen, und sie fragten sich, wie es anders sein sollte. Als Helmut Geiger wiederkam, da sahen sie ihn an, als hätte er die Pest eingeschleppt. »Nu’ seht mich nich’ so blöde an! Was sein muß, muß sein!« sagte Helmut und Siegfried dachte: Da hat er ja völlig recht. Es ist ja nun mal eine menschliche, unvermeidliche Angelegenheit. Schlimm genug, daß wir keine, andere Möglichkeit hier unten haben. Aber es sollten noch ganz andere Probleme hier auftauchen.
»Es ist mir und bleibt mir ein Rätsel, wieso wir Luft haben!« meinte Otto-Otto. »Und ich bin überzeugt, wenn wir Luft haben, gibt es auch eine Verbindung nach außen. Muß es ja geben! Wo die Luft durchkommt, da käme auch was andres durch. Was wir brauchen, ist ein Schraubenschlüssel.« »Dahinten liegt einer!« sagte Siegfried. »Den kannst du haben!« »Wo?« fragte Otto-Otto, und Siegfried gab ihm den Schlüssel. »Ah, ’s is’ ja mein Schlüssel, wunderbar! Was is’n das für einer, ’n Einundzwanziger?« Er wartete gar nicht mehr auf die Antwort, trat an die Preßluftleitung und probierte, dann löste er eine der Anschlußschrauben, und als die Öffnung freilag, hielt er die Hände trichterförmig darüber und schrie in die Öffnung hinein: »Haaallooo! Haaallooo!« Danach lauschten sie alle gespannt, aber es blieb nur das klatschende Geräusch der Wassertropfen in die Lache. Und um auch diesen Ton zu unterbrechen, um besser hören zu können, ging Siegfried nach oben, wo das Wasser vom Hangenden herabkam und hielt seinen Helm unter die Tropfen. Eine kurze Zeitlang war es absolut still, aber sie hörten nichts. Kein Klopfgeräusch, kein Signal, gar nichts. »Das ist ja zum Mäusemelken!« sagte Fritz Scheuermann. »Diese Penner! Die sitzen mal wieder auf ihren Ohren, diese Säcke!« »Klopf mal wieder, aber nich’ so wild!« riet Heini Breuer. Und Otto-Otto klopfte mit dem Schraubenschlüssel an die Preßluftleitung. Danach lauschten sie wieder. Kein Zeichen. »Die hab’n uns schon abgeschrieben!« meinte Helmut. »Für die sind wir schon gestorben!« »Red doch nich’ solchen Mist!« fuhr ihn Heini an. »So schnell nun auch nicht!« »Das Wasser kommt stärker!« sagte Siegfried. »Jetzt läuft es schon als’ dünner Strahl!« »Wenn einer gut rechnen kann von euch, dann soll er mal ausrechnen, wann wir hier absaufen!« meinte Fritz Scheuermann. »Laß diese blöden Witze!« meinte Otto-Otto. Und Heini sagte: »Man soll den Teufel nich’ an die Wand malen!« »Abergläubisch?« fragte Scheuermann, und Hung Rhee, der Koreaner, erkundigte sich: »Was können machen in Deutschland, wenn uns hören, aber nich’ können zu uns kommen?«
»Was?« fragte Otto-Otto. »Er meint die Rettungstrupps, wenn die uns hören, aber nich’ bis zu uns durchkommen können!« sagte Scheuermann. »Ja, wenn nicht kommen her, aber hören!« sagte Hung Rhee. »Dann bohren sie uns an!« meinte Heini. »Die rechnen sich genau aus, wo wir sind, und dann setzen sie eine Bohrung an, und die machen sie immer größer, und wenn wir dann sechs Richtige haben, dann treffen sie auch genau da, wo wir sind. Aber weißt du, Junge, ich bin jetzt so lange auf Zeche, wir haben das viermal gemacht, nach’m Krieg, viermal! Und weißt du, was? Zweimal hab’n sie getroffen. Dann mußt’n sie ’ne neue Bohrung machen. Und die ganze Geschichte, die hat nur einmal geklappt. Wißt ihr, so im Kino, im Fernsehen und in der Zeitung, da macht sich das gut: Dahlbuschbombe! Aber in Wirklichkeit, da ist das sehr schwierig, und darauf zu bauen, Männer… Die beste Rettungsmöglichkeit bleibt noch immer, daß man von beiden Seiten aus durchstößt, daß wir den Streb freilegen, uns durcharbeiten nach der andern Seite, und daß von der andern Seite die Rettungstrupps kommen. Das andere, o Jungs, verlaßt euch da bloß nicht drauf!« Siegfried Lorenz hatte kaum noch zugehört. Seine Gedanken waren wieder bei Inge, bei gestern abend. Seine Gedanken führten ihn weg von der Misere der Gegenwart, hin zu den schönen Stunden von gestern. Sie hatten sich entfernt, sie waren weggegangen nach dem ersten Kuß. Und viele Küsse waren gefolgt. Nun waren sie allein gewesen, die andern hatten das gar nicht gemerkt. Oben; bei Inge im Zimmer, und dann hatte sie die Leidenschaft überwältigt, hatte sie mitgerissen wie ein überquellender Strom. Er meinte, noch immer ihre warme Haut an seinem Körper zu spüren. Ihre schlanken Finger strichen ihm über die Schläfen, und er sah ihr Gesicht ganz nah. Er hörte den Schlag ihres Herzens und fühlte die Glut ihrer Leidenschaft, empfand im Traum noch einmal jenes Glücksgefühl der körperlichen Vereinigung und die Trunkenheit einer erblühten Liebe. Er stand mit geschlossenen Augen, und vor ihm gaukelten Bilder, die ihn der Hoffnungslosigkeit dieser Gruft entrückten. Heini Breuer riß Siegfried aus seinen Träumen. »Sigi«, sagte er, »komm, du auch!« Siegfried sah ihn verwirrt an. »Was, ich auch?« »Ja, du auch! Schippe! Los! Wir wollen mal versuchen, ob wir
nich’ durchkommen, unten, an der Grundstrecke. Wir können doch an der Ladestrecke vorwärtskommen, irgendwo müssen wir ja durch!« Verwirrt sah ihn Siegfried Lorenz an, er hatte überhaupt nicht zugehört gehabt und wußte gar nicht, wovon die Rede war. Fritz Scheuermann lachte. »Der hat gepennt, merkst du das nich’? Der hat gar nich’ mitgekriegt, was wir beschlossen haben.« »Und was habt ihr beschlossen?« fragte Siegfried. »Wir wollen versuchen, an der Grundstrecke durchzukommen«, sagte Fritz Scheuermann. »Heini meint, dort wäre die größte Chance.« »Und wie viele Schaufeln haben wir?« fragte Siegfried. »Dreie haben wir. Genug, um uns zum Schwitzen zu bringen«, meinte Otto-Otto. »Also los, Jungs, ein Pickel, drei Schaufeln, was kann uns passieren? Muskeln habt ihr, zu trinken ist auch da, und wenn ihr euch vorstellt, daß das Wasser in Wirklichkeit ein feines Pils ist, dann habt ihr doch schon die halbe Miete. Ja, dann bildet euch noch ein, ihr hättet ein wunderbares Schweineschnitzel im Bauch, dann schmeckt die Arbeit wieder.« »Mensch, hör mit deiner Propaganda auf!« schimpfte Helmut. »Wenn mir was stinkt, dann ist das Reklame, wo nix dahinter ist. Deine Latrinenparolen, weißte! Das kommt mir vor wie beim Bund, wenn wir im Manöver war’n, da ham se auch immer solche Durchhalteparolen ausgegeben. Hör bloß damit auf!« »Ja, nu’ bemach dich mal nich’! Is’ ja auch nich’ so ernst gemeint!« sagte Otto-Otto. »Du meinst das genau, wie du’s sagst! Ich kenn’ dich doch! Deine Schreierei! Immer dieses blöde Antreiben. Was hast du denn davon? Dich treten sie doch genauso in ’n Arsch wie mich!« »Was ist denn mit dem los?« fragte Scheuermann. »He, Helmut! Wer is’n dir auf die Zeh’n gelatscht?« »Ach, Mensch, hör doch auf! Immer blöden Quatsch verzapfen. Wir sitzen doch tief genug drin. Was soll’n wir denn nu’ noch machen? Da braucht doch der uns keine Märchen zu erzählen. Is’ ja gar kein Steiger in der Nähe, vor dem man buckeln kann!« »Nu’ hör aber auf!« brüllte Otto-Otto. »Willste etwa behaupten, ich wäre den Steigern…« »Ja, in ’n Arsch bist du ’n gekrochen, wichtig machen, hier, Otto-Otto kommt, weiß alles, kann alles, sieht alles, hört alles! Schnauze, wenn Otto-Otto spricht!«
»Sag mal, das nimmste zurück, oder?« fragte Otto-Otto empört. »Zurücknehmen?« erwiderte der Wuschelkopf. »Warum soll ich das zurücknehmen? Weil du Otto-Otto bist? Hier, in dieser Situation, ist der große Rutschenmeister Otto-Otto genauso ein Armleuchter wie alle andern, die hier sind. Weißt du, auf wessen Wort ich was gebe, hier unten? Auf Heinis! Auch wenn Anton was sagt, das sind Leute, die hab’n wirklich Erfahrung. Aber du hast bloß ’ne große Schnauze. Dich haben sie zum Sklaventreiber bestellt, daß du im Streb die Männer auf Trab bringst. Rutschenmeister? Arschloch biste!« »Der hat ’n Koller, was?« meinte Scheuermann, und als OttoOtto die Hände zu Fäusten ballte und kampflustig auf Helmut Geiger losgehen wollte, da stellte sich Scheuermann dazwischen und Anton Szymanski sagte: »Ihr seid wirklich richtige Idioten. Wenn ihr euch jetzt noch prügelt, lach’ ich mich kaputt. Fritz, geh weg, laß sie sich prügeln! Ich lach’ mich kaputt über diese Narren. Möglichst hau’n sie sich noch die Hände in Stücke, und nachher können se nich’ malochen, um hier rauszukommen. Dann dürfen wir die nachher noch versorgen, aber dann schlag’ ich jedem von denen ’nen Stein auf ’n Kopf, das kann ich euch verraten!« Aber dann kam Heini. Er trat zwischen die beiden und fuhr Otto-Otto an: »Hör mal, dir hätt’ ich aber mehr Verstand zugetraut! Willst du dich jetzt mit ihm prügeln?« Und dann sah er auf Helmut Geiger, der grinsend an der Wand lehnte. »Und du, du kannst ruhig den Mund halten. Du brauchst ihn nicht ganz so weit aufzureißen. Eure Diskussion könnt ihr draußen fortsetzen, jetzt wird gearbeitet, da könnt ihr eure Kraft lassen. Aber nich’, um sich hier zu prügeln und zu streiten!« »Heini hat recht«, sagte Siegfried. »Nun reißt euch am Riemen! Versuchen wir doch, das Beste aus all dem zu machen. Menschenskind noch mal, wir woll’n doch hier alle raus. Doch nich’ bloß einer oder der andre. Wir sitzen doch wirklich im selben Boot. Also, Kameraden, auf geht’s! Auf zu Gott, im Himmel gibt’s Zigarren!« *
