DAVID LIVINGSTONE
K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTUBKUNDLICHE
OTTO
H...
9 downloads
320 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
DAVID LIVINGSTONE
K L E I N E
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTUBKUNDLICHE
OTTO
HEFTE
ZIERER
LIVINGSTONE AFRIKAFORSCHER
UND
MENSCHENFREUND
VERLAG SEBASTIAN
LUX
MURNAU • MÜNCHEN • INNSBRUCK . BASEL
Is David A händlers aus
Livingstone, Sohn eines armen schottischen KleinBlantyre hei Glasgow, zehn Jahre alt wird, beginnt für ihn das Leben eines Erwachsenen. Von sechs Uhr in der Frühe bis abends um acht steht er im Getöse einer Spinnereihalle und nimmt mutig die Mühsal des Lebens auf seine Schultern. Aber in dem Knaben, der sich an der Maschine abrackert wie die Großen, glüht ein Funke, der mit zunehmenden Jahren zur hellen Flamme wird. David Livingstone will sein Teil dazu beitragen, daß diese Welt lichter, besser und menschlicher wird. Daß man diese Absicht nur dann mit Aussicht auf Erfolg verwirklichen kann, wenn man ein höheres Maß an geistiger Bildung besitzt, ist dem strebsamen Arbeiterjungen klar, und so raubt er sich die Freizeit an den Abenden und Sonntagen, um sich unter unsäglichen Entbehrungen das fehlende Scliulwissen anzueignen. Im Selbststudium bis in die Näclite lernt er Latein und Mathematik, aus alt erworbenen Fachbüchern gewinnt er erste Einblicke in die Naturwissenschaft und die Weltzusammenhänge. Sein Lebensziel ist schon früh gesteckt: Er will Arzt werden, um in einem der Notgebiete der Welt tätig sein zu können. Eines Tages glaubt er sich genügend vorbereitet und beginnt an der nahegelegenen Universität Glasgow das Medizinstudium. Davy wohnt in einem Zimmer, das zweieinhalb Schillinge wöchentlich kostet; diese paar Schillinge und das Geld für die kärgliche Kost, für Bücher und Vorlesungen verdient er sich durch Fabrikarbeit in der Heimat und in der Universitätsstadt. Das ärztliche Studium ergänzt er schon bald durch das Studium der Theo-, logie, weil ihm bewußt wird, daß, wer den Leib heilen will, die Seele nicht vergessen darf. Mit siebenundzwanzig Jahren erlangt er die Doktorwürde. David Livingstone hat sich schon seit langem ein Arbeitsfeld ausersehen: China mit seinen notleidenden Menschen. Da aber in dieser Zeit der Opiumkrieg Englands gegen das Reich der Mitte wütet und die Abneigung der Chinesen gegen die „weißen Teufel", in erbitterten Haß ausartet, muß er sich ein anderes Ziel für seine menschenfreundlichen Absichten suchen. Dem jungen Arzt begegnet in dieser Zeit der Afrikamissionar Robert Moffat, der als Mitglied der Londoner Missionsgesellschaft den Bantunegern in Südafrika das Evangelium predigt. Diese Begegnung wird David Livingstone zum Schicksal. Er beschließt, in den Dienst der Gesellschaft zu treten, um in Afrika zu wirken. 2
Immer wieder ein neues Haus . . .
I
m Frühjahr 1840 geht David Livingstone in Port Glasgow in Schottland an Bord eines Seglers, dessen Ziel Südafrika ist. Drei Monate dauert die überfahrt, Livingstone nutzt sie aus, um die vielfältigsten Erfahrungen zu sammeln. Der Kapitän des Schiffes bringt ihm bei, wie man sich nach den Gestirnen orientieren kann, ein Wissen, das ihm später im Innern des unerforschten Erdteils, für den es noch keine zuverlässigen Karten gibt, äußerst nützlich sein wird. In Port Elizabeth an der Südküste Afrikas geht Livingstone an Land*. Ohne Aufenthalt setzt er seinen Weg mit dem Ochsenkarren fort. Tag um Tag schwankt das grobe Gefährt, von vier Paar Ochsen gezogen, die ausgetrockneten Flußtäler entlang,' durch die Tandjesberge und am Großen Kompaßberg vorüber, ins Tal des Großen Fischflusses. Das Land ist ungeheuer groß, wild und von urtümlicher Schönheit. Als sie endlich jenseits der Küstengebirge das hochgelegene, heiße .Veldt' erreichen, die große Jagdebene des Burenvolkes, betreten die Reisenden die wellige, von Horizont zu Horizont mit strohfarbenem Gras bedeckte Steppe mit ihren Herden weidender Strauße, Antilopen, Springböcke, Zebras und Giraffen. Nur selten trifft man auf eine burische Farm oder auf ein Bantudorf. Wo eine Ansiedlung sich ausbreitet, mischen sich die braunen und grauen Punkte weidender Rinder-und Schafherden in das Gewimmel der Steppentiere. Nach wochenlangem Treck langt der Reisende an den Furten des Oranje- und des Vaalflusses an. Die Ströme werden überquert. Nordwärts, auf der entlegenen Missionsstation von Kuruman, erwartet Robert Moffat den Freund aus der Heimat. Es ist ein herzliches Wiedersehen. Der örtliche Bantuhäuptling gibt ein großes Tanzfest für den weißen Mann. Aber auch hier hält sich Livingstone nicht lange auf. Allein dringt er bis an den Rand der riesigen Kalahari-Wüste vor, die mehr als eine Million Quadratkilometer des südafrikanischen Bodens bedeckt. Das Bantudorf Lepelole wird Livingstones vorläufiger Aufenthaltsort. Er wendet all seinen Eifer darauf, den Dialekt und die Lebens- und Denkweise der ansässigen Bantu zu erlernen. Er lehrt die Schwarzen Bewässerungsgräben von den Gebirgsbächen abzuleiten und die bisher dürren Felder in fruchtbare Paradiese zu verwandeln. Da sich schnell verbreitet, daß
* Auf der Afrikakarte Seite 17 sind die Reisewege Livingstones eingezeichnet
3
der neue Missionar ein großer Arzt und Helfer ist, holt man ihn zu den Verletzten und Kranken im weiten Umkreis. Wenn nicht die Regenzeit die Pfade grundlos macht, zieht Livingstone mit dem Ochsenkarren durch das Land. Seinen Gefährten imponiert er durch seine körperliche Gewandtheit, er ist ein vorzüglicher Reiter, Schwimmer, Marschierer, Jagdschütze und geschickt in allen Handwerkskünsten. Später erzählt er darüber seinen Freunden: . . . „ich besuchte Kranke, besserte Flinten und Wagen aus, flocht Teppiche und Schuhzeug, hielt medizinische Vorträge und unterrichtete die Eingeborenen, die Missionare werden wollten. Meine Mußestunden verwendete ich zu wissenschaftlichen Sammlungen, die nach der Heimat verschickt wurden; daneben studierte ich die giftige Tse-Tse-Fliege und das mörderische Fieber, das sie h e r v o r r u f t . . . " Eines Tages kampiert Livingstone nahe einem Bantudorfe, als er unter den Rädern seines Ochsenkarrens kauernd ein verschüchtertes, achtjähriges Mädchen findet. Die Kleine ist ihrer Familie entlaufen, als sie heimlich mit anhörte, wie ein dicker Neger über den Preis feilschte, der für sie verlangt werden sollte. Mitleidig gibt Livingstone dem Mädchen zu essen und zu trinken. Das Kind blickt ihn mit großen, schwarzen Augen an und beginnt plötzlich haltlos zu weinen. Es ist offenbar, daß die erste Begegnung mit Menschlichkeit und Güte die kleine Seele gänzlich erschüttert hat. Für Livingstone ist dieses Erlebnis wie ein Anruf: Afrikas seit Jahrhunderten gequältes Herz klagt aus den Kinderaugen und ruft nach der helfenden Hand. Es gelingt dem Missionar, das Kind loszukaufen, er sendet es in die Schule nach Kuruman zu seinem Freunde Moffat. Er möchte all diesen von der Sklaverei bedrohten Kindern helfen, aber er ist zu arm dazu; die Londoner Missionsgesellschaft kann ihm als Gehalt nur neunzig Pfund — etwa 1800 Mark im Jahr — bezahlen. Nach drei Jahren Aufenthalt in dieser Gegend verläßt Livingstone sein neugebautes Häuschen und geht nach dem Dorfe Mabotsa. Er hat die Tochter des Missionskollegen Moffat geheiratet und will sich nun eine eigene Station errichten. In Mabotsa — fast 200 Meilen nördlich von Kuruman — baut er sich mit eigenen Händen ein Haus, legt Gärten und Pflanzungen an, läßt neue Bewässerungsgräben ziehen und erwirbt auch hier bald das Vertrauen der Bantu. Hier geschieht es ihm, daß ein verwundeter Löwe, den er mit seinen Dorfleuten jagt, über ihn herfällt und ihm den linken Arm zerfleischt. Von diesem Abenteuer trägt er Verletzungen davon, die seinem linken Schul4
