Henry Kuttner
Lord der Dunklen Welt Terra Fantasy Band Nr. 6
s&c by horseman Version 1.0 Oktober 2009
Titel des Ori...
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Henry Kuttner
Lord der Dunklen Welt Terra Fantasy Band Nr. 6
s&c by horseman Version 1.0 Oktober 2009
Titel des Originals: THE DARK WORLD Aus dem Amerikanischen von Lore Straßl
TERRA-FANTASY-Taschenbuch erscheint vierwöchentlich im Erich Pabel Verlag KG, 7550 Rastatt, Pabelhaus Copyright C 1946 by Better Publications, Inc. Deutsche Erstveröffentlichung Redaktion: Hugh Walker Vertrieb: Erich Pabel Verlag KG Gesamtherstellung: Clausen & Bosse, Leck Einzelpreis: 2,80 DM (inkl. 5,5 % MWST) Verantwortlich für die Herausgabe in Österreich: Waldbaur Vertrieb, A-5020 Salzburg, Franz-Josef-Straße 21 NACHDRUCKDIENST: Edith Wöhlbier, 2 Hamburg 1, Burchardstr. 11, Tel. 040 / 33 96 16 29, Telex: 02/161 024 Printed in Germany März 1975
Der Roman Ein Erdenmensch auf einer fremden Welt »Die dunkelrote Sonne tauchte das Waldland unter mir in blutiges Licht. Aufgrund der großen Entfernung konnte ich keine genaue Einzelheiten erkennen. Aber die Formen der Bäume und die Bewegungen, die sie vollführten, ließen nur einen Schluß zu: Ich, Edward Bond, war nicht mehr auf der Erde …« Der magische Zirkel der Dunklen Welt greift nach der Erde, um Lord Ganelon, den ehemaligen Herrscher der düsteren Zwillingserde, aus der langen Verbannung zurückzuholen. Doch der Mann, der über den Abgrund der Dimensionen die Dunkle Welt erreicht, ist nicht der Ganelon von einst. Seine Persönlichkeit wird überlagert durch die des Erdenmenschen Edward Bond. Ganelon ist somit nicht mehr Ganelon, aber Bond ist auch nicht zur Gänze Bond. Und so entbrennt ein Kampf, der mit größter Erbitterung geführt wird – ein Kampf zweier Persönlichkeiten in einem Körper. Denn jedes Ich hat seine eigenen Pläne für die Zukunft der Dunklen Welt.
Einleitung Der vorliegende Roman ist am besten in der Rubrik Science Fantasy einzuordnen – Fantasy mit merklichem ScienceFiction-Einschlag, und zwar von der Konzeption her: Parallelerde, monströse Gottheit aus dem Kosmos, Doppelidendität, rationale Erklärung mythologischer Elemente. Dennoch ist das das Hauptelement der Fantasy, der vielzitierte »Sense of Wonder«, das »Mystich-Wundersame« in reichem Maß vorhanden. Henry Kuttner, ein kleiner, brünetter, zurückhaltender und ruhiger Mann, wurde 1914 in Los Angeles geboren. Er arbeitete dort nach Beendigung der höheren Schule für eine literarische Agentur. Sein Interesse an der Fantasy war früh erwacht. Zu seiner Lektüre gehörten Frank L. Baums OzBücher, Burroughs und die wissenschaftlichen Romanzen der Zwanziger und schließlich AMAZING STORIES, das erste Science-Fiction-Magazin, das 1926 zum erstenmal erschien. Mehr aber noch wandte sich sein Interesse dem HorrorGenre zu, der Horror-Fantasy. Er trat in Briefkontakt mit H. P. Lovecraft und anderen Mitgliedern des Lovecraft-Kreises, vor allem Robert Bloch. Bereits seit 1923 lief das berühmte Magazin WEIRD TALES, und an dieses Horror-Fantasy-Magazin verkaufte er 1936 auch seine erste Story: The Graveyard Rats, bei uns unter dem Titel Die Friedhofsratten erschienen, eine Story, die in den Augen der Kritiker Kuttners unübertroffenes Meisterwerk bleiben sollte – die Geschichte eines besessenen Friedhofswärters, der durch unterirdische Gänge hinter riesigen Ratten herkriecht, um einen frisch begrabenen Leichnam zurückzuholen, den sie aus dem Sarg gezogen haben.
Der starke Lovecraftsche Einfluß war unverkennbar. Kuttner, der in der Folge einer der produktivsten und vielseitigsten Fantasy- und Science-Fiction-Autoren wurde, hatte einen schier unüberwindlichen Freund und Feind gleichermaßen: seine Beeinflußbarkeit! Außer Lovecraft ist noch Howards Einfluß zu erwähnen, besonders in Kuttners Zyklus der Geschichten um Elak von Atlantis, einem Fantasy-Helden, der Abenteuer in Conans Manier erlebt, und der nach Howards Tod die Lücke füllen sollte. Sam Moskowitz führt in seinem Artikel über Kuttner unter den Einflüssen auch Stanley G. Weinbaum, John Collier, A. E. van Vogt und andere an. Die meisten Autoren haben solche Perioden der Anlehnung an Vorbilder, aber für Kuttner schien es schwierig, sich davon freizumachen. Einesteils war diese starke Beeinflußbarkeit sein Freund, denn oft hielt das, was er schrieb, den Vergleichen stand, und das brachte ihm Popularität. Aber sie war auch sein Feind, denn sie verhinderte die Entwicklung einer eigenen Autorenpersönlichkeit, bevor das Schicksal 1958 in Form eines Herzschlags einen Schlußstrich unter sein Leben zog. Henry Kuttner benutzte wenigstens 16 Pseudonyme, die bekanntesten davon: Lewis Padgett, Lawrence O'Donnell, Keith Hammond, Kelvin Kent und Paul Edmonds. Was ihn vor allen Dingen herausragen ließ: Er war einer der wenigen, die Humor in die Science-Fiction zu integrieren vermochten. Während der letzten beiden Jahrzehnte schrieb er hauptsächlich in Zusammenarbeit mit seiner Frau Catherina L. Moore. Der vorliegende Roman erschien 1946 in STARTLING STORIES und war der letzte einer Reihe stark von Abraham Merritt beeinflußter Romane, wie dieser sie in den Zwanzigern
und Anfang der Dreißiger schrieb. Dem deutschen Leser ist Henry Kuttner längst kein Unbekannter mehr. Einige seiner Romane erschienen in den Utopia-Großbänden des Pabel Verlages – so Der stolze Roboter und Gefährliches Schachspiel, um nur ein paar zu nennen. Besondere Beachtung verdient übrigens der unter dem Titel Alle Zeit der Welt in der Reihe der TERRA-Sonderbände erschienene Roman FURY. Kritiker neigen dazu, Kuttners Eigenständigkeit zu ignorieren und seine Vielseitigkeit, die ihn zum Phänomen machte, nicht gebührend zu würdigen. Wie immer man den Autor auch sehen mag, der vorliegende Band beweist, daß er eines in jedem Fall ist: ein Autor, den zu lesen es sich lohnt! Hugh Walker
1. Dünne Rauchschwaden hoben sich in den nördlichen Abendhimmel. Wieder befielen mich diese unerklärliche Angst und dieser Drang, kopflos davonzustürzen, die mich nun schon so lange quälten. Eine grundlose Angst, ganz zweifellos. Es war wirklich nichts weiter als Rauch, der aus dem Sumpfland des immer noch wilden Limberlost-Gebiets aufstieg, keine achtzig Kilometer außerhalb Chikagos, wo der Mensch den Aberglauben mit gewaltigen Stahl- und Betonbauten verdrängt hatte. Es war mir klar, daß es sich lediglich um ein Campingfeuer handelte, und doch wußte ich, daß es das nicht war. Irgend etwas ganz tief in meinem Unterbewußtsein spürte, welcher Art dieses Feuer war, und wer es bewachte und durch die Bäume hindurch in meine Richtung spähte. Ich drehte mich um. Meine Augen wanderten über die Regale, die fast die gesamte Wandfläche des Zimmers bedeckten und mit den unmöglichsten Gegenständen vollgestopft waren, die mein Onkel in seiner Sammlerleidenschaft zusammengetragen hatte. Opiumpfeifen mit Intarsiendekor und andere aus Silber, goldene Schachfiguren aus Indien, ein Schwert … Bedrückende Erinnerungen regten sich tief in mir und wallten mit einem Gefühl der Panik hoch. Mit zwei Schritten stand ich unter dem Schwert. Ich riß es von der Wand. Meine Finger umkrampften den Griff. Ohne daß es mir recht bewußt wurde, kehrte ich zum Fenster zurück und starrte wieder hinaus auf den fernen Rauch. Das Schwert in meiner Faust beruhigte mich nicht. Es lag nicht richtig in meiner Hand, nicht wie das Schwert. »Was ist los, Ed?« vernahm ich die tiefe Stimme meines
Onkels. »Es ist das verkehrte Schwert«, antwortete ich hilflos. Plötzlich war mein Kopf völlig frei von dem gräßlichen Druck, der ständig auf ihm gelastet hatte. Ich blinzelte verwirrt und fragte mich, was wohl in mich gefahren war. Meine Zunge schien ohne mein Zutun zu antworten. »Es ist nicht das richtige Schwert. Es müßte aus Kambodscha stammen und einer der drei Talismane des Feuerkönigs und des Wasserkönigs sein. Drei große Talismane: die Frucht des cui, die zur Zeit der Schwemme geerntet wurde, aber immer frisch bleibt; das Palmrohr mit den Blüten, die nie welken; und das Schwert des Schutzgeistes Yan.« Mein Onkel musterte mich durch den Rauch seiner Pfeife. Er schüttelte den Kopf. »Du hast dich verändert, Ed«, sagte er mit seiner beruhigenden Stimme. »Du hast dich sehr verändert. Sicher ist der Krieg daran schuld – aber das ist nicht erstaunlich. Und du warst krank. Früher hast du dich nie sehr für diese Sachen interessiert. Ich fürchte, du verbringst zu viel deiner Zeit in den Bibliotheken. Ich hatte gehofft, ein Urlaub hier würde dir helfen. Die Ruhe …« »Ich habe genug der Ruhe!« brauste ich auf. »Achtzehn Monate war ich in Sumatra zur Ruhe gezwungen. Ich konnte nichts tun in dem stinkigen winzigen Dschungeldorf, als mich bis zum Überdruß auszuruhen und zu warten, warten …« * Noch jetzt stieg mir der typische Geruch in die Nase, und ich sah das Dorf vor mir. Ich spürte geradezu das Fieber, das so lange in mir getobt hatte, während ich in der für tabu erklärten Hütte lag. Ich dachte achtzehn Monate zurück, an die letzte Stunde, als
die Welt noch normal für mich gewesen war. Es war gegen Ende des zweiten Weltkriegs. Ich flog über ein Dschungelgebiet in Sumatra. Natürlich ist Krieg kein normaler Zustand, aber jedenfalls war ich bis zu jenem schrecklichen Augenblick hoch in den Lüften ein völlig normaler Mensch gewesen, der wußte, wo er hingehörte, und den keine Erinnerungsbruchstücke quälten, die sich dem Zugriff entzogen. Dann verlor ich plötzlich das Bewußtsein. Ich weiß nicht weshalb. Es gab keinen Grund dafür. Meine Verletzungen, die glücklicherweise nur leichter Art waren, zog ich mir erst zu, als das Flugzeug auf dem Boden aufschlug. Ich war jedoch absolut in Ordnung gewesen, als es schwarz um meine Sinne wurde. Die friedlichen Batak fanden mich in den Trümmern meines Flugzeugs. Mit ihren recht ungewöhnlichen, aber nichtsdestoweniger wirkungsvollen Heilmethoden brachten sie mich durch das Fieber und die unbekannte Krankheit, die mich nach dem Absturz befiel. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob sie mir einen Gefallen taten, indem sie mich retteten. Auch ihr Medizinmann schien da seine Zweifel gehabt zu haben. Er wußte etwas. Er zog seine Amulette und sonstigen Zaubermittel zu Rat. Er hatte die Stirn gefurcht, auf der sich dicke Schweißtropfen sammelten. Ich erinnere mich des von Narben verunstalteten Gesichts, das sich kaum von den Schatten in meiner Hütte abhob. Ich erinnere mich der Hände und ihrer beschwörenden Gesten. »Komm zurück, o Seele, von dort, wo du körperlos schwebst: aus dem Dschungel, den Bergen oder vom Fluß. Sieh, ich rufe dich mit einem toemba bras, mit einem Ei des Vogels Rajah moelija, mit den elf heilenden Blättern …« Ja, ich tat ihnen anfangs leid. Der Medizinmann war der erste, der spürte, daß etwas mit mir nicht stimmte. Es übertrug
sich allmählich auch auf die anderen. Ich fühlte, wie es sich ausbreitete, wie ihr Benehmen sich änderte. Sie hatten Angst. Nicht vor mir, dachte ich, aber – wovor? Ehe der Hubschrauber mich abholte, brach der Medizinmann sein Schweigen. Soviel vermutlich, wie er es wagen konnte. »Du mußt dich verstecken, mein Sohn. Dein ganzes Leben lang mußt du dich verbergen. Etwas sucht nach dir« – er benutzte ein Wort, das ich nicht verstand – »es gehört einer anderen Welt an, der Welt der Geister, und es wird keine Ruhe geben, bis es dich gefunden hat. Beherzige meine Worte: aller Zauber muß tabu für dich sein. Nur wenn dich auch diese Vorsicht nicht schützt, magst du vielleicht eine Waffe in der Magie finden. Aber wir können dir nicht helfen. Unsere Kräfte sind nicht stark genug.« Er war froh, als ich von ihnen Abschied nahm. Alle waren sie erleichtert. Danach gab es keinen inneren Frieden mehr für mich. Irgend etwas hatte mich völlig verändert. Das Fieber? Vielleicht. Ich war nicht mehr ich selbst. Träume quälten mich, Erinnerungen, eine Last lag auf mir, die andeutete, daß ich irgendwo etwas ungemein Wichtiges unvollendet gelassen hatte. Plötzlich vermochte ich viel freier mit meinem Onkel zu reden. »Es war, als hätte sich ein Schleier vor mir zur Seite geschoben. Ich sah vieles klarer – und es hatte eine völlig neue Bedeutung. Ich erlebe Dinge, die mir früher einfach unglaubhaft vorgekommen wären. Doch nun akzeptiere ich sie als selbstverständlich. Ich habe seither viele Reisen unternommen, wie du weißt. Aber sie halfen mir nicht, meine innere Ruhe wiederzugewinnen. Immer und überall gab es irgend etwas, das mich zu erinnern versuchte. Ein Amulett im
Fenster eines Geschäfts, eine Knotenschnur, ein Stück Katzenaugenquarz, zwei Gestalten – sie erscheinen mir immer und immer wieder in meinen Träumen. Einmal …« Ich hielt inne. »Ja?« forderte mein Onkel mich zum Weiterreden auf. »Es war in New Orleans. Ich wachte mitten in der Nacht auf. Irgend etwas war in meinem Zimmer, ganz nahe bei mir. Ich hatte einen Revolver – einen ganz besonderen – unter meinem Kopfkissen. Als ich danach griff, sprang der – nennen wir es Hund – aus dem Fenster. Aber ganz wie ein Hund sah es nicht aus.« Ich zögerte. »Mein Revolver war mit Silberkugeln geladen.« Mein Onkel schwieg einen langen Augenblick. Ich wußte, was er dachte. »Und die andere Gestalt?« fragte er schließlich. »Ich bin mir nicht sicher. Sie trägt eine Kapuze, die das Gesicht verbirgt. Ich glaube, sie ist sehr alt. Und außer diesen beiden …« »Ja?« »Eine Stimme. Eine unendlich einschmeichelnde, lockende Stimme. Ein Feuer. Und jenseits des Feuers ein Gesicht, das ich nie ganz deutlich sehe.« Mein Onkel nickte. Die Nacht hatte sich über das Land gesenkt. Ich vermochte ihn kaum noch zu sehen. Auch der Rauch draußen hatte sich in der Dunkelheit verloren. Doch ein schwaches Flimmern hing noch an seiner Stelle in der Luft. Oder bildete ich es mir nur ein? Ich deutete mit dem Kopf zum Fenster. »Ich sehe dieses Feuer nicht zum ersten Mal«, murmelte ich. »Es ist nichts weiter als ein Lagerfeuer«, erwiderte er. »Nein. Es ist ein Notfeuer!« »Was, zum Teufel, ist das?« »Ein Ritual«, erklärte ich. »Wie das Johannisfeuer oder das
Beltanefeuer der Schotten. Das Notfeuer wird nur zu Zeiten der Not oder Bedrängnis entzündet. Es ist ein uralter Brauch.« Mein Onkel legte seine Pfeife in den Ascher und lehnte sich vor. »Hast du denn absolut keine Ahnung, Ed, was es ist, das dir so sehr zu schaffen macht?« »Ich nehme an, ein Psychiater würde es als Verfolgungswahn bezeichnen«, sagte ich leise. »Ich – ich glaube an – an Dinge, die mir früher nie im Traum eingefallen wären. Mir ist, als versuchte jemand mich zu finden – hat mich bereits gefunden – und ruft nach mir. Ich weiß nicht, wer es ist. Ich weiß nicht, was er oder sie von mir wollen. Aber etwas Weiteres wurde mir heute abend bewußt – dieses Schwert …« Ich nahm es vom Tisch. »Ich will es gar nicht«, fuhr ich fort, »aber manchmal wandern meine Gedanken ganz ohne mein Zutun, als ob irgend etwas sie lenkte. Plötzlich war mir klar, daß ich ein Schwert brauche. Nicht irgendeines, sondern ein ganz besonderes. Ich weiß nicht, wie es aussehen muß, aber ich würde wissen, daß es das richtige ist, wenn ich es erst in meiner Hand halte.« Ich lachte verlegen. »Und wenn ich es nur ein paar Zentimeter aus der Scheide zöge, könnte ich das Feuer dort auslöschen, als wäre es nur eine Kerzenflamme. Und zöge ich es ganz aus seiner Hülle – ich würde die Welt damit auslöschen.« Mein Onkel nickte. Nach einer kurzen Pause fragte er: »Was sagen die Ärzte?« »Ich weiß, was sie sagen würden, wenn ich mich ihnen anvertraute«, erwiderte ich grimmig. »Sie würden mich für geistesgestört halten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich mit Sicherheit wüßte, daß ich es bin. Hast du gehört, daß vergangene Nacht einer der Hunde des Nachbarn zerrissen wurde?«
»Ja, natürlich. Duke. Sicher von irgendeinem Streuner.« »Oder einem Wolf. Demselben Wolf, der vergangene Nacht in mein Zimmer kam und sich wie ein Mensch über mich beugte. Er schnitt mir eine Haarsträhne ab.« Flammen loderten kurz in der Ferne auf. Das Notfeuer. Mein Onkel erhob sich. Er legte eine Hand auf meine Schulter und blickte zu mir herab. »Ich glaube, du bist krank, Ed.« »Du glaubst, ich bin verrückt. Vielleicht hast du damit sogar recht. Irgendwie spüre ich, daß ich bald Gewißheit haben werde – so oder so.« Ich legte das Schwert in seiner Hülle über meine Schenkel. Wir schwiegen, eine lange Zeit, wie mir schien. Im Wald, weiter im Norden, brannte ruhelos das Notfeuer. Ich konnte es nicht sehen. Aber seine Flammen leckten, versuchten etwas Finsteres, Gefährliches in mir zu wecken.
2. Ich konnte nicht schlafen. Die erstickende Schwüle der Spätsommernacht drückte wie eine schwere Decke auf mich. Mit bleiernen Gliedern erhob ich mich und suchte im Zimmer mit dem Andenkensammelsurium nach Zigaretten. Durch eine offene Tür drang meines Onkels besorgte Stimme: »Alles in Ordnung, Ed?« »Ja. Ich kann nur noch nicht schlafen. Vielleicht lese ich noch ein wenig.« Aufs Geratewohl holte ich mir ein Buch aus einem der Regale und ließ mich in einen weichen Sessel fallen. Ich zog an der Schnur der Stehlampe. Es war unwahrscheinlich ruhig, nicht einmal das Plätschern der Wellen am Seeufer war zu hören.
Irgend etwas wollte ich … Die Hand eines passionierten Schützen hat zu bestimmten Zeiten geradezu das Bedürfnis, sich um das glatte Holz und Metall zu legen. Genauso drängte meine Hand danach, etwas zu umfassen – instinktiv wußte ich, daß es weder Gewehr, noch Schwert war, aber eine Waffe, die ich früher benutzt hatte. Ich vermochte mich jedoch nicht zu entsinnen, was es war. Mein Blick streifte über den Schürhaken, der am Kamin lehnte, und kurz dachte ich, er wäre es. Aber die vage Erinnerung verlosch sofort wieder. Das Buch war einer der neuesten Bestseller. Ich überflog es. Das hörbare Pulsieren meines Blutes schien immer stärker zu werden. Etwas ließ mich erschauern. Ich schüttelte mich und stellte den Roman auf seinen Platz zurück. Unschlüssig blieb ich einen Moment stehen, dann griff ich nach einem Band, mit dem ich mich schon seit Jahren nicht mehr beschäftigt hatte: ein Gebetbuch. Wie von selbst klappte es auf, und ein Satz sprang mir in die Augen: O Herr, das Tier in mir beginnt zu erwachen. Ich stellte auch dieses Buch zurück und setzte mich wieder in meinen Sessel. Ich war nicht in der richtigen Stimmung zu lesen. Das Licht der Stehlampe störte mich. Ich zog an der Schnur und schaltete es aus. Plötzlich flutete der Schein des Mondes in das Zimmer, und genauso abrupt wuchs die eigenartige Erwartung in mir. Es war, als hätte sich eine Tür aufgetan. Das Schwert lag noch in seiner Hülle am Fensterbrett. Ich blickte darüber hinweg auf den bewölkten Himmel, auf die Scheibe des Mondes. Schwach und weit entfernt flackerten die Flammen des Notfeuers in der sumpfigen Wildnis von Limberlost. Es rief mich!
Der goldene Schein des Mondes, der sich gegen das Rechteck des Fensters abhob, wirkte geradezu hypnotisierend auf mich. Ich lehnte mich mit halbgeschlossenen Augen im Sessel zurück. Die Ahnung einer Gefahr ließ mich frösteln. Es war nicht das erste Mal, daß ich diesen befehlenden Ruf vernahm. Doch immer zuvor hatte ich ihm zu widerstehen vermocht. Jetzt fiel es mir schwer. Die Haarsträhne, die der »Wolf« mir abgeschnitten hatte – gab sie dem Feind Macht über mich? Purer Aberglaube, sagte mir meine Logik. Aber irgend etwas tief in mir, eine innere Überzeugung, versicherte mir, daß mehr in dem uralten Haarzauber steckte, als der moderne Mensch sich vorzustellen vermag. Seit jenen Monaten in Sumatra war ich viel weniger skeptisch. Und seither habe ich mich viel mit diesen Dingen beschäftigt, angefangen mit einem Studium der allgemeinen Magie, bis zu jenem der Lykanthropie und Dämonologie. Ich lernte erstaunlich schnell. Es schien mir mehr eine Auffrischung alter Kenntnisse als das Lernen von etwas Neuem. Nur ein einziger Bereich beunruhigte mich wirklich, und gerade darauf kam ich immer wieder zurück. Es war das Wesen, das bei allen Völkern unter den verschiedensten Namen bekannt ist, Namen wie Satan, Luzifer, der Schwarze Mann; und die weniger bekannten wie Kutchie, wie die australischen Dieris es nannten, oder der Tuna der Eskimos, der afrikanische Abonsam oder der schweizerische Ausdruck Strätteli. Ich benötigte keine Nachschlagewerke über diesen Schwarzen Mann, ich wußte auch so genug darüber. Ich hatte einen ständig wiederkehrenden Traum, der sich mit jener finsteren Macht beschäftigte, die ich als das Böse erkannte. In diesem Traum fand ich mich vor einem Quadrat aus goldenem Licht. Ich hatte entsetzliche Angst und sehnte mich doch
gleichzeitig nach einem Einssein mit diesem dunklen Wesen. Tief im Innern dieses glühenden Quadrats spürte ich die ersten Bewegungen. Ich wußte, daß es bestimmter Riten bedurfte, ehe die Zeremonie beginnen konnte, aber es fiel mir schwer, die Lähmung zu brechen, die mich gefangen hielt. Ein Quadrat wie das monddurchflutete Fenster vor mir – und doch anders. Anders vor allem, weil keine eisige Angst davon her auf mich eindrang, eher ein leises Murmeln wie die sanfte, beruhigende Stimme einer Frau. * Das goldene Quadrat schien zu vibrieren. Schwach leuchtende Lichtfinger tasteten sich herein. Das Murmeln wurde immer lockender. Goldene Finger griffen wie suchend um sich. Sie berührten die Lampe, den Tisch, den Teppich, und zogen sich zurück. Da streiften sie mich. Schnell umschlangen sie mich. Eine flüchtige Furcht durchzuckte mich, doch da befand ich mich schon in ihrer warmen Umarmung. Noch lauter, noch drängender wurde das Murmeln – und ich sprach darauf an, so wie das Fell des gehäuteten Satyrs Marsyas auf seine heimische phrygische Melodie ansprach. Ich kannte diese Weise, diese Stimme! Ein Schatten sprang durch das goldene Glühen. Kein menschlicher, sondern der eines Wolfes mit bernsteinfarbigen Augen und gesträubtem Fell. Er zögerte, blickte fragend über seine Schulter zurück. Ein zweiter Schatten zeigte sich. Er gehörte zu einer verhüllten Gestalt, deren Kapuze so tief ins Gesicht hing, daß nichts davon zu erkennen war. Sie war klein wie ein Kind. Wolf und Kapuzengestalt schienen im goldenen Licht zu schweben. Sie warteten, beobachteten mich. Das lockende
Murmeln wurde zu Silben, zu Worten. Es waren Worte in einer fremden Sprache – aber ich verstand sie! »Ganelon! Ich rufe dich, Ganelon! Bei deinem geweihten Blute – höre mich!« Ganelon! Aber das war ja mein Name! Wie gut ich ihn kannte! Wer rief mich so? »So oft schon habe ich dich gerufen, Ganelon. Doch das Tor war geschlossen. Nun ist es offen! Komm zu mir, Ganelon!« Ein tiefes Seufzen. Der Wolf starrte über eine Schulter. Er knurrte. Die verhüllte Gestalt beugte sich vor. Ich spürte, wie scharfe Augen mich aus der Dunkelheit der Kapuze musterten. Ein eisiger Atem hauchte über mich hinweg. »Er hat vergessen, Medea«, hörte ich eine helle Stimme wie die eines Kindes. Wieder das Seufzen. »Hat er mich wirklich vergessen? Ganelon, Ganelon! Hast du Medeas Arme vergessen? Ihre Lippen?« Ich schaukelte schläfrig in dem goldenen Licht. »Er hat vergessen«, bestätigte die Kinderstimme, die aus der Kapuze drang. »Er möge trotzdem zu mir kommen. Ganelon! Das Notfeuer brennt! Die Tür zur Dunklen Welt steht offen. Beim Feuer und bei der Erde, bei der Luft und der Dunkelheit, rufe ich dich zu mir, Ganelon!« »Er hat vergessen!« »Bringt ihn. Jetzt ist die Kraft unser!« Das goldene Licht flutete wie eine ölige Flüssigkeit ins Zimmer. Die Schatten des Wolfes und der verhüllten Gestalt schwammen auf mich zu. Ich spürte, wie ich emporgehoben wurde. Das Fenster war schon ganz nahe. Ich packte das Schwert in
der Scheide, aber es gelang mir nicht, gegen die goldene Flut anzukämpfen, die mich vorwärts schwemmte. Der Wolf trieb neben mir her. Immer noch flüsterte die lockende Stimme. »Zum Feuer. Bringt ihn zum Feuer!« »Er hat vergessen, Medea!« »Zum Feuer, Edeyrn! Zum Feuer!« Knorrige Äste huschten an mir vorbei. In der Ferne sah ich ein Flackern. Es kam näher, wurde größer. Das Notfeuer! Immer schneller trieb die Flut mich voran, direkt auf das Feuer zu. Nicht nach Caer Llyr! Ich war es, der diese rätselhaften Worte rief. Sie kamen tief aus meinem Unterbewußtsein. Der Wolf wirbelte herum, funkelte mich an. Die verhüllte Gestalt schwamm näher zu mir heran. Eine Eiseskälte überflutete mich. »Caer Llyr«, flüsterte die Kinderstimme. »Er erinnert mich an Caer Llyr – aber entsinnt er sich auch Llyrs?« »Er wird sich erinnern. Er ist Llyr geweiht, bereits mit ihm verbunden. In Caer Llyrs, wo Llyr zu finden ist, wird er sich entsinnen.« Nur noch wenige Meter entfernt loderte das Notfeuer in den Himmel. Ich kämpfte gegen die gewaltige Strömung an. Ich riß das Schwert aus der Hülle und hieb damit auf die goldenen Lichtbande ein, die mich hielten. Die leuchtenden Schleier erbebten unter dem alten Stahl. Sie rissen und zogen sich zurück. Die murmelnde Melodie erstarb. Einen Herzschlag lang herrschte absolute Stille. Da schrie die unsichtbare Stimme auf. »Matholch!« rief sie. »Lord Matholch!« Der Wolf setzte zum Sprung an, fletschte die Zähne. Ich holte mit dem Schwert aus. Er hatte keine Mühe, dem Hieb auszuweichen. Er sprang. Er schnappte die Klinge mit den Zähnen und entriß sie mir.
Die goldenen Nebelschleier kehrten zurück, umhüllten mich sanft. »Caer Llyr«, murmelten sie. Das Notfeuer leckte höher. »Caer Llyr!« prasselten die Flammen. Eine Frau entstieg dem Feuer! Mitternachtschwarzes knielanges Haar umschmeichelte ihre wundervolle Gestalt. Sie war von betörender Schönheit, einer dunklen Schönheit. Ihr Blick war fragend und entschlossen zugleich. Lilith. Medea, Hexe von Kolchis! Und … »Die Tür schließt sich!« drängte Edeyrns Kinderstimme. Der Wolf, er hatte immer noch mein Schwert im Rachen, wartete sprungbereit ab. Aber die Frau im Feuer schwieg. Sie streckte die Arme nach mir aus. Die goldenen Schleier schoben mich vorwärts, geradewegs in diese weißen Arme. Der Wolf und die Vermummte sprangen zur Seite. Das Knistern der Flammen wurde zum dröhnenden Donnern, zum Bersten von Welten. »Es ist so schwer«, stöhnte Medea. »Helft mir, Edeyrn, Lord Matholch!« Das Feuer erstarb. Nicht länger umgab uns die mondüberflutete Wildnis vom Limberlost. Eine graue Leere, die sich in die Endlosigkeit erstreckte, hatte sie verdrängt. Kein einziger Stern durchbrach sie. Angst klang aus Edeyrns Stimme. »Medea – ich habe keine – Kraft mehr. Zuviel Zeit verbrachte ich auf der Erdenwelt.« »Öffne die Tür!« schrie Medea. »Stoß sie auf, einen Spalt nur, sonst sind wir für immer hier zwischen die Welten verbannt.« Der Wolf kauerte sich zusammen. Er knurrte. Ich spürte die Kraft, die seinem sehnigen Körper entströmte. Sein Gehirn
war nicht das eines Tieres. Die goldenen Schleier, die uns immer noch umhüllt hatten, lösten sich auf. Das graue Nichts drängte sich dichter an uns. »Ganelon!« schrie Medea beschwörend. »Ganelon, hilf mir!« Eine Tür öffnete sich in meinem Geist. Eine formlose Dunkelheit schlich sich ein. Ich spürte, wie finstere Schatten mich überwältigten und in gewaltigen Wellen meinen Geist überschwemmten. »Er hat die Kraft«, murmelte Edeyrn. »Er ist Llyr geweiht. Er soll ihn anrufen.« »Nein, nein. Ich wage es nicht, Llyr?« Aber Medeas Gesicht wandte sich mir fragend zu. Zu meinen Füßen knurrte der Wolf. Er spannte sich, als vermöge er allein durch rohe Kraft eine Tür zu den Welten zu sprengen. Die schwarzen Wellen verschlangen mich nun ganz. Meine Gedanken tasteten sich vor, doch das Grauen der Unendlichkeit warf sie zurück. Wieder tasteten sie sich vorwärts – und berührten etwas! Llyr – Llyr! »Die Tür ist offen!« rief Edeyrn. Die graue Leere war verschwunden. Goldene Schleier umgaben uns wieder flüchtig und lösten sich auf. Weiße Säulen um uns herum stützten eine hohe gewölbte Decke. Wir standen auf einer erhabenen Plattform, die mit fremdartigen Wappen geschmückt war. Die Welle des Bösen, die mich durchflutet hatte, war verschwunden. Aber zitternd vor Entsetzen und Abscheu vor mir selbst, fiel ich auf die Knie und verbarg meinen Kopf in den Händen. Ich hatte – Llyr angerufen!