Der Krisenstab hatte sich im Konferenzsaal des Verwaltungsgebäudes versammelt. Bei Direktor Dr. Schmidt und den Verantwortlichen der Zeche standen Obersteiger, zwei Steiger, und ein Experte vom Bergamt, geometrische Abteilung; sie berieten angesichts eines großen Planes der Zeche, nachdem eine Stelle mit roter Kreide angezeichnet war. Die Stelle um Streb 8 und um Streb 17. Im Augenblick betrat ein Rettungssteiger den Raum, noch schwarz, er kam direkt vom Schacht, um Bericht zu erstatten. Ein kleiner, gedrungener Mann, der jetzt mit schnellen Schritten auf den Zechendirektor zuging und sein großes, wuchtiges und glatzköpfiges Gegenüber mit schwarz geränderten Augen ansah. »Wie ist die Lage? Berichten Sie!« forderte Dr. Schmidt. Der Rettungssteiger trat an den an der Wand aufgespannten Plan und zeigte zum Schacht eins. »Von hier kommt man noch ohne Schwierigkeiten bis zum Blindschacht auf der neunten Sohle. Das ist hier. Aber durch den Blindschacht strömt jetzt Wasser in solchen Mengen, daß er nicht mehr benutzbar ist. Es besteht Einsturzgefahr, und wir können ihn nicht freipumpen. Es gibt aber von der achten Sohle aus eine alte Abteufung, die stillgelegt war, und die wir jetzt wieder aufgemacht haben. Durch sie sind wir in die Nähe von Flöz drei gekommen. Jetzt müßten wir hier«, er zeigte, was er da meinte, »eine Art Querschlag bis zu Flöz vier durchbringen, denn hier und hier, diese ganze gesamte Anlage ist zu. Wir haben versucht, auf Streb 8 durchzukommen, und das ist uns ein gutes Stück gelungen, aber dann sind wir auf das Wasser gestoßen, es kam uns entgegen wie an einem Wehr. Wir mußten machen, daß wir fortkamen, es war nicht durchzukommen.« »Aber Sie haben doch die Verletzten und die Toten geborgen! Das war doch vor Streb siebzehn?« »Ja, das war an der Kopfstrecke von Streb siebzehn. Da sind die Leute gewesen, die oberhalb waren, es sind auch zwei dabei, die in Streb siebzehn gearbeitet haben und zufällig noch oberhalb der zusammengebrochenen Strebstrecke gearbeitet hatten.« »Können wir denn nicht von oben her in den Streb siebzehn vordringen?« fragte der Direktor. »Nein, unmöglich! Wir haben es ja versucht. Vollkommen ausgeschlossen! Das Gebirge ist dort so schlecht und im übrigen steigt auch da das Wasser. Wenn dort überhaupt noch jemand leben sollte, kann sich der nur hier unten, im unteren Teil des
Strebs, aufhalten. Wir gehen aber davon aus, daß dort auch alles voll Wasser gelaufen ist. Denn es ist ja eine Unmenge Wasser aus dem Streb 8 in die tiefer gelegenen Strebs gekommen. Wir sind ja sogar im Streb 23 dabei, das Wasser abzupumpen, obgleich dort noch alles intakt ist, aber selbst da läuft das Wasser jetzt zusammen, und es ist kaum wegzupumpen.« »Nehmen wir einmal an«, sagte der Grubendirektor, »daß dort unten, in Streb 17, noch jemand ist. Können wir von unten her, an der Grundstrecke, an die Leute heran?« »Die Leute?« Der Rettungssteiger zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, ob da noch Leute sein können, vielleicht einer. Na ja, man muß mit allem rechnen. Immerhin, wenn jemand da ist, über die Grundstrecke ist es nahezu ausgeschlossen, weil der ganze Komplex«, er zeigte wieder auf der Karte den Bereich um den Streb 17 und den Streb 8 herum, »abgerutscht ist. Dort ist also nichts mehr.« »Ist über die Unglücksursache jetzt schon Klarheit vorhanden?« »Nein, nicht mit absoluter Sicherheit. Eine Kohlenstaubexplosion ist anzunehmen, aber durch was sie ausgelöst wurde, ist unbekannt. Es gibt Vermutungen, daß das mit der amerikanischen Maschine zusammenhängen kann, weil die, so behaupten die Elektroingenieure, nicht die absolute Schutzeinrichtung besäße, die für mitteleuropäische Zechen notwendig ist, aber das ist kein schlüssiger Beweis.« »Noch mal zu den Rettungsmöglichkeiten. Sie halten es also für ausgeschlossen, daß über die Grundstrecke jemand dort an den Streb 17 herankommen kann?« fragte der Grubendirektor. »Ich halte das für absolut ausgeschlossen«, erwiderte der Steiger. »Dort unten ist alles abgesackt. Wenn da jemand drin ist, und wenn wir den retten können, dann kann das nur geschehen, indem wir von oben her, vorbei am Streb 8, eine Bohrung anbringen. Und zwar von hier aus.« Der Grubendirektor trat näher an den Plan heran und sagte: »Das ist doch nicht von oben? Das ist doch schräg westlich!« »Ja, direkt von oben geht’s ja nicht, denn der Streb 8 ist voll Wasser, und das würde sofort durch sein. Ja, so schräg von der Seite her ist das. Die Bohrung müßte vom Querschlag der achten Sohle aus erfolgen. Dort könnte man auch das Bohrgerät einbringen«, erklärte der Rettungssteiger. »Und es gibt noch immer keinen einzigen Hinweis? Klopfgeräu-
sche und dergleichen. Sind die Horchgeräte eingeschaltet worden?« »Die Horchgeräte werden jetzt erst unten aufgestellt«, sagte der Rettungssteiger. »Wir haben trotz größter Aufmerksamkeit bis jetzt noch kein Zeichen hören können!« Der Obersteiger trat an den Plan, sah den Rettungssteiger an und fragte: »Wenn, wie Sie glauben, dort noch jemand sein könnte, ich meine im unteren Teil von Streb 17, woher sollte denn die Frischluftversorgung kommen? Wenn hier rundum Wasser steht, dann ist doch auszurechnen, wann der Sauerstoff in dem Reststreb verbraucht ist.« »Ja, das ist auszurechnen. Lange können die Leute dort nicht mehr atmen. Wenn überhaupt jemand da drinnen ist«, erwiderte der Rettungs-Steiger. »Besteht die Möglichkeit, daß diese Leute auch noch woanders sein könnten? Wenn es Überlebende gibt. Davon muß man ja ausgehen, daß welche nach dem Zusammenbruch von Streb 8 und Streb 17 nach unten gelaufen sind, um sich zu retten. Wo könnten die sein?« fragte der Bergwerksdirektor und wandte sich an den Rettungssteiger. Der nickte. »Da wir wissen, daß der gesamte Streb 8 zerstört ist – denn wir waren ja schon von beiden Seiten an ihn herangekommen –, besteht nur noch die Möglichkeit, daß dort, wo wir noch nicht gewesen sind, wo wir auch nicht hinkönnen, Leben ist. Das einzige Gebiet, von welchem wir nicht wissen, in welchem Zustand es sich befindet, das ist der untere Teil vom Streb 17. Wenn irgendwo Menschen sind, dann können sie nach unserem Ermessen nur dort sein.« Der Obersteiger nickte. Er war zum selben Resultat gekommen, wollte es aber noch mal von dem Manne hören, der eben noch vor Ort gewesen war. »Also gut«, erklärte der Obersteiger. »Jetzt fahre ich mit ein, und wir werden die Horchgeräte einsetzen. Wir werden Peilungen vorbringen, und ich hoffe, daß ich Ihnen, Herr Direktor, bald bessere Nachrichten heraufschicken kann.« »Meine Herren, bessere Nachrichten haben wir dringend nötig«, erklärte der Direktor. »Der Staatssekretär des Innenministers hat sich angesagt, Presse natürlich aus allen Teilen Deutschlands, die Fernsehleute stehn draußen auf dem Hof, bombardieren mich regelrecht mit Fragen. Wir haben bei diesem Unglück hier mehr als vierzig Tote gehabt. Sie können sich denken, meine Herren,
welche Welle der Aufregung so etwas wieder auslöst. Es wird natürlich nach einem Schuldigen gesucht. Selbstverständlich, man sucht immer nach einem Schuldigen, und aus diesem Grunde, das wird Ihnen ja noch nicht entgangen sein, sind die Herren vom Ministerium aus Düsseldorf eben eingetroffen, und ich vermute, weitere Besprechungen werden in der Gegenwart dieser Herren erfolgen müssen. Ich bedanke mich bei Ihnen für die bisher geleistete Arbeit im Interesse der Betroffenen. Ich glaube, das alles hier war erst mal ein Anfang. Nun, wir müssen sehen, daß wir die Männer, die noch vermißt sind, retten können. Gibt es eine präzise Zahl und eine genaue Aufstellung von Namen der Vermißten?« »Im Augenblick sind noch neunundzwanzig Männer vermißt, und wir können nur beten, daß sie noch leben, obgleich ich mich da keinen Illusionen hingebe.« »Nein«, sagte der Grubendirektor, »Illusionen, meine Herren, sind da wohl nicht angebracht. Aber wir müssen alles tun, aber auch wirklich alles zu retten, was zu retten ist, und wenn unsere Bemühungen nur einem einzigen Manne gelten. Und ich weiß, dessen sind wir uns alle bewußt, auch ohne die Gegenwart von Presse und Innenministerium oder dem Bergamt. Meine Herren, tun Sie, was Sie tun müssen! Ich werde noch mal mit den Angehörigen reden, die drüben warten. Und noch etwas, meine Herren, was ich Ihnen aus meiner langen Erfahrung auf einer Zeche auf den Weg geben möchte: Geben Sie die Hoffnung nicht auf, geben Sie nie die Hoffnung auf! Glück auf, meine Herren!« * Inge preßte die heiße Stirn gegen die kühle Scheibe, blickte hinaus in den strömenden Regen auf den spiegelnden Asphalt des Abends. Ein Tag war vorbei, ein entsetzlicher Tag. Aber das Leben da draußen ging weiter, als gäbe es die Schicksale auf Zeche Max Stissen II gar nicht. Und die Menschen, die vorüber hasteten, in ihren Autos vorbeibrausten oder aus den Scheiben der Busse und Bahnen blickten, die wirkten auf Inge so, als hätten sie von diesem Unheil auf der Zeche gar nichts gehört. Es war acht Uhr und irgendwer hatte das Fernsehen angeschaltet… Tagesschau. Mehr im Unterbewußtsein, als daß sie wirklich zuhörte, nahm