tergelenk zeitlebens anhaften und die nach Jahr und Tag dazu dienen werden, seinen beinahe unkenntlich gewordenen Leichnam zu identifizieren. Aber auch Mabotsa ist nicht der Friede. Ein ehrgeiziger W e i ßer taucht auf, es gibt ständig Eeibereien mit den Buren von Transvaal drüben, die immer weiter nach Westen vordringen und den Bantus Wasserstellen und Weidegründe fortnehmen. Die nächste Station Livingstones ist das Dorf Tschonuane, das von dem Stamm der „Krokodilleute" bewohnt wird. Der Unterhäuptling Setschele ist sehr aufgeschlossen, er verspricht Christ zu werden und will auch seinen Leuten den Obertritt zum neuen Glauben befehlen. Als Setschele wirklich getauft wird, büßt er gewaltig an Autorität ein, weil er als Christ nur mehr eine einzige Frau behalten darf. Ein Häuptling mit nur einer Frau aber gilt als arm und machtlos. In Tschonuane baut sich Livingstone abermals ein Haus, denn er hat ja nun Weib und Kind. Aber schon im Jahr der Fertigstellung bricht eine jener Dürreperioden an, die in Afrika zeitweise ganze Landstriche entvölkern. Als selbst die „Regenmacher* nicht helfen können, brechen die Bantu ihre Hütten ab, treiben die Rinder und Schafe dem wasserreichen Osten entgegen und stoßen auf burische Wachtkommandos. Die Buren sagen: „Einige von euch wollen wir als Viehhirten und Mägde behalten, aber die Mehrzahl soll schleunigst dorthin gehen, woher sie gekommen sind!" Das Land, aus dem sie gekommen sind, aber ist die von rotglühendem Staub überwehte Trockenzone am Rand der Kalahari wüste! Der Stamm der „Krokodilleute" beginnt sich aufzulösen. Mit einer winzigen Gruppe geht Livingstone 70 Kilometer nordwärts nach Kolobeng, wo er abermals siedelt. Der alte Kreislauf hebt von vorne an: bauen, graben, bewässern, pflanzen, ernten; heilen, reparieren, sammeln, studieren, lehren und predigen. In Kolobeng lebt der Missionar fünf Jahre. Hier erfährt er die Freuden des Familienlebens, hier wachsen seine Kinder auf. Und dann bricht aus dem bleiernen afrikanischen Himmel die fiebrige Hitze herab, die Dürre läßt die Flüsse austrocknen, die Quellen versiegen und die Pflanzen sterben. Die Bantu von Kolobeng verlaufen sich. Die einen suchen Unterschlupf bei den Burenfarmern des Ostens, andere werden zu - nomadisierenden Jägern, die Weiber ziehen heuschreckensammelnd in die Steppe. Plötzlich sind Doktor Livingstones neugebaute Schule und Kirche wie leergefegt. 5
In diesen Tagen des Zusammenbruchs erzählt ihm ein Bantujäger, was schon vorher als Gerücht an sein Ohr gedrungen war: daß die Kalahariwüste gar nicht, wie man in Europa glaubte, das ganze zentrale Afrika überdeckt, sondern daß sie nach einiger Zeit ein Ende hat und daß sich jenseits, im Norden, der große Süßwassersee Ngami ausdehnt und gewaltige Ströme das Land durchteilen, an deren Ufern mächtige Völkerschaften hausen. Der Zufall fügt es, daß eben um diese Zeit in der Missions-,; Station Kolobeng Botschaft eines Häuptlings vom Ngamisee — jenem sagenhaften Süßwassersee des Nordens — eintrifft. Der Häuptling hat von dem berühmten Zauberer und Medizinmann gehört und lädt Livingstone ein, zu ihm zu kommen. W ä h r e n d der Missionsarzt die Vorbereitungen für die Wüstenreise trifft, zieht von Kuruman herauf die Expedition zweier Freunde, Mr. Murray und Mr. Oswell. Sie kommen mit 80 Zugochsen, 20 Pferden und 25 schwarzen Dienern nach Kolobeng, und sie sind sofort bereit, den Vorstoß Livingstones in den unbekannten Norden mitzumachen. Am 1. Juni 1849 brechen sie auf. Vor ihnen liegen ungeheure Weiten voller Gefahren, Landstriche von der Größe europäischer Staaten, in die nie vordem ein Weißer seinen Fuß gesetzt hat.'
Livingstone erkennt die Aufgabe . . . Tagelang knarren die Ochsenwagen durch die vor allem im Süden steinige, von Dornbüschen und harten Grasnarben bedeckte Einöde. Die Sonne glüht von dem sandfarbenen Himmel, die Horizonte dehnen sich endlos hinaus in die Schleier, die Staub und zitternde Glut um die Ferne weben. Die Pferde traben kopfhängerisch über die immer sandiger werdende Ebene, brüllend vor Durst trotten die Ochsen dahin. Unter Führung eingeborener Pfadfinder zieht die Expedition von Wasserloch zu Wasserloch, aber manchmal vergehen Tage in der Bedrohung des Verdurstens, ehe eine Stelle entdeckt wird, an der man nach mineralisch schmeckendem, trübem Wasser graben kann. Luftspiegelungen führen mehr als einmal in die Irre. Endlich — nach Wochen — stoßen sie auf einen Fluß, auf dem sie schneller vorankommen. Bantudiener Oswells fahren voraus und melden, sie hätten nicht weit entfernt Buschwald, Schilf und kreisende Schwärme von Sumpfvögeln gesehen. Die Wüstenwanderer sind am Ziel: Das Gebiet des Ngamisees ist erreicht.
6
L
Eine Insel in der nordöstlichen Kalahari, so liegt die Senke und der graugrüne Buschwald vor ihnen. Der schill'bedeckte W a s serspiegel des Ngamisees gleißt in der Sonne, an den Ufern stehen die Kegelhüttendörfer eines Bantustammes. Die Entdeckung diedes Sees ist die erste große Forschertat Livingstones. Aber der Häuptling, der die Weißen empfängt, ist keineswegs so freundlich, wie die Botschaft es erwarten ließ, die er nach Kolobeng gesandt hat. Er braucht einen Arzt und Zauberer, er will Gewehre, Messer, Glasperlen und Kattun. Als Livingstone zu erkennen gibt, daß er noch weiter nach Norden ziehen möchte, betrachtet er ihn und die anderen Europäer als seine Gefangenen. Trotz der Einengung ihrer Freizügigkeit erfahren die Forschungsreisenden im Dorfe der Neger des Ngamisees Näheres über das afrikanische Land weiter nördlich; sie hören von einem großen Strom, von gewaltigen Urwäldern, von baumbestandenen Höhenzügen und fruchtbaren Tälern, in denen es von Menschen wimmeln soll. Livingstone und' seine Gefährten müssen sich aus dem Lager der Ngamileute fortstehlen. Sie kehren nach Kolobeng zurück, rüsten eine neue Expedition aus und ziehen ein zweitesmal durch die Kalahariwüste. Diesmal führt Livingstone auch seine Frau und seine drei Kinder mit. Ziel ist jener mächtige Strom, von dem er vor Jahresfrist am Ngamisee gehört hat. Und eines Tages stehen sie tatsächlich an den waldumrauschten Ufern eines großartig dahinströmenden Wassers, das sich wie eine riesige Schlange durch Urwälder und Savannen dahinschiebt: Es ist der Dschobe, der sich, wie sie bald schon erfahren sollen, weiter unterhalb mit dem Sambesi vereinigt. Hinter einer Biegung des Stromes schießen lange, schmale Boote hervor, die von Speeren starren. Silbern glitzernd erheben sich die Paddel an den Seiten der Einbäume, jedes Boot faßt mindestens 30 Krieger. Seltsam ist der dumpfe Rhythmus des Gesanges, drohend klingt das Rollen der Trommeln. Aber die Makololoneger, die hier Flußwacht an den Toren ihres Reiches halten, sind friedlich gesinnt und bringen die Weißen unter hohen Ehren in das große Dorf Linjanti. Krieger mit seltsamen, federgeschmückten Pelzmützen,' behängt mit Amuletten, Leopardenzähnen und Fellgewändern, stehen am Ufer. Sie halten die hohen, ovalen Schilde, die mit Leder b e spannt und mit wilden Ornamenten bemalt sind, vor die Leiber, stoßen die Speere im Takt auf den gestampften Boden und beginnen sich tanzend in den Hüften zu wiegen.