3. Jeder einzelne Muskel schmerzte, als ich erwachte. Reglos blieb ich liegen und starrte zur niedrigen Decke empor. Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Ich drehte meinen Kopf. Ich lag auf einer mit Seidentüchern und Seidenkissen bedeckten Couch. An der mir gegenüberliegenden Wand des einfach ausgestatteten Raumes befand sich ein Fenster, dessen Scheiben zwar Licht hindurchließen, aber keinen Ausblick gestatteten. Neben mir, auf einem dreibeinigen Hocker, saß die verhüllte Gestalt, die ich als Edeyrn kannte. Aber auch jetzt vermochte ich ihr Gesicht nicht zu sehen. Es lag tief in den Falten der Kapuze versteckt. Ich spürte jedoch ihren wachsamen Blick und einen fremdartigen Hauch – kalt und tödlich. Ihr reichfallendes Gewand war von einem stumpfen Gelb. Als ich sie genauer betrachtete, stellte ich fest, daß sie kaum einsdreißig groß war. Wieder vernahm ich ihre kindliche Stimme. »Möchtet Ihr etwas zu trinken, Lord Ganelon? Oder zu essen?« Ich befreite mich aus der hauchdünnen Seidendecke und setzte mich auf. Ich trug eine leichte Tunika aus Silbergewebe und Beinkleider aus dem gleichen Material. Edeyrn hatte sich nicht bewegt, aber ein Wandbehang schwang zur Seite, und ein Mann mit einem Tablett trat ein. Sein Anblick wirkte beruhigend auf mich. Er war von kräftiger Statur, und sein Gesicht unter dem etruskischen Helm mit Federzier war sonnengebräunt und stark. So glaubte ich zumindest, bis ich seinen Augen begegnete. Sie waren blaue Teiche, erfüllt von einer unnennbaren Angst. Schweigend bediente er mich, und ebenso schweigend zog
er sich zurück. »Eßt und trinkt, Lord Ganelon«, bedeutete mir Edeyrn, »dann werdet Ihr Euch gleich wohler fühlen.« Kalte Bratenscheiben, Brot und ein Glas mit farbloser Flüssigkeit befanden sich auf dem Tablett. Die Flüssigkeit war kein Wasser, wie ich bald feststellte. Ich nahm einen tiefen Schluck, ehe ich den Kristallkelch absetzte. »Ich nehme an, daß ich nicht verrückt bin«, brummte ich. »Durchaus nicht«, versicherte Edeyrn mir. »Eure Seele war von Euch getrennt – Ihr wart im Exil – doch nun seid Ihr wieder zu Hause.« »In Caer Llyr?« fragte ich, ohne eigentlich zu wissen weshalb. Edeyrn zupfte an ihrem Gewand. »Nein. Aber Ihr müßt Euch doch erinnern!« »Ich erinnere mich an gar nichts. Wer seid Ihr? Was ist mit mir geschehen?« »Ihr wißt, daß Ihr Ganelon seid?« »Mein Name ist Edward Bond!« »Und doch erinnertet Ihr Euch fast – am Notfeuer«, murmelte Edeyrn. »Es mag noch eine Weile dauern, ehe Ihr Euer Gedächtnis ganz wiedergefunden habt. Es ist auch nicht ganz ungefährlich. Wer ich bin? Ich bin Edeyrn – ich gehöre dem Zirkel an.« »Sind Sie …« »Eine Frau«, unterbrach sie mich mit ihrer Kinderstimme. Sie lachte leise. »Eine sehr alte Frau. Die älteste des Zirkels, der von seinen ehemaligen dreizehn beträchtlich geschrumpft ist. Nun sind wir nur noch fünf: Medea, natürlich, Lord Matholch« – ich erinnerte mich an den Wolf –, »Ghast Rhymi, der mehr Kraft hat als jeder andere von uns, nur ist er zu alt, sie zu benutzen. Und Ihr, Lord Ganelon oder Edward Bond, wie Ihr Euch nennt. Dereinst waren es Hunderte, doch nicht
einmal ich erinnere mich daran. Nur Ghast Rhymi könnte es, wenn er wollte.« Ich legte stöhnend meinen Kopf in die Hände. »Guter Gott, ich bin völlig verwirrt! Ihre Worte sagen mir nichts. Ich weiß nicht einmal, wo ich mich befinde.« »Hört!« Ich spürte eine sanfte Berührung auf meiner Schulter. »Ihr müßt Euch dessen klarwerden: Ihr habt Euer Gedächtnis verloren.« »Das ist nicht wahr!« »Es ist wahr, Lord Ganelon. Eure echten Erinnerungen wurden gelöscht und durch andere ersetzt. Alles, woran Ihr Euch nun zu erinnern glaubt, an Euer Leben auf der Erdenwelt, das ist alles künstlich. Es geschah nie. Zumindest nicht Euch!« »Die Erdenwelt? Befinde ich mich denn nicht auf der Erde?« »Nein, auf einer anderen Welt«, erklärte sie mir behutsam. »Aber es ist Eure eigene Welt. Ihr kamt von hier. Die Rebellen, unsere Feinde, verbannten Euch und änderten Eure Erinnerungen.« »Das gibt es doch nicht!« »Kommt her!« Edeyrn schritt zum Fenster. Sie berührte etwas, und die Scheibe wurde durchsichtig. Ich schaute über ihr verhülltes Haupt auf eine Landschaft, die ich nie zuvor gesehen hatte. Oder doch? * Eine stumpfrote Sonne tauchte den Wald jenseits des Fensters in blutiges Licht. Ich blickte von einer beachtlichen Höhe auf ihn hinab und vermochte deshalb keine Einzelheiten zu erkennen. Aber die Form der Bäume schien mir ungewöhnlich. Und bewegten sie sich nicht? Ein Fluß strömte
den fernen Bergen entgegen. Mehrere weiße Türme ragten aus dem Wald. Doch allein der Anblick der scharlachroten Sonne hatte mir genügt. Dies hier war nicht die Erde, die ich kannte. »Ein anderer Planet?« erkundigte ich mich. »Mehr als das«, entgegnete Edeyrn. »Nur wenige hier auf der Dunklen Welt ahnen es. Aber ich weiß es. Und bedauerlicherweise für Euch, entdeckten es auch noch einige andere. Es gibt Welten der Möglichkeit, die einst fast identisch waren, bis der Strom der Zeit sie immer mehr veränderte.« »Das verstehe ich nicht.« »Es sind Welten, die in Zeit und Raum nebeneinander existieren und lediglich durch eine weitere Dimension getrennt sind: eine Variante der Möglichkeit. Dies hier ist die Welt, die Edward Bonds sein könnte, wenn nicht vor langer Zeit etwas Bestimmtes geschehen wäre. Ursprünglich waren die Dunkle Welt und die Erdenwelt ein und dasselbe im Raum und in der Zeit. Doch dann wurde eine Entscheidung getroffen, eine ausschlaggebende Entscheidung. Was es war, weiß ich nicht. Von diesem Augenblick an teilte sich der Zeitstrom, und zwei verschiedene Welten existierten, wo es zuvor nur eine gegeben hatte. Anfangs waren sie völlig identisch gewesen, mit dem Unterschied, daß in einer davon diese ausschlaggebende Entscheidung nicht getroffen worden war, was natürlich zu einer völlig andersartigen Entwicklung führte. Das geschah vor Hunderten von Jahren, aber diese beiden Weltvarianten sind einander im Zeitstrom immer noch sehr nahe. Allmählich werden sie weiter auseinander getrieben und sich immer weniger ähnlich sein. Doch einstweilen sind sie sich noch so gleich, daß ein Mensch auf der Erdenwelt einen Zwilling hier auf der Dunklen Welt haben kann.« »Einen Zwilling?«
»Dieser Mensch wäre er nicht geworden, hätte es diese so lange zurückliegende Entscheidung in seiner Welt nicht gegeben. Ja, Ganelon-Edward Bond, Zwillinge. Versteht Ihr nun?« »Zwei nebeneinander existierende Welten. Das kann ich verstehen. Aber ich glaube, Ihr meint mehr – daß es irgendwo ein Double von mir gibt.« »Ihr seid auf dieser, der Dunklen Welt, geboren. Euer Double, der echte Edward Bond, dagegen auf der Erde. Wir haben Feinde hier, Rebellen, die im Walde hausen. Sie haben sich des alten Wissens soweit bemächtigt, daß sie den Abgrund zwischen den Zeitvarianten zu überbrücken vermögen. Wir selbst haben diese Methode erst vor kurzem wiederentdeckt, obgleich sie früher einmal Allgemeingut des Zirkels war. Die Rebellen schlugen die Brücke und verbannten Euch – Ganelon – auf die Erdenwelt, damit Edward Bond zu ihnen kommen konnte. Sie …« »Aber weshalb?« unterbrach ich sie. »Was versprachen sie sich denn davon?« Edeyrn wandte mir ihr verhülltes Haupt zu. Wieder spürte ich die unbeschreibliche Eiseskälte, als sie ihre verborgenen Augen auf mich richtete. »Was sie sich davon versprachen?« echote die helle Kinderstimme. »Denkt nach, Ganelon. Versucht Euch zu erinnern.« Ich schloß meine Augen und bemühte mich, mein Bewußtsein auszuschalten, um mein Unterbewußtsein, Ganelons Erinnerungen, falls es diese wirklich gab, an die Oberfläche dringen zu lassen. Noch vermochte ich Edeyrns unglaubliche Behauptung nicht in ihrer Gesamtheit zu akzeptieren. Doch falls sie tatsächlich stimmte, würde es vieles erklären, sogar – und das wurde mir in diesem Augenblick klar – die plötzliche Besinnungslosigkeit im Flugzeug über
dem Dschungel Sumatras, jener Augenblick, von dem an mir alles so anders, so unrichtig geschienen hatte. Vielleicht war dies jener Moment, als Edward Bond die Erde verließ, und Ganelon seinen Platz einnahm. Bestimmt war jeder der Zwillinge viel zu verwirrt und hilflos gewesen über diese abrupte Änderung, die in ihm vorging, als daß er den Grund verstehen oder nur hätte ahnen können. Aber das ganze war ja verrückt – und unmöglich! »Ich erinnere mich nicht!« sagte ich rauh. »Es kann nicht so sein, wie Sie behaupten. Ich weiß, wer ich bin! Ich kenne jede Minute von Edward Bonds Leben! Wollen Sie mir wirklich weismachen, daß all das nur Illusion ist? Nein, dazu ist es viel zu tief eingeprägt.« »Ganelon, Ganelon!« gurrte Edeyrn. Ihre Stimme verriet ein Lächeln, das ich nicht zu sehen vermochte. »Denkt doch an die Rebellen. Versucht es, Ganelon! Versucht Euch zu erinnern, warum sie Euch auf die Erdenwelt verbannten. Die Waldläufer, Ganelon – diese aufrührerischen kleinen Männer in Grün. Diese Verhaßten, die es wagen, uns zu bedrohen. Ganelon, Ihr müßt Euch doch erinnern können!« Vielleicht war es nur eine Art Hypnose. Doch daran dachte ich erst später. Im Moment schob sich ein Bild vor meine Augen. Ich sah Gruppen von grüngekleideten Menschen durch den Wald schwärmen. Ihr Anblick weckte blinde Wut in mir. Denn in dieser Sekunde war ich Ganelon, ein gewaltiger Lord, dem diese Unterlinge, die es nicht einmal wert waren, seine Schuhe zu küssen, den Gehorsam verweigerten. »Natürlich haßt Ihr sie«, murmelte Edeyrn. Sie hatte meinen Gesichtsausdruck richtig gedeutet. Ich spürte, wie meine Züge sich verzerrt hatten, als ich sprach, und wie ich mich hoch aufrichtete, meine Schultern arrogant zurückgeworfen. »Natürlich bestraftet Ihr sie, wenn Ihr konntet«, fuhr sie fort. »Es war Euer Recht und Eure Pflicht. Aber sie legten Euch
herein, Ganelon. Sie waren klüger als Ihr. Sie fanden eine Tür, die sich auf der Zeitachse drehte und Euch in eine andere Welt befördern konnte. Jenseits der Tür befand sich Edward Bond, der sie nicht haßte. Darum öffneten sie die Tür.« Edeyrns Stimme hob sich ein wenig. Ich hörte eine Spur von Spott heraus. »Falsche Erinnerungen! Falsche Erinnerungen, Ganelon. Ihr übernahmt Edward Bonds Vergangenheit mit seiner Identität. Er dagegen kam in unsere Welt, frei von jedem Wissen über Ganelon. Er hat uns viel Schwierigkeiten bereitet, mein Freund, und viel Verwirrung angerichtet. Anfangs hatten wir keine Ahnung, was schiefgelaufen war. Für uns war Ganelon aus dem Zirkel verschwunden, und ein fremder, neuer Ganelon tauchte unter den Rebellen auf. Er organisierte sie zum Kampf gegen seine eigenen Leute.« Sie lachte leise. »Wir mußten Ghast Rhymi aus dem Schlaf wecken, damit er uns half. Aber schließlich lernten auch wir, die Tür zu öffnen. Wir begaben uns zur Erde, suchten nach Euch, fanden Euch und brachten Euch zurück. Dies hier ist Eure Welt, Lord Ganelon. Wollt Ihr dieser Tatsache nicht ins Auge sehen?« Ich schüttelte verwirrt den Kopf. »Wir können Euch Eure wahren Erinnerungen zurückgeben. Und wir werden es auch tun. Für einen kurzen Augenblick gelangten sie bereits an die Oberfläche, glaube ich. Aber es braucht seine Zeit. Jedenfalls seid Ihr einer des Zirkels, und Edward Bond ist zurück auf der Erde, wohin er gehört. Bestimmt erinnert er sich …« Edeyrn lachte höhnisch. »Erinnert sich all dessen, was er hier unvollendet hinterließ. Doch es gibt keinen Weg für ihn hierher zurück, wo er sich in Angelegenheiten mischen kann, die ihn nichts angehen. Ihr fehltet uns, Ganelon! Wie sehr Ihr uns fehltet!« »Was erwartet Ihr von mir? Ich bin Edward Bond!« »Ganelon vermag viel – wenn er sich erinnert. Schlechte
Zeiten sind für den Zirkel gekommen. Einst waren wir dreizehn. Und es gab viele andere Zirkel, die mit uns den Sabbat feierten. Früher beherrschten wir diese ganze Welt unter dem Großen Llyr. Aber Llyr wird müde. Er entfernt sich immer weiter von seinen Anbetern. Nach und nach ist die Dunkle Welt in die Barbarei zurückgefallen. Und von allen Zirkeln blieben nur wir übrig – ein gebrochener Zirkel, der in der Nähe von Caer Llyr zu Hause ist, wo der Große jenseits des goldenen Fensters schläft.« Sie machte eine Pause. »Manchmal glaube ich, daß Llyr gar nicht schläft«, murmelte sie. »Sondern, daß er sich ganz allmählich in eine andere, entfernte Welt zurückzieht. Daß er sein Interesse an uns, die er erschaffen hat, verliert. Aber er kommt zurück!« Sie lachte. »O ja, er kommt zurück, wenn er die Opfer vor seinem Fenster spürt. Und solange er zurückkommt, wird dem Zirkel die Macht gewährt sein, der Dunklen Welt seinen Willen aufzuzwingen. Doch von Tag zu Tag werden die Rebellen stärker, Ganelon. Mit unserer Hilfe sammeltet Ihr die Kraft, sie zu bekämpfen – als Ihr verschwandet. Wir brauchten Euch zu jenem Zeitpunkt, und nun brauchen wir Euch noch mehr denn je. Ihr seid einer des Zirkels, vielleicht der machtvollste von uns allen. Mit Matholch wart Ihr …« »Einen Augenblick«, unterbrach ich sie. »Ich bin immer noch konfus. Matholch? Ist das der Wolf, den ich sah?« »Das ist er.« »Sie sprechen von ihm, als wäre er ein Mensch.« »Er ist ein Mensch – die meiste Zeit sogar. Er ist ein Lykanthrop. Ein Gestaltwandler.« »Ein Werwolf? Unmöglich. Das ist doch nur Aberglaube, etwas aus Legenden.« »Woher, glaubt Ihr wohl, kommt dieser Aberglaube?« fragte Edeyrn. »Vor langer Zeit gab es viele Türen zwischen der
Dunklen Welt und der Erde. Auf der Erde überlebten die Erinnerungen daran als Sagen und Gruselgeschichten. Aber sie hatten einen durchaus realen Hintergrund.« »Aberglaube, nichts als Aberglaube«, wehrte ich ab. »Sie wollen doch nicht wirklich behaupten, daß es Werwölfe, Vampire und ähnliches gibt?« »Ghast Rhymi könnte Euch mehr darüber erzählen, als ich es vermag. Doch wegen etwas so Unbedeutendem dürften wir ihn nicht wecken. Vielleicht kann ich … Ich werde es versuchen. Der Körper ist aus Zellen zusammengesetzt. Diese sind zu einem bestimmten Grad anpassungsfähig. Wenn sie noch adaptiver gemacht werden, wenn der Metabolismus sporadisch beschleunigt wird, entstehen Werwölfe.« Die Kinderstimme drang aus dem Schatten der Kapuze. Ich begann ein wenig zu verstehen. Im Biologieunterricht hatte man uns wildwuchernde Zellen gezeigt – bösartige Tumore und ähnliches. Und gab es nicht viele Fälle von »Wolfmännern«, deren dichtes Körperhaar schon fast einem Pelz nahekam? Wenn die Zellen sich beschleunigt adaptierten, mochte es zu den merkwürdigsten Verwandlungen führen. Aber die Knochen? Biegsames Stützgewebe statt der starren spröden Knochen des gewöhnlichen Menschen. Eine physiologische Struktur, die sich selbst so zu wandeln vermochte, daß sich die Gestalt veränderte, war eine erstaunliche Theorie! »Es ist zum Teil natürlich nur Illusion«, versicherte mir Edeyrn. »Matholchs Körper ist nicht so tierisch, wie es den Anschein hat. Aber er ist ein Gestaltwandler, und sein Äußeres verändert sich wirklich.« »Aber wie?« forschte ich. »Wie kam es dazu?« Edeyrn schien zu zögern. »Er ist – eine Mutation. Es gibt viele unter uns, hier auf der Dunklen Welt. Manche davon gehören zum Zirkel, doch einige sind anderswo.«
»Sind Sie eine Mutation?« fragte ich. »Ja.« »Eine – eine Gestaltwandlerin?« »Nein«, erwiderte Edeyrn, und ihr magerer Körper unter dem wallenden Gewand schien ein wenig zu zittern. »Nein, ich vermag meine Gestalt nicht zu verändern, Lord Ganelon. Ihr erinnert Euch nicht meiner – meiner Kräfte?« »Nein.« »Ihr werdet sie jedoch sehr nützlich finden, wenn die Rebellen zuschlagen«, murmelte sie. »Ja. Es gibt viele Mutationen unter uns. Vielleicht ist das der Hauptgrund, daß es zu der Abspaltung dieser Möglichkeitswelt kam. Es gibt keine Mutanten auf der Erde – zumindest keine unserer Art. Matholch ist nicht der einzige.« »Bin ich ein Mutant?« fragte ich leise. Das verhüllte Haupt verneinte. »Ihr seid keiner. Denn kein Mutant darf Llyr geweiht werden, ihm geweiht werden, wie Ihr es seid. Einer aus dem Zirkel muß den Schlüssel zu Caer Llyr kennen.« Die Eiseskälte der Angst lief mir erneut über den Rücken. Nein, nicht Angst. Ein Grauen, das mir den Atem nahm, wann immer ich den Namen Llyr hörte. Ich zwang mich zu fragen: »Wer ist Llyr?« »Wer spricht von Llyr?« klang eine tiefe Stimme hinter mir. Ein bedrücktes Schweigen setzte ein. »Wer spricht von Llyr?« wiederholte die Stimme. »Es ist besser, diesen Schleier nicht zu lüften, Edeyrn!« »Doch mag es notwendig sein«, entgegnete die Verhüllte. Ich drehte mich um und sah, gegen die dunkle Portiere gelehnt, die schlanke Gestalt eines Mannes, der wie ich Tunika und Beinkleider trug. Der ganze Eindruck war der einer geschmeidigen agilen Persönlichkeit. Die wie zu einem Knurren halbgeöffneten vollen Lippen über dem roten
Spitzbart erinnerten mich an etwas. Gelbe Augen beobachteten mich mit amüsiertem Spott. »Laßt uns hoffen, daß es nicht dazu kommen muß«, sagte der Mann. »Nun, Lord Ganelon, habt Ihr auch mich vergessen?« »Er hat Euch vergessen, Matholch«, bestätigte Edeyrn. »Zumindest in dieser Gestalt.« Matholch – der Wolf! Der Gestaltwandler! Er grinste. »Heute abend ist Sabbat. Lord Ganelon muß dafür vorbereitet werden. Aber glaube ich, daß es Schwierigkeiten geben wird. Doch das ist Medeas Sache. Sie läßt fragen, ob Ganelon bereits erwacht ist. Da er es ist, sollten wir uns zu ihr begeben.« »Werdet Ihr mit Matholch gehen?« wandte Edeyrn sich an mich. »Warum nicht?« erwiderte ich. Der Rotbärtige grinste erneut. »Ihr habt tatsächlich vergessen, Ganelon! Ihr hättet mir früher nie getraut, hinter Eurem Rücken mit einem Dolch zu gehen.« »Ihr wart klug genug, ihn nicht zu benutzen«, warf Edeyrn ein. »Wenn Ganelon je Llyr anrufen würde, wärt Ihr nicht zu beneiden.« »Nun, ich scherzte nur«, murmelte Matholch gleichgültig. »Meine Feinde müssen wenigstens stark genug sein, sich gegen mich wehren zu können. Ich werde warten, bis Eure Erinnerung wiedergekehrt ist, Lord Ganelon. Einstweilen jedenfalls, mit dem Zirkel in seiner gegenwärtigen Lage, brauche ich Euch nicht weniger als Ihr mich. Kommt Ihr mit?« »Geht mit ihm«, forderte Edeyrn mich auf. »Es besteht keine Gefahr für Euch. Wölfe, die bellen, beißen nicht – auch wenn dies hier nicht Caer Llyr ist.« Ich vermeinte, eine versteckte Drohung aus ihren Worten zu hören. Matholch zuckte die Schultern und hielt die Portiere
zur Seite, um mich vorbeizulassen. »Nur wenige wagen es, einem Gestaltwandler zu drohen.« Er hatte sich zu Edeyrn umgewandt. »Ich wage es«, versicherte sie ihm aus dem Schatten ihrer Kapuze. Ich erinnerte mich, daß auch sie ein Mutant war – wenngleich kein Lykanthrop wie der Rotbärtige. Was war Edeyrn?
4. Bis jetzt hatte ich meine unvorstellbare Situation noch nicht richtig erfaßt. Die Nachwirkungen des Schocks hatten meine Sinne betäubt. Ähnlich einem Soldaten, der, von einer Leuchtrakete geblendet, wie gelähmt stehenbleibt, schien auch mein Verstand wie erstarrt. Er war nur oberflächlicher Gedanken fähig, als könne er durch eine Konzentration auf meine unmittelbaren Bedürfnisse die unglaubliche Tatsache verleugnen, daß ich mich nicht auf dem gewohnten festen Boden der Erde aufhielt. Aber es war mehr als das. Die Hallen mit den gerippten Wänden, durch die ich mit Matholch kam, schienen mir beängstigend vertraut, genau wie die Waldlandschaft es gewesen war, die ich vom Fenster meines Zimmers aus betrachtet hatte. Edeyrn – Medea – der Zirkel. Den Namen haftete eine Bedeutung an, wie Worten einer Sprache, die ich einst beherrschte, doch vergessen hatte. Die schwingende, leicht schleichende Gangart Matholchs, das verzerrte Lächeln über dem roten Spitzbart – es war mir nicht fremd. Er beobachtete mich wachsam. Vor einem roten Vorhang blieb er stehen. Er zögerte, dann schob er ihn zur Seite und
bedeutete mir weiterzugehen. Ich machte einen Schritt – und hielt an. Ich warf ihm einen Blick zu. Offenbar zufrieden nickte er. »Ihr erinnert Euch also ein wenig, eh? Genug jedenfalls, um zu wissen, daß dies nicht der Weg zu Medea ist. Kommt trotzdem mit. Ich möchte mich mit Euch unterhalten.« Als ich ihm die Wendeltreppe hoch folgte, wurde mir erst klar, daß er mich gar nicht auf Englisch angesprochen hatte. Aber ich hatte ihn verstanden, genau wie ich Edeyrn und Medea verstanden hatte. Ganelon? Wir kamen zu einem Turmzimmer. Die Luft hier war rauchig und säuerlich. Graue Schwaden stiegen aus einer Feuerschale in der Zimmermitte auf. Matholch bot mir Platz auf einer Couch in Fensternähe an. Sorglos ließ er sich neben mir nieder. »Ich frage mich, an wieviel Ihr Euch erinnert«, murmelte er. Ich schüttelte den Kopf. »An zuwenig, um jemandem zu trauen.« »Die künstlichen Erderinnerungen stecken demnach noch tief in Euch. Ghast Rhymi sagte schon, es würde eine Weile dauern, aber mit der Zeit würde Euer Gedächtnis voll zurückkommen, und die falschen Erinnerungen werden verblassen.« Wie ein Palimpsest, dachte ich – ein Manuskript mit einer zweiten Schrift über der ursprünglichen. Aber Ganelon war immer noch ein Fremder. Nach wie vor war ich Edward Bond. »Ich bin mir nicht so recht klar«, sagte Matholch bedächtig und blickte mich forschend an. »Ihr habt eine lange Zeit im Exil verbracht. Könnte es sein, daß Ihr Euch verändert habt? Ich meine, von Grund auf. Immer empfandet Ihr Haß für mich, Ganelon – früher. Haßt Ihr mich auch jetzt?«
»Nein«, erwiderte ich. »Ich weiß es zumindest nicht. Ich glaube jedoch, daß ich Ihnen nicht traue.« »Dafür habt Ihr Grund, falls Ihr Euch auch nur ein wenig erinnert. Wir waren immer Feinde, Ganelon, auch wenn wir nach den Gesetzen des Zirkels und zu seinem Schutz zusammenhalten mußten. Ich frage mich, ob wir auch in Zukunft Feinde sein müssen.« »Das hängt von den Umständen ab. Ich lege es nicht darauf an, mir Feinde zu machen – schon gar nicht hier.« Matholchs rote Brauen zogen sich zusammen. »Das ist nicht Ganelon, der aus Euch spricht! Früher war es Euch gleichgültig, wie viele Feinde Ihr Euch schafftet. Wenn Ihr Euch so grundlegend geändert habt, könnte es leicht zur Gefahr für uns führen.« »Ich habe keine Erinnerung«, wiederholte ich. »Ich verstehe so gut wie nichts von all dem hier. Es ist mir, als träume ich nur.« Er sprang auf und lief ruhelos im Raum auf und ab. »Es ist gut so. Wenn Ihr Euch zum alten Ganelon entpuppt, werden wir wieder Feinde sein. Dessen bin ich mir gewiß. Doch wenn das Erdenexil Euch verändert – gewandelt – hat, können wir vielleicht Freunde sein. Ich würde es vorziehen. Aber Medea würde es nicht gefallen. Auch Edeyrn nicht. Und Ghast Rhymi?« Er zuckte die Schultern. »Ghast Rhymi ist alt – uralt. Auf der ganzen Dunklen Welt, Ganelon, habt Ihr die größte Macht. Das heißt, Ihr könnt sie haben. Doch dazu müßtet Ihr Euch nach Caer Llyr begeben.« Matholch blieb stehen und blickte mir tief in die Augen. »Früher hättet Ihr gewußt, was das bedeutet. Ihr hattet Angst, doch Ihr begehrtet die Macht. Einmal schon wart Ihr in Caer Llyr – um dort geweiht zu werden. Darum besteht bereits ein Band zwischen Euch und Llyr. Doch noch ist dieser Bund nicht fest geschlossen. Aber er kann es werden, wann immer
Ihr es wünscht.« »Was ist Llyr?« fragte ich. »Fleht ein gütiges Geschick an, daß Ihr Euch nicht daran erinnern werdet«, murmelte Matholch. »Wenn Medea mit Euch spricht – seid auf der Hut, wenn sie Llyr erwähnt. Ich mag Euer Freund oder Feind sein, Ganelon, aber um meiner selbst, um das Schicksal der Dunklen Welt, ja sogar um das der Rebellen willen, warne ich Euch: bleibt Caer Llyr fern, selbst wenn Medea Euch noch so sehr bittet, und wenn sie Euch noch soviel verspricht. Oder seid zumindest wachsam, bis Ihr Euer wahres Gedächtnis zurückhabt.« »Was ist Llyr?« fragte ich erneut. Matholch drehte mir den Rücken zu. »Ich glaube, Ghast Rhymi weiß es. Ich weiß es nicht. Ich will es auch gar nicht wissen. Llyr ist – ist böse und hungrig, immer hungrig. Aber wie er seinen Appetit stillt …« Er schwieg abrupt. »Ihr habt vergessen«, fuhr er nach einer Weile fort. »Ich frage mich, ob Ihr auch vergessen habt, wie Ihr ihn anrufen könnt.« Ich antwortete nicht. So sehr ich mich bemühte, so sehr meine Gedanken einzudringen versuchten, in meinem Gedächtnis herrschte tiefste Dunkelheit. Llyr – Llyr? Matholch warf eine Handvoll Pulver auf die glühende Feuerschale. »Könnt Ihr Llyr anrufen?« fragte er erneut. Seine Stimme klang sanft. »Antwortet, Ganelon. Vermögt Ihr es?« Der säuerliche Rauchgeruch wurde stärker. Die Finsternis in meinem Gehirn zersplitterte, und mit einem Mal öffnete sich ein Spalt. Ich erkannte diesen abscheulichen Geruch. Ich stand auf und funkelte Matholch an. Mit zwei Schritten erreichte ich die Feuerschale und stieß sie um. Die glühende Holzkohle verstreute sich auf dem Boden. Der Rotbärtige
starrte mich verwirrt an. Ich streckte meinen Arm aus und packte Matholchs Tunika. Ich schüttelte ihn, bis seine Zähne zusammenschlugen. Eine rasende Wut erfüllte mich – und noch etwas. Daß Matholch es wagte, seine üblen Tricks an mir zu versuchen! Meine Zunge gehörte plötzlich einem Fremden. Ich hörte mich sprechen. »Hebt Euch Euren faulen Zauber für die Sklaven und Unterlinge auf!« knurrte ich. »Von mir erfahrt Ihr nur, was ich gewillt bin, Euch zu sagen. Verbrennt Eure verdammten Giftkräuter anderswo, nicht in meiner Gegenwart!« Das rotbärtige Kinn stieß vor. Die gelben Augen glühten. Matholchs Gesicht verwandelte sich. Das Fleisch, halb verborgen in den Rauchschwaden, die von der verstreuten Glut aufstiegen, schien flüssig wie Wasser. Gelbe Reißzähne bedrohten mich durch den grauen Dunst. Der Gestaltwandler stieß das gutturale Knurren eines Wolfes aus. Eine Wolfsfratze starrte mich an. Der Rauch verflüchtigte sich. Die Illusion – war es wirklich nur das gewesen? – war verschwunden. Matholchs Gesicht entspannte sich. Er löste sich sanft aus meinem Griff. »Ihr erschrecktet mich, Lord Ganelon«, sagte er glatt. »Doch meine Frage ist beantwortet, ob diese Kräuter«, er blickte auf die umgestoßene Feuerschale, »nun etwas damit zu tun hatten oder nicht.« Ich wandte mich der Tür zu. »Wartet.« Matholch hielt mich zurück. »Ich habe etwas, das Euch gehört.« Ich blieb stehen. Der Rotbärtige streckte mir ein Schwert entgegen. »Ich nahm es Euch ab, als wir durch das Notfeuer kamen. Es ist Eures.« Ich legte meine Hand um den Griff und schritt zur Tür.
Matholchs Stimme folgte mir. »Wir sind noch keine Feinde, Ganelon. Und wenn Ihr klug seid, werdet Ihr meine Warnung nicht vergessen. Begebt Euch nicht nach Caer Llyr!« Mit dem Schwert fest in der Hand, eilte ich die Wendeltreppe hinunter. Meine Füße fanden ihren Weg von selbst. Der Eindringling in meinem Geist war noch stark. Ein Palimpsest. Und die alte Schrift wurde sichtbar wie durch eine Fluoreszenzfotografie. Die Schrift, die meine verlorene Erinnerung war! Die Burg – woher wußte ich, daß ich mich in einer Burg befand? – war ein Labyrinth. Zweimal kam ich an schweigenden Wachen vorüber, in deren Augen ich eine vertraute Angst las – eine Angst, die sich, wie mir schien, noch vertiefte, als sie mich sahen. Ich eilte durch einen langen Gang mit bernsteinfarbigen Wänden. Unwillig streifte ich eine goldene Portiere zur Seite und trat in einen ovalen Raum mit gewölbter Decke und blassen Seidenbehängen. Ein Springbrunnen sprudelte. Kühle Tropfen benetzten meine Wangen. Jenseits des Gemaches sah ich durch einen Torbogen reich belaubte Äste. Ich schritt hindurch in einen von hohen Mauern umgebenen Garten – ein Garten mit exotischen Blumen und bizarren Bäumen. Die vielfarbige Blütenpracht hob sich wie leuchtende Juwelen von dem dunklen Grund ab. Rubinrot und amethystfarbig, kristallklar und milchigweiß, silbern und golden und smaragdgrün – ein herrlicher Teppich. Die Bäume waren knorrig und verwachsen wie Eichen, und ihre schwarzen Stämme und Zweige dicht belaubt mit giftgrünen Blättern. Ein Raunen ging durch ihr Laubwerk. Sie schienen aus einem Schlaf zu erwachen. Ich sah, wie die schwarzen Zweige sich mir entgegenstreckten.