Inge die Worte des Sprechers der Tagesschau wahr, der da sagte: »Bei einer Schlagwetterkatastrophe auf der Zeche Max Stissen II in Essen-Karnap kamen am heutigen Vormittage mindestens zweiundvierzig Menschen um. Nach Auskunft der Zechenleitung werden noch neunundzwanzig vermißt. Mit Grubendirektor Dr. Schmidt unterhielt sich unser Mitarbeiter Helmut Bartels…« Inge drehte sich um, wollte gerade sehen, was sich da am Bildschirm tat, wollte hören, was der Zechendirektor sagte, da flog die Tür auf, und ihre Mutter kam herein. Sie war völlig außer Atem, hochrot im Gesicht, und Inge fürchtete, sie würde einen Schlaganfall kriegen. »Inge, Inge! Sie haben etwas von ihnen gehört! Sie haben etwas gehört! Ha, ich bin ganz außer Atem, ich bin vollkommen fertig!« Sie sank in einen Stuhl, schloß die Augen und hatte vorübergehend Not, überhaupt Luft zu bekommen. »Mama, was haben sie gehört? Sprich doch!« Ihre Mutter sah sie an. »Die Horchgeräte, sie haben doch diese Horchgeräte eingesetzt. Sie haben Klopfzeichen gehört, Klopfzeichen. Da muß irgendwo noch eine Preßluftleitung sein. Und jetzt suchen sie. Ich weiß ja noch nicht mehr. Wir sind ja alle im Speisesaal gewesen, und Dr. Schmidt hat uns versprochen, immer Bescheid zu sagen, sobald er nur das geringste weiß. Er hat sein Wort gehalten. Sie kamen eben mit der Meldung. Aber wenn sie es auch wissen, daß doch noch welche leben, vielleicht leben sie alle noch, die sie vermißt haben, so wird’s viele Stunden dauern, bis sie zu ihnen vordringen können. Ich habe auch mit einem Rettungssteiger gesprochen, dem Growiak, den kennst du doch? Er war doch schon mal hier bei Papa. Netter Kerl ist das, der war damals zwei Jahre Berglehrling bei Papa, und der hat mir gesagt: ›Frau Breuer‹, hat er gesagt, ›da unten ist alles voller Wasser. Aber wir tun, was wir können, wir holen sie raus. Jetzt wissen wir, daß sie da sind, jetzt lassen wir nicht mehr locker, bis wir sie haben. Frau Breuer‹, hat er gesagt, ›ich schwöre Ihnen, daß wir bis zum Umfallen arbeiten und dann werden andere kommen und uns ablösen. Aber es wird nicht mehr aufgegeben, bis wir sie haben, obgleich das mit dem Wasser ganz schlimm ist. Wir schaffen jetzt Pumpen ran, aber ob die das schaffen? Da ist einfach zu viel kaputt, wissen Sie?‹ hat er gesagt. Der Growiak, und er sagte zu mir: ›Frau Breuer‹, hat er gesagt, ›Ihr Mann is’ so ein prima Kerl,
den holen wir bestimmt raus, und wenn ich ganz alleine mit den Händen graben müßte. Ich würde nich’ aufhören zu graben, bis ich ihn hab‹. Siehst du, Inge, den Papa, den hab’n sie alle gern auf Zeche. Es war seine letzte Schicht. Ich denke manchmal, wenn er nun gar nich’ bei denen ist, die da geklopft haben?« »Mama, du hast doch immer gesagt, du gibst die Hoffnung nie auf! Mama, warum sagst du so was?« rief Inge. »Tja, Kind, ich glaube, ich werde auch alt. Ich weiß nich’, diesmal habe ich so ’n komisches Gefühl. So ’n Gefühl, als würde es ganz schlimm werden.« »Glaubst du, Mama, daß Papa nich’ wiederkommt?« »Ich weiß nich’, Inge, ich weiß wirklich nich’. Aber wer weiß; was es ist?« »Mama, jetzt ist vielleicht nicht der richtige Augenblick, es dir zu sagen oder vielleicht gerade: ich warte nicht nur auf Papa.« Ihre Mutter sah sie mit schmerzlichem Lächeln an. »Ich weiß, Kind, denk nur nich’, ich hätte keine Augen im Kopf. So schnell is’ das mit euch gegangen?« Inge nickte. »Ja, Mama. Ich habe ihn wahnsinnig lieb. Er ist so ganz anders als die Jungens, die ich vorher gekannt hab’.« »Du hast ihn doch auch immer gekannt, von klein an hast du ihn gekannt!« »Aber ja, Mama, das schon. Aber… ich weiß eben nicht. Vorher hab’ ich ihn gesehn und bin ihm auf der Straße begegnet. Ich hab’ ihn nie so genau betrachtet, weißt du, oder wie soll ich das sagen?« »Du brauchst mir gar nichts zu sagen. Er arbeitet ja mit Papa zusammen, der Sigi, er ist ’n netter Junge, ein guter Junge. Früher, weißt du, wie er so sechzehn, siebzehn Jahre alt war, da hätte ich ihm am liebsten manchmal ’n paar runtergehauen, wie er mit sein’ Motorrad immer die Straße rauf und runter und rauf und runter is’, und dann hat er sich noch den Auspuff abgemacht, damit es so richtig knallt und knattert. Ach, da war der Kerl furch’bar, aber das sind die alle. Doch jetzt, jetzt is’n ordentlicher Mann aus ihm geworden, ’n wirklich ordentlicher Mann. Hat Papa auch schon gesagt.« »Mama, ich muß für zwei beten.« »Schließ die andern auch in dein Gebet ein. Neunundzwanzig hab’n sie noch vermißt. Kind, zweiundvierzig sind tot. Wenn du das erlebt hättest, du bist ja vorher gegangen; aber ich bin an
der Kapelle gewesen, wo sie die Toten aufgebahrt haben. Kind, ich habe immer gehofft, du würdest nie einen Bergmann heiraten, und jetzt hast du dich in einen verliebt.« * »Wir sollten das mit dem Klopfsignal noch mal versuchen«, meinte Otto-Otto. »Aber nich’ so heftig«, sagte Heini, »du weißt ja, das Hangende kommt runter.« Otto-Otto nahm seinen Schraubenschlüssel und gab wieder das Notsignal, schlug an die Preßluftleitung und wiederum schallte und dröhnte es. Und das geschah so heftig, daß abermals hinten, wo schon das Wasser durchsickerte, ganze Stücke des Hangenden herunter kamen. »Aufhören! Aufhören!« rief Heini. »Aufhören!« Otto-Otto hielt inne. »Ja, verdammt noch mal, irgendwas müssen wir riskieren«, sagte er. »Wenn wir jetzt nicht Zeichen geben, können sie uns ja nich’ hör’n. Und diese Preßluftleitung, das ist unsre ganze Chance. Es ist ja der Beweis, daß Luft durchkommt. Also muß irgendeine Verbindung bestehen und wenn es ein Wetterschacht ist. Sie werden sicherlich Horchgeräte ranbringen, und sie werden in den Wetterschächten hören. Möchte wetten mit euch«, behauptete Otto-Otto, »daß sie an allen Seiten Horchgeräte aufgestellt haben. Die haben auch solche Schwingungsmesser, die können Schallwellen registrieren, es gibt die dollsten Geräte heute, Jungs. Verdammt noch mal, ich habe plötzlich wieder Hoffnung! Ich weiß nich’, was es ist, aber ich habe verdammt viel Hoffnung!« Ja, Hoffnung hab’ ich auch, dachte Siegfried, aber eins steht fest, wenn ich hier rauskomme, ausfahren, Kaue, waschen, umziehn, Schluß mit ’m Pütt, Feierabend. Ich fahr’ nie mehr ein. Menschenskind, es gibt hunderttausend Jobs, überall, und ich Idiot, ich muß in ’n Pütt. Warum in ’n Pütt? Weil der Alte im Pütt war, weil Opa im Pütt war, Menschenskinder, daß sie mir meine Wiege nich’ in ’n Pütt gestellt haben, war alles. Nee, in ’n Pütt geh’ ich nich’ mehr! Wenn ich rauskomme, is’ Schluß! Otto-Otto klopfte wieder. Mit bangem Blick sahen die anderen hinauf zu der Stelle, wo das Hangende so schlecht war. Wo es vorher getropft hatte, und wo es jetzt in dünnem Strahl herunter-
lief. Nein, diesmal kam nichts herunter, diesmal hielt das Hangende. Die Männer atmeten auf, als das Dröhnen der metallischen Schläge beendet war, dann lauschten sie, sie lauschten. Aber sie hörten nur das Wasser rinnen. »Geht doch mal einer hin und halt mal was drunter, das is’ ja furchtbar, ich kann nix hören«, sagte Otto-Otto. »Ja, geh mal einer hin«, rief Heini, der wieder ganz schön obenauf war, jetzt, wo sie hier Luft hatten. »Also gut, geh’ ich«, rief Siegfried. Er ging hinter, hielt den Helm darunter, aber sie hörten trotzdem nichts. »Kannst wiederkommen, da is’ nichts«, rief Szymanski. »Wir sitzen ganz schön drin, meine ich«, erklärte Siegfried. »Und ich hatte mir heute abend was vorgenommen, verdammt noch mal!« »Du Idiot!« rief Fritz Scheuermann. »Meinst du, wir hätten uns nichts vorgenommen? Wir hab’n uns alle was vorgenommen! Ich wollte mit meinem Hasso heute abend zur Hundeschule, da is’ so ’n Polizeimeister, der hat was drauf, sag’ ich euch, der kann das! Der macht aus ’m Hund ’nen Mensch, ja, zirkusreife Tiere macht der aus denen. Also, das habt ihr noch nich’ gesehn. Was die Hunde könn’!« »Nun hör bloß mit deinem blöden Köter auf«, sagte Anton. »Menschenskind, wir haben doch jetzt ganz andre Sorgen. Gleich fang’ ich an, von meinen Tauben zu erzählen. So ’n dummes Zeug!« »Bist ja bloß neidisch, weil du keinen Hund hast wie ich.« rief Scheuermann. »Ach, Mensch, mach halblang!« erwiderte Szymanski. »Du mit deinem blöden Auto, deinem Köter und deinem Kohlemachen. Das hängt uns langsam zum Halse raus, als wenn es nichts andres im Leben gibt als Kohle, Köter und Auto!« »Ruhe! Ganz still!« rief Heini plötzlich. »Ganz still! Kein Wort!« Sie lauschten. Siegfried sprang sofort auf, lief hinter zum Wasser und hielt wieder den Helm darunter. Und dann hörte er es sogar, es war wie ein ganz fernes Pfeifen, ein eigenartiger Laut. Pfeifen ist auch nicht der richtige Ausdruck, wie ein ganz hohes Singen klang es, und da war auch nur ein einziger Ton, als wenn jemand auf einer Flöte bläst, immerzu denselben Ton bläst. »Verdammt, was ist das?« rief Otto-Otto. »Wasser!« keuchte Heini. »Das ist Wasser! Irgendwo kommt
