C.H. GUENTER
LUZIFER RUFT MOSKAU
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. 1945 war ein schlechtes...
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C.H. GUENTER
LUZIFER RUFT MOSKAU
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1. 1945 war ein schlechtes Jahr für alle. Für Helden, für Feiglinge und für Verräter. Die russischen Armeen drangen auf Berlin vor. Die deutschen Truppen wichen zurück. Vor einem brandenburgischen Dorf traf eine deutsche Nachhut auf die Rote Armee. Zwei Tiger-Panzer gegen zweihundert Stalin-Panzer. Der eine Tiger wurde in Brand geschossen. Bevor er explodierte, sprang der noch lebende Kommandant, ein junger Leutnant, aus dem Turm. Er wurde vom zweiten Tiger, der in besserer Deckung stand, aufgenommen. Die Russen hatten volle Tanks, der letzte deutsche Tiger noch 240 Liter Benzin. Damit kam er ungefähr sechzig Kilometer weit. Die Russen waren ausreichend mit Munition versorgt. Der letzte deutsche Tiger hatte noch fünf Granaten für die Kanone und zwei Patronengurte für das Maschinengewehr-42. Im Schein der Abendsonne rückten die Russen in breiter Front heran. Der letzte Tiger zog sich zurück. Die Häuser des brandenburgischen Dorfes waren noch etwa fünfhundert Meter entfernt. Der deutsche Tiger-Panzer erreichte sie. Doch im Dorf stand die SS. Ein Kommando von Obersturmbannführer Heldenklau. So nannten sie ihn, weil er selbst Verwundete an die Front trieb und Deserteure an den Bäumen aufhängte. Das SS-Kommando stoppte den Tiger und ließ die Besatzung aussteigen. Es waren drei Mann. Der Kommandant, der Fahrer und der Ladeschütze. Das SS-Schnellgericht verurteilte sie wegen Feigheit vor dem Feind zum Tode. Man stellte sie an die Kirchenmauer, den
Leutnant, den Unteroffizier und den Gefreiten. Die Maschinenpistolen ratterten. Drei Tote lagen vor der Kirchenmauer. Schon bald dröhnten die russischen Panzermotoren am Ortsrand. – Das SS-Kommando zog sich zurück. Sie wußten nicht, daß im letzten Tiger-Panzer noch ein Mann hockte – nämlich der Kommandant jenes Panzers, den die Russen abgeschossen hatten. Bei Dunkelheit verließ der junge Offizier das enge Stahlgehäuse und setzte sich ab. Immer im Niemandsland zwischen den Russen und der SS bleibend, marschierte er südwestwärts auf die Elbe zu. Tagsüber hielt er sich versteckt. Bei Nacht ging er we iter. In verlassenen Dörfern versorgte er sich mit Lebensmitteln. Nur knapp entkam er den Horden marodierender polnischer Zwangsarbeiter. Die Elbe überquerte er schwimmend. Die Russen bekamen ihn nicht. Ihr Vormarsch endete an der Elbe. Doch nun waren es die Engländer, die auf deutsche Soldaten Jagd machten, um sie in Gefangenenlager zu sperren. Mit einem zerschlissenen Trenchcoat über der Uniform schlug der Leutnant sich nach Hannover durch. Auf einem Güterwagen mit Kohlen erreichte er Kassel. Dort nahm ihn ein Lastwagen mit, der deportierte Kinder von Bayern nach Hamburg heimholen sollte. In der Nacht entging er in Würzburg der Kontrolle betrunkener amerikanischer Soldaten nur dadurch, daß er sich auf das Fahrerhaus des Mercedes-LKW rettete und dort flach ausgestreckt liegenblieb. Er war den Russen, den SS-Schergen, den Briten und den Amerikanern entwischt. Er wollte zum Rhein und in die Schweiz. – Doch im Schwarzwald verließ ihn sein Glück. Dort schnappten ihn die Franzosen. Als sie unter seinem Staubmantel die Uniform sahen, seine Orden, das EK-eins, das Deutsche Kreuz in Gold, die Streifen für abgeschossene Rus-
senpanzer, da glaubten sie, einen großen Fisch erwischt zu haben, einen von diesen verdammten Nazi-DurchhalteOffizieren. Zu seinem Pech war er groß, schlank und blond und hatte blaue Augen. Es war eine kleine Stadt, in der die Franzosen ihn in den Keller des Rathauses sperrten, das sie als Kommandantur eingerichtet hatten. Möglicherweise hieß der Ort Wylen. Genau wußte er es nicht.
Als Nazi-Offizier wollte er nicht gelten. Also gab er beim Ve rhör zu, wer er war. „Mein Name ist Herbst von Kolhaase.“ Er erzählte ihnen, daß er einem SS-Greiferkommando entkommen war und daß sein Vater, General Wittiku von Kolhaase, am 20. Juli, nach dem Attentat auf Hitler, als eine der treibenden Kräfte des Widerstands gehenkt worden war. Das machte den Leutnant ungeheuer interessant für die Franzosen. Kolhaase aber hatte andere Pläne. Er wurde am Schweizer Ufer des Rheins erwartet, und zwar an ganz bestimmten Tagen in bestimmten Wochen des Jahres. Es war der letztmögliche Tag in diesem Sommer, als sie ihn wieder in den Keller zurückbrachten. Nachts hatten die Franzosen ihn stets in Ruhe gelassen. Zeit also, um sich einen Fluchtplan auszudenken, – Aber dieser Keller ließ vernünftige Pläne gar nicht erst entstehen. Die Mauern waren meterdick, das Fenster war schmal und vergittert. Die Tür bestand aus eisenverstrebten Hartholzbohlen, die von zwei Schlössern gesichert waren. Vermutlich hatte man hier die Dokumente der Gemeinde aufbewahrt. Doch Kolhaase wollte seine Freiheit, koste es, was es wolle. Also mußte er es anders machen.
Er nahm sich vor, die kleinste sich bietende Chance zu nutzen. Jede. Und zwar sofort. In dieser Nacht weckte ihn der französische Verhöroffizier. Offenbar hatte er seinen Bericht weitergeleitet und Befehle erhalten. Er sperrte die Kellertür hinter sich zu und setzte sich neben Kolhaase auf die Pritsche. Er war etwas älter als der Deutsche und eher ein intellektueller Typ. Er vertraute auf seine Höflichkeit und seinen lächerlichen französischen Dienstrevolver. Er bot dem Gefangenen eine Zigarette an. „Ihr Vater“, begann er, „wurde nach dem zwanzigsten Juli als dem Kreis der Hitlerattentäter zugehörig verurteilt und hingerichtet. Wie kam es, daß man Sie, seinen Sohn, ungeschoren ließ? Bei den Nazis herrscht doch so etwas wie Sippenhaft.“ Der Deutsche überlegte die Antwort und sagte dann: „Ich war an der Ostfront eingesetzt und galt als tüchtiger Panzerzugführer. Ich hatte jede Menge Orden für Panzerabschüsse. Ich war für das Ritterkreuz vorgeschlagen. Meine Vorgesetzten und General Guderian bürgten für mich. Außerdem ging es im Osten bereits drunter und drüber.“ Das war weder eine glaubwürdige noch eine vollständige Erklärung. Der Franzose faßte nach. „Ihr Vater soll auch für den russischen militärischen Geheimdienst tätig gewesen sein.“ Nur äußerlich ruhig zog der Deutsche an seiner Zigarette, – Woher wußten sie das alles? Wußten sie vielleicht mehr? Was würden sie noch alles herausfinden? Das war er, der einzige und letzte günstige Augenblick. Kolhaase blies dem französischen Capitaine den Rauch ins Gesicht. Der wich zurück und machte eine wedelnde Handbewegung. Kolhaase hämmerte ihm die Faust ans Kinn. Der Franzose schlug mit dem Kopf gegen die Ke llerwand. Ehe er die Hand an die Pistolentasche bekam, hatte Kolhaase seine
Finger an seiner Kehle. Er drückte sofort mit aller Kraft zu. Der Franzose versuchte zu schreien. Er brachte nur ein Keuchen zustande, das in ein Röcheln und ein paar letzte verzwe ifelte Atemzüge überging. Kolhaase behielt die Hände an seinem Hals, bis der Franzose sich nicht mehr bewegte, sondern die Augen öffne te und ihn wie tot anstarrte. Dann entkleidete der Deutsche sich, zog die Uniform des Capitaine an und legte den Franzosen auf die Pritsche unter das Laken. Seine eigene Uniform nahm er, zu einem Bündel gerollt, unter den Arm. Vorsichtig sperrte er die Kellertür auf und lauschte. Im Haus war es still. Nur draußen von der Straße her waren die Schritte eines Postens zu vernehmen. Zweifellos würde er an dem Posten vorbeikommen. Aber die deutsche Uniform konnte ihn verraten. Er wollte sie loswerden. In der alten Bürgermeisterei gab es noch Ofenheizung. Das Haus hatte mehrere Schornsteine. Und Schornsteine hatten im Keller meist eiserne Türen, durch die der Ruß entfernt wurde. Herbst von Kolhaase öffnete solch eine Schornsteintür. Erst die äußere, dann die innere, dann stopfte er das Uniformbündel hinein. Er hörte, wie es ein Stück nach unten rutschte. Wenig später verließ er die Kommandantur. Der Posten sprach gerade mit einem anderen Posten. Die Straßen waren leer. Es herrschte noch Ausgangssperre.
Das Wasser war kalt. Ende Juni hatte der Rhein nicht mehr als achtzehn Grad. Schwimmend erreichte Kolhaase die Schweizer Seite. Dort arbeitete er sich durch das Ufergestrüpp, die Böschung hinauf und marschierte querfeldein. Irgendwann mußte er zu einer Straße kommen. Es dämmerte schon, als er einen Wegweiser fand. Links ging
es nach Pratteln, rechts nach Muttenz. Er war also richtig und blieb auf der Straße. Mit einemmal fand er sich zurecht. Die Natur entsprach den Einzelheiten der Beschreibung. Für einen Panzeroffizier war es kein Orientierungsproblem, die kleine Villenkolonie am Rheinufer zu finden und das Haus, das wie eine holzgeschnitzte Schwarzwälder Uhr aussah. Das Gattertor war offen. Die Haustür zu. Er zog am Glokkenstrang. Nach einigen Minuten ging oben ein Fensterladen auf. Ein dunkelhaariger Kopf erschien. Dann hörte er eine Frauenstimme, jung aber energisch. „Wer sind Sie? Zu wem wollen Sie?“ „Zu Lucy“, sagte er. „Wiederholen Sie bitte!“ „Lucy.“ Kurze Pause. Das Fenster wurde geschlossen. Er hörte Schritte. Die Tür ging auf. Eine junge Frau im Schlafanzug, mehr noch ein Mädchen, öffnete ihm. Sie war vom Tessiner Typ. Schlank, italienisch wirkend, schwarze Augen, gerade Nase, großer Busen. „Sie kommen spät.“ „Ich hatte einen weiten Weg“, sagte Kolhaase. „Morgen wäre ich abgereist.“ „Ich bin ja da.“ Sie ließ ihn ein und machte Frühstück. Dabei musterte sie ihn ständig. Wenn er ihr so gefiel wie sie ihm, dann gefielen sie sich beide. – Aber sie zeigte es nicht. Nach dem Frühstück bemerkte sie die Wasserpfütze am Boden. „Sie sind ja total durchnäßt.“ „Gibt hier leider keine Rheinbrücke.“ „Los, ausziehen, heißes Bad und ab ins Bett! Es wird schon Tag. Vor der Dunkelheit können wir nicht weiter. Im Grenzgebiet wird ständig kontrolliert.“ Sie weckte ihn am späten Nachmittag. Vor sich auf dem
Tisch hatte sie einen Schweizer Paß, Feder, Tinte und einen Stempel. „Ihren Kopf habe ich dem Wehrpaßfoto entnommen. Jetzt noch einen Namen.“ „Kolhaase nicht“, wünschte er. „Klingt aber gut, auch für Schweizer Ohren. Es klingt wie Wilhelm Teil und Rüfli-Schwur.“ „Ich muß ihn ändern“, beharrte er. „Ich habe… fürchte ich, einen französischen Offizier getötet“ Sie lächelte. Dabei hob sie eine Braue. „Wird nicht der einzige tote Feind in Ihrem Leben gewesen sein, oder?“ „Ja, damals im Krieg“, antwortete er, als läge diese Zeit endlos weit zurück. „Wir haben noch keinen Frieden.“ „Aber die Kapitulation“, erwähnte er, „Waffenruhe.“ Sie drängte ein wenig herrisch: „Los, irgendeinen Namen!“ Er nannte ihr einen. Sie schrieb ihn mit sorgfältiger, steiler Tintenschrift in den falschen Paß, stempelte ihn, wartete, bis er trocken war, und übergab ihn dem Deutschen. „Jetzt sind Sie Schweizer Staatsbürger.“ Als es dunkel war, fuhren sie in dem kleinen Fiat Topolino nach Zürich. „Übrigens, ich heiße Galazzi. Tina Galazzi“, bemerkte sie. „Ich bin Lucys Sekretärin. Lucy ist in Genf. Wenn er zurückkommt, will er Sie sofort sprechen. So lange können Sie bei mir wohnen.“
Der Mann, der Lucy war, trug einen gepflegten grauen Leninbart, eine Goldrandbrille und sah überhaupt aus wie der weltberühmte russische Revolutionär, sofern man im Geist seinen
Körper um dreißig Kilo Gewicht und zehn Zentimeter Länge verringerte. Er saß in seinem kleinen Büro in der Stauffacher Straße in Zürich hinter seinem Schreibtisch und musterte den Deutschen minutenlang wortlos. Endlich sagte er: „Ganz der Vater.“ „Danke!“ „Ich kannte General Kolhaase gut, noch von Verdun her. Seit neununddreißig arbeiten wir zusammen. Er hat nicht nur der Sowjetunion, sondern auch Deutschland große Dienste erwi esen. Ich hoffe, Sie teilen seine Gesinnung.“ „Ich teile sie nicht nur, sie ist mir Bestimmung“, erklärte der Exleutnant. Lucy kam nun zur Sache. „Wie sieht es mit Fremdsprachen aus, junger Freund?“ „Schul-Englisch und ein wenig Front-Russisch.“ „Dann besuchen Sie hier ein Sprachinstitut“, entschied Lucy. „Ein wenig Russisch genügt. Aber bei dem, was wir mit Ihnen vorhaben, ist perfektes Englisch wichtig. Nein, nicht Englisch, American-Englisch, meine ich.“ „Was wird meine Aufgabe sein?“ fragte der blonde Deutsche. „Darüber später einmal. Außerdem wird das nicht allein von mir entschieden. Also, zuerst die Fremdsprachen. Im Winter geht es dann in die UdSSR, nach Kiew. Wir unterhalten dort eine Spezial-Universität. Dort werden Sie ungefähr ein Jahr bleiben. Dann kehren Sie zurück in die Schweiz, und wir sehen weiter. Wir bezahlen hier Ihren Lebensunterhalt, die Schule, Ihre Kleidung. Sie kriegen auch etwas Taschengeld. – Bleibt noch die Wohnungsfrage. Wie kommen Sie mit Tina aus?“ „Es geht“, äußerte der Deutsche, was jedoch nicht den Tatsachen entsprach. Es war untertrieben. Er und die Tessinerin mochten sich sehr. Lucy ließ seine Sekretärin aus dem Vorzimmer ko mmen. „Kann er bei Ihnen bleiben?“ fragte er. Sie sagte zu schnell und zu strahlend ja.
Der Chef nahm seine Brille ab, hauchte daran und polierte das Glas an seinem Sakkorevers. „Nichts gegen eine Affäre“, bemerkte er ironisch, „aber die berüchtigte große Liebe, mit allen ihren Komplikationen, meine Freunde, ist in unserem Geschäft nicht statthaft. Bin ich verstanden worden?“ Er wartete die Antwort nicht ab, sondern widmete sich wi eder seinen Akten.
Der Mann, der einst Herbst von Kolhaase war, eignete sich in sechs Monaten ein ordentliches American-Englisch an und verbesserte sein Russisch. Im Januar 1946 reiste er mit dem Paß eines Schweizer Uhrenhändlers über Skandinavien in die UdSSR. An der Spionageakademie wurde ihm alles beigebracht, was ein Perspektivagent brauchte, um erfolgreich arbeiten zu können und möglichst lange unentdeckt zu bleiben. Er lernte das Verschlüsseln sowie Entschlüsseln von Nachrichten, das Anlegen von geheimen Briefkästen, das Fälschen von Ausweisen und Dokumenten. Sie unterrichteten ihn in Mikrofotografie, im Morsen und brachten ihm bei, wie man Schlösser von Türen bis zu Safes öffnete. Ferner, stets so spurlos wie möglich zu arbeiten. Er studierte Kampftechniken, waffenlosen Angriff, waffenlose Ve rteidigung, lautloses Töten, aber auch den Umgang mit Pistolen, Revolvern und Maschinenpistolen, Er vervollkommnete seine Kenntnisse bei Sprengmitteln und Zündern. Er übte, Fahrzeuge jeder Art zu bewegen, von Lokomotiven über Autos bis zu Motorrädern und Booten. Er wurde körperlich trainiert und mit der in Rußland gerade herrschenden Ideologie, dem Stalinismus, vertraut gemacht Die Sowjetunion ließ sich seine Ausbildung viel Geld kosten.
Daraus schloß er, daß er zu Höherem ausersehen war. Nach elf Monaten, kurz vor Weihnachten 1946, kehrte Kolhaase nach Zürich zurück, Er wohnte wieder bei Tina. Sie war schöner denn je, und ihre Beziehung vertiefte sich. „Warum“, fragte er sie eines Nachts, als er schlaflos neben ihr lag, „warum heiraten wir nicht?“ „Es wäre gegen das Programm“, bedauerte sie. „Und wie sieht das Programm aus?“ „Du gehst in die USA.“ „Dann geh doch mit!“ „Unmöglich! Lucy braucht mich.“ „Ich auch“, gestand er. „Wie lange muß ich nach Amerika?“ „Für unbestimmte Zeit. Für Jahre.“ „Dann komm nach!“ Sie schmiegte sich eng an ihn. Er spürte ihren warmen nackten Körper. Als er bemerkte, daß sie weinte, vermied er dieses Thema fortan für immer. Der Chef brachte den Deutschen mit seinem Citroen nach Genf. „Sie fliegen über Paris-London-Gander direkt nach New York.“ „Paß, Visum, Ticket, Geld, Adressen“, bestätigte der Deutsche. „Alles zur Hand.“ „Die Adressen, wie ich hoffe, nur im Kopf?“ „Nur dort.“ „Sie wissen, daß es sich um Mitglieder des sowjetischen Spionageringes in den USA handelt. Kontakt nur, um Verbindungen herzustellen. Sie studieren Slawistik. Versuchen Sie, sich in Washington in die Administration einzuschleusen. Als Osteuropa-Experte.“ Es war hundertmal durchgesprochen und unnötig zu erwä hnen. Aber so war Lucy nun einmal. Eine dreifache Naht hielt besser als eine zweifache. Es gab selten Pannen bei ihm. Präzision war eines der Fundamente von Lucys Erfolg.
„Und wenn ich drüben akzeptiert bin?“ wollte der Deutsche wissen. „Dann holen wir Sie wieder herüber.“ „Wozu der Umweg?“ „Studium in Amerika und Arbeit bei der USRegierung sind eine erstklassige Visitenkarte. Sie werden Ve rbindungen zu Politikern, zur Diplomatie, zu den Militärs herstellen. Das werden Sie nötig brauchen. Denn eines ist doch klar, mein Junge: Deutschland hat seinen absoluten Tiefpunkt bereits hinter sich gelassen. In zehn, zwanzig Jahren wird es wieder einen Machtfaktor darstellen, nicht nur in der Industrie und Wirtschaft. Deutschland wird einen phantastischen Aufschwung nehmen. Die Alliierten werden es in ein Verteidigungsbündnis integrieren.“ „Dazu müßte Deutschland erst einmal eine Armee haben.“ „Die wird es bekommen“, prophezeite Lucy, „denn die Alliierten geben ihm seine Souveränität nur dann zurück, wenn es aufrüstet.“ „Schöner Wahnsinn wäre das.“ „Nun, es wird Leute geben“, sagte Lucy, „Leute wie Sie, die diesen Wahnsinn begrenzen. Darin besteht dereinst Ihre wesentliche Aufgabe. Abwarten und dann, wenn man Sie ruft, zurückkommen als der große Wächter, der Aufpasser, der unerkannt alles hört, alles weiß.“ „Der Maulwurf“, ergänzte der Deutsche, „der auch im Dunkeln sieht.“ Lucy blickte ihn an und nickte. Sie hatten sich verstanden. Nicht erst heute, sondern schon an dem Tag, als der Deutsche zum erstenmal sein Büro betreten hatte. Lucy brachte ihn zu der viermotorigen Constellation, dem neuen Transatlantik-Flugzeug, das man aus dem LiberatorBomber entwickelt hatte. Sie umarmten sich wie Vater und Sohn, als wüßten sie, daß man sich nicht wiedersehen würde.
„Bitte grüßen Sie Tina von mir“, bat der deutsche Perspektivagent. „Ich grüße Tina von Ihnen“, versprach Lucy. Es war ein Abschied für immer. 2. Wenn die Katze aus dem Haus ist, dann tanzen die Mäuse. Dieses Sprichwort galt auch für die Sowjetunion. Der erste Vorsitzende der KPdSU und Generalsekretär weilte zum Staatsbesuch in den USA, und in Moskau krochen die alten Ratten aus den Löchern. Bei der geheimen Staatspolizei ging man die Listen der ve rdächtigen und unliebsamen Genossen durch, um Verhaftungen vorzunehmen. Ganz wie zu Stalins Zeiten. In den zehn Tagen, bis der Staatschef zurückkam, ließ sich auf diese Weise eine Menge Unrat abräumen. Unter anderen warf der Computer auch den Namen eines gewissen Petar Turginow aus. Turginow, Sektionsleiter im Ministerium für Verteidigung, stand im Verdacht, ein Agent des Westens zu sein. Immer wieder waren Dokumente, die über seinen Schreibtisch liefen, im Westen aufgetaucht. – Aber noch hatte man keine Beweise. Die galt es nun in einer Woche beizubringen. Beobachtung, Beschattung, die Generalkontrolle des Genossen Turginow wurde eingeleitet, Das bedeutete, er konnte keinen Schritt und keinen Atemzug mehr tun, ohne daß die Abwehr unsichtbar dabei war. Aber Turginow merkte es durch Zufall. Kaum zu Hause in seiner Wohnung, schaltete er gewohnheitsmäßig das Radio an. Der Sender Moskau II, sonst hell und klar wie das Zwitschern der Vögel morgens im Gorki-Park, war gestört. Da der Staubsauger seiner Nachbarin nicht lief – sie war auf der Krim in Urlaub -, mußte es andere Ursachen
haben. – An der Antenne lag es auch nicht. Turginow schaltete aus, schaltete ein. Nach wenigen Sekunden war die Störung, ein gedämpftes Rückkopplungspfeifen, wieder da Warum, fragte Turginow sich, kommt es erst nach drei oder vier Sekunden? Er verstand einiges von Elektronik. Nicht viel, aber so viel wußte er, daß es Abhörgeräte gab, Minisender, die sich erst einschalteten, wenn im Raum gesprochen wurde. Sofort begann er, so ein Gerät zu suchen. Es gestaltete sich schwierig, denn die Dinger hatten kaum die Größe eines Nagelkopfes. Er suchte wirklich überall, konnte den Teufelsknopf aber nicht entdecken. Schließlich schraubte er die Sprechmuschel seines Telefons ab. Seitlich neben dem Mikro klemmte ein erbsenkleiner metallischer Apparat, der hier nichts zu suchen hatte. Er wurde also abgehört. Ein Kälteschauer rieselte ihm vom Nacken bis zu den Schenkeln. Die ganze Nacht grübelte er. Am nächsten Morgen fuhr er wie immer ins Büro. Ein Wagen folgte ihm Sie verstanden ihr Geschäft. Deshalb hatte er sie bis heute nicht bemerkt. Aber jetzt wußte er es. Sein Kollege, mit dem er zusammenarbeitete, war nicht im Nebenzimmer. „Wo ist Stoltow?“ fragte er die Sekretärin. „Sicherheitsübe rprüfung. Ich war gestern dran. Sie sind morgen dran, Genosse Ingenieur.“ Das war typisch. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, wurde stets das ganze Umfeld abgecheckt. Turginow saß da, starrte auf die Akten und dachte an alles andere als an die Produktionszahlen von Raketensteuerungssystemen. Du hast einen Fehler gemacht, dachte er. Wenn man jahrzehntelang für die andere Seite arbeitete, dann schlichen sich Fehler ein, ohne daß sie zunächst bemerkt
wurden. So wurde man leichtsinnig. Diesmal hatte er offenbar den entscheidenden Fehler gemacht, den absoluten und endgültigen, den hundertprozentigen mit jedem nur erdenklichen Zubehör. – Oh, diese verfluchten Weiber!
Er mußte weg, fort aus Moskau. – Es gab mehrere Wege. Zum Glück hatte er eine Dauergenehmigung für Reisen im Bereich des Warschauer Paktes. Aber einfach war das nicht. Sie würden ihn am Bahnhof, am Flugplatz oder an der Autobahn sofort schnappen. Sein Kollege kam und goß sich Tee aus dem Samowar ein. „Die spinnen ja“, schimpfte Stoltow. „Reine Routine“, meinte Turginow so ruhig wie möglich. „Was wollten sie wissen?“ „Das Übliche. Alles idiotische Zeitverschwendung.“ „Sie haben ihr Soll zu erfüllen. Sollerfüllung bedeutet die Sicherheitskontrolle von soundso vielen Genossen. Wer macht es diesmal? Major Lasky?“ „Nein, zwei andere. Einer ist krumm, und der andere stottert. Echte Kretins von NKWD.“ Der Genosse war verärgert. Er ging in die Kantine, und die Sekretärin war auch nicht da. Turginow schraubte sein Telefon auf. Auch hier eine Wanze. – Also ging er hinaus und den Gang entlang zum Büro des Generals. Der General war unterwegs. Er besuchte eine Panzerfabrik in Stalingrad. Sein Telefon war gewiß nicht angezapft. Turginow hatte die Nummer im Kopf. Sie gehörte einem Hauptmann beim Lufttransportgeschwader draußen an der Luftbasis vier. Der Hauptmann war nicht da, aber sein Stellve rtreter. Auch ihn kannte Turginow. „Turginow, Abteilung Qualitätskontrolle/Entwicklung“, meldete er sich.