Zufrieden seufzend entspannten die Bäume sich wieder und standen bewegungslos und ruhig wie zuvor. Sie – kannten mich! Jenseits des unheimlichen Gartens versank die Sonne glühend am dunkleren Horizont. Wieder wogten die Bäume. Eine Unruhe hatte sie erfaßt. Ein geschmeidiger Ast mit einem dichten Blätterschleier schnellte vor und schwang an seinen Platz zurück. Eine flinke Gestalt duckte sich und wich den Baumwächtern aus, die wütend mit ihren Zweigen nach ihr peitschten. Ein Mann in hautenger braungrüner Kleidung kam auf mich zugerannt. Seine Füße zertrampelten achtlos die Juwelenblumen. Freudige Erregung spiegelte sich in seinen kühnen Zügen. Seine Hände waren leer, aber eine pistolenartige primitive Waffe hing von seinem Gürtel. »Edward!« rief er drängend, doch mit leiser Stimme. »Edward Bond!« Ich kannte ihn. Das heißt, ich kannte seine Art. Ich hatte diese schwer zu fassenden grüngekleideten Männer schon oft gesehen. Ein wilder Grimm erfüllte mich bei seinem Anblick. Ein Feind! Ein Emporkömmling! Einer von jenen, die es gewagt hatten, den großen Lord Ganelon mit einem Zauber zu belegen! Ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf stieg, während mich wieder diese vertraute Wut übermannte. Mein Körper erstarrte in Ganelons Haltung. Ich drückte die Schultern zurück, stieß das Kinn vor und verzerrte meine Lippen zu einem grausamen Lächeln. Ich hörte den Mann mit heftiger Stimme und in einer Sprache schimpfen, an die ich mich kaum erinnerte. Ich sah, wie er zurückwich und mich ungläubig anstarrte. Seine Hand fuhr an den Gürtel. »Ganelon?« stammelte er, während er mich mit
zusammengekniffenen Augen musterte. »Edward, bist du es? Oder ist es wieder Ganelon?«
5. Statt einer Antwort hieb ich wild mit dem Schwert auf ihn ein. Er sprang zurück, sah kurz über seine Schulter und zog seine Waffe. Ich folgte seinem Blick und sah eine zweite grüngekleidete Gestalt zwischen den Bäumen hindurchhuschen. Sie war kleiner und schlanker – ein Mädchen in einem erd- und waldfarbigen Kittel. Ihr schwarzes Haar flog über ihre Schultern. Während sie rannte, tasteten ihre Hände nach dem Gürtel. Ihr Gesicht war haßverzerrt. Der Mann vor mir redete hastig auf mich ein. »Edward! Hör mir doch zu! Selbst wenn du Ganelon bist, mußt du dich an Edward Bond erinnern. Er lebte mit uns, er glaubte an uns! Hör uns doch wenigstens an, ehe es zu spät ist! Arles kann dich sicher überzeugen, Edward. Komm mit zu Arles. Selbst wenn du Ganelon bist, laß mich dich zu Arles bringen!« »Es hat doch keinen Sinn, Ertu!« rief das Mädchen nervös. Sie kämpfte gegen den vordersten Baum an, der sie mit seinen Zweigspitzen festzuhalten versuchte. Keiner von den beiden bemühte sich nun noch, leise zu sein. Sie schrien. Ich wußte, sie würden jeden Augenblick die Wachen auf sich aufmerksam machen. Aber ich wollte sie selbst töten, ehe jemand herbeieilte und mir vielleicht gar zuvorkam. In diesen Augenblicken war mir sogar der Name Edward Bond fremd. »Töte ihn, Ertu!« schrillte das Mädchen. »Töte ihn oder geh mir aus der Schußlinie. Ich kenne Ganelon!« Ich musterte sie und umklammerte mein Schwert noch fester. Ja, sie sprach die Wahrheit. Sie kannte Ganelon. Und
Ganelon kannte sie und erinnerte sich dumpf, daß sie Grund hatte, ihn zu hassen. Ich hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, von Wut und Verzweiflung verzerrt. Ich konnte mich jedoch nicht entsinnen, wann, wo, weshalb, aber ich wußte, daß ich sie kannte. Ertu zog zögernd seine Waffe. Für ihn war ich offenbar zumindest noch äußerlich ein Freund. Ich lachte laut und schwang erneut das Schwert. Zischend zerschnitt es die Luft. Diesmal streifte es seinen Arm, als er zurücksprang. Er hob seine Waffe, und ich starrte in den schwarzen Lauf. »Zwing mich nicht dazu«, knirschte er. »Es wird vorübergehen. Du warst Edward Bond – du wirst es wieder sein. Zwing mich nicht dazu, dich zu töten, Ganelon!« Wieder schwang ich das Schwert. Ich sah ihn nur verschwommen durch einen roten Wutschleier. Ein überwältigendes Triumphgefühl hatte mich erfaßt. Da begann das Schwert in meiner Hand ein eigenes Leben zu entwickeln. Es zuckte hoch. Die ganze Kraft, die ich in diesen Hieb gelegt hatte, wandte sich nun gegen mich. Ein furchtbarer Schlag lähmte meinen Schwertarm, meinen ganzen Körper. Ein schier unerträglicher Schmerz durchzuckte mich. Der Garten schien sich um mich zu drehen. Der Boden prallte hart gegen meine Knie. Die Schleier lösten sich von meinen Augen. Ich war noch Ganelon, aber ein Ganelon, halb betäubt von etwas Mächtigerem als einem Schlag. Ich kniete auf dem Gras, stützte mich mit der Linken und schüttelte die bebenden Finger meiner Rechten. Ich starrte auf das Schwert, das ein paar Meter von mir entfernt lag und schwach glühte. Matholch steckte dahinter – dessen war ich sicher. Ich hätte mich erinnern müssen, wie wenig ich diesem falschen, launenhaften Hund trauen konnte. Ich hatte im Turmzimmer
Hand an ihn gelegt – natürlich rächte er sich dafür. Selbst Edward Bond – so ein weichherziger Narr er auch war – wäre nicht so dumm gewesen, ein Geschenk des Gestaltwandlers anzunehmen. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich vom Ärger über Matholch fortreißen zu lassen. Ich starrte in Ertus Augen und in den Lauf seiner Waffe. Langsam formte sich ein Entschluß in seinem Gesicht. »Ganelon!« flüsterte er. »Hexer!« Er richtete seine Waffe auf mich. Sein Finger zuckte bereits am Abzug, als eine haßerfüllte Stimme ihn zurückhielt. »Warte, Ertu! Warte! Laß es mich tun!« Ich blickte hoch, immer noch ein wenig verwirrt. Es war alles so schnell gegangen. Das Mädchen löste sich gerade erst aus dem Griff des Zweiges. Sie hatte ihre Schußwaffe erhoben, und ihr Gesicht dahinter war weiß vor Haß. »Laß mich es tun!« rief sie erneut. »Ich habe es mit ihm zu begleichen!« Ich war hilflos. Ich wußte, daß sie mich aus dieser Entfernung treffen mußte. Ich sah ihre wutfunkelnden Augen, und ich sah, wie der Lauf ein wenig schwankte, weil ihre Hand vor Erregung zitterte. Aber sie würde mich trotzdem treffen. In diesem Augenblick ging mir vieles durch den Kopf – wirre Erinnerungen Ganelons und Edward Bonds, bunt durcheinandergemischt. Ein lautes Zischen, wie von einem aufkommenden Wind, erschallte von den Bäumen hinter dem Mädchen. Sie alle lehnten sich vor, viel weiter und viel schneller, als ein normaler Baum es vermochte. Das Zischen wurde heftiger, wütender. Ertu rief dem Mädchen etwas zu, aber ich glaube, sie war viel zu erregt, als daß sie es hörte. Sie wußte sicher nicht, was ihr geschah. Alles, was sie vielleicht spürte, war das Peitschen des nächsten Astes, der von dem nach vorn gebeugten Baum auf sie herabsauste. Sie
schoß im gleichen Augenblick, als der Ast sie traf. Ein weißglühender Blitz schlug vor meinen Knien in den Boden. Ich roch das versengte Gras. Das Mädchen stieß einen schrillen Schrei aus, als die Äste vereint über sie herfielen. Die längeren Zweige wanden sich um ihren Körper. Ich hörte ein deutliches Knacken – einen Laut, den ich in diesem Garten schon öfter gehört hatte, das wußte ich. Das menschliche Rückgrat ist in dem Griff dieser mächtigen Zweige nicht mehr als ein morscher Ast. Einen flüchtigen Moment erstarrte Ertu. Dann wirbelte er zu mir herum, und diesmal, das wußte ich, würde sein Finger am Abzug nicht zögern. Aber er hatte zu lange gewartet. Er hatte sich mir noch nicht voll zugewandt, als ein amüsiertes Lachen hinter mir erklang. Ich sah Abscheu und Haß über Ertus Züge huschen. Die Waffe deutete nicht mehr auf mich, sondern auf jemanden in meinem Rücken. Doch ehe er noch den Abzug drücken konnte, schoß ein weißglühender Lichtstrahl über meine Schulter und traf ihn voll in die Brust. Er sank zu Boden, sein Gesicht eine haßerfüllte Fratze. Ich drehte mich um und stand, noch ein wenig mühsam, auf. Es war Medea, die zu meiner Rettung gekommen war. Sie lächelte und sah in ihrem enganliegenden roten Gewand betörend aus. In ihrer Rechten hielt sie einen dünnen schwarzen Stab. Ihre purpurnen Augen begegneten meinen. »Ganelon«, murmelte sie zärtlich. »Ganelon.« Noch während sie mir in die Augen sah, klatschte sie in die Hände. Zwei Wachen eilten schweigend herbei und schleppten Ertus Leiche hinweg. Die Bäume rauschten, schienen sich etwas zuzuraunen, dann schwiegen auch sie. »Ihr habt Euch erinnert!« stellte Medea fest. »Ganelon ist wieder mit uns. Entsinnt Ihr Euch auch meiner – Lord Ganelon?«
Medea, Hexe von Kolchis. Schwarz und weiß und rot stand sie vor mir und lächelte mich an. Ihre Schönheit weckte alte vergessene Erinnerungen in meinem Blut. Kein Mann, der Medea je gekannt hatte, würde sie vergessen können. Bis zum Ende aller Zeiten. Halt! Da war noch etwas, das Medea betraf, an das ich mich erinnern mußte. Etwas, das sogar Ganelon ein wenig zweifeln, ihn wachsam sein ließ. Ganelon? War ich Ganelon? Ich war in jeder Beziehung mein altes Selbst gewesen, als die Waldläufer vor mir gestanden hatten. Aber nun war ich mir nicht mehr so sicher. Die Erinnerungen begannen wieder zu verblassen. Während die betörende Hexe mich noch anlächelte und nicht ahnte, was in mir vorging, verließ mich plötzlich alles, was mich so kurz zu Ganelon gemacht hatte. Edward Bond stand hier in meinem Gewand. Er starrte über die Lichtung und erinnerte sich mit einem Entsetzen, das ihm – mir – den Magen umdrehte, was soeben hier geschehen war. Schnell wandte ich mein Gesicht so, daß Medea meine Gefühle, die ganz gewiß daraus abzulesen waren, nicht zu sehen vermochte. Die Übelkeit, die ich empfand, rührte nicht nur von den widerstreitenden Erinnerungen her. Die Gewißheit, daß zwei Persönlichkeiten meinen Körper teilten, war noch schwerer zu ertragen. Dies hier war Ganelons Körper. Daran zweifelte ich nun nicht mehr. Irgendwo auf der Erde befand Edward Bond sich wieder in vertrauter Umgebung, aber das Gehirnmuster seiner Erinnerungen überlagerte immer noch mein eigenes, so daß er und ich nun eine gemeinsame Seele teilten. Es gab keinen Ganelon, von flüchtigen Augenblicken abgesehen, wenn die Erinnerungen, die rechtmäßig meine waren, zurückkehrten, um Edward Bond zu verdrängen. Ich haßte Ganelon. Ich verabscheute alles, was er dachte und
was er war. Meine falschen Erinnerungen, das Vermächtnis von Edward Bond, waren stärker in mir als Ganelon. Ich war Edward Bond – jetzt! Medeas zärtliche Stimme drang durch meine Überlegungen. Sie wiederholte ihre Frage: »Entsinnt Ihr Euch meiner, Lord Ganelon?« Ich wandte ihr wieder das Gesicht zu. Ich vermochte nicht klar zu denken. »Mein Name ist Bond«, erklärte ich ihr hartnäckig. Sie seufzte. »Ihr werdet zurückkehren«, versicherte sie mir. »Es wird eine Weile dauern, aber Ganelon kommt zu uns zurück. Wenn Ihr all die vertrauten Dinge seht, das Leben auf der Dunklen Welt, das Leben des Zirkels, wird die Tür zu Eurem Gedächtnis sich wieder öffnen. Schon heute abend werdet Ihr Euch wieder ein wenig erinnern, glaube ich.« Das Lächeln ihrer tiefroten Lippen wirkte erschreckend auf mich. »Kein Sabbat wurde mehr gehalten, seit ich mich zur Erdenwelt begab«, fuhr sie fort. »Er ist schon längst überfällig. In Caer Llyr harrt einer hungrig seines Opfermahls.« Sie blickte mich durchdringend an. Ihre purpurnen Augen verengten sich. »Erinnert Ihr Euch an Caer Llyr, Ganelon?« Das alte Grauen erfüllte mich erneut bei der Erwähnung dieses rätselhaften Namens. Llyr – Llyr! Finsternis und etwas, das sich jenseits eines goldenen Fensters zu regen begann. Etwas, das zu fremdartig war, um unter den Menschen zu wandeln. Etwas, mit dem die Menschen nie in Berührung kommen sollten. Etwas, das zu abstoßend, zu grauenerregend war. Und doch, trotz meiner Abscheu, war Llyr mir auch etwas unsäglich Vertrautes! Ich entsann mich … »Ich erinnere mich an nichts«, erwiderte ich kurz. Denn in diesem Augenblick erwachte die Vorsicht in mir. Ich konnte
niemandem trauen, nicht einmal mir selbst. Am wenigsten aber Ganelon. Ich erinnerte mich tatsächlich, aber das sollten sie nicht wissen. Solange mir nicht klarer war, was sie beabsichtigten, mußte ich dieses Geheimnis für mich behalten, denn es war die einzige Waffe, die ich besaß. Der Gedanke an ihn – an es – bestätigte diesen Entschluß. Denn irgendwo in der Tiefe von Ganelons Vergangenheit gab es eine Verbindung mit Llyr. Ich wußte, daß sie versuchten, mich in diesen Abgrund der Einheit mit Llyr zu stoßen, und spürte, daß selbst Ganelon davor zurückscheute. Ich mußte mich unwissender stellen als ich wirklich war, bis wenigstens dieser Teil meiner Erinnerung klarer geworden war. Erneut schüttelte ich den Kopf. »Ich erinnere mich an nichts.« »Nicht einmal an Medea?« flüsterte sie und schmiegte sich an mich. Sie war eine Zauberin. Meine Arme legten sich begehrend um sie, als gehorchten sie Ganelon, nicht mir. Aber es waren Edward Bonds Lippen, die unter ihrem verlangenden Kuß brannten. Nicht einmal an Medea? Edward Bond oder Ganelon, was machte es aus? Allein der Augenblick zählte. Aber ihre Berührung wühlte etwas in Edward Bond auf. Sie brachte etwas unvorstellbar Fremdes mit sich. Ich hielt ihren wundervollen Körper in meinen Armen, doch mir war, als bemühte sie sich, etwas zurückzuhalten, etwas von dem sie besessen war, und das sich befreien wollte. »Ganelon!« Zitternd drückte sie ihre Hände an meine Brust und schob mich von sich. Winzige Schweißtropfen perlten auf ihrer Stirn. »Genug!« flüsterte sie. »Ihr wißt warum!« »Warum, Medea?« Ihre purpurnen Augen weiteten sich vor Grauen.
»Ihr habt wirklich vergessen!« keuchte sie. »Ihr habt vergessen, wer ich bin, was ich bin!«
6. In Ganelons Gemächern wartete ich auf die Stunde des Sabbats. Ruhelos schritt ich auf und ab. Es waren Ganelons Füße, die über den Teppich stampften, aber das Gehirn, das sie beherrschte, war Edward Bonds. Erstaunlich, dachte ich, wie die übertragene Erinnerung eines anderen Ganelon so sehr verwandeln konnte – in mich verwandelte. Ob ich je mit Sicherheit wissen würde, welche von den zwei so grundverschiedenen Persönlichkeiten ich war? Ich haßte und mißtraute Ganelon – jetzt. Aber ich wußte nun aus Erfahrung, wie schnell mein altes Ich übernehmen konnte, und wie sehr ich dann Edward Bond verachtete. Und doch, um mich selbst zu retten, mußte ich auf Ganelons Erinnerungen zurückgreifen. Ich mußte mehr wissen, als die anderen auch nur ahnten, daß ich wußte. Medea würde mir nichts verraten. Auch Edeyrn nicht. Matholch dagegen viel, aber nur Lügen. Ich wagte es kaum, mich mit ihnen zu diesem Sabbat zu begeben, der vermutlich Llyrs Sabbat war; schon dieser fremdartigen und schrecklichen Verbindung zwischen ihm und mir wegen. Es würde Opfer geben. Wie konnte ich sicher sein, daß nicht ich selbst als Opfer enden würde – vor jenem goldenen Fenster? Einen flüchtigen Augenblick kehrte Ganelon zurück, und vage Erinnerungen huschten durch meinen Kopf. Aber es waren nur Bruchstücke, und sie wechselten zu schnell, um Form anzunehmen. Ich empfand nur ihren Terror, eine Abscheu, Furcht, und ein unnatürliches, hoffnungsloses
Verlangen. Durfte ich es wagen, an diesem Sabbat teilzunehmen? Aber ich konnte es andererseits nicht wagen, nicht teilzunehmen. Denn wenn ich mich weigerte, käme es einem Geständnis gleich, daß ich mehr darüber wußte, was Ganelon fürchtete, als Edward Bond auch nur ahnen konnte. Und meine einzige Waffe war das Geheimnis, das sie nicht kannten. Selbst wenn der Altar auf mich wartete, mußte ich mitmachen. Es gab die Waldläufer. Sie wurden von den Soldaten des Zirkels gejagt. Gefangennahme bedeutete Versklavung – ich entsann mich nur zu gut des Grauens in den Augen der lebenden Toten, die Medea als Diener benutzte. Als Edward Bond bedauerte ich sie. Ich fragte mich, ob ich irgend etwas unternehmen könnte, um sie vor dem Zirkel zu schützen. Der echte Edward Bond hatte anderthalb Jahre unter ihnen gelebt und eine Widerstandsbewegung aufgebaut, die den Zirkel bekämpfte. Wie groß mußte seine Verzweiflung über die Erkenntnis nun sein, daß er sein Werk nicht vollenden konnte und seine Freunde den Zauberkünsten des Zirkels wieder preisgeben hatte müssen. Vielleicht sollte ich mich mit den Waldläufern in Verbindung setzen? Bei ihnen wäre ich zumindest sicher, bis meine Erinnerung wiederkehrte. Aber wenn es dann soweit war, wäre Ganelon zurück mit seiner Arroganz und seinem Haß, und er würde Amok laufen unter ihnen. Durfte ich meine, Edward Bonds, Freunde dieser Gefahr und mich selbst ihrer Rache aussetzen? Ich konnte nicht bleiben, aber auch nicht gehen. Nirgends gab es Sicherheit für Edward Bond, der jeden Augenblick Ganelon werden mochte. Überall lauerte Gefahr auf mich. Gefahr durch die Waldläufer. Gefahr durch Matholch, durch Edeyrn, durch Ghast Rhymi, wer immer er war, durch Arles,
durch die rote Hexe! Ja, dachte ich. Am meisten durch Medea – Medea, die ich liebte. Beim Einbruch der Dämmerung brachten zwei Sklavinnen mein Abendmahl und frische Kleider. Ich aß in aller Eile und schlüpfte in die seidige Tunika und die knielange Hose und zog den blauen Umhang darüber. Etwas unsicher betrachtete ich die goldene Gesichtsmaske. »Wir sollen Euch den Weg weisen, Lord«, erklärte mir eine der Dienerinnen, »wenn Ihr soweit seid.« »Ich bin bereit«, erwiderte ich und folgte den beiden. Ein verborgenes Beleuchtungssystem erhellte die Halle. Die Sklavinnen brachten mich zu Medeas Gemächern mit dem Springbrunnen unter der hohen Kuppeldecke. Die rote Hexe war von atemberaubender Schönheit in ihrem enganliegenden weißen Gewand, aus dem die bloßen Schultern sich rosig abhoben. Ihren roten Umhang hatte sie auf den Rücken geschoben. Die Dienerinnen zogen sich zurück. Medea lächelte mich an, aber ich spürte die Spannung, die von ihr ausging. »Seid Ihr bereit, Ganelon?« »Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Sie dürfen nicht vergessen, daß ich mein Gedächtnis verloren habe.« »Vielleicht kehrt es, wenigstens zum Teil, schon heute abend zurück«, tröstete sie mich. »Aber Ihr werdet nicht am Ritual teilnehmen, zumindest nicht bis nach dem Opfer. Es ist besser, wenn Ihr nur zuseht. Da Ihr Euch ja nicht an die Riten erinnert, überlaßt Ihr sie lieber dem Rest des Zirkels.« »Matholch?« »Und Edeyrn«, fügte Medea hinzu. »Ghast Rhymi wird nicht kommen. Er verläßt nie diese Burg. Er würde es nur tun, wenn der Grund sehr zwingend wäre. Er ist alt, unendlich alt.«
* Ich runzelte die Stirn. »Wohin gehen wir?« fragte ich die rote Hexe. »Nach Caer Secaire. Ich erwähnte bereits, daß keine Opfer mehr dargebracht wurden, seit ich mich in die Erdenwelt begab, um nach Euch zu suchen. Es ist höchste Zeit.« »Was habe ich dabei zu tun?« Sie streichelte meine Hand. »Nichts, bis der Augenblick gekommen ist. Dann werdet Ihr es von allein wissen. Doch bis es soweit ist, braucht Ihr nur zuzuschauen – das ist alles. Streift Euch nun Eure Maske über.« Sie schlüpfte in ihre eigene, eine schwarze Maske, die nur die obere Gesichtshälfte bedeckte. Ich tat wie geheißen und folgte Medea durch den Torbogen. Wir kamen in einen Hof, auf dem zwei Pferde, von Stallburschen gehalten, warteten. Medea schwang sich auf eines, ich mich auf das andere. Ein breites Tor in den hohen Mauern gewährte Ausblick auf eine Straße, die geradewegs zu dem fernen Wald führte. Die düstere Sonne verschwand hinter den Bergen. Mit unerwarteter Plötzlichkeit senkte sich die Dunkelheit herab. Millionen von funkelnden Lichtern hoben sich vom schwarzen Nachthimmel ab. Medeas Gesicht wirkte im matten Schein der Sterne gespenstisch weiß. Aber ihre Augen hinter der Maske glühten. Aus weiter Ferne hörte ich schwach den Klang von Trompetenstößen. Nach einer Weile wiederholten sie sich. Dann war es ganz ruhig, bis das Klappern von Hufen erschallte. Schweigend und wie Marionetten zogen gut vier Dutzend Heloten an uns vorbei durch das Tor, gefolgt von einer gleichen Zahl Sklavinnen. Nun passierte uns auch Matholch auf einem Rotschimmel.
Er musterte mich aus den Augenwinkeln. Ein grüner Umhang flatterte von seinen Sklavinnen. Edeyrn, hinter ihm, ritt auf einem Pony. Auch jetzt verbarg eine Kapuze ihre Züge. Ihr Umhang war gelb. Medea nickte mir zu. Wir nahmen unseren Platz ein. Weitere Reiter folgten uns, aber ich konnte sie nicht genau sehen. Es war zu dunkel. Wir ließen den Hof hinter uns und ritten schweigend, bis wir den Wald erreichten. Ich warf einen Blick zurück auf die mächtigen Umrisse der Burg, die wir verlassen hatten. Nun ritten wir unter schweren, weitausgestreckten Ästen. Sie gehörten nicht zu der Baumgattung, die Medeas Garten beschützte, aber auch sie waren anders als alle Bäume, die ich von der Erde kannte. Eine unbeschreibliche Fremdheit ging von ihnen aus. Nach einer Weile führte die Straße abwärts, und ich sah sie am Fuße eines sanften Hügels enden. Der Mond war aufgegangen. In seinem gelben Schein bemerkte ich unten im Tal die Umrisse einer Art Turm, ein fensterloses Bauwerk, das sich düster aus den uralten Bäumen hob. Caer Secaire! Ich war früher schon öfter hiergewesen. Ganelon kannte diesen Ort sehr gut. Aber ich nicht. Ich spürte nur die abstoßende Vertrautheit, das Deja-vu-Phänomen, das allen Psychologen bekannt ist, verbunden mit dem seltsamen Empfinden, daß alles in mir – mein Geist, meine Seele, ja selbst mein Körper – sich auf unerklärliche Weise verändert hatte. Caer Secaire. Secaire? Irgendwann war dieser Name mir schon untergekommen. Ein uralter Ritus in der Gascogne. Ja, das war es! Die Messe von St. Secaire! Und derjenige, für den diese Schwarze Messe gelesen wird –
stirbt! Auch daran erinnerte ich mich. Sollte diese Messe heute für Ganelon gelesen werden? Dies hier war nicht Llyrs Aufenthalt. Irgendwie wußte ich das ganz sicher. Caer Llyr war anderswo und sah auch anders aus. Es war kein Tempel, wo die Gläubigen zusammenkamen. Aber hier in Caer Secaire, wie in allen anderen Tempeln auf der Dunklen Welt, konnte Llyr zum Opferfest gerufen werden – und er würde auch kommen! Sollte Ganelon sein heutiges Opfer sein? Ich umklammerte nervös die Zügel. Eine Spannung, die ich nicht zu deuten wußte, hing in der Luft. Medea schien völlig ruhig. Edeyrn war es immer. Und Matholch? Matholch, dessen war ich mir sicher, kannte so etwas wie Nerven überhaupt nicht. Und doch, ich täuschte mich nicht. Es war, als käme die Spannung aus den dunklen Bäumen. Vor uns strömten die Sklaven-Soldaten und -Mädchen dahin – eine schweigsame, willenlose Menge. Einige der Soldaten waren bewaffnet. Sie schienen die anderen anzutreiben wie Schäferhunde eine Herde. Ihre Bewegungen wirkten mechanisch. Ohne daß man es mir sagen hätte müssen, wußte ich, warum die Männer und Frauen nach Caer Secaire getrieben wurden. Aber auch diese willenlosen Opfer waren es nicht, die diese Spannung erzeugten. Sie schlurften blind in ihren Tod. Nein, die Spannung kam aus der Finsternis um uns. Jemand, etwas wartete in der Nacht!