Wasser! Verdammt!« »Wasser? Das is’ doch kein Wasser«, meinte Otto-Otto. »Doch«, sagte Anton, »das is’ Wasser. Ich kenn’ das auch. Irgendwo fließt Wasser in ein’ Schacht.« »Das müßte doch plätschern«, meinte Helmut, und Fritz Scheuermann sagte: »Wasser rauscht doch, das pfeift doch nich’!« »Das is’ Wasser«, sagte Heini. »Wasser, das die Luft wegdrückt. Und es is’ die Luft, die pfeift. Und da…« »Hier kommt Wasser, überall Wasser!« schrie Otto-Otto. Siegfried Lorenz hatte seine Lampe angeschaltet, es war schon egal, ob sie das Licht verbrauchten oder nicht. Und da sahen sie alle im Strahl seiner Lampe, wie aus dem Preßluftrohr überall an den Anschlußstellen, die sie aufgedreht hatten, das Wasser heraussprudelte. »Die Schrauben rein! Die Schrauben rein!« schrie Heini. Das heraustretende Wasser machte ein so starkes Geräusch, daß sie schreien mußten, um sich zu verständigen. Der Druck des Wassers war groß, dennoch gelang es Otto-Otto, die eine Verschraubung wieder reinzudrehen, so daß das Wasser nur noch an dem anderen Loch herausquoll. Danach bemühten sie sich zu drei Mann, die zweite Verschraubung anzubringen. Sie hatten sie schon fast drin, als weiter hinten, wo das Preßluftrohr im Gesteinsschutt verschwand, ein Knall ertönte und das Wasser mit einer Riesenfontäne aus dem geplatzten Rohr heraussprudelte. Binnen Sekunden war der Boden damit bedeckt, und es stieg immer stärker an. Die Bruchstelle wurde größer, und das Wasser quoll heraus wie aus einem Hydranten. »Das Ventil zu!« schrie Heini. »Otto-Otto, das Ventil, verdammt noch mal! Das Ventil!« Otto-Otto lief nach unten, versuchte an dem Handrad zu drehen, aber es saß fest. Er konnte es kaum bewegen. Siegfried sprang hinzu, zu zweit versuchten sie zu drehen, und weil sie es immer noch nicht schafften, steckte Otto-Otto den Schraubenschlüssel zwischen die Speichen des Rades, und nun ließ es sich bewegen. Mühsam drehten sie weiter, Stück für Stück, und der Strahl hinten wurde immer dünner. Aber dann ließ sich das Rad nicht mehr bewegen. Noch immer kam etwas Wasser hinten aus der Bruchstelle. »Jetzt sehn wir ja fein aus, woll«, sagte Fritz Scheuermann.
»Jetzt könn’ wir uns ja ausrechnen, wann Schluß is’. Und Luft kommt jetzt auch keine mehr durch die Leitung.« »Dann halt die Klappe und brauch nich’ unnötig welche«, erwiderte Anton. Das Wasser rann durch den Streb und sickerte unten, wo der Wendelbunker war, ins Geröll. Aber es strömte rascher nach, als es unten versickerte, so daß sich oberhalb der Versickerungsstelle eine Lache bildete, die größer und größer wurde. Mit entsetzten Augen starrten die Männer in diesen Tümpel, der mittlerweile schon Knöcheltiefe hatte. »Wir ersaufen hier«, sagte Anton Szymanski. »Das Wasser kommt von allen Seiten. Ich glaube, wir hab’n bis jetzt noch Glück gehabt. Und jetzt kommt das Wasser, was rundum is’, durch, deswegen hört uns auch keiner. Das Rohr geht ins Wasser.« »Aber bis jetzt is’ doch Luft reingegangen«, meinte Heini. »Bis jetzt! Aber das Wasser ist stärker, es hat die Luft weggedrückt, das war auch das Pfeifen«, erwiderte Anton. »Wir sitzen in einer Mausefalle.« »Na, wenn wenigstens ’n Stück Speck drin wäre«, meinte Helmut. »Ich hab’ vielleicht ’n Kohldampf.« »Glaubst du denn, wir wär’n alle bis zum Stehkragen voll? Wir hab’n genauso Hunger wie du«, erwiderte Heini. »Nun rede mal nich’ davon.« Siegfried sah auf die Uhr. »Jetzt fährt die Nachtschicht ein«, sagte er. »Zehn.« »Wenn das passiert ist, was wir denken, dann fährt keine Nachtschicht mehr ein«, erwiderte Otto-Otto. Plötzlich schrie Scheuermann wie ein Irrer: »Die könn’ uns doch nich’ einfach hier sitzenlassen? Die könn’ uns doch nich’ krepieren lassen, Mensch! Die müssen doch nach uns suchen, woll? Die dürfen nich’ aufhören zu suchen, bis sie uns haben, bist du wahnsinnig, woll? Glaubst du, die geben uns auf? Ich will leben, verstehst du, ich will wieder ausfahren! Ich habe ’ne Familie, ich muß existieren, die Familie braucht mich! Verdammt noch mal, ich habe Schulden, die müssen bezahlt werden! Wer soll die bezahlen? Die müssen nach uns suchen, die dürfen uns nich’ krepieren lass’n! Verdammt noch mal! Verdammt noch mal!« »Beruhige dich, Fritz!« sagte Heini. »Mein Gott, Junge, wir werden schon rauskommen, verlier bloß den Mut nich’ und spiel nich’
verrückt! Das bringt gar nichts. Anton, erinnerst du dich, damals, kurz nach dem Krieg, da hab’n wir beide doch auch mal zwei Tage festgesessen. Na, und sind wir wieder rausgekommen?« »Ich weiß nich’, Heini, diesmal is’ es irgendwie ganz anders. Das mit dem Wasser, das gefällt mir nich’, das Wasser, das war damals nich’ dabei. Und wir hatten unsre Hämmer noch, und wir hatten noch Luft. Preßluft! Das is’ jetzt nich’ so.« »Na, wenn schon«, meinte Heini. »Meinst du, die suchen nicht? Klopf mal wieder, klopf ruhig mal wieder an die Leitung. Auch wenn jetzt Wasser drin is’! Jetzt könn’ wir’s ruhig wagen, jetzt schallt das nich’ so sehr. Los, Otto-Otto, gib das Notzeichen!« Und wiederum schlug Otto-Otto mit dem Schraubenschlüssel an das Rohr, gab das Notsignal. Aber diesmal machten sie sich nicht die Mühe zu lauschen, weil sie einfach nicht mehr daran glaubten, daß jemand auf dieses Zeichen antworten würde. * Der Querschlag der neunten Sohle war so etwas wie eine Kommandostelle, hier liefen alle Fäden der einzelnen Suchtrupps zusammen. Es war kurz nach zehn Uhr, die Zeit, wo in Schacht zwei und in Schacht drei die Nachtschicht einfuhr. Aber hier in Schacht eins fuhr niemand ein, außer den Rettungstrupps, den Steigern, den Experten, die das Bergamt geschickt hatte, die extra von Dortmund herübergekommen waren. Oben, auf dem Zechenhof, wurde um diese Zeit gerade die Dahlbuschbombe abgeladen. Ein Gerät, von dem noch gar niemand wußte, ob man es überhaupt einsetzen konnte. Aber man wollte es bereithaben, nichts sollte fehlen. Beauftragte der Bundesregierung waren schon gekommen, der Innenminister von Nordrhein-Westfalen war erschienen. Aber diese Herren waren alle oben im Verwaltungsgebäude, hier unten standen die Kumpel und die Steiger seit einer halben Stunde, auch der Zechendirektor Dr. Schmidt. Man hatte die einzelnen Rettungstrupps aufgeteilt und sie dann nach den Namen der Steiger benannt, die diese Trupps führten. Die erste Meldung, die einen Hoffnungsschimmer aufkeimen ließ, kam vom Trupp Growiak, und Steiger Growiak selbst gab über die Telefonleitung, die sie dafür gelegt hatten, diese Mitteilung an den Zechendirektor. »Am Apparat Steiger Growiak. Herr Direktor, wir sind durchged-
rungen bis zum oberen Teil des Wendelbunkers, am Ende von Streb 8. Hier läuft das Wasser durch und ein weiteres Vordringen ist unmöglich. Aber neben dem Wendelbunker ist auch die Preßluftversorgung, und wir haben an dieser Preßluftleitung Klopfzeichen gehört. Sie können nur von Streb 17 kommen. Ein Durchkommen dahin ist unmöglich, es ist alles unter Wasser. Es muß sich da eine Art Luftblase gebildet haben, in der offensichtlich noch Männer sind. Man kann sie nur von der Seite her erreichen, nicht von oben, weil dann sofort Wasser von Streb 8 her durchlaufen würde. Ich weiß auch nicht, wie die Lage aussieht auf der anderen Seite, wo die Strebs von Flöz 4 sind.« »Haben Sie schon eine Verbindung mit den Klopfzeichen, Herr Growiak?« »Nein, wir haben selbst geklopft, aber sie antworten nicht. Vielleicht hören sie es nicht.« »Versuchen Sie unbedingt die Verbindung zu erreichen. Immer wieder. Ich werde hier auf der Karte feststellen, was wir unternehmen können, und stellen Sie jemand ans Telefon, der auch die Verbindung zu uns aufrechterhält« »In Ordnung, Herr Direktor! Ende!« Auf dem Querschlag war eine Art Kartentisch aufgestellt worden, auf dem sich der genaue Plan der Zeche befand. Der Direktor trat an diesen Tisch, während ihn die umstehenden Steiger und die vom Bergamt Beauftragten gespannt ansahen. »Meine Herren«, sagte er, »Klopfzeichen aus Streb 17. Steiger Growiak sagt, eventuell eine Luftblase, in der sie sich halten können, denn rundum ist Wasser.« Er beugte sich vor, zeigte auf die Stelle, wo der Wendelbunker eingezeichnet war, und sagte: »Hier ist Growiak! Und hier unten ist der Streb 17. Die Preßluftversorgung führt am Wendelbunker vorbei hinüber zum Wetterschacht. Die Abzweigungen gehen in die Strebs, hier ist die Abzweigung von Streb 17. Das Klopfsignal ist an der Preßluftleitung zu hören gewesen, demzufolge müßten die Männer ungefähr hier sein, denn oberhalb ist die Verwerfung, und die ist ja zusammengebrochen. Das bedeutet also, wir finden die Männer hier drin. Aber das ganze Gebiet hier drüber soll unter Wasser stehen.« Der Obersteiger nickte. »Es steht unter Wasser, Herr Direktor. Es gibt nur eine Möglichkeit, von hier aus, von der Seite. Einen Röhrenstollen. Aber ich sehe, ehrlich gestanden, auch da keine Möglichkeit, denn wir kriegen in so kurzer Zeit gar keinen Halt in