„Hallo, Genosse Ingenieur!“ „Ich muß dringend nach Berlin.“ Es war nicht nötig, daß er dem Offizier die Gründe nannte, er tat es aber, „Es geht um Raketentests bei der DDR-Volksarmee. Habt ihr eine Transportmöglichkeit für mich?“ Der Offizier schaute nach. „Berlin? Nein, heute nicht.“ „Wann dann?“ „Übermorgen. Freitag.“ „Zu spät.“ Turginow hängte einen Fluch an. „Wenn da bloß nichts schiefgeht bei den Manövern.“ „Wie sieht es aus mit Linie?“ fragte der Offizier in der Luftbasis. „Die Aeroflot nach Berlin startet gerade.“ „Moment mal“, bat der Mann am Flugplatz. Turginow wartete. Er bekam nasse Hände. Draußen im Korridor hörte er Schritte und Stimmen vor der Tür. Es war ihm, als bewege sich der Türgriff. Doch dann entfernten Schritte und Stimmen sich wi eder. „Hören Sie, Genosse Ingenieur?“ „Bin noch da“ „Wie war’s mit Dresden? Um vierzehn Uhr geht ein Transporter mit Hubschraubertriebwerken und Panzermotoren nach Dresden. Da kann ich Sie noch reinquetschen.“ Turginow sagte sofort zu. „Von Dresden nach Berlin kriege ich leicht einen Wagen. Danke! Wann muß ich draußen sein?“ „Dreizehnuhrfünfundvierzig spätestens, bitte.“ Turginow legte auf. Es ging auf halb elf. Noch Zeit, um eine falsche Spur zu legen. Von seinem eigenen Büro aus rief er im amtlichen Reisebüro an. Dort ließ er sich einen Platz in der Linienmaschine nach Stockhohn reservieren. Als Abteilungsleiter und Vizedirektor konnte er sich auch Auslandsflüge selbst genehmigen.
Dann ging er zu seinem Kollegen Stoltow hinüber. „Leihst du mir deinen Wagen?“ fragte er. Stoltow bedauerte. „Brauch’ ihn heute selbst. Was ist an deinem kaputt?“ „Die Benzinpumpe.“ „Schon wieder?“ „Ich muß zum Flugplatz, zur Maschine nach Stockholm. Dieser Computerlieferant in Schweden macht Schwierigkeiten.“ „Bestell dir einen Dienstwagen.“ „Die sind alle unterwegs.“ „Sie haben immer was in Reserve “, meinte Stoltow. „Ich weiß das, war früher mal mein Ressort.“ „Vielleicht kannst du einen für mich loseisen. Du kennst die Leute noch.“ „Na schön! Ich versuche es auf meinen Namen“, sagte Stoltow. „Wann und wohin?“ „Gleich“, sagte Turginow, „sofort.“ Sein Kollege telefonierte. „Geht in Ordnung. Fahrbereitschaft Tiefgarage. Wagen elf. Sag dem Fahrer, du wärst ich.“ „Danke dir!“ „Du leihst mir nächste Woche mal wieder deinen Wohnungsschlüssel für eine Stunde. An einem Nachmittag, wenn es regnet.“ „Wer ist es diesmal?“ fragte Turginow. „Die mollige Blonde aus Sektion vier.“ „Tanja Makerowa? Ist sie nicht verheiratet?“ Der Genosse Vizedirektor Ingenieur Stoltow grinste ve rschwörerisch. „Bin ich etwa nicht verheiratet?“ fragte er.
Als Turginow im Dienstwagen saß, glaubte er, das Schlimmste geschafft zu haben. Und als er sah, daß der schwarze PolizeiWolga nicht folgte, bekam er sogar Lust auf eine Zigarette. „Wo fahren Sie hin?“ rief er zu dem Fahrer nach vorn. „Domodjedowo“, nannte der Fahrer den Namen des Großflughafens. „Drehen Sie um! Ich muß zum vierten Luftfahrttransportgeschwader. „ „Das ist in Krasnogorsk.“ „Schon immer.“ „Hat mir aber keiner gesagt. Genau entgegengesetzt.“ Turginow bemerkte etwas von unglaublicher Schlamperei. Der Fahrer drehte mitten auf der Uljanowskaja vor der Moskwa-Brücke um. „Mein Fahrbefehl lautet anders“, maulte er vor sich hin. „Die Entfernung ist die gleiche “, sagte sein Fahrgast. Nun schickte sich der Fahrer in die Tatsache, daß man die Flugplätze verwechselt hatte. So was kam vor. „Machen Sie kein Aufhebens davon.“ Turginow schob ihm zehn Rubel nach vorn. „Vielleicht ist es meine Schuld gewesen.“ „Es war die Schuld dieser verdammten Idioten in der verdammten Zentrale“, fluchte der Fahrer. „Aber ich werde mich hüten, was zu sagen. Sonst setzen sie mich auf Wochenendschicht.“ In der Stadt herrschte starker Verkehr. Um diese Zeit kam man nur mühsam durch. Besonders dort, wo die großen Prospekte sich kreuzten, am Majakowskiplatz, kam es immer wi eder zu Stauungen. Und die Ampeln spielten auch verrückt. Schließlich war es 13.30 Uhr, als sie auf der Basis in Krasnogorsk ankamen. Dann dauerte es noch zwanzig Minuten, bis Turginow alle Stempel im Voucher hatte und in der Baracke saß. An einem Automaten konnte man sich Tee in einen Becher lassen. Der Tee war dünn, lauwarm und bitter. Draußen lande-
ten und starteten Flugzeuge. Triebwerke wurden angelassen und jaulten hoch. Lautsprecherdurchsagen dröhnten, Telefone klingelten. Immer wieder marschierten Dreimanngruppen der Flughafenpolizei durch. Turginow saß wie auf Kohlen. Noch zehn Minuten bis zum Start. Wenn sie hinter seinen Trick kamen, dann genügte ein Telefonanruf… Ein Mann baute sich vor ihm auf. Es war sein Freund, der Fliegerhauptmann Lasky. Er grüßte „Ich bringe Sie zur Maschine“, sagte er. Vier Stunden später landete der schwere AntonowTransporter bei Dresden. Keine Militärpolizei stand an der Gangway, und keine STASI-Beamten mit ihren langen Regenmänteln aus Plaste warteten auf Turginow. Die Luft war abendfrisch und rein. Vielleicht war sein Fehler, einer Frau zu vertrauen, der er besser nicht ve rtraut hätte, doch nicht tödlich gewesen. – Aber nie wieder würde er einer Frau weiter als bis über die Bettkante trauen.
Vom Hotel aus hatte er angerufen. Schon wenige Stunden später traf er einen Mann unten am Elbuferpark. Der V-Mann sah so heruntergekommen aus, daß er ihm sofort mißfiel. Er hatte Nikotinflecke an den Fingern, Dreck unter den Nägeln, war unrasiert, und man konnte seine ungewaschenen Socken riechen. „Genosse Ingenieur Turginow“, sagte der Penner in erstaunlich gutem Russisch. „Wer sind Sie?“ „Kennwort Argus.“ Argus war Turginows Deckname im Netz. „Ich begleite Sie“, sagte der Vagabund,
„Wohin?“ „Zur Grenze und rüber.“ „Ist das die einzige Alternative?“ „Um Sie zu retten, schon.“ „Wann?“ fragte der Russe von Zweifeln geplagt. „Heute nacht.“ Das ging ihm alles zu schnell. Es schien ihm zu wenig organisiert. „Wo?“ „Eine Lücke im Grenzzaun. Zwischen Plauen und Hof.“ „Wie weit ist das?“ „Hundertvierzig.“ „Kilometer?“ „Nun, was sonst“, lautete die pampige Antwort des Schleusers. Offenbar hatte Turginow zu viele Bedenken…Kommen Sie, wir müssen uns beeilen!“ Der Mann aus Moskau zögerte, und der andere drängte. „Wollen Sie oder nicht?“ Sein Atem stank süßsäuerlich, so als hätte er Trockenbrot gegessen und Bier dazu getrunken. Turginow war Realist. Wenn er jetzt Zicken machte, war er aufgeschmissen. Aus der DDR kam ein Ortsunkundiger nie in den Westen. – Zugegeben, er hatte gute Papiere und alle nötigen Permits, aber er mußte den Grenzübergang in Berlin benutzen. Und da warteten sie wohl schon auf ihn. ,Also?’ „Gehen wir“, entschied der Russe sich. Der V-Mann legte ein Tempo vor, das man seinem ausgemergelten Körper nicht zutraute. „Mein Wagen parkt an der Oper.“ Das klang nach Rolls-Royce. – Es war ein rostiger, uralter Käfer. Aber der Motor surrte wie eine Singer-Nähmaschine. Die Fahrt nach Westen, immer an den Ausläufern des Erzge-
birges entlang, war wie ein Intensivkurs in Geländekunde. Der V-Mann, der wie ein Penner aussah, entpuppte sich als exzellenter Profi. Er bleute seinem Klienten jeden Schritt ein, den er von einem bestimmten Punkt an zu tun hatte. Der Ablaufpunkt lag im Grenzgebiet. Aber es gab Wälder dort. Er beschrieb jeden Pfad, jede Wegkrümmung, die Brücken, den Bach, jeden Baum. Dann den Grenzstreifen, der sich wie eine mit Stacheldraht umwickelte Autobahn über Berg und Tal zog. Der Schleuser erklärte Turginow, unter welchem Gestrüpp er den Tunneleingang fand, wie man ihn öffnete und wie man den kaum meterhohen Tunnel kriechend durchquerte. „Drüben“, sagte der V-Mann, „werden Sie erwartet. „ „Kennwort?“ „Wieder Argus.“ „Und wer sind diese Leute?“ „Einen von ihnen kennen Sie“, vermutete der VMann. „Name? Dienstgrad?“ „Selbst mir“, gestand der V-Mann, „ist er nicht geläuf ig. Ich weiß nur eines: Man nennt ihn Mister Dynamit.“ Der V-Mann schaute auf die Uhr. Offenbar wurde die Zeit knapp. Aber er war ein beinharter Fahrer und legte noch einen Zahn zu. 3. Der Operationschef des BND hatte seit langer Zeit wi eder einmal gelächelt. Fast sah es so aus, als wollte er ein Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden. – Aber Robert Urban, Agent Code 18, ließ sich nicht täuschen. Menschlich wurde der Alte, wenn er verzweifelt war. Und dazu lagen eine Menge Gründe vor. „Sie haben mein Netz kaputtgemacht“, jammerte Oberst
i.G.a.D. Sebastian, „mein Lebenswerk.“ Es war weder sein Werk, noch war es völlig kaputt, nur weil Argus in Bedrängnis geraten war. Aber der alte Schmerbauch sah es so. Und sein Gesicht bekam die Falten eines zwanzigjährigen Dackels, obwohl Dackel bestenfalls vierzehn Jahre lebten. „Da ist Verrat im Spiel.“ „Oder Unvermögen“, ergänzte Urban. „Nein. Verrat! Verrat! Verrat!“ schrie Sebastian. „Immer nur Erfolg macht luschig.“ „Luschig? Was ist luschig?“ wollte der Alte wissen. Bevor Urban es ihm erklärte, auch auf die Gefahr hin, daß Sebastians gestörtes Kurzzeitgedächtnis es doch wieder verlor, schlüpfte er in den Trenchcoat. „Luschig“, bemerkte Urban, „bedeutet, eine Sache geringschätzen.“ „Wo steht das?“ „Im Duden“, sagte Urban, „leider nicht.“ „Moment noch“, versuchte der Operationschef ihn an der Tür zurückzuhalten. „Gehen Sie nicht luschig mit ihm um!“ Argus war der einzige, der ihnen Hinweise liefern konnte, welches Messer das Netz zerschnitten hatte. Warum also sollte er ihn nicht in Watte gepackt nach München bringen? „Argus ist der Schlüssel“, betonte Urban. „Und wenn man ihn umgedreht hat, wenn alles nur der Prolog im Theater ist? Argus, als vom KGB umgedrehter Doppelagent?“ „Mich führt er nicht hinters Licht“, betonte Urban. „Wäre nicht das erste Mal.“ Der Teufel wußte, worauf der Alte anspielte. Urban hatte ihn wieder satt bis obenhin, diesen senilen inkompetenten Dickarsch. „Habe ich recht?“ fragte der Alte. „Jeder hat recht“, antwortete Urban. „Bis er unrecht hat.“
Er ging hinaus, schloß die Tür und nahm den Paternoster nach unten. In der Fahrbereitschaft hatten sie seinen BMW 633 CSi gewartet, geschmiert, betankt und gewienert. „Damit kommst du bis Timbuktu“, sagte der Garagenmeister. „Will ja nur bis Hof.“ „Da wird er gerade warm.“ „Aber bis Mitternacht“, fügte Urban hinzu. Der Garagenmeister schaute auf die Uhr. „Zwei Stunden. Das ist knapp.“ Urban schob sich in sein 200-PS-Coupé. „Wäre er“, sagte er, „kein Auto geworden.“ Er ließ an. Das BMW-Werk hatte ihm in sein altes Auto den neuesten Motor implantiert. Der Zwölfzylinder summte wie ein Bienenschwarm. Offenbar ging es ihm vorzüglich. Der Mond hing wie ein abgeschnittener Fingernagel im Nachtgewölk. Steinmonumentenähnlich, stumm und bewegungslos, warteten die vier Männer im Gehölz. Drei trugen Bundesgrenzschutz-Tarnjacken. Einer war in Zivil. Der Wind war eingeschlafen. Im Wald hinter ihnen regte sich nichts und auch nicht vor ihnen auf der autobahnbreitgepflügten, eingezäunten Todeszone. Im Tal, aus dem der Grenzstreifen sich heraufwand, lag das Dorf Münchenreuth. Der Zivilist schaute auf seine Rolex. Schon über die Zeit. Einer der Grenzschutzbeamten verschwand im Hohlweg, wo der Geländewagen stand. Für diesen Einsatz hatten sie auf den üblichen Diesel verzichtet und den fast lautlos drehenden 280 GE eingesetzt. Der Grenzschützer kam wieder und flüsterte dem Zivilisten etwas zu. „Nichts. Auch bei den anderen Posten ist nichts.“
„Sie müßten längst hier sein.“ „Man hat sie wohl schon im Sperrgebiet erwischt,“ Der Zivilist, der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, glaubte es nicht. Er kannte den Schleuser. Der Mann war wie eine Mischung aus Wolf und Wiesel. Zum Fürchten vergammelt, aber ein As als Scout „Wie lange wollen Sie warten?“ fragte der vom Grenzschutz. „Bis es Tag wird.“ Kurz bevor man sie von den DDR-Wachtürmen aus sehen konnte, mußten sie fort sein. Plötzlich ließ ein Geräusch sie zusammenzucken. Eine To nfolge, wie die Natur sie nicht erzeugen konnte. – Es war das Hämmern einer Maschinenpistole. Ta-ta-ta. Ta-ta-ta. Hart, trocken, ohne Nachhall. Dann ein Schrei. Vermutlich: Halt! Stehenbleiben! – Nicht genau verständlich. – Dann noch einmal. Der Grenzschutzoffizier deutete in Mondrichtung. „Hundertfünfzig Meter.“ Drüben blitzte Licht auf. Ein weißer Finger tas tete sich von schräg oben erdwärts. Ein zweiter aus Süden kam hinzu. Die Posten auf den Wachtürmen hatten ihre Scheinwerfer eingeschaltet. Die Lichtbahnen kreuzten sich an einem Punkt. Erneutes MPi-Rattern, gefolgt von Einzelschüssen, Ein Motor heulte auf. Gestalten hetzten durch das Scheinwerferlicht. Leise fluchte der Grenzschutzoffizier. „Genau am Einstieg.“ Jetzt fragte sich, ob der Mann, auf den Urban wartete, schon drin war oder ob sie ihn vorher geschnappt hatten. Dann bestand die Gefahr, daß sie das alte Entwässerungssystem, das schon seit sechzig Jahren existierte und vielen Menschen als Fluchttunnel gedient hatte, heute nacht entdeckt hatten. „Öffnet den Gullydeckel“, sagte Urban.
Er streifte einen Overall über, schloß die Reißverschlüsse und setzte die Bergmannskappe mit der Stirnlampe auf. Inzwischen hatten sie das tarnende Gestrüpp weggeräumt und den schweren bemoosten Eisendeckel angehoben. Kopfüber kletterte Urban hinein. Die Betonröhre maß nur achtzig Zentimeter im Durchmesser. Da eine Wende in der Röhre nicht möglich war, banden sie ein Nylonseil an seinen rechten Fuß. „Wir halten es stramm“, sagten sie. „Die Signale kennen Sie, Oberst.“ Es stank nicht wie in anderen Kanalisationen. Wegen der Rodung des Grenzstreifens lief das Wasser in die andere Richtung ab. Es roch nach Erde und ein wenig nach gutem Kompost. Urban kannte den Verlauf des Tunnels. Er führte schräg abwärts, dann auf fünf Meter Tiefe unter dem Todesstreifen nach Osten. Das ganze System war von Einstieg zu Einstieg hundertachtzig Meter lang. Hinein und hindurch in einer Richtung kam man leicht. Man hatte die nötigen Bewegungen, halb wie es Schlangen machten, halb wie Seehunde auf dem Trockenen, schnell heraus. Nach jeweils zehn Armzügen schaltete Urban die Lampe ein. Bald konnte er bis zu der Stelle sehen, wo es drüben wi eder nach oben ging. Erst dachte er, der Stollen sei wieder einmal wegen eines brüchigen Rohres eingestürzt. Ein graubrauner Stopfen ve rsperrte den Tunnel. Doch dann vernahm er ein Stöhnen, und der graubraune Stopfen bewegte sich. Urban robbte und kroch, so schnell es ging, vorwärts. Das Graubraune war nicht Erde, sondern der Kopf, das Haar, das dreckige Gesicht und der Anzug eines Mannes. „Turginow?“ fragte Urban. Der Mann schüttelte den Kopf.
„Argus?“ Jetzt nickte der Mann. Urban schob die Hände unter seine Schultern. Dabei fühlte er Blut, warm und schmierig. Mühsam drehte er den Russen auf den Rücken. Vor Schmerz krümmte Turginow sich zusammen und klemmte sich dadurch im Tunnel fest. Als Urban ihn in Position hatte, zog er rhythmisch den rechten Fuß an und gab das Signal zum Ziehen.
Zurück auf Bundesgebiet fürchtete Urban, die Zieherei habe sein Hüftgelenk ausgekugelt. – Durch Freiübungen machte er es wieder gängig. Inzwischen hatte der Grenzschutzoffizier sich um Argus gekümmert. Seine Leute holten die Trage und legten den Verletzten darauf. „Zwei Fingerbreit tiefer, und es wäre ein glatter Herzschuß gewesen.“ „Schon schlimm genug“, meinte Urban, denn Turginow war ohne Besinnung. „Das ist die eine Kugel. Die andere steckt im Hals“, flüsterte der Grenzschutzoffizier. Sie hatten Notausrüstung dabei, und einer der Männer war Sanitäter. Er gab dem Schwerverletzten die übliche Spritze für Herz und Kreislauf und schob ihm einen Infusionsschlauch in die Armvene. „Gegen Schock, Blutverlust und so weiter“, sagte er. Sie trugen ihn zum Wagen und schoben die Trage hinein. „Das Krankenhaus in Hof ist schon verständigt.“ „Fünfzehn Kilometer“, schätzte Urban. „Gibt es keines, das näher liegt?“ „Das schon. Ein Landsanatorium mit Klinik, aber ohne In-
tensivstation.“ Ein Hubschrauber hätte den Transport vereinfacht und alles in wenigen Minuten erledigt. Aber wer hatte an so was gedacht? – Außerdem war Turginow ein Spion aus dem zweiten Glied, einer aus der Drohnenriege. Für sie rollte man keine roten Teppiche aus. Der lange Mercedes G mit dem Schwerverletzten fuhr los. Urban hastete durch den Wald nach Westen, wo er seinen BMW stehen hatte. Von der Grenze her war nichts mehr zu hören. Die Aufregung bei den DDR-Vopos hatte sich gelegt. Aber den Tunnel konnten sie wohl für immer vergessen. Man würde ihn auf der Westseite endgültig verschließen müssen. Fragte sich, ob es das wert gewesen war. Ergebnis: Ein enttarnter Fluchttunnel und ein schwerverletzter Russe aus dem Agentennetz des BND. – Sagenhaft, was in wenigen Stunden so alles kaputtgehen konnte. Bloß keine Selbstvorwürfe, dachte Urban. Er war nur Abholer und Zusteller, der eine Sendung hier zu übernehmen und dort abzuliefern hatte. Der Inhalt war zerbrechlich. Anstatt Vorsicht Glas draufzuschreiben, hatte man das Päckchen fallengelassen. Das ist es, dachte er, und das war es dann auch. Worüber machst du dir Sorgen, Junge? Aber Urban machte sich stets über alles Sorgen, was schiefging.
Eine Stunde später fuhr Urban auf der nachtleeren Autobahn nach München zurück. Das alles hatte nur passieren können, weil Fehler gemacht wurden. Vielleicht hätte ein Hubschrauber den Russen gerettet. Wahrscheinlich aber nicht.
Vielleicht hätte es einen anderen Weg gegeben, um Argus heimzuholen. Etwa über Berlin. Oder mit neuer Tarnung und besseren Papieren als Touristen über Ungarn, Polen oder die Türkei. Zum Teufel, dem einen Fehler wollte Urban nicht noch einen weiteren draufsetzen, und zwar den Fehler, Zeit zu ve rgeuden. Er mäßigte sein Tempo von hundertachtzig auf hundertsechzig und telefonierte mit dem Hauptquartier in Pullach. Der Alte war noch im Büro. Wie üblich erwartete er ein positives Ergebnis. Im Grunde hätte eine so lachhafte Operation gar nicht schiefgehen dürfen. „Ich schalte auf Zerhacker“, sagte Urban. Nun war ihr Gespräch nicht mithörbar. „Argus ist tot“, meldete er. Schimpfend suchte der Alte anderswo einen Schuldigen, damit bloß nichts an ihm und der Abteilung hängenblieb. „Sie müssen ihn beim Einstieg erwischt haben“, vermutete Urban. „Konnte er nichts mehr dazu äußern?“ „Wenig“, erklärte Urban. „Er starb, noch ehe sie ihn im OP hatten.“ „Wenig ist mehr als nichts.“ Das traf zu. Der Russe hatte tatsächlich noch etwas gesagt. Immer nur ein Wort. Urban war nicht sicher, ob er ihn richtig verstanden hatte. Unter Umständen konnte es auch ein Fluch gewesen sein. „Er sagte etwas, das sich wie Luzifer anhörte.“ „Eine Schmerzensäußerung vielleicht?“ „Luzifer?“ „Oder Sie haben etwas Falsches gehört.“ „Kann sein. Aber dann müßten der Grenzschutzmajor und der Oberarzt auch etwas Falsches gehört haben.“ „Was ergibt Luzifer für einen Sinn? Vorausgesetzt, er sagte
wirklich Luzifer und es wäre kein Fluch im Sinne von Teufel gewesen.“ Weder Sebastian noch Urban konnten Luzifer in aktuellen Zusammenhang mit Spionage, einem Agenten, einem Führungsoffizier, dem eigenen Netz, fremden Netzen, einem Geheimprojekt, einem Politiker, Wissenschaftler oder hohen Militärs bringen. Aber man mußte der Sache nachgehen. „Füttert den Computer“, riet Urban. „Wann sind Sie da?“ „In zwei Stunden.“ „Übernehmen Sie das. Es ist Ihr Fall.“ „Noch ist es gar kein Fall“, entgegnete Urban. „Mal abgesehen davon, daß Argus aufgeflogen ist. Aber warum ist er aufgeflogen? Beging er einen Fehler, oder wird unser ganzes Netz in der SU aufgerollt? – Da diese Gefahr besteht, müssen wir den Hinweis Luzifer ernstnehmen. Und weil in dieser Sekunde drüben im Osten Hunderte tüchtiger Leute in Gefahr schweben können, kommt es auch bei uns auf Sekunden an. Also füttert die Computer!“ „Sie denken an Verrat?“ „Ich denke, daß zwei Stunden einhundertzwanzig Minuten sind und eine davon irgendwann einmal verdammt fehlen könnte.“ Danach legte er auf. Mit einem Gasstoß jagte er das Coupé wieder auf hundertachtzig. Vor Eching, wo die Autobahn in die Münchner Kiesebene abstieg, wurde es neblig. Aber der Nebel lag nicht ganz auf. Urban wischte unter ihm hindurch wie ein Floh unter der Bettdecke.