7. Plötzlich zerriß ein Trompetenstoß aus dem Dunkel des Waldes die Stille. Brechend teilte sich das Unterholz. Schreie erschollen, und die dünnen Lichtfinger der fremdartigen Strahlenwaffen zuckten wie Blitze durch die Nacht. Auf der
Straße wimmelte es von grüngekleideten Gestalten, die die Wachen zu überwältigen versuchten und sich zwischen die willenlosen Opfer und uns drängten. Mein Pferd bäumte sich auf. Ich bemühte mich, es zu beruhigen, während mich die mir nun schon bekannte Wutwelle zu überschwemmen drohte. Der Anblick der Waldläufer hatte Ganelon geweckt, und er versuchte die Herrschaft zu übernehmen. Mit aller Kraft mußte ich gegen ihn ankämpfen. Trotz meiner Verwirrung sah ich in diesem Überraschungsangriff meine Chance. Ich schlug meinem sich immer noch aufbäumenden Pferd die Zügelschlaufe zwischen die Ohren und preßte die Schenkel fest an seine Flanken, um nicht abgeworfen zu werden. Neben mir hatte Medea sich in den Steigbügeln aufgestellt und schickte Blitz um Blitz aus dem dünnen Stab in das grüne Gedränge. Edeyrn hatte sich ein wenig abgesondert. Sie nahm nicht am Kampf teil. Zusammengekauert saß sie auf ihrem Pony. Ihre völlige Ruhe wirkte erschreckend auf mich. Ich hatte das Empfinden, daß sie den Kampf jeden Augenblick beenden könnte, wenn sie es wollte. Matholchs Sattel war leer. Sein Pferd brach sich allein einen Weg durchs Unterholz. Er selbst war mitten unter die Angreifer gesprungen. Der Kampf schien ihn zu berauschen. Ich hörte sein triumphierendes Knurren, das mir kalte Schauder über den Rücken jagte. Ich sah seine mit dem grünen Umhang bedeckte Gestalt, die jedoch nicht mehr ganz menschlich wirkte. Die Waldläufer wichen ihm aus, während er sich einen Weg an die Spitze der willenlosen Sklaven bahnte. Die Waldleute machten einen verzweifelten Befreiungsversuch. Das erkannte ich sofort. Ich bemerkte auch, daß sie es nicht wagten, die Mitglieder des Zirkels anzugreifen. Ihre ganze Anstrengung galt der Überwältigung
der roboterhaften Wachen und damit der Befreiung der nicht weniger roboterhaften Sklaven. Aber ich sah auch, daß ihnen kein Erfolg beschieden war. Die als Opfer Vorgesehenen waren zu apathisch, sich von der Stelle zu rühren. Sie besaßen keinen eigenen Willen mehr. Sie befolgten nur noch Befehle, aber die Waldläufer hatten keinen Führer, niemanden, der Befehle erteilte. Plötzlich wußte ich, weshalb. Es lag an mir. Es war höchstwahrscheinlich Edward Bond gewesen, der diesen kühnen Überfall geplant hatte. Er war nun nicht mehr hier, um sie anzuführen. Schon jetzt war der Angriff so gut wie zu Ende. Medeas Feuerpfeile streckten einen Mann nach dem anderen nieder. Die marionettenhaften Wachen feuerten ohne Unterlaß auf die Grüngekleideten. Und die Wirkung von Matholchs siegesbewußtem Knurren war noch durchschlagender als die Schußwaffen. Die Angreifer schreckten davor zurück, wie sie es vor den Strahlenwaffen nicht taten. Jeden Augenblick würde Matholch die Spitze der Heloten erreichen, und ein organisierter Widerstand mußte dieser führerlosen Rebellion ein sofortiges Ende setzen. Mein eigener Kopf war in diesen Augenblicken ein Kampfplatz. Ganelon versuchte die Herrschaft zu übernehmen, und Edward Bond wehrte sich mit aller Kraft dagegen. Als Ganelon wußte ich, daß mein Platz neben dem Gestaltwandler war, und jede Faser in mir drängte mich, an seine Seite zu eilen. Aber Edward Bond wollte es nicht zulassen. Als Edward Bond wußte ich ebenfalls, wo mein rechtmäßiger Platz war. Ich schob meine goldene Maske zurück, daß mein Gesicht erkenntlich war. Dann stieß ich dem Pferd die Absätze in die Weichen und galoppierte hinter Matholch her. Allein das
Gewicht des Gauls gab mir einen Vorteil, den der laufende Werwolf nicht hatte. Das Dröhnen der Hufe und das Schnauben des Pferdes öffneten einen Weg für mich. Ich erhob mich in den Steigbügeln und brüllte mit Ganelons tiefer Stimme: »Bond! Bond! Edward Bond!« Die Rebellen hörten mich. Einen Augenblick, als die Grüngekleideten sich umdrehten, setzte der Kampflärm an der Spitze aus. »Bond! Edward Bond!« jubelten sie. Der Wald hallte davon wider. Neuer Mut schien sie zu erfassen. Matholchs wildes, diesmal aus Wut geborenes Knurren ging im Brüllen der Waldläufer unter. Sie griffen mit neuer Heftigkeit an. Aus Ganelons Erinnerungen erkannte ich, was ich tun mußte. Die Rebellen streckten eine Wache nach der anderen nieder, ohne sich um die Strahlenschüsse zu kümmern, die ihre eigenen Reihen dezimierten. Doch lediglich ich wußte, wie die Gefangenen gerettet werden konnten. Nur Ganelons Stimme vermochte durch ihre unnatürliche Willenlosigkeit zu dringen. Ich trieb mein schnaubendes Pferd an, und links und rechts die Wachen zu Boden stoßend, erreichte ich die Spitze der Prozession. »In den Wald!« rief ich. »Erwacht und lauft! Eilt!« Immer noch in ihrer Trance gehorchten die Sklaven der Stimme eines ihrer Meister aus dem Zirkel. Sie überrannten die Wachen und liefen in die Dunkelheit des Waldes. Die Rebellen sprangen zur Seite, um sie vorbeizulassen. Es war eine ungewöhnliche, schweigsame Flucht. Nicht einmal die Wächter erhoben ihre Stimmen, obgleich sie den Fliehenden Schuß auf Schuß nachsandten. Keinerlei Regung zeigte sich auf den Gesichtern der um ihr
Leben laufenden Männer und Frauen und auf jenen der bewaffneten Soldaten, die sie niederschossen. Ohne auch nur einen Laut auszustoßen, rannten und starben sie, wenn einer der Strahlerschüsse sie traf. Ich schwenkte mein Pferd herum und folgte den Fliehenden. Meine goldene Maske begann zu rutschen. Ich riß sie mir vom Gesicht und winkte damit den Rebellen zu. »Rettet euch!« rief ich. »Auseinander! Folgt mir!« Hinter mir, ganz nahe, hörte ich Matholchs tiefes Knurren. Ich blickte über die Schulter. Der Gestaltwandler eilte mir an der Spitze einer kleinen Gruppe seiner Soldaten nach. Sein Gesicht war die verzerrte Fratze eines Wolfes. Während ich noch zurückschaute, hob er einen dunklen Stab, ähnlich jenem Medeas. Ich sah den weißen Blitz herausschießen und duckte mich im Sattel. Meine schnelle Reaktion rettete mich. Ich spürte einen heftigen Zug an meiner Schulter, als der Schuß meinen flatternden Umhang zerriß und knapp über mich hinwegzischte. Mein Pferd machte einen gewaltigen Satz mitten zwischen die dichten Bäume. Es warf seinen Kopf zurück und wieherte verängstigt. »Hierher!« vernahm ich eine Stimme direkt neben mir, und eine Hand griff nach dem Zügel. Ich ließ mich von dem Waldläufer durch die Dunkelheit leiten. Erst gegen Morgengrauen näherten wir uns unserem Ziel – der Festung der Rebellen in einem Tal zwischen hohen Felsen. Wir waren alle müde und erschöpft. Die befreiten Sklaven waren den ganzen Weg wortlos und mit leeren Gesichtern dahingestapft, ohne zu bemerken, daß ihre nackten Sohlen blutig gelaufen waren, und ihre Körper sich kaum noch aufrechtzuhalten vermochten. Die Waldläufer hatten ständig nach Verfolgern Ausschau gehalten, aber die hatten offenbar schon lange aufgegeben. Es
gab keine Verwundeten unter uns. Die Schüsse aus den Zirkelwaffen waren alle tödlich gewesen. In der bleichen Morgendämmerung hätte ich das Tal vor mir nicht als das Hauptquartier einer zahlenmäßig starken Rebellengruppe erkannt. Ich sah nichts weiter als verstreute Felsbrocken und -blöcke, moosüberwucherte Hänge und einen Bach, der mitten durch das Tal floß. Einer der Männer führte mein Pferd. Wir stiegen zu Fuß ins Tal, die Robotsklaven eng aneinandergedrängt hinter uns. Es schien, als zögen wir durch ein menschenleeres Tal. Aber wir hatten es noch nicht einmal zur Hälfte durchquert, als plötzlich einer der Waldläufer seine Hand auf meinen Arm legte und mir anzuhalten bedeutete. Die Männer um mich lächelten. Ich blickte hoch. Auf einem Felsen, der über den Bach hing, stand sie. Sie trug die gleiche Kleidung wie die Männer: ein grüner Samtkittel mit überkreuzten Schulterriemen, von denen links und rechts eine Schußwaffe über die Hüften hing. Aber ihr Haar wallte in fließenden Wellen wie ein dichter blaßgoldener Umhang bis zu ihren Knien. Ein Kranz aus Blättern hielt es aus dem Gesicht zurück. Sie blickte zu uns herab und lächelte. Ihr Lächeln schien ganz besonders mir zu gelten – mir, Edward Bond. Ihr Gesicht war von liebreizender Schönheit. Es hatte die Stärke und Unschuld und unerschütterliche Gelassenheit einer Heiligen, aber ihre Lippen verrieten auch Humor und Wärme. Ihre Augen waren von der gleichen Farbe wie ihr Kittel: ein tiefes Grün. »Willkommen zu Hause, Edward Bond!« rief sie mit sanfter, klarer Stimme. Leichtfüßig sprang sie von dem Felsbrocken. Sie bewegte sich mit der Grazie und Sicherheit eines Geschöpfs, das sein ganzes Leben im Walde zugebracht hatte. Ich erinnerte mich, was der Waldläufer Ertu in Medeas
Garten zu mir gesagt hatte, ehe der Strahlenschuß ihn niederstreckte. »Arles könnte dich überzeugen, Edward! Selbst wenn du Ganelon bist, laß mich dich zu Arles bringen!« Nun stand ich vor Arles. Dessen war ich sicher. Und wenn ich vorher vielleicht noch Zweifel gehabt hatte, daß die gute Sache der Waldläufer auch meine war, dann hätte mich dieses Mädchen mit den ersten Worten überzeugt. Aber Ganelon … Wie konnte ich wissen, was Ganelon tun würde? Die Frage sollte nur allzu schnell beantwortet werden. Ehe meine Lippen Worte formen oder ich mir den nächsten Schritt überlegen konnte, kam Arles auf mich zu. Sie umarmte mich und küßte mich auf den Mund. Es war nicht wie Medeas Kuß – nein! Arles Lippen waren erfrischend und süß, nicht brennend mit dem betörenden Honigduft der roten Hexe. Die berauschende Leidenschaft, die mich in Medeas Armen überschwemmt hatte, erfüllte mich jetzt nicht. Eine Reinheit, ein Vertrauen ging von Arles aus, die plötzlich eine quälende Sehnsucht nach der Erde in mir weckte. Sie ließ mich los. Ihre moosgrünen Augen trafen sich in stillem Verstehen mit meinen. Aber sie wartete auf etwas. »Arles!« murmelte ich. Es schien sie zufriedenzustellen. Ihr bisher leicht fragender Ausdruck schwand. »Ich war mir nicht ganz sicher«, murmelte sie. »Es ist dir doch nichts geschehen, Edward?« Instinktiv wußte ich, was ich sagen mußte. »Nein. Wir hatten Caer Secaire noch nicht erreicht. Wenn die Waldläufer nicht angegriffen hätten – nun, dann hätte es ein Opfer gegeben.« Arles griff nach meinem aufgeschlitzten Umhang. »Die blaue Robe«, murmelte sie. »Ja. Das ist die Farbe, die das
Opfer trägt. Die Götter standen uns heute nacht bei, Edward. Doch nun müssen wir uns dieses ekligen Dinges entledigen.« Ihre Augen funkelten. Sie zerrte den Umhang von meinen Schultern, zerriß ihn in der Mitte und ließ ihn ins Gras fallen. »Du wirst nicht mehr allein jagen gehen«, bestimmte sie. »Ich warnte dich, daß es gefährlich sei. Aber du lachtest mich aus. Ich wette, du hast nicht gelacht, als die Zirkelsoldaten dich gefangennahmen, oder?« Ich nickte. Ein wilder Grimm begann sich in mir zu regen. Blau war die Farbe des Opfers, hatte sie gesagt. Meine Befürchtungen waren demnach nicht unbegründet gewesen. Ich hätte das Opfer in Caer Secaire sein und blind in meinen Untergang gehen sollen. Matholch hatte es natürlich gewußt, und er hätte es sicher genossen. Auch Edeyrn mußte es gewußt haben. Und Medea? Medea! Sie hatte es gewagt, mich zu verraten! Mich, Ganelon! Den Öffner des Tors, den Erwählten Llyrs, den großen Lord Ganelon! Sie hatten es gewagt! Bei Llyr, das würden sie büßen! Auf Knien würden sie um Gnade winseln! Die rote Wutwelle hatte wieder einmal mein Gehirn überschwemmt. Edward Bond war nicht mehr als eine verschwommene Erinnerung. Er war aus meinem Gedächtnis gerissen wie der blaue Umhang des erkorenen Opfers von den Schultern Lord Ganelons! * Ich blinzelte verwirrt. Wie war ich in den Kreis dieser grüngekleideten Unterlinge gekommen? Wie konnten sie es wagen, mir mit hocherhobenem Haupt gegenüberzustehen? Das Blut rauschte in meinen Ohren, und das Tal drehte sich um mich. Sobald es wieder stillstand, würde ich die Waffe
ziehen und diese Rebellen niedermähen. Halt! Nicht so schnell. Ich mußte nachdenken. Warum hatte der Zirkel, meine eigenen Leute, mich verraten? Warum? Sie schienen ehrlich erfreut, mich wiederzusehen, als sie mich von jener fremden Welt, der Erde, zurückbrachten. Die Waldläufer konnten warten. Mit ihnen vermochte ich jederzeit fertig zu werden. Erst kam das andere Problem. Ganelon war ein listiger Kopf. Ich würde diese Rebellen brauchen, um mit den Verrätern abzurechnen. Danach – ah, danach! Ich versuchte, die Lücken meines Gedächtnisses zu füllen. Was konnte passiert sein, daß der Zirkel sich gegen mich wandte? Ich hätte schwören können, daß dies nicht Medeas ursprüngliche Absicht gewesen war. Dazu war ihre Begrüßung zu ehrlich erfreut gewesen. Matholch könnte sie beeinflußt haben. Aber aus welchem Grund? Oder vielleicht war es Edeyrn oder gar der Alte, Ghast Rhymi. Doch wie dem auch war, vor dem goldenen Fenster, das sich in den Abgrund öffnete, würden sie ihren Verrat bereuen. »Edward!« Eine erschrockene Frauenstimme erklang wie aus weiter Ferne. Ich kämpfte mich durch einen Strudel aus Wut und Haß. Ich sah ein blasses Gesicht, von einer Flut goldenen Haars wie von einem Heiligenschein umrahmt, und grüne Augen, die mich besorgt musterten. Ich erinnerte mich. Neben Arles stand ein Fremder. Seine kalten grauen Augen, die mich zu durchbohren schienen, sorgten für den Schock, der mich in die Wirklichkeit zurückbrachte. Er blickte mich an, als kenne er mich – kenne er Ganelon. Ich hatte diesen Mann nie zuvor gesehen. Er war untersetzt und breitschultrig und sah trotz der grauen Strähnen in seinem kurzgestutzten Backenbart jung aus. Sein Gesicht war so von der Sonne verbrannt, daß es fast
die Farbe der Erde hatte. In seinem eng anliegenden grünen Kittel sah er genauso aus, wie man sich einen echten Waldläufer vorstellt. Als ich das Spiel seiner mächtigen Muskeln bei jeder seiner Bewegungen beobachtete, wußte ich, daß er ein gefährlicher Gegner sein würde. Und er war es bereits, das las ich aus der tiefen Abneigung für mich in seinen Augen. Eine blasse Narbe verunstaltete seine rechte Wange und zog seine schmalen Lippen auf dieser Seite so nach oben, daß sein Mund zu einem ständigen ironischen Lächeln verzerrt schien. Aber seine grauen Augen verrieten auch Humor. Ich bemerkte, daß der Kreis der Waldläufer sich ein wenig zurückgezogen hatte und uns beobachtete. Der Bärtige streckte den Arm aus und schob Arles hinter sich. Unbewaffnet trat er mir gegenüber. »Nein, Lorryn«, rief Arles. »Laß ihn in Ruhe!« Sein Gesicht war mir ganz nahe. »Ganelon!« rief er. Bei der Nennung dieses Namens machte ein Raunen der Angst und des Hasses die Runde. Ich sah hastige Bewegungen, bemerkte, wie Hände sich um Waffen legten. Ich las Zweifel in Arles Zügen. Die Verschlagenheit Ganelons kam mir zu Hilfe. »Nein«, murmelte ich und strich mir über die Stirn. »Ich bin wirklich Bond. Es ist das verdammte Gift, das sie mir einflößten. Es hat seine Wirkung noch immer nicht ganz verloren.« »Welches Gift?« »Ich weiß es nicht«, erklärte ich Lorryn. »Es war eine Flüssigkeit. Außerdem hat der lange Ritt heute nacht mich sehr ermüdet.« Ich machte ein paar unsichere Schritte und lehnte mich gegen den Felsblock. Ich schüttelte meinen Kopf, als versuchte
ich, ihn klar zu bekommen. Aber meine Ohren waren wachsam. Ich hörte, daß das zum Zweifel geweckte Raunen erstarb. Kühle Finger berührten mich. »O mein Liebling«, murmelte Arles, ehe sie zu Lorryn herumwirbelte. »Glaubst du vielleicht, ich kann Edward Bond nicht von Ganelon unterscheiden? Lorryn, du benimmst dich wie ein Narr.« »Wenn die beiden nicht fast identisch wären, hätten wir sie gar nicht erst ausgetauscht«, erwiderte Lorryn brüsk. »Du mußt ganz sicher sein, Arles, ganz sicher!« Wieder erhob sich das Raunen. »Wir dürfen kein Risiko eingehen, Arles!« drängten die Waldläufer. »Wenn das Ganelon ist, muß er sterben!« Erneut kam der Zweifel in Arles Augen. Sie löste ihre Hand aus meiner und musterte mich. Doch der Zweifel schwand nicht. Ich erwiderte scheinbar ungerührt ihren Blick. »Nun, Arles?« fragte ich. Ihre Lippen zitterten. »Es kann nicht sein. Aber Lorryn hat recht, das weißt du auch. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Diesen Teufel Ganelon zurückzuhaben nach allem, was geschehen ist, wäre zu gefährlich.« Teufel, dachte ich. Der Teufel Ganelon. Ganelon hatte die Waldläufer gehaßt, das stimmte. Aber jetzt erfüllte ihn ein noch übermächtigerer Haß. In seiner Stunde der Schwäche hatte der Zirkel ihn verraten. Die Rebellen konnten warten, die Rache durfte es nicht. Der Teufel Ganelon würde es sein, der den Zirkel unter den Trümmern von Caer Secaire und der Burg begrub. Was bedeutete, daß er äußerst behutsam vorgehen mußte. »Ja, Lorryn hat recht«, erwiderte ich. »Ihr könnt nicht wissen, ob ich Ganelon bin oder nicht. Vielleicht weißt du es,
Arles« – ich lächelte sie an –, »aber ihr dürft wirklich kein Risiko eingehen. Lorryn mag mich auf die Probe stellen.« »Nun?« brummte Lorryn und blickte Arles an. Zögernd schaute sie von mir zu dem Bärtigen. »Ich … wenn es sein muß …« Lorryn lachte tief. »Ich glaube nicht, daß es viel nützen würde, wenn ich ihn auf die Probe stelle. Aber Freydis wird sofort die Wahrheit erkennen.« »Dann bringt mich zu Freydis«, sagte ich schnell und erntete dafür ein Zögern Lorryns. »Gut«, murmelte er. »Wenn ich mich getäuscht habe, entschuldige ich mich. Wenn nicht, werde ich dich töten. Außer Ganelon gibt es nur einen, dem ich noch lieber den Hals umdrehen würde. Aber der Gestaltwandler ist – noch – unerreichbar.« Lorryn berührte die Narbe auf seiner Wange. Oft schon hatte ich Haß gesehen, aber nie einen von der Intensität, wie Lorryns Augen ihn einen kurzen Moment aufblitzen ließen. Schön, sollte er Matholch töten, wenn er es fertigbrachte. Es gab einen weicheren Hals, um den ich meine Finger legen wollte. Auch ihre Magie würde die rote Hexe nicht schützen, wenn Ganelon nach Caer Secaire zurückkam und den Zirkel auslöschte. Wieder stieg brennende Wut in mir auf. Ein ähnlicher Schwall hatte Edward Bond verdrängt, aber er vermochte nicht, Ganelons Verschlagenheit etwas anzuhaben. »Wenn du es für nötig hältst, Lorryn«, sagte ich ruhig, »laß uns jetzt gleich zu Freydis gehen.« Er nickte. Mit ihm an einer und der immer noch beunruhigten Arles an meiner anderen Seite, zogen wir das Tal entlang, begleitet von den Waldläufern. Die Sklaven, die sich immer noch in Trance befanden, strömten vor uns her. Das Tal wurde immer schmäler, und die Felswände höher
und steiler. Wir schritten geradewegs auf eine Höhlenöffnung zu. Im Halbkreis davor blieben wir stehen. Schweigen senkte sich auf uns herab, nur das Rauschen des Windes in den Blättern war zu hören. Die rote Sonne warf ihre ersten Strahlen über die Berggipfel. Eine tiefe Stimme drang aus der Dunkelheit der Höhle. »Ich bin wach. Was wollt ihr?« »Mutter Freydis, wir haben Heloten aus der Gefangenschaft des Zirkels befreit«, sagte Arles schnell. »Der Bann der Willenlosigkeit liegt noch über ihnen.« »Schickt sie zu mir herein.« Lorryn warf Arles einen verärgerten Blick zu. Er stellte sich vor die Öffnung. »Mutter Freydis«, rief er. »Ich höre!« »Wir brauchen Eure Hilfe. Dieser Mann, Edward Bond – ich glaube, er ist Ganelon und kam von der Erdenwelt zurück, wohin Ihr ihn verbannt habt.« Eine lange Weile herrschte Schweigen. »Schickt auch ihn herein«, erwiderte die tiefe Stimme schließlich. »Doch zuerst die Heloten.« Auf einen Wink Lorryns begannen die Waldläufer, die Sklaven durch die Höhlenöffnung zu treiben. Sie wehrten sich nicht. Mit leeren Augen verschwanden sie einer nach dem anderen in der Dunkelheit. Looryn blickte mich an und deutete mit dem Kopf auf die Höhle. Ich lächelte. »Wenn ich wieder herauskomme, werden wir Freunde sein wie früher«, versprach ich. Seine Augen blieben unbewegt. »Das wird Freydis entscheiden.« Ich drehte mich zu dem Mädchen herum. »Arles, ich bin nicht Ganelon.«
Die Waldläufer beobachteten mich schweigend wachsam. Sie hielten ihre Waffen bereit. Ich lachte und ging auf die Höhlenöffnung zu. Die Dunkelheit verschlang auch mich.
und
8. Merkwürdigerweise empfand ich eine unbeschreibliche Selbstsicherheit, als ich dem schrägen, unebenen Gang im Finstern folgte. Vor mir lag eine Biegung. Die Flammen eines offenen Feuers warfen ihre Schatten an die Wand. Wieder lächelte ich. Es war mir nicht leichtgefallen mit diesen – diesen Waldläufern zu sprechen, als wären sie meinesgleichen, als wäre ich noch Edward Bond. Es würde mir auch nicht leichtfallen, mich mit ihrer Seherin zu unterhalten, als hätte sie ebenbürtige Kräfte wie die Zirkelangehörigen. Über gewisse Kräfte mußte sie wohl verfügen, oder es wäre ihr nie gelungen, mich in die Erdenwelt zu verbannen und statt dessen Edward Bond hierherzuholen. Aber ich war sicher, daß sie mich nicht durchschauen konnte. Der kleine Höhlenraum um die Biegung herum war, von Freydis abgesehen, leer. Sie hatte mir den Rücken zugewandt. Sie kauerte auf den Knien vor einem Feuer, das offensichtlich ohne Öl, Holz oder sonstigen Brennstoff in einer Kristallschale flackerte. Sie trug ein weißes Gewand, und ihr weißes Haar hing zu zwei dichten Zöpfen geflochten den Rücken herab. Ich blieb stehen und bemühte mich, wie Edward Bond zu denken, und überlegte mir, was er wohl in einem solchen Augenblick sagen würde. Da drehte Freydis sich um und erhob sich. Sie war eine Riesin. Wenige auf der Dunklen Welt vermögen es, mir in die Augen zu sehen. Aber Freydis' Blick bohrte sich in meinen. Ihre breiten Schultern und glatten, mächtigen Arme
waren stark wie die eines Mannes. Wenn sie wirklich schon alt war, ihre geschmeidigen Bewegungen und ihr Gesicht verrieten es nicht. Aber ihre Augen spiegelten eine Weisheit wider, wie sie nur dem reifen Alter eigen sein konnte. »Guten Morgen, Ganelon«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. Ich hielt den Atem an. Sie kannte mich so sicher, als wäre sie imstande, meine Gedanken zu lesen. Und doch war mir fast gewiß, daß es niemanden auf der Dunklen Welt gab, der das vermochte. Einen Augenblick hätte ich fast zu stottern begonnen, doch da kam mir mein Stolz zu Hilfe. »Guten Morgen, alte Frau«, erwiderte ich die Begrüßung. »Ich bin gekommen, dir eine Überlebenschance zu geben, wenn du mir gehorchst. Du weißt, ich habe noch ein Hühnchen mit dir zu rupfen.« Sie lächelte. »Setz dich, Hexer. Das letzte Mal, als wir unsere Kräfte maßen, fandest du dich in einer anderen Umgebung wieder. Hast du Sehnsucht nach der Erde, Ganelon?« Nun lachte ich. »Du würdest es nicht mehr fertigbringen. Und wenn du könntest, tätest du es nicht, nachdem du mich angehört hast.« Ihre blauen Augen drangen in meine. »Du kennst nur noch einen Gedanken«, murmelte sie. »Allein deine Anwesenheit hier, und daß du einen Handel mit mir schließen willst, beweist es. Ich erwartete nicht, daß Lord Ganelon mir jemals wieder von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten wagen würde, außer, wenn Ketten ihn dazu zwängen. Du brauchst mich, das sind die Ketten, die dich binden, und du bist hilflos.« Sie drehte sich wieder dem Feuer zu und ließ sich daneben nieder. Sie blickte mich über die Flamme in der Kristallschale hinweg an. »Setz dich, Ganelon«, forderte sie mich erneut auf. »Dann werden wir über den Handel reden, du und ich. Doch laß dir
von vornherein gesagt sein: versuche nicht, mir meine Zeit mit Lügen zu stehlen. Ich weiß genau, wann du von der Wahrheit abweichst, Hexer. Denk daran!« Ich zuckte die Schultern. »Warum sollte ich mir mit deinesgleichen die Mühe machen zu lügen? Ich habe nicht die Absicht, etwas vor dir zu verbergen. Je genauer du die Wahrheit kennst, desto besser wirst du meine Lage verstehen. Zuerst jedoch – wo sind jene Sklaven, die vor mir die Höhle betraten?« »Ich schickte sie weiter in den Berg. Sie schlafen. Du weißt ja selbst, in welch tiefen Schlummer sie versinken, wenn der Bann von ihnen genommen ist.« Ich setzte mich und schüttelte den Kopf. »Nein – nein, daran kann ich mich nicht so recht erinnern. Ich – du willst die Wahrheit wissen, Alte. So hör mir zu. Ich bin Ganelon, aber Edward Bonds Erinnerungen liegen wie ein Schatten über meinen, vermischen sich damit. Ich kam als Edward Bond hierher – aber Arles erwähnte etwas, das Ganelon zurückbrachte. Sie erzählte mir, daß der Zirkel mich in der Stunde meiner Schwäche mit dem blauen Umhang des Opfers bedacht hatte. Ich war auf dem Weg nach Caer Secaire, als die Waldläufer uns angriffen. Muß ich dir mit Worten sagen, was jetzt mein einziger Wunsch ist, Hexe?« »Dich am Zirkel zu rächen«, antwortete sie. Ihre Augen brannten in meinen. »Es stimmt, was du sagst. Ich erkenne die Wahrheit, Hexer. Du brauchst meine Hilfe, um zu deiner Rache zu kommen. Aber was hast du uns dafür zu bieten, außer Feuer und Schwert? Warum sollten wir dir trauen, Ganelon?« »Weil euer Bestreben das gleiche ist. Mein einziger Wunsch ist die Rache am Zirkel. Und eurer?« »Das Ende Llyrs – das Ende des Zirkels«, erwiderte sie. »Siehst du! Auch ich will die Zerstörung des Zirkels und das
Ende – das Ende Llyrs.« Meine Zunge zögerte ein wenig, als ich das sagte. Ich wußte nicht warum. Sicher, ich wurde vor langer Zeit Llyr geweiht – soviel erinnerte ich mich. Aber Llyr und ich waren nicht eins. Wir hätten es sein können, wenn die Dinge anders verlaufen wären. Ich schauderte noch jetzt bei dem Gedanken daran. Ja, es war Llyrs Ende, das ich nun begehrte – das ich anstreben mußte, wenn ich weiterleben wollte. Freydis ließ kein Auge von mir. Sie nickte. »Ja, vielleicht willst du das wirklich. Vielleicht. Was erwartest du von uns, Ganelon?« Ich sprach hastig. »Ich möchte, daß du deinen Leuten versicherst, daß ich Edward Bond bin. Dafür kann ich jetzt mehr für euch tun, als Edward Bond es vermocht hätte. Danke deinen Göttern, Hexe, daß ich nun wieder Ganelon bin! Denn nur er kann euch helfen. Du weißt, daß die Waldläufer mich nicht zu töten vermögen. Für Ganelon gibt es den Tod nicht, außer auf Llyrs Altar. Aber sie könnten mich in Ketten legen und mich hier gefangenhalten, bis es dir gelingt, Edward Bond zurückzubringen. Aber das wäre töricht gehandelt. Edward Bond hat alles für euch getan, was er tun konnte. Nun ist Ganelon an der Reihe. Wer sonst vermöchte euch zu verraten, wie und wo Llyr verwundbar ist. Oder wo Matholch seine geheimen Waffen versteckt hält. Oder wie Edeyrn besiegt werden kann. All das weiß ich – zumindest wußte ich es. Du mußt mir helfen, meine eigenen Erinnerungen wiederzugewinnen, Freydis. Danach …« Ich lachte grimmig. Sie nickte. Schweigend überlegte sie. »Was also möchtest du, daß ich tue, Ganelon?« fragte sie schließlich. »Verrate mir zuerst, wie du es fertigbrachtest, eine Brücke zwischen den beiden Welten zu schlagen, und wie es dir gelang, Edward Bond und mich auszutauschen.«
»Nicht so hastig, Hexer!« lachte sie. »Auch ich habe meine Geheimnisse. Ich werde dir die Frage nur zum Teil beantworten. Wie du dir denken kannst, nahmen wir den Austausch vor, um uns von dir zu befreien. Gewiß erinnerst du dich daran, wie erbarmungslos du uns in deiner Jagd nach Sklaven bedrängtest und in deinem Haß auf unsere Freiheit. Wir sind ein stolzes Volk, Ganelon, und wir dulden es nicht, für immer Unterdrückte zu sein. Aber wir wußten, daß es nur einen Tod für dich geben kann, dem wir dich jedoch nicht aussetzen konnten. Ich wußte von der Zwillingswelt. Ich forschte und fand Edward Bond. Nach viel Mühe gelang mir der Austausch, der dich auf die Erdenwelt verbannte und obendrein dein Gedächtnis durch Edward Bonds Erinnerungen verdrängte. So also wurden wir dich los. Aber wir hatten dafür Edward Bond, dem wir ebenfalls nicht trauten. Er war zu sehr wie du. Doch ihn waren wir imstande zu töten, wenn es sein müßte. Es war nicht nötig. Er ist ein starker Mann, Hexer. Wir begannen ihm zu vertrauen und uns auf ihn zu verlassen. Er lehrte uns neue Taktiken. Er war ein guter Führer. Er war es auch, der die Befreiung der nächsten Zirkelopfer plante …« »Ein Plan, der fehlschlug«, warf ich ein. »Oder vielmehr, dem kein Erfolg beschieden gewesen wäre, hätte ich nicht eingegriffen. Edward Bond hatte das Wissen eines Erdenmenschen. Aber seine Waffen und Strategie hätten lediglich die äußere Verteidigung des Zirkels zu durchbrechen vermocht. Du weißt, welche Kräfte dem Zirkel innewohnen. Sie werden selten benutzt, aber wenig vermag ihnen zu widerstehen.« »Ich weiß es, Ganelon. Aber wir mußten es zumindest versuchen. Und der Zirkel erlitt eine Schwächung durch deine Abwesenheit. Ohne dich hätte keiner von ihnen es gewagt, Llyr anzurufen, außer vielleicht Ghast Rhymi.« Freydis starrte
ins Feuer. »Ich kenne dich, Ganelon. Ich kenne den Stolz, der in deiner Seele brennt. Darum weiß ich auch, welch Anliegen dir die Rache ist. Aber du bist Llyr geweiht und gehörst seit deiner Geburt dem Zirkel an. Wie soll ich wissen, daß ich dir trauen kann?« Ich schwieg. Nach einer Weile drehte Freydis sich der rauchgeschwärzten Wand zu. Sie zog einen Vorhang zur Seite, den ich nicht einmal bemerkt hatte. In einer Nische befand sich ein Zeichen, ein unendlich altes Symbol, älter als die Zivilisation, älter noch als die Sprache der Menschen. Ja, Freydis mochte eine der wenigen sein, die seine Bedeutung kannten. Genau wie ich. »Wirst du bei diesem Zeichen schwören, daß du die reine Wahrheit sprichst?« fragte sie. Ich machte die rituelle Geste, die mich unwiderruflich band. Es war ein Eid, den ich nicht brechen konnte, ohne zweifach verdammt zu sein, in dieser Welt und der nächsten. Aber ich zögerte nicht, denn ich sprach die Wahrheit! »Ich werde den Zirkel vernichten!« versprach ich. »Und Llyr?« »Ich werde Llyr ein Ende machen!« Aber der Schweiß stand dick auf meiner Stirn, als ich diese Worte ausstieß. Ich hatte sie nur mit Mühe über die Lippen gebracht. Freydis zog den Vorhang wieder vor die Nische. Sie schien zufrieden. »Meine Zweifel sind nun weniger stark«, murmelte sie. »Ja, Ganelon, die Nornen spinnen ungewöhnliche Fäden, um das Schicksal zu weben, und diese ergeben bestimmte Muster, die wir nur manchmal nicht zu erkennen vermögen. Ich verlangte nicht, daß du dem Waldvolk die Treue schwörst.« »Das habe ich wohl bemerkt.« »Du hättest sie nicht geschworen«, fuhr sie fort. »Doch es ist auch nicht nötig. Wenn es den Zirkel nicht mehr gibt und Llyr
nicht mehr ist, vermag ich meine Leute auch gegen dich zu schützen, Ganelon. Vielleicht werden wir uns dann im Kampf gegenüberstehen. Aber bis es soweit ist, sind wir Verbündete. Ich werde dich Edward Bond nennen.« »Ich brauche mehr als das«, verlangte ich, »wenn meine Identität nicht angezweifelt werden soll.« »Niemand wird meinem Wort mißtrauen«, versicherte Freydis. »Ich kann nicht gegen den Zirkel an, ehe ich nicht mein Gedächtnis zurückhabe. Ganelons vollständige Erinnerungen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich fürchte«, murmelte sie, »daß ich in dieser Hinsicht nicht allzuviel tun kann. Einmal ausgelöschte Erinnerungen lassen sich nicht so ohne weiteres zurückholen. Du hast immer noch Edward Bonds Erinnerungen?« Ich nickte. »Aber von meinen eigenen nur Fragmente. Ich weiß beispielsweise, daß ich Llyr geweiht wurde, doch an die Einzelheiten kann ich mich nicht erinnern.« »Es wäre auch besser, gerade daran nicht zu rühren«, erwiderte Freydis mit ernstem Gesicht. »Aber du hast recht. Ein stumpfes Schwert ist eine schlechte Waffe. Hör mir zu! Ich verbannte dich auf die Erdenwelt und brachte deinen Doppelgänger Edward Bond hierher. Er half uns, und – Arles liebte ihn. Selbst Lorryn, der nur wenigen traut, lernte ihm vertrauen.« »Wer ist Lorryn?« »Einer der unseren. Doch er war es nicht immer. Er war Jäger und hatte ein eigenes Häuschen im Wald, in dem er mit seiner jungen Frau lebte. Sie – starb. Eines Abends kam Lorryn nach Hause. Er fand sie in einer Blutlache, und ein Wolf stand über sie gebeugt. Er kämpfte gegen den Wolf, vermochte ihn jedoch nicht zu töten. Du sahst Lorryns Wange. Sein ganzer
Körper sieht so aus – Narben, die des Wolfes Zähne und Krallen zurückgelassen hatten.« »Ein Wolf?« fragte ich. »Nicht …« »Ein Werwolf«, erwiderte Freydis, »ein Gestaltwandler – Matholch. Eines Tages wird Lorryn ihn töten. Es ist sein einziges Lebensziel.« »Er kann den roten Hund haben«, sagte ich verächtlich. »Wenn er will, ziehe ich ihm vorher bei lebendem Leib das Fell ab.« »Arles, Lorryn und Edward Bond haben einen Kampfplan ausgearbeitet«, fuhr Freydis fort. »Sie schworen, dafür zu sorgen, daß der letzte Sabbat auf der Dunklen Welt stattgefunden hat. Edward Bond zeigte ihnen, wie neue Waffen hergestellt werden können, Waffen, wie es sie auf der Erdenwelt gibt. Wir haben sie nachgebaut. Sie liegen in bewachten Höhlen bereit. Seit Medea und die anderen sich auf die Erdenwelt begaben, um nach dir zu suchen, wurde kein Sabbat mehr abgehalten. Das Waldvolk konnte sich inzwischen erholen, denn es gab niemanden, der zu bekämpfen gewesen wäre, außer vielleicht der alte Ghast Rhymi. Nun sind Medea und der Rest des Zirkels zurück. Meine Leute sind bereit zuzuschlagen. Wenn du sie führst, Ganelon, dann kann der Zirkel vernichtet werden, glaube ich.« »Der Zirkel hat seine eigenen Waffen«, murmelte ich. »Meine Erinnerung ist unvollständig, aber mir ist, als hätte Edeyrn eine Kraft, die …« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist schon wieder aus meinem Gedächtnis verschwunden.« »Ganelon, sieh mich an!« befahl Freydis und lehnte sich vor. Ihre Augen, die eine uralte Kraft widerspiegelten, waren wie stille blaue Teiche. Während meine sich darin verloren, verdunkelte sich das klare blaue Wasser. Ich sah eine gewaltige schwarze Kuppel gegen den finsteren Nachthimmel. Ich sah das, was sich am
tiefsten und stärksten in Ganelons Gehirn eingegraben hatte – Caer Llyr! Die Kuppel schwamm näher. Sie stülpte sich über mich. Ihre Mauern zerflossen wie trübes Wasser, und ich schritt in meiner Erinnerung die glatten glänzenden Korridore entlang, die zu Llyr, dem Großen Llyr führten.