einen Notstollen, in einen Röhrenstollen. Röhrenstollen wäre das einzige. Aber das dauert ja Tage, bis wir den vorgetrieben haben. Es gäbe noch eine Möglichkeit: die Bohrung. Und die müßte von oben aus erfolgen. Dann könnten wir hier vom Querschlag der Sohle 8 aus eine Bohrung vorbringen, die Bohrung ausröhren und freipumpen. Wir müßten die Bohrung so vornehmen, daß wir noch nicht durchbohren, sondern den endgültigen Durchbruch erst vornehmen, wenn wir die wasserbedrohte Schicht ausgeröhrt haben. Letztlich aber ist noch von außerordentlicher Wichtigkeit, daß wir exakt den Ort bestimmen, wo sich die Männer aufhalten. Bis jetzt liegt noch kein schlüssiger Beweis vor, daß sie wirklich da sind. Es ist eine Vermutung von Growiak, aber wir werden noch eine genaue Messung vornehmen, und ist die abgeschlossen, wird mit der Bohrung begonnen. Wir werden…« Einer der Steiger rief: »Herr Direktor, wieder ein Anruf! Growiak hat Verbindung mit ihnen!« * »Klopfzeichen!« schrie Heini. »Seid mal still, Jungs, ich hör’ was! Klopfzeichen!« Die anderen fuhren herum. Otto-Otto preßte sein Ohr an die Leitung. Heini, Anton und auch Siegfried taten dasselbe. Jetzt machten es auch die anderen. Da hörten sie ganz deutlich das Antwortsignal, ganz leise im Rohr, aber es war zu hören. »O Jungs«, schrie Otto-Otto, »sie haben uns! Verdammt noch mal, sie haben uns!« Und er nahm den Schraubenschlüssel und begann das Antwortzeichen zu geben. Danach aber gab er Klopfsignale aus dem Morsealphabet. Eine ganze Weile hatte er damit zu tun, und nur Heini Breuer und Siegfried Lorenz verstanden das, was er durchgab. »Pst, seid still!« sagte Otto-Otto und die anderen schwiegen, preßten ihr Ohr an die Leitung und lauschten. Und da kam es wieder, dieses Tick-Tick, Tick-Tick. Gespannt lauschten sie, obgleich sie bis auf Otto-Otto, Siegfried und Heini den Sinn der Klopfzeichen gar nicht kannten. Aber es hieß soviel wie Hoffnung schöpfen, wir kommen. Und dann hörten sie, als es zu Ende war, was ihnen Heini übersetzte. »Sie sind oben am Wendelbunker. Die haben die Preßluftleitung, wo die Hauptleitung zum Wetterschacht geht, das ist ein ganzes
Stück. Rund um uns herum is’ Wasser. Sie sagen«, erklärte Heini, »daß sie alles tun, um uns rauszuholen. Sie werden nich’ aufgeben, sie werden alles tun. Wir sollen Mut haben.« »Am Wendelbunker«, meinte Anton, »verdammt noch mal, das ist ein ganz schönes Stück. Und um uns herum ist Wasser, sagst du? Wie wollen sie da durchkommen? Und hier, sieh nur, jetzt kommt es schon hier heraus! Wir stehn schon drin, im Wasser. Man kann sich ausrechnen, wann es uns bis zum Hals steht.« »Es sickert weg, aber eben nur zu langsam«, meinte Helmut. »Vielleicht können wir etwas nachhelfen.« Fritz Scheuermann begann wie ein Wilder, den Schutt wegzuschippen, wo das Wasser stand. Er versuchte, so etwas wie einen Graben zu schaufeln. »Hör auf! Wir müssen jetzt erst mal die Verbindung aufnehmen! Mach Schluß! Kannst du nachher weitermachen«, rief Heini. »Denkt ihr, ich will absaufen? Denkt ihr das vielleicht? Das könnt’ euch so gefallen, woll?« schrie Scheuermann. »Ich will nich’ verrecken hier. Die uns hier rausholen, wer weiß, wann das ist, woll? Am Wendelbunker, Mensch! Das is’ ja sonstwo, woll! Oben am Wendelbunker, das sind sechzig Meter von hier und dazwischen is’ Wasser! Was glaubst du denn? Bildest du dir ein, da kommen die durch? Jedenfalls nich’ gleich. Und wenn wir nich’ schippen, und nich’ sehn, daß dieses Wasser abläuft, dann saufen wir ab.« »Ich glaube, er hat recht«, meinte Siegfried, »wir müssen etwas tun, damit das Wasser wegläuft. Und sieh mal, da wo er geschaufelt hat, da sickert es schneller weg.« »Jetzt seid mal still, wir müssen erst mal die Verbindung herstellen«, sagte Heini. »Graben könnt ihr immer noch.« Eine Zeitlang lauschten sie und dann sagte Otto-Otto: »Sie woll’n uns von zwei Seiten anbohren und eventuell einen Pumpenschlauch herunterlassen, dort, wo es am kürzesten ist. Vielleicht kriegen sie das Wasser so weg. Und sie versuchen auch, rundum abzupumpen, was abzupumpen geht. Aber es wird seine Zeit dauern.« »Seine Zeit! Seine Zeit! Wenn ich das höre!« schrie Scheuermann. »In der Zeit sind wir abgesoffen, woll? Jungs, schaufelt, damit es abläuft, es läuft irgendwo hin. Wir müssen noch mehr davon freilegen! Vielleicht geht es weg, woll!« »Es läuft nur dahin«, sagte Siegfried, »wo wir freigeschaufelt
haben. Wir bilden uns nur ein, daß es abläuft. Sieh genau hin, Fritz, es bleibt stehn. Du machst ein Loch, da läuft es rein und dann steigt’s wieder. Nichts geht weg, das is’ alles Einbildung!« * Der Tag begann zu grauen, noch brannten die Laternen. Die Straßenbahnen ratterten vorüber, die Autoketten rollten auf beiden Seiten der Fahrbahn. Die Menschen eilten zu ihren Arbeitsstätten. Es war sieben Uhr morgens, und es regnete immer noch. Die Fenster des Verwaltungsgebäudes waren fast alle erleuchtet. Das Licht spiegelte sich in den Pfützen am Zecheneingang und der Werkschutzbeamte blickte mürrisch auf die rosa Karte, die Inge Breuer ihm vorzeigte. Er ließ sie hinein, sie und die anderen Frauen, die ebenfalls diese rosa Karten bekommen hatten, um sich ausweisen zu können, denn man ließ Fremde nicht mehr auf den Zechenhof. Die Frauen wußten schon, in welche Richtung sie zu gehen hatten, und als sie dann nach ein paar Minuten im Speisesaal der Kantine standen, wo man Stühle für sie aufgestellt hatte, da waren sie, ein halbes Hundert, die gespannt auf das Erscheinen von Dr. Schmidt warteten, der ihnen die neueste Lage erläutern wollte. Zwei Frauen brachten Kaffee, er schmeckte ekelhaft bitter, aber Inge trank ihn wie ein Lebenselixier. Sie war allein gekommen, denn Elli Breuer hatte die ganze Nacht hier verbracht und war vorhin heimgekommen, weil sie nicht mehr bis zu diesem Zeitpunkt hatte warten wollen. Sie war einfach zu müde, zu erschöpft gewesen. Viele neue Gesichter waren aufgetaucht. Verwandte, die die allernächsten Angehörigen ablösen wollten. Ablösen, im Warten auf eine Neuigkeit. Ablösen, in der Hoffnung, daß es einen Bescheid gab, aus dem man Genauestes über das Schicksal der Eingeschlossenen erfahren konnte. Bis jetzt hatte die Zechenleitung damit zurückgehalten zu sagen, daß es nur sieben Mann waren, die dort unten auf die Klopfzeichen geantwortet hatten. Sieben Männer nur von neunundzwanzig. Die ganze Nacht über hatte man gehofft, es würden sich noch an anderen Stellen andere melden, aber das war nicht geschehen. Und da kam Dr. Schmidt schon herein. Übermüdet, mit geröteten Augen und schwarz, denn er war eben ausgefahren, und mit ihm der Steiger Growiak und ein zweiter Steiger. Auch diese bei-
den noch schwarz und ungewaschen. Ein paar Presseleute waren da, die sofort nach vorn drängten, aber Dr. Schmidt wehrte sie ab und bat sie, Platz zu nehmen und seine Erklärungen abzuwarten. Er grüßte knapp, dann sagte er: »Wir haben die ganze Nacht über die Hoffnung nicht aufgegeben, daß alle Vermißten am Leben sind. Jetzt aber steht zu befürchten, daß unsere Hoffnung enttäuscht wird, denn wir haben nur Verbindung mit sieben Männern. Sieben Männer, deren Namen wir jetzt präzise kennen, und es ist zwar noch immer möglich, daß die anderen ebenfalls eingeschlossen sind, sich nur noch nicht gemeldet haben. Doch nach Beurteilung der Sachlage und nach Erwägung aller in Frage kommenden Gegebenheiten kann davon ausgegangen werden, muß sogar davon ausgegangen werden, daß das Überleben der übrigen zweiundzwanzig ausgeschlossen ist…« Inge lief es eiskalt den Rücken herunter. Nur sieben von neunundzwanzig, dachte sie. Mein Gott, wie winzig klein ist die Chance, daß Sigi und Vater dabei sind. O Himmel, laß sie doch beide noch leben! Laß sie dabeisein, bei diesen sieben! O nein, ich erhoffe zuviel. Es ist praktisch ausgeschlossen. Es ist zuviel erwartet vom Schicksal. Dr. Schmidt hatte einen Zettel, den er aus der Tasche gezogen hatte, und da las er jetzt vor: »Folgende Kumpel sind am Leben: Heini Breuer…« Vater lebt! Vater ist am Leben! Oh, laßt ihn auch leben, laßt Siggi auch leben! Bitte, bitte, laß ihn leben! dachte Inge. »Anton Szymanski!« Inge blickte hinüber, wo Ziska Szymanski saß. Die ganze Zeit hatte sie ausgehalten, die einzige, die außer einem kurzen Nickerchen sich keinen Schlaf gegönnt hatte. Sie war die ganze Zeit auf der Zeche geblieben, und Ziska Szymanski sprang auf, mit einer Energie, die ihr keiner nach dieser langen Wartezeit noch zugetraut hätte, schrie sie: »O Gott, ich danke dir!« »Otto Zievers…« Inge sah sich um, aber von Otto-Otto schien kein Verwandter dazusein, oder er reagierte nicht darauf. Seine Frau jedenfalls war nicht da. Aber ich werde es ihr sagen, dachte Inge. Ich werde nachher gleich loslaufen, werde es ihr sagen. »Fritz Scheuermann…« Fritz Scheuermanns Frau schrie auf, rang die Hände vor Freude. »Hung Rhee!«