4. Der amerikanische Viersternegeneral Mark Kennan beendete seinen Besuch in Tel Aviv. Er hatte gute Freunde in Israel. Und der Geheimdienst MOSS AD hatte einen guten Freund an General Kennan. Deshalb brachte der MOSSAD-Chef ihn auch persönlich zum Flugplatz. „Und bitte, vergessen Sie die Luftbilder nicht, Mark“, erinnerte der Israeli, ein Mann, der aussah wie ein römischer Feldherr. Hakennase, braungebrannt, das Haar zu einem Biberpelz geschnitten. „Ich veranlasse das, sobald ich in Brüssel ankomme.“ „Das Gebiet von Damaskus bis zum Golan“, erwähnte der Israeli noch einmal, „ist einer der bestgesicherten Geländestreifen der Erde. Maginot-Linie und Westwall in einem. Gespickt mit Hunderttausenden von Panzerminen, Artillerie, tief in Hangstellungen, Raketenbatterien, Granatwerfern, Minenwe rfern, Panzerabwehrkanonen, MG-Nestern, automatisch und halbautomatisch. Mehr an Eisen und Sprengstoff läßt sich gar nicht in der Erde verbuddeln.“ Der Amerikaner blickte seinem israelischen Freund in die Augen. Aus Kennans Lächeln wurde eine leichenbittere Miene. „Denken Sie an Angriff?“ „Immer“, gestand der Israeli, „Tag und Nacht. Aber nur als Mittel der Abwehr, der Verteidigung. Also rein defensivpräventiv.“ „David und Goliat“, sagte der Amerikaner. „Der kleine David mußte ihm den Kiesel gegen die Stirn schleudern, denn in Goliats Fäusten wäre er zu Mus geworden.“ „Danke! Das erspart mir viele Worte“, äußerte der MOSSAD-Chef. „Die ich ohnehin alle kenne“, spottete der Amerikaner. „Ihre Luftaufnahmen und die Original-Aufmarschpläne“,
fuhr der MOSSAD-Chef fort, „sind schon der halbe Sieg. Notfalls.“ „Aufmarschpläne?“ hakte General Kennan nach, „Einer meiner Leute drüben kommt an sie heran. Sie enthalten Depots, Panzerbereitstellungen, neue Flugplätze et cetera.“ Irgend etwas daran schien dem Amerikaner zu mißfallen „Seien Sie vorsichtig!“ „Das ist für uns oberstes Gesetz.“ „Und es gibt Verräter.“ „Nicht bei uns“, tat der Israeli die Warnung ab. „Jeder Geheimdienst hat Berührungspunkte mit anderen Diensten“, bemerkte General Kennan. „Dort wird die Haut dünn und durchlässig.“ „Wie meinen Sie das, Mark?“ „Die Syrer machen eine Menge mit den Russen.“ „Und wir machen eine Menge mit den USA“, ergänzte der Israeli. „Auch mit dem BND?“ fragte der Amerikaner in einem we iten Gedankensprung. „Wir haben auch mit dem Bundesnachrichtendienst Ko ntakt“, räumte der Israeli ein. „Seien Sie vorsichtig!“ riet der Amerikaner erneut „Beim BND sprechen wir nur mit absolut vertrauenswürdigen Leuten.“ „Ich möchte dazu nur sagen, daß der BND selbst eigene Probleme hat.“ Sie näherten sich dem Flugplatz und hatten nur noch wenige Minuten, um sich zu verständigen. Deshalb fragte der MOSSAD-Chef sehr direkt: „Probleme? Inwiefern?“ „Die Deutschen sind dabei, ihr Ostnetz einzubüßen.“ „Verrat?“ „Was auch immer. Irgendwo sitzt eine Laus, die eine Menge hört und alles, was sie erfährt, weitergibt. Fragen Sie mich
nicht, wer die Laus ist, wie sie es macht und wohin sie was meldet. Aber alle Aktivitäten, die irgendwie auch die Freunde der Sowjetunion berühren, sollten… sollten Sie mit feuerfesten, mit Asbesthandschuhen anfassen. Zum Schutz vor Verbrennungen.“ Der Israeli überlegte, warum ihm Kennan das offenbarte und warum er es erst jetzt, so spät, tat, da bereits eine Operation lief, die nicht mehr zu bremsen war. Wußte Mark Kennan von dieser Operation? Und wenn ja, woher? „Danke für die Warnung! Wir werden sie beherzigen, General.“ „Sie kriegen die Luftbilder.“ „Und Sie sollten sich auf uns verlassen.“ „Wie Sie sich auf uns“, versicherte der Amerikaner. „Das soll ich Ihnen noch vom Präsidenten ausrichten. Wir stehen immer auf Ihrer Seite. Es sei denn, Ihre Luftwaffe belegt Damaskus und Bagdad mit Atombomben.“ Der Israeli nahm es hin wie einen makabren Scherz. Aber sein Grinsen war gefletscht wie bei einer Teufelsmaske.
Aus Damaskus lief ein Funkspruch über die Antennen des Hochhauses, in dem das MOSSAD-Hauptquartier untergebracht war. Der Funkspruch bestand aus zwei Worten. Er wurde entschlüsselt und lag wenige Minuten später auf dem Schreibtisch des Sektionschefs für Operation/Inland. Sofort rief er seine engsten Mitarbeiter zusammen. Als die Türen geschlossen waren, hob er den Zettel. „Heute nacht.“ „Früher als erwartet.“ „Er wird seine Gründe haben.“ „Wo?“
„Golan. Bei Nhal-Geshur.“ „Dann lasse ich eine Gasse im Minenfeld räumen.“ „Sie sollen die Elektrozünder abschalten.“ „Von wann bis wann?“ „Wann ist Monduntergang?“ Sie ermittelten den Zeitpunkt. „Dann ab Null zwei Uhr, würde ich sagen.“ „Für eine Stunde.“ „In einer Stunde muß er durch sein. Oder er kommt niemals.“ „Wenn Josha meldet, daß er kommt, dann ist er da.“ Darüber gab es keine Worte zu verlieren. Josha war der erfolgreichste Agent, den sie je in Syrien gehabt hatten. Wenn es ihm gelungen war, die Aufmarschpläne für den West-Golan im Hautquartier des syrischen Armeestabes zu kopieren, dann hatte er damit sein Meisterstück geliefert. Der Sektionschef bestimmte die Einzelheiten. Wann sie losfuhren, mit welchen Fahrzeugen, mit wieviel Mann und bis wohin. Codierte Sprechfunkkürzel wurden vereinbart. Für den besten Geheimdienst reine Routine. Der Empfang eines Agenten, der möglicherweise verfolgt wurde, war Alltagskram. Nach dem Abendessen fuhren sie los. Es war gegen zwanzig Uhr. Im schmalen Israel waren die Distanzen kurz. Von der Hauptstadt bis zum Libanon hundertzwanzig Kilometer. Bis zum Golan eher etwas weniger. Das Land konnte von einer modernen Armee in vierundzwanzig Stunden überrollt werden. – Davor hatten sie Angst. Außerdem zahlten sie gerne mit zehn zu eins zurück. Zehn Schläge gegen einen. Als es Nacht war, fuhren die zwei Landrover auf der Militärstraße des Golan ostwärts. Sie nahmen die Serpentinen ohne Licht. Die Kontrollen im Sperrgebiet gingen lautlos und rasch vo nstatten. Die MOSSAD-Gruppe war angemeldet. Oben auf der Höhe stieg ein älterer Sergeant zu. Er sollte sie führen.
„Sie kennen die Gegend?“ fragte der Kommandoführer des MOSSAD. „Von hundert Spähtruppunternehmen her.“ ,,Die Gasse im Minenfeld ist geräumt?“ „Ich habe es selbst überwacht“, sagte der Unteroffizier. „Ist darauf Verlaß?“ Den Sergeant schien die Fragerei zu nerven. „Ich kenne das Gebiet wie meine Hosentasche.“ Sie ließen die äußeren Raketenstellungen hinter sich. Dann kamen nur noch vereinzelte Bunker, deren Geschütze in Richtung Nava und Damaskus ausgerichtet waren. Hier ließ der Sergeant anhalten. Aber er blieb sitzen und machte keine Anstalten auszusteigen. „Dort“, sagte er, ins Dunkel deutend. „Wo?“ „Wenn Sie die Scheibe reinigen lassen, können Sie das rostige T-vierunddreißig-Wrack erkennen. Dicht daran führt die Minengasse vorbei.“ Der Fahrer stieg aus, kratzte und wischte die Fliegen vom Glas, dann polierte er die Scheibe mit etwas, das nach Spiritus stank. Jetzt konnten sie den alten Russenpanzer deutlich erkennen. Sie saßen da und warteten. Es wurde heiß. Sie öffneten die Türen. Sie wurden müde. Es gab Kaffee aus Thermoskannen, und sie rauchten. Dabei verbargen Sie die Glut in der hohlen Hand. „Bald muß er kommen“, bemerkte einer. „Er müßte schon da sein“, sagte der Mann, der den Einsatz leitete.
Sie warteten mehrere Stunden. Einmal hörten sie von der syrischen Seite her einen Fahrzeugmotor. Sonst nichts. „Neben dem Russenpanzer bewegt sich was“, flüsterte der Sergeant. Aber bald wurde er unsicher, denn die anderen sahen nichts, trotz der Nachtgläser. Gegen Morgen wurde es dunstig und kühl. „War es wirklich diese Nacht?“ fragte einer der MOSSADMänner. „Nicht gestern und nicht morgen“, erklärte der Sektionschef, der nervös auf Josha, seinen besten Mann in Syrien, wartete, „sondern heute. Und jetzt ist die Zeit um.“ „Er kommt nicht mehr.“ „Aber die Dämmerung bestimmt“, warnte der Sergeant. „Entweder Sie fahren jetzt zurück oder erst morgen nacht. Dieser Hang wird von syrischen Granatwerfern erreicht.“ „Wir sind nicht im Krieg.“ „Aber sie ballern auf alles, was sich bewegt, und behaupten, es wären El-Fatah-Terroristen gewesen.“ Der zweite Landrover mit der Funk- und Notausrüstung, die sie stets mitführten, bekam den Befehl zu wenden. Der Sektionschef gab dem Fahrer ein Zeichen. „Nach Hause.“ Doch vorher schaute er noch einmal durch das Nachtglas. Diesmal aus einem anderen Winkel. Und dann fluchte er. „Tatsächlich. Neben dem Panzer, nein, mehr dahinter, steht ein Jeep.“ Dabei blickte er den Sergeant an. „Könnte unser Mann sein. Was meinen Sie, Sergeant?“ „Dann ist ihm was zugestoßen.“ Zwischen dem letzten Bunker und der Mulde, wo der ausgebrannte T-34 stand, waren es bestenfalls hundertfünfzig Meter. Im Niemandsland eine längere Strecke als auf einem schattigen Waldweg zehn Kilometer.
„Wir müssen hin.“ „Klar, müssen wir.“ „Ist es zu schaffen?“ „Wir versuchen es“, flüsterte der Sergeant. Sie trugen grüne Tarnoveralls. Der Sektionschef und der Sergeant gingen los. Geduckt, jede Bodenwelle und jeden Fels, und sei er nur kniehoch, nutzend. Sie warfen sich hin, robbten, sprangen auf, hasteten zehn, zwanzig Meter, warfen sich wieder hin. Sie umgingen das Panzerwrack so, daß sie sehen konnten, was mit dem Jeep, den der T-34 halb verdeckte, los war. Auf vierzig Meter Entfernung nahm der Sergeant sein Fernglas. „Im Jeep ist keiner.“ „Und was ist das Runde vorn auf der Motorhaube?“ „Könnte ein gerolltes Tarnnetz oder ein Stahlhelm sein.“ „Ist es aber nicht.“ „Nein, ist es nicht“, bestätigte der Sergeant. Sekunden später wußten beide, was es war. Die Erkenntnis ließ sie vor Schreck fluchen. Es war vi ehisch, unmenschlich, aber das war ihre Art der Rache. „Ich fürchte, sie haben ihn erwischt“, sagte der Sergeant. „Dann war es Verrat.“ „Ihr Mann?“ „Ich muß es genau wissen“, entschied der MOSSADOffizier. Um beweglicher zu sein, löste er den Riemen des Fernglases vom Hals und nahm den Gürtel mit der schweren Waffe ab. „Sie wollen hin?“ „Ich muß es wissen.“ „Das kann Sie umbringen. Die Syrer haben überall Scharfschützen postiert.“ „Die schlafen noch.“ „Nein, die warten auf Sie.“ Doch der MOSS AD-Mann war nicht aufzuhalten. Er sprang
auf und rannte los, immer im Zickzack wie ein Hase, der gejagt wurde. Es kam bis hinter den Panzer, ohne daß ein Schuß fiel. Dann sah der Sergeant ihn nicht mehr. Es dauerte mehrere Minuten. Jetzt fielen Schüsse. Erst ve reinzelt, dann MG-Salven. Eine explodierende Werfergranate schleuderte den MOSSAD-Offizier geradezu in die Mulde neben den Sergeant. Die Syrer schossen, was das Zeug hielt. Die Granaten wischten heran, rissen krachend Krater in den Sand. Aber allmählich hörte das Feuer auf. Der MOSSAD-Offizier war unverletzt. Aber der Zorn hatte sein Gesicht gezeichnet. „Es ist Josha“, keuchte er. „Es war Josha. Unser bester Mann.“ „Sie haben ihm…“ „Sie haben ihm den Kopf abgeschnitten. Es ist sein Kopf. Und… sie haben ihm das Glied abgeschnitten. Er hat es zwischen den Zähnen.“ „Mein Gott“, sagte der abgebrühte Sergeant. „Das sind so die Späße der Syrer.“ „Wenn sie Josha hatten, dann haben sie die anderen auch. Erst mußten sie die anderen kriegen, ehe sie Josha bekamen. Er war der härteste. Er hätte nie etwas verraten.“ „Wer verriet es dann?“ fragte der einfache Sergeant, der vom Geheimdienst wenig Ahnung hatte. „Das“, erwiderte der MOSS AD-Offizier, „ist die schwerste Frage, die mir jemals gestellt wurde.“ Ehe der erste Sonnenstrahl hinter den Bergen hervo rkroch, zogen sie sich in den grauen Dunst zurück.
5. Der Computer des BND-Hauptquartiers in Pullach vor München druckte eine Menge Papier aus. Mehr als je ein Lexikon über das Stichwort Luzifer lieferte. Es gab weltweit, wenn man lange genug zurückging, mehr als ein Dutzend Vorgänge mit dem Decknamen Luzifer. Militärische Operationen, Kommandounternehmen, GeheimdienstEinsätze, auch wissenschaftliche Projekte und Forschungsvo rhaben. „Alles Kappes.“ Urban sortierte weiter aus. „Eine FBIGroßfahndung gegen die Cosa Nostra hatte den Code Luzifer. Vulkanforscher krochen durch erloschene Schlünde ins Erdinnere. Projektname Luzifer. Ein Stahlwerk am Rhein hat ein neues Gußverfahren nach Luzifer, dem Herrn der Hölle, benannt. Eine Weltraumsonde, die sich der Sonne näherte und die dort verglühte, hieß Luzifer. In Vietnam lief ein Vorstoß in die Ebene der Tonkrüge unter dem Codenamen Luzifer.“ „Luzifer hier, Luzifer da“, zitierte Sebastian, der Opernfreund, in Anlehnung an den Barbier von Sevilla. „Alles Lametta vom letzten Christbaum“, sagte Urban. „Abgeschlossene Geschichten. Nichts, was noch läuft.“ Er schrieb Luzifer in Druckbuchstaben auf ein Blatt, ungefähr in die Mitte. „Luzifer muß unserem Russen sehr am Herzen gelegen haben, ungefähr so wie ein Tiefschlag auf die Nieren“, äußerte Sebastian. „Es war das letzte, woran er dachte.“ „Zuletzt denkt man an etwas, das einen glücklich oder sehr unglücklich macht.“ „Vielleicht ist Luzifer an seinem Tod schuld“, mutmaßte Urban. „Und er wollte uns vor ihm warnen, damit wir andere warnen.“ Urban versuchte, das Wort auf dem DIN-A4-Bogen umzu-
stellen: Refizul-Fizerul-Ulzefir… Es wurde nichts daraus. Das Telefon riß ihn aus seinen Überlegungen. Die EDV-Abteilung meldete sich. „Wir haben versucht, Luzifer sowohl begrifflich wie buchstabenmäßig umzugruppieren.“ „Bin auch gerade dabei“, sagte Urban. „Habt ihr was?“ „Haben Sie etwas, Oberst?“ „Nein.“ „Aber wir. Wie gefällt Ihnen Lucca?“ „Eine Stadt in Italien. Zu weit weg von Luzifer.“ „Lucyfere, ein Baum.“ Urban notierte. Immerhin besser als nichts. „Oder Lucia, Santa Lu-ci-a.“ „Neapolitanisches Volkslied“, bemerkte Urban. „Eher nein als ja, Aber…“ Er hatte etwas gespürt, einen Funken, ausgelöst durch eine Abkürzung von Lucia, und das hakte sich in seinem Gehirn fest. „Lucy!“ rief er. „Verdammt, mit Lucy, da war mal etwas. Schon eine Ewigkeit her.“ „Eiszeit oder Steinzeit?“ „Sagen wir späte Eisenzeit“, scherzte Urban. „Laßt den großen Bruder auf Lucy herumkauen! Gab es nicht eine Spionageorganisation dieses Namens?“ „Mal sehen“, verabschiedete sich der Mann in der EDV. Oberst i. G. a. D. Sebastian hatte mitgehört. Er lehnte sich zurück und kratzte sich mit dem Virginiakiel hinter den Dakkelohren. „Ja, Lucy. Ich erinnere mich. Schweiz. Zweiter Weltkrieg. Eine Riesensauerei damals. Aber näher befaßt habe ich mich nie damit.“ Urban ging ins Casino essen. Es gab Ochsenfleisch. Es war zäh wie die Hornhaut eines Massai-Kriegers, der sein Leben lang barfuß durch die Steppe gerannt war.
Er ließ es stehen und verzichtete vorsichtshalber auch auf den Nachtisch. Der Casinochef hatte es bemerkt und lud ihn zu einem Gratisdrink ein. „Zur Verdauung“, meinte er. „Gibt nichts zu verdauen“, sagte Urban. „War einfach super, dein Braten.“ „Die Bauern können ihre alten Kühe schließlich nicht an die Wand hängen.“ „Aber müssen sie die immer bei uns abladen?“ „Scotch?“ fragte der Casinowirt. „Danke!“ Scotch mit Bourbon?“ „Nur Bourbon, aber nicht von dem da.“ Urban wurde über Lautsprecher ausgerufen. Er fuhr in die Operationsabteilung. Dort lag ein Zettel auf seinem Schreibtisch. Eine Nachricht seiner Sekretärin: Wg. Lucy. – Buchtitel: Lucy, der Mann im Dunkel. Untertitel: Aufbau und Wirkung einer Spionageorganisation. Von Rotenfels. Urban ging ins Vorzimmer. – Niemand da. Urban rief in der Computerabteilung an. – Keiner da. Endlich meldete sich eine Art Azubi. „Stichwort Lucy.“ „Weiß Be-bescheid“, stotterte er. „Wir ga-gaben alles nach o-oben.“ „Der Autor heißt Rotenfels. Haben wir das Buch im Archiv?“ „Leider n-nein.“ „Was wißt ihr über den Autor?“ „N-nichts, bis jetzt.“ „Hoffentlich ist das Buch überhaupt von Rotenfels.“ „Von einem vo-von Rotenfels“, wurde Urban berichtet. Er bekam den Namen des Verlags.
Leider war das Buch vergriffen. Aber Urban kannte einen von Rotenfels. Nur der kam in Frage. Urban rief in Bonn beim Verteidigungsministerium an. Er hatte dort Freunde sitzen. Alle in seinem Alter, alle Null-Bockno-future-Typen wie er. „Ist General Rotenfels noch aktiv?“ fragte Urban. „Ottokar von?“ „Ja, Ottokar von.“ „Moment bitte!“ Es dauerte nicht lange. „General Ottokar von Rotenfels. Vorletzte Dienststellung: Kommandeur einer Panzer-Division. Dann Chef der Panzerausbildung der Bundeswehr. Chef der Panzer-Entwicklungs- und Testabteilung. Jetzt NATO-Oberkommando, Abteilung…“ Urban unterbrach den Informanten. „… Abteilung konventionelle Streitkräfte Panzer/Panzerabwehr. Danke! Hat er nicht ein Buch geschrieben?“ „Vom General aufwärts haben sie fast alle Bücher ve rfaßt. Das gehört dazu wie bei Rundfunksprechern die Memoiren.“ „Über Lucy.“ „Ich lese nur Krimis“, gestand der Informant bei den Landesverteidigern, „oder Science-fiction wie Perry Rhodan. Aber wenn du mehr wissen willst…“ „Ich kenne Rotenfels“, sagte Urban. „Wir hatten allerdings in den letzten Jahren wenig Kontakt. Gib mir seine Privatnummer!“ Urban bekam eine siebenstellige Nummer in Brüssel.
Robert Urban, BND-Agent Nr. 18, speicherte die Brüsseler Nummer von General Ottokar von Rotenfels in das Selbstwählsystem seines Autotelefons und fuhr nach Hause. Es war Stauzeit. Vor jeder Ampel hundert Meter Autoschlange. Er nahm einen Schluck Bourbon aus seiner silbernen
Reisebuddel. Dann schob er eine Kassette in den Player. Es war ein altes Tonband von einer noch älteren Platte mit Musik von vor fünfzig Jahren. Aber ein unvergleichlicher BigBand-Sound, gegen den zehn Popgruppen sich so anhörten wie das Winseln aus dem Armenhaus. Vierzig Mann waren nur da, um Musik zu spielen, und nicht, um rumzuhopsen. Das kam nicht wieder. Er näherte sich Schwabing und seiner Wohnung, als die rote Diode in der Selbstwählautomatik anzeigte, daß sie Verbindung hatte. Der General meldete sich mit einer Stimme wie eine Fastnachtsschnarre an einem saukalten Faschingsdienstag. „Urban“, sagte Urban. „He, Bobby, Bob, Bobbens!“ „He, Ottokar, alter Panzerknacker!“ Sie waren per du. „Wußte gar nicht, daß du jetzt auch Dichter bist. Betrifft Lucy. Wir haben da ein Problemchen.“ „Laß mal rauschen, Kumpel!“ Urban setzte ihn so kurz und so weit ins Bild, wie dies über Autotelefon, Funkstrecke und Fernleitung ratsam war. „Kauf dir mein Buch, Dynamit!“ „Es ist leider vergriffen.“ „Ich schick’ dir eines.“ „Das dauert zu lange“, befürchtete Urban. „Alles, was du über Lucy weißt, steht ja doch nicht drin.“ ,,Da magst du recht haben, Mister Saubermann.“ „Wir kamen von Luzifer auf Lucy“, sagte Urban. Der General verstummte mit einemmal. Der Grund mußte ein besonderer sein, denn Urban kannte ihn als kalt wie ein Eisklotz, als einen Mann, der nur Nahrung zu sich nahm, weil sein Körper sie zur Erhaltung des Gehirns brauchte. Urban versuchte, sich an Rotenfels’ Gesicht zu erinnern. Es war immer blaß gewesen, hakennasig, schmallippig, helläugig. Aber in der Form erinnerte er an einen ostelbischen Edelmann.
„Mir fällt da etwas ein“, sagte der NATO-General. „Mark Kennan rief mich an.“ „Der Amerikaner?“ „Wir sitzen im gleichen Stockwerk. Was euch mit eurem Mann in Moskau passierte, passierte den Israelis mit einem Top-Agenten am Golan.“ „Das stinkt nach einer Riesensauerei, General von Rosenheimer, Sir.“ „Wenn das so weitergeht“, pflichtete der General Urban bei, „dann landet die NATO noch bei der Müllabfuhr.“ „Noch sind ja wir da“, betonte Urban. „Ich brauche alles über Lucy. Alles und so schnell wie möglich, im Sinne von blitzartig.“ Der General schien nachzudenken. „Ich muß morgen nach Darmstadt. US-Headquarters. Panzerdepot.“ „Wann?“ „Vorher oder nachher.“ „Meinetwegen ungefrühstückt. Bahnhof, Flugplatz, Autobahn, egal wo, Hauptsache daß.“ „Für die NATO tue ich alles, für die Bundeswehr so gut wie alles und für den BND fast alles“, scherzte der General. „Ich nehme den Nachtzug. Ankunft Frankfurt gegen vier Uhr.“ „Ich bin da“, versprach Urban.