7
„König" Sebitwane empfängt Livingstone und seine Begleiter als Freund. Schon am ersten Sonntag hört der Häuptling die Messe und äußert den Wunsch, in der christlichen Lehre unterrichtet zu werden. Ein unglücklicher Zufall will es, daß Sebitwane wenige Tage später an einer Lungenentzündung erkrankt und sich zum Sterben niederlegt. Sebitwanes letzte Worte gelten Livingstones kleinem Sohn: „Bringt ihn ins Frauenhaus", sagt er, „und gebt ihm Milch!" Die Nachfolgerin des Verstorbenen, seine Tochter Mamots"chisane, erlaubt den Fremden, jeden beliebigen Teil des Landes zu besuchen. So brechen Livingstone und Oswell auf und gelangen Ende Juni 1851 an den Sambesi, den man zwar in seinem Küstenteil kennt, dessen Entdeckung hier inmitten des Erdteils aber niemand erwartet hat. Doch Livingstones Pläne zielen weiter. Er sitzt in einer der primitiven Schilfhütten seinem Freunde Oswell gegenüber, von draußen dringt der monotone Song der Neger. Kurz vorher hat der Doktor bestürzt die bunte Bastmatte am Eingang niederrollen lassen. Am Ufer wurde eine Sklavenkarawane zusammengestellt. Zum Abmarsch bereit standen ein paar Dutzend kräftige, schwarze Burschen und Mädchen, man hatte sie mit Biemen gefesselt und in doppelte Astgabeln gespannt, so daß auf dem Weg zu den Tauschplätzen — man h a n delte Kleidungsstücke, Vieh, Elfenbein und Waffen gegen die Sklaven ein — immer ein paar dieser armen Menschen im Abstand der Äste hintereinandergehen mußte. „Solange dies da draußen geschehen kann", sagt Livingstone,' „kann ich nicht froh werden. Bedenken Sie, Oswell: Mitten im aufgeklärten 19. Jahrhundert geschieht es noch immer, daß Menschen andere Menschenkinder wie Vieh verkaufen!" „Leider hat der verstorbene Häuptling Sebitwane selber diesen Handel begonnen", erwidert Mr. Oswell. „Heute ist Mpepe der Antreiber, ein Verwandter des Häuptlings, der als angesehener und reicher Kaufmann großen Einfluß bei den Makololonegern besitzt. Was sie brauchen: Kattun, Stahlwaren, Glasperlen, Töpfe und Waffen, beziehen sie von Mpepe. Und Mpepe wieder kauft es bei den Händlern an der Küste gegen die Männer, Frauen und Kinder, die er ihnen als Sklaven zuführt. Das ist der feststehende Kreislauf, Davy! Sie sollten die verantwortlichen Männer des Stammes taufen, das wäre ein Anfang für die Erziehung der Makololol'i Livingstone blickt grübelnd auf den hartgestampften Hüttenboden. „Ich glaube nicht, daß das der richtige Weg wäre, Os-
8
Neger werden im tropischen Regen zum Sklavenmarkt getrieben
well. Taufe und Christentum dürfen nicht der Beginn, sondern müssen das Ergebnis unserer Erziehung sein. Bei Gott! Europa hat die Pflicht, diesen in Dunkelheit und Grausamkeit dahinvegetierenden Völkern Afrikas zu helfen. Aber die Umwandlung Afrikas kann meiner Überzeugung nach nicht damit beginnen, daß wir den Negern gleich das Evangelium bringen und sie zur Taufe führen, die sie unvorbereitet ja doch nur für Zauber halten würden. Wenn wir die Menschen hier zu christlicher Milde führen wollen, muß es unsere erste Aufgabe sein, für gesunde Lebensverhältnisse zu sorgen, damit der Sklaverei, dem Sklavenhandel und der Sklavenjagd der Nährboden entzogen wird. Nicht minder grausam erscheint mir die blutige und gnadenlose Kriegsführung unter den verfeindeten Stämmen, die bei Freund und Gegner zur Menschenschlächterei geworden ist.", „Hier Wandel schaffen zu wollen — ist das nicht ein hoffnungsloser Gedanke, Davy?" „Nein, ich glaube, daß hier etwas geschehen kann. Man müßte diese Häuptlinge durch die Tat davon überzeugen, daß Handelsverkehr besser als Krieg, Produktion wertvoller als Raub und Überfall, und ehrlicher Markt mit den Erzeugnissen des Landes, mit Elfenbein, Straußenfedern, Fellen, Nüssen, Holz und Matten auf die Dauer segenbringender sind als Sklaverei, Sklavenhandel und Hinmordung von Gefangenen. Handel und Wandel zwischen den Stämmen würde sie erkennen lassen, daß sie voneinander abhängen und wechselseitig einander nützen können. Wir, Sie und ich und alle Weißen, haben die Aufgabe, hier helfend einzugreifen, damit auch die Neger in die große Völkerfamilie der Menschheit eingegliedert werden.'' „Ich achte Ihre Gesinnung, Davy!" entgegenet Mr. Oswell. „Nur die Frage bleibt: Wie soll das geschehen?" Livingstone erhebt sich und beginnt erregt auf und ab zu gehen. „Mir sind die Wege ganz klar, Oswell: Man muß zuerst die geeigneten Handelspfade zum Atlantik oder zum Indischen Ozean erkunden und ausbauen. Gibt es erst Straßen für den Handel, dann wird es auch ehrlichen Handel geben. Handel wird die Neger für die neue Lebensordnung gewinnen und ihre Herzen aufgeschlossener machen. Dann kommt auch die Zeit, die Ideen des Evangeliums auszusäen und die Fackel der Menschlichkeit anzuzünden!".
10
Häuptling Sekeletu Mit diesem neuen Ziel im Herzen erkennt Dr. Livingstone, daß er seinen Weg unbeschwert von der Sorge um seine Familie gehen muß. Abermals kehrt er um, führt seine kleine Reisegesellschaft nach Süden und geht nach Kapstadt, wo er seine Frau und die Kinder auf ein nach England auslaufendes Schiff bringt. Nun ist er allein und kann sich ganz seiner Aufgabe widmen. Er wird noch mehr als bisher Pfadfinder der Menschlichkeit sein. Als er wiederum mit wenigen Begleitern unterwegs nach Norden ist, hört er, daß sich inzwischen Entsetzliches zugetragen hat. Diesmal sind Buren die Unheilstifter gewesen. Der neue Vorsitzende des burischen Volksrates von Transvaal, Pretorius, ist mit einem Aufgebot von 600 Reitern und 700 schwarzen Kriegern zur Missionsstation Kolobeng vorgestoßen und hat Dorf und Station niedergebrannt. Mehrere Dutzend Menschen sind getötet, viele als Gefangene entführt worden, die Buren haben die Werkstatt, die Lagerhäuser, die Schule und die Kirche zerstört und das W o h n haus Livingstones ausgeplündert. In einem Tagesbefehl behauptet Pretorius, man habe in Kolobeng zahlreiche Gewehre und viel Munition gefunden, mit denen die Missionare die Bantu gegen die Buren bewaffnet hätten. An alledem ist kein wahres Wort. Die Negerdörfer der ganzen Umgebung sind in höchster Aufregung. Kommandant Scholtz, der Unterführer des Präsidenten Pretorius, ist mit den angeblichen Beweisstücken nach Bloemfontein geritten, um dem dortigen britischen Kommissar Bericht zu erstatten. Die Neger erzählen allenthalben, die Buren trachteten Doktor Livingstone nach dem Leben und würden ihn hängen, wo immer er in ihre Hände fiele. Der Doktor ist rechtzeitig gewarnt und erreicht am Rand der Kalahariwüste entlang ungefährdet erneut das Wohngebiet der Makololos am Tschobestrom. Baumstammtrommeln rasseln und tragen die frohe Kunde von Livingstones Rückkehr durch die Wälder. In der Häuptlingsstadt Linjanti, wo inzwischen der achtzehnjährige Sekeletu die Herrschaft übernommen hat, gibt es große Palaverfeuer, Tänze, gebratene Ochsen und nächtliche Gesänge; kurze Zeit verweilt Livingstone bei seinen Freunden, u n terweist sie, ist ihr Arzt und Ratgeber. Dann bricht er in Begleitung Sekeletus und einer wohlbewaffneten Kriegerschar nach Südosten auf. In den langen ausgehöhlten Baumstammbooten der Makololos paddeln sie den Tschobe hinab zum Sambesi, dem sie aufwärts folgen. 11