9. Weiter schritt ich. Gesichter flimmerten vor mir – Matholchs verzerrtes Grinsen; Edeyrns verhülltes Haupt, von dem eine Eiseskälte ausging; Medeas verzehrende Schönheit, die kein Mann je vergessen konnte, auch nicht in seinem Haß. Sie starrten mich voll Mißtrauen an. Ihre Lippen bewegten sich in stummen Fragen. Merkwürdigerweise wußte ich, daß die Gesichter echt waren. Durch Freydis' Zauberkraft schwebte ich an einem Ort, der nur dem Geist zugänglich ist. Hier begegnete ich den suchenden Gedanken des Zirkels, ihren körperlosen Augen. Sie sahen mich. Sie stellten mir eine drängende Frage, die ich nicht zu hören vermochte. Tödlicher Haß brannte in Matholchs gelben Wolfsaugen. Seine Lippen bewegten sich – fast konnte ich ihn hören. Medeas Züge drängten sich über seine. Auch ihr roter Mund formte eine Frage, immer, immer wieder. »Ganelon, wo seid Ihr? Ganelon, mein Liebster, wo seid Ihr? Ihr müßt zu uns zurückkehren, Ganelon!« Edeyrns gesichtsloser Kopf schob sich zwischen Medea und mich. Wie aus weiter Ferne hörte ich ihre Kinderstimme: »Ja, Ihr müßt zu uns zurückkehren, Ganelon! Zurückkehren und sterben!« Grimmige Wut zog einen roten Vorhang zwischen die
körperlosen Gesichter und mich. Verräter, die den Schwur des Zirkels gebrochen hatten! Wie konnten sie es wagen, Ganelon, den stärksten von ihnen allen, zu bedrohen? Wie konnten sie es! Und warum? Warum? Diese Frage brannte in meinem Gehirn. Erst da wurde mir klar, daß ein Gesicht aus dem Zirkel fehlte. Zu dritt hatten sie die Ebene des Geistes nach mir abgesucht. Was aber tat Ghast Rhymi? Ich bemühte mich, eine Verbindung zu ihm herzustellen. Doch ich konnte seinen Geist nicht berühren. Aber ich erinnerte mich. Ich erinnerte mich an Ghast Rhymi, dessen Gesicht Edward Bond nie gesehen hatte. Alt, uralt, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Furcht und Haß, das war Ghast Rhymi, der Weiseste des Zirkels. Wenn er es wollte, könnte er meine tastenden Gedanken beantworten. Doch nichts vermochte ihn dazu zu zwingen. Nichts konnte dem Ältesten Harm zufügen, denn er lebte nur kraft seines eigenen Willens. Durch einen einzigen Gedanken könnte er sein Leben beenden, das Leben, das ihm lange schon nichts mehr bedeutete. Versuchte ich, ihn zu fassen, er könnte meinem Griff wie Feuer oder Wasser entschlüpfen. Es war ihm gleichgültig, ob er lebte oder den Schlaf der Toten schlummerte. Aber nur, wenn er dazu gezwungen war, würde er seine tiefe Ruhe unterbrechen und jenen Gedanken denken, der ihn zu Staub zerfallen ließe. Sein Gehirn und sein Gesicht entzogen sich meinem suchenden Geist. Er antwortete nicht auf mein Drängen. Der Rest des Zirkels rief immer noch mit der unerklärlichen Verzweiflung ihrer Geister nach mir: »Kehrt zurück und sterbt, Lord Ganelon!« Aber Ghast Rhymi bedeutete es nichts. Nun wußte ich, daß er das Todesurteil ausgesprochen hatte. Und ich wußte, daß ich ihn aufsuchen und mir die Antwort erzwingen mußte – von ihm, von Ghast Rhymi, gegen den alle
Gewalt wirkungslos war. Und doch, ich mußte ihn zwingen! Die ganze Zeit war mein Geist die gewaltigen Hallen von Caer Llyr entlanggeschwebt, getragen von der Erinnerung Ganelons, des Auserwählten Llyrs, der eines Tages zurückkehren mußte zu ihm, dem Großen, der wartete. So wie ich jetzt zurückkehrte. Ein goldenes Fenster glühte vor mir. Ich erkannte es als jenes, durch das der Große Llyr hinausblickte auf seine Welt. Das Fenster, durch das er nach seinen Opfern greift. Und Llyr war hungrig. Ich spürte seinen Hunger. Auch Llyr durchstreifte die Geistesebene. In jenem Augenblick, als ich begriff, wohin mich meine Erinnerung trieb, spürte ich plötzlich das fordernde Tasten durch das goldene Fenster. Llyr hatte meine Gegenwart gespürt. Er kannte seinen Auserwählten. Er streckte seine Fühler nach mir aus, um mich in seine göttergleiche Umarmung zu nehmen, aus der es keine Rückkehr gibt. Ich hörte den lautlosen Schrei Medeas, der sich wie Rauchschwaden auf der Gedankenebene auflöste, als sie ihren Geist gegen den Schrecken schützte. Ich hörte Matholchs stummes Aufheulen aus nackter Angst, als auch er seinen Geist abschirmte. Von Edeyrn drang kein Schrei, es war, als hätte sie nie einen Gedanken gedacht. Ich wußte, die drei saßen irgendwo in ihrer Burg, mit verschlossenem Geist und zusammengekniffenen Augen, in ihrem Bemühen, Llyr keinen Angriffspunkt zu geben, während er hungrig die Geistesebenen durchstreifte und nach der Nahrung suchte, die ihm so lange vorenthalten worden war. Ein Teil meines Geistes teilte das Grauen und die Furcht des Zirkels. Aber ein anderer Teil erinnerte sich Llyrs. Einen flüchtigen Moment kam die unbeschreibliche Ekstase jenes Augenblicks zurück, da Llyr und ich eins gewesen; die
Erinnerung an das Entsetzen und die beängstigende Freude; die Erinnerung an die Macht, die alles Irdische überstieg. All das konnte ich wiederhaben, wenn ich Llyr meinen Geist öffnete. Nur ein einziger in einer Generation ist Llyr geweiht, darf seine Göttlichkeit mit ihm teilen, mit ihm in der Ekstase der Menschenopfer schwelgen. Ich war dieser eine, wenn ich mich dazu entschließen konnte, die Zeremonie zu vollenden, die mich zu Llyrs eigen machen würde. Wenn ich den Mut dazu hätte … Der Grimm schoß in mich zurück. Ich durfte mich nicht dieser versprochenen Lust hingeben. Ich hatte geschworen, Llyr ein Ende zu machen. Beim Zeichen hatte ich geschworen, den Zirkel und Llyr zu vernichten. Langsam, zögernd zog mein Geist sich aus der tastenden Berührung jener Fühler zurück. * Im gleichen Augenblick, als diese Verbindung brach, überschwemmte mich eine Welle des Grauens. Ganz nahe war ich daran gewesen, ihn zu berühren! Fast hätte ich es zugelassen, besudelt zu werden durch die schreckliche Berührung dieses … dieses … Es gibt kein Wort – in keiner Sprache – für dieses Wesen, das Llyr war. Aber ich verstand nun, was in mir als Edward Bond vorgegangen war, als ich erkannte, daß mit Llyr zu leben, seine Gelüste zu teilen, eine Befleckung war, die ein Leben auf dieser Welt unmöglich machte. Ich mußte ihn vernichten. In diesem Augenblick war mir klar, daß ich Llyr gegenübertreten und ihn bis zum bitteren Ende bekämpfen mußte. Kein Mensch hatte ihm je von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden – seine Opfer nicht, und nicht einmal seine Auserwählten. Aber sein Gegner
mußte es, und ich hatte geschworen, ihn zu vernichten. Schaudernd zog ich mich aus den schwarzen Tiefen Caer Llyrs zurück und kämpfte mich an die Oberfläche jener stillen blauen Teiche, die Freydis' Augen waren. Die Dunkelheit erhellte sich langsam, und allmählich kamen die Wände der Höhle zurück, die kristallene Feuerschale mit den flackernden Flammen, die großgewachsene mächtige Zauberin, die meinen Geist in die Tiefen von Ganelons Erinnerung geschickt hatte. Als ich aus meinem tranceähnlichen Zustand erwachte, wußte ich, daß Ganelons Gedächtnis nahezu vollständig war. Sein Leben huschte in farbigen Bildern vorbei und prägte sich für immer in mein Gehirn ein. Ich kannte seine Kräfte, ich kannte seine geheimen Stärken und seine verborgenen Schwächen. Ich kannte seine Sünden. Ich war erfreut über seine Macht und seinen Stolz. Ich kehrte zu meinem eigenen Ich zurück und war wieder ganz Ganelon. Zumindest fast ganz. Und doch gab es noch Verborgenes. Zuviel war aus meinem Gedächtnis gelöscht worden, als daß es mit einem Mal zurückzukommen vermochte. Nun hatte die blaue Finsternis sich völlig zurückgezogen. Ich blickte in Freydis' klare Augen und lächelte. Eine kalte, arrogante Selbstsicherheit wallte in mir auf. »Gute Arbeit, Hexe!« brummte ich. »Du erinnerst dich?« »Ausreichend. O ja, ausreichend.« Ich lachte. »Zwei Aufgaben liegen vor mir. Davon ist die erstere die leichtere, obwohl sie unmöglich ist. Doch ich werde es schaffen.« »Ghast Rhymi?« fragte sie ruhig. »Woher weißt du das?« »Ich kenne den Zirkel. Aber ich bin mir nicht so sicher, ob die Geheimnisse des Zirkels und Llyrs tatsächlich bei Ghast Rhymi zu finden sind. Wie dem auch sei, es gibt niemanden,
der Ghast Rhymi zu etwas zwingen könnte.« »Ich werde einen Weg finden. Ich verrate dir sogar, welches meine nächste Aufgabe ist. Du sollst die Wahrheit erfahren, Hexe, so wie ich sie eben erst erkannte. Hast du schon etwas von der Maske und dem Stab gehört?« Sie schüttelte den Kopf. »Erzähl mir davon. Vielleicht kann ich dir helfen.« Wieder lachte ich. Es war so unglaublich, daß wir beide, geschworene Feinde, hier gemeinsam einen Plan ausheckten! Und doch verbarg ich nur wenig vor ihr an jenem Tag, und ich glaube, auch Freydis kaum etwas vor mir. »In Medeas Palast befinden sich eine Maske aus Kristall und ein silberner Stab, der geheimnisvolle Kräfte hat. Welcher Art sie sind, dessen erinnere ich mich noch nicht ganz. Aber wenn ich ihn finde, werden meine Hände es wissen. Mit ihm kann ich Medea und Matholch mit all ihren übernatürlichen Kräften schlagen. Und Edeyrn … Ich weiß nur, daß die Maske mich vor ihr schützen wird.« Ich zögerte. Ich wußte nun, was Medea war. Ich kannte ihren ungewöhnlichen Hunger und den noch seltsameren Durst, der die betörend schöne Hexe beherrschte. Jetzt erinnerte ich mich, wieso sie ihre Opfer mit dem Strahlenstab nur betäubte und nicht tötete. In der Dunklen Welt, meiner Welt, war es zu eigenartigen Mutationen gekommen. Medea war eine der seltsamsten überhaupt. Es gibt kein Wort in den Sprachen der Erde für sie, weil die Erde nie ein Wesen wie sie hervorbrachte. Aber es gibt dort etwas, wenn vielleicht nicht in der Realität, so doch zumindest in Märchen und Legenden, das entfernt mit ihr vergleichbar ist. Vampire nennt man diese Geschöpfe. Edeyrn? Nein. Ich konnte mich nicht erinnern. Möglicherweise hatte Ganelon es auch nie gewußt. Nur des einen war ich sicher: in Zeiten der Bedrängnis würde Edeyrn
ihr Gesicht enthüllen. »Freydis …«, fragte ich zögernd, »was ist Edeyrn?« Sie schüttelte ihr mächtiges Haupt, daß die weißen Zöpfe auf ihrem Rücken tanzten. »Ich konnte es nie erfahren. Wie du heute, Ganelon, bin ich ihr nur auf den Geistesebenen begegnet und habe versucht, in ihren Geist einzudringen. Ich habe gewaltige Kräfte, Ganelon, aber immer bin ich vor der Kälte zurückgeschreckt, die ich unter Edeyrns Kapuze spürte. Nein, ich kann dir leider nicht sagen, was sie ist.« Erneut lachte ich. Ich hatte keine Angst vor ihr. »Vergessen wir Edeyrn«, sagte ich. »Wenn ich erst Ghast Rhymi gezwungen habe, mir zu Willen zu sein, und Llyr mit der Waffe gegenübergestanden habe, die sein Ende bringen wird, was schert mich dann noch Edeyrn? Die Kristallmaske ist Schutz gegen sie. Soviel weiß ich.« »Es gibt auch eine Waffe gegen Llyr?« »Ein Schwert«, erwiderte ich. »Aber – aber nicht ganz so, wie wir es als Waffe verstehen. Mein Gedächtnis läßt mich auch in dieser Hinsicht noch ein wenig im Stich. Doch ich weiß, daß Ghast Rhymi mir sagen kann, wo es zu finden ist. Eine Waffe und doch keine Waffe. Das Schwert, das Llyr heißt.« * Den kurzen Augenblick, während ich den Namen erwähnte, schien es mir, als verdunkle ein Schatten die hellen Flammen. Ich hätte den Namen nicht laut aussprechen dürfen. Sein Echo hatte die Geistesebenen durchdrungen und in Caer Llyr ihn selbst hinter dem goldenen Fenster aufmerksam gemacht, daß er hindurchsah. Sogar hier, so weit entfernt von dem Kuppelbauwerk, spürte ich einen Hauch seines Hungers. Plötzlich wußte ich, was ich
getan hatte. Llyr war wach! Und ich hatte ihn geweckt! Meine Augen weiteten sich, und ich starrte Freydis an, deren Augen ebenfalls groß wurden. Auch sie mußte seine Bewegung gespürt haben, deren Wellen durch die ganze Dunkle Welt vibrierten. Auch in der Burg mußten sie es bemerkt haben. Vermutlich blickten ihre Augen genauso erschreckt wie Freydis' und meine. Llyr war wach! Meine Gedanken hatten ihn geweckt, als mein Geist sich die glänzenden Korridore entlangbewegte und vor dem goldenen Fenster anhielt. Llyrs Auserwählter vor Llyrs lebendem Fenster. Kein Wunder, daß ihn das wachgerüttelt hatte. Triumph erfüllte mich. »Jetzt müssen sie etwas unternehmen!« rief ich. »Du hast mehr erreicht, als du zu erwarten hofftest, als du meinem Geist die Möglichkeit gabst, sich auf seinen alten Bahnen zu bewegen. Llyr ist wach und hungriger, als der Zirkel es je wagte, ihn werden zu lassen. Viel zu lange fand kein Sabbat mehr statt, und Llyr verlangt nach seinem Opfer. Hast du Spione, Hexe, die die Burg beobachten?« Sie nickte. »Gut, dann werden wir es rechtzeitig erfahren, wenn die Sklaven für den Sabbat zusammengetrommelt werden. Wir brauchen sicher nicht lange zu warten. Es muß bald sein! Und Edward Bond wird die Burg angreifen, während der Zirkel in Caer Secaire den Sabbat abhält. Ich werde die Maske und den Stab finden, Freydis!« Meine Stimme sang vor Triumph. »Die Maske und den Stab für Ganelon. Und Ghast Rhymi allein auf der Burg, mir Widerstand zu leisten, wenn er es vermag! Die Nornen sind auf unserer Seite!« Sie blickte mich lange schweigend an. Dann huschte ein grimmiges Lächeln über ihre Züge. Sie bückte sich und legte ihre Handflächen über die Flamme, die scheinbar von nichts
genährt wurde. Ich sah, wie das Feuer an ihren Fingern leckte. Sie drückte es mit ihren bloßen Händen aus, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Die Flammen waren erloschen. Die Kristallschale stand leer auf ihrem Podest. Dämmerlicht hüllte uns ein. Es schien die Frau neben mir zu einer gewaltigen Marmorstatue zu verwandeln. Ich vernahm ihre tiefe Stimme. »Ja, Ganelon. Die Nornen sind mit uns«, echote sie. »Sieh zu, daß du auch auf unserer Seite kämpfst, soweit es dein Eid verlangt. Denn tust du es nicht, wirst du dich zu verantworten haben – vor den Göttern und mir. Und bei den Göttern …«, sie lachte rauh, »bei den Göttern, wenn du deinen Eid brichst, schwöre ich dir, daß ich dich zermalme, mit keinen weiteren Kräften als diesen.« Im Halbdunkel sah ich sie ihre gewaltigen Arme heben. Die Augen der mächtigen Zauberin und meine maßen sich, und ich war mir nicht sicher, ob sie mich in einem Zweikampf nicht tatsächlich besiegen konnte. Sie war mir ebenbürtig, sowohl was Zauber- als auch Muskelkraft anbelangte. Ich beugte meinen Kopf. »So soll es sein, Freydis.« In der Dunkelheit gaben wir einander die Hand. Irgendwie hoffte ich, daß es mir erspart bliebe, sie zu betrügen. Seite an Seite schritten wir den Gang entlang zur Höhlenöffnung. Der Halbkreis der Waldläufer wartete auf uns. Arles und Lorryn standen etwas näher der Öffnung und hoben erwartungsvoll die Köpfe, als wir heraustraten. Ich blieb stehen und bemerkte, wie die Hände der Wartenden hastig die Waffen umklammerten. Eine kaum unterdrückte Panik schien alle zu beherrschen. Ich stand unbewegt und genoß heimlich den Augenblick des
Schreckens, der sie erfüllte. Ich, der ich wußte, daß ich Ganelon war, der wußte, daß sie ihrer gerechten Strafe durch mich nicht entgehen würden – auch wenn es noch eine Weile dauerte. Denn zuerst brauchte ich ihre Hilfe. Neben mir erscholl Freydis' tiefe, weittragende Stimme: »Ich habe mir diesen Mann angesehen! Ich nenne ihn – Edward Bond!« Das Mißtrauen schwand aus ihren Augen, ihrer Haltung. Sie zweifelten nicht an Freydis' Worten.
10. Yggdrasils Lebenssaft, vom langen Winterschlaf zähflüssig geworden, begann schneller zu fließen. Die drei Beschützerinnen der Weltesche erwachten, um mir zu dienen. Die Nornen, die das Schicksal der Sterblichen bestimmten – zu ihnen betete ich! Urd, Herrscherin über die Vergangenheit! Sie flüsterte von den Mächtigen des Zirkels, von ihren Kräften und Schwächen. Von Matholch, dem Werwolf, dessen Berserkerwut sein Untergang sein mochte, die Lücke in seiner Wehr, durch die ich ihn erstechen konnte, wenn die Wut seine Wachsamkeit dämpfte. Sie flüsterte von der roten Hexe und Edeyrn – und von Ghast Rhymi. Meine Feinde! Feinde, die ich vernichten konnte – mit Hilfe bestimmter Zaubermittel, an die ich mich jetzt erinnerte. Und ich würde sie vernichten! Werdandi, Herrscherin über die Gegenwart! Edward Bond hatte sein Bestes getan. Die Rebellen hatten mir die in den Höhlen gelagerten Waffen gezeigt: primitive Gewehre und Granaten, Gasbomben und sogar ein paar Flammenwerfer. Sie würden in einem Kampf gegen die
Zirkelsklaven recht nutzvoll sein. Aber gegen den Zirkel selbst vermochten sie nichts auszurichten. Doch das wußte nur ich. Vielleicht auch Freydis. Aber Arles, Lorryn und ihre tollkühnen Männer waren bereit, diese ihnen so fremden Waffen in einem Verzweiflungsangriff auf die Burg anzuwenden. Und ich würde für die Gelegenheit dazu sorgen, sobald wir von unseren Spionen etwas über die Vorbereitungen zum Sabbat erfuhren. Es konnte nicht mehr lange dauern, denn Llyr war wach, hungrig und durstig wie nie zuvor, hinter dem goldenen Fenster, das seine Tür in die Welt der Menschen ist. Skuld, Herrscherin über die Zukunft! Ihr galten meine Gebete im besonderen. Ich war überzeugt, daß der Zirkel erneut nach Caer Secaire aufbrechen würde, ehe ein neuer Morgen graute. Bis dahin mußten die Rebellen bereit sein. Edward Bond hatte sie gut ausgebildet, ihnen sogar etwas wie militärische Disziplin beigebracht. Jeder der Rebellen war bis ins kleinste mit seiner Ausrüstung, seinen Waffen, vertraut, und sie alle waren erfahrene Waldläufer. Wir arbeiteten einen Plan aus, Arles, Lorryn und ich – ich weihte sie natürlich nicht in alles ein, was ich zu tun gedachte –, und Schar um Schar der Rebellen schlüpfte durch den Wald, mit der Burg als Ziel. Sie würden nicht angreifen. Sie würden sich nicht zeigen, ehe nicht das Zeichen dazu gegeben war. Bis es soweit war, würden sie in den Büschen und Gräben um die Burg versteckt warten. Und wenn die Zeit gekommen war, würden sie zu den großen Toren eilen. Die Granaten würden ihnen dann sehr zustatten kommen. Es war auch nicht paradox, daß wir mit Granaten und Gewehren gegen Zauberei vorzugehen gedachten. Denn ich begann, immer mehr zu erkennen, je stärker mein Gedächtnis zurückkam, daß die Dunkle Welt nicht von den Gesetzen der Zauberei beherrscht wurde. Einem Menschen von der Erde
mochten Wesen wie Matholch und Medea übernatürlich scheinen. Ich jedoch konnte nicht nur auf Ganelons, sondern auch auf Edward Bonds Wissen zurückgreifen. Ich hatte nichts vergessen, was Edward Bond von der Erde kannte. Und indem ich mich der Logik bediente, verstand ich vieles der Dunklen Welt, das ich vorher als gegeben hingenommen hatte. Die Mutationen waren der Schlüssel. Der menschliche Geist verfügt über Tiefen, die unerforscht bleiben, über Machtpotentiale, wie die verlorengegangenen oder auch nur verkümmerten, rückentwickelten Sinne – das uralte dritte Auge, die Zirbeldrüse. Der menschliche Organismus ist das spezialisierteste Ding aus Fleisch, das existiert. Jedes Raubtier ist mit Zähnen und Krallen besser ausgerüstet. Der Mensch hat nur sein Gehirn. Aber wie den Fleischfressern unter den Tieren immer längere, tödlichere Klauen wuchsen, so entwickelte sich beim Menschen das Gehirn. Selbst auf der Erdenwelt gibt es Medien, Gedankenleser, Experten der Psychomantie, ESP-Spezialisten. Auf der Dunklen Welt wucherten die Mutationen geradezu, ergaben kosmische Mißkreationen, für die, wenn überhaupt, erst in Jahrmillionen Bedarf bestehen wird. Und solch mutierte Gehirne, mit ihren neuen Kräften, entwickelten Werkzeuge für diese Kräfte. Die Stäbe, beispielsweise. Obwohl ich kein Techniker bin, verstehe ich doch ihr Prinzip. Die Wissenschaft neigt zu einfacheren Mechanismen. Das Klystron und Magnetron sind nicht viel mehr als Metallröhren, doch – richtig angewendet – sind sie wirkungsvolle Maschinen. Die Stäbe, wie sie von den Zirkelangehörigen verwendet werden, zapfen die ungeheure elektromagnetische Energie des Planeten an, der im Grund genommen nichts weiter als ein ungeheurer Magnet ist. Das ausgebildete Gehirn wirkte als
Impulsgeber. Ob Matholch nun tatsächlich Wolfsgestalt anzunehmen imstande war, wußte ich nicht, aber ich glaubte es auch nicht. Hypnose durfte einen beträchtlichen Teil beitragen. Eine Katze in Abwehrstellung sträubt das Fell und wirkt dadurch größer als sie ist. Eine Kobra hypnotisiert ihr Opfer. Weshalb? Um den Verteidigungswillen des Feindes zu lähmen, ihn zu entwaffnen, seinen Willen zu schwächen, der im Kampf so lebenswichtig ist. Nein, vielleicht verwandelte Matholch sich nicht körperlich in einen Wolf, aber jene unter dem Bann seiner Hypnose glaubten es, was im Endeffekt auf das gleiche hinauslief. Medea? Es gab eine Parallele. Bei bestimmten Krankheiten sind regelmäßige Blutübertragungen erforderlich, will man den Patienten am Leben erhalten. Nicht daß Medea Blut trank, ihr Durst war anderer Art. Aber die Lebensenergie ist nicht weniger real als Leukozyten. Und wenn sie auch eine Hexe war, so benötigte sie doch keine übersinnlichen Kräfte, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Bei Edeyrn war ich mir nicht so sicher. Meine Erinnerungen, was sie betraf, waren sehr nebulös. Einmal hatte ich gewußt, was sie war; welche Kräfte, die das Blut gefrieren ließen, sich in der Dunkelheit der Kapuze verbargen. Aber auch das war keine Magie. Die Kristallmaske würde mich gegen sie schützen, mehr wußte ich nicht. Llyr, selbst Llyr war kein Gott. Das wußte ich genau. Doch was er war, das vermochte ich nicht einmal zu erraten. Aber ich würde es noch herausfinden. Und dann würde mir das Schwert namens Llyr, das kein wirkliches Schwert war, helfen. Inzwischen mußte ich meine Rolle spielen, und sie gut spielen. Denn selbst mit Freydis als Bürgen konnte ich es mir nicht leisten, erneutes Mißtrauen bei den Rebellen wachzurufen. Ich hatte behauptet, die Nachwirkungen von
Medeas Zaubermittel, das mich geschwächt und mein Gedächtnis ein wenig verwirrt habe, hielten immer noch an. Das würde kleinere Fehler meinerseits erklären. Merkwürdigerweise schien Lorryn Freydis' Wort voll akzeptiert zu haben, während ich in Arles Benehmen eine kaum merkliche Zurückhaltung spürte. Ich glaubte nicht, daß sie die Wahrheit ahnte. Und wenn sie es tat, versuchte sie, diese nicht einmal sich selbst gegenüber einzugestehen. Keinesfalls durfte ich dieses uneingestandene Mißtrauen wachsen lassen. Im Tal herrschte reger Betrieb. Viel war geschehen, seit ich in der Morgendämmerung hierhergekommen war. Ich hatte eine körperliche und geistige Anstrengung hinter mir, die einen normalen Sterblichen so schwächen würde, daß er eine Woche oder länger brauchte, sich davon zu erholen. Dabei hatte Ganelon seinen Kampf noch nicht einmal begonnen. Glücklicherweise hatte Edward Bond so gut vorgearbeitet, daß keine großen Vorbereitungen für unseren neuen Angriffsplan mehr erforderlich waren. Trotzdem hatte es genug für mich zu tun gegeben, als daß ich mich mit Persönlichem befassen hätte müssen. Doch nun war der Plan fertig ausgearbeitet. Wir erhoben uns von dem großen Kartentisch in dem Höhlenraum, wo normalerweise Sitzungen abgehalten wurden. Wir waren alle müde. Ich erwiderte Lorryns warmes Lächeln, das seinem Freund Edward Bond galt. »Diesmal schaffen wir es ganz bestimmt«, sagte ich überzeugt. Sein Lächeln verzerrte sich plötzlich zu einer finsteren Grimasse, und seine Augen glühten. »Vergiß nicht!« knurrte er. »Matholch gehört mir!« Ich blickte hinab auf die unter Edward Bonds Anleitung maßstabgerecht angefertigte Reliefkarte. Ich legte meine Hand
vorsichtig auf die vieltürmige Miniaturburg. Hier begann die Straße, auf der ich gestern abend in meinem blauen Opfergewand neben Medea geritten war. Sie führte direkt zu dem Tal mit dem fensterlosen Turm von Caer Secaire, der unser Ziel gewesen war. Noch einmal ritt ich im Geist diesen Weg unter dem Sternenhimmel. Medea trabte neben mir in ihrem scharlachroten Umhang, ihr Gesicht ein bleiches Oval in der Düsternis, ihr Mund dunkelrot. Ihre Augen leuchteten. Ich erinnerte mich an ihre nachgiebige Wildheit, als ich sie gestern abend, wie so viele Male zuvor, in meinen Armen gehalten hatte. Eine Frage pochte in meinem Kopf. Medea, Medea, rote Hexe von Kolchis, warum hast du mich verraten? Ich drückte unbeherrscht auf die winzige Gipsburg und spürte, wie sie unter meiner Hand zerbröckelte. Ich starrte grimmig auf die Ruine, die ich aus Edward Bonds Modell gemacht hatte. »Wir werden sie nicht mehr brauchen!« zischte ich mit zusammengepreßten Zähnen hervor. Lorryn lachte. »Unnötig sie zu reparieren. Morgen wird die Ruine selbst nicht viel besser aussehen.« Ich schüttelte den Gipsstaub von meiner Hand und blickte über den Tisch auf die schweigende Arles. Ernst, wartend, erwiderte sie meinen Blick. Ich lächelte. »Wir hatten noch keine Minute für uns allein«, sagte ich und ließ meine Stimme zärtlich klingen. »Ich brauche ein wenig Schlaf, bevor ich heute abend aufbreche, aber es bleibt Zeit für einen kurzen Spaziergang, wenn du Lust dazu hast.« Sie nickte, ohne zu lächeln und kam um den Tisch herum. Sie streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie, und wir schritten nebeneinander die Stufen vom Höhlenausgang
hinunter in die Schlucht. Ich ließ sie den Weg führen, und wir gingen schweigend am Bach entlang zum oberen Ende des Tales. Arles Schritte waren leichtfüßig, und ihr seidiges Haar schwebte wie ein bleicher Schleier hinter ihr her. Ich fragte mich, ob es ihr bewußt war, daß ihre freie Hand am Griff ihrer Waffe ruhte. Ich fand es sehr schwierig, meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen. Medeas Gesicht in all seiner betörenden Schönheit ging mir nicht aus dem Sinn. Einen Augenblick erfüllte mich meine Erinnerung mit Wut, daß Edward Bond in meinem Körper gestern die Küsse geerntet hatte, die für Ganelon bestimmt gewesen waren. Aber ich würde sie heute nacht wiedersehen, ehe sie durch meine Hände starb. Wieder sah ich die winzige Straße auf der Reliefkarte, die sich durch den Wald zum Opferturm wand. Auf der echten würde der Zirkel reiten, wie gestern mit mir. Und auch heute würden die Waldläufer sich wieder hinter den Bäumen versteckt halten, und wieder würde ich sie gegen den Zirkel anführen. Aber diesmal würde das Ende anders sein, als sowohl die Rebellen oder der Zirkel es erwarteten. Welch ein seltsames Gespinst die Nornen doch woben! Gestern als Edward Bond, heute als Ganelon würde ich die gleichen Leute in den gleichen Kampf gegen den gleichen Feind führen, aber der Grund dafür war so verschieden wie Tag und Nacht. Wir waren tödliche Feinde, obgleich wir auf eigenartige Weise denselben Körper teilten – Feinde, obwohl wir uns nie gegenübergestanden hatten und uns auch nie gegenüberstehen würden. »Edward?« Arles sanfte Stimme riß mich aus meinen Gedanken. Sie blickte mich mit dem gleichen rätselhaften Ausdruck an, wie schon so oft heute. »Edward, ist sie sehr
schön?« Ich starrte sie verwirrt an. »Wer?« »Die Hexe. Medea.« Ich hätte am liebsten laut gelacht. War das der Grund iher Zurückhaltung den ganzen Tag? Schrieb sie die Veränderung in mir einer Rivalin zu? Zumindest mußte ich sie in dieser Hinsicht beruhigen. Ich bat Llyr, mir die Lüge zu verzeihen, und legte meine Arme um ihre Schultern. »Es gibt keine Frau auf dieser Welt oder der Erde, die auch nur halb so schön ist wie du, mein Liebling.« Immer noch war ihr Blick ernst. »Wenn du es einmal wirklich ehrlich meinst, Edward, werde ich mich sehr darüber freuen. Doch jetzt tust du es nicht. Ich fühle es. Nein …« Sie drückte ihre Finger auf meine Lippen, als ich es abzustreiten versuchte. »Sprechen wir jetzt nicht von ihr. Sie ist eine Zauberin, gegen deren Kräfte weder du noch ich ankommen. Es ist nicht deine Schuld, daß sie von einer Schönheit ist, die du nicht sofort vergessen kannst. Denken wir jetzt nicht daran. Schau! Erinnerst du dich?« Sie befreite sich aus meiner Umarmung und deutete auf das Panorama unter uns. Wir standen zwischen hohen, rauschenden Bäumen auf dem Kamm eines Hügels, von dem aus wir eine weite Sicht hatten. »All das wird einmal unser sein«, murmelte Arles sanft. »Wenn es den Zirkel nicht mehr gibt, und Llyr nicht mehr ist, werden wir dort leben können und uns nicht mehr in den Höhlen verkriechen müssen. Wir können die Wälder roden, Städte bauen und wieder wie Menschen leben. Ist es nicht ein großartiger Gedanke, Edward? Eine ganze Welt aus der Barbarei befreit! Und nur, weil es ein paar von uns gab, die von Anfang an keine Angst vor dem Zirkel hatten. Und weil sie dich fanden. Wenn wir den Kampf gewinnen, Edward, dann verdanken wir es nur dir und Freydis. Ohne euch wären
wir verloren gewesen.« Sie drehte sich abrupt um, und ihr aschblondes Haar flog um ihr Gesicht. Sie lächelte mich an, und ein Zauber ging von ihr aus, wie er mir vorher nicht aufgefallen war. Bisher war sie mir den ganzen Tag mit Zurückhaltung begegnet. Doch auf einmal sah ich sie mit den Augen Edward Bonds, und ich stellte überrascht fest, daß mein gegnerisches Ich mit dieser Frau glücklich zu schätzen war. Medeas dunkle Schönheit würde ich zwar nie vergessen, das wußte ich, aber diese Arles hatte ihren eigenen Liebreiz. Sie war mir nun ganz nah. Ihre Lippen teilten sich, als sie mir ein zärtliches Lächeln schenkte. Einen Augenblick beneidete ich Edward Bond. Doch dann erinnerte ich mich. Ich war Edward Bond! Aber Ganelon war es, der sich herabbeugte und das Waldmädchen mit einer solchen Wildheit in die Arme schloß, daß sie überrascht zusammenzuckte, ehe meine Lippen die ihren verschlossen. Doch dann wehrte sie sich nicht mehr. Sie war ein wildes, scheues Geschöpf, und es war ein angenehmes Gefühl, sie in den Armen zu halten und zu küssen. Aus ihrem Verhalten erkannte ich, daß Edward Bond sie nie wie ich umarmt hatte. Aber Edward Bond war eben ein Schwächling und ein Tor. Noch ehe der Kuß sein Ende fand, wußte ich, bei wem ich als erstes Trost suchen würde, wenn Medea ihren Verrat mit dem Leben bezahlt hatte. Zwar würde ich die rote Hexe nicht vergessen, aber so schnell auch Arles' Kuß nicht. Atemlos schmiegte sie sich an mich, während ich über ihre Schulter hinweg auf das Tal hinunterblickte, von dem sie träumte, daß es einst von freien Menschen bevölkert sein würde. Ich wußte, daß dieser Traum nie Wahrheit werden würde. Denn ich hatte meinen eigenen Traum!