Generäle veränderten sich, solange sie Dienst taten, kaum. Sie bauten erst ab, wenn sie pensioniert wurden. – Bis dahin hatte Rotenfels noch ein paar Jahre. Nicht, daß sie sich in die Arme fielen und abküßten. Sie schüttelten sich kraftvoll die Hände wie alte Freunde. Das Wort Kamerad vermied Urban, Er war kein Waffenbruder des Generals. Sie kannten sich von der Bundeswehrhoch-
schule, von Manövern, Seminaren und NATO-Tagungen. Irgendwann einmal, besoffen und zu später Stunde, hatte Rotenfels ihm das Du angeboten. Urban hatte es akzeptiert. Es war keine Karnevalslaune gewesen. Sie duzten sich trotz des Altersunterschiedes von dreißig Jahren noch immer. Der General schaute auf die Uhr. „In einer Stunde holt mich der Amerikaner hier ab.“ „Das reicht“, sagte Urban. Sie gingen in eines der Frühcafes. Der General übergab Urban sein 300-Seiten-Buch, „Mit Widmung“, betonte er extra. „Ich werde jedes Wort lesen.“ „Du solltest lesen, was zwischen den Zeilen steht.“ „Warum“, fragte Urban, während er den Kaffee umrührte, „hast du es verfaßt?“ „Vor zwanzig Jahren schon.“ „Was war der Grund dafür?“ „Meine Doktorarbeit mit dem Thema: Kann Spionage den Ausgang von Kriegen entscheiden.“ „Kann sie es?“ „Ja“ „Gibt es inzwischen neue Erkenntnisse?“ „Einige schon.“ Sie nahmen die Tassen vom Tresen und setzten sich in eine Ecke. Nun begann der General, der wie kein anderer wußte, worauf es ankam, mit der Inhaltsangabe seines Buches. „Lucy oder auch der Lucy-Ring“, sagte er, „war der Deckname für einen sowj etischen Agenten in der Schweiz.“ „Wann?“ „Lucy hatte im ersten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft. Wie er zwischen 1918 und der Machtergreifung Hitlers zum Sympathisanten der Sowjetunion wurde, ist weitgehend unbekannt. Möglicherweise war er schon Antreiber bei der Matrosenrevolte, gründete die Soldatenräte in Berlin, bekam Kontakt mit Rosa Luxemburg, mit Thälmann und mußte 1933
nach Rußland flüchten, wo man sein Talent für konspirative Arbeit entdeckte. „ „Für Spionage“, präzisierte Urban. „Lucy kannte aus dem ersten Weltkrieg zahlreiche Offiziere und Gesinnungsgenossen. Im Trommelfeuer an der Westfront, in den Unterständen vor Beginn der Offensiven wurde viel diskutiert. Bei solchen Gesprächen, angesichts des drohenden Todes, ließen viele die Masken fallen. Da trennten sich die Kaisertreuen von denjenigen, die glaubten, daß der Krieg ve rloren sei und daß es galt, aus den Trümmern ein neues Reich aufzubauen.“ „Eine Demokratie“, fügte Urban hinzu. Ohne den Einwand zu beachten, fuhr der General fort. „Über die Reichswehr und die spätere Wehrmacht machten einige dieser Offiziere Karriere. Sie erreichten hohe Dienstgrade, kamen zu Stellungen mit Macht und Einfluß. Fünf dieser alten Kameraden Lucys waren inzwischen Generäle. Weitere acht, Angehörige des sogenannten Freundeskreises, taten Dienst im Oberkommando der Wehrmacht.“ „Und Lucy?“ Rotenfels hatte sich einen dünnen Zigarillo angesteckt, der so gut in sein Gesicht paßte wie ein Stilett in einen Bauch. Er handhabte ihn mit zwei Fingern, als hätte er es vor dem Spiegel geübt. „Lucy richtete in der Schweiz ein Büro ein. Über Lucys Büro liefen auch Informationen anderer Spionagegruppen, der Roten Kapelle etwa Sie flogen aber bald auf, weil sie unprofessionell geführt wurden. Zu Spionage paßte nämlich eines nicht: Fanatismus. – Wo war ich stehengeblieben?“ „Beim Freundeskreis.“ Urban nannte das Stichwort, das ihm besonders wichtig schien. „Sie alle waren glühende Nazigegner“, machte der General weiter, „und daher bereit, Hitler zu bekämpfen. Das war am besten möglich, wenn Deutschland den Krieg verlor. Sie alle
hatten, wie erwähnt, Positionen inne, von wo aus sie die Ereignisse beurteilen und beeinflussen konnten. Davon machten sie Gebrauch. Alle wichtigen Informationen leiteten sie sofort nach Zürich.“ „Wie funktionierte das?“ wollte Urban, der die Probleme der Nachrichtenübermittlung kannte, wissen. „Prächtig klappte es“, erzählte Rotenfels. „Die Übermittlung war so dreist wie einfach. Die heißen Nachrichten wurden verschlüsselt und über das Fernsprechnetz an Lucy in die Schweiz durchtelefoniert. Der leitete sie dann über intakte Leitungen via Madrid – Lissabon – London – Stockholm nach Moskau weiter. Oft erreichten Geheimbefehle Moskau schneller, lagen früher auf Stalins Schreibtisch im Kreml als bei den deutschen Frontkommandeuren.“ „Und das lief munter weiter bis Kriegsende?“ staunte Urban. „Vergiß nicht, es handelte sich um die Arbeit von Profis!“ „Wenn sie so große Profis waren“, fragte Urban, „woher weiß man dann, wie sie vorgingen und was sie bewirkten?“ „Eine berechtigte Frage“, antwortete der General, „und zwar insofern, als Moskau bis heute, und dies aus gutem Grund, die Ergebnisse aus dem Lucy-Ring weder bekanntgibt noch bestätigt. Wir haben die Kenntnisse aus anderen Quellen. Lucy beschäftigte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Seine Sekretärin, eine gewisse Tina Galazzi, spielte eine besondere Rolle.“ „Lebt sie noch?“ „Ich habe nicht gehört, daß sie gestorben ist.“ „Und Lucy, der Geheimnisvolle?“ „Starb achtundfünfzig in Luzern.“ Nun interessierten Urban Details von Lucys Arbeit. „Worum machte Lucy sich besonders – hm – verdient?“ Der General hörte die Ironie in der Fragestellung, blieb aber sachlich. „Das begann schon im Jahre vierzig“, sagte Rotenfels. „Lucy warnte Moskau vor einem deutschen Angriff. Damals glaubte
Stalin noch nicht an die Seriosität dieser Quelle und wurde prompt überrascht. Im ersten Rußlandwinter, als deutsche Truppen vor Moskau standen, war das schon anders. Von Lucy kannte Stalin die Versorgungsmängel, wußte, daß die deutschen Landser bei dreißig Grad minus noch in ihren Somme runiformen steckten, daß das dicke Sommeröl in den Motoren versulzte, daß die Artillerie einfror, weil die Schmiermittel nicht auf die Polartemperaturen umgestellt worden waren. So kam es zum ersten schweren Rückschlag. Stalin erfuhr das alles von Lucy, griff an und befreite Moskau aus der deutschen Umklammerung. Der Sieg bei Stalingrad, der Untergang der Sechsten deutschen Armee also, ging auch auf Lucy zurück. Lucy meldete, daß General Hots Panzer nicht durchkommen würden, daß kein Ausbruch geplant war und daß Ende Dezember für jedes Rohr, ob Gewehr oder Kanone, im Schnitt nur noch drei Schuß Munition zur Verfügung standen.“ „Und so weiter und so fort“, bemerkte Urban. Einmal in Fahrt, ließ der General sich nicht mehr bremsen. „Das Unternehmen Zitadelle zur Rettung von Donezbecken und Ukraine im Frühjahr dreiundvierzig wurde bis ins Detail verraten. Die deutschen Armeen liefen ins offene Messer.“ „Gab es hohe Verluste?“ fragte Urban. „Eine Viertelmillion Soldaten“, berichtete der General. „Stalin erfuhr vom Abzug der SS-Panzerdivisionen, nach Italien, von Konstruktionsfehlern an den Tiger-Panzern, die kompanieweise liegenblieben. Er erfuhr, daß Deutschland die Atombombenforschung eingestellt hatte, er wußte vom Bau der neuen Typ-XXI-U-Boote und meldete alles nach London. Stalin erfuhr von den deutschen fliegenden Bomben und Raketen, von V-l und V-2, von neuen Entwicklungen für Luftwaffe, Marine und Heer, Stalin forderte nun vom Widerstand in Deutschland ein Zeichen dafür, daß es ihn gab. Das Zeichen war das Attentat auf Hitler am zwanzigsten Juli.“ Wie General Rotenfels über das alles dachte, war seinem
maskenhaft kalten Gesicht nicht zu entnehmen. „Wie werden diese Dinge von Historikern heute beurteilt?“ fragte Urban. „Sie beschleunigten Deutschlands Untergang.“ „Und die Meinung der Nichthistoriker, wie lautet die?“ Rotenfels zündete den kalt gewordenen Zigarillo neu an. Durch die Gasflamme seines Feuerzeuges hindurch sagte er: „Volkes Meinung ist, daß alles, was auch nur einem deutschen Soldaten das Leben kostete, Verrat war. Und daß alles, was Hitler nicht tötete, auch kein Widerstand gewesen war.“ Urban enthielt sich jeglichen Kommentars dazu. In Gedanken war er schon um Schritte weiter. „Lucy dürfte mithin eine der raffiniertesten Spionageorganisationen des zweiten Weltkrieges gewesen sein.“ „So ist es.“ „Wurde Lucy aufgelöst?“ „Lucy existiert nicht mehr.“ „In der damaligen Form oder überhaupt nicht?“ bat Urban um eine klare Antwort. Der General zögerte jetzt. „Inzwischen gibt es andere, neue Formen von Spionage.“ „Und andere Formen von Geheimnisverrat.“ „Das eine bringt das andere mit sich. Aber völlig auszuschließen ist nicht, daß Lucy, bevor er sein Büro aufgab, für die Zeiten danach vorsorgte.“ „Die Zeit danach wäre die Zeit von heute“, faßte Urban es genauer. Der General nickte zustimmend. „Möglicherweise reicht Lucys Arm also bis in die Gegenwart.“ Das mochte der Experte nicht ausschließen. „Mit neuen Methoden“, erwähnte er, „neuer Technik, neuen Männern.“ „Was ich befürchtete.“
Urban trank aus. Zum erstenmal sah er Rotenfels lächeln. „Dynamit hat immer recht.“ „Nur zur Hälfte“, schränkte Urban ein. „Aber das ist ein verdammt guter Schnitt, Junge.“ „Ich versuche, ihn zu verbessern“, versprach Urban. „Dann sieh dich vor!“ warnte der General ihn. „Diese Leute sind gewiß nicht impotent.“ „Leider. Und wenn sie Nachfolger haben, Erben, Epigonen, dann sitzen die in den höchsten NATO-Kreisen.“ „Dann würde ich mich an deiner Stelle dort mal umsehen“, schlug der General vor. „Erst begehe ich Leichenschändung“, sagte Urban, „und fahre nach Zürich.“ „Vergiß Bern und Luzern nicht“, erinnerte der General ihn. „In Bern ist das Schweizer Militärarchiv und in Luzern Lucys Grab.“ „Blumen werde ich ihm nicht bringen“, fürchtete Urban. Sie gingen hinaus. Es nieselte. Unter einer Bogenlampe stand eine Chevrolet-Limousine mit US-Army-Kennzeichen. Urban und Rotenfels gaben sich die Hand. „Ruf mich an, wenn du Probleme hast“, sagte der General, stieg ein und fuhr weg. 6. Die CIA-Agenten Makenzie und Norton waren mit französischen Pässen, getarnt als Journalisten, in Pakistan eingereist. Weil in Peshawar alle Fremden, die aus Indien kamen, besonders unter die Lupe genommen wurden, hatten sie den Umweg über Karatschi genommen. Jetzt saßen sie in einem miesen Hotel mit Naphtalampen und Wasser aus dem Krug. Als Norton am Morgen erwachte, war
sein Gesicht von Flöhen zerbissen. „Warum lassen sie dich in Ruhe?“ fragte er seinen Kollegen Makenzie. „Ich bin Trinker und Raucher. Außerdem hatte ich mehrmals den Tripper und einmal die Syphilis. So was merken Flöhe.“ Sie kleideten sich an, gingen in die Stadt und achteten darauf, ob man sie verfolgte. Als sie sicher waren, daß niemand sich um sie kümmerte, schlenderten sie in den Bazar. Bei einem Silberschmied feilschten sie um eine langstielige Kanne für türkischen Kaffee. Auf dem Kannenboden war die nächste Adresse eingekratzt. Sie wollten sie aber erst bei Dunkelheit anlaufen. „Ob diesen Burschen zu trauen ist?“ fragte Norton, auf dem Bett liegend und seine Stiche mit Salbe einreibend. „Nein“, meinte sein Kollege. „Aber wie willst du ohne sie über den Khaiberpaß?“ „Das Ganze ist eine Scheißidee.“ Makenzie gab ihm recht. „Es ist der beschissenste Job, den je zwei Männer bekamen. Erst liefern wir die Waffen hinein, jetzt sollen wir sie finden und zerstören.“ „Sie töten sonst die falschen.“ „Richtig. Die Russen sind raus aus Afghanistan, und die Mudjaheddin werden früher oder später das Land zurückerobern. Dann brauchen sie unsere Waffen ohnehin nicht mehr.“ „Sie verscherbeln sie schon heute an ihre arabischen Terroristenfreunde. Ist ein fabelhaftes Geschäft. Eine von uns geschenkte Boden-Boden-Rakete bringt im Libanon locker hunderttausend Dollar.“ „Die Palästinenser werden von den Ölscheichs finanziert. Die haben es doch.“ „Aber die Raketen fallen auf Israel, auf Einrichtungen israelfreundlicher Staaten in Paris, in London, in New York.“ Makenzie war gar nicht in der Lage, alle aufzuzählen. Also
bekräftigte er seine Lagebeurteilung. „Deshalb ist und bleibt es ein Scheißjob“, sagte er. Der Vetter des Kontaktmannes des V-Mannes brachte sie in einem alten Jeep, in dem ein noch älterer Mercedes-Diesel seinen Dienst verrichtete, zum Khaiberpaß. Die Entfernung betrug nur sechzig Meilen, aber auf welch heruntergekommenen Straßen! Der Makadambelag ging in Fetzen. Es gab Löcher, so tief, daß kein Auto mit eigener Kraft wieder freikam. Hoch an Steilhängen entlangführend, war die Straße teilweise in die Tiefe gerutscht. Dort kam es zu stundenlangen Staus. Während an der Ostseite des Passes Lastwagen und Lastkarren sich drängten, Mauleselkolonnen und Kamelkarawanen dahinzogen, herrschte drüben in Afghanistan überall Leere und Kirchenstille. Niemand konnte sagen, wo all die Fahrzeuge, wo die Tausende von Tonnen Schmuggelware, Lebensmittel, Munition, Waffen und Benzin abgeblieben waren. Sie umfuhren die Grenzstation auf Schleichwegen. So auch der Jeep mit Mucha am Lenkrad. Makenzie saß neben ihm, die Karte auf den Knien. „Wo sind wir denn jetzt?“ fragte Norton von hinten. „In einer unfreundlichen Gegend.“ „Gibt es hier überhaupt noch so was wie Gegend?“ „Ich war immer ein guter Pfadfinder. Aber das Gebirge schlägt hier Falten wie die Haut eines alten Indianers. Keine Ahnung, welches Tal das ist.“ „Und der Ruß?“ „Jedes Tal hat seinen eigenen Fluß.“ „Hauptsache, die Generalrichtung stimmt.“ „Die ist okay. Nordosten im Moment.“ Norton befürchtete, daß auch der Fahrer keine Ahnung hatte, wo sie waren. Seit Stunden hatten sie keine Wegetafel passiert. Auch von einer Straße war nichts zu sehen. Nur manchmal ein Steinhaufen mit einem Totenkopf darauf.
„Er hangelt sich daran entlang“, sagte Norton. „Von Haufen zu Haufen.“ Bald stimmte auch das nicht mehr. Der Fahrer hatte die zwar nicht vorhandene, doch immerhin markierte Piste verlassen. „Halt an!“ befahl Makenzie. Er stieg aus, erleichterte seine Blase, nahm einen Schluck Kaffee, steckte sich eine Zigarette an und gab auch dem Fahrer eine. „Du weißt, wo wir sind, Bruder?“ fragte er. „Ich habe Lastwagen mit Minen und Granaten gefahren, Sir.“ „Hier entlang?“ Der Afghane nickte mehrmals. „Überall entlang, Sir.“ „Verdammt, ob es auch hier gewesen ist?“ „Erst nach vorn, dann, als sie angriffen, wieder zurück, Sir. Und jetzt sollen sie wieder nach vorn zur letzten Schlacht um Kabul. Aber die Höhle ist naß. Im Winter kam Wasser von oben. Nicht gut für Granaten.“ Granaten machte das wenig aus. Aber die Elektronik von Raketen war zu empfindlich. Es war zu Versagern gekommen. Die Mudjaheddin hatten Experten zur Wartung angefordert, und die USA hatten Service-Ingenieure zugesagt, falls man die Raketen alle an einem Ort sammelte. Das war geschehen. – Aber leider waren die Stinger und die B-B-Raketen auch in Beirut, in Libyen, in Bagdad und bei den Palästinensern heißbegehrt. Ihr Befehl lautete also, die Zünder so zu manipulieren, daß sie sich beim Aufschlag benahmen wie ein kastrierter Kater bei einer Katze. Notfalls war das Depot zu sprengen. „Nein, Wasser ist nicht gut für Granaten“, sagte Makenzie. Sie fuhren weiter. Schon lange spürten ihre Hintern nichts mehr. Es lag nicht an der Straße. Die war schon seit tausend Jahren so, aber die Federn und Stoßdämpfer des Jeeps waren ausgeleiert oder gar nicht mehr vorhanden.
Der Fahrer, ein ehemaliger Kameltreiber, spürte offenbar nichts. Er leierte irgendwelche Gebete vor sich hin, sang und kaute etwas Grünes, das er ab und zu ausspuckte. Das Tal weitete sich endlich. Ungefähr wußten die Amerikaner jetzt, wo das Depot lag. Sie hofften, es am nächsten Abend zu erreichen. Aber vorher wurden sie abgefangen.
Der eine, der Turbanträger mit der Maschinenpistole, hatte ein Pflaster auf der Nase, der andere ein Auge in Technicolor. Daß sich die einzelnen Gruppen der Freiheitskämpfer nicht vertrugen, ja sich mitunter sogar bekämpften, war bekannt. Offenbar gab es aber auch private Auseinandersetzungen. Die zwei palaverten herum und stiegen dann in den ohnehin überladenen Jeep. Nach einer Stunde Fahrt über Stock und Stein kamen sie in ein zwischen Felsen verstecktes Camp. Männer lagen unter Tarnplanen und in Höhlen, Frauen kochten an Feuern etwas, das nach Hammel stank. Die Amerikaner wurden zum Anführer gebracht. Er fragte, wer sie seien und was sie hier suchten. Sie sagten es ihm, und der Anführer behauptete: „Unsinn, die Waffen sind in Ordnung.“ „Schon mal etwas von Korrosionsvorsorge gehört?“ entgegnete Makenzie. „Keine Klugscheißerei“, bat der Anführer sich aus. „Die Dinger brauchen regelmäßige Wartung.“ „Warum schicken sie uns dann solchen Mist?“ schrie der Anführer. „Entweder Sie machen kehrt und fahren zurück, oder Sie legen sich schon mal eine Plastikkniescheibe zurecht.“ Wie es aussah, meinte er es ernst. Zunächst brachte man sie in ein Zelt. Sie bekamen zu essen. Norton tat so, als ob es ihm schmecken würde.
„Schön hier“, sagte er. „Gefällt mir.“ „Du nennst auch ein Scheißhaus einen Palazzo“, sagte Makenzie, „nur um dich einzuschmeicheln.“ „Weißt du was Besseres?“ Makenzie wußte nichts Besseres, Der erste Ärger des Anführers war bald verraucht. Aber er bestand darauf, daß sie zum Paß zurückfuhren. Man wollte ihnen zwei Mann als Begleiter mitgeben. „Und das so kurz vor dem Depot“, sagte Norton. „Das kostet uns unser Ansehen.“ „Immer lächeln“, riet Makenzie ihm. „Wie denn, wenn du auf die Schnauze gefallen bist?“ Sie bekamen Matratzen. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Es war kalt im Zelt. Ständig schlichen Posten um sie herum. In der Nacht zog lärmend ein Trupp los. Später wurde in der Ferne geschossen. Am Morgen ballten sich schwarze Wolken über den Bergen zusammen. Die Linie der Grate wurde blaß und unscharf. Makenzie frühstückte Whisky aus seiner Feldflasche. „Wie geht’s?“ fragte Norton. „Hervorragend!“ Makenzie schaute einem Mädchen nach. „Tolle Weiber! Hübsch und jung. Leider habe ich meine Gummis vergessen.“ „Hübsch und jung bleiben sie hier nicht lange.“ „Dann muß man sich beeilen.“ Makenzie trank, und Norton suchte Flöhe. „Trink nicht soviel“, sagte er. „Ich kenne nur noch ein Ziel“, sagte Makenzie. „Wenn mein Blut vom Saufen blau ist, machen sie mich zum Ehrenbaron.“ Der mit dem bunten Auge kam und brachte sie zum Anführer. Er war wie ausgewechselt und total scheißfreundlich. „Funkspruch vom Hauptquartier“, sagte er. „Sie sind die angemeldeten Experten. Das wurde soeben bestätigt. Sie genie-
ßen meine volle Unterstützung. Wir brechen sofort auf. Können Sie reiten?“ „Seit meiner Kindheit, Sohnemann“, sagte Makenzie, „reite ich alles, was mindestens zwei Beine hat.“
Das Depot war bis obenhin voll. Ausreichend für mehrere Offensiven. Für die letzte Schlacht um Kabul reichte es allemal. Die mißtrauischen Mudjaheddin überwachten jeden Handgriff. Doch die CIA-Agenten spannten sie ein, ließen sie Raketen aus den Behältern ziehen, nach der Überholung wieder einpacken und stapeln, bis die Aufpasser vor Müdigkeit unaufmerksam wurden. „Wenn je ein Mechaniker mein Auto so gewartet hätte, wü rde ich ihn von Pennsylvania bis Ohio in den Arsch getreten haben“, sagte Norton. „Hauptsache, sie merken es nicht.“ „Man muß es mit falscher Bedienung erklären.“ „Nur wenn die Sprengung nicht hinhaut.“ Makenzie arbeitete gerade am hochkomplizierten Inneren eines Raketensprengkopfes. Er prüfte das Infrarot- und das Lasersystem. Dabei trennte er einen Draht durch, den man ihm als wichtig erklärt hatte. Im Grunde hatte er keine Ahnung von dieser Wahnsinnstechnik, Er wußte nur, wie man sie kaputtmachte und wie man in den Köpfen eine Selbstmordschaltung hinterließ. Eines der Ersatzteile war ein Digital-Zeitzünder. Norton drückte ihn in den Sprengstoff. – Laufzeit hundert Stunden. Es war einer der letzten Handgriffe, mit dem sie nach einer Drei-Tage-Arbeit diesen Zünder aktivierten. Makenzie erklärte dem mit dem gelb werdenden Colorauge, daß sie fertig seien. Der Mudja meldete es per Funk dem Anführer. Der allerdings erteilte einen sonderbaren Befehl – nämlich, die Tore des
Depots zu schließen und zu sichern, aber die beiden Amerikaner als Gefangene darin zurückzulassen. „Und das ohne Whisky“, war Makenzies einziger Kommentar. „Nun wird es nichts mit dem Ehrenbaron.“ „Man darf nie aufgeben“, sagte Makenzie. „Wir werden mit einer Rakete die Tore freiballern.“ Er hatte seine Flasche bis auf den letzten Tropfen geleert und grinste den mit dem bunten Auge an. „Nur zu unserer Sicherheit“, sagte der Mudja. „Und wir sollen hier krepieren?“ „Ihr habt genügend Konserven. Auch Wasser gibt es in Hülle und Fülle. Es kann sich nur um ein paar Monate handeln.“ „Na, wunderbar!“ sagte Norton. „Ich bin echt begeistert. Hier gibt es zumindest keine Flöhe.“ Doch dann kam alles anders. Es war die Rettung und doch nicht. Mit einemmal veränderten sich die Umrisse der Felsen, die das Depot umgaben. Sie bekamen merkwürdige Zacken. Schmal, ungefähr fünf Fuß lang. Es waren Männer, schwerbewaffnete Soldaten der afghanischen Armee. Sie ballerten wie die Wilden alles zusammen. Was am Leben blieb, hob die Arme und ergab sich. Die Soldaten kletterten herunter. Einer von ihnen, der anders aussah als je ein Mann aus Afghanistan, sagte auf englisch: „Mister Makenzie und Mister Norton.“ „Makenzie ist ein Fluß und Norton ein Motorrad“, antwortete Makenzie. Der andere lächelte nur über den Scherz. Als er fortfuhr, erkannten sie in seinem Englisch den russischen Akzent. „Wir haben Informationen“, sagte der Mann ohne Bart und Turban, „daß Sie CIA-Agenten sind. Sie haben uns eine Menge Arbeit abgenommen. Zum Dank dafür, daß sie diesen Dreck entschärften, müssen Sie nicht sterben, sondern dürfen den
Rest Ihres Lebens in einem Gefangenenlager fristen.“ Makenzie ahnte das Schlimmste. „In Sibirien.“ „Ebendort“, bestätigte der Mann, der entweder russischer Offizier oder KGB-Agent war. „Irgendwo“, sagte Norton auf dem langen Abtransport, „sitzt hier ein Verräterschwein.“ „Der korrekte Name für so einen ist Sau“, verbesserte Makenzie. „Eine Verrätersau also.“ Man brachte sie ins Landesinnere. Sie waren gefesselt. Nach mehreren Tagen auf einer LKW-Pritsche kamen sie zu einem Flugplatz. Sie wurden in einen Transporter verladen, der sie nach Norden mitnahm. Über die Grenze. In die endlosen Weiten der UdSSR. 7. Der BND-Agent Robert Urban besuchte in der Schweiz weder das Grab von Lucy in Luzern noch das Armeearchiv in Bern. Er begnügte sich mit Zürich. Zunächst schien alles einfach. – Die Dame stand sogar im Telefonbuch. Tina Galazzi. Seefeldkai. Hausnummer. Urban kannte die Gegend. Sie war mit das Feinste, was Zürich bot. Alles, was am See lag, war Erste Klasse. Entweder war Tina Galazzi zu Geld gekommen, oder sie hatte gelebt wie ein Eichhörnchen und viele Sommer lang für den Winter gespart. Vorsichtshalber rief Urban gar nicht erst an. Es war keine Villa, sondern ein Apartmenthaus. Baujahr um anno sechzig herum. Damals waren hier Wohnungen noch erschwinglich gewesen. Er versuchte, sich ein Bild zu machen.
Tina Galazzi war Sekretärin gewesen. Lucy war 1958 gestorben. Vielleicht hatte er sie vorher hoch abgefunden. Während des Krieges, um 1940 herum, hatte er sie angeheuert. Damals war sie vielleicht zwanzig Jahre alt gewesen. Dann war sie jetzt mindestens siebzig, schätzte er. Urban rasierte sich, verwendete – gegen seine Gewohnheit – eine duftende Lotion, machte sich fein und fuhr hin. Wie alle alten Leute war sie Besuchern gegenüber aufgeschlossen. Er gab sich als Historiker aus. Sie ließ ihn ein, bot Plätzchen und Tee an. Doch als er zur Sache kam, verschloß sie sich wie eine Blüte, wenn es dunkel und frostig wird. Über ihre Tätigkeit für Lucy war aus ihr so gut wie nichts herauszuholen. Sie gab nur zu, was jeder wußte. „Ich habe für ihn gearbeitet“, sagte sie. „Den Rest entnehmen Sie auch nicht meinen Memoiren, denn ich schreibe sie nicht, obwohl mir dafür eine halbe Million Franken geboten wurde.“ Urban lehnte sich zurück. „Und warum nicht?“ „Für wen sollte ich es tun?“ „Geld stinkt nicht. Lucy ist kein Geheimnis mehr. Nur auf den Klatsch kommt es heute an.“ „Was wissen Sie schon, junger Mann.“ Offenbar steckte doch noch mehr hinter Lucy. Gewi ß gab es Dinge, die niemand erfahren sollte. Urban wußte im Augenblick noch nicht, wie er sie in den Griff bekam. Die Exsekretärin war geistig noch voll da. Zumindest hatte sie noch so viel Verstand wie Schönheit. Ihr Haar war gefärbt, doch es umgab ein nahezu faltenloses Gesicht. Entweder hatte sie keine Falten oder ein perfektes Make-up. Ihre Wohnung war geschmackvoll eingerichtet. Sie trug einen seidenen Hausanzug, der nicht unter sechshundert Franken zu bekommen war, und Urban überlegte noch immer, wie er sie
packen konnte. „Madame“, setzte er an. „Es gibt zwei Möglichkeiten: entweder das Andenken an Lucy zu pflegen wie eine Grabstätte oder darüber zu sprechen, ohne deshalb seinen Nachruhm zu mindern.“ Sie lehnte sich zurück. Ihr Busen war zweifellos das Ergebnis eines erstklassigen BH, aber ihr Temperament war noch reine Natur. „Geld“, sagte sie, „kann man nicht mitnehmen. Stolz und Loyalität hingegen schon.“ „Wohin?“ fragte er. „Ins Grab?“ „Die Erinnerung an diese Zeit ist Teil meiner letzten Jahre.“ „Und wie“, setzte Urban erneut an, „denkt Ihre Tochter darüber, Madame?“ Sie zuckte zusammen. Ihre Lippen wurden schmal. Sie zerknüllte ihr Taschentuch. Mehr zeigte sie nicht. Sie war eine Frau von vornehmer Beherrschung. „Wir sind uns einig“, äußerte sie kü hl, „meine Tochter und ich.“ Aber sie wurde zusehends nervöser und geriet in einen Zustand der Erregung. Dabei schaute sie sich hilfesuchend um, und ihre Not wurde erkannt. Die Schiebetür zum Nebenzimmer glitt auf. Im Rahmen stand eine junge Frau, vielleicht halb so alt wie Tina Galazzi und so schön, wie ihre Mutter vor fünfunddreißig Jahren gewesen sein mochte. „Verlassen Sie sofort dieses Haus!“ rief sie mit schneidender Stimme, die sich bei den Vokalen ein wenig überschlug. Urban stand auf. „Sie müssen Lucia Galazzi sein.“ „Wie können Sie es wagen, bei uns einzudringen und sich so unverschämt zu benehmen!“ Sie schritt auf ihn zu. Urban wich ein Stück zurück, weniger aus Angst als aus Höflichkeit.