Welch ein Gewässer! Mehr als zwei Kilometer in der Breite dehnt sich der schmutziggraue, dumpfrauschende Strom. Wenn die langen Boote den Luftwurzeln und überhängenden Riesenbäumen des Sambesiufers nahekommen, erheben sich gewaltige Flußpferde aus dem Schlamm; in stillen, von Lianen und Moosvorhängen verhüllten Buchten tummeln sich Herden badender Elefanten. Ihr trompetendes Gebrüll läßt Wolken von Wasservögeln emporschwirren. Man könnte glauben, die glitzernde Straße des Stromes führe mitten durch das Paradies der Urzeit, wäre nicht immer die Erinnerung lebendig, daß diese wuchernde, romantische Kulisse u n selige menschliche Zustände verdeckt. An einem der Abende, als die Sonne jählings rotflammend hinter die düsteren Kronen der Sykomoren und Affenbrotbäume sinkt und die schwarzen Gefährten Livingstones das Lager aufschlagen, erhebt sich jenseits des Waldsaumes klagender Gesang vieler Stimmen. Eine Sklavenkarawane zieht durch die Uferwildnis stromab. Im Lichte der Fackeln sehen sie die Unglücklichen daherkommen: Frauen, junge Männer und Mädchen mit den üblichen Astgabeln um die Hälse. Von den gebundenen Armen laufen dünne Ketten und Lederriemen zu denen des Hintermannes. In langer Reihe trotten sie hintereinander, auch die Kinder sind mit Halsfesseln in die lange Kolonne eingereiht. Nebenher gehen fluchend und drohend die gedungenen Wärter. Der Transport gehört, wie sie bald erfahren, Mpepe, dem finsteren Häuptlings-Halbbruder Sekeletus. Anderntags stoßen Mpepes und Sekeletus Scharen an demselben Lagerplatz zusammen. Mpepe trachtet seinem Halbbruder offenbar nach dem Leben. David Livingstone deckt seinen Freund Sekeletu mit dem Leibe, als sich die Hand des Mordgierigen gegen ihn erhebt. Angesichts der Krieger Sekeletus gibt Mpepe murrend seine Sklaven frei. „ W i r werden nach Linjanti zurückkehren müssen", sagt Sekeletu anderntags. „Wahrscheinlich wird es zum Kriege mit Mpepes Vater kommen." „ W a r u m soll es Krieg mit ihm geben?" „Mpepe ist nämlich sehr tot", grinst der Häuptling. „Ich habe gehört, daß er gestern in den Fluß gestürzt ist, wo ihn ein u r altes Krokodil gefressen hat.". Livingstone ahnt die wahren Zusammenhänge. Man wird Mpepe nächtlings mit Speeren getötet haben. Da Mpepes Vater und sonstige Verwandtschaft ihre Anhänger aufbieten werden, um 12
Am 16. November 1855 entdeckt Livingstone dl« Victoria-Fälle des Sambesi
den Tod Mpepes zu rächen, kehrt man eilends nach Linjanti zurück. Die großen Negertrommeln dröhnen und rufen die Speerleute zum Heerbann auf. Am Rande eines Urwaldes treffen die feindlichen Scharen aufeinander. Livinestone, der das Blutvergießen verhüten will, erreicht, daß sich die Anführer zu Verhandlungen zusammenfinden. Die schwarzen Krieger kauern in weitem, speerstarrendem Kreise um das Feuer der Häuptlinge. Plötzlich gibt Sekeletu ein Zeichen, seine Leibwache fällt überraschend über 13
die Verwandtschaft Mpcpes her und durchbohrt sie mit Speeren. Die Leichen werden den Krokodilen vorgeworfen. Da dies geschehen ist und die Lebenden wichtiger sind als die Toten, ergeben sich Mpepes Anhänger in das Geschehene und erkennen Sekeletu als Führer aller Makololo an. Alles endet in Tanz, riesigen Schmausereien und nächtelangen Lobliedern auf den mächtigen „König" Sekeletu. Livingstone freilich ist über die Vorgänge so entsetzt, daß er sogleich den Ort der Greuel verläßt. Aber die Schwarzen begreifen seine Empörung nicht, da sich doch die Dinge zur allgemeinen Zufriedenheit geordnet haben.
Der Weg zur Westküste Livingstone sieht sich erneut in seinen Gedanken bestärkt, daß nur die Erschließung dieses grausamen Landes durch Verkehrsxmd Handelswege all dem furchtbaren Geschehen Einhalt gebieten kann. Der Weg nach Westen, nach Loanda an der Küste des Atlantik, erscheint ihm am aussichtsreichsten. Dort leben zudem viele Europäer, und die Aussicht, wieder einmal Landsleuten zu begegnen, beflügelt Livingstones Gedanken. Sekeletu sagt jede Unterstützung zu, da er selber und der größere Teil seines Volkes sich für Livingstones Pläne zu erwärmen beginnen. Siebenundzwanzig kräftige Krieger werden als Träger ausgewählt. Sie laden sich die kleinen Packen mit Lebensmitteln, Kleidung, Arzneien, Büchern, Perlen, die als Geld dienen, und die wenigen wissenschaftlichen Geräte auf die wolligen Köpfe und traben an die Lände des Flusses, wo die Boote für die Reisenden bereitliegen. Unter lauten Rufen und den dumpfen Gesängen der Ruderer stoßen sie ab und paddeln im Stillwasser der Ufer bis zur Mündung des Tschobc, und dann den Sambesi aufwärts, seinem östlichen Quellfluß Liba entgegen. Häuptling Sekeletu hat durch Trommelsignale all seinen Untertanen in den Dörfern Anweisung gegeben, Livingstone freundlich zu "empfangen. Aber je weiter sie nach Westen vordringen, um so ungemütlicher wird die Fahrt. Jenseits von Sekeletus Machtbereich wohnen wilde Stämme und Völker, die für die Durchquerung ihres Gebietes, die Benutzung von Brücken und Stegen oder das Übersetzen über die zahllosen Wasserläufe unverschämte Tribute fordern. Aus Wäldern und Sümpfen treten phantastisch aufgeputzte Kriegsscharen her14
k.
vor und schwingen drohend Speere und Keulen. Auch die Sklavenjäger sind zu fürchten, die hier auf Menschenfang ausgehen. Wolken von Moskitos hängen über der dampfenden Erde,' Sümpfe, in denen sich der Wasserlauf zu verlieren scheint, versperren den Weg. Stromschnellen blockieren die Weiterfahrt,' und Lasten und Boote müssen meilenweit getragen werden, bis der Strom wieder schiffbar ist. ü b e r Land muß sich Livingstone, der vom Fieber geschüttelt und durch die ungewohnte Ernährung und die Anstrengungen entkräftet ist, zeitweise auf den Schultern seiner getreuen Makololo oder auf Reitochsen durch die giftgrüne Sumpflandschaft tragen lassen. Nach vielen Monaten erreicht die kleine Gesellschaft den Dilolosee, später den Oberlauf des Kassai, eines linken Nebenflusses des unteren Kongo. Der verderbliche Einfluß des portugiesischen Sklavenhandels macht sich bemerkbar. Manche Dörfer schlagen bei Annäherung der Fremden die Trommeln und bewaffnen sich, müssen die Bewohner doch annehmen, daß Sklavenjäger kommen, um die Männer, Frauen und Kinder davonzuschleppen. Unter den Gefahren, Strapazen und Mühen vergißt der Doktor niemals den letzten Zweck seiner Reise. Mehr als einmal begegnen ihm im Buschwald lange Karawanen gefesselter Neger, die von bewaffneten Arabern oder Portugiesen dahingetrieben werden, und mehr als einmal gelingt es seinem bestimmten, energischen Auftreten, die armen Menschen zu befreien. Das mit einem Schloß versehene Tagebuch, das Livingstone mit sich führt, füllt sich mehr und mehr mit den Zeilen seiner feinen, zierlichen Schrift. Tag um Tag sammelt er Nachrichten und Tatsachen. Er vermißt, zeichnet Karten und schreibt seine Beobachtungen über Völker, Klima, Landschaft, Pflanzen und Tiere nieder. Als sie nach fast einjähriger Urwaldwanderung in der Nähe der Atlantischen Küste ein Negerdorf betreten, wird ihnen ihre letzte Habe erpreßt. Livingstone verliert einen großen Teil seines persönlichen Besitzes, aber er rettet sein Tagebuch; die MakololoBegleiter müssen ihre kupfernen Armbänder und ihren Schmuck opfern. Zum Glück begegnen sie bald portugiesischen Siedlern, die sich rührend um sie sorgen. Die Europäer geben Livingstone Wegbegleiter mit, die sie auf sicherem Wege nach Paolo de Loanda, den Hauptort der portugiesischen Kolonie Kongo, führen. Hier, wo die Wälder zurückgetreten sind, öffnet sich eine malerische Bucht, an der die Hafenkais Loandas liegen. Weit draußen blitzt das silberne Schild des Atlantischen Ozeans. Der halbe 15
Kontinent Afrika ist auf Westkurs durchquert. Wird dem Unermüdlichen auch die Bewältigung nach Osten, zum Indischen Ozean hin, gelingen?
„Rauch, der t ö n t . . . " Endlich wieder in einem Bett schlafen! Nach unmenschlichen Entsagungen wieder wie ein Europäer essen, sich baden, sich pflegen können und die Muttersprache sprechen! Im Hafen von Loanda liegen einige britische Kreuzer vor Anker. Kapitäne und Offiziere kommen in Livingstones Unterkunft, bieten ihm freie Überfahrt an — eine große Versuchung nach so schweren Abenteuern und Bedrängnissen, aber der Menschenfreund und Forscher bleibt seiner Aufgabe treu. Nie würde er die getreuen Makololo allein in ihre Heimatdörfer zurückkehren lassen! Und so lehnt er das Anerbieten ab. Die wertvollen Tagebücher und Kartenmappen vertraut er dem Kapitän eines britischen Postseglers an, damit er sie nach Europa bringe.