Ich sah die Waldläufer eine mächtige Burg für mich errichten. Vielleicht hier auf diesem Hügel, wo ich das ganze Land überblicken konnte. Ich sah sie unter der Peitsche meiner Aufseher weiteres Land für mich roden. Ich sah meine Armeen marschieren, meine Sklaven auf den Feldern und in den Minen, meine Seestreitkräfte auf den dunklen Meeren einer Welt, die mir einmal Untertan sein würde. Arles sollte eine Zeitlang meinen Traum mit mir teilen. Eine kurze Zeit. »Ich werde dich immer lieben!« flüsterte ich mit Edward Bonds Stimme in ihr Ohr. Aber Ganelons Lippen preßten sich noch einmal leidenschaftlich auf ihre. Merkwürdigerweise waren es ausgerechnet Ganelons Küsse, die sie davon überzeugten, daß ich Edward Bond war … Danach ruhte ich mich noch ein paar Stunden zufrieden in Edward Bonds Höhlenraum in einem bequemen Bett aus, und seine Männer hielten Wache vor der Tür. Ich schlief mit der Erinnerung an die Umarmung seines Waldmädchens ein. Vielleicht quälte Edward Bond in seinen Träumen auf der Erdenwelt jetzt die Eifersucht. Aber auch meine eigenen Träume waren quälend. Llyr lauerte wach und hungrig in seiner Burg, und seine eisigen, gierigen Fühler tasteten sich in meinen Geist. Ich wußte, daß er sich in das Gehirn eines jeden auf der Dunklen Welt drängte, suchend, hungrig, und daß nicht nur ich es spürte. Ich mußte schnell erwachen oder ich würde es nie mehr. Und doch mußte ich ausgeruht und stark sein für das, was mich in dieser Nacht noch erwartete. Ich sperrte Llyr aus meinen Gedanken und Arles ebenfalls. Es war Medeas sinnliches Lächeln, das meinen Schlaf mit mir teilte.
11.
Auf leisen Sohlen stahlen Lorryn und ich uns durch die Bäume und blickten auf die Burg des Zirkels, deren beleuchtete Fenster sich aus der Dunkelheit abhoben. Dies war die Nacht! Wir wußten es, und unsere Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Um uns im Wald, unsichtbar, hörten wir die leisen, unverdächtigen Geräusche, die uns sagten, daß eine ganze Armee von Waldläufern bereit war und nur auf unser Zeichen wartete. Sie würden einen guten Kampf gegen die Soldaten des Zirkels liefern. Vielleicht nicht gut genug. Aber es war mir gleichgültig. Sie dachten, sie würden die Burg stürmen und den Zirkel durch ihre Zahl und ihre Waffen überwältigen. Ich dagegen wußte, daß ihr einziger Zweck war, für Ablenkung zu sorgen, während ich in die Burg schlüpfte, um mich der geheimen Waffen zu bemächtigen, die ich brauchte, um den Zirkel zu besiegen. Während sie angriffen, würde ich Ghast Rhymi einen Besuch abstatten und von ihm erfahren, was ich wissen mußte. Alles andere scherte mich nicht. Viele Waldläufer würden den Tod finden. Und wenn schon. Es blieben noch genügend Sklaven für mich, wenn meine Stunde kam. Nichts vermochte mich jetzt noch aufzuhalten. Die Nornen waren auf meiner Seite. Es konnte nichts schiefgehen. Auf der Burg rührte sich allerhand. Stimmen drangen durch die stille Nacht bis zu uns heraus. Schatten bewegten sich an den Fenstern vorbei. Dann wurden die Tore aufgerissen, und die Silhouetten einer großen Anzahl von Reitern zeichneten sich gegen die Helligkeit dahinter ab. Eine Prozession strömte heraus. Ich hörte Ketten klirren und verstand. Diesmal ritten die Opfer an ihre Pferde gekettet, so daß keine Sirenenstimmen
aus dem Wald sie fortlocken konnten. Ich zuckte die Schultern. Sollten sie in den Tod ziehen. Llyr mußte gefüttert werden, solange er noch existierte. Besser sie als Ganelon als Opfergabe am goldenen Fenster. Wir blickten ihnen nach, als sie mit klirrenden Ketten die dunkle Straße entlangritten. Da kam auch Matholch auf seinem hohen Pferd. Ich erkannte ihn an seiner Silhouette, seinen Bewegungen. Ich hörte Lorryns heftiges Atmen und seine gepreßte Stimme. »Vergiß nicht! Er gehört mir!« keuchte er. Edeyrn ritt vorbei, klein wie ein Kind auf ihrem Pony. Ein Hauch von Eiseskälte streifte uns, als sie in der Dunkelheit verschwand. Medea kam. Ich wartete, bis ihr weißes Gewand unter dem roten Umhang sich in der Ferne verlor, ehe ich mich zu Lorryn umwandte. Ein Chaos herrschte in meinen Gedanken, denn ein neuer Zwang erfüllte mich, gegen den ich mich nicht einmal zu wehren versuchte. Ich wußte nicht, wie es bei einer Opferung in Caer Secaire zuging, denn hier ließ mich mein Gedächtnis immer noch im Stich. Das war äußerst gefährlich. Bevor Ganelon sich nicht an den Sabbat erinnerte, ehe er nicht selbst sah, wie Llyr die Opfer durch das goldene Fenster entgegennahm, konnte er sich nicht hundertprozentig sicher sein, daß er den Zirkel auch wirklich bekämpfen würde. Das war die Lücke, die unbedingt gefüllt werden mußte. Die Neugier war plötzlich ungewöhnlich stark in mir. Neugier und …? Konnte es sein, daß Llyr mich anzog? »Lorryn«, flüsterte ich in die Dunkelheit. »Bitte warte hier auf mich. Wir müssen uns versichern, daß sie Caer Secaire auch wirklich erreichen und mit dem Sabbat beginnen. Ich möchte nicht angreifen, ehe ich nicht völlig sicher bin. Bleib einstweilen hier.« Er wollte protestieren, aber ich war schon weg, ehe er noch
den Mund zu öffnen vermochte. Leise rannte ich hinter der schweigenden Prozession her, und es war mir, als hinge Medeas verführerischer Duft noch in der Luft, und ich glaubte, ich müsse an der Leidenschaft meines Hasses ersticken – und meiner Liebe für sie. »Sie wird als erste sterben«, schwor ich mir. Ich beobachtete, wie die schweren Eisentore von Caer Secaire sich hinter der letzten Reihe der Prozession schlossen. Es war dunkel im Innern des Caers. Schweigend betraten sie einer nach dem anderen das Bauwerk. Die Dunkelheit verschlang sie. Eine schwache Erinnerung Ganelons, tiefverborgen unter der Oberfläche des Bewußtseins, drängte mich nach links, um die Krümmung der mächtigen Mauer. Ich folgte dem Impuls wie ein Schlafwandler und kam zum Fuß einer Brustwehr. Immer noch meinem Unterbewußtsein gehorchend, legte ich meine Hände gegen die Mauer, die mit wuchtigen Reliefen verziert war. Meine Finger tasteten ein Muster ab. Plötzlich öffnete sich die Wand vor mir, und ich schritt ohne Zögern durch die Öffnung. Meine Füße kannten den Weg. Vor mir in der Dunkelheit führte eine Treppe in die Höhe. Meine Füße wußten davon und stolperten nicht. Llyr war hier. Ich spürte seine hungrige Anwesenheit als einen Druck auf meinem Gehirn, den die Enge dieser Mauern noch verstärkte. Etwas in mir antwortete ihm in lautlosem Jubel, doch vor Abscheu unterdrückte ich es. Llyr und ich waren nicht mehr durch diese langvergangene Zeremonie miteinander verbunden. Ich erkannte es nicht an. Ich war jetzt nicht mehr Llyrs Auserwählter. Aber trotzdem erfüllten mich Sinne, über die ich keine Kontrolle hatte, mit einer ungeheuren Ekstase bei dem Gedanken an die Opfer, die willenlos durch das Tor von Caer Secaire gezogen waren. Ich fragte mich, ob der Zirkel – ob Medea – jetzt an mich dachte,
der ich gestern so nahe dem Opfertod gekommen war. Meine Füße hielten am Kopfende der Treppe an. Ich vermochte nichts zu sehen, aber ich wußte, daß auch hier die Wand vor mir mit Reliefen bedeckt war. Ich berührte ein bestimmtes Muster, und ein Stück der Wand vor mir schob sich seitwärts. Die Öffnung führte auf ein breites Sims, von dem aus ich in die Tiefe sehen konnte. Caer Secaire war wie ein Wald aus mächtigen Säulen, die hoch emporwuchsen und sich in der undurchdringlichen Finsternis verloren. Irgendwo dort oben, zu hoch, als daß ich seine Quelle erkennen konnte, begann ein Licht zu glimmen. Mein Herz setzte einen Schlag aus, als ich es sah, denn ich kannte das Licht – es war das Glühen aus dem goldenen Fenster. Die Erinnerung kehrte in Bruchstücken zurück. Es war Llyrs Fenster. Das Opferfenster. Ich vermochte es nicht zu sehen, aber ich kannte sein Glühen. In Caer Llyr leuchtete die Substanz des Fensters stetig, und Llyr, der Große Llyr, hielt sich dahinter auf, für immer. Doch in Caer Secaire und in den anderen Opfertempeln, die einst über die ganze Dunkle Welt verstreut gewesen waren, gab es nur Kopien dieses Fensters, die lediglich leuchteten, wenn Llyr körperlos durch die Finsternis schwebte, um sich seinen Tribut zu holen. Über mir wartete Llyr jetzt hungrig in jenem goldenen Glühen, das sich wie eine Sonne in der Nacht erhob. Wie das Fenster von Secaire geformt war, wo es sich genau befand, daran vermochte ich mich immer noch nicht zu erinnern. Aber etwas in mir kannte das goldene Licht und zitterte ihm entgegen, als ich sein wachsendes Leuchten durch die Säulen des Tempels beobachtete. Tief unter mir sah ich die Angehörigen des Zirkels stehen, winzige Gestalten, die ich nur an ihren Umhängen erkennen konnte – grün für Matholch, gelb für Edeyrn, und rot für
Medea. Hinter ihnen befanden sich die Wachen. Sie standen den auserwählten Sklaven zugewandt, die sich blind zwischen den Säulen hindurchbewegten. Ich konnte nicht sehen, wohin sie sich begaben, aber ich kannte ihr Ziel. Das Fenster lockte seine Opfer, und irgendwie waren sie auf dem Weg dorthin. Als das Licht stärker wurde, sah ich den großen schalenförmigen schwarzen Altar auf einer schwarzen Plattform. Ein trogförmiges offenes Rohr endete unmittelbar darüber. Meine Augen verfolgten seinen Lauf. Es wand sich in mehreren Krümmungen schräg nach oben. Wo es endete, vermochte ich nicht zu sehen. Am Fenster? Aber etwas in mir verriet mir, wozu es diente, und welcher Art der Altar war. Ich beugte mich über das Sims und zitterte vor Erwartung für ihn, der hoch dort oben in dem sonnengleichen Licht der Opfer harrte. Eine Stimme erhob sich zu leierndem Singsang. Ich erkannte sie als die Medeas. Die hohen freien Säulen ließen sie widerhallen. Eine erstickende Spannung hing in der Luft. Die Gestalten unter mir standen reglos. Ihre erhobenen Köpfe waren dem wachsenden Leuchten zugewandt. Medea sang weiter ihren monotonen Psalm. Die Zeit schien stillzustehen, während Llyr auf seine Opfer wartete. Da gellte ein schrecklicher Schrei hoch über uns durch die Nacht. Das Leuchten wurde zu einer blendenden Feuerzunge, als antworte Llyr in lautloser Lust. Medeas Singsang hob sich zu einer schrillen Klimax und erstarb. Ich hörte das nervöse Scharren von Füßen. Ein schwaches, von oben herabströmendes Rauschen war zu vernehmen. Meine Augen suchten den Altar und das offene Rohr darüber. Reglos standen die Angehörigen des Zirkels vor der Plattform. Sie warteten.
Blut begann aus dem trogförmigen Rohr in die riesige Opferschale zu fließen. Ich weiß nicht, wie lange ich mich an das Sims klammerte, und meine Augen wie gebannt auf den Altar starrten. Ich weiß nicht, wie oft hoch oben ein Todesschrei gellte; wie oft Medeas Singsang von neuem begann und zum Fortissimo anschwoll, wenn die Feuerzunge blendend hervorschnellte; wie oft Blut sich in die Altarschale ergoß. Ich war taub und blind für alles andere. Ein Teil meines Selbst befand sich mit Llyr am goldenen Fenster, von Ekstase geschüttelt, wenn er sich seine Opfer nahm; ein anderer Teil unten bei dem Zirkel, voll Stolz über seinen Beitrag am Sabbat. * Aber ich wußte, ich harrte zu lange aus. Was mich rettete? Ich weiß es nicht. Vielleicht die Stimme meines Unterbewußtseins, die mich rüttelte, mir einhämmerte, daß ich die kostbare Zeit auf gefährliche Weise vergeudete; daß ich anderswo sein mußte, ehe der Sabbat endete; daß Lorryn und seine Männer ungeduldig warteten. Nur zögernd gewann mein klarer Verstand wieder die Oberhand. Nur mit größter Anstrengung gelang es mir, meinen Geist vom Rande des goldenen Fensters zurück in meinen Körper zu zwingen. Der Zirkel stand immer noch reglos im Bann des Geschehens tief unter mir. Wie lange noch, vermochte ich nicht zu sagen. Vielleicht für den Rest der Nacht, vielleicht auch nur noch eine Stunde. Ich mußte mich beeilen, wenn es nicht ohnehin bereits zu spät war. Aber auch das wußte ich nicht. In tiefster Dunkelheit trugen meine Füße mich automatisch den gleichen Weg zurück, während meine Gedanken sich in Erinnerung an die ungeheure Ekstase überschlugen, meine
Augen immer noch das blendende Leuchten des goldenen Fensters vor sich sahen, und meine Ohren das Kreszendo von Medeas Stimme hörten. Der rote Mond hing schon tief am Himmel, als ich zu Lorryn zurückkam, der ungeduldig immer noch vor den Burgmauern ausharrte. Das erleichterte Aufatmen der im Wald versteckten Rebellen, als sie mich die Straße entlanglaufen sahen, war fast hörbar. Auch ihre Geduld war über Gebühr strapaziert, und sie würden nun angreifen, ob ich das Wort gab oder nicht. Ich winkte Lorryn aus fünf Meter Entfernung zu. Es spielte jetzt keine Rolle mehr, ob die Burgwachen mich sahen oder hörten. »Gib das Zeichen zum Angriff!« befahl ich ihm. Das Mondlicht brach sich auf dem Silberhorn, das er an die Lippen setzte. Die durchdringenden Töne zerrissen die Nachtluft und nahmen die letzte Lethargie von mir. Unwillkürlich stimmte ich in den heiseren Schlachtruf mit ein, als die Waldläufer zum Angriff stürmten. Die wilde Kampfeslust, die mich jetzt erfaßte, stand der Ekstase, die ich mit Llyr geteilt hatte, nicht nach. Das Knattern von Gewehrsalven übertönte unsere Stimmen. Die ersten Granatenexplosionen erschütterten die Burg und tauchten die Außenmauern in grelles Licht. Schreie und Flüche drangen aus dem Innern. Signalhörner erschallten. Wir hörten die Stimmen der führerlosen Wachen, verwirrt und eingeschüchtert. Aber ich wußte, daß sie sich wehren würden, sobald der erste Schock vorüber war. Matholch und ich hatten sie gut gedrillt. Und sie verfügten über Waffen, die den Waldläufern zu schaffen machen würden. Es würde viel Blut fließen. Ich wartete nicht darauf. Die erste Explosion hatte eine Bresche in die Außenmauer geschlagen, durch die ich ungeachtet des Gewehrbeschusses kletterte. Die Nornen
waren mit mir heute nacht, sie würden mich beschützen. Ich wußte, mein Vorhaben würde gelingen. Irgendwo in seinem Turm saß Ghast Rhymi, unberührt, in kalter Gleichgültigkeit, erhaben wie ein Gott über den Kampf, der um die Burg tobte. Ich hatte eine Verabredung mit ihm, auch wenn er nichts davon ahnte. Ich bahnte mir mit den Ellbogen einen Weg durch die aufgeregten Wachen. In der Dunkelheit und der allgemeinen Verwirrung erkannten sie mich nicht, aber sie sahen an meiner Tunika, daß ich keiner der Waldläufer war, und hielten mich nicht auf. Drei Stufen auf einmal nehmend, hastete ich die Treppe hoch.
12. Die Burg des Zirkels! Wie fremd sie mir vorkam, als ich die weiten Hallen durcheilte. Vertraut und doch eigenartig unbekannt, als sähe ich sie durch den Schleier der überlagerten Erinnerungen Edward Bonds. Solange ich schnell dahinschritt, führten meine Füße mich von selbst. Doch sobald ich zögerte, übernahm mein Bewußtsein die Kontrolle. Es war, als verschwämme gerade das, worauf ich mich konzentrierte, während alles andere scharf blieb, solange ich nicht daran dachte. Ich schritt die gewölbten Gänge entlang, über bunten Mosaikfußboden, der legendäre Szenen wiedergab, die mir vertraut erschienen. Ich lief an den Statuen von Zentauren und Satyren vorbei, deren Gesichter der Ganelonhälfte meines Geistes wohlbekannt waren, während die Edward-BondHälfte sich vergebens fragte, ob es solche Geschöpfe in dieser
Welt der Mutationen tatsächlich gegeben hatte. Manchmal war dieser duale Geist eine Quelle der Stärke für mich, doch des öfteren eine lähmende Schwäche. Gerade jetzt hoffte ich inbrünstig, ich würde den dünnen Faden der Erinnerung nicht verlieren, der mich zu Ghast Rhymi führte, denn womöglich vermochte ich ihn dann nicht mehr rechtzeitig wiederzufinden. Eine jegliche Störung konnte sich als verhängnisvoll auswirken. Ghast Rhymi, so sagte mir meine Ganelon-Erinnerung, hielt sich irgendwo im höchsten der Burgtürme auf. In diesem würde auch die Schatzkammer sein, wo die Maske und der Stab aufbewahrt waren. Und tief in den unberührbaren Gedanken Ghast Rhymis lag das Geheimnis von Llyrs Verwundbarkeit. Selbst ich, Ganelon, bewahrte etwas Geheimes in dieser Kammer auf, denn keiner, der dem Zirkel angehörte, kein Hexer, keine Zauberin der Schwarzen Magie, kann die ihm eigenen dunklen Kräfte ausüben, ohne nicht selbst etwas zu schaffen, das ihn zu vernichten vermag. Das ist das Gesetz der Dunklen Magie. Über die geheimen Gründe vermag ich nicht zu sprechen, doch einer davon ist klar. In den Märchen aller Länder der Erde besitzt die Hexe oder der Zauberer, beziehungsweise jeder Meister der Magie, einen Gegenstand, der, wenn er ihm entwendet wird, ihn oder sie ihrer übernatürlichen Kräfte beraubt. Soviel darf ich sagen: in allen Dingen muß ein Gleichgewicht herrschen. Wir vom Zirkel wären nicht imstande gewesen, unsere Macht aufzubauen, ohne eine kompensierende Schwäche. Natürlich verstecken wir gerade diese Schwäche möglichst so, daß kein Feind sie zu erahnen oder gar sich ihrer zu bedienen vermag. Nicht einmal die anderen Mitglieder des Zirkels wußten, worin meine Schwäche lag; das war mein Geheimnis. Ich
kannte Medeas, und teilweise auch Edeyrns. Und Matholchs? Nun, für ihn reichte meine eigene, durch die Zirkelzugehörigkeit verstärkte Kraft aus. Ghast Rhymi zählte nicht. Er würde sich nicht zum Kampf stellen. Und Llyr? Irgendwo war das Schwert versteckt. Und der, der es fand und auf jene unbekannte Weise benutzte, für die es geschmiedet war, hielt Llyrs Existenz in seiner Hand. Aber es war mit großer Gefahr verbunden. Denn wie Llyrs Macht auf der Dunklen Welt jegliche Vorstellung übertraf, so mußte es auch die ausgleichende Kraft sein, die in diesem Schwert steckte. Allein sich in seine Nähe zu wagen, mochte schon verhängnisvolle Folgen haben. Es gar in die Hand zu nehmen – nun, ich würde es in die Hand nehmen müssen! Es hatte keinen Sinn, sich Gedanken über die mögliche Gefährlichkeit zu machen. Ich kletterte die Stiegen hoch und immer höher. Hier vermochte ich den Schlachtenlärm nicht zu hören. Aber ich wußte, daß die Zirkelsoldaten und -sklaven fielen und daß auch viele von Lorryns Männer den Tod fanden. Ich hatte Lorryn eingeprägt, daß keiner aus der Burg ausbrechen durfte, um jene in Caer Secaire zu warnen. Ich zweifelte nicht daran, daß er darauf achten würde, so ungeduldig er auch darauf wartete, die Hände an Matholch zu legen. Allerdings gab es einen auf der Burg, der, ohne sich auch nur von der Stelle zu rühren, eine Botschaft zu senden vermochte. Ein einziger! Er hatte diese Botschaft jedoch nicht gesandt. Das wußte ich, als ich durch die weiße Portiere stürmte und in das Turmgemach eindrang. Es war ein halbrunder Raum, mit Wänden, Boden und Decke von elfenbeinerner Blässe. Die undurchsichtigen Fenster waren geschlossen, aber Ghast Rhymi hatte nie seine Augen gebraucht, um zu sehen. Völlig entspannt saß er in den weichen Kissen seines Sessels.
Haar und Bart fielen in schneeweißen Locken über sein ebenso weißes, einfaches Gewand. Seine Hände ruhten auf den Armlehnen. Sie waren bleich wie Wachs, und die Haut war so durchsichtig, daß ich den Lauf der blauen Adern verfolgen konnte, durch die das dünne Blut müde floß. Docht und Wachs waren niedergebrannt. Die Lebensflamme flackerte nur noch schwach. Schon ein geringer Windstoß mochte sie auslöschen. So saß der uralte Weise, ohne mich zu sehen, den Blick in die Unendlichkeit gerichtet. Ganelons Erinnerungen fluteten zurück. Ganelon hatte viel von Ghast Rhymi gelernt. Doch schon damals war der Weise alt gewesen. Nun hatten die Wogen der Zeit ihn zermürbt, wie jene des Meeres am Stein nagen, bis nichts von ihm bleibt als ein dünnes Plättchen. Sein Lebensfeuer war nicht mehr als glimmende Asche. Er bemerkte mich nicht. Es ist nicht einfach, Ghast Rhymi aus den Tiefen seiner Gedanken zurückzuholen. Ich sprach zu ihm, aber er antwortete nicht. Wachsam schritt ich an ihm vorbei auf die Wand zu, die das Turmgemach in zwei Hälften teilte. Keine Tür zeichnete sich ab, aber ich wußte, wie sie zu öffnen war. Ich preßte die Hände in einem bestimmten Rhythmus gegen die kühle Wand. Ein Spalt weitete sich vor mir. Ich trat über die Schwelle. Hier wurden die Kostbarkeiten des Zirkels aufbewahrt. Ich überflog die Schatzkammer, und nun sah ich die Dinge auch mit Edward Bonds Augen. Jene bernsteinfarbige Linse dort in der Wandnische war eine tödliche Waffe. Ich hatte mir nie irgendwelche Gedanken gemacht über ihre Wirkungsweise. Doch meine irdischen Erinnerungen verrieten sie mir nun. Es hatte nichts mit Zauberei zu tun, sie sog lediglich die elektrischen Ströme des Gehirns an. Und der schwarze konische Gegenstand, auch er tötete. Er zerrt die Lebenskraft mit solcher Gewalt zwischen
künstlicher Kathode und Anode hin und her, bis die Spannung für das lebende Fleisch unerträglich wird. Variierter Wechselstrom! Aber diese Waffen interessierten mich im Augenblick nicht. Ich suchte nach etwas anderem. Hier gab es keine tödliche Falle, vor der ich mich in acht nehmen mußte, denn niemand außer den Zirkelmagieren kannte den Zugang zu dieser Schatzkammer oder wußte auch nur, daß es sie überhaupt gab. Nur Legenden berichteten von ihr. Außerdem würden es keine Sklaven oder Zirkelsoldaten wagen, Ghast Rhymis Turm zu betreten. Mein Blick blieb kurz an einem Schwert hängen, aber es war nicht das, das ich suchte. Flüchtig betrachtete ich die Harfe, die irdische Sagen als Orpheus' Harfe kannten, deren Klänge die Toten aus dem Hades zurückzuholen vermochten. Aber sie brauchte ich nicht, noch nicht! Woran ich interessiert war, das lag auf einem Regal, in einer versiegelten zylindrischen Hülle. Ich brach den Zylinder und holte den dünnen schwarzen Stab mit dem etwas dickeren Griff heraus. Mit diesem Stab ließ sich die elektromagnetische Kraft eines Planeten anzapfen. Es gab andere seiner Art, doch sie waren in ihrer Wirkungsweise, im Gegensatz zu diesem, beschränkt. Es war ungemein gefährlich, ihn zu benutzen. In einer Vitrine fand ich die Kristallmaske – eine Art enganliegende Brille, die meine Augen wie eine gläserne Dominomaske vor Edeyrn schützen würde. Ich suchte weiter. Aber vom Schwert Llyr fand ich keine Spur. Die Zeit blieb nicht stehen. Zwar drangen die Kampfgeräusche nicht bis hier herauf, aber ich wußte, daß die Schlacht weiterging und daß früher oder später auch der Zirkel zur Burg zurückkommen würde. Ich vermochte zwar
jetzt erfolgreich gegen ihn zu kämpfen, nicht aber gegen Llyr. Ich durfte kein Risiko eingehen, ehe ich nicht auch die Waffe gegen ihn besaß. Ich blieb in der Wandöffnung stehen und starrte auf Ghast Rhymis schneeweißes Haupt. Welcher Schutzgeist auch immer hier für ihn aufpaßte, er schien zu wissen, daß ich ein Recht hatte, die Schatzkammer zu betreten. Der Greis rührte sich nicht. Immer noch wanderten seine Gedanken in unendlichen Tiefen, aus denen sie sich nicht zurückholen lassen wollten. Es war unmöglich, Gewalt anzuwenden, denn Ghast Rhymis einzige Reaktion darauf wäre zu sterben. Aber ich mußte die Antwort haben, die ich unbedingt benötigte. Ich trat in die Schatzkammer zurück und holte die Harfe. Ich stellte sie unmittelbar vor Ghast Rhymis Sessel ab. Keine Bewegung in seinen weit offenen blauen Augen verriet, daß noch Leben in ihm war. Ich schritt zu den Fenstern und riß sie auf. Dann kehrte ich zur Harfe zurück und schlug mit leichten Fingern ein paar Töne an. Diese Harfe war ein wissenschaftliches Wunderwerk. Es war eine Maschine. Hörbare und unhörbare Schwingungen und Vibrationen gleich jenen, die das Gehirn ausstrahlte, vermischten sich zu einem Ganzen, das zu einem Teil Hypnose und zum anderen Elektromagnetismus war. Das Gehirn ist ein Kolloid, eine Maschine, und jede Maschine kann bedient werden. Diese Harfe fand den Schlüssel zu jedem Gehirn und vermochte es zu beherrschen. Durch die offenen Fenster hörte ich nun schwach das Klirren von Schwertern und das dumpfe Gebrüll der Kämpfenden. Aber diese Geräusche drangen nicht bis zu Ghast Rhymi vor.
Das Seufzen der gezupften Saiten flüsterte durch das helle Gemach. Und als die Maschine das Gehirnmuster Ghast Rhymis fand, erklangen die richtigen Töne unter meinen Fingern. Ghast Rhymis Seele – in reine Musik übersetzt! Eine schrille Note zerriß die Luft. Höher und höher gellte sie, bis sie sich in Unhörbarkeit verlor. Ein tiefes Dröhnen schwoll zu orkanartigem Sturm, wurde abgelöst von schmeichelnden, lockenden Tönen. Ghast Rhymis Lider zuckten. Bewußtsein kehrte in seine Augen zurück. Er sah mich. Und ich bemerkte, wie die letzte Glut seiner Lebensflamme immer mehr zu Asche zerfiel. Er starb! Ich hatte seinen Frieden, der ihm alles bedeutete, gestört, und er war nun nicht mehr daran interessiert weiterzuleben. Ich zog die Harfe näher zu mir heran, berührte erneut die Saiten. Ich benutzte die Zaubertöne wie einen Blasebalg, um die wenigen Funken des erlöschenden Feuers noch einmal zur Flamme zu entfachen. Und wie Orpheus die tote Eurydike aus Plutos Reich zurückholte, so zwang meine Musik Ghast Rhymis Seele zurück. Er sträubte sich zuerst. Ich spürte, wie sein Geist sich dagegen auflehnte, wie er zu entkommen versuchte. Aber die Harfe war stärker. Immer heller flackerte seine Lebensflamme. Ghast Rhymi wehrte sich nicht länger. Es war weniger anstrengend, zum Leben zurückzukehren und sich meine Fragen anzuhören, als gegen die lockenden Töne anzukämpfen. »Ganelon«, murmelten die schmalen Lippen im weißen Bart. »Als die Harfe zu singen begann, wußte ich, wer sie spielte. Stell deine Fragen, Ganelon. Dann laß mich sterben. Ich möchte in den Tagen, die vor euch liegen, nicht mehr leben.
Aber du wirst leben, Ganelon – und doch wirst du auch sterben. Das habe ich in der Zukunft gelesen.« Das greise Haupt hob sich lauschend. Die letzten süßen Töne der Harfe waren verklungen, nun drang das Schwerterklirren wieder schwach durch das Fenster und der Schrei eines tödlich Getroffenen.