„Gnädigste“, sagte er. „Es geht um mehr, als Sie ahnen.“ Sie lachte bitter, so als würde die Galle in ihr aufstoßen. „Unter Ihrer Maske sehe ich das Gesicht von Hitler, Göring und Himmler. Sie sind Deutscher und wollen Ihre Rache.“ Urban war perplex. Damit hatte er nicht gerechnet. „Es geht um Dinge“, erklärte er, „die uns alle, Europa, die westliche Welt betreffen.“ Verflucht, dachte er, du redest nur Stuß. Er fürchtete, daß sie gar nicht zuhören wollte. „Machen Sie, daß Sie fortkommen“, stieß sie hervor, „oder ich rufe die Polizei!“ Das letzte Mittel war immer die Wahrheit. Urban zog die Bremse. „In einer Krise würde auch ein Land wie die Schweiz nicht überleben“, erklärte er. „Und wir sind in einer Krise. Lucys tödliche Saat geht jetzt auf. Vierzig Jahre danach. Um das zu verhindern, bin ich unterwegs. Falls Sie das unnötig, ungerechtfertigt oder unbegründet finden… okay, dann bin ich froh.“ Sie faßte den Telefonhörer, hob ihn ab und setzte den Finger an, um den Polizeiruf zu wählen. Urban verabschiedete sich mit bedauerndem Kopfnicken von der alten Dame und dann von ihrer Tochter. Als er ins Hotel zurückfuhr, war ihm eines klar: Noch immer gab es Lucy. Aus dem Grab heraus hatte er seine Roboter an Marionettendrähten, an Stromdrähten oder auch elektronisch bis in die Gegenwart geführt. Anders war das Benehmen der Galazzi-Damen nicht zu erklären.
In den Jahren seines Agentenlebens hatte Urban so viel erlebt, daß er glaubte, es würde nichts Neues mehr geben und er hätte alle Situationen durchgespielt. Bei allem, was in Zukunft noch geschehen würde, könnte es sich nur um Wiederholungen mit anderen Charakteren an anderen Orten zu anderen Jahreszeiten handeln. Doch als seine Hotelzimmertür aufging und Lucia Galazzi hereintrat, ahnte er, daß das eine Premiere wurde. „Lucia wie Lucy!“ rief er. „Was kann ich für Sie tun?“ „Gar nichts“, entgegnete sie glashart. Ein verflucht schönes Weib mit einer verdammt coolen Stimme. „Warum sind Sie dann gekommen?“ „Um etwas für Sie zu tun“, sagte sie. Urban leerte sein Bourbonglas, steckte sich eine MC an und setzte sich, ohne ihr einen Platz anzubieten. „Lassen Sie hören!“ „Nein fühlen“, korrigierte sie ihn. „Okay, dann lassen Sie fühlen.“ Sie trug eine kleine weiße Krokotasche an einer goldenen Kette über der linken Schulter ihres Sommerkostüms. Diese Tasche zog sie von der Seite nach vorn, öffnete die Klappe und griff hinein. „Wie alt sind Sie, Robert Urban?“ Er ließ seinem angeborenen Lächeln freien Lauf. „Fünfunddreißig plus X“, antwortete er. „Lange genug gelebt.“ „Zu lange, fürchte ich manchmal.“ „Und nichts gelernt.“ „Wer lernt schon aus, Gnädigste?“ „Sie haben Ihr Leben satt. Stimmt’s?“ „Mitunter.“ „Dem kann abgeholfen werden.“
Sie nahm die Hand aus der Tasche und hatte darin eine Pistole. Damengröße Kaliber 6,35, schätzte Urban. Sie richtete die Waffe auf ihn. Gelassen blickte er in die Mündung. „Was soll das werden?“ „Bitterer Ernst.“ „So etwas Ähnliches wie Zeugen beseitigen?“ „Jetzt halten Sie den Mund. Jetzt bin ich dran.“ Aber sie schoß nicht. „Was haben Sie zu verbergen?“ fragte Urban. „Eine Menge.“ „Und was ändert mein Tod?“ „Vieles.“ Er verstärkte sein Grinsen. „Wenn es nicht alles ist – vieles ist zuwenig.“ Sie hielt die Waffe beidhändig. Erst visierte sie zwischen seine Augen, dann senkte sie die Waffe dorthin, wo sein Herz war. „Mir ist es genug“, entgegnete sie. „Mord?“ fragte er. „Wir sind im Krieg, da ist es kein Mord, den Gegner zu töten.“ „Die Polizei denkt anders darüber.“ „Erst muß sie mich haben.“ „Und“, fragte er, um sie abzulenken und es hinauszuziehen, „es macht Sie wirklich nicht unglücklich?“ „Im Gegenteil.“ „Dann los!“ forderte er. Gelassen blickte er sie an. Sie zitterte, weil ihr ganzer Körper vibrierte. Ihre Zähne kauten auf den Lippen. Ihre Brauen zogen sich zusammen, ihre Lider senkten sich. Ihr Finger krümmte sich. Sie schoß. – Und traf ihn genau in Herzhöhe. Urban spürte den Schlag, die verheerende Energie der Kugel
nach der Formel Gewicht mal Geschwindigkeit. Er spürte, wie es warm aus der Öffnung, die die Kugel gestanzt hatte, herausfloß. Er saß da wie erstarrt, schloß die Augen und hörte die Tür zufallen.
Was für ein Weib, dachte Urban, was für ein verdammtes Weibstück! Seine Brust schmerzte wie nach einem Hammerschlag. – Und die silberne Whiskybuddel links oben im Sakko, die konnte er wegschme ißen. Vorne hatte sie ein Loch, hinten eine fingerhutgroße Ausbeulung. Die Kugel klapperte darin wie ein Stein, und der Whisky war ihm über Hemd und Hose bis zu den Schuhen gelaufen. Er zog sich aus, ging ins Badezimmer, duschte und konnte es noch immer nicht begreifen. – Was hatte diese Frau veranlaßt, ihn umzulegen? Es gab nur eine einzige Erklärung: In ihren Augen war er zu neugierig, und er wußte schon zuviel, Er zog andere Unterwäsche an und ein frisches Hemd. Später verließ Urban das Hotel, suchte eine Kunststopferei auf und ließ das Einschußloch im Glenchecksakko ausbessern. Dann kaufte er in einem Laden für Jagdausrüstungen eine neue Reiseflasche. Die gleiche Größe, leicht gebogen, um sich der Körperform anzupassen, Silber, mit Korken und darüber als Schraubverschluß ein Trinkbecher. Fassungsvermögen ein Drittelliter. Was gerade reichte, um in Stimmung zu kommen. Im nächsten Bistro trank er mehrere Doppelte. Aber in Stimmung kam er nicht. Er war davon weiter entfernt als je zuvor.
8. Der neueste britische Zerstörer, das erste Exemplar aus der Winston-Klasse, absolvierte seine letzte Probefahrt unter extremen Bedingungen. Sie hatten ihn schon in den Tropen getestet. Jetzt jagte der turbinengetriebene Alleskönner durch die Herbstnebel im nördlichen Eismeer. Das Dreitausendtonnenschiff, geballte Energie, geballte Elektronik, geballte Kampf- und Verteidigungskraft, verringerte seine Geschwindigkeit von 41 Knoten auch im Treibeis nicht. An Bord befanden sich außer der Besatzung mehrere Werftingenieure, ein Abnahmeoffizier der Admiralität und zwei Männer in Zivil. Die Zivilisten verhielten sich merkwürdig reserviert. Allgemein wurde angenommen, daß es sich um Spezialisten des MI6, des Auslandsgeheimdienstes Ihrer Majestät, handelte, Es war Nacht, als auf dem Kontrolldisplay des Navigationsrechners eine bestimmte Zahlengruppe aufleuchtete. 82 Nord – 41 Ost. Einer der schweigsamen Zivilisten wandte sich an den Kommandanten des Zerstörers. „Wir sind da, Sir“, flüsterte er. „Ich weiß.“ Der Commander befahl seinem I. Wachoffizier, einem jungen Korvettenkapitän: „Lassen Sie die Maschinen stoppen!“ Dann bat er den Abnahmeoffizier und die zwei Zivilisten ins Kartenhaus. Er folgte ihnen als letzter. Bevor er das Schott schloß, holte ihn einer der Werftingenieure ein. „Minus siebzehn Grad, Commander“, sagte der Ingenieur. „Ich hab’s gesehen.“ „Das Eis schließt uns binnen weniger Stunden ein.“
„Dachte, Ihr Wunderzerstörer sei alles in einem. Unsichtbar, unhörbar und unaufhaltbar.“ „Nach diesem Anforderungskatalog wurde er konstruiert und gebaut, Sir“, erklärte der verantwortliche Ingenieur, „und getestet.“ „Aber noch nicht erprobt.“ „Die Fahrt verlief bisher zur großen Zufriedenheit aller, Sir.“ „Dann muß das Schiff jetzt beweisen, daß es auch mit dem Eis fertig wird.“ „Wenn die Turbinen abgeschaltet sind, fehlt die Abwärme, um das Eis am Rumpf offenzuhalten, Commander.“ „Kann sich nur um Stunden handeln“, sagte der Commander, „oder um Tage.“ „Bis dahin… Eis ist Eis, Sir. Eis kann sich verhärten wie ein Riff, das ein Schiff festhält. Ähnlich einer eisernen Riesenfaust, die sich mit Stahl verschweißt.“ Der Commander, ein erfahrener Seemann, sagte lächelnd „Sie brauchen mir über Eis nichts zu erzählen, Doktor Levingstone. Ich habe mit einem Eisbrecher die Nordpassage durchbrochen.“ Er stieg über den Süllrand in das Kartenhaus und schloß endgültig das Schott. – Von taktischen Gesprächen blieben die Ingenieure ausgeschlossen. Außerdem hätte sie der Kommandant von Z-01 gerne von ihrem hohen Roß heruntergeholt. Diese Blaupausenmaler behaupteten Dinge, die kein Schiff dieser Welt je erfüllen konnte. Wie es aussah, schaffte Z-01 das vielleicht zum erstenmal. Aber lieber wäre der Admiralität eine kleine Niederlage der Techniker als deren totaler Sieg gewesen. „Gentlemen“, sagte der Kommandant von Z-01 und deutete mit dem Finger auf einen Punkt in der Barentssee, der zwischen Spitzbergen und Franz-Josefs-Land lag. „Wir befinden uns hier. Um diese Jahreszeit operieren so weit oben nur noch U-Boote, Eisbrecher oder Schiffe mit spezialverstärktem
Rumpf. Dies alles trifft für uns nicht zu. Dafür treffen für diesen ersten Winston-Zerstörer andere Dinge zu. Bis jetzt haben wir einige Rekorde gebrochen. Wir sind das schnellste je für den Flottenbedarf gebaute Kriegsfahrzeug jenseits der Schnellbootklasse. Wir sind nicht ortbar, auch nicht aus der Luft, weder mit Radar noch mit Laser. Wir sind völlig antimagnetisch und selbst optisch auf Meilendistanz kaum zu erkennen. Das alles wurde gemessen, getestet und gecheckt. Nun liegen wir über der Route, auf der sowjetische Unterseeboote sich von ihren Polarmeerbasen nach Süden begeben. Unser Einsatz umfaßt zwei Aufgabenbereiche. Erstens…“ Der Commander unterbrach seine Rede und blickte die Anwesenden der Reihe nach an, bis sie genickt hatten, dann fuhr er fort: „Erstens: Ernstfallerprobung unserer elektronischen, akustischen und optischen Unsichtbarkeit. Zweitens…“ Er sprach nun nicht mehr weiter, sondern erteilte einem der Zivilisten das Wort. Der faßte sich ebenso knapp wie der Kommandant. „Da Punkt eins als erfüllt betrachtet werden kann, werden wir hier auf der Lauer liegen und warten, bis das Wild vorbeizieht. Oder besser, unter uns in der Tiefe vorbeischwimmt. Es geht um die neuen sowjetischen U-Boote der Delta-Klasse. Da es bisher nicht gelang, ihre Fähigkeiten einigermaßen abzuschätzen, sind wir es, die folgendes zu ermitteln haben: die Größe und Tonnage dieser U-Boote, ihre Form, ihre Geschwindigkeit, ihre Tauchtiefe, ihren Restmagnetismus, ihre Maschinen- und Schraubengeräusche, die Kühlwassertemperaturen ihrer Atomreaktoren und die Intensität ihrer Strahlung. Um dies alles zu messen, sind wir ausgerüstet. Wie wichtig diese Erkenntnisse sind, brauche ich Ihnen nicht zu erläutern. Von dem, was wir mit nach Hause bringen, hängen künftige Bauprogramme von U-Boot-Jägern ab. Mit allem Drum und Dran.“
Die Bedingungen für den Jäger in Lauerstellung wurden optimal. Erst briste es auf, daß das Eis brach, und es begann zu schneien. Als der Schnee gefallen war, kam Nebel. „Wir sind echte Glückspilze“, sagte der Commander zu dem Beobachter der Admiralität. „Wenn heute noch ein U-Boot auslaufen sollte und wir es kriegen, dann wird man uns in London einen weiteren goldenen Streifen um die Ärmel nähen.“ Dem Beobachter der Lords fehlte noch ein Kolbenring und dem Commander fehlten noch zwei zum Admiral. Aber wi e es aussah, rückten sie diesem Ziel bereits näher. Im Nebel war die Temperatur gestiegen. Ein steter Nordwest brachte die See in Bewegung. Dadurch begann der Zerstörer, der noch immer gestoppt lag, zu schlingern. Die Stabilisatoren konnten nicht eingeschaltet werden, denn sie arbeiteten hydraulisch. Der Druck wurde von Elektromotoren erzeugt, deren lautloser Gang noch nicht absolut sicher war. Außerdem hatten die Russen ihre Horchgeräte in den letzten Jahren stark verbessert. So schlingerte der Zerstörer Z-01 der neuen Winstonklasse bereits vierunddreißig Stunden auf Position, als das Sonar ein Geräusch meldete. Es näherte sich aus 48 Grad, also genau auf der Kurslinie, welche sowjetische U-Boote um Spitzbergen herum nahmen, um an Grönland vorbei durch die Island-Passage in den Atlantik vorzustoßen. Das Geräusch, ein feines tieftöniges Summen, wurde lauter. Der Brite verzichtete auf den Einsatz von Asdic, denn der Asdicstrahl erzeugte auf U-Bootrümpfen ein verräterisches Kieselsteingeräusch. Der Zerstörer verfügte über delikatere Mittel wie Unterwasserschallabtaster und die neuen Mikrofone, die selbst das Muskelknacken einer Flosse am Leib einer Sardine erfaßten. Das Geräusch kam näher. Jetzt registrierten auch die Ultraschallsysteme das Objekt. Sie zeichneten seine Form zunächst
verzerrt, aber dann deutlicher, soweit die Computer mit der Realisation nachkamen, auf den Bildschirm. Alles wurde aufgezeichnet. Die geringste Wasserverdichtung um das Delta-Boot herum, jedes Zehntelgrad von Erwärmung. Sie waren in der Lagt, selbst Sprache und Musik herauszufiltern, alle Kommandos an Bord des Russen, die Unterhaltung der Besatzung und die Musikbänder, die sie abspielte. Die Datenfülle, die herauskam, war größer als erwartet. Nur eines mißfiel dem Kommandanten des britischen Zerstörers. Er äußerte sich kurz: „Er läuft genau unsere Position an.“ „Na und?“ fragte der Mann von der Admiralität. „Zufall?“ „Sehen Sie es mal anders, Commander. Wir liegen genau auf seinem Kurs.“ Daß das sowjetische U-Boot, das tonnagemäßig zehnmal größer als der Zerstörer war, wie von einer Gummischnur gezogen auf sie zukam, mißfiel dem Kommandanten außerordentlich. Sollten sie etwa doch erkannt worden sein? „Distanz zwei Meilen“, kam es von der Elektronik-Zentrale. „Kurs?“ „Gleichbleibend. Unveränderte Geschwindigkeit.“ „Abstand?“ „Einskommasieben Meilen jetzt.“ Wer ihn beobachtete, konnte es mitverfolgen, wie es in dem Kommandanten arbeitete. Er war für das Schiff, dieses Wunderwerk der Technik, und für seine Besatzung, über zweihundert Offiziere, Maate und Matrosen, verantwortlich. „Objekt hält weiter Geschwindigkeit und Kurs. Abstand einskommavier jetzt.“ „Tiefe?“ „Verringert sich. Steigrate ungefähr zwei Yards pro Sekunde.“
„Er taucht auf“, bemerkte der I. Wachoffizier des Zerstörers. Nun traf der Commander eine Entscheidung, ehe es zu spät war. „Beide Maschinen äußerste Kraft voraus. Ruder hart Steuerbord!“ Der Z-01 wurde von sechs hintereinandergeschalteten Turboprop-Motoren angetrieben, die ihre hunderttausend PS auf vier unhörbare Propeller warfen. Sie gingen sekundenschnell auf volle Leistung. – Und alles völlig lautlos. Wie von einer Armee Meerjungfrauen angeschoben, nahm der Zerstörer Fahrt auf. Im Nu war er auf 12… 18… 25 Knoten. Seine Unterwasserform sorgte dafür, daß es keine rauschende Bugwelle und keine Heckwirbel gab. Die Turbinen waren vollgekapselt wie alle Motoren. Der Rumpf bestand aus einem neuen Material ähnlich dem der nicht ortbaren B-2Bomber. Und trotzdem meldete die Zentrale Unbegreifliches. „Objekt zieht mit.“ Der Commander versuchte, sich zu retten, indem er einen bumerangförmigen Kurs einleitete. Doch die Meldungen aus der Zentrale klangen besorgniserregend. „Distanz jetzt nullkommadrei. Objekt erhöht Geschwindigkeit. Auftauchend.“ Alle starrten gebannt auf die Bildschirme. „Er will uns rammen.“ „Nein. Er ist nicht wahnsinnig.“ „Was nützt es? Er versucht es.“ Als es absolut deutlich wurde, sagte der Commander von Z01: „Gentlemen, er tut es.“ Sie klammerten sich fest, um den unausweichlichen Rammstoß zu überstehen, und gaben Preßluft auf ihre Schwimmwesten. Erstaunlich ruhig kam es von unten:
„Distanz zweihundert… hundertfünfzig… fünfzig… jetzt null!“ Das U-Boot war unter ihnen. Und dann war es, als würde ein spielender Delphin einen Gummiball aus dem Wasser stoßen. Der 3000 Tonnen schwere Zerstörer wurde von einem offenbar gepanzerten Dreißigtausendtonner gepuncht und dann geknockt. Der riesige Russe stemmte den Zerstörer hoch, daß er bis zur Brücke aus dem Wasser stieg. Dann schrammte, riß, fetzte und beulte der Russe ihm den Kiel weg, ließ ihn fallen und versetzte ihm wegtauchend mit dem Heck einen letzten Haken, daß der Zerstörer fast kenterte. Der Russe lief ab, und der Zerstörer begann zu sinken. Als eisige Seen schon die Back überspülten, gelang es ihnen mit dem Sperren von vier Abteilungen, mit rasenden Pumpen und dem Anbringen von Lecksegeln, das Schiff vor dem Untergang zu bewahren. Mit letzter Kraft versuchten sie, nach Süden zu laufen, um einen der norwegischen NATO-Häfen zu erreichen. Sie kamen in Eis. Als der Eisgürtel endlich passiert war, gerieten sie in schwere See. Nur dem Geschick des Kommandanten und einer Besatzung, die bis zum Umfallen kämpfte, war es zu verdanken, daß das Wunderschiff nicht auf Grund ging. Bei der Bäreninsel kamen ihnen Schlepper entge gen. Sie unterfingen den Zerstörer mit starken Trossen und brachten ihn, so wie man einen Gelähmten beim Gehen stützte, zum nächstgelegenen norwegischen Marinedock. Der Kommandant von Z-01, die Ingenieure, der Beobachter der Admiralität und die beiden MI-6-Spezialisten waren ratlos. Warum hatte die beste Tarnkappe, die je über ein Schiff gezogen worden war, mit einemmal nicht mehr funktioniert? „Es laßt sich nicht erklären“, sagte der Commander immer wieder.
„Die Russen liegen doch ortungsmäßig um zehn Jahre zurück.“ „Es gibt nur eine Erklärung“, meinte der Kommandant von Z-01. „Und die wäre, Sir?“ „Da wir keinen Fehler gemacht haben und auch keine technischen Probleme hatten, muß…“ Es fiel ihm schwer, es auszusprechen und es so zu sagen, daß es nicht wie eine Entschuldigung klang. „… Verrat im Spiele sein.“ Einer der MI-6-Leute sagte: „Wer weiß von diesem Unternehmen?“ „Immer einer zuviel“, befürchtete der Kommandant des nahezu zerstörten Zerstörers. 9. Krisensitzung im NATO-Hauptquartier Brüssel. Der Protokollführer stellte die Anwesenheit des Generalsekretärs sowie dessen Stellvertreters fest. Für die USA war das General Kennan, für England Admiral Winther, für die Bundesrepublik Deutschland General von Rotenfels. Ferner saßen um den ovalen Tisch noch die Vertreter von drei NATOGeheimdiensten. Unter anderem der BND-Agent Robert Urban. Der Generalsekretär eröffnete die Sitzung und erteilte dem britischen Admiral das Wort. Winther faßte sich kurz. Er wiederholte, was jeder wußte. Es ging um eine fehlgeschlagene Navy-Operation im Eismeer mit einem neuartigen Zerstörer, auf den man bei den NATOMarinen große Hoffnung gesetzt hatte. Der Admiral lieferte dazu Einzelheiten, die noch nicht bekannt waren, und endete britisch trocken. „Gentlemen, im Grunde war die Operation ein großartiger Erfolg. Aber gegen Verrat ist kein Kraut gewachsen.“
Es war keine private Meinung, die er damit ausdrückte, sondern die Vermutung aller. Der Amerikaner schlug in die gleiche Kerbe. „Gentlemen“, sagte General Kennan. „Es ist kein Geheimnis, daß meine Regierung die afghanischen Rebellen unterstützt hat. Es wurde ein sichtbarer Erfolg für die Freiheit dieses Landes. Aber leider waren die Depots bald übervoll. Es kam zu Angriffen mit Boden-Luft-Raketen, und zwar an Fronten, wo wir das verhindern mußten. Wir konnten das Depot vernichten, aber unsere Spezialisten liefen in die Arme eines vom KGB angeführten afghanischen Armeekommandos. Ich schließe mich der Ansicht von Admiral Winther an, daß die Operation verraten wurde. In einer der wenigen Dienststellen, die von diesen Dingen wissen, sitzt ein sowjetischer Agent. Wir mü ssen ihm das Handwerk legen.“ Der deutsche General von Rotenfels bekräftigte die Me inung seiner Vorredner. Ereignisse in Moskau deuteten ebenfalls darauf hin, daß das deutsche Agentennetz in der UdSSR durch Verrat zerstört sei. Die anwesenden Geheimdienstleute meldeten sich zu Wort. Sie zogen Fäden zu anderen Operationen, die schon einige Zeit zurücklagen und deren Scheitern man sich nicht hatte erklären können. „Die Israelis“, äußerte der Mann der CIA, „haben einen ihrer Topleute in Syrien verloren. Deckname Josha. Offenbar erhielt die syrische Abwehr Tips vom russischen KGB.“ Der Vertreter des BND, Robert Urban, hatte sich bis jetzt nicht geäußert. Doch nun hob er die Hand und faßte sich dann ebenfalls kurz. „Wir bekamen einen Hinweis. Das Wort Luzifer. Wir analysierten es und müssen nun befürchten, daß der Lucy-Ring, der bis etwa 1960 im Dienst von Moskau stand, in neuer Form weiterexistiert. Ob es sich dabei um Tochtergeschwüre und Tentakel oder Maulwürfe, die einst für heute eingeschleust
wurden, handelt, das wird sich hoffentlich bald herausstellen. Ich bin den Dingen auf der Spur.“ Urban wurde befragt. Er antwortete, so gut er konnte und wie es ihm angemessen schien, denn niemand wußte, ob der Sowjetspion nicht schon draußen im Vorraum saß und mithörte. Der Generalsekretär, der sehr besorgt wegen dieser Dinge war, forderte Sofortmaßnahmen und bat um Vorschläge. Es kamen so gut wie keine. Und was endlich vorgeschl agen wurde, war realitätsfern. Urban hatte sich vorher mit General von Rotenfels abgesprochen. Rotenfels wartete ab, bis alle Vorschläge diskutiert und vom Tisch waren, dann suchte er Urbans Blick und kniff ein Auge leicht zu. Urban nickte kaum merklich. Der blasse General steckte sich einen Zigarillo an und sagte: „Gentlemen…“ Und als der Zigarillo brannte: „Gentlemen, man muß ihm eine Falle stellen.“ „Ach nein. Wie denn?“ wollte der Amerikaner wissen. „Eine einfache Falle. Schlicht, aber wirksam.“ „Der Verräter ist hochintelligent und wird sie erkennen.“ „Nicht, wenn sie ganz simpel ist“, fuhr der Deutsche fort. „In der Schule hatten wir einen Dieb. Er klaute Füllfederhalter und Drehbleistifte, auch mal eine beim Turnen abgelegte Uhr. Aber immer nur vom Besten. Aus Metall, Silber, Gold, Chrom. Und stets nur im Sommer. Eines Tages legten wir unsere Uhren und Kulis auf die Pulte, banden sie aber mit langen Schnüren fest. Dann gingen wir in den Pausenhof. Bis auf einen, der sich als Beobachter versteckte. – Und dann war es eine Elster, die durch das offene Fenster hereinflog. Sie zerrte wie besessen an einem der glitzernden Gegenstände.“ „Und wie wollen Sie das auf unser Problem übertragen?“ fragte der Vorsitzende. „Dieser Mann“, erwähnte der General, „ist, sofern es ihn gibt, zweifellos für die Sowjetunion tätig. Also liegt ihm daran,
sowjetisches Eigentum an sich zu bringen. Wir sind im Besitz eines solchen Lockmittels. In einem Hochsiche rheitsgefängnis in Köln sitzt der sowjetische Superagent Oberst Mannitschek. Bisher gelang es uns nicht, ihn auszuquetschen. Diesen Mannitschek verlegen wir per Sonderschub zum Verhör nach Brüssel, Wir lassen das durchsickern, und es wäre gelacht, wenn sich nichts ereignete.“ „Was sollte sich ereignen?“ fragte der Amerikaner offenbar verblüfft. „Daß ein KGB-Kommando zuschlägt und sich den wichtigen Burschen schnappt.“ „Angenommen, sie tun es. Was dann, bitte?“ „Dadurch“, fuhr von Rotenfels fort, „wissen wir zweierlei: daß der Verräter es nach Moskau weitergab und daß er im abgrenzbaren Bereich der Eingeweihten zu suchen ist.“ Der Amerikaner bezweifelte, daß dies eine gute Idee war. „Selbst dann bleiben noch zu viele Möglichkeiten, wie Ressortchefs, Abteilungsleiter, Sekretärinnen, Assistenten.“ „Und ein paar sehr hohe Stabsoffiziere vom General aufwärts“, fügte von Rotenfels nicht ohne Zynismus hinzu. Der Amerikaner brauste auf. Er war leicht zuckerkrank und als Choleriker bekannt, und sein Ärger war fast schon Wut. „ Halten Sie diesen Mann etwa für einen Schwachkopf?“ „Schwachköpfe“, sagte Urban, „besiegt man mit höherer Mathematik. Und Mathematiker mit Schwachsinn.“ „Auch das ist Schwachsinn“, äußerte der Amerikaner verärgert. Er fühlte, daß er irgendwie im Zielgebiet stand, weil nach seinem Besuch in Tel Aviv von dem israelischen Topagenten Josha nur noch der Kopf übriggeblieben war. „Ich bin dafür“, erklärte der Vorsitzende. „Wer noch?“ „Macht, was ihr wollt“, polterte der Amerikaner. Der Brite war ebenfalls dafür, es wenigstens zu versuchen. „Wird dieser Russe wirklich im Transportwagen sitzen?“
fragte der Vorsitzende. „Der KGB würde es riechen, wenn wir das türken.“ „Schön. Und wenn der Überfall also stattfindet?“ „Werden wir das verhindern“, antwortete der Vertreter des amerikanischen Geheimdienstes CIA. „Aber wir schnappen vielleicht einen der russischen Akteure.“ „Zumindest hätten wir die Bestätigung, daß es einen neuen Lucy gibt“, ergänzte Urban. Der Plan wurde durchanalysiert und abgeklopft, bis er eine Form annahm, der jeder der Anwesenden zustimmte. „Wann?“ fragte der Generalsekretär. „Sobald wie möglich. Aber nicht früher als in drei Tagen. Zweiundsiebzig Stunden muß man dem Verräter für seine Vorbereitungen lassen.“
Die Krisensitzung war beendet. Urban traf Rotenfels im Casino. „Die Geschichte mit der Elster“, sagte der General, „habe ich natürlich dem deutschen Märchenschatz entnommen. Grimm oder so.“ Zum ersten Mal stellte Urban in den Zügen des Generals eine gewisse Zufriedenheit fest. Dieser Rotenfels, ein guter Christ, der nie in die Kirche ging, ein Panzergeneral, der Panzer haßte, ein Verehrer von feinen Damen, der nie geheiratet hatte, wirkte fast glücklich. „Es bereitet mir immer eine heimliche Freude“, gestand er, „wenn man anderen seine Meinung aufs Auge drücken kann. Es stand anfangs fünf zu zwei.“ „Du hast gewonnen“, sagte Urban. „Es war deine Idee, Bob.“ „Pardon“, erwiderte Urban. „Es war deine Idee, Ottokar.“ „Es war unsere. Du hast wie immer zur Hälfte recht.“
„Aber mein Ehrgeiz“, erklärte Urban, „besteht nicht darin, es den Meteorologen nachzutun: Vielleicht scheint morgen die Sonne, es kann aber auch regnen.“ „Und wie lautet deine private Vorhersage?“ „Unser Freund wird die Falle wittern.“ „Und wer ist unser Freund?“ „Jeder, mit Ausnahme von dir und mir“, sagte Urban. „Und General Mark Kennan auch nicht. Eher würde er sich eine Hand abschlagen lassen, als Verrat zu üben.“ Urban wiegte den Kopf so nachdenklich und langsam, wie ihm zumute war. „Nur eine Hand?“ meinte er. „Was ist schon eine Hand?“
Der Transport des sowjetischen Superagenten Oberst Mannitschek wurde geplant, organisiert und durchgeführt. Vom Sicherheitstrakt eines Kölner Gefängnisses, in dem nur hochkarätige Herren aus den Branchen Wirtschaftsverbrechen, Spionage und Terrorismus einsaßen, wurde Mannitschek in einen Transporter verladen. Der Gefangenenlieferwagen, gepanzert wie der Mercedes des Bundeskanzlers, hatte kugelfeste Scheiben, eine mine nfeste Bodengruppe und Reifen, die sich nicht gleich verabschiedeten, wenn eine MPi-Garbe sie traf. Doch damit nicht genug. – Vor dem Transporter fuhren zwei Autos. Eine Limousine, besetzt mit GSG-9-Leuten als Wellenbrecher. Ihr folgte ein Polizei-Opel. Die Nachhut bildete eine weitere GSG-9-Limousine.