* Das Fieber fesselt Livingstone monatelang ans Lager. Als er endlich, von den Bewohnern der Hafensiedlung aufs beste ausgestattet, aufbricht, um die Westhälfte des Kontinents in umgekehrter Richtung noch einmal zu durchqueren, wird ihm nach 250 Kilometer Marsch in dem kleinen portugiesischen Kolonialstädtchen Pungo Adongo die Hiobsbotschaft überbracht, daß jenes Postschiff, dem er sein Reisetagebuch und seine Zeichnungen anvertraut hat, vor Madeira gescheitert und mit Mann und Maus untergegangen ist. Jeder andere wäre entmutigt worden, nicht aber David Livingstone. Er entschließt sich, in Pungo Adongo zu bleiben, und schreibt aus dem Gedächtnis alle Aufzeichnungen nochmals nieder, zeichnet die Karten neu und dann erst — nach abermals drei Monaten — tritt er die Rückreise in das Makolololand an.
* Unter unsäglichen Mühen und auf mancherlei Umwegen führt Livingstone seine Negerfreunde nach Linjanti zurück. Jubelnd werden sie in den Dörfern begrüßt. Die schwarzen Reisegefährten stolzieren gleich Fürsten in den bunten Baumwollkleidern und roten Mützen, die ihnen von den Bewohnern Loandas geschenkt 16
Auf dieaen Wegen (schwarz eingezeichnet) zog Livingstone von 1840 bis 1873 durch die Wildnis Süd- und Zentralafrikas. Von Kapstadt bzw. von Port Elizabeth aus erreichte er den Sambesi oberhalb der VictoriaFälle. Von hier, von der Mitte des Kontinents aus, durchquerte er Afrika bis zum Atlantik (Loanda), ansdiließend bis zum Indischen Ozean (Kilimane). Er gelangte am Schiri entlang zum Njassa-See, von Sansibar her längs des Njassa-Sees zum Tanganjika-See und zum Oberlauf des Kongo (Lualaba). In Udschischi fand Stanley den Verschollenen. Livingstone starb am 1. Mai 1873 in Ilala am Bangweolo-See
worden sind, durch die Gassen, und bis in die Nächte hinein erzählen sie von den Abenteuern und Wundern der Expedition, von den „schwimmenden Häusern" und jenem Großen Wasser, „an dem die Welt zu Ende ist". Nicht lange hält es Livingstone in dem Häuptlingsdorf, dann bricht er mit seinem getreuen Gefolge nach Osten zum Indischen Ozean auf, um die Durchquerung des Kontinents zu vollenden. Eine Hilfskarawane von 120 Trägern, mit Schlacht- und Reitochsen und Kühen, die Sekeletu freundlich zur Verfügung gestellt hat, folgt an den Ufern des Sambesi. Zweihundert Kilometer stromab erwartet sie ein ungeheures Schauspiel: Donnerrollen und Rumoren erfüllt die Luft, fern über den Wäldern am Strom steigen fünf himmelhohe Dampfsäulen empor. Das müssen die dampfenden Wasser, die gewaltigen Wasserfälle sein, von denen die Neger erzählt haben. Vorsichtig steuern die Makololo an Land und ziehen die Boote ans Ufer. Als erster Europäer nähert sich Livingstone den größten Wasserfällen Afrikas. „Mosioa T u n y a " — „Rauch, der tönt" — nennen die Makololo das Naturschauspiel. Livingstone notiert in seinem Tagebuch: „Etwa eine halbe Meile oberhalb der Fälle verließ ich mein Kanu, das mich bis hierher getragen hatte, und stieg in ein leichteres um. Männer ruderten es, die mit den Stromschnellen wohlvertraut waren. Wir zogen in die Mitte des eine Meile breiten Stromes hinaus. Geschickt benutzten die Ruderleute die Gegenströmung und die Stillwasser hinter den vielen Felsen und kleinen Eilanden, um mich schließlich an einer Insel, mitten im Strom, an Land zu setzen. Die Kante dieser Insel reichte bis an den Absturz, über den die Wasser des Sambesi in die Tiefe stürzten. Diese Insel zu erreichen, war mit nicht geringer Gefahr verbunden, denn an den Kanten vorbei wurden die Fluten in den Abgrund gezogen. Da aber der Strom niedriges Wasser führte, glitten wir nur eilig dahin, wo bei Hochwasser kein Schiff und kein lebendes Wesen der saugenden Strömung hätte widerstehen können. Wenn ich nun auch die Insel über dem Abgrund erreicht hatte," wenn mich auch nur noch wenige Schritte von dem Orte trennten, von dem aus sich das Rätsel lösen würde, so glaube ich doch, daß noch immer niemand hätte begreifen können, wohin sich der gewaltige Wasserschwall ergoß. Die Fluten schienen sich einfach im Bauch der Erde zu verlieren. Die andere Seite (des Felstrogs, in den der Strom hinunterstürzte, war nur 27 Meter entfernt. Ich verstand erst, was ich vor mir hatte, als ich, Furcht 18
im Herzen, bis an die äußerste Felskante vorkroch. Ich blickte in einen ungeheuren Erdriß hinab, der so lang ist wie der Sambesi breit. Er ist quer über sein Bett gezogen. Die Wasser, die hier oben rechts und links von mir eine Meile breit heranzogen, wurden unten in dem Felstrog auf 12 bis 15 Meter zusammengepreßt . . . Wenn ich die Spalte rechts von meinem Ausguck hinabblickte, sah ich nichts als eine dichte, weiße Wolke, über der zwei herrliche Regenbogen schwebten. Der Wasserstaub wurde hoch und mit großer Gewalt in die Luft geblasen, 70 bis 100 Meter hinauf, wie Dampf aus einem überhitzten Kessel. In der Hohe kondensierte die Feuchte, verwandelte ihre helle Tönung in schwarzen Rauch und rieselte beständig als feiner Regen auf uns nieder . . ." Es ist der 16. November 1855, an dem Livingstone die afrikanischen „Niagarafälle" entdeckt. Er gibt ihnen nach der Königin von England den Namen „Victoria-Fälle"; in einen Baum auf der Insel schneidet er seinen Namen und das Datum ein. Noch heute, nach mehr als 100 Jahren, ist sein Namenszug in der Rinde zu erkennen. Als ihn die Ruderer ans Ufer zurückpaddeln, singen sie in ihrem Bantudialekt das Lied vom großen Wunder des „Tönenden Rauches": '„Der Liambey (Sambesi)! Niemand versieht Woher er kommt, wohin er geht! Wundersam ist die Welt, Und mächtige Geister leben in i h r . . . " Die Karawane verläßt hinter den Wasserfällen den Stromlauf und zieht wochenlang durch die Wälder und Savannen und gelangt endlich in ein fast baumloses, aus rötlichem Sandstein bestehendes Hügelland, über dem saftiggrünes Gras im Winde wogt. Soweit das Auge schaut, Herden von Großwild: die ruhig wie Schiffe dahinziehenden Elefanten, die langen, gefleckten Hälse der Giraffen, die Gnus und ihre Freunde, die Zebras; Antilopen weiden in Scharen, Impalas, Oryx und Springböcke tummeln sich, auf den wuchtigen Buckeln der Wasserbüffel sitzen die Madenhacker. Die Nächte sind klar, funkelnde, riesengroße Gestirne leuchten über den Lagerfeuern. Draußen im Hügelland kläfft der Schakal, heult die Hyäne und donnert das Gebrüll der Löwen. Voller Bedrohungen ist die Reise bergab zur Ozeanküste. Längst liegt das schützende Herrschaftsgebiet Sekeletus hinter ihnen. Kriegstrommeln rasseln in den Bantudörfern, manchmal entrinnt 19
die Schar Livingstones nur mit Not der Feindseligkeit der Neger. Aber was bedeuten Entbehrungen und Gefahren! Von der Karte Afrikas schmelzen die weißen Flecke hinweg, der Forscher bereitet den Pfad für den Arzt, den Wegebauer, Wirtschaftstreibenden, den Missionar. Kurz vor der portugiesischen Station Tete bleibt Livingstone erschöpft und krank im Lager liegen. Einer seiner Makololos fährt stromab, Hilfe zu holen. Und da zeigt sich, welchen Kuf der Forscher bereits erworben hat! Der Kommandant von Tete sendet noch in der gleichen Nacht eine Kompanie Soldaten mit Nahrungsmitteln aus und läßt Livingstone in seine Stadt geleiten. Nach seiner Genesung beschäftigt sich der Doktor eingehend mit den Kultur- und Lebensverhältnissen des Landes und wartet einen Monat auf den Beginn der gesunden Jahreszeit. Der Kommandant schafft inzwischen reichliche Vorräte für die W e i terreise an und stellt drei große Kähne für die Fahrt auf dem Sambesi bereit. Am 22. April 1856 beginnt das letzte Wegstück zum Sambesidelta, zur kleinen Hafenstadt Kilimane. Hier am Indischen Ozean ist die Durchquerung Afrikas abgeschlossen. Livingstone, der 16 Jahre nicht mehr in der Heimat gewesen ist, will für einige Zeit nach England gehen. Seine Makololo bringt er in dem gesund gelegenen Tete unter und verspricht ihnen, wiederzukehren, um sie in ihre Heimat zurückzuführen. Dann schifft er sich auf einem britischen Dampfer nach Europa ein. Weihnachten 1856 will er daheim in Schottland im Kreise der Familie feiern.