13. Mitleid überflutete mich. Die einstige Größe, die Ghast Rhymi wie in einen schützenden Mantel gehüllt hatte, war nicht mehr. Ein zerbrechlicher Greis saß zusammengesunken vor mir. Einen Augenblick empfand ich den Drang, mich umzudrehen und ihn wieder in den Frieden seiner Gedanken zurückkehren zu lassen. Einst, erinnerte ich mich, war Ghast Rhymi eine hochgewachsene, imposante Gestalt gewesen, obgleich das schon vor meiner Zeit gewesen war. Aber in meiner Kindheit saß ich zu seinen Füßen und blickte voll Ehrfurcht zu dem majestätischen bärtigen Haupt auf. Vielleicht war damals mehr Leben in diesem Gesicht gewesen, mehr Wärme und Menschlichkeit. Jetzt war es unnahbar, unbewegt. Das Gesicht eines Gottes, der auf zu viele Götter herabgesehen hatte. »Meister«, stammelte ich. »Es tut mir leid.« Kein Muskel zuckte in dem Gesicht, und doch war mir, als bewegte sich etwas dahinter. »Du nennst mich Meister?« murmelte er. »Du – Ganelon? Es ist lange her, daß du jemanden über dir anerkanntest.« Ich empfand einen bitteren Geschmack in meinem Mund. Ich neigte meinen Kopf. Ja, ich hatte Ghast Rhymi besiegt, aber es gab mir keine Befriedigung. »Am Ende schließt der Kreis sich wieder«, sagte der Greis
kaum hörbar. »Wir beide stehen uns näher als die anderen. Du und ich, Ganelon, sind menschlich, keine Mutanten. Weil ich der Kopf des Zirkels war, ließ ich Medea und die anderen sich meiner Weisheit bedienen. Aber …« Er zögerte. »Zwei Jahrzehnte lebte mein Geist fern der mundanen Ebene«, fuhr er fort. »Jenseits von Gut und Böse, jenseits des Lebens und seiner Kreaturen, die wie Marionetten auf seinem Strom schwimmen. Wenn man mich weckte, gab ich die Antworten, die ich kannte. Es bedeutete mir nichts. Ich glaubte, ich hätte jede Verbindung zur Wirklichkeit verloren und es wäre mir gleichgültig, wenn der Tod jedermann auf der Dunklen Welt dahinraffen würde.« Ich vermochte nicht zu sprechen. Ich wußte, daß ich Ghast Rhymi ein großes Unrecht zugefügt hatte, als ich ihn aus seinem tiefen Frieden riß. Nun ruhten die blauen Augen auf mir. »Und jetzt stelle ich fest, daß es mir durchaus nicht gleichgültig ist. Kein Tropfen meines Blutes fließt in deinen Adern, Ganelon. Und doch sind wir einander verwandt. Ich unterrichtete, belehrte dich wie ein Vater den Sohn. Ich bildete dich für deine Aufgabe aus – den Zirkel an meiner Stelle zu leiten. Doch nun, glaube ich, bereue ich vieles. Am meisten die Antworten, die ich den anderen gab, als sie dich aus der Erdenwelt zurückbrachten.« »Ihr befahlt ihnen, mich zu töten«, murmelte ich. Er nickte. »Matholch hatte Angst. Edeyrn ergriff seine Partei. Sie zwangen Medea zuzustimmen. Matholch sagte: ›Ganelon hat sich verändert. Das kann sich als sehr gefährlich herausstellen. Laßt den Alten in die Zukunft blicken und uns sagen, was sie bringen wird.‹ So kamen sie zu mir. Ich vertraute meinen Geist dem Wind der Zeit an und drang in die Zukunft.« »Und Ihr saht …«
»Das Ende des Zirkels«, erwiderte Ghast Rhymi, »falls du am Leben bliebst. Ich sah Llyrs Arm durch das goldene Fenster in die Dunkle Welt greifen. Ich sah Matholch tot, und undurchdringliche Schleier über Edeyrn und Medea. Die Zeit ist nicht konstant, Ganelon. Sie wandelt sich wie die Menschen. Die Möglichkeiten wechseln. Als du auf die Erdenwelt verbannt wurdest, warst du Ganelon. Doch du kamst mit zwei Seelen zurück. Du verfügst über die Erinnerungen Edward Bonds, die du als Werkzeug benutzen kannst. Medea hätte dich auf der Erde lassen sollen. Aber sie liebte dich.« »Und doch wehrte sie sich nicht dagegen, als man beschloß, mich zu töten?« »Weißt du denn, was in ihrem Kopf vor sich ging?« gab Ghast Rhymi zu bedenken. »Llyr würde zum Opfer nach Caer Secaire kommen. Und du bist ihm geweiht. Glaubst du wirklich, Medea hielt es für möglich, daß du getötet werden könntest?« Ein Zweifel erwuchs in mir. Aber Medea hatte mich in der Prozession nach Caer Secaire wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt. Falls sie wirklich eine Entschuldigung dafür hatte, sollte sie sich verteidigen. Edeyrn und Matholch, das wußte ich, hatten keine. »Vielleicht schenke ich Medea das Leben«, erwiderte ich. »Aber dem Werwolf sicher nicht. Ich habe ihn bereits jemandem versprochen. Und was Edeyrn betrifft, sie muß sterben.« Ich zeigte Ghast Rhymi die Kristallmaske. Er nickte. »Aber Llyr?« »Als Ganelon wurde ich ihm geweiht«, erwiderte ich. »Aber Ihr erkanntet selbst, daß ich zwei Seelen habe, oder vielmehr einen zweiten Satz Erinnerungen. Ich bin nicht bereit, mich vor Llyr zu beugen. Ich lernte vieles auf der Erdenwelt. Llyr ist kein Gott!«
Das greise Haupt neigte sich. Eine durchsichtige Hand hob sich und berührte die weißen Löckchen des Bartes. Dann blickte Ghast Rhymi auf und lächelte. »So, das weißt du also? Ich will dir noch etwas sagen, Ganelon, das niemand auch nur ahnt. Du bist nicht der erste, der von der Erde auf die Dunkle Welt kam. Ich bin der erste!« Ich starrte ihn mit unverhohlenem Staunen an. »Du bist auf der Dunklen Welt geboren. Ich nicht«, fuhr er fort. »Es ist schon unsagbar lange her, daß ich die Erde verließ. Und ich kann nun auch nicht mehr zurück, weil meine Lebensspanne dort längst abgelaufen ist. Nur hier vermag ich den Lebensfunken noch am Glühen zu erhalten, obwohl mir auch das jetzt gleichgültig ist. Aber, wie gesagt, ich stamme von der Erde. Ich kannte Vortigern und die Könige von Wales. Meine Burg war Caer Merdin, und eine andere Sonne als diese rote Glut erhellte sie mit ihren Strahlen. Blauer Himmel, das blaue Meer Britanniens, die grauen Steine der Druidenaltäre unter den mächtigen Eichen. Das ist meine Heimat, Ganelon. War meine Heimat. Bis meine Wissenschaft, die Menschen jener Zeit nannten sie Magie, mich hierherbrachte, doch nicht ganz ohne die Hilfe einer Frau. Einer Frau von der Dunklen Welt, namens Vivienne.« »Ihr seid wirklich von der Erde?« Ich hatte mich noch nicht ganz gefaßt. »So ist es. Als ich hier alt wurde, verfluchte ich mein Exil. Ich hatte viel Wissen gesammelt, doch wie gern hätte ich es für eine Brise der kühlen Meeresluft, die über das Irland meiner Kindheit blies, eingetauscht. Aber nie mehr konnte ich zurück. Mein Körper wäre auf der Erde zu Staub zerfallen. So verlor ich mich in Träumen – Träume von der Erde, Ganelon.« Die Erinnerungen ließen seine Augen aufleuchten. Seine Stimme klang fester. »In meinen Träumen brachte ich die alte Zeit zurück. Ich stand wieder auf den Klippen von Wales und
beobachtete die Lachse, die sich in den Wassern des grauen Usk tummelten. Ich sah Artus wieder und seiner Vater Uther. Und ich roch die Düfte des Britanniens meiner Jugend. Aber es waren nur Träume! Doch Träume sind nicht genug. Um der Liebe zu meiner Heimat willen, des Staubes wegen, aus dem ich entstand, um des Windes willen, der über mein altes Irland bläst, werde ich dir jetzt helfen, Ganelon. Ich hätte nie gedacht, daß mir das Leben noch etwas bedeuten könnte. Aber daß diese Monstrositäten einen Menschen der Erde zur Schlachtbank führen sollen – nein! Und ein Mensch der Erde bist du jetzt, auch wenn du auf dieser Welt der dunklen Kräfte geboren bist!« Er lehnte sich vor, und seine Augen brannten in meinen. »Du hast recht. Llyr ist kein Gott. Er ist ein – ein Ungeheuer. Nichts weiter. Und er kann getötet werden.« »Mit dem Schwert Llyr?« »Hör zu, mein Sohn. Vergiß diese Legenden. Sie entspringen Llyrs Macht und jener der Dunklen Welt. Hier ist alles mit den mystischen Symbolen des Schreckens verhüllt. Aber hinter diesen Schleiern liegt die simple Wahrheit. Vampire, Werwölfe, Upasbäume – sie alle sind biologische Monstrositäten, wilde Mutationen! Und die erste Mutation war Llyr. Seine Geburt spaltete die Welt, machte sie zu zwei Welten, von denen sich jede auf ihrer eigenen Möglichkeitslinie weiterentwickelte. Er war der Schlüsselfaktor im temporalen Muster der Entropie. Hör weiter zu. Bei seiner Geburt war Llyr menschlich. Aber sein Geist unterschied sich von allen anderen. Er hatte bestimmte natürliche Kräfte, latente Kräfte, die sich normalerweise in unserer Rasse während der nächsten Jahrmillionen nicht entwickelt hätten. Aber eben weil sie in ihm zu früh entstanden, waren sie verkrüppelt und verzerrt, und er wußte sie nicht richtig anzuwenden. So entstand Böses aus dem, was
in einer zukünftigen Welt der Logik und Wissenschaft Gutes gebracht hätte. In die finstere Zeit des Aberglaubens paßten diese Kräfte nicht. So entwickelte Llyr sich mit der Wissenschaft, die ihm zur Verfügung stand, und seiner geistigen Macht zu einem Ungeheuer. O ja. Einst war er menschlich, doch er verlor sich, je älter er wurde, und je weiter sich sein fremdartiges Wissen entwickelte. In Caer Llyr gibt es Maschinen, die gewisse Strahlungen aussenden, die für Llyrs Existenz notwendig sind. Diese Strahlungen durchdringen die ganze Dunkle Welt. Sie sind für die Entstehung von Mutationen wie Matholch, Edeyrn und Medea verantwortlich. Töte Llyr, dann werden auch seine Maschinen stillstehen. Der Fluch der Abnormitäten wird von dieser Welt genommen werden. Der Schatten wird von diesem Planeten schwinden.« »Wie kann ich ihn töten?« fragte ich. »Mit dem Schwert Llyr. Sein Leben ist von diesem Objekt abhängig wie eine Maschine von ihren Teilen. Ich bin mir der Gründe dafür nicht sicher, Ganelon, aber Llyr ist nicht mehr menschlich. Zum Teil ist er Maschine, zum Teil reine Energie, und zu einem anderen etwas Unvorstellbares. Aber er ist aus dem Fleisch geboren und muß deshalb die Verbindung mit der Dunklen Welt aufrechthalten, um nicht zu sterben. Das Schwert ist das Verbindungsglied.« »Wo befindet es sich?« »In Caer Llyr«, erwiderte Ghast Rhymi. »Begib dich dorthin. Hinter dem Altar befindet sich eine Scheibe aus Kristall. Erinnerst du dich denn nicht?« »Ich erinnere mich, jetzt.« »Zerbrich die Scheibe. Dann wirst du das Schwert namens Llyr finden.« Er sank zurück. Seine Augen schlossen sich und öffneten sich wieder. Ich kniete mich vor ihn, und er segnete mich mit dem Alten
Zeichen. »Wie seltsam«, murmelte er vor sich hin. »Wie seltsam, daß ich jetzt einen Mann in den Kampf schicke wie viele, so unendlich viele in den alten, längst vergangenen Zeiten.« Das weiße Haupt neigte sich tief. Der schneeweiße Bart ruhte auf dem schneeweißen Gewand. »Um des Windes willen, der über Irland blies«, flüsterte er. Durch die offenen Fenster drang ein Windhauch, der sanft die weißen Löckchen des Bartes und Haupthaars bewegte. Die Winde der Dunklen Welt strichen durch das stille Gemach, hielten ehrfurchtsvoll inne – und verschwanden. Nun war ich allein, ganz allein … Langsam schritt ich die Treppen hinunter, durch die Gänge und Hallen und hinaus auf den Hof. Die Schlacht war fast vorbei. Kaum ein Dutzend der Verteidiger leisteten noch Widerstand. Um sie herum wüteten die Rebellen. Ich durfte hier keine Zeit verlieren. Ich entdeckte Lorryns narbiges Gesicht und eilte auf ihn zu. Grinsend rief er mir entgegen: »Wir haben sie, Bond!« »Gelang es welchen zu entkommen, die vielleicht den Zirkel in Caer Secaire warnten?« fragte ich besorgt. Trotz seines durch die Narben zu einem ständigen Grinsen verzogenen Gesicht sah Lorryn beunruhigt drein. »Ich bin nicht sicher. Ich glaube es zwar nicht, aber die Burg ist ja ein einziges Labyrinth.« »Dann könnte es also geschehen sein«, murmelte ich. »Wir hatten zu wenig Leute, einen Ring um die Burg zu bilden.« »Was wäre schon, wenn sie tatsächlich gewarnt wurden? Wir können die Zirkelmagier genauso töten wie ihre Soldaten«, brummte Lorryn. »Wir reiten nach Caer Llyr«, erklärte ich und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln.
Ich sah, wie ein Schatten der Angst seine Züge überflog. Er rieb seinen Bart und runzelte die Stirn. »Wozu? Ich verstehe nicht!« »Um Llyr zu töten!« In seinem Gesicht kämpfte Erstaunen gegen den uralten abergläubischen Terror. Seine Augen suchten meine. Offensichtlich las er die Antwort darin, die ihm zusagte. »Dieses Ungeheuer töten?« Ich nickte. »Ich sprach mit Ghast Rhymi. Er verriet mir, wie.« Die Männer um uns beobachteten uns schweigend. Sie lauschten unserem Gespräch. Lorryn zögerte. »Das war nicht geplant«, murmelte er. »Aber, bei den Göttern! Llyr zu töten …« Plötzlich kam Bewegung in ihn. Er brüllte Befehle. Schwerter fuhren in die Hüllen. Die Männer rannten auf ihre Pferde zu, schwangen sich in die Sättel und ritten aus den Schatten der Burg, die uns begleiteten, bis der Mond über den höchsten der Türme schien. Ich erhob mich in den Steigbügeln und blickte zurück. Dort oben in seinem Turmgemach saß Ghast Rhymi tot in seinem Sessel. Er war der erste, der durch meine Hand gestorben war, denn ich hatte ihn genauso getötet, als hätte ich ihm den Stahl durchs Herz gebohrt. Ich ließ mich wieder in den Sattel fallen und drückte meine Waden gegen die Flanken des Pferdes. Es schoß vorwärts. Lorryn trieb seinen Gaul ebenfalls an, um mit meinem Schritt zu halten. Die Waldläufer folgten uns hintereinander in einer langen Linie, während wir über die sanften Hügel auf die fernen Berge zugaloppierten. Bis wir Caer Llyr erreichten, würde bereits der Morgen grauen. Wir durften keine Zeit verlieren! *
Medea und Edeyrn und Matholch! Die Namen dieser drei echoten wie Trommelschlag in meinem Kopf. Verräter waren sie! Medea nicht weniger als die anderen, denn hatte sie ihnen nicht nachgegeben? War sie nicht gewillt gewesen, mich zu opfern? Den Tod würde ich Edeyrn und dem Werwolf geben. Medea ließ ich vielleicht leben, aber als Sklavin. Nach Ghast Rhymis Tod war nun ich der Kopf des Zirkels. Im Turm des Alten hätte mich fast sentimentale Schwäche überwältigt. Edward Bonds Schwäche. Seine Erinnerungen hatten meinen Willen verwässert und meine Macht vermindert. Jetzt brauchte ich seine Erinnerungen nicht mehr. Die Kristallmaske schwang an meiner Seite, und der Stab. Ich wußte, wie ich an das Schwert namens Llyr kommen konnte. Ich war Ganelon und nicht der Schwächling Edward Bond. Ich, Ganelon, würde mich zum Herrscher der Dunklen Welt erheben. Flüchtig fragte ich mich, wo Bond sein mochte. Als Medea mich durch das Notfeuer hierhergebracht hatte, mußte Edward Bond im selben Augenblick auf die Erde zurückgekehrt sein. Ich lächelte höhnisch, wenn ich mir sein überraschtes Gesicht vorstellte. Vielleicht hatte er versucht, versuchte es noch, auf die Dunkle Welt zurückzukehren. Aber ohne Freydis' Hilfe würde ihm kein Erfolg beschieden sein. Und Freydis half jetzt mir, nicht Bond! Bond mußte auf der Erde bleiben! Es durfte keinen Austausch mehr geben, wenn ich etwas zu sagen hatte. Und das hatte ich nun sehr wohl! Freydis mochte mächtig sein, aber konnte sie gegen den Mann aufkommen, der Llyr getötet hatte? Ich glaubte es nicht. Ich warf Lorryn einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Tor! Arles war nicht besser. Nur Freydis war klug genug, mir nicht zu trauen.
Der stärkste meiner Feinde mußte zuerst sterben – Llyr. Dann der Zirkel. Danach würden die Waldläufer meine Macht zu spüren bekommen. Sie würden erfahren, daß ich Ganelon war, nicht der Erdenschwächling Edward Bond! Als Ganelon würde ich Llyr bekämpfen. Und als Ganelon würde ich die Dunkle Welt beherrschen! Beherrschen – mit Feuer und Schwert!
14. Stunden bevor wir es erreichten, sahen wir Caer Llyr vor uns liegen: eine dunklere Schwärze gegen den Nachthimmel, und langsam, ganz allmählich, wurde es zur ebenholzfarbigen Struktur, als der rosiggraue Morgen uns einholte. Unsere Schatten eilten uns voraus, zertrampelt von den galoppierenden Hufen unserer Pferde. Ein frischer Wind wisperte in unsere Ohren, erzählte uns von den Opfern in Caer Secaire, von den Gedanken der Zirkelmagier, die das Land nach uns absuchten. Aber Caer Llyr ragte drohend am Rande der Dunkelheit vor uns auf, bewachte die Nacht! Riesig war das Caer, und fremdartig. Es schien formlos, ein gewaltiger, wirrer Haufen schwarzer Steine, die aufs Geratewohl zusammengeworfen waren. Aber ich wußte, daß ein Plan in dieser eigenartigen Geometrie lag. Zwei schwarze Pfeiler, jeder fünfzehn Meter hoch, hoben sich in den Himmel wie die Beine eines Titanen. Ein unbewachtes Tor befand sich zwischen ihnen. Nur dort gab es eine winzige Andeutung von Farbe. Ein Schleier wie von flimmernden Regenbogen hing über der Schwelle. Schillernd und schwach glühend wogte dieser Schattenvorhang, als spielten sanfte Winde mit dünnem
Seidengewebe. Fünfzehn Meter hoch war dieser Vorhang, und sieben Meter breit. Er reichte bis zu den ebenholzfarbigen Pfeilern. Darüber und dahinter erhob sich in atemberaubender Größe, eingerahmt vom ersten Schein der Morgendämmerung, das Caer, eine bergähnliche Struktur, die nicht von Menschenhand geschaffen war. Ein kalter Windzug, der namenlose Angst mit sich trug, wehte uns von Caer Llyr entgegen und schüttelte die Waldläufer wie der Sturm das Laub. Sie brachen die Reihen und schreckten zurück, sammelten sich jedoch sofort wieder, als ich meine Hand hob und Lorryn einen Befehl ausstieß. Ich betrachtete die niedrigen Hügel, die uns umgaben. »Noch nie wagten sich zu meiner oder meines Vaters Zeit Menschen so nahe an Caer Llyr heran«, murmelte Lorryn. »Abgesehen von den Zirkelmagiern, natürlich. Die Waldläufer wären mir auch nicht gefolgt, Bond. Sie folgen dir!« Die Frage war nur, wie weit würden sie mir folgen? Der Warnschrei eines der Rebellen riß mich aus meinen Gedanken. Er hatte sich in den Steigbügeln erhoben und deutete südwärts. Reiter näherten sich in einer Staubwolke über die Hügel. Ihre Rüstung funkelte im roten Sonnenlicht. »Also ist tatsächlich jemand aus der Burg entkommen und hat den Zirkel gewarnt!« knirschte ich durch die Zähne. Lorryn zuckte die Schultern. »Bestimmt nicht viele.« »Aber genügend, um uns aufzuhalten.« Ich runzelte die Stirn und überlegte mir einen Plan. »Lorryn, haltet sie auf. Wenn die Zirkelmagier ihre Soldaten begleiten, dann tötet sie ebenfalls. Aber laßt sie nicht ins Caer, ehe ich …« »Ehe du was?«. »Ich weiß es nicht. Ich brauche Zeit. Wieviel, kann ich noch nicht sagen. Gegen Llyr kämpfen und ihn besiegen, läßt sich
nicht in einem Augenzwinkern erledigen.« »Noch schafft es ein Mann allein«, gab Lorryn zu bedenken. »Wenn du zuläßt, daß wir dir helfen, kann es nicht schiefgehen.« »Ich kenne die Waffe, die Llyr zu schlagen vermag«, entgegnete ich. »Sie läßt sich von einem handhaben. Aber haltet meinen Rücken frei. Gebt mir Zeit!« »Das dürfte nicht schwierig sein«, erwiderte Lorryn, und seine Augen leuchteten auf. »Schau!« rief er triumphierend. Grüngekleidete Reiter folgten den Soldaten auf den Fersen und trieben ihre Pferde an. Wir erkannten sie als die Frauen der Waldläufer, die wir im Tal zurückgelassen hatten. Wir sahen auch, daß sie bewaffnet waren – mit Schwertern, und einige mit Schußwaffen. Edward Bond hatte es verstanden, Gewehre herzustellen! Und die Rebellen hatten gelernt, sie zu benutzen! An der Spitze der Frauen ritten zwei den anderen ein wenig voraus. Ein schlankes graziles Mädchen, dessen aschblondes Haar wie ein Schleier hinter ihr herwehte – Arles. Und an ihrer Seite auf einem mächtigen Schimmel ritt eine Riesin – Freydis, die wie eine Walküre in die Schlacht galoppierte. »Jetzt haben wir sie in der Zange, Bond!« jubilierte Lorryn. »Sie können nicht mehr aus. Geben die Götter, daß der Gestaltwandler sich unter ihnen befindet!« »Nimm deine Männer und reite, Lorryn!« drängte ich. »Reitet und zermalmt sie! Haltet sie mir fern vom Caer!« Ich beugte mich tief über mein Pferd und schoß wie ein Blitz auf den schwarzen Berg zu. Ahnte Lorryn, wie selbstmörderisch der Kampf war, in den ich ihn geschickt hatte? Es mochte ihm vielleicht gelingen, Matholch zu töten, und sogar Medea. Aber wenn Edeyrn mit den Zirkelsoldaten ritt, wenn sie die Kapuze von ihrem Gesicht zurückschob, dann vermochte weder Schwert noch Kugel die Waldläufer zu
retten! * Aber ich würde Zeit gewinnen. Und wenn die Reihen der Waldläufer gelichtet wurden, um so besser für mich später. Ich konnte mir Edeyrn vornehmen, wenn die Zeit dazu kam. Vor mir erhoben sich die schwarzen Pfeiler. Hinter mir erklangen Gebrüll und das Donnern von Schüssen. Ich blickte zurück, aber ein Hügel versperrte mir den Blick auf das Schlachtfeld. Ich sprang vom Pferd und stand nun unmittelbar vor dem schillernden Schleier. Über mir erhob sich das Caer, die Brutstätte des Bösen, das sich über die ganze Dunkle Welt verbreitet hatte. Und in ihm ruhte Llyr sich aus. Mein Feind Llyr! Ich besaß immer noch das Schwert, das ich mir von einem der Waldläufer geben hatte lassen, aber ich bezweifelte, daß gewöhnlicher Stahl innerhalb des Caers viel ausrichten würde. Trotzdem versicherte ich mich, daß die Klinge noch an meiner Seite hing. Ich stieg in den Schleier. Zwanzig Schritte bewegte ich mich in absoluter Dunkelheit vorwärts. Dann kam das Licht. Es war ein Licht wie Sonnenstrahlen auf einem Gletscherfeld – so grell, so gleißend, daß die Augen schmerzten. Ich blieb stehen und wartete ab. Nach einer Weile löste das Glitzern sich in einzelne flimmernde Atome auf, die in komplizierten Mustern um mich tanzten. Dann war tropische Hitze um mich. Die grell schillernden Atome drangen in mich, erfüllten mich mit berauschender Kraft. Da sah ich drei graue Schatten durch den weißen Energieschleier. Zwei hohe und einen wie der eines Kindes. Ich wußte, wer sie warf.
Ich hörte Matholchs Stimme: »Tötet ihn! Tötet ihn jetzt!« Und ich vernahm Medeas Antwort: »Nein. Er braucht nicht zu sterben! Er darf nicht!« »Aber er muß!« knurrte Matholch, und Edeyrns Kinderstimme gab ihm recht. »Er ist gefährlich, Medea!« warnte sie. »Er muß sterben. Und nur auf Llyrs Altar kann er getötet werden, denn er ist Llyr geweiht!« »Er braucht nicht zu sterben!« erwiderte Medea hartnäckig. »Wenn wir ihn unschädlich machen, ihm die Waffen nehmen, soll er am Leben bleiben!« »Und wie wollt Ihr das anstellen?« fragte Edeyrn höhnisch. In Erwiderung darauf trat die rote Hexe aus dem schillernden Gespinst. Sie war nun kein Schatten mehr. Ihr schwarzes Haar fiel bis zu den Knien. Ihre dunklen Augen ruhten auf mir. Sie war betörend wie Lilith. Meine Hand zuckte nach dem Schwertgriff. Aber ich vermochte mich nicht zu bewegen. Immer schneller tanzten die glitzernden Atome um mich, immer tiefer drangen sie in meinen Körper. Doch nun nährten sie mich nicht mit neuer Kraft. Sie lähmten mich! »Llyrs Macht hält ihn«, flüsterte Edeyrn. »Aber Ganelon ist stark, Medea. Wenn es ihm gelingt, die Fesseln zu sprengen, sind wir verloren!« »Aber dann wird er keine Waffen haben«, erwiderte Medea und lächelte mich an. Nun erst erkannte ich die wahre Gefahr. Wie leicht hätte mein Stahl durch Medeas sanfte Kehle zu dringen vermocht! Ich wollte, ich hätte nicht gezögert, hätte ihn schon vor langer Zeit hindurchgestoßen. Denn nun erinnerte ich mich Medeas Macht. Die Mutation hatte sie zu etwas gemacht, was sie von allen anderen trennte – zu einer Art Vampir. Jetzt erst erkannte und entsann ich mich ihrer Opfer, die ich
selbst gesehen hatte – die Zirkelheloten mit ihren leeren Augen, die Burgsklaven, die bloße Hüllen waren, die lebenden Toten, denen die Seele ausgesaugt war. Ihre Arme legten sich um meinen Hals. Ihr Mund preßte sich auf meinen. In einer Hand hielt sie ihren schwarzen Stab. Er berührte meinen Kopf, und ein sanfter Schlag durchzuckte mich, ein Prickeln belebte meine Kopfhaut. Der Konduktor! Ein wildes Lachen schüttelte mich, als ich dachte, wie paradox diese Waffe doch war. Auch sie hatte nichts mit Zauberei zu tun. Eine Wissenschaft höchster Ordnung war für ihre Herstellung verantwortlich, und nur jene vermochten sie zu benutzen, die dafür speziell ausgebildet waren – oder die Mutanten. Medea trank Energie, aber nicht durch Magie. Ich hatte den Stab zu oft in Aktion gesehen, als daß ich das noch glaubte. Der Stab öffnete die geschlossenen Stromkreise des Gehirns und damit seine Energie. Er zapfte es an wie ein Kupferdraht Elektrizität. Er übertrug die Lebenskraft auf Medea! * Die glitzernden Atome wirbelten immer heftiger um uns. Sie hüllten uns wie in einen wallenden Umhang ein. Aus den grauen Schattengestalten wurden Edeyrn und Matholch, die uns beobachteten. Edeyrns Gesicht vermochte ich nicht zu sehen, aber sogar jetzt spürte ich die eisige Kälte, die aus dem Innern der Kapuze aufstieg. Matholch leckte sich die Lippen. Seine Augen leuchteten vor Triumph und Aufregung. Eine Lethargie begann mich zu befallen. Medeas Lippen auf meinem Mund wurden immer heißer, gieriger, während meine bereits gefühllos und kalt waren. Verzweifelt versuchte
ich mich zu bewegen, das Schwert zu packen. Ich vermochte es nicht. Wieder wurde der schillernde Vorhang dünner. Jenseits von Matholch und Edeyrn erstreckte sich eine purpurne Weite von grenzenloser Ausdehnung, so gewaltig, daß mein Blick sie nicht abzuschätzen vermochte. Eine Treppe führte in schier endlose Höhen. Ein goldenes Glühen brannte hoch oben. Aber hinter Matholch und Edeyrn, etwas schräg von ihnen, stand ein eigenartiges, geschnitztes Podest, dessen Vorderseite aus einer Glasscheibe bestand. Sie leuchtete in einem kalten blauen Schein. Ich erkannte sie. Ghast Rhymi hatte davon gesprochen. Das Schwert Llyr mußte sich dahinter befinden. Wie aus weiter Ferne vernahm ich Matholchs zufriedenes Lachen. »Ganelon, mein Liebster, wehre dich nicht gegen mich«, flüsterte Medea. »Nur ich vermag dich zu retten. Wenn deine Besessenheit sich gelegt hat, werden wir zur Burg zurückkehren.« Ja, denn dann würde ich keine Bedrohung mehr für sie bedeuten. Matholch würde sich nicht einmal mehr die Mühe machen, etwas gegen mich zu unternehmen. Als geist- und seelenlose Kreatur, als Medeas willenloser Sklave würde ich zur Burg zurückkehren. Ich! Ganelon! Lord des Zirkels und Geweihter Llyrs! Das goldene Glühen hoch oben wurde noch heller. Blitze zuckten heraus und verloren sich in der purpurnen Weite. Meine Augen sogen sich fest an dem goldenen Licht, das Llyrs Fenster war. Mein Geist tastete danach. Meine Seele drängte ihm entgegen. Mochte sie auch Hexe und Vampir-Mutation, ja selbst mächtige Zauberin sein, Medea war nie Llyr geweiht worden.
Keine dunkle Kraft pulsierte durch ihr Blut wie durch meines. Ich wußte nun, so sehr ich auch meiner Abhängigkeit zu Llyr abschwören mochte, die Verbindung ließ sich nicht verleugnen. Llyr hatte Macht über mich, aber auch ich vermochte mich seiner Kraft zu bedienen. Und das tat ich nun! Noch heller leuchtete das goldene Fenster. Weitere Blitze zuckten in die purpurne Düsternis. Ein dumpfer Trommelschlag war zu hören. Wie Llyrs Puls, wie sein Herzschlag, der, aus dem Schlaf gerissen, beschleunigte. Kraft durchfloß mich, riß mein Fleisch aus der Lethargie. Ich bediente mich Llyrs Kraft, ohne mich um die Folgen zu kümmern. Ich sah, wie Furcht Matholchs Gesicht überschattete, und wie Edeyrn sich hastig an die rote Hexe wandte. »Medea!« rief sie. Doch Medea hatte bereits den Zufluß neuer Kraft in mir gespürt. Ihr Körper drängte sich noch fester gegen meinen, und noch schneller saugte sie die Lebensenergie aus meinem Körper. Aber Llyrs Kraft strömte in mich. Donner grollte in der Weite über uns. Das goldene Fenster leuchtete in blendendem Glanz. Die schillernden Atome des Energieschleiers wurden blasser und erloschen. »Töte ihn!« heulte Matholch. »Er hat Llyr in sich!« Er sprang auf mich zu. Von irgendwoher stolperte eine Gestalt in zerbeultem Brustpanzer in meine Sicht. Ich erkannte Lorryns Narbengesicht und bemerkte, wie es sich vor Erstaunen verzerrte, als er die Szene vor sich aufnahm. Er hielt das entblößte Schwert, rot bis zum Griff, in der Hand. Er sah mich, mit Medeas Armen um meinen Hals. Er sah
Edeyrn. Und er sah Matholch. Ein Grollen drang aus Lorryns Kehle. Er schwang das Schwert über den Kopf. Als ich mich Medeas Umarmung entriß, sie von mir stieß, hob Matholch seinen Stab. Ich griff nach meinem, aber es war nicht mehr nötig. Lorryns Klinge sang. Matholchs Hand, die immer noch den Stab umklammerte, fiel abgetrennt auf den Boden. Blut schoß aus den offenen Adern. Heulend sprang der Gestaltwandler auf Lorryn zu. Er wurde zum Wolf. War es Hypnose, Mutation, Hexerei? Ich vermochte es nicht zu sagen. Aber seine Gestalt hatte nichts Menschliches mehr an sich. Lorryn lachte. Er warf das Schwert von sich und erwartete den Angriff der Bestie mit bloßen Händen. Mit gespreizten Beinen packte er den sich auf ihn werfenden Werwolf an Hals und Hinterläufen. Wütend versuchten die scharfen Raubtierzähne, nach ihm zu schnappen. Lorryn hob das Ungeheuer über den Kopf. Seine Gelenke knackten von der schier übermenschlichen Anstrengung. Er wirbelte die Bestie einmal um sich, dann schmetterte er sie auf die Steine. Matholch lag in seiner menschlichen Gestalt sterbend vor unseren Füßen.
15. Wie durch ein Wunder war ich nun wieder frei von der Schwäche, die mich befallen hatte. Ich riß mein Schwert aus der Scheide und rannte an Matholchs Leiche vorbei, ohne Lorryn zu beachten, der reglos davor stand und auf sie hinunterstarrte. Ich lief zum Podest mit der bläulich
leuchtenden Scheibe. Ich faßte das Schwert bei der Schneide und schlug den schweren Griff gegen das Glas. Klirrend fielen die Scherben vor meine Füße. Doch nicht nur sie. Auch ein Schwert von fast einundeinhalb Meter Länge, völlig aus klarem Kristall. Es war ein Teil des Fensters gewesen. Denn nichts lag auf dem leeren Podest. Die Scheibe war gleichzeitig Schutz und Tarnung gewesen. Die Klinge leuchtete in einem schwachblauen Licht. Ich bückte mich und hob sie auf. Der Griff fühlte sich warm und lebendig an. Mit dem Schwert Llyr in meiner Linken und dem stählernen Schwert in der Rechten, erhob ich mich. Eine lähmende Kälte drang auf mich ein. Ich kannte diese Kälte, darum drehte ich mich auch nicht um. Ich klemmte das Stahlschwert unter meinen Arm und zerrte die Kristallmaske aus meinem Gürtel. Hastig zog ich sie über meine Augen. Ich packte den Stab. Erst dann wandte ich mich um. Ein sich ständig veränderndes, flimmerndes Wellenmuster belebte die Maske und verzerrte, was ich sah, veränderte die Eigenschaften des Lichtes. Aber das hatte seinen Grund. Die Maske diente als Filter. Matholch hatte ausgelitten. Medea stützte sich hinter seiner Leiche auf und erhob sich. Das schwarze Haar hing ihr wirr ins Gesicht. Direkt mir gegenüber stand Lorryn wie zu Stein erstarrt. Nur seine Augen im grauenerfüllten Gesicht schienen noch zu leben. Sie starrten auf Edeyrn, von der ich nun außer dem Umhang auch einen schmalen dunklen Hinterkopf sah. Sie hatte die Kapuze auf den Rücken geschlagen. Lorryn sackte leblos zusammen. Langsam, unsäglich langsam, drehte Edeyrn sich um. Sie war winzig wie ein Kind, und auch ihr Gesicht mit den
babyhaften Pausbacken wirkte wie das eines Kindes. Aber ich vermochte es nicht klar zu erkennen, denn selbst durch die Kristallmaske brannte der Gorgonenblick. Das Blut in mir schien stillzustehen. Eine Eiseskälte floß statt dessen müde durch meine Adern und in mein Gehirn. Nur in den Augen des Gorgonenhaupts brannte Feuer. Sie sandten tödliche Strahlen aus. Ektogenetische Strahlen nannten Erdwissenschaftler sie, und sie waren bisher auf das pflanzliche Leben beschränkt gewesen. Nur die wilde Mutation, die für Geschöpfe wie Edeyrn verantwortlich war, konnte einen solchen Alptraum der Biologie aus der Hölle hervorbringen. Aber ich sackte nicht zusammen wie Lorryn. Die Kristallmaske filterte die Strahlung und machte sie harmlos für mich. Ich hob den Stab. Rote Feuerzungen schossen heraus, leckten nach Edeyrn, peitschten auf sie ein und hinterließen blutige Striemen auf dem unbeweglichen Kindergesicht. Schritt für Schritt machte sie rückwärts, ohne den Gorgonenblick von mir zu wenden. Und mit ihr zog Medea sich zurück, auf die hohe Treppe zu, die zu Llyrs Fenster führte. Die Feuerzungen schnellten nach Edeyrns Augen. Hastig drehte sie sich um und begann, die Stufen emporzulaufen. Medea hielt kurz inne und hob ihre Arme in einer bittenden Geste. Aber sie las keine Gnade in meinen Augen. Sie lief Edeyrn nach. Ich ließ das nutzlose Stahlschwert fallen. Den Stab in meiner Linken und das Schwert Llyr in meiner Rechten folgte ich ihnen. Als mein Fuß auf die erste Stufe trat, erschütterte eine heftige Vibration die purpurne Luft um mich. Nun bereute ich
es beinahe, daß ich Llyrs Kraft zu Hilfe gerufen hatte, um Medeas Bann zu brechen. Denn nun war Llyr wach und gewarnt. Und er wartete! Llyrs Pulsschlag pochte durch das riesige Caer. Goldene Blitze zuckten aus dem hohen Fenster. Kurz erblickte ich zwei winzige Silhouetten gegen das bernsteinfarbige Glühen. Immer höher kletterten Edeyrn und Medea. Weiter folgte ich ihnen. Mit jeder Stufe wurde der Weg schwieriger. Es war mir, als kämpfte ich mich durch eine immer dickflüssiger werdende unsichtbare Strömung, die wie eine gewaltige Welle von dem leuchtenden Fenster heruntergeflossen kam, die versuchte, mich davonzuschwemmen und mir das Kristallschwert zu entreißen. * Höher kletterte ich. Das Fenster war nun eine glühende Flammenwand. Unaufhörlich zuckten Blitze hervor, und grollender Donner brach sich in den steinigen Abgründen des Caers. Geduckt, wie durch einen Sturm, kämpfte ich mich weiter. Irgend jemand folgte mir. Ich wagte es nicht, mich umzudrehen, um nur ja nicht den Halt zu verlieren. Die letzten paar Stufen kletterte ich auf allen vieren. Ich kam zu einer steinernen Plattform, eine kreisrunde Erhebung, auf der sich ein Würfel mit einer Kantenlänge von gut drei Metern befand. Er bestand aus schwarzem Stein. Nur die mir zugewandte Seite glühte bernsteinfarbig wie ein Fenster, durch das die Sonne scheint. In schwindelnder Tiefe sah ich den Boden des Caers. Hinter mir führte die Treppe, die ich emporgeklommen war,
zu ihr hinab. Und immer noch stürmte der Wind gegen mich an. Er kam aus dem Fenster und versuchte mich hochzuwirbeln und dann hinabzuschmettern. Rechts vom Fenster stand Medea, links davon Edeyrn. Und im Fenster selbst … Die leuchtenden goldenen Wolken wirbelten, prallten gegeneinander, wenn die Blitze herauszuckten. Pausenlos dröhnte der Donner. Sein Grollen hob und senkte sich in stetem Rhythmus mit Llyrs Herzschlag. Monstrum oder Mutation – einst menschlich oder halbmenschlich – Llyrs Macht war ins Unendliche gewachsen. Ghast Rhymi hatte mich gewarnt. Zum Teil Maschine, zum Teil reine Energie und zum Teil etwas anderes, Unvorstellbares, das war Llyr, hatte er gesagt. Und Llyrs Kraft strömte nun durch die goldenen Wolken auf mich ein. Der Stab entfiel meiner Hand. Der Höllenstrom erfaßte mich, und ich vermochte mich keinen Schritt vorwärts zu bewegen. Mit aller Gewalt kämpfte ich gegen die Brandung an, die mich über den Rand der Plattform zu stoßen versuchte. Immer heftiger grollte der Donner. Immer greller funkelten die Blitze. Edeyrns eisiger Blick ließ mich gefrieren. Medeas Gesicht wirkte nicht mehr menschlich. Gelbe Wolken wallten aus dem Fenster und nahmen Edeyrn und Medea in sich auf. Dann schwebten sie auf mich zu und hüllten auch mich ein. Verschwommen vermochte ich noch das hellere Glühen von Llyrs Fenster zu sehen, und zwei vage Silhouetten – Edeyrn und Medea. Ich versuchte einen Schritt vorwärts, doch statt dessen wurde ich immer weiter zurückgedrängt, auf den Rand zu. Gewaltige Arme umklammerten meine Mitte. Ein weißer Zopf schwang vor meine Augen. Freydis' Titanenkraft stand wie ein Wall zwischen mir und dem Abgrund. Aus den Augenwinkeln bemerkte ich, daß sie sich einen
Fetzen ihres weißen Gewandes um die Augen gebunden hatte, das sie vor dem Gorgonenblick schützte. Blind, doch von einem unfehlbaren Instinkt geleitet, schob die Walküre mich vorwärts. Goldene Wolken wirbelten um uns, sandten ihre blendenden Blitze aus und erbebten unter den Donnerschlägen. Mit eingezogenem Kopf, wie ein Widder, kämpfte Freydis gegen den Sturm und schob dabei auch mich vorwärts. Ich hörte ihren keuchenden Atem, als sie ihre Kraft mit meiner verband. Meine Brust fühlte sich an, als stieße glühendes Eisen hindurch. Aber durch Freydis' Hilfe hielt mich nun nichts mehr auf. Für mich existierte auch nichts mehr als das goldene Leuchten zwischen den Wolken; den Wolken der Schöpfung, die den Terror der berstenden Universen kannten, der Welten um Welten, die unter Llyrs Macht zu Ruinen zerfielen. Ich stand vor dem Fenster. Wie ein Automat hob ich meinen Arm. Ich stieß das Schwert Llyr in das Fenster. Die Waffe zerbrach in meiner Hand und regnete in winzigen, blauglimmernden Splittern herab, die in das Fenster gesogen wurden. Die Wolkenmasse rauschte zurück. Eine gewaltige, schier unerträgliche Vibration schüttelte das Caer. Die goldenen Wolken verschwanden durch das Fenster. Und mit ihnen Edeyrn und Medea! Das letzte, was ich von ihnen sah, war Medeas vor Entsetzen verzerrtes Gesicht und ihr verzweifelter Blick, der mich um Hilfe anzuflehen schien. Einen flüchtigen Moment vermochte ich durch das Fenster zu schauen. Ich sah etwas jenseits Raum und Zeit und Dimension – ein sich windendes wütendes Chaos, das über Medea und Edeyrn herfiel, und über einen Kern goldenen
Lichts, den ich als Llyr erkannte. Auch wenn er einst tatsächlich menschlich gewesen war, nun, an seinem Ende, war er es nicht einmal mehr annähernd. Die Mühlsteine des Chaos zermalmten die drei. Der Donner erstarb. Vor mir erstand der Altar Llyrs, doch er enthielt kein Fenster mehr. Alle Seiten waren nun schwarzer, lebloser Stein!
16. Finsternis und schwarze Steine waren das letzte, was ich sah, ehe das Dunkel der Bewußtlosigkeit mich mit sanften Armen umfing. Es war, als hätte nur Llyrs schrecklicher Widerstand mich in jenem letzten entsetzlichen Stadium unseres Kampfes aufrechtgehalten. Als er fiel, fiel auch Ganelon vor dem nun fensterlosen Altar zu Boden. Ich weiß nicht, wie lange ich dort lag. Aber langsam, ganz allmählich, kehrten meine Sinne wieder. Mühsam richtete ich mich auf. Ein wenig unterhalb von mir, am Kopfende der gewaltigen Treppe, lag Freydis mit ausgestreckten Armen und Beinen, noch erschöpft von dem unmenschlichen Kampf, den wir gemeinsam ausgefochten hatten, und immer noch mit der Binde vor den Augen. Merkwürdigerweise drängte sich mir bei ihrem Anblick eine von Edward Bonds Erinnerungen auf, die Gestalt der blinden Justitia mit den Waagschalen. Bei dem Gedanken daran lächelte ich unwillkürlich. Auf der Dunklen Welt – jetzt meiner Welt – war Ganelon die Justiz, und er war nicht blind. Freydis bewegte sich. Eine Hand tastete nach der Binde um ihren Augen. Ich ließ sie erst ganz erwachen, ehe wir gegeneinander kämpfen mußten – Justitia und ich. Aber ich hatte keine Zweifel, wer siegen würde.
Ich hob mich auf die Knie und hörte ein leises Klirren, als die Scherben der Kristallmaske – sie war zerbrochen, als ich zu Boden stürzte – von meiner Schulter fielen. Ich dachte an die anderen Splitter, jene des Schwertes, die Llyrs Ende herbeigeführt hatten. Und ich glaubte nun zu verstehen. Er hatte sich bereits viel zu weit von dieser Welt entfernt gehabt und war nur noch während der Zeit der Zeremonien des goldenen Fensters zu ihr zurückgekommen. Mensch, Dämon, Gott, namenlose Mutation – was immer er auch gewesen sein mochte – nur noch ein einziges Glied hatte ihn mit dieser Welt verbunden, die ihn hervorgebracht hatte. Ein Glied, das in dem Schwert Llyr enthalten war. Durch diesen Talisman war er in der Lage gewesen, zurückzukommen, zur Zeit der Opfer, von denen er sich ernährte, und zu der großen Zeremonie der Weihe, die mich ihm halb zu eigen gemacht hatte. Aber eben nur durch diesen Talisman. Darum mußte dieser sicher versteckt sein, um als Brücke für seine Rückkehr dienen zu können. Und er war sicher versteckt gewesen. Ohne Ghast Rhymis Wissen hätten wir ihn nie zu finden vermocht. Und ohne die Kraft Ganelons – nun ja, und Freydis' Kraft –, wer hätte dem Fenster schon nahe genug kommen können, um das Schwert in die einzige Substanz zu stoßen, die es zu zersplittern vermochte? O ja, Llyr hatte seinen Talisman so gut beschützt, wie es nur möglich war. Aber er war verwundbar gewesen durch den einzigen Menschen, der imstande war, das Schwert zu schwingen. Und so zerbrach es, und mit ihm die Brücke zu seiner Heimatwelt. Deshalb war Llyr hinausgewirbelt worden in ein Chaos, von dem es keine Rückkehr geben konnte. Doch mit ihm auch Medea, die rote Hexe von Kolchis, meine verlorene Liebe! Einen Moment schloß ich die Augen. »Nun, Ganelon?«
Ich blickte auf. Freydis hatte die Binde hochgezogen und lächelte grimmig. Ich stand auf und beobachtete sie schweigend, während auch sie sich erhob. Der Triumph flutete in berauschenden Wellen über mich. Die ganze Dunkle Welt war nun mein, und weder diese Frau, noch sonst ein Sterblicher durfte mir meinen wohlverdienten Lohn streitig machen. Hatte ich nicht Llyr vertrieben und den letzten des Zirkels ein Ende gesetzt? Und war ich nicht stärker an Zauberkraft als irgendeiner sonst auf der Dunklen Welt? Ich lachte siegessicher, und das Echo meines Gelächters hallte von den Mauern Caer Llyrs wider. Caer Llyr? Es gab keinen Llyr mehr! »Caer Ganelon!« rief ich. »Von nun an heißt du Caer Ganelon!« »Ganelon – Ganelon«, schallte das Echo. Ich blickte Freydis an. »Ihr Waldleute habt jetzt einen neuen Herrn!« erklärte ich. »Weil du mir halfst, sollst du belohnt werden, alte Frau, aber ich bin der Herr der Dunklen Welt! Ich, Ganelon!« Und wieder echoten die Mauern meinen Namen. Freydis lächelte. »Nicht so schnell, Hexer«, sagte sie ruhig. »Du glaubst doch nicht etwa gar, daß ich dir traue?« Ich lächelte verächtlich. »Was könnt ihr mir denn jetzt noch anhaben! Nur ein einziger hätte mich bisher töten können – Llyr. Doch nun gibt es ihn nicht mehr, und Ganelon ist unsterblich. Du hast nicht mehr die Macht, mir etwas anzutun, Hexe!« Sie erhob sich auf der Treppe zu ihrer vollen Größe, ihr faltenloses Gesicht nur wenig unter meinem. Die Selbstsicherheit ihres ganzen Ausdrucks gab mir ein wenig zu denken. Aber was ich gesagt hatte, stimmte. Es gab niemanden mehr auf der ganzen Dunklen Welt, vor dem ich mich noch zu fürchten brauchte. Und doch schwand Freydis'
geheimnisvolles Lächeln nicht. »Ich habe dich einmal auf die Erde verbannt, Ganelon«, gab sie zu bedenken. »Wie vermöchtest du mich davon abzuhalten, es noch einmal zu tun?« * Erleichterung verdrängte meine aufkeimenden Zweifel. »Morgen oder übermorgen – ja, da könnte ich dich bereits davon abhalten. Heute – nein. Aber ich bin jetzt Ganelon, und ich kenne den Weg zurück. Außerdem wäre ich nun darauf vorbereitet, und du könntest mir mein Gedächtnis nicht mehr nehmen und mir die Erinnerungen eines anderen aufzwingen. Nein, Freydis, du würdest nur deine Zeit vergeuden und meine. Doch versuch es, wenn es dir Spaß macht. Aber ich warne dich, ich werde zurück sein, noch ehe du deinen Zauberspruch beendet hast.« Nichts änderte sich an Freydis' Lächeln. Sie faltete ihre Arme und verbarg ihre Hände in den weiten Ärmeln. Sie war sich ihrer sehr sicher. »Du bildest dir ein, du wärest jetzt ein Gott, nicht wahr, Ganelon?« sagte sie. »Du glaubst, kein Sterblicher kann dir noch etwas anhaben. Du hast eines vergessen. So wie Llyr seine Schwäche hatte, und Edeyrn und Medea und Matholch, so hast auch du sie, Hexer. Auf dieser Welt gibt es keinen, der dir ebenbürtig ist. Aber auf der Erde sehr wohl, Ganelon! Dort lebt ein dir gleichwertiger Gegner, und ich habe die Absicht, ihn zu rufen, damit er die letzte Schlacht für die Freiheit der Dunklen Welt schlägt. Edward Bond vermag dich zu töten, Ganelon!« Ein Hauch von Kälte, wie jene von Edeyrn, ließ mich erschauern. Ich hatte tatsächlich vergessen. Selbst Llyr hätte durch seine eigene Hand zu sterben vermocht, genau wie ich,
oder in meinem Fall sogar noch durch die Hand meines zweiten Ichs, das Edward Bond war. »Törin!« knurrte ich. »Der Verstand hat dich verlassen. Hast du schon vergessen, daß Bond und ich uns nicht gleichzeitig auf derselben Welt aufhalten können? Als ich zurückkam, verschwand er von hier, genau wie ich verschwinden müßte, wenn du ihn wieder hierherbrächtest. Wie könnten ein Mensch und sein Spiegelbild sich je körperlich berühren, Alte?« »Nichts einfacher als das.« Sie lächelte. »Es stimmt, er kann dich weder hier noch auf der Erde bekämpfen. Aber im Limbus, Ganelon, im Nichts. Hast du das Nichts zwischen den Welten vergessen?« Ihre Hände kamen aus den Ärmeln. In jeder hielt sie einen Stab aus glänzendem Silber. Noch ehe ich mich zu rühren vermochte, kreuzte sie sie vor ihrem Gesicht. Wo sie sich berührten, flammten für einen Augenblick gewaltige Kräfte auf. Kräfte, die aus den Polen der Welt strömten und sich nur einen Sekundenbruchteil treffen durften, wenn diese Welt nicht zerbersten sollte. Ich spürte, wie das Caer unter mir schwankte. Ich fühlte das Tor sich öffnen. Alles um mich war grau, das Grau, das keine Farbe, sondern das Nichts war. Die Plötzlichkeit, der Schock, ließ mich taumeln, und die Wut über Freydis' List. Aber ich würde meinen Weg zurückkämpfen, und meine Rache an ihr sollte eine Lehre für alle sein. Plötzlich erschien ein Spiegel vor mir. Ein Spiegel? Ich sah mein eigenes Gesicht mich verwirrt, nichtbegreifend anstarren. Aber ich trug nicht die blaue Tunika des Opfers, in die man mich vor Äonen auf der Burg gekleidet hatte. Ich trug offenbar einen Anzug, wie er auf der Erde üblich war, und ich schien auch nicht ganz ich, nicht ganz Ganelon. Ich …
»Edward Bond!« hörte ich Freydis' Stimme hinter mir. Mein Spiegelbild blickte über meine Schulter. Ein Ausdruck des Erkennens und der unsäglichen Erleichterung überflog seine Züge. »Freydis!« rief er mit meiner Stimme, »O Freydis, Gott sei Dank! Ich habe alles versucht …« »Hör mich erst an!« unterbrach Freydis ihn. »Eine letzte Prüfung liegt vor dir. Dieser Mann hier ist Ganelon. Er ist eine Gefahr für unser Volk. Er hat Llyr und dem Zirkel ein Ende gesetzt. Nun gibt es nichts und niemanden auf der Dunklen Welt, der ihn aufzuhalten vermag, wenn er dorthin zurückkommt. Nur du kannst ihn besiegen – hier! Nur du, Edward Bond!« Ich wartete nicht darauf, daß sie ihm noch mehr sagte. Ich wußte, was ich tun mußte. Ich sprang auf ihn zu, ehe er sich auch nur zu rühren vermochte und versetzte ihm einen heftigen Schlag in das Gesicht, das mein eigenes sein könnte. Es fiel mir nicht leicht. Im letzten Augenblick mußte ich meine Muskeln geradezu zwingen. Es war, als schlüge ich mich selbst. Ich sah ihn zurücktaumeln. Ich spürte den Schmerz, der ihn durchzuckte. So kam es, daß dieser erste Schlag uns beide zugleich erschütterte. Er fing sich nach ein paar Schritten, aber er stand noch unsicher auf seinen Füßen. Er blickte mich mit einer Verwirrung an, die auch ich selbst empfand. Doch da quoll Ärger in diesem so vertrauten Gesicht auf, und ich sah, daß Blut aus seinen Mundwinkeln troff. Ich lachte wild. Das Blut machte ihn zum Feind für mich. Wie oft schon hatte ich Blut nach meinen Schlägen fließen gesehen – das Blut meiner Gegner. Und darum wußte ich nun, was er war. Er war ich selbst – und mein tödlichster Feind. Ein wenig gebückt, um seinen Körper gegen meine Fäuste
zu schützen, kam er auf mich zu. Was hätte ich jetzt für ein Schwert oder eine Schußwaffe gegeben! Ich habe noch nie etwas für einen Kampf unter gleichen Bedingungen übriggehabt. Ganelon kämpft nicht fair, sondern um zu gewinnen. Doch für diesen Kampf gab es völlig gleiche Bedingungen. Er duckte sich und wich meinem Schlag aus. Ich spürte den harten Aufprall von etwas, das mir wie meine eigene Faust schien, auf meinem Kinn. Leichtfüßig tänzelte er aus meiner Reichweite. Ich knurrte vor Wut. Ich legte keinen Wert auf diesen Boxkampf, diesen Sport, der nach Regeln ausgefochten wurde. Ganelon kämpfte nur, um zu siegen! Ich brüllte aus vollen Lungen und warf mich mit aller Gewalt auf ihn, daß wir beide auf dem schwammigen Grau aufschlugen, das der Boden des Nichts war. Meine Finger drückten sich in seine Kehle, und meine Daumen tasteten nach seinen Augen. Er keuchte heftig, und ich spürte, wie seine Faust gegen meine Rippen schlug. Ich fühlte den stechenden Schmerz eines brechenden Knochens. So sehr war er ich selbst, und ich er, daß ich einen Herzschlag lang nicht wußte, wessen Rippe unter wessen Schlag gebrochen war. Doch als ich tief Atem holen wollte, und der Schmerz unerträglich wurde, wußte ich, daß es meine Rippe war. Diese Erkenntnis machte mich schier wahnsinnig vor Wut. Ohne der Schmerzen zu achten, ließ ich ihn blindlings meine Fäuste spüren und hörte mit wildem Triumph das Krachen von Knochen unter meinen geballten Händen und fühlte das Blut, das darüber floß. In verbissener, tödlicher Umarmung wälzten wir uns auf dem Boden des Nichts, in einem Alptraum, dessen Wirklichkeit ich bei jedem schmerzenden Atemzug erkannte.
Doch schon in wenigen Augenblicken wußte ich mit absoluter Sicherheit, daß ich der Bessere war, daß ich ihn schlagen würde. Woher ich es wußte? Er rollte sich halb herum, um mir einen harten Schlag ins Gesicht zu versetzen. Doch ich blockierte ihn, noch ehe er überhaupt dazu ausholen konnte. Ich hatte gewußt, was kommen würde. Nun quetschte er sich unter mir hervor und spannte sich, um mich in die Rippen zu stoßen. Doch ich wich rechtzeitig aus. Wieder hatte ich gewußt, was er zu tun beabsichtigte. Ich war einst selbst Edward Bond gewesen, in jeder Beziehung. So kannte ich ihn wie mich selbst. Mein Instinkt sagte mir jede seiner Bewegungen voraus. Deshalb konnte er mich nicht überlisten und nicht besiegen. Trotz der Schmerzen meiner gebrochenen Rippe lachte ich laut auf. Freydis hatte den Bogen überspannt! Dadurch, daß sie Ganelon unter den Erinnerungen Edward Bonds erdrückt hatte, hatte sie mir die Mittel gegeben, ihn jetzt zu vernichten. Nun konnte ich dem Kampf und ihm ein Ende setzen, wann es mir gefiel. Die Dunkle Welt war mein, und Edward Bonds erträumtes Reich eines freien Volkes war mein, genau wie seine hübsche aschblonde Braut und alles, was ihm sonst noch gehört haben würde. Ich lachte höhnisch und drehte mich in genau berechneten Bewegungen, die den Mann, der ich selbst war, abwehrten und ihm das Gleichgewicht raubten. Nur drei Bewegungen benötigte ich dazu, dann hatte ich ihn ausgestreckt auf meinem Knie, daß sein Rückgrat sich gegen meinen Schenkel preßte. Ich grinste auf ihn hinab. Dann trafen meine Augen seine. Für einen flüchtigen Moment verspürte ich ein fast unwiderstehliches Verlangen, mich zu ergeben. In diesem kurzen Augenblick betete ich lautlos zu einem namenlosen Gott, daß Edward Bond sich noch zu retten vermöge und
Ganelon sterben würde … Doch dann rief ich alle Kräfte herbei, die in mir steckten. Das Nichts schwamm wie ein roter Nebel vor meinen Augen, und der Schmerz meiner gebrochenen Rippe durchzuckte mich wie ein weißglühender Lichtpfeil, als ich den Atemzug tat, der Edward Bonds letzter war.
17. Zwei kühle glatte Hände preßten sich auf meine Stirn. Ich blickte hoch. Sie legten sich über meine Augen. Schwäche hüllte mich ein wie eine erdrückende Decke. Ich kniete reglos und fühlte, wie die Leiche des Mannes, der ich selbst gewesen war, schlaff zu Boden glitt. Freydis drückte mich nieder. Nun lagen wir Seite an Seite – der Lebende und der Tote. Die Silberstäbe der Zauberin berührten meine Schläfen und bildeten eine Brücke zwischen Edward Bond und Ganelon. Ich erinnerte mich an Medeas Stab, der die Lebenskraft aus dem Gehirn gesogen hatte. Eine dumpfe Lähmung erfaßte mich. Kaum spürbare elektrische Stöße durchzuckten meine Nerven. Ich vermochte mich nicht zu rühren. Plötzlich schoß ein entsetzlicher Schmerz durch meinen Körper. Mein Rücken! Ich versuchte meine Qualen hinauszubrüllen, aber meine Kehle versagte. Ich spürte Edward Bonds Wunden! In jenem alptraumhaften Augenblick, während mein Geist durch die grenzenlosen Korridore einer Wissenschaft jenseits der irdischen wirbelte, wußte ich, was Freydis getan hatte – was sie noch tat. Ich spürte Edward Bonds Geist aus dem Abgrund zurückkehren. Seite an Seite lagen wir – in Körper und Geist.
Dunkelheit herrschte, unterbrochen von zwei Flammen, die in einem kalten, klaren Licht brannten. Eine war der Geist – das Leben – Edward Bonds. Die andere – mein Leben. Die Flammen neigten sich einander zu. Sie vereinten sich. Leben, Geist und Seele Edward Bonds vermischten sich mit Ganelons Leben! Wo vorher zwei Flammen gebrannt hatten, gab es nun nur noch eine. Das Ich Ganelons wurde schwächer und zum grauen Schatten, während Edward Bonds Lebensflamme höher und höher loderte. Wir waren eins. Wir waren … Edward Bond! Nicht mehr Ganelon! Nicht mehr Lord der Dunklen Welt, Herr der Caers! Freydis' Zauber versenkte Ganelons Seele und gab seinen Körper und sein Leben Edward Bond! Ich sah Ganelon – sterben! * Als ich meine Augen erneut öffnete, kniete ich vor dem Altar, der einst Llyrs gewesen. Das Nichts war verschwunden. Der Körper über meinem Knie war verschwunden. Freydis lächelte zu mir herab. »Willkommen zurück auf der Dunklen Welt, Edward Bond!« Ja, so war es. Das wußte ich. Ich kannte mein Ich, auch wenn ein anderer Körper nun sein Heim war. Verwirrt blinzelte ich und erhob mich mühsam, ungläubig den Kopf schüttelnd. Ein brennender Schmerz in meiner Seite ließ mich taumeln. Freydis sprang auf mich zu und stützte mich, während das gewaltige leere Bauwerk sich um mich drehte. Aber Ganelon
war nicht mehr. Mit dem Nichts war auch er verschwunden; verschwunden wie Rauchschwaden; verschwunden, als hätte jener namenlose Gott, zu dem er zu seiner eigenen Überraschung gebetet hatte, dieses Gebet erhört. Ich war wieder Edward Bond! »Bist du dir klar, weshalb Ganelon dich besiegen konnte, Edward Bond?« fragte Freydis sanft. »Weißt du, weshalb du ihn nicht zu vernichten vermochtest? Es war nicht aus dem Grund, den er vermutete. Er glaubte, er könne deine Handlungen vorhersehen, weil er deinen Geist kannte. Aber nicht das war der Grund. Wenn ein Mensch gegen sich selbst kämpft, tut er es nicht, um zu siegen. Nur der Selbstmörder haßt sich. Tief in Ganelons Unterbewußtsein kannte er seine eigene Grausamkeit und Kälte, und er liebte sie nicht. Darum vermochte er sein Ebenbild zu bekämpfen und Freude an den Schlägen zu empfinden, die er ihm versetzte – weil er sich in seinem tiefsten Unterbewußtsein selbst verabscheute. Du dagegen konntest dich achten. Du vermochtest nicht mit der gleichen Härte zuzuschlagen, weil dein Charakter es nicht zuließ. Darum siegte Ganelon – und unterlag. Am Schluß wehrte er sich nicht mehr gegen mich. Er hatte sich selbst getötet. Ein Mann, der das vermag, hat keinen Lebenswillen mehr.« Ihre Stimme wurde zum Murmeln. Dann lachte sie. »Wir wollen jetzt gehen, Edward Bond. Es gibt so viel zu tun auf der Dunklen Welt!« Auf ihren mächtigen Arm gestützt, stieg ich die endlosen Stufen hinunter, die Ganelon emporgeklommen war. Ich sah den grünen Schein des Tages außerhalb des Caers, das Schimmern der grünen Blätter, die Bewegung der wartenden Menge. Ich entsann mich all der Dinge, an die Ganelon sich erinnert hatte, aber über Ganelons Gedächtnis würde nun nur noch Edward Bond verfügen, genau wie über sein eigenes Ich.
Ich wußte, nur so konnte die Dunkle Welt gerecht regiert werden. Die beiden für immer in einem Körper vereint, über den nur Edward Bond die Herrschaft hatte! Wir traten durch die Pfeiler, die nun kein schillernder Vorhang mehr miteinander verband. Einen kurzen Moment blendete mich das Tageslicht nach der Düsternis im Innern des Caer. Doch dann sah ich die Waldläufer, die Spuren des Kampfes noch in ihren Gesichtern, und ich sah ein bleiches Mädchen mit einem blaßgoldenen Heiligenschein, das mir ihr strahlendes Gesicht zuwandte. Ich vergaß den Schmerz an meiner Seite. Arles Haar umhüllte uns beide, als ich sie an mich drückte. Die begeisterten Rufe der Waldläufer hallten von den Mauern des Caers wider. Die Dunkle Welt war frei – und sie gehörte uns! ENDE
Vorschau Als TERRA FANTASY Band 7 erscheint: Das Mal der Dämonen Brak, der Barbar, und seine Abenteuer III von John Jakes Abenteuer aus dem Zeitalter des Blutes und der Magie Der Totenwind heult durch Logols Wüste und bringt Unheil über Mensch und Tier. Brak aber, der flachshaarige, große und muskulöse Barbar, der aus dem Norden stammt und das Breitschwert wie kein anderer zu handhaben weiß, fürchtet sich nicht. Zu sehr lockt ihn das Goldene Khurdisan, das Land seiner Träume. Doch schlimmere Gefahren noch als der Totenwind lauern in Logol auf ihn. Dämonen treiben hier ihr Unwesen. Aus dem Dunkel schlagen sie zu. Wenn sie ihren unersättlichen Hunger gestillt haben, bleibt von den Opfern nur die schlaffe, leere Haut. Bruder Pol, der Nestorianer, kennt als einziger ein Mittel, wie man die Ungeheuer töten kann. Doch er ist schwach. Er zweifelt an seinen eigenen Kräften und an denen des Namenlosen Gottes. So kämpft Brak allein gegen die Blutesser und die anderen Gefahren Logols. Nach SCHIFF DER SEELEN und TOCHTER DER HÖLLE
(TERRA-FANTASY-Bände 1 und 4) wird hier der dritte Roman mit Brak, dem Barbaren, vorgelegt. Weitere Abenteuer mit dem gleichen Helden sind in Vorbereitung.