Die Männer waren bewaffnet. Sie trugen kugelsichere Unterwäsche und hatten alle eine spezielle Ausrüstung, um jeden Angreifer kampfunfähig zu machen.
Den Konvoi vervollständigte ein 280 S mit drei Zivilisten. In diesem Fall einem Beamten des Verfassungsschutzes, einem Staatsanwalt und dem Spiritus rector des Ganzen, dem BNDAgenten Robert Urban. Von Köln bis zur Grenze – die Fahrt wurde in die Morgenstunden verlegt – ereignete sich wenig bis nichts. Doch an der Autobahn, kurz vor Aachen, erreichte ein Anruf das Autotelefon des BfV-Wagens. Der Verfassungsschützer neben dem Fahrer nahm den Anruf entgegen. Er horchte, nickte und wandte sich nach hinten um. „Für Sie, Urban.“ Der Hörer hing an einer langen dehnbaren Ringelschnur. Sie reichte leicht bis zu den Fondsitzen. Urban meldete sich. Alles hatte er erwartet, nur nicht diese Frauenstimme, die Schwyzerdütsch mit italienischem Akzent sprach. „Signora Galazzi…“ Urban hatte die ehemalige LucySekretärin sofort erkannt. „Was verschafft mir das Vergnügen?“ „Zunächst einmal möchte ich Sie bitten, daß Sie versuchen, uns zu verzeihen.“ Urban zeigte sich generös. „Ich bitte Sie, Gnädigste. Nicht Sie haben geschossen, sondern Ihr Töchterlein. Eine verständliche Reaktion. Sie ist eine temperamentvolle Frau.“ „Sie sind zu großzügig.“ Es war nicht seine Natur, sondern seine Taktik. „Sie haben gewiß ein Problem, Madame.“ Sie mußte ein verdammt ernstes Problem haben, wenn sie sich die Mühe gemacht hatte, ihn ausfindig zu machen. Aber darin bestand nun einmal das Talent erstklassiger Chefsekretärinnen. Sie brachten so gut wie alles zustande. „Wir hörten…“ Tina Galazzi rang nach einem passenden Ausdruck. „Wir erfuhren, daß Sie es überstanden. Aber es war
und bleibt ein Mordversuch. Meine Tochter geriet danach so sehr in Panik, daß sie fluchtartig die Schweiz verließ.“ „Fluch der bösen Tat“, bemerkte Urban. „Ich wollte nur das Beste für uns alle.“ „Der Fluch hat Lucia eingeholt“, fuhr die Dame fort. „Meine Tochter ist verschwunden.“ Urban rechnete. Zwischen seinem Besuch in Zürich und heute lag knapp eine Woche. Wie konnte Tina Galazzi behaupten, ihre Tochter wäre ve rschwunden? Er erfuhr es umgehend aus dem Mund der verzweifelten Mutter. „Noch am selben Tag, als Lucia auf Sie schoß, reiste sie nach Spanien. Sie wollte weiter nach Marokko, um dort so lange zu bleiben, bis sich die Lage klärte. Sie rief aus Barcelona an, dann aus Algeciras, kurz vor Abfahrt der Fähre. Und dann nicht mehr.“ „Wann war das?“ „Vor vier Tagen.“ „Kein Grund zur Besorgnis, Madame.“ „Sie kennen meine Tochter nicht. Sie ist präzise wie ein Schweizer Uhrwerk. Wenn sie sagt, ich melde mich sofort aus Tanger, dann meldet sie sich sofort aus Tanger. Und nun seit vier Tagen kein Lebenszeichen.“ Urban versuchte, aus der Sache herauszukommen. „Halten Sie das wirklich für bedenklich?“ „Sehr.“ Zehn Sekunden, zwanzig Sekunden lang war nur Rauschen in der Leitung zu hören. Kein Wort fiel, erst recht keine Entscheidung. „Was erwarten Sie von… uns?“ fragte Urban. „Sind Sie nicht vom bundesdeutschen Geheimdienst?“ „Ich denke, das ist nicht das Problem, Madame.“ „Sie haben Fahndungsmöglichkeiten, international, in Spanien, in Nordafrika.“
„Sie überschätzen uns, Gnädigste.“ Sie atmete schwer, es war deutlich zu hören. Sie hatte ihn in höchster Not und Ratlosigkeit angerufen. Anders war das nicht zu erklären. „Auch in der Schweiz gibt es gute Polizisten“, bemerkte Urban. Da brach es aus ihr heraus. „Ihr Auftritt war schuld daran, daß meine Tochter auf Sie schoß. Wir wollten Sie uns vom Halse schaffen. Lucia ergriff die Flucht, und Sie sind verantwortlich für alles weitere.“ „Wenn Sie das so sehen“, staunte Urban, „dann muß ich leider gestehen, daß ich es anders sehe. Der Mörder gerät in Schwierigkeiten, und das Opfer soll ihn daraus befreien. Ve rzeihung, Gnädigste, aber das ist ein noch nie dagewesener Fall von Zumutung.“ Sie setzte ihm jedoch so zu – in einem Mixed aus Not, Ve rzweiflung, Sorge, Schuldbewußtsein und Hilflosigkeit – , daß er weich wurde. Er ertrug vieles, aber keine Tränen. „Suchen Sie, finden Sie und retten Sie meine Lucia. Sie ist alles, was ich habe“, schluchzte Tina Galazzi. Doch so schnell ließ er sich nicht kaufen. Urban reagierte hart und feilschte. „Das kostet aber eine Kleinigkeit.“ Warum sollte er bei dieser eiskalten Mischpoke, dieser LucyBande, den barmherzigen Samariter spielen? „Es wird Ihr Schaden nicht sein“, deutete die alte Dame an. „Inwiefern, bitte?“ „Bringen Sie mir Lucia heil zurück, und ich werde Ihre Fragen beantworten.“ „Nur ein Lippenbekenntnis, Gnädigste.“ „Nein, meine ehrliche, unumstößliche Absicht.“ Urban zögerte, dann antwortete er so flapsig wie nur mö glich: „Ist geritzt, Gnädigste.“
„Geritzt, was ist das?“ „Gebont.“ „Sie helfen mir also?“ „Das meinte ich damit.“ „Ich danke Ihnen“, sagte Tina Galazzi. „Sie sind ein Kavalier.“ Kavalier hatte ihn noch nie im Leben jemals eine Frau genannt. 10. Gewöhnlich löste ein Zeckenbiß in den USA in Europa Gehirnhautentzündung aus. – Diesmal war es umgekehrt. Die Krise in der NATO steigerte sich in Washington zur Dramatik. „Es war eine beschissene Idee“, sagte der CIADirektor. „Sie konnte nur in totaler Scheiße enden. Und um es ganz deutlich zu sagen, nicht in Kückenschiet, sondern in Bullenmist.“ Es ging um die Operation Mannitschek, die man bei der NATO für eine geniale Falle gehalten hatte. Die Falle war weit offen gewesen. Der Köder hatte gelockt wie Edamer Käse. Aber die Maus hatte sich, anstatt hineinzugehen, eins gelacht. Für den CIA-Direktor stellte dies einen nahezu sicheren Beweis dafür dar, daß der Verräter in der obersten NATOFührung saß, „Er wußte von der Falle und hütete sich natürlich, sie zur Kenntnis zu nehmen“, sagte der Direktor. „Wobei ich mich frage, ob das nun klug war von ihm oder saublöd. Angenommen, er hätte dafür gesorgt, daß ein KGB-Kommando sich diesen Mannitschek schnappte oder zumindest ve rsuchte, ihn zu schnappen, dann hätte man gedacht, so idi otisch kann er doch gar nicht sein, um das zu veranlassen, also gibt es ihn auch nicht.“
„Drehen wir es anders herum“, meinte sein engster Mitarbeiter, der Sektionschef von C/1. „Betrachten wir es einfacher. – Es ist dunkel. Ein Mann betritt ein Zimmer. Im Zimmer wartet sein Mörder. – Der Mann weiß, daß sein Mörder mit einem Messer auf ihn lauert. Er erfuhr es von einem Freund aus der Mörderbande. Aber er darf den Freund nicht verraten. Wie verhält er sich nun? – Verläßt er das Zimmer wieder, oder macht er Licht und erwischt den Mörder, oder tut er so, als wäre er arglos, und rennt in das tödliche Messer.“ „Und stirbt. – Wozu sollte die Warnung dann gut gewesen sein?“ „Er stirbt nicht, denn er weiß von dem Mordanschlag und hat sich vorbereitet. Er kann dem Tod entgehen, obwohl er ihm nicht ausweicht. – Das entlastet auf jeden Fall den Verräter.“ „Genau so meinte ich es“, sagte der CIA-Chef ein wenig verwirrt. „Der Verräter in der NATO-Spitze hat das Problem einen Dreh zu weit durchdacht. Der Versuch, den Agenten zu befreien, hätte ihn eher von dem Verdacht des Verrats entlastet. So begreife ich das.“ Der CIA-Chef ließ sich über den Gefangenentransport von Köln nach Brüssel in allen Einzelheiten berichten. Bis zur Grenze hatten die Deutschen den Transport bewacht, von der belgischen Grenze ab bis Brüssel ein gemischtes Kommando: Belgier, Amerikaner und Engländer. „Legen wir das zu den Akten“, entschied der CIA-Chef. „Aber verstärkt die Suche nach der undichten Stelle! Gibt es Aufstellungen darüber, wer alles von dem Transport wußte?“ Ein Computerausdruck wurde ihm vorgelegt. Grob geschätzt handelte es sich um mehrere Dutzend Personen. Der CIA-Chef legte die Liste beiseite. „Durch administrative Maßnahmen, Täterfahndung oder wie man das nennen mag, kriegen wir diesen Burschen nicht“, sagte er. „Nehmen wir doch unser Gehirn zu Hilfe, Gentle-
men!“ Einer der Anwesenden – er gehörte der eilig zusammengestellten Sonderkommission an – warf ein Stichwort in die Diskussion. ,,Die afghanische Panne.“ „Wer wußte bei der NATO von diesem Einsatz?“ „General Kennan.“ „Die Eismeeroperation des britischen Winston-Zerstörers mußte ebenfalls mit der NATO koordiniert werden.“ „Und wer ist der zuständige Koordinator?“ „Admiral Winther.“ „Winther…“ Der bullige CIA-Chef massierte sein Doppelkinn. „Wie gut kann Winther mit den anderen Stabsoffizieren?“ „Schlecht. Er ist ein zurückhaltender Mann“, beschrieb jemand, „aber mit General Kennan verbindet ihn ein gemeinsames Hobby: das Golfspiel. Sie sind im selben Club und treffen sich oft dort.“ „Wer von der Führungsriege spielt noch Golf?“ wurde eingeworfen. „Der Generalsekretär nicht, auch General Rotenfels nicht – der treibt so gut wie gar keinen Sport. Der Norweger ist Jäger, der Italiener und der Spanier fischen gerne. Die Ve rtreter der anderen Nationen…“ Mit einer Handbewegung schnitt der CIA-Direktor die Aufzählung ab. „Der BND hatte Pech mit seinem Ostnetz. Wer in Brüssel besitzt, oder besser, kann darüber Informationen besitzen?“ „Eigentlich nur ein Mann, der irgendwann einmal auch für den Geheimdienst arbeitete. Aufgrund alter Verbindungen und so.“ „Trifft das auf Rotenfels zu?“ „Nein.“ „Auf General Kennan?“ Erst blickten die Männer der Sonderkommission verlegen,
dann nickte einer. „Mark Kennan war lange Jahre Verbindungsoffizier zwischen uns und dem Pentagon,“ „Verdammt, immer wieder dieser Kennan!“ fluchte der CIAChef. „War er nicht erst in Israel? Hatten die Israeli nicht den Verlust eines ihrer besten Agenten zu beklagen? Diese üble Kopf-ab-Geschichte? Nun erzähl mir bloß einer, Kennan habe auch Kontakte zu MOSSAD.“ „Leider ja, Sir. Er verließ Tel Aviv am Tag vor dem Zwischenfall am Golan.“ „Ob er Kontakt zum MOSSAD hatte, will ich wissen.“ „Er ist ein Freund des MOSSAD-Chefs.“ „Immer und immer wieder Kennan“, murmelte der CIAChef. „Ich kann den Namen schon nicht mehr hören. Aber wenn Kennan je mit diesen Schweinereien zu tun haben sollte, dann bin ich mir gar nicht sicher, ob ich nicht selbst ein Maulwurf der Sowjets bin. Kennan, diese durch und durch ehrliche Haut, ist niemals ein Verräter!“ Der CIA-Direktor sprach nicht weiter. „Schlage vor“, riet der Sektionschef von C/1, „alle Namen auf der Liste zu überprüfen. Ohne Ansehen der Person. Grunddurchleuchtung von der Geburt an.“ „Wie wollen Sie das durchrühren?“ „Mit Hilfe von FBI, MI-five und MI-six, Yard, Interpol, Bundeskriminalamt, BND, Verfassungsschutz, den zuständigen Behörden in Norwegen, Dänemark, den Beneluxstaaten, Spanien, Portugal, Italien, Griechenland, der Türkei…“ „Ich weiß, wer alles zur NATO gehört“, unterbrach ihn der CIA-Chef, „Okay, veranlassen Sie das. Aber eines verspreche ich Ihnen jetzt schon: Noch ehe das Amtshilfeersuchen raus ist, liegt der Wortlaut schon auf dem Schreibtisch des KGBChefs in Moskau. Deshalb wiederhole ich noch einmal: Wir stecken bis zum Hals in der Scheiße. – Guten Tag, Gentlemen!“
11. Bei der Zwischenlandung in Zürich, ehe er nach Barcelona weiterflog, hatte Urban ein Gespräch mit Tina Galazzi Sie war nach Klöten herausgekommen, um ihm ein aktuelles Foto ihrer Tochter zubringen. Urban trug es zum Lufthansaschalter und kam sofort wieder zurück. „Was wollen Sie mit dem Foto?“ fragte sie besorgt. „Es geht in wenigen Minuten nach München. Dort werden ungefähr tausend Abzüge hergestellt, und sie werden in Tanger sein, ehe ich den Fuß auf afrikanische Erde setze.“ „Gott gebe, daß Sie Erfolg haben und mir mein Kind wiederbringen.“ Die alte Dame war nervlich am Ende. Sie hatte dicke Tr änensäcke, und es war mit Sicherheit keine Schminke. Daß es hier um einen fiesen Trick ging, schloß Urban aus. „Gott hilft den Tüchtigen“, sagte Urban. „Nun unterstützen Sie mich einmal tüchtig, Madame, und beantworten Sie meine Fragen!“ „Bitte!“ Sie saßen unweit der Abflughalle, ohne etwas zu sich zu nehmen. Urban nuckelte an einer MC, und die ehemalige Lucy-Sekretärin spielte nervös mit dem Taschentuch in ihren leberfleckigen Händen. „Wann reiste Ihre Tochter ab?“ „Gleich und Hals über Kopf. Sie glaubte, Sie seien tot, und fürchtete, man würde Sie finden.“ „Wie reiste Sie? Mit Bahn, Auto oder Flugzeug?“ „Mit ihrem Golf Cabrio,“ Urban ließ sich die Kennzeichennummer nennen sowie die Farbe und die Details wie Polster, Spoiler, Bereifung. Letzteres wußte die alte Dame nicht genau.
„Von wo meldete Lucia sich?“ „Aus Barcelona.“ „Hotel?“ „Arycasa – oder so ähnlich.“ Urban kannte es, und Tina Galazzi schien es ebenfalls zu kennen. „In verschiedenen Publikationen über Lucy wurden Sie immer die Galazzi genannt. Warum behielten Sie Ihren Mädchennamen bei?“ „Ich hatte Gründe“, erklärte sie schroff. „Auch Ihre Tochter heißt Galazzi. Sie führt also Ihren Namen, nicht den des Vaters. Warum?“ In die Züge der alten Dame trat Verlegenheit. „Meine Tochter ist unehelich.“ „Sie blieben also unverheiratet?“ „Es war nicht möglich.“ „Und Lucias Vater?“ „Ein Amerikaner.“ „Sein Name?“ „Den weiß ich nicht.“ Sie verschwieg ihm etwas, denn eine anonyme Affäre für eine Nacht traute er dieser Frau nicht einfach zu. „Keinen Vornamen, nichts?“ Sie lächelte jetzt. „Er war blond und hatte wunderschöne blaue Augen. Genügt das?“ Es genügte ihm nicht. „Wie alt ist Lucia?“ „Geboren anno sechzig.“ „Damals existierte die Organisation Lucy schon nicht mehr. Aber Sie nannten sie trotzdem Lucia.“ „Zur Erinnerung. Nostalgie. Warum nicht?“ Urban blieb hartnäckig wie ein böser Interviewer beim Fernsehen.
„Gehörte Lucias Vater zur Organisation?“ „Er hatte nichts damit zu tun.“ „Lebt er noch?“ Sie antwortete viel zu schnell. „Ich habe mich nie darum gekümmert.“ Urban sprach ein neues Thema an. „Welchen Beruf übt Ihre Tochter aus?“ Staunen trat in die Augen der alten Dame, „Keinen. Wir sind wohlhabend. Aber ist das denn wichtig?“ „Hat sie denn einen Beruf erlernt?“ „Sie hat studiert, wie sich das für eine gebildete Frau gehört. Sprachen, Kunstgeschichte, Literatur. Außerdem treibt sie Musik und Sport.“ Und Stricken, Kochen, Putzen, Waschen, Bügeln, wie sich das für eine gebildete Schweizerin gehört, ergänzte Urban in Gedanken. „Hat Ihre Tochter viele Freunde?“ „Sie ist intelligent, witzig, schön und nicht unvermögend. Ich hatte reiche Eltern und besitze Talent im Umgang mit Geld.“ „Hat Ihre Tochter einen Liebhaber?“ fragte Urban. „Aber ich bitte Sie“, tat Tina Galazzi entrüstet. „Meine Tochter wird den Mann, den sie liebt und dem sie ihre Keuschheit opfert, heiraten. Töchter aus unseren Kreisen sind gewohnt, als Jungfrauen in die Ehe zu treten.“ Offenbar litt sie ein wenig an Vergeßlichkeit. Eben hatte sie noch erzählt, Lucia sei unehelich und nun solche Töne. „Danke, Madame!“ sagte Urban abrupt. „Keine Notizen?“ staunte sie. „Nie etwas Schriftliches, wenn es sich im Kopf behalten läßt, Gnädigste.“ Sie lächelte und gab es ihm chefsekretärinnenhaft zurück. „Offenbar verloren Sie aus dem Kopf, daß Ihr Flugzeug schon zum zweiten Mal aufgerufen wurde.“ „Sie haben mich fasziniert, Madame, bezaubert.“ ,,Die Welt versank um uns herum“, spottete sie. Er half ihr beim Aufstehen und brachte sie zum Taxi.
In Barcelona traf der BND-Agent Nr. 18 seinen besten spanischen Freund, Erneste Segovia. Der Chef der Brigada Investigation hatte sich Zeit geno mmen und erwartete Urban in der Arycasa-Bar. Die ersten Minuten widmeten sie immer privaten Dingen wie Gesundheit, Beruf, Frauen und Autos. Dann kam der erste Drink. Segovia, dessen Befehlen immerhin mehrere tausend Agenten gehorchten, zog eigenhändig ein Foto heraus. „Kam vor einer Stunde aus Pullach. Ist sie das? Könnte mir gefallen, das Weib.“ „Davor kann ich dich nur warnen“, sagte Urban. „Sie wohnte hier?“ „Ist schon ein paar Tage her.“ „Blieb sie eine Nacht oder länger?“ „Nur eine Nacht. Dann fuhr sie weiter nach Süden. Wir funkten das Foto nach Algeciras. Beim Zoll an der Tanger-Fähre erinnert man sich an sie. Wie auch nicht?“ „Hatte sie in Barcelona Kontakte?“ „An der Rezeption ist nichts bekannt. Sie reiste an, trug ihren Koffer selbst herein, speiste um zweiundzwanzig Uhr, ging schlafen, frühstückte auf dem Zimmer, bezahlte die Rechnung und reiste ab. Und sie schlief auch allein.“ „Sie ist Jungfrau“, betonte Urban. „Alle ledigen Schwe izer Mädchen im Alter von neunundzwanzig Jahren, deren Mutter aus dem Tessin stammt und deren Vater ein durchreisender Amerikaner war, die vermögend und hübsch sind, die Sprachen, Literatur, Kunst und Musik studiert haben, sind Jungfrauen. Wußtest du das nicht?“ „No, Senor“, sagte der Coronel. „Ich wußte, daß junge Frauen und auch manche Nonnen bisweilen Jungfrauen sind, aber mein Wissensstand hinsichtlich Schweizer Jungfrauen ist leider begrenzt.“ Beim dritten Bourbon, der für einen spanischen gar nicht so
übel war, summte das Bartelefon. Ein Gast bestellte Drinks aufs Zimmer. Da fiel Urban etwas ein. „Telefonierte Lucia Galazzi?“ Der Coronel nickte. „Laut Rechnung zweimal. Ein Ferngespräch ins Ausland und ein Ortsgespräch.“ „Einmal mit ihrer Mutter, und das andere Mal?“ erkundigte Urban sich. – Es hätte ihn schwer gewundert, wenn Segovia, der Fuchs, es nicht längst gewußt hätte. „Mit einem Sanatorium.“ „Erneste, amigo, mit einem Sanatorium kann man sowenig telefonieren wie je eine Frau jungfräulich dein Bett verließ.“ „Sie sprach mit Professor Dottore Calamas“, fügte Segovia hinzu. „Chefarzt dort?“ „Ihm gehört die Privatklinik.“ „Vielleicht ihr Lover.“ „Er ist fast siebzig.“ „Naja, die Spanier“, bemerkte Urban grinsend. „Gynäkologe. Das sind diejenigen, welche sich mit Damen vom Nabel abwärts befassen.“ „Lucia Galazzi hat vom Nabel abwärts gar nichts mehr“, äußerte Urban. „Ebensowenig wie feine Hamburger Reederstöchter einen Hintern haben.“ Sie tranken noch einen, und weil sie ein Gespräch unter Männern führten, fragte Urban: „Ob dieser Professor nicht auch zufällige Schäden bei Damen, die wieder Jungfrauen werden wollen, behebt?“ „Solche zufälligen Schäden gibt es nicht.“ „Manche erleiden sie beim Sport.“ „Nie gehört.“ „Aber es gibt solche Reparaturbetriebe, speziell in mohammedanischen Ländern.“
„Nun“, meinte Segovia, ,,mohammedanisch waren wir hier sechshundert Jahre lang. Trotzdem weiß ich nichts davon.“ Urban hätte interessiert, was Lucia Galazzi mit diesem Professor zu besprechen gehabt hatte. Für die Sorgen seiner Freunde besaß Segovia einen siebenten Sinn. „Wir kümmern uns darum.“ „Er wird auf die ärztliche Schweigepflicht verweisen.“ Erneste lächelte nur. „In unserem Land ist Abtreibung verboten. Chefs von Frauenkliniken haben in diesem Punkt nie ein ganz sauberes Gewissen. Und da kriege ich ihn. Ohne Druck, verstehst du, nur ein Gespräch unter Männern. Ich von der BIS und er als Kommandeur einer Geisterarmee von Ungeborenen. Das wird schon klappen. Verlaß dich auf Erneste.“ Es war ein langer, feuchter Abend, dem eine Nacht folgte mit zwei Damen, die nicht nur die Gitarre, die Kastagnetten und den Flamenco meisterlich beherrschten.