Aber da war niemand, der aufsprang oder jubelte, daß es Hung Rhee noch gab. »Siegfried Lorenz…« Inge Breuer schluckte, dann dachte sie: So viel Glück, so viel Glück kann nicht wahr sein! Ich träume das alles! Sie biß sich in den Finger, es tat furchtbar weh, sie hatte so hart zugebissen. Nein, dachte sie, ich träume nicht Das ist alles wirklich wahr. Sigi lebt, Sigi lebt wirklich! Sie sah nach links. Drüben am andern Ende, da saß seine Mutter, und die schaute zu ihr herüber. Vorhin hatte sie noch mit ihr gesprochen. Sie sahen sich an, die beiden Frauen, und strahlten vor Glück. »Helmut Geiger…« Helmut Geigers Vater war da. Der stand auf, wachsbleich im Gesicht. Inge sah, wie er sich auf die Lippen biß und dann wieder auf den Stuhl zurückfiel, sich über die Augen wischte und dann seine Haltung verlor. Er beugte sich vor, preßte die Hände vors Gesicht und fing an zu schluchzen, und da überkam es auch Inge. Sie hörte nicht, was der Zechendirektor tröstend denen sagte, von deren Angehörigen er kein Lebenszeichen mehr erhalten hatte. Aber dann sprach er über die Möglichkeiten der Rettung, er ließ sich Zeit damit, denn nun verließen viele, zu viele den Raum. Und es spielten sich Szenen ab, die Inge erschütterten. Dr. Schmidt aber erklärte, versuchte zu erklären, was die Zechenleitung unternehmen wollte, um jene sieben zu bergen, und er verhehlte nicht, wie problematisch das sein würde. »Wir haben verschiedene Möglichkeiten, und ich gebe offen zu, keine von denen gewährleistet eine sichere Rettung. Unser Problem ist das Wasser, das wir mit allen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten abzupumpen versuchen. Aber es sind derartige Wassermengen, daß wir nicht wissen, ob es uns völlig gelingt, die größte Gefahr nämlich, daß die Männer da unten vor der Bergung noch ertrinken, abzuwenden. Wir wollen auch diesen Streb oder was davon übrig ist anbohren, wollen versuchen, eine Pumpenleitung durchzubringen und das Wasser abzupumpen. Dieser Reststreb bildet eine Art Luftblase. Wenn wir die anbohren, könnte unter Umständen der Gegendruck gegen das Wasser, das von allen Seiten draufsitzt, zu gering werden, und dann könnte passieren, daß das Wasser ganz schnell eindringt, noch lange bevor wir nur die Chance haben, eine Bohrung zu machen, die so groß
ist, um die Dahlbuschbombe einzuführen und die Leute herauszubringen. Ich glaube, daß es keine Möglichkeit gibt, die wir auslassen werden. Ich bin nicht allein, ich habe mittlerweile die erfahrensten Experten an meiner Seite, und es fehlt auch nicht an Unterstützungsangeboten. Dennoch befinden wir uns in einem Kampf gegen die Natur, gegen eine Gewalt, die wir mit technischer Raffinesse allein nicht meistern können. Was wir jetzt brauchen, was wir wirklich brauchen, das ist eine ganz große Portion Glück. Sehr viel Glück. Und ich glaube nicht, daß man uns davon zuviel wünschen könnte. Ich habe versprochen, Sie laufend zu unterrichten und wahrheitsgemäß zu sagen, wie die Möglichkeiten sind. Ich möchte Ihnen wirklich nichts vormachen. Die Chancen, diese sieben Männer lebend wieder nach Übertage zu bringen, stehen eins zu hundert, und das ist, leider, keine Übertreibung. Ich bitte Sie, sich in Geduld zu fassen. Es gibt niemanden hier auf der Zeche, der nicht alles versuchen würde, diese Männer zu retten. Wir werden sie retten, wenn es nur halbwegs geht, und wenn wir dieses Glück haben, von dem ich vorhin sprach.« Es waren die Wermutstropfen, die bei all jenen die Hoffnung dämpfte, die schon geglaubt hatten, jene sieben seien praktisch gerettet. Und Inge ahnte so wenig wie die anderen, daß die Chance eins zu hundert eigentlich noch geprahlt war. Es sah viel schlimmer aus. Inge, die den Steiger Growiak auch kannte, ging zu ihm hin. Er erkannte sie, lächelte bitter und sagte: »Wir tun, was wir können, um Ihren Vater rauszuholen. Glauben Sie, an ihn habe ich am meisten gedacht.« Inge nickte. »Ich weiß, Sie haben ihn immer sehr verehrt, und er mag Sie auch sehr. Wie sieht’s denn wirklich aus, Herr Growiak?« Und sie mußte in diesem Augenblick daran denken, wie es damals war, als er noch Berglehrling gewesen war, der jetzige Steiger Growiak, und Heini Breuer hatte ihn oft mit nach Hause gebracht, denn die Growiaks wohnten weit entfernt. Inge war damals noch ein Kind gewesen und manchmal, da brachte der Herr Growiak auch ein Stück Schokolade mit oder ein paar Bonbons für Inge. Er war ein netter Kerl und eigentlich, dachte Inge, ist er das heute noch. »Wissen Sie, es sieht nicht sehr gut aus. Sie sollten das wissen. Sie müssen es ja Ihrer Mutter nicht sagen, aber es ist sehr, sehr schwierig. Trotzdem, es gibt wirklich eine Chance«, erklärte er.
»Es sind ein Haufen Experten da, von allen Seiten kommen sie jetzt, wirklich erfahrene Leute, die nichts auslassen, was möglich ist. Wir wollen folgendes tun: Wir haben uns entschlossen, die Stelle anzubohren und gleichzeitig zu verrohren. Es ist ein neues System, und das Rohr ist zwar nicht sehr dick, aber es ist stark genug, damit das Rohrgestänge weiterarbeiten kann. Und wenn die Bohrung durchgebracht ist bis zu jener Stelle, soll gleichzeitig ein Gegendruck erzeugt werden, der nicht so groß ist, daß er die Leute da unten gefährdet, aber groß genug, um den Gegendruck aufrechtzuerhalten, der dort unten besteht, daß das Wasser nicht eindringen kann. Zugleich wollen wir eine Pumpenleitung durchführen, so daß Wasser abgepumpt werden kann, denn erst danach können wir weitere Rettungsmaßnahmen vorsehen. Wir müssen erst diese Stelle dort sichern, und die Männer dort unten müssen noch eine ganze Weile warten, bis wir eine Bohrung durchgebracht haben, die so groß ist, um die Dahlbuschbombe bis zu jener Stelle zu führen, um die Männer dann hinauszuziehen.« »Wie lange, glauben Sie, wird es im günstigsten Fall dauern?« fragte Inge. »Im günstigsten Fall zwei bis drei Tage.« * Das Wasser war gestiegen. Dort, wo der Streb am erhöhtesten war, reichte es ihnen bis an die Knöchel. Weiter unten aber, wo sie die Nacht über gewesen waren, würde es ihnen bereits bis an die Hüften gehen. Sie wußten, was zu ihrer Rettung getan werden sollte. Vorhin war es durchgegeben worden, und sie wußten auch, daß ein großes Risiko dabei war, das niemand präzise vorausberechnen konnte. Es gab in diesem Plan ein paar Ungewißheiten, die sich einfach nicht mit menschlicher Logik berechnen ließen. Ungewißheiten, die tödlich sein konnten für jene sieben Männer hier unten in dieser erschreckenden Lage. Die Luft war knapp geworden. Heini Breuer ging es nicht gut, er hatte Atemschwierigkeiten, lehnte sitzend an der Kohle und rang keuchend um Atem. Den anderen mochte es besser gehen, obgleich auch Anton Szymanski spürte, daß er nicht mehr die Lunge eines gesunden,
jungen Menschen hatte, denn auch bei ihm machte sich jetzt die Silikose bemerkbar, jene teuflische Krankheit der Bergleute. Sie sprachen nicht mehr. Otto-Otto hielt den Kontakt über die Preßluftleitung mit jenen da oben aufrecht, von denen sie wußten, daß sie alles tun würden, um sie zu retten. Es fragte sich nur, ob die Männer schnell genug waren und die Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen, ausreichen würden, um das Verhängnis, das bis jetzt aufgehalten worden war, auch wirklich zu bannen. Und ohne, daß sie darüber zu sprechen brauchten, war ihnen klargeworden, jedem von ihnen, daß ein Wettlauf gegen den Tod begann. Ein Wettlauf der Technik, menschlichen Genies, menschlichen Willens und der Verzweiflung, der Angst und so mit der unbändigen Entschlossenheit dieses Schicksal zu meistern. Aber die Gewalten schienen gegen sie zu sein. Die Macht des Schicksals hatte die größere Kraft, wie es schien, denn immer knapper wurde die Luft. Sie alle, auch die jüngeren, spürten jetzt, wie schwer es mit dem Atmen wurde, und unwillkürlich beugten sie sich nach unten, weil unten der Sauerstoffgehalt der Luft größer war. Und zugleich stieg der Wasserspiegel. Er stieg nicht mehr so schnell wie am Anfang, aber er stieg stetig mehr und mehr. Siegfried Lorenz konnte nichts als warten. Es gab keine Möglichkeit, das Wasser abzuleiten, das hatten sie inzwischen erkannt. Im Gegenteil, wie es schien, drückte von allen Seiten Wasser auf den Streb, und genau das war es ja auch, was ihnen die Rettungsmannschaften über Klopfsignale mitgeteilt hatten. Allein die Luftblase, in der sie hockten, war die Gewähr, daß das Wasser nur langsam weiterdrücken konnte. Es war Mittag. Seit Stunden waren die Rettungstrupps mit der Bohrung im Gange, aber hier unten merkten die Männer noch nichts davon, und die Luft wurde immer schwerer, sauerstoffärmer. Die Müdigkeit nahm zu, und Siegfried Lorenz hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Immer wieder mußte er gähnen, ebenso wie die anderen, die zum Teil zusammengesunken dasaßen, wie auch Heini Breuer, der plötzlich zur Seite umkippte und ins Wasser schlug. Siegfried wollte aufspringen, hinlaufen, ihn hochziehen, aber als er nur den Versuch dazu machte, spürte er, wie schwer ihm das fiel. Er hatte das Gefühl, Bleistücke seien in seinen Gliedern. Mühsam schleppte er sich zu Heini hin, zog ihn hoch, und es kam