Der Verschollene . . . England begrüßt den Forscher mit lauten Ehrungen und Festlichkeiten. Livingstone wird Ehrendoktor, Ehrenkonsul. Die Königin empfängt ihn. Es gibt aber auch Mißgünstige und Besserwisser. Professoren, die niemals afrikanischen Boden betreten haben, bezweifeln die Korrektheit der Aufzeichnungen und Karten Livingstones. Aber der Missionar und Forscher läßt sich nicht beirren. Das Reisebuch, das er in dieser Zeit veröffentlicht, wird zu „einem der schönsten Dokumente männlicher Tatkraft und edelster Menschlichkeit"! Auch sprachlich ist dieses Buch ein Meisterwerk. Als er das Reisebuch abgeschlossen hat, schifft er sich erneut 20
nach Afrika ein. Da seine Aufgaben inzwischen über die eines Missionars hinausgewachsen sind, löst er sich freundschaftlich von der Missionsgesellschaft. Auf dieser Fahrt unterstützt ihn die englische Regierung. Im Frühjahr 1858 ist Livingstone wieder am Sambesi, seine Frau, sein Bruder Charles und fünf andere Europäer begleiten ihn. Dort, in Tete, trifft er auch seine treuen Neger vom Stamme der Makololo wieder. Diesmal kann er für seine Erkundungsfahrten durch die Flüsse und Nebenflüsse ein kleines Dampferchen benützen, das ihm die englische Regierung gestiftet und das er an Deck des Überseedampfers herübergebracht hat. Auf einer dieser Ausfahrten längs des Schiri, eines Nebenflusses des Sambesi, entdeckt Livingstone den 550 km langen Njassasee, dessen Ausfluß der Schiri ist. Es ist der 16. September 1859. Das Njassa-Seegebiet wird von Sklavenhändlern heimgesucht. Allein von den Ufern des Sees werden jährlich etwa 20 000 Sklaven auf die arabischen Märkte von Sansibar gebracht; ungezählt sind die Menschen, die auf den tausend Meilen des Sklavenweges bis Sansibar oder Daressalara elend zugrunde gehen. Immer wieder denkt David Livingstone an das, was ihm als einziger Ausweg aus diesen Verhältnissen erscheint: den ganz Afrika beherrschenden Menschenhandel durch einen geordneten Warenhandel auf noch zu erschließenden Wegen zu ersetzen. So zeichnet er weiterhin Karten, vermißt Strecken und Höhen, sammelt wissenschaftliches Material über die bisher unbekannten Gebiete, um ganz klare Vorstellungen zu gewinnen. Selbst der Tod seiner getreuen Gattin vermag ihn nicht zu beugen und nicht von seiner Aufgabe abzulenken. Er begräbt seine Gefährtin am Ufer des Njassasees im Schatten eines Affenbrotbaumes, kehrt nach England zurück und ruft die Menschheit auf zum Kampf gegen die Sklaverei. Und ein letztes, ein fünftes Mal geht Livingstone auf das unermeßliche Arbeitsfeld, in den „Weinberg des H e r r n " , dem er sein Leben gewidmet hat. Diesmal nimmt seine Expedition ihren Ausgang von der Insel Sansibar, fast in der Mitte der Ostküste, so daß er ins Herz des Kontinents, das zugleich Zentrum der Sklavenjagden ist, vordringen kann. Es ist der 20. Januar 1867, als er in diese berüchtigten Reviere der Sklavenhändler einbricht. Die ausgebrannten Dörfer und die Straßen des Todes und des Hungers erschüttern ihn, die unzureichende Ernährung zehrt an seinen Kräften. Die Neger tragen den Forscher auf dem Trampelpfad zwischen dem glühendheißen, von Staub und Flie21
gen verdunkelten Steppengras dahin. An den Seiten des Weges liegen die Leichen Erschlagener. Grausam ist dieses Afrika, dessen Firmament erbarmungslose Glutwellen ausgießt; grausam ist das Land, das Schwärme von Mücken, Tse-Tse-Fliegen und Bremsen aus seinen Sümpfen speit; grausam sind die Tiere, die unter dem urweltlichen Gesetz von Fressen und Gefressenwerden stehen, am grausamsten aber sind die Menschen, die alles noch schrecklicher machen durch ihre Schlauheit, Tücke und Brutalität und durch die Freude an der Grausamkeit. Jeden Tag muß Livingstone zusehen, wie die indischen Sepoys völlig gefühllos die Lasttiere quälen oder die schwarzen Träger prügeln; er muß es auch hinnehmen, wie die Neger untereinander nach dem Faustrecht behandeln und wie der Stärkere den Schwächeren schindet. Dazu aus der Ferne herüberklagend der Todesgesang ziehender Sklavenkarawanen, die höhnischen Haßausbrüche begegnender Araber. Krank erreicht der Doktor endlich das Hochland und steigt — diesmal von Nordosten her — zu den Ufern des Njassasees hinab. Da ihm die arabischen Sklavenhändler, die in Livingstone ihren Todfeind sehen, kein Boot vermieten, zieht er mit seiner Kolonne am Ufer des Sees entlang. Man hat ihm von dem nordwestlich gelegenen, sehr großen Tanganjikasee erzählt, der noch größer sein soll als der Njassasee; ihn will er nun suchen. Vielleicht hängen die Seen zusammen, vielleicht führen aus ihnen Flußläufe zu den Küsten, künftige Handelswege aus dem schwer zugänglichen Innern. Aber seine indischen Sepoys sind zage. Als sie hören, in den Nordgebieten gebe es kriegerische Negerstämme, reißt einer nach dem anderen aus. Durch Versprechungen der arabischen Händler gelockt, verlassen auch zahlreiche schwarze Träger mit ihren Lasten die Expedition; zuletzt sind nur noch die getreuen Diener Susi und Tschuma und der Begleiter früherer Reisen, der Diener Musa, um den Doktor. Aber auch Musa verläßt ihn. Eines Morgens ist auch er verschwunden, geht an die Küste zurück und meldet in Sansibar dem englischen Konsul, Doktor Livingstone sei von wilden Negerstämmen überfallen, ausgeraubt und ermordet worden. Er — Musa — sei Augenzeuge und einzig Überlebender des Blutbades. Diese erschütternde Kunde durcheilt Afrika und dringt bis nach Europa, wo sie allgemeine Teilnahme erweckt. Aber noch im gleichen Jahre, 1869, erhebt sich Widerspruch, es melden sich ehemalige Reisebegleiter Livingstones, die Musas zweifelhaften Cha22
rakter kennen und die nicht an die Stichhaltigkeit seiner Meldungen glauben. Die Trommeln der afrikanischen Wälder erzählen zudem von einem einsamen weißen Mann, der langsam gen Nordwesten zu einem See namens Tanganjika ziehe. Doch dann schweigen die Gerüchte. Doktor Livingstone ist verschollen . . .