Die Behörden in Marokko hatten vorgearbeitet. Ihre Tätigkeit bestand zunächst darin, daß sie die Fotos der Gesuchten überall verteilt hatten. Zwischen Tanger und Marrakesch gab es kaum Hotels, Polizeistationen, Nachtclubs, wo das Foto von Lucia Galazzi nicht auflag. Am Morgen nach der ersten Nacht in Tanger kreuzte Urban wieder bei der Polizeipräfektur auf. Der zuständige Commissaire sagte: „Wenn ich so mache“, er schüttelte den Kopf von links nach rechts, „dann ist nichts.“ „Sie haben eine Belohnung ausgesetzt?“ „Umgerechnet hundert Dollar.“ „Setzen Sie lausend aus“, schlug Urban vor.
„Das macht mir die Preise bei den V-Leuten kaputt.“ „Tausend“, forderte Urban, „oder ich starte eine private Suchaktion. Immerhin handelt es sich nicht um Fräulein Schneckenschiß.“ Der Marokkaner – er sprach Französisch und war geschniegelt wie ein Spanier – trug seine Bedenken vor. „Mit Mädchenhandel hat das nichts zu tun. Dieses Geschäft wird, wenn überhaupt, dann im Süden betrieben. Allein die Transportwege zu den Abnehmern in Arabisch-Afrika und zu den Freudenhäusern im Sudan sind viel zu weit Da verdirbt die Ware.“ „Die Gesuchte ist clever“, sagte Urban, „und trotzdem abgängig. Setzen Sie zunächst tausend Dollar aus, und wenn keine brauchbare Information kommt, dann erhöhen Sie auf fünftausend.“ Der Commissaire schüttelte jedesmal den Kopf, wenn er Urban traf, sei es in seinem Büro, in einem Cafe oder in Urbans Hotel. Er jammerte ständig, daß er von allen Seiten Druck bekäme. Vom Gouverneur, vom König, von den Freunden in Paris, von den Amerikanern, eben von überall. „Und von mir“, betonte Urban. „Aber die Zeit rennt uns davon.“ Sie hatten berechnet, daß es vor einer Woche geschehen sein mußte. Sie hatten nach dem Golf mit der Züricher Nummer gesucht. Keine Chance, ihn zu finden. Sie hatten alles abgekämmt, Hotels, Pensionen, Zimmervermieter, Restaurants, Bars, Clubs. Die V-Leute waren ausgeschwirrt, die Zuträger, die halbe Unterwelt von Tanger bis Rabat, Fes, Meknes, Marrakesch wurde aktiviert. „Das Atlasgebirge hat viele Täler“, sagte der Commissaire. „Wenn die Dame erst in Algerien ist, dann kann ich nur noch diesen machen.“
Er schüttelte den Kopf, und Urban nahm an, daß von dem vielen Schütteln sein Gehirn schon gequirlt war wie die Eier für ein Omelett. „Kennen Sie das neue ste Getränk in Afrika?“ fragte Urban. „Halb Tee, halb Kaffee.“ „Wollen Sie mich verarschen?“ erwiderte der Commissaire. „Sowenig wie Sie mich“, sagte Urban. Auf dem Weg ins Hotel, der durch den Souk führte, diesen arabischen Supermarkt mit tausend Händlern und zehntausend Kunden, zupfte ihn einer am Sakko. Urban dachte an einen Taschendieb, packte blitzschnell sein Handgelenk und zog den kleinen Marokkaner zwischen zwei Verkaufsstände. Den schien das wenig zu stören. „Bist du der Alémán?“ flüsterte er. Urban lockerte den Griff. „Was willst du?“ „Du bist der Alémán, der jeden Tag in die Präfektur kommt. Du suchst ein Mädchen und zahlst Dollar dafür.“ Mit aller Vorsicht stieg Urban auf den Deal ein. „Was weißt du?“ „Du zahlst, ich nenne dir eine Adresse und gehe nach Hause.“ „Erst die Adresse!“ verlangte Urban.
Es war wie immer. Urban erhielt die Adresse von einem, der einen kannte, der wieder eine Adresse wußte, und jeder hielt die Hand auf. Und am Ende war es einfacher, als Urban gedacht hatte. Aber auch komplizierter. Das Einfache daran war, daß er an einer Straßenecke warten sollte, bis ein Taxi kam. Er mußte vorn neben dem Fahrer Platz nehmen. Als das Taxi weiterfuhr, spürte Urban die Spitze eines Messers im Genick.
„Nicht umdrehen!“ zischte der Mann von hinten. „Keine Fragen, hundert Dollar!“ Billiger macht es hier keiner, dachte Urban und zahlte. Der Taxifahrer hielt, der mit dem Messer stieg aus. Das Taxi fuhr weiter. Es begann zu regnen. Es goß in Strömen. Alles stand unter Wasser. Auch die Schlaglöcher. Der Taxifahrer fuhr um sie herum, als er einen R4 sah, der bis zum Dach in so einem Loch schwamm, In einem Vorort, auf Cap Espartel zu, bog er ab, noch einmal und wieder ab, bis er in einer so engen Gasse war, daß er nicht mehr durchkam. Er deutete auf ein Haus. Urban stieg aus, das Taxi stieß zurück und war fort. Urban betrat das Haus. Eine füllige Marokkanerin saß im kahlen Erdgeschoßzimmer. Urban zeigte ihr das Foto. Sie nickte, als wüßte sie schon Bescheid. Sie nahm einen Schlüssel und ging vor ihm die Treppe hinauf . Oben gab es nur eine Tür. Die Marokkanerin sagte: „Man hat sie mir gebracht. Sie ist krank, hieß es, krank im Kopf. Ich muß sie versorgen. Sie darf das Zimmer nicht verlassen, bis man sie abholt.“ „Beschreiben Sie die Leute!“ „Sahen aus wie Sie, Monsieur.“ Für Marokkaner waren alle Europäer gleich, wie Neger für Europäer. Sie sperrte das Zimmer auf. Es war dunkel drinnen. Die Fenster waren vergittert, die Flügel hatte man zugenagelt. Auf einem eisernen Bettgestell mit schmutziger Matratze lag eine Frau. Sie war leicht gefesselt. „Hallo, Lucia!“ rief Urban. Sie starrte ihn an wie Lazarus aus dem Grabe. Er zerschnitt ihre Fesseln. Mühsam richtete sie sich auf und massierte die Handgelenke. Dann krächzte sie mit verklebter
Kehle. „Sie?“ „Genau ich.“ „Es ist unvorstellbar. Einfach unvorstellbar.“ „Daß ich lebe?“ „Nicht nur.“ „Daß es noch Mädchenhändler gibt?“ Sie machte eine Kopfbewegung, daß das Haar nach vorne fiel. Es war fettig und ungekämmt. Sie hatte gewiß eine Woche nicht mehr gebadet. „Es waren keine Mädchenhändler“, sagte sie – und kein Wort mehr. Wie er auch in sie drang, sie schwieg. Urban versuchte, ein Taxi zu bekommen. Es dauerte länger als eine Stunde. Also blieb ihm Zeit, mit der Marokkanerin, die Lucia Galazzi wie ein Gefängniswärter bewacht hatte, zu reden. „Sie wurde mir lästig“, erklärte die Vermieterin. „Sie sagten drei Tage, zahlten für drei Tage und kümmerten sich nicht mehr um sie. Ich hätte sie noch bis zum Winter am Hals gehabt, wenn ich es nicht meinen Freunden erzählt hätte.“ Auf diesen verschlungenen Wegen hatte Urban davon erfahren. – Zumindest das war geklärt. Urban fragte weiter: „Wer brachte sie her?“ „Europäer.“ „Die treiben keinen Mädchenhandel.“ „Es sah so aus, als ob sie die Frau loswerden wollten, aber nicht wußten wie. So brachten sie sie zu mir. Ich verstecke schon hie und da mal einen, der gesucht wird. Freunde von Freunden.“ „Wie bezahlte man Sie?“ „Schlecht“, sagte die Marokkanerin. „Mit Dollars, mit Francs, mit Pesetas?“
„Wenn es das nur gewesen wäre.“ Hinter einem Bild holte sie ein Bündel Banknoten hervor. Urban rollte es auf. Die Scheine waren verschmutzt, zerknittert und die Schrift schlecht lesbar. Es war aber weder Arabisch noch Chinesisch, sondern Kyrillisch. Es handelte sich um russische Hundert-Rubel-Noten. „Tausend Francs und das da.“ „Ein Rubel ist zehn Francs wert.“ „Damit kann unsereiner nicht zur Bank“, entgegnete die Marokkanerin. „ Die stellen nur dumme Fragen.“ Jetzt wußte Urban genug. Das Taxi kam. Er brachte Lucia Galazzi hinaus und in sein Hotel. Dort buchte er sofort zwei Plätze im nächsten Flugzeug nach Zürich. Als Lucia, in ein Frotteetuch gewickelt, einigermaßen gereinigt aus der Dusche kam, sagte Urban: „Sie wissen eben zuviel, Lucia, das war der Grund.“ „Wovon?“ „Von Dingen, die der KGB unterdrücken möchte. Ihr Leben verdanken Sie allein dem Umstand, daß Moskau noch keine Entscheidung fällte, was mit Ihnen zu geschehen hat.“ „Sie spinnen ja“, entgegnete sie scharf. Urban zeigte ihr die Rubelnote. Er hatte sie der Marokkanerin abgekauft. „Nur Russen zahlen mit Rubel, und nur Funktionäre und KGB-Kommandos verirren sich bis Marokko. Sie sind ein Risikofaktor für sie. Vielleicht als Zeugin von Aktivitäten der zweiten Auflage der Organisation Lucy. Was wissen Sie denn?“ „Nur soviel“, erwiderte sie, „daß Sie verrückt sein müssen.“
12. Im KGB-Hauptquartier in Moskau, wo man allen Grund hatte zu triumphieren, hielten die Sorgen Einzug. „Luzifer ist in Gefahr“, faßte der Referent es zusammen. „Je besser er wird, desto mehr nähert er sich dem Abgrund.“ „Machen Sie das mal dem Außenminister verständlich.“ „Er mag so perfekt sein wie nur möglich. Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“ „Bis der Brunnen leer ist“, änderte der hohe KGB-Funktionär das Sprichwort ab. „Und der Brunnen ist noch lange nicht leer. Er wird niemals leer sein. Jetzt kommt die große Abrüstungskonferenz in Wien. Da brauchen wir Luzifer.“ „Wie ist unsere Verhandlungsstrategie?“ „Sie richtet sich nach der des Westens.“ „Und wie ist die Taktik des Westens?“ „Darüber erwarten wir stündlich Luzifers Funkspruch.“ Jedem in der KGB-Führung war klar, daß einfach zuviel von der Quelle Luzifer abhing. Kein vernünftiger Taktiker verließ sich auf ein einziges Bataillon, und sei es noch so tapfer und bewährt. „Luzifer ist in die Schußlinie der NATO-Geheimdienste geraten“, warnte der Mann der Abteilung NATO/West. „Wir müssen ihn sofort stillegen.“ „Nur noch diese Wien-Geschichte. Dann wird er für eine Weile abgeschaltet. Er ist zu wertvoll.“ „Schon sind sie wie Bluthunde auf seiner Spur.“ Der KGB-Verantwortliche für den Bereich Außenpolitik ließ sich weiter informieren. „Die Lucy-Nachfolgeorganisation wird Stück für Stück aufgebrochen“, erklärte sein Referent. „Hat man inzwischen nicht diesen BND-Agenten Mister Dynamit beseitigt?“ „Es schlug fehl. Deshalb versuchten wir, Lucia Galazzi zu
eliminieren.“ „Was heißt, wir versuchten es?“ „Sie floh nach dem Züricher Attentat auf den BND-Agenten nach Marokko. Dort spürten unsere Leute sie auf. Sie wurde isoliert, aber die Entscheidung, was mit ihr geschehen soll, steht noch aus.“ „Bringt sie nach Moskau oder liquidiert sie“, sagte der hohe KGB-Funktionär. „Zu spät, Genosse Direktor.“ „Was heißt das?“ brauste der auf. „Es heißt, daß die Entscheidung, welche auch immer, zu spät fiel. Das Objekt wurde in seinem Gewahrsam in Tanger ausfindig gemacht.“ „Von wem?“ „In einer kombinierten Aktion der westlichen Polizei und der G-Dienste.“ „Wo ist die Galazzi derzeit?“ „Auf dem Flug nach Europa.“ Der hohe Funktionär massierte seine Fingerknöchel, bis sie weiß wurden. „Wem ist diese Panne anzulasten?“ „Dem Gremium, Genosse Direktor“, sagte der Referent offen, „weil es die Entscheidung hinauszögerte. – Und diesem BND-Agenten Mister Dynamit.“ „Eine Pest ist dieser Bursche.“ „Seit Jahren warne ich vor ihm wie Cicero einst vor den Karthagern.“ „Warum“, fragte der KGB-Funktionär, „hat man ihn nicht längst beseitigt?“ „Man versuchte es viele Male, Genosse Direktor.“ Jetzt ist er im Besitz einer Zeugin, eines Beweisstückes. Und wie ich ihn einschätze, wird er bei ihr zum Ziel ko mmen.“ „In diesem Fall nicht, Genosse Direktor.“ „Worauf gründen Sie diese Überzeugung?“
Der Referent näherte sich dem KGB-Funktionär und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Die Mitteilung schien den Mann, der als einziger die wahre Identität von Luzifer kannte, zu beruhigen. „Blut von seinem Blut“, kommentierte er. „Hoffen wir, daß die alte Regel noch gilt.“
Die Information über die Verhandlungstaktik des Westens bei der Abrüstungskonferenz in Wien traf zuverlässig in Moskau ein. Sie wurde dem Kreml übermittelt. Der Kreml arbeitete eine Gegentaktik aus und lieferte seinen Unterhändlern in Wien genaue Anweisungen. Dort fielen die Diplomaten der Westmächte prompt auf die sowjetischen Schachzüge herein. Die Russen holten, da sie die Maxima kannten, mehr heraus, als sie je zu erhoffen gewagt hatten. Die Konferenz schien ein rauschender Erfolg für den Warschauer Pakt zu werden. Doch die Sorgen im KGB-Hauptquartier in der Dzerzhinskystraße blieben bestehen. Die Angst um den brillantesten aller Maulwürfe, um Luzifer, wuchs. „Schaltet ihn ab!“ lautete die klare Anweisung des KGBChef s. „Er ist zu kostbar. Er muß sich regenerieren. Eine Pause tut ihm gut. Auch dürfen wir nicht zu viele Erfolge einheimsen. Es kommt der Tag, da werden wir Luzifer vielleicht nötiger brauchen als zehn Panzerdivisionen. Wenn ich an eines glaube, dann ist es ein Glas Wodka, und wenn ich an etwas nicht glaube, dann ist es der immerwä hrende Frieden. Frieden bedeutet Luftholen für den nächsten Krieg. Je länger der Frieden wahrt, desto näher rückt der Krieg. Und der nächste Krieg wird der letzte sein. Der Sieger in diesem Krieg ist Sieger für alle Zeiten.“
Damit hatte der KGB-Chef die Richtung festgelegt Entsprechende Funksprüche gingen hinaus. Luzifer bestätigte und meldete sich ab zur NATO-Konferenz nach Barcelona. 13. Im Luftverkehr gab es keine zuverlässigen Flugpläne mehr. Die Air-France-Boeing, die Robert Urban und Lucia Galazzi – mit Zwischenaufenthalt in Madrid – von Tanger nach Zürich bringen sollte, flog Madrid nicht an. In der spanischen Hauptstadt streikten die Fluglotsen, also leitete man sie nach Barcelona um. – Und nun streikte in Barcelona das Bodenpersonal. Weiterflug vielleicht in ein, zwei Tagen, hieß es. Vor die Entscheidung gestellt, seinen Schützling mit de r Bahn oder mit einem Mietwagen nach Hause zu befördern, beschloß Urban, die Nacht im Hotel zu verbringen. – Falls er eines bekam. Schon am Touristikschalter am Flugplatz hieß es, Barcelona sei total ausgebucht. Urban telefonierte trotzdem herum. Es war ein trüber, kalter Tag. Sie saßen in der Kaffee-Bar und wärmten sich die Hände an den Tassen. „Kein Bett zu kriegen“, sagte Urban. „Jetzt, um diese Jahreszeit? Die Urlauber sind doch alle längst zu Hause.“ „Wegen der NATOTagung.“ „Pardon“, sagte Lucia Galazzi. „NATO? Was bitte? Hier in Spanien?“ „Die Tagungen finden reihum in den Mitgliedsstaaten statt. Und Spanien gehört dazu.“ „Und wer tagt da?“ „Generäle, Sekretäre, Funktionäre. Jeder bringt haufenweise Fußvolk mit.“
„Und warum tagt man?“ wollte sie weiter wissen. „Verzeihung, ich bin eine neutrale Schweizer Jungfrau und mit den Aufgaben dieser Organisation nicht vertraut.“ „Warum sie tagen?“ Die Frage war heute im Zeitalter von Telefon, Telex, Telefax schwer zu beantworten. „Um sich nicht aus den Augen zu verlieren, um neue Meinungen zu hören, zu äußern, um Vorträge über Strategien zu halten, um zu jammern, zu prahlen, gut zu essen, gut zu trinken. Was weiß ich.“ Urbans Name wurde aufgerufen. Er eilte zum Telefon. Lucia Galazzi ging mit. Seit Tanger wich sie nicht mehr von seiner Seite. Am Apparat war Coronel Erneste Segovia, Chef der Brigada investigación. „Dasselbe Hotel, dasselbe Zimmer“, verkündete er. „Ich wußte mir nicht anders zu helfen, als dir auf den Wecker zu fallen“, entschuldigte Urban ach. „Wozu hat man Freunde? Wir mußten nur einen arabischen Ölscheich an die Luft setzen.“ Urban formulierte seine nächste Frage so, daß die Schweizerin sich nicht davon betroffen fühlen konnte. „Hast du den Doktor wegen deiner Leber konsultiert?“ „Du meinst diesen Gynäkodingsda. Ja, ich sprach mit ihm. Verdammt interessante Neuigkeiten. Du wirst staunen. Bist du aufnahmefähig?“ Urban schielte zu Lucia hinüber. Er glaubte nicht, daß sie mithören konnte, verschob das Gespräch aber trotzdem. „In der Bar“, schlug er vor. „Wann?“ Der Spanier zögerte. „Wegen der NATO-Tagung haben wir alle Hände voll zu tun. Du weißt, was sich da für Gesindel herumtreibt. Echte und falsche Mata Haris, echte und falsche Terroristen und Journalisten.“ „Wir werden im Hotel sein.“ „Übrigens“, erwähnte Segovia noch, „euer Viersterne -
General, dieser Rotenfels, hielt nicht lange durch. Seinen Vo rtrag zur neuen Defensiv-Strategie wird sein Adjutant halten.“ „Und Rotenfels?“ „Liegt im Hospital. Gallensteine, Gallenblasenentzündung – irgendwas mit Galle. Jetzt müssen wir das Krankenhaus auch noch absichern. Ich hoffe, er läßt sich ins Militärlazarett verlegen.“ „Ich werde ihm gut zureden“, versprach Urban. Dann fuhren sie in die Innenstadt. „Schlimme Nachrichten?“ fragte Lucia. „Nicht schlimmer als sonst.“ Sie lehnte sich eng an ihn. Er nahm an, daß sie fror in ihren dünnen Sommersachen.
Lucia Galazzi war mißtrauisch genug, etwas dabei zu finden, daß es das Hotel Arycasa war und auch das Zimmer, in dem sie vor zehn Tagen übernachtet hatte. Aber sie war intelligent genug, es nicht zu zeigen, oder nur soweit, wie sie annahm, daß man es zeigen durfte, um als aufrichtig zu gelten. „Mein Zimmer!“ tat sie entzückt. „In ganz Barcelona ist kein Zimmer aufzutreiben, und nun genau dieses Zimmer.“ „Ein Araber zog heute morgen zufällig aus.“ „Oder Ihr spanischer Freund hat daran gedreht.“ „Zufällig auch das.“ „Wer ist dieser Mann?“ „Einflußreich“, beschrieb Urban ihn. „Sie werden ihn kennenlernen.“ Sie legte sich angezogen aufs Bett und beklagte den Ve rlust ihrer Sachen und ihres Autos. – Aber sie war ja diebstahlversichert. „Was Sie brauchen, kriegen Sie auch hier. Und in Zürich ein neues Auto.“
„Aber es gibt nur ein Bett.“ „Ich lasse ein Sofa hereinstellen“, erklärte Urban. „Nicht nötig. Oder haben Sie Läuse, Bob?“ „Wenn Sie keine haben“, bemerkte er. „Wer von uns beiden saß denn in einem marokkanischen Gefängnis?“ „Nun erntet man dafür auch noch den Spott.“ Bis zur Stunde hatten sie nicht darüber gesprochen, was der Anlaß ihrer Reise nach Afrika gewesen war. Jetzt tat sie es. „Ich habe auf Sie geschossen. Und zum Dank haben Sie mich aus den Händen dieser Barbaren befreit.“ „Was ist das schon“, spielte er es herunter. „Für Damen habe ich schon ganz andere Sachen gemacht.“ „Zum Beispiel?“ Ohne zu antworten ging er ins Bad und rasierte sich. Beim Rasieren fiel ihm ein, daß er eine Dusche nötig haben könnte. „Ich bin tief in Ihrer Schuld!“ rief sie. „Jede Schuld läßt sich abtragen, Gnädigste.“ „Im Sinne von bezahlen?“ „Auf irgendeine Weise“, gab er zurück. Er schloß die Tür, duschte und kam in dem sterilen Bademantel, wie Hotels von der Klasse des Arycasa ihn für Gäste zur Verfügung hielten, wieder ins Schlafzimmer. Lucia lag noch auf dem Bett. Jetzt allerdings unter der Dekke. Es handelte sich dabei nur um ein Laken, und es lag so dicht auf ihrem Körper, daß es die Konturen nachzeichnete, so wie der erste Schnee, wenn er auf Hügel und Täler fiel. Und noch etwas sah Urban, und dies, obwohl sie es ve rsteckt hatte. Unter dem Bett standen ihre Sandalen. Hineingeknüllt war etwas Weißes. – Vielleicht ihr Höschen. Und unter dem Sofapolster blitzte das helle Grün ihres Popelinkostüms hervor. Er setzte sich neben sie aufs Bett. Aus einem unerfindlichen Grund zog sie das Laken bis zum Kinn. Dort, wo ihre Brüste waren, bildete es Spitzen wie das Matterhorn.
„Es muß nicht sein“, sagte er. „Davon war nicht die Rede.“ „Wovon, meinen Sie, Bob?“ „Sie haben mich einmal verrückt genannt und spinös“, erinnerte er. „Aber eines bin ich nicht, nämlich schwer von Begriff. Es ist wirklich unnötig, daß eine neutrale Schwe izer Jungfrau wie Sie, Lucia, ihr Konto auf diese Weise ausgleicht.“ Sie lachte. Unter dem Laken, wo ihre Schenkel waren, entstand Bewegung. Mit einemmal zog sie das Laken von ihrem Körper. Er war nackt so schon, wie er als Fortsetzung ihres Profils nur sein konnte. Urban saß da, sein angeborenes Lächeln veränderte sich ein wenig in Richtung Staunen und Verblüffung. In seinem Kopf entstanden unkontrollierbare Reaktionen, und an anderen Stellen ebenfalls. Er fand sie erotisch. Diese zarte Bräune der Haut, die halbkugeligen Brüste mit den dunklen Spitzen wie das Ende eines amerikanischen Fußballs, den Nabel, diese daumendicken Kuhle mitten im glatten Bauch, die Wö lbung der Schenkel, der Zusammenlauf dreier Täler zu einem dunklen Delta. Urban war kein Träumer, fragte sich aber doch, ob das Ganze nicht vielleicht ein wenig zu früh und zu unvermittelt käme. Doch dann riß ihn ihre Aufforderung aus allen Zweifeln. „Willst du nun bumsen oder nicht?" Er zog den Bademantel aus. „Oder nicht bestimmt nicht." „Was starrst du mich dann an?" „Ist dir piano nicht lieber?" „Müssen höhere Offiziere immer erst das Gelände erkunden?" „Wichtig ist, wo die Minenfelder liegen", sagte er und drückte damit aus, daß er mit Panzerminen rechnete. Sie strich sich über die Brüste und öffnete ihre Schenkel. „Los, riskier es", keuchte sie, „in einem Minenfeld zu landen."
Das war der Originalton einer Schweizer Jungfrau, die längst keine mehr war. Sie empfing ihn nicht keusch, sondern wollüstig. Sie wußte, wie es ging. Und sie hatte die Erfahrungen einer neunundzwanzigjährigen Nutte. Sie beherrschte Schwung und Gegenschwung, wußte, wie man sich auf dem Hintern bewegte, was man mit den Händen tat, wo man nur streichelte, wo man fest zupackte und wo man sich hineinkrallte - und was man sagte. „O Bob", stöhnte sie. „Was bist du für ein Lover!"