ihm so vor, als wöge Heini drei Zentner. Er drückte Heini gegen die Wand, aber sobald er losließ, kippte der wieder zur Seite, denn Heini war bewußtlos. Anton Szymanski schien es nicht besser zu gehen, der machte auch so einen Eindruck, als wäre er gar nicht mehr bei Sinnen. Aber Otto-Otto schleppte sich heran, wollte Siegfried helfen, und dann war er wohl froh, daß er selbst saß, rieb sich die Augen, wischte sich im Gesicht herum, deutliche Zeichen einer unüberwindlichen Müdigkeit. Mein Gott, jetzt ersticken wir auch noch, dachte Siegfried. Das ist der Anfang. Menschenskind, warum kommen die noch nicht bald durch? Er lauschte, aber er hörte nur das Plätschern des Wassers. Kein Bohren, nichts. Doch dann kamen wieder Morsezeichen, dieses leise Singen in der Preßluftleitung. Er raffte sich auf, drückte das linke Ohr an die Leitung und lauschte. Ein Teil dessen, was sie dort durchgaben, verstand er noch. Wir sind nicht mehr weit von euch entfernt, hieß es da. Ich muß ihnen antworten, irgend etwas muß ich ihnen sagen. Aber ich kann nicht mehr, meine Arme sind wie von Ketten gehalten, ich kriege sie gar nicht hoch. Ich kann nicht… Er lehnte sich mit dem Kopf an die kühle Leitung und träumte. Er spürte diesen Übergang vom Wachen zum Schlaf überhaupt nicht. Auf einmal waren diese Träume da, die Wiese mit den vielen Margeriten und das Kornfeld nebenan, in dem der Wind wie in einem Meer Wellen schlug, goldene Wellen und ein strahlendblauer Himmel darüber mit einer warmen, lockenden Sonne. Und Siegfried hörte die Vögel zwitschern, spürte die frische, wunderbare Luft, die nach Korn roch und nach Äpfeln, nach Gras und nach dem Haar von Inge. Dieser herrliche Geruch ihres Haares, ihrer Haut, und er sah sie, lachend, die Arme ausgebreitet, in einem wehenden Kleid kam sie aus dem Kornfeld heraus mit einem Strauß voll Mohn- und Kornblumen, blau und rot. Und sie lachte, und sie rief etwas, das er nicht verstand. Sie kam auf ihn zu, und er selbst sah sich am Boden liegen, blickte zu Inge auf, die ihn anlachte und ihm die Blumen entgegenreichte. Er wollte danach fassen, aber es war, als seien seine Hände festgekettet. Er vermochte sie nicht zu bewegen. Und plötzlich veränderte sich das Gesicht. Er sah, daß es gar nicht Inge war, die über ihm stand, sondern der Steiger Watuschek. Und der Himmel war auch
nicht mehr blau, sondern grau, und Siegfried fror, und er hörte Watuschek sagen: »Du mußt schwimmen, Sigi, du mußt schwimmen!« Er erwachte jäh und spürte, daß ihm das Wasser bis zu den Hüften reichte, aber zugleich war diese Schwäche, diese bleierne Müdigkeit. Er wollte einfach aufstehen, aber er war noch nicht mal imstande, die Hand zu heben. Wenn ich hier sitzen bleibe, gehe ich kaputt. Wo sind die anderen? Er konnte nichts erkennen. Die Lampe ist aus, dachte er, die Batterie leer. Vielleicht Kurzschluß, weil ich im Wasser gesessen habe. Aber dahinten ist doch ein Licht. Wer ist das? Es war ganz still, bis auf das Patschen des Wassers, aber dann war doch noch ein Geräusch da. Ein ganz fernes Geräusch, ganz leise. Ein Mahlen oder auch ein Rumpeln, eigenartig. Aber es wurde deutlicher, er konnte es jetzt ganz genau hören. Ein Stück entfernt fiel vom Hangenden etwas ab, klatschte ins Wasser. Das Licht hinten kam näher, wieder das Patschen im Wasser. Langsam schaukelte die Lampe heran. Es war Otto-Otto. »Komm her«, hörte Siegfried ihn sagen, »komm hierher, hilf mir. Heini…« Heini ist umgekippt. Siegfried raffte sich noch einmal auf, aber er hatte das Gefühl, Tonnengewichte hingen an seinen Gliedern. Aber er schaffte es. Er tappte bis zu Otto-Otto hin, der sich über etwas beugte, was Siegfried zuerst nicht erkannte. Und er dachte: Wieso kommt Heini hierher? Neben dem war ich doch vorhin gewesen, wieso ist Heini hier? »Was is’ mit den andern?« keuchte Siegfried. »Weiß nich’«, erwiderte Otto-Otto mühsam. »Sie bohren, ganz nahe. Vielleicht… kommt… Luft. Wir… ersticken sonst.« Es gelang ihnen, Heini wieder aufrecht zu setzen, daß er nicht ertrinken konnte, der alte Kumpel aber war bewußtlos. Dann setzten sie sich selbst neben ihn und lauschten. Das mahlende Geräusch wurde lauter, dröhnte, und immer öfter fiel vom Hangenden etwas ab. Wenn wir jetzt Pech haben, dachte Siegfried, bricht das ganze Hangende herunter und wir sind erledigt. Sie kommen ungefähr dort heraus, wo das Wasser am tiefsten ist. In dem Schein der Lampe von Otto-Otto konnte er sehen, daß es dort schon so hoch stand, daß es einem Manne bis zum Hals reichen würde. Die anderen, dachte Siegfried, was ist mit den anderen? Was ist
bloß mit meiner Lampe? Wieso brennt die nicht mehr? Das einzige Licht ist die Lampe von Otto-Otto. Wenn die jetzt ausgeht, sehen wir gar nichts mehr. Er schlug an seine Lampe, und da auf einmal, da brannte sie wieder. In ihrem Schein gewahrte er die anderen, die hockten ganz oben im Schotter. Die Kohle blinkte und schillerte im Lichtkegel. Und dort waren sie, Anton Szymanski, Fritz Scheuermann, der auf dem Bauch lag wie ein Toter, Hung Rhee, der als einziger zu ihm hinblickte wie ein Tier, das in die Enge getrieben war. Voller Verzweiflung, vor Angst, oder war es gar keine Angst? War es ein apathisches Auf-den-Tod-Warten? Und Helmut, der dort zusammengesunken hockte, den Kopf auf den verschränkten. Armen. Mein Gott, hoffentlich halten die durch! dachte Siegfried. * Es hatte aufgehört zu regnen. Die Sonne kam durch, aber es war eine weiße, weiteren Regen ankündigende Sonne, die versuchte, die Rauch- und Dunstschwaden zu durchdringen, die im Revier zum Himmel aufstiegen. Noch standen die Pfützen auf der Straße, aber es schien, als zeige der Himmel die Hoffnung, die auch die Menschen erfüllte. Ziska Szymanski stand auf dem Balkon, verhärmt, blaß, übernächtigt. Sie blickte hinüber zu den Fördertürmen der Zeche. Warum, dachte sie, habe ich ihn geschickt? Er wollte blaumachen. Warum habe ich von ihm verlangt, daß er geht? Wegen der Raten. Weil ich Angst hatte, sie könnten ihn entlassen. Weil ich Angst hatte, er könnte arbeitslos sein und das gute Leben wäre vorbei. Weil ich eine Egoistin bin, weil ich nur an mich denke. Mein Gott, was wäre ihm erspart geblieben, was wäre mir, was wäre uns allen erspart geblieben, wenn er blaugemacht hätte? Er hat blaumachen wollen, aber jetzt, jetzt ist er dort unten, schon den zweiten Tag. Es ist Nachmittag, und es wird Abend werden. O Himmel, warum, warum nur habe ich ihn geschickt? Sie hörte ihren Sohn im Zimmer rumoren, und dann kam er zu ihr heraus. »Mutter«, sagte er, »es ist kalt, komm doch rein! So warm ist die Sonne nicht.« Sie schüttelte den Kopf. »Glaubst du, daß er wiederkommt?« »Natürlich«, sagte Andreas, »selbstverständlich kommt er wie-
der. Du hast doch gehört, was die gesagt haben.« Sie schüttelte müde den Kopf. »Gehört, was die gesagt haben. Was die schon sagen! Meinst du, die wüßten alles, die könnten alles? Oh, die waren sogar ehrlich. Eins zu hundert hat der Direktor gesagt, eins zu hundert! Weißt du, was das heißt? Hundertmal kann es danebengehen, und einmal kann’s glücken. Ich glaube nicht, daß es glückt. Ich habe plötzlich solche furchtbare Angst, Angst um Vater.« »Du machst dir Vorwurf e, weil du ihn geschickt hast, nicht wahr?« »Ja, ich habe ihn geschickt, auch deinetwegen. Ein arbeitsloser Anton Szymanski bringt nich’ genug Geld, mein Junge, daß du studieren kannst. Auch wenn sie dir eine Beihilfe geben. Davon lebt einer kaum. Und in deinem Studium hast du wenig Möglichkeit, noch nebenbei zu verdienen. Die Zeit fehlt dir.« »Das ist es ja, Mutter, dann komm’ ich nicht durch die Klausuren, dann ist Schluß mit dem Studium, dann war alles umsonst.« »Wir hätten ihn nich’ schicken dürfen. Wir haben nur an uns gedacht, nich’ an ihn. Aber er muß es büßen. Es war unmenschlich von uns, und eins sag’ ich dir, wenn er wiederkommt, wenn er da wieder rauskommt, dann werd’ ich ihn nie mehr schicken, nie mehr! Was hab’n wir denn vom Leben gehabt, wir zwei? Immer nur gerackert und gerackert und jetzt…« Ihre Worte endeten in einem Schluchzen. Andreas legte seinen Arm um ihre Schultern und versuchte, ihr damit Mut zu machen. Aber er spürte sogleich, wie wenig Sinn das hatte, und wie wenig Erfolg ihm damit beschieden war. Plötzlich sah er Inge, Inge Breuer, die mit dem Fahrrad kam. Sie kam von der Zeche her und fuhr, als müßte sie gegen Rudi Altig antreten. Schon von weitem winkte sie. Sie hielt unterm Balkon an, ließ das Fahrrad einfach umkippen und schrie hinauf: »Frau Szymanski, Frau Szymanski!« Ziska Szymanski gab sich einen Ruck, sah verwirrt um sich und entdeckte dann Inge unten. »Frau Szymanski!« rief Inge. »Sie sind mit der Bohrung fast durch. Nur noch einen Meter davor, hab’n sie gesagt. Und jetzt kommt es darauf an. Wir sollten beten, hat der Direktor gesagt. Beten, daß jetzt nichts dazwischen käme.« »Glaubt er, daß beten hilft?« fragte Ziska Szymanski. »Man kann es versuchen«, sagte Inge. »Meine Mutter glaubt,