Zwei Jahre später . . . Es ist ein wolkenloser Novembertag des Jahres 1871. die Sonne brennt heiß auf das Dorf Udschischi am Ufer des Tanganjikasees nieder. Von der Lände des Sees erschallen die schnatternden Bufe der schwarzen Fischer, die ihre Netze und Boote ausbessern. In den glühendheißen Gassen hängt der gelbe Staub, blaue Fliegen schwärmen um einen Kadaver, der mitten auf der Dorfstraße verwest. Einige Schritte daneben spielen nackte Negerkinder, schwarze Weiber stampfen Mais in hölzernen Mörsern und summen dazu eine eintönige Melodie. Drüben im Araberviertel, wo einige Lehmhütten mit flachen Dächern und t ü r kisblauem Anstrich stehen, lärmen die Händler, die eine Karawane zusammenstellen. Vor seiner kleinen Hütte hat Doktor Livingstone Felle ausgebreitet. Gegen die Lehmwand der Hütte gelehnt, ruht er im Schatten des vorspringenden Schilfdaches. Er sieht bleich und eingefallen aus, Schweiß steht ihm in kleinen Ferien auf der Stirne. Wieder einmal hat ihn das afrikanische Fieber gepackt. Er ist fast am Ende seiner Kräfte. Vor zwei Jahren, als er zum ersten Male den Tanganjikasee erreichte, hatte er Post von seiner Familie und Nachschubgüter von der Küste erwartet; aber die Araber hatten die an ihn gerichteten Postsendungen abgefangen, um ihn von jeder Verbindung zur Außenwelt abzuschneiden, und alles geplündert, was an Waren für ihn eingetroffen war. Ganz auf sich gestellt — nur die beiden schwarzen Freunde Susi und Tschuma weilten noch bei ihm —, oft bis zum körperlichen Zusammenbruch ermattet, hatte er trotzdem seinen inneren Auftrag erfüllt, war durch die Urwälder, von Stromlauf zu Stromlauf, von See zu See gezogen, um den Schwarzen Erdteil, soweit er es noch vermochte, zu erhellen. Als er am mächtigen Lualaba stand, ahnte er nicht, daß er den westlichen Quellstrom des Kongo vor sich hatte. Er glaubte zunächst, einen der lange gesuchten Zuströme des Nil entdeckt zu haben. 23
Den Einsamen," der vor der Hütte von Udschischi ruht, überkommen die Erinnerungen an diese beiden Jahre voller Mühsal und leiblicher und seelischer Not. Manchmal war er soweit, daß ihn die Füße voller Wunden und Beulen nicht mehr weitergetragen hatten. Achtzig Tage hatte er mitten im Regenwald unter einem unzureichenden Dach krank gelegen, betreut von den mildtätigen Gefährten. Das Grauen aber überkommt ihn, wenn er zurückdenkt an jenen Tag in Njangwe, der großen Siedlung am breit dahinströmenden Lualaba . . . Vor acht Monaten war es. Njangwe lag unter goldenem Sonnenschein. In den Wäldern, die rings um die reich bestellte Lichtung standen, schnatterten die Affenvölker, zogen die Papageien ihre feurigen Kurven. Lange Boote singender Eingeborener glitten den Strom hinauf und hinab, legten an, und schwarze Familien strebten schwatzend, mit Lasten auf den Köpfen, zum Marktplatz. Ein sorgloses Völkchen wogte zwischen den Händlern einher. Bunte Bastmatten, kupferne Ringe, allerhand Waffen und Werkzeuge, Hirse, Sisalhanf, Kaffee, Baumwolle, Hülsenfrüchte, Erdnüsse, Schnitzereien und Gewürze wurden feilgeboten. Vergeblich hatten der Doktor und seine beiden Diener in jenen Tagen versucht, Boote und Rudermannschaften zu chartern, um den Strom erforschen zu können. Livingstone hatte mit dem arabischen Scheich Dugumbe verhandelt, der ihm gegen reichliche Bezahlung ein Langboot verschaffen wollte. In Njangwe waren zu dieser Zeit zahlreiche arabische Händler eingetroffen, angeblich um Sisal und Kupfer zu kaufen. Während er mit Duaumbe feilschend auf dem Ufermarkt auf und ab schritt, hatte ihn der Scheich plötzlich abseits gelenkt. heraus aus dem Gewühl der Weiber und Kinder. So entging es ihm, daß die Araber zwei kleine Kanonen in Stellung brachten und mit ihren schwarzen Hilfsmannschaften das Dorf umzingelten. Jählings donnerten die Schüsse, Rauch wölkte empor, ein einziger Angstschrei drang über den menschenerfüllten Markt. Die Araber feuerten in die Menge. Die Überfallenen stürmten dem Ufer zu, wo vertäut ihre Boote lagen. Doch auch an den Ufern standen die Schützen und ließen die Geschosse wahllos in die heranstürmende Masse pfeifen. Verwundete brachen zusammen, entsetzte Weiber und Männer sprangen über sie hinweg, stürzten in die Fluten und suchten schwimmend zu entkommen. Zum erstenmal in seinem langen Forscherleben hatte Doktor 25
Livingstone zur Pistolentasche gegriffen; einen Augenblick lang rissen ihn Zorn und Abscheu fort, er war bereit, diesen heimtückischen Scheich Dugumbe niederzuschießen. Doch er hatte sich rechtzeitig bezwungen: Gewalt änderte nichts, Mord konnte nicht durch Mord gesühnt werden. Vergeblich flehte er die Araber um das Leben der Neger an; sie beachteten ihn nicht. Erbarmungslos feuerten sie aus ihren langen Flinten auf die in den Fluten treibenden Menschen. Gellend schrien die Schwarzen um Gnade. Drei überfüllte Kähne versanken, Krokodile fielen mit peitschenden Schuppenschweifen über die Gekenterten her. Dann endlich stellten die Mörder das Feuer ein und suchten die überlebenden ans Ufer zu ziehen. Livingstone denkt an jenes tapfere Negermädchen, das die helfenden Arme zurückgestoßen hatte und auf ein Rudel sich balgender Krokodile zugeschwommen war, um nicht in die Hände der Sklavenjäger zu fallen. Nur einundzwanzig von den vierhundert, die im Strom Rettung gesucht hatten, waren geborgen worden. Sie sollten das Schicksal all jener erleiden, die man als Sklaven nach Sansibar trieb. Am Abend brannten in der Runde siebzehn Negerdörfer. Die Wölfe hatten gründliche Arbeit getan . . .
Das Wunder des Samaritan ... Doktor Livingstone schlägt die Augen auf. Er ist nun wieder ganz wach, das Fieber hat etwas nachgelassen, als rufe ihn dieses furchtbare Geschehen zu neuem Beginnen, zu neuen Hilfeversuchen. Aber kann man diesem Lande überhaupt helfen? Damals nach dem Erlebnis von Njangwe war er durch das in hellem Aufruhr befindliche Lualabagebiet geflohen, denn die Schwarzen hielten jeden Menschen heller Hautfarbe für einen Mörder der Ihren. Krank und gänzlich erledigt hatte er vor wenigen Tagen Udschischi erreicht. Seine Lage schien aussichtslos.
* Und doch ist Livingstones heldenhaftes Leben noch nicht verwirkt. Als er sich ein wenig aufrichtet, hört er von ferne das Lärmen vieler Stimmen. Aus dem arabischen Teil Udschischis kommt aufgeregtes Geschrei, Flintenschüsse knallen, und da taucht auch schon der getreue Susi in seinem zerlumpten Gewand auf, gestikuliert und brüllt. 26
Was schreit er? „Ein Engländer! Ein Englander!" Wie? Das ist doch nicht möglich. Livingstone befindet sich fast tausend Kilometer Luftlinie von Sansibar und der Küste entfernt in einem bisher unerforschten, für Weiße nahezu unzugänglichen Teil des Landes. Woher sollte da ein Engländer kommen? Gibt es noch Zeichen und Wunder? Erst gestern hat der Doktor die Bibelworte über den barmherzigen Samaritan in sein Tagebuch geschrieben . . . Um die Biegung der Straße kommt ein schlanker Neger, der eine Fahne trägt. Livingstone erkennt ungläubig die Sterne und Streifen, das Banner Amerikas. Dann folgen zahlreiche bewafnete Sepoys, schwarze Träger mit Warenballen, Zeltausrüstungen, Geschirr, Handwerksgerät, Waffen und Kisten. Ein weißer Mann im Tropenanzug, das Gesicht tief gebräunt, geht inmitten der Kolonne. Den Tropenhelm lüftend, tritt er auf Dr. Livingstone zu, der sich von seiner Liegestatt erhoben hat. „Doktor Livingstone, nicht w a h r ? " „ J a " , antwortet der Gefragte und hebt leicht die verblichene Kapitänsmütze, an der man ihn in ganz Afrika erkennt. „Gott sei Dank, Doktor, daß es mir vergönnt ist, Sie zu treffen. Mein Name ist Henry Morton Stanley, ich bin Reporter des ,New York Herald'.* „Auch ich danke Gott", erwidert Livingstone würgend, „Sie kommen zur rechten Zeit." Die Volksmenge schweigt und starrt auf die beiden weißen Männer, die sich am liebsten in die Arme gesunken wären und doch alle Gefühlsausbrüche mit Rücksicht auf die Beobachter unterlassen. Livingstone führt Stanley zu seiner Hütte, die im Schatten der Palmen steht. Der Amerikaner klatscht in die Hände und befiehlt, Speisen und Wein zu bringen. Ein langes Gespräch beginnt. . .