Es ging auf den späten Nachmittag zu. – Besuchszeit in Krankenhäusern. Das Hospital der St.-Antonio-Brüder lag einen Kilometer entfernt, in der Nähe des Parque de la Ciudadela. Lucia schlief wie ein junges Reh, das vom bösen Wolf dreimal durch den tiefen Wald gehetzt worden war. Urban legte einen Zettel hin, verließ das Hotel und verzichtete auf ein Taxi. Zu Fuß den Paseo de San Juan runter, den Nordbahnhof links lassend, war er im Nu beim Museum für moderne Kunst. Dort stank es schon nach Desinfektionsmittel. Die Oberschwester sagte ihm, wo der General lag, aber der Posten an der Tür machte Probleme. Bis der General Urbans Stimme hörte und von drinnen rief: „Lassen Sie ihn herein, Companero! Ein Amigo von mir." Urban hatte nichts in der Hand, weder Blumen noch Champagner. Er entschuldigte sich. „Wird nachgeholt", versprach er. „Hab' eine Stunde Zeit und dachte mir, schau dich nach dem alten Landsknecht um." „Fein, daß du gekommen bist. Meine Malaise hat sich also schon herumgesprochen." General von Rotenfels war noch blasser als sonst. Seine Haut mochte einen Stich ins Gelbe haben. „Nur Steine", sagte er, „keine Hepatitis. Die Steine gehen ab. Noch ein, zwei Tage. Mit Spritzen halten sie die Schmerzen im Zaum." „Man behauptet, es sei etwa so angenehm wie eine Zangengeburt ohne Narkose." „Ich war noch nie schwanger“, scherzte Rotenfels etwas mühsam. „Hörte, du seist unterwegs nach Marokko. Wegen dieser Frau.“ „Wer hielt da wieder nicht dicht?“ „Es spricht sich eben herum. Und im Augenblick ziehen wir alle an derselben Leine. Ist sie aus dem Dreck?“
„Ein Stück“, sagte Urban. „Die Tochter der Lucy-Sekretärin ist in Sicherheit.“ „Was ist ihr passiert?“ „Kidnapping.“ „In Tanger?“ Der General bezweifelte das. „Mädchenhändler?“ „Vielleicht waren es auch Leute, die sie auf Eis legen wollten, weil sie fürchteten, wir könnten den Lucy-Damen aufs Fell rücken und mit ihrer Hilfe weiterkommen. Du kennst doch die Funktion von Perspektiv-Agenten. Lucy muß einen solchen Mann plaziert haben.“ „Man hört, sie sei recht unfreundlich zu dir gewesen.“ „Ich hab’s überlebt “, sagte Urban. „Und weil ich schon hier bin, ein paar Fragen, Otto.“ Der General nahm einen Schluck von der teeartigen Flüssigkeit, die man ihm hingestellt hatte. Dann hob er die Hand. Sie war schlank. Schmale Finger mit gepflegten Nägeln. Gar nicht landsknechthaft. „Bin bereit.“ Urban zögerte nicht länger. „Wie lange kennst du Mark Kennan?“ „Seit vierzig Jahren“, rechnete von Rotenfels. „Nach dem Krieg kam ich durch Vermittlung von Verwandten in die USA und studierte dort Maschinenbau. Während der Semesterferien arbeitete ich bei Chrysler. – Dies nicht ohne Absicht. Chrysler stellte Panzerkampfwagen her. Dort lernte ich Mark Kennan kennen. Er war damals Captain und überwachte die Fließbandfertigung. Er war dafür verantwortlich, daß die Tanks die Fabrik so verließen, wie die Army sich das vorstellte, und daß sie nicht plötzlich rückwärts anstatt vorwärts fuhren, wie das Öfter mal vorkam. – Später, als ich schon bei der Bundeswehr war, trafen wir uns in der Schweiz wieder. Diesmal waren wir Ma106
növerbeobachter und Militärattaches. Ich als Major, er als Colonel. Das war Ende der Fünfziger.“ Urban bat Rotenfels, den Amerikaner so zu beschreiben, wie er vor dreißig Jahren ausgesehen hatte. „Er hat sich wenig verändert. Heute ist er kompakt und grau. Damals war er groß, schlank, blond, blauäugig.“ Urban dachte an die Schilderung von Lucias Mutter, den angeblich unauffindbaren Vater ihrer Tochter betreffend. „Wo hattet ihr in der Schweiz zu tun?“ „Überall. Im Gebirge, im flachen Land, zwischen Zürich, Bern, Genf und in Luzern.“ „Hatte Kennan eine Freundin?“ Der deutsche General überlegte. „Ich glaube ja.“ „Wie hieß sie?“ „Keine Ahnung.“ „Wie sah sie aus?“ Rotenfels mußte lange nachdenken. „Ich begegnete ihr nur einmal. Sie war hübsch, glaube ich, und wirkte irgendwie italienisch. Aber worauf willst du hinaus, Bob, alter Bluthund?“ Urban deutete es an. „Könnte General Kennan damals mit der Lucy-Organisation Kontakt aufgenommen haben? Oder Lucy mit ihm?“ Rotenfels, der Lucy-Experte, winkte ab. „Lucy war damals schon aufgelöst.“ „Das ist nicht das Problem. Ich will nur wissen, ob er – rein theoretisch – Kontakt gehabt haben könnte.“ Ottokar von Rotenfels schüttelte den Kopf. Dann wischte er sein Lächeln aus dem Gesicht. „Theoretisch schon.“ „Na also!“ 107
„Na also, bitte was?“ „Ob er vielleicht Luzifer ist?“ „Nie im Leben! Schlag dir das aus dem Kopf!“ „Was macht dich so sicher?“ „Ich kenne den Burschen. Es ist kein Verrätertyp. Ich lege meine Hand, nein, meinen Kopf, für ihn unters Beil. Vergiß Mark Kennan! Er ist die falsche Spur.“ Urban gab sich scheinbar zufrieden. Sie sprachen von anderen Dingen. Von der Tagung, von der neuen Strategie, von den Jahren, die dem General noch bis zu seiner Pensionierung blieben. „Wenn die Galle so weitermacht, werde ich wohl etwas früher die Uniform ausziehen. Der Job macht dich kaputt – dem einen das Herz, dem anderen die Galle.“ „Und den Säufern die Leber.“ „Uns ehemaligen Panzerleute kannst du in den Mülleimer werfen. Wir leiden alle an Spätschäden.“ „War Kennan auch bei den Panzern?“ „Er führte eine Kompanie, ich war nur Tiger-Kommandant“, sagte der General, „damals, mit knapp neunzehn, blutjung und gerade zum Leutnant befördert. Bei Guderian erlernte ich das Handwerk. Als ich es konnte, kam der Rückzug. Doch in den letzten Tagen erwischte es noch viele.“ „Gibt’s noch Kameraden von damals?“ „Ich bin keinem begegnet“, bedauerte der General. „Alle tot. So ist das doch: Die Tapfersten holt sich der Sensenmann zuerst.“ Eine Schwester schaute herein. Urban fand, daß es an der Zeit sei zu gehen. Wenn der Streik andauerte, wollte er noch einmal vorbeischauen. „Paß auf dich auf! „ sagte der General. 108
Als Urban ins Hotel zurückkam, schlief Lucia noch immer. Im Vorübergehen hatte er einiges gekauft. Nun legte er den engen weißen Rock und die Bluse – größenmäßig war es über den Daumen gepeilt, aber 36 mußte wohl passen – auf das Sofa. Eben wollte er sich aus der Champagnerflasche bedienen, da summte das Telefon. Es ging gedämpft, Lucia erwachte nicht davon. Die Rezeption meldete, daß Urban in der Bar erwartet wurde. Erneste saß auf einem der hohen Hocker und sah aus, als würde er gleich die Siegesflagge hissen. „Hab’ nur wenig Zeit“, bedauerte er. „Aber Geschenke überbringt man gern selbst.“ „Wo ist der Karton?“ Der elegante Coronel schob Urban nur eine Visitenkarte hin. Büttenpapier, Golddruck. Darauf: Prof. Doc. Achille Calmos. Er war Facharzt für Chirurgie und Gynäkologie. „Darf ich den Karton aufbinden?“ fragte Urban. „Nimm die Schere!“ „Ist er so fest zu?“ „Der Bursche war hart wie Stein.“ „Du hast ihn zertrümmert?“ „Angebohrt“, nannte Segovia es. „Es gibt ja keinen, von dem wir nicht einiges wissen. Jeder hat irgendwo einen Flecken auf der Weste. Leiche im Keller ist vielleicht noch besser, aber ein Flecken auf der Weste genügt auch. Ich ging die alten Akten durch, die, die noch Generalissimo Franko anlegen ließ. Und schon hatte ich ihn am Haken.“ Urban wollte nicht wissen, was der Professor auf dem Kerbholz hatte, daß er dafür sein Arztgeheimnis lüftete, aber der Haken hatte gewiß tief im Fleisch gesessen. Der Coronel hatte die Schnur straff gespannt, um die Wahrheit ans Licht zu zerren. Und jetzt war die Stunde der Bescherung. 109
Der Coronel fragte: „Die Mutter von Lucia Galazzi ist doch Tina Galazzi?“ „Richtig.“ „Sie hat hier entbunden. Ende der Fünfziger. In der ve rschwiegenen Klinik des Professors.“ „Und der Vater? Mir verweigerte die Mutter die Auskunft.“ „Über den Vater gibt es keine amtliche Eintragung“, sagte der Coronel. „Nur einen Vermerk, denn Lucias Mutter war nicht mit ihm verheiratet. Es ist ein gewisser von Kolhaase. Herbst von Kolhaase. Ein Baron. Niederer Adel, schätze ich.“ Urban mußte erst mit der Überraschung fertig werden. Bei dem Barmixer, der ohne Arbeit herumstand, bestellte er einen Doppelten. „Kolhaase. Nie gehört.“ „Schätze, das wird nicht lange so bleiben, und ihr geht seinem Ursprung nach.“ „Mit Sicherheit. Ist über Lucias Vater sonst noch etwas bekannt?“ Segovia öffnete das letzte Geschenkpäckchen. Ungeduldig schoß Urban vor. „Er war da und besuchte die Kindsmutter?“ „Richtig!“ „Kolhaase war groß, blond und blauäugig?“ „Ebenfalls richtig. Der Professor erinnert sich gut an ihn. Er hielt ihn für einen Amerikaner, denn er bezahlte alle Kosten mit Dollars.“ „Mit Dollars“, wiederholte Urban und pfiff leise. „Und er war blauäugig.“ „Ist das was?“ Urban nickte. „Ich liege total geschockt am Boden“, gestand er. „Klar ist das was. Es ist was, aber es ist so, als würdest du mit Höchst110
geschwindigkeit in eine Richtung fahren, dann wenden und beim abermaligen Erreichen der Höchstgeschwindigkeit erneut wenden.“ Erneste legte die Hand auf Urbans Schulter. „Nimm’s leicht!“ „Leichter schon als der Mann, der Luzifer ist. Er weiß mehr, als ich weiß. Aber ich weiß mehr, als er glaubt.“ „Mehr konnte ich nicht für dich tun.“ „Sollte jemals der Generalissimus wieder auferstehen“, versprach Urban, „werde ich dir an der Spitze einer deutschen Panzerdivision zu Hilfe eilen.“ Der Colonel mußte weiter. An der Bartür stand schon sein Adjutant und rauchte ungeduldig. Urban leerte allein seinen Drink, nahm noch einen, quittierte die Barrechnung und fuhr hinauf. Lucia war aufgestanden, hatte gebadet und probierte begeistert die neuen Klamotten, „Wie für mich genäht!“ rief sie. „Hauptsache, es paßt.“ „Ich hätte vielleicht mehr an etwas Zartblaues gedacht.“ „Was versteht ein Mann schon davon.“ „War sonst etwas bei dir?“ wollte sie wissen. „Nichts, aber auch gar nichts“, log er. Sie drehte sich vor dem Spiegel, und er fand, daß es sie gut kleidete. „Naja, Boutiquen-Massenware.“ Er goß Champagner in zwei Gläser, um seinen Erfolg zu begießen. „Auf uns!“ Lucia drängte sich an ihn. „Du bist doch fünfunddreißig plus X Jahre alt.“ „Ungefähr.“ „Du bist noch toll drauf.“ 111
„Aber so viele Präservative habe ich gar nicht dabei.“ „Von mir aus.“ „Okay, die einen werden in Barcelona geboren, die anderen werden hier gezeugt.“ Sie hatte nur halb hingehört, denn sie war schon wieder in Fahrt. Mit Verzögerung zuckte sie zusammen. Aber sie überspielte es. Sie hielt seine Andeutung wohl für zufällig. Sie verloren die Balance, kippten um und fielen auf das Bett. „Du bist einer von den Männern, die noch lieben können“, flüsterte sie. „Reine Routine.“ „Nein, es ist mehr als Technik.“ „Sagtest du lieben“, fragte er, „oder lügen?“ Es war spät, als sie voneinander abließen. Er lag wach, und Lucia schlief. Er horte sie atmen, und er hatte nichts gegen sie. Im Gegenteil. Selbst wenn sie heute noch für die neue Lucy-Organistion arbeitete – mal angenommen, es war so – , dann war das ein Job wie jeder andere, und es gab keinen Eid, den sie brach. – Außerdem, was bedeuteten Eide schon bei einer Frau? Eide hatten bei Frauen nie etwas gegolten. Am besten, man forderte ihnen keinen ab. Er trank von dem Champagner. Er war nicht mehr kalt und ein wenig schal. Urban verließ das Bett, ging ins Bad und nahm das Telefon mit. Er schloß die Tür und wählte die Null, die ihm eine Außenleitung vermittelte. Dann sprach er mit dem BNDHauptquartier in München.
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In Spanien speiste man um 22.00 Uhr. Manche Theater öffneten erst um Mitternacht. Die Flamenco-Clubs hatten bis vier Uhr Betrieb und die Freudenhäuser rund um die Uhr. Als sie ins Hotel zurückkehrten, lag eine Nachricht für Urban im Fach. „Dein Freund?“ fragte Lucia ein wenig beschwipst. „Nein, wir können morgen früh fliegen. Vielmehr heute früh.“ „Und dein Freund, der Coronel?“ „Das ist erledigt.“ Sie fuhren hinauf. „Wann morgen früh?“ fragte Lucia „Kurz vor acht.“ „Da lohnt sich schlafen nicht mehr.“ „Was dann?“ „Wollen wir uns fürs Frühstück hungrig bumsen?“ „Wir gewöhnen uns daran“, befürchtete er. „Bald werde ich dich nicht mehr haben. Ob wir uns jemals wiedersehen?“ Er wußte es nicht. Sie kleidete sich nackt aus, und das völlig ungeniert, wie manche Frauen es so an sich hatten. „Was gefällt dir an mir?“ fragte sie. „Mein Hintern?“ „Auch.“ „Was noch?“ „Deine Keuschheit.“ Sie lachte weinselig. „Was Leute so aneinander finden. Was macht sie eigentlich so sinnlich, so wild? Ich meine, Penis ist Penis und Vagina ist Vagina.“ „Das Drumherum“, meinte Urban. „Auf das Drumherum kommt es an.“ 113
Sie schliefen nicht mehr allzuviel bis zur Morgendämmerung. Dann frühstückten sie, und schon kam das Taxi und brachte sie zum Aeropuerto Richtung Sitges. Als Urban neben ihr saß, wirkte er abwesend. Daß er Kopfschmerzen hatte, wunderte ihn wenig. Wenn er nichts dagegen tat, schaukelte sich das auf und blieb hängen. Nur das nicht! – Er griff zur Reverstasche, wo er seine Tabletten hatte. Aber der Thomapyrin-Streifen war nicht an der üblichen Stelle. „Was suchst du?“ fragte Lucia. „Nichts.“ „Ich habe noch eine“, sagte sie fast hellseherisch und öffnete ihre Handtasche, das einzige, was ihr aus Tanger geblieben war, und nahm einen Plastikstreifen mit fünf runden weißen Tabletten heraus. „Was ist das?“ „Thomapyrin.“ „Sind das diese roten Gummibärchen?“ „Nein, aber die weißen Eisbärchen. Sie bringen uns wieder in Ordnung. Sie lindern auch den Abschiedsschmerz.“ „Bist du sicher?“ „Ganz“, versprach sie. „Und ohne alles einfach runter?“ „Rein, schlucken und weg.“ Er tat so, als hätte er noch nie davon gehört, daß es so was Feines gab. Urban dachte daran, daß jetzt wohl schon weltweit die riesige elektronische Apparatur lief, um diesen Herbst von Kolhaase ausfindig zu machen.
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14. Sie hatten eine Spur, und die hielten sie fest, bis sie sich entweder durch Fakten verstärkte oder aber zwischen ihren Fingern zerrann. Es kam nicht alle Tage vor, daß sämtliche Archiv-, Personal-, Daten- und Fahndungscomputer in Westeuropa und in den USA auf ein und denselben Namen programmiert waren. Der Befehl lautete: Sucht und findet Herbst von Kolhaase, geboren vermutlich 1926, vermutlich Deutscher, vermutlich Angehöriger der deutschen Wehrmacht, vermutlich ausgewandert in die USA. Sämtliche anderen Programme in den Computersystemen von Bundeskriminalamt, Sûrete, MI-5 und MI-6, dem römischen SISMI, Interpol, den Geheimdiensten der anderen NATO-Staaten und in den USA von FBI und CIA wurden gestoppt. Das Kolhaase-Programm hatte absoluten Vorrang. Und dies aus einem einfachen Grund: Man nahm an, daß Kolhaase, der Vater von Lucia Galazzi, von der LucyNachfolgeorganisation zu Luzifer aufgebaut worden sei. Aber noch fehlten die Beweise. Urban, der nach München zurückgekehrt war, glaubte, noch einen zweiten Weg entdeckt zu haben. Er beschritt ihn vorerst nicht. Zunächst wartete er die Ergebnisse der Computerfahndung ab. Der Datenlauf war mit einem klassischen Flußsystem zu ve rgleichen. Aus Quellen wurden Rinnsale, Bäche, schmale Flüsse, dann breitere, die sich zu Strömen verbanden, Aber im Grunde kam nicht viel mehr heraus als die Binsenweisheit, daß jeder General als Kadett oder Fähnrich angefangen hatte und daß er in der Regel dreißig Jahre brauchte, um Stabsoffizier zu werden, falls er Glück hatte und befähigt war. 115
Die Generäle an der NATO-Spitze waren alle um die Sechzig. Ebenfalls nicht besonders aufregend war die Tatsache, daß sie alle in der Schweiz und in Amerika gewesen waren. Sei es bei einer Botschaft als Militärattache oder als militärische Berater bei irgendwelchen Verhandlungen in Genf „Sehen Sie sich das an!“ sagte der Computertechniker zu Urban. „Alle waren um anno sechzig herum irgendwann in der Schweiz. General Samoza, General Laroche, General von Rotenfels, General van Riffle, Admiral Winther, General Kennan, General Sörgensen, Capodistrios und und und.“ „Und sogar ein Türke“, ergänzte Urban. „Na fabelhaft!“ Es kam schon wieder gedämpfter Pessimismus auf, als aus dem französischen Computersystem eine Meldung einlief. Urban erfuhr davon durch den Anruf seines Kollegen Gil Quatembre von SDECE in Paris. „Wir gruben da eine uralte Suchmeldung nach einem gewi ssen Herbst von Kolhaase aus.“ „Er war“, bestätigte Urban, „deutscher Panzeroffizier und gilt bei uns als verschollen, unauffindbar.“ „Bei uns taucht er, wenn auch nur kurz, in den Nachkriegsakten auf. Die Sache wurde damals archiviert, weil sie aus dem Rahmen fiel.“ Urban erfuhr von Vorgängen im Sommer des Jahres 1945 am Südrand des Schwarzwaldes. Französische Besatzungssoldaten hatten einen als Zivilisten getarnten Panzerleutnant aufgegriffen. Er war hochdekoriert, hieß Herbst von Kolhaase, und wie sich herausstellte, war er der Sohn des am 20. Juli nach dem Attentat auf Hitler gehenkten Generals von Kolhaase. Der Verhöroffizier in einer Kommandantur am Rhein interessierte sich für den Gefangenen. Aber bei einem nächtlichen Besuch hatte der Deutsche ihn niedergeschlagen und seine 116
Uniform angezogen, hatte sich an den Posten vorbeigemacht und war geflohen. „Sie merkten es erst am Morgen“, berichtete Quatembre we iter. „Sie suchten ihn in allen vier Besatzungs zonen, aber er blieb verschwunden. Deshalb vermutete man, daß er sich in die Schweiz abgesetzt hatte. – Die Sache ist auch deshalb aktenkundig, weil man derartige Übergriffe gegen die Besatzungsmacht damals nicht hinnehmen konnte.“ Urban erfuhr alles, was die Franzosen aufgeschrieben hatten. Auch den Namen des Ortes. Er hatte noch einige Fragen. „Kolhaase zog die Uniform des Verhöroffiziers an. Steckte er den Verhöroffizier in seine eigene Uniform?“ „Dazu fehlte ihm wohl die Zeit.“ „Warf er sie unterwegs fort oder versteckte er sie?“ „Der Posten erinnerte sich nicht, ihn mit einem Bändel oder Ähnlichem gesehen zu haben.“ „Konnte die Uniform irgendwo in dem Haus zurückgeblieben sein?“ „Wenn es noch steht, warum nicht?“ „Da unten werden alte Häuser meist wie Denkmäler gepflegt. Wenn es den Franzosen als Kommandantur tauglich schien, dann hatte es gewiß Substanz.“ „Was versprichst du dir davon?“ „Vielleicht finden wir die Uniform.“ „Was willst du damit?“ Urban sagte es Gil. Sie waren gute Freunde und vertrauten einander. „Dieser Herbst von Kolhaase könnte uns zu dem großen Spion an der NATO-Spitze führen. Angenommen, an seiner Uniform sind Reste von Blut, Haaren, Schweißpartikeln, Talg, dann wären wir schon einen Schritt weiter.“ „Der Ort heißt Wylen“, sagte Quatembre. „Es war das alte Rathaus.“ 117
Begleitet von einem Kripokommando und einem Beamten des Verfassungsschutzes durchsuchte Urban das alte Rathaus in der kleinen Stadt am Rhein. Man hatte es in den letzten dreiundvierzig Jahren mehrmals umgebaut. Es hatte neue Türen, neue Fenster, ein neues Dach, neue Heizung, neue Fußböden und so weiter erhalten. Auch hatte man Mauern weggerissen, versetzt und neue gezogen. „Wir hätten etwas gefunden“, versicherte der Bürgermeister, „wenn es der Rede wert gewesen wäre.“ „Und wenn es nicht der Rede wert war, etwa alte Uniformlumpen?“ „Es heißt, der Mann sei hochdekoriert gewesen. Eisernes Kreuz, Deutsches Kreuz und so we iter. Das wäre aktenkundig geworden.“ Urban war nahe daran aufzugeben. Müde lehnte er an einem alten Kachelofen, der nur noch der Dekoration diente. Plötzlich hatte er einen Einfall. „Wurden die Kamine auch erneuert?“ „Kamine sind immer das letzte, was noch stehenbleibt. Selbst bei Ruinen.“ Sie hatten wenig Hoffnung, aber sie versuchten es. Der Bezirkskaminkehrermeister wurde gerufen und der alte noch lebende Kaminkehrermeister. Einen Tag später entdeckte Urban im Keller, im Fundament eines der Kamine eine Kamintür. Sie war zugemauert, aber Rost unter dem Putz verriet sie. Sie schlugen den Putz ab und stemmten die Tür auf. Jetzt lag ein Bündel Kleider vor Urban. Der herabfallende Ruß hatte es konserviert. Es stank wie geräuchert, aber es war eine Leutnantsuniform. Sie kam in einen Plastikmüllsack. – Der Mann vom Verfas118
sungsschutz bestand darauf, daß alles Weitere in seiner Zuständigkeit blieb. Aber man würde dem BND die Laborergebnisse zukommen lassen. „Wozu braucht ihr die eigentlich?“ fragte der Verfassungsschützer, schon im Wegfahren begriffen. „Ein Blut- und Gewebetest würde uns Vergleiche ermöglichen, die uns vielleicht zu einem der gefährlichsten Spione führen, den die NATO bis heute hatte.“ „Du hörst von mir“, versicherte der Mann aus Kola Zurück in München bombardierte Urban alle bekannten Kriegsarchive mit den Namen Herbst und Wittiku von Kolhaase. Das Ergebnis ließ auch nicht lange auf sich warten. General Wittiku Milch von Kolhaase stammte aus ostelbischem Adel und war als Mitverschwörer beim Attentat auf Hitler vom 20. Juli in Plötzensee gehenkt worden. Sein Sohn, der Panzerleutnant, war beim Rückzug in der Nähe der Elbe in die Hände eines SS-Auffangskommandos geraten. In den Akten stand, daß er möglicherweise mit einer Reihe anderer Kameraden als Deserteur verurteilt und standrechtlich erschossen worden sei. „Möglicherweise“, bemerkte Urban. „Offenbar überlebte er aber, denn er ist der Vater von Lucia Galazzi und möglicherweise der Topagent Luzifer. Aber wie, zum Teufel, kriegt man ihn?“ „Heißt es nicht, daß als Luzifer eine ganze Reihe von hohen NATO-Generälen in die engere Wahl kommen?“ fragte der EDV-Mann. „Das ist das Problem“, gestand Urban, „Stellt fest, ob noch Namen von Kameraden aus Kolhaases Panzerdivision zu ermitteln sind.“ Urban sprach mit den Sicherheitsbeauftragten der CIA in Washington und des MI-5 in London. – Dann fuhr er mit dem Lift hinauf zum Vizepräsidenten. 119
Urban informierte seinen zweithöchsten Chef über den Stand der Dinge. Mit der Gelassenheit britischer Golfprofis steckte der Vize sich eine Nil-Zigarette aus der blauen Packung an. „Interessant“, sagte er, ohne ein Wort der Anerkennung. „Und?“ „Wir kommen nur noch auf dem genannten Weg weiter.“ Der Vize, ein kluger, vorsichtiger Mann, zupfte einen Tabakbrösel von der Lippe und betrachtete ihn nachträglich. „Über Gewebeproben“, stellte er fest. „Wie bei Vaterschaftsermittlungen üblich.“ Er blickte Urban scharf an. Besondere Schärfe drückte er stets dadurch aus, daß er haarscharf an einem vorbeischaute. „Vorausgesetzt, Ihre Theorienkette von Lucia Galazzi zu Luzifer stimmt auch.“ „Ich habe keine bessere“, bedauerte Urban. „Und wie werden Sie vorgehen, ohne daß die Herren gleich merken, woher der Wind weht?“ „Das ist nicht allzu schwierig“, erklärte Urban. „Einige Länder halten von ihren hohen Militärs Blutkonserven