daß es hilft.« »Dann will ich beten«, sagte Ziska Szymanski. * Das Dröhnen des Bohrers war so laut, daß es bis auf Heini Breuer alle weckte. Und zugleich wurden sie sich der Gefahr bewußt, in der sie sich befanden. Laufend brachen riesige Stücke vom Hangenden herab, aber all das geschah weiter unten, dort, wo das Wasser am höchsten stand. Und dann, mit einem Male, geschah es. Es war ein Geräusch, als würde etwas gesprengt, als würde ein Riesenbetonklotz zersplittern. Es gab einen Schlag, als ein ganzer Quader vom Hangenden stürzte und ins Wasser fiel, daß es sehr hoch spritzte und zugleich anstieg und die Männer völlig durchnäßte. Und dann war auf einmal nur noch ein Scharren, ein Schaben, zugleich aber kam Luft, frische, sauerstoffreiche Luft. Siegfried zog sich am Preßluftrohr hoch, packte einen Gesteinsbrocken und begann zu klopfen, gab das Zeichen, daß der Bohrer durch war. Kurz darauf wurde das Bohrgestänge zurückgezogen. Zugleich mit der Luft erfolgte auch der Gegendruck und prompt stieg das Wasser nicht mehr so sehr. Dann, eine Stunde später, gelang es, den Pumpenschlauch durchzubringen und von nun an wurde versucht, das Wasser abzuziehen. Als das gelungen war und der Wassereinbruch infolge des ständig zunehmenden Luftdruckes schließlich ganz aufhörte, wurden durch dieses etwa fünfzehn Zentimeter dicke Rohr Lebensmittel und Getränke zu ihnen herabgelassen. Aber was sie vor allen Dingen brauchten, war eine Kreislaufspritze für Heini, denn Heini Breuer ging es schlecht. Jetzt hatte er zwar die Luft, aber sein Kreislauf war kollabiert, vielleicht kam Heini Breuer niemals mehr über Tage. Eine Telefonleitung mit einem Hörer wurde herabgelassen, und von nun an bestand eine direkte Verbindung mit den Rettern. Siegfried nahm die Verbindung auf, sprach über Heinis Zustand, und nach ganz kurzer Zeit hatte er am anderen Ende der Leitung einen Zechenarzt. Und wenig später ließ man Medikamente herunter, unter anderem eine Injektionsspritze. Zugleich wurde eine Lichtleitung herabgelassen, so daß ihr Verlies erleuchtet war und bei Licht war alles besser zu ertragen. Sie hatten zu trinken, zu essen, und sie hatten Licht. Aber Heini Breuer kämpfte um sein
Leben. Er merkte es nicht, denn er war besinnungslos geworden, wieder einmal, und jetzt bemühten sich seine Kumpel, etwas zu tun, was sie im Leben noch nie getan hatten: ihm eine intravenöse Spritze anzulegen. Der Arzt, der nicht sehen konnte, was sie taten, beriet sie über Telefon, und jeder da unten wollte jetzt mithelfen, das zu tun, was nötig war, um Heini Breuer das Leben zu retten. Der Koreaner Hung Rhee zeigte sich als derjenige, der in der Lage war, eine Spritze in eine Vene zu setzen. Und er war es auch, der von nun an den alten Hauer betreute. Heini Breuer kam wieder zu sich, und wie es schien, besserte sich sein Befinden. Er sah den Koreaner an und lächelte, und Hung Rhee, der hilfreiche Asiate, erwiderte dieses Lächeln und sagte: »Du jetzt viel Zeit, du jetzt fertig mit letzte Schicht. Morgen du nix Arbeit, morgen du große Chef, du spazieren, du kucken auf Zeche und denken, ich feiner Mann, ich nix armes Schwein müssen unten herumkriechen. Du jetzt fertig mit Zeche, nix mehr Pütt.« »Danke, Hung«, sagte Heini heiser, »danke dir, Junge!« Otto-Otto reichte ihm den Hörer des Telefons und sagte: »Bedank dich bei dem Doktor oben. Der will sowieso mal mit dir sprechen, will wissen, wie dir’s geht.« Und Heini Breuer langte nach dem Hörer und unterhielt sich mit dem Doktor. Der Doktor schien Witze zu machen, denn Heini lachte, und die anderen lachten auch. Es war ein befreites Lachen. Befreit und befreiend zugleich. Aber sie hatten noch eine lange Zeit vor sich. Zwei Tage dauerte es, bis es gelang, eine zweite Bohrung durchzubringen, die so groß war, daß die Dahlbuschbombe, die einem Torpedo ähnlich war, hinabgelassen werden konnte. In diese Bombe konnte mit etwas Mühe ein Mann schlüpfen, dann wurde sie verschlossen und dieser eine Mann wurde in der Bombe hinaufgezogen. Dann ließ man sie wieder hinab, bis der letzte gerettet war. Sie begannen mit Heini Breuer. Der alte Hauer Heini Breuer, der nur noch einmal hatte einfahren wollen, wurde zuerst herausgeholt. Und als er dann oben im gleißenden Licht der Lampen in der achten Sohle stand, im Querschlag, umringt von Menschen, von Reportern und Kameraleuten, da weinte Heini Breuer. Er weinte vor Glück und sank in die Arme eines Arztes, der bereitstand, um ihm notfalls wieder eine Stärkungsspritze zu geben. Und dann kamen die anderen.
Anton Szymanski, der eigentlich hatte blaumachen wollen, und Fritz Scheuermann, der an seine Raten gedacht hatte. Aber die waren ihm nun nicht mehr wichtig. Er wollte nur noch rauf, raus hier. Und dann holten sie Zievers, Otto-Otto, den Rutschenmeister, der sogar lachte, als er aus der Dahlbuschbombe auf den Querschlag der achten Sohle stieg, und Hung Rhee, der Koreaner, dem man kaum ansah, welche Strapazen hinter ihm lagen. Und schließlich holten sie Helmut Geiger. Zuletzt aber kam Siegfried Lorenz. Sie alle und ihre Gesichter wurden von Tausenden, ja von Millionen von Menschen im Fernsehen gesehen, denn das Fernsehen übertrug, wie die Männer oben aus Schacht 2 aus dem Korb stiegen, wie sie sich oben auf der Brücke des Förderschachtes zeigten, und wie sie begleitet von Hunderten von Bergleuten, von Verwandten und auch von Männern anderer Zechen, die zu den Rettungstrupps gehört hatten, zur Kaue geleitet wurden. Allerdings einer war da nicht mehr dabei, den hatten sie im Krankenwagen weggefahren, obgleich er darin nicht liegen mußte, sondern sitzen konnte. Aber die Ärzte hielten es doch für besser, ihn zur Beobachtung ins Knappschaftskrankenhaus zu bringen: Heini Breuer. Siegfried Lorenz aber hatte einen Menschen gesehen, auf dessen Wiedersehen er so sehr gehofft hatte. Und nun war es in Erfüllung gegangen. Ein Gesicht, das ihm in den bangen Stunden unter Tage so oft erschienen war. Und jetzt ging er hin, ging hin zu Inge, die einfach da stand, die nicht imstande war, nur ein Wort zu sagen, die vor Aufregung zitterte, die den Mund geöffnet hielt, als wollte sie schreien vor Glück und doch nicht schrie, die ihn aus ihren großen Augen ansah. Die die Hände ihm entgegenstrecken wollte und es doch nicht konnte, die einfach nur da stand, während er zu ihr ging, seine schwarzen Hände auf ihr schönes Kleid legte, sich zu ihr herabbeugte, so schwarz wie er war, und dann nur ein Wort sagte: »Inge!« Er zog sie an sich, preßte sie an sich und küßte sie so leidenschaftlich, daß die Menschen, die es sahen, begeistert klatschten. Dieses Bild sahen auch sehr viele Zuschauer vor den Fernsehschirmen in Deutschland. Sie sahen zwei glückliche Menschen, wie ein Sinnbild dafür, daß man nie die Hoffnung aufgeben sollte. Siegfried Lorenz ging nicht mit in die Kaue, um sich zu waschen. Er war auf einmal verschwunden. Niemand wußte, wo er hinge-
gangen war. Aber dann sah irgend jemand ein rotblondes Mädchen mit einem zerknautschten, mit Ruß beflecktem Kleid zusammen mit einem schwarzen Bergmann auf ein Motorrad steigen und davonfahren. Und dieses Motorrad fuhr aus der Stadt heraus, immer weiter, bis auf eine große Wiese. Und während die Sonne diese Wiese im satten Grün erscheinen ließ, gingen zwei Menschen, ohne auf ihr Äußeres zu achten, Arm in Arm über diese Wiese. Schweigend und beseelt von ihrem Glück. Dann blieben sie stehen, sie lauschten dem Zwitschern der Vögel, blickten über die Weite des Landes bis hinüber zu den Schloten der Stadt. »Ich bin so glücklich«, sagte Inge. »Sprich nicht«, erwiderte er und zog sie an sich. Und er murmelte ihr ins Ohr: »Das Leben ist herrlich, weißt du das? Das Leben ist wunderschön!« ENDE In vier Wochen erhalten Sie den packenden Inferno-Roman Nr. 5: Der Tod ist heller als die Sonne Kurt Brand berichtet von einem atomaren Unfall, den jeder Wissenschaftler für unmöglich gehalten hatte. Der Reaktor war idiotensicher. Als es passierte, verloren alle Betroffenen den Kopf. Niemand konnte mehr verhindern, daß der Reaktor durchging. Diesen packenden Inferno-Roman bekommen Sie bei Ihrem Zeitschritten- und Bahnhofsbuchhändler.