Stanley e r z ä h l t . . . „Sie haben mir neues Leben gebracht", sagt der Doktor leise und greift nach Stanleys Hand. Doch der Amerikaner wehrt freundlich ab. „Nein, nein!" sagt er. „Ich bin es gar nicht, der Sie gerettet hat, Doktor, ich bin höchstens das Werkzeug. Der Mann, dem Sie zu danken haben, heißt Gordon Bennett, er ist der Besitzer des ,New York Herald'.", 27
Livingstone blickt etwas verständnislos drein: „Das müssen Sie mir erklären, Stanley. Ich begreife nur schwer. Vergessen Sie nicht, daß ich seit Jahren kaum etwas von der Welt gehört habe.'' Der Amerikaner lehnt sich bequem in den Klappstuhl zurück und brennt sich eine Zigarre an. Weit bläst er den Rauch von sich, und während er spricht, sieht er den blauen Schwaden nach. „ J a h r e sind eine lange Zeit, wenn man wie Sie, Livingstone, abgeschnitten von der Kultur in einem fernen Kontinent lebt. Sie wissen vielleicht nicht, daß Sie seit 1869 für tot gelten? Ihr davongelaufener Diener Musa hat einen ziemlich genauen Bericht über Ihr ,Sterben' an die Küste gebracht, und die Zeitungen der ganzen Welt haben die Story abgedruckt.". „Und alle Welt hat daran geglaubt?" „Nein! nicht alle Welt. Ihr einstiger Reisegefährte Young zum Beispiel, der Musa von früher her kannte, sagte gleich, daß etwas an der Sache faul sei. Er erzählte allen, die es hören wollten, daß Sie lebten und Hilfe brauchten. Er drang bis zum Sambesi vor, konnte aber weiter nichts ausrichten. Aber man schickte Ihnen Nachschubgütcr — ob sie ankamen, weiß ich nicht. „ J a , sie wurden von Negern getreulich nach Udschischi geschleppt, aber hier haben die Araber mir alles gestohlen.", „Diese Räuber! Aber nun brauchen Sie das alles nicht mehr, ich habe genug für uns beide hergeschafft. Welch eine Fügung, daß einer von denen, die nicht an Ihren Tod glaubten, mein Boß Mr. Gordon Bennett war! Ich selbst weilte gerade in Madrid, als ich eines Morgens eine Depesche erhielt. ,Sofort nach Paris kommen, sehr wichtig, Gordon Bennett.' Na, da fuhr ich eben." „ W i e ich Ihnen danke, Ihnen und Mister Bennett!" „Mister Bennett hat schon manchem geholfen. Aber vor allem ist er ein ausgezeichneter Geschäftsmann! Vergessen Sie nicht, wie ihn die Schlagzeilen über das Unternehmen Stanley, der Doktor Livingstone von den Menschenfressern zurückholen soll, freuen werden. Aber natürlich ist er ein smarter Amerikaner, einer von jenem Schlag, der handelt, während man Ihnen im alten Europa freundliche Nachrufe schrieb. Ich gestehe, ich war nicht so ganz davon überzeugt, daß Sie noch lebten. Aber Bennett glaubte daran. Großzügig überreichte er mir ein Blankoscheckbuch: ,Schreiben Sie tausend Pfund heraus und nochmals tausend und fahren Sie so fort, bis Sie Livingstone gefunden haben!" Leider aber hatte ich vorher noch einige Kleinigkeiten in 28
Indien und Persien zu erledigen, auch mußte ich noch rasch zur Eröffnung des Suezkanals, aber dann ging ich geradewegs nach Sansibar. Wie Sie zugeben werden, Doktor, sitze ich nun hier und habe meine Aufgabe gelöst.". Doktor Livingstone erholt sich dank der besseren Ernährung und der wirksamen Arzneimittel, die der Amerikaner mitgebracht hat, lehnt es aber ab, mit Stanley an die Küste zurückzukehren. Einige Monate lang unternehmen die beiden Freunde gemeinsame Erkundungsfahrten durch das Seengebiet. Als Stanley dann Abschied nimmt, übergibt Livingstone ihm einen Brief an den .New York Herald', in dem ein Satz steht, der wie ein Vermächtnis klingt: „Alles, was ich hier in meiner Einsamkeit sagen kann, faßt sich zusammen in dem W o r t : Möge der Himmel reichsten Segen auf jeden ausschütten, sei er Engländer oder Amerikaner oder Türke, der diese offene Wunde — den Sklavenhandel — am Körper Afrikas heilen hilft. . ." Auch sein Erlebnis im Dorfe Njangwe am Lualaba schreibt er in ergreifenden Worten nieder. Er ruft zum letzten Male die gesamte Kulturwelt auf, sich gegen die Schande des Sklavenhandels zu erheben. Dann zieht Stanley davon. Er ist der letzte Mensch weißer Rasse, der Livingstone lebend gesehen h a t . . .
* Mit Stanley gehen Doktor Livingstones Tagebücher, Briefe und Karten, das Ergebnis seiner Forschungen, zur Küste. Inzwischen ist der Doktor wieder mit neuen Vorräten und Trägern von Tabora aus zum großen Strom Lualaba aufgebrochen, von dem er jetzt vermutet, daß er irgendwo im weiten Westen in den Atlantik mündet. Um Neujahr 1872/73 befindet sich Doktor Livingstone in der Gegend des Bangweolosees, Regen hängt über den dampfenden W ä l d e r n ; die Flüsse sind nur noch an ihren Wellen von den Sümpfen und Tümpeln zu unterscheiden. Die eingeborenen Neger sind nicht von dem Glauben abzubringen, daß der weiße Mann ein Spion der Sklavenjäger sei. Darum verweigern sie ihm Hilfe und Unterkunft. Wieder desertieren die Träger mit den Lasten. Die Gesundheit Livingstones verschlechtert sich erschreckend, die Expedition treibt auf eine Katastrophe zu. Schon müssen Susi 29
und Tschuma den Fiebernden in einer Hängematte zwischen zwei Speerschäften tragen. Am 21. April 1873 schreibt er mit zittriger Schrift in sein Tagebuch: „Versuchte zu reiten, mußte mich aber niederlegen, man trug mich erschöpft zum Dorfe zurück . . . " Bisher hat Livingstone jede Beobachtung eingetragen, hat unablässig an der Vervollständigung der Karten gezeichnet. Nun gibt es eine Woche lang keine Anmerkung; nur am 27. April findet sich eine Notiz: „Mit mir ist es völlig aus, ich bleibe h i e r . . . Habe ausgeschickt, zwei Ziegen zum Melken zu kaufen. Wir sind am Ufer des Molilamo . . ." Dann folgt keine Zeile mehr. Das Tagebuch, das dreißig Jahre lang mit größter Sorgfalt geführt wurde, ist abgeschlossen. Den Rest erfährt die Welt später durch die getreuen Diener Susi und Tschuma. Die Expeditionsgruppe ist in dem Negerdorf Ilala des Häuptlings Tschitambo gestrandet. Hier legt sich Doktor Livingstone in einer Strohhütte zum Sterben nieder. Nur ein paar seiner Leute haben bei ihm ausgehalten. Am Morgen des 30. April richtet der Doktor an den Diener Susi die Frage, was der Lärm im Dorfe bedeute. „Ich höre an dem Rufen", antwortet der Getreue, „ d a ß die Leute einen Büffel aus dem Durrhafeld treiben." Nach einer Weile fragt der Doktor: „Ist das der Lualaba?" „Nein", antwortet Susi, „wir sind in dem Dorfe des Tschitambo.", „Wie viele Tagereisen sind es bis zum Lualaba?". „Ich glaube drei", erwidert Susi. Nach einer Weile seufzt Livingstone tief und sagt: „0 mein Gott! Lieber, lieber G o t t ! . . . " Dann verliert er die Besinnung. Um Mitternacht erwacht er noch einmal zum Bewußtsein und bittet Susi, ihm ein Chininpulver zu reichen. Dann flüstert er: „Genug j e t z t . . . du kannst gehen!" Am Morgen entdecken die schwarzen Diener, daß ihr Herr tot ist.
Vom Urwald in die Westminsterabtei Der Körper Doktor Livingstones ist geschrumpft und winzig, daß er dem Neger füllen den Leichnam mit Salz chen der Sonne aus, bis er mumifiziert 30
beim Tode so zusammeneines Kindes gleicht. Die und setzen ihn zwei W o ist. Dann schälen sie sorg-
fältig die Rinde eines Baumes ab und nähen die sterblichen Überreste ein. An einer Tragstange wird die Last durch den Urwald geschleppt. Sechs anhängliche Neger, darunter der befreite Sklave Jacob Wainright, der des Schreibens kundig ist und nicht nur die letzten Notizen des Doktors sorgfältig aufbewahrt, sondern auch versucht, das Tagebuch weiterzuführen, schaffen den Toten quer durch Ostafrika zur Küste. Im Februar 1874 erreichen sie Bagamoyo, wo zufällig ein britischer Kreuzer vor Anker liegt. Das Kriegsschiff bringt Jacob Wainright, Tschuma, Susi und den Toten nach Sansibar. Von dort aus geleitet der brave Wainright seinen einstigen Herrn nach England. W e r könnte glauben, daß dieses kleine, eingeschrumpfte Bündel Doktor Livingstone sei! Aber der gebrochene Arm und die Schulterverletzung, die der Doktor vor vielen Jahren im Kampf mit einem Löwen davongetragen hat, geben Gewißheit. Königin Victoria bestimmt, daß Livingstone in der Wcstminsterabtei neben den größten Söhnen Englands beigesetzt wird. Unter den Trägern des Sarges geht auch Henry Morton Stanley. Auf die Grabplatte werden die Worte eingemeißelt: '„Von treuen Händen über Land und Meer gebracht, ruht hier DAVID LIVINGSTONE der Missionar, der Reisende, der Menschenfreund, geboren am 19. März 1813 in Blantyre, Lancashire, gestorben am 1. Mai 1873 in Ilala, dem Dorfe Tschitambos. Dreißig Jahre lang war sein Leben in unermüdlicher Anstrengung der Evangelisierung der eingeborenen Stämme, der Erforschung unentdeckter Länder, der Bekämpfung des ruchlosen Sklavenhandels in Innerafrika gewidmet." Und als Schlußzeile trägt das Grab die Worte Christi: ^,Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Gehege. Und diese werde ich herbeiführen, und sie werden meine Stimme hören . . .'' Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Bilder: Ullstein und Verlagsarchiv. Kartenzeichnung: Hellmut Fuchs
L u x - L e s e b o g e n 2 6 6 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.5!)) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau (Oberbayern), Seidl-Park. — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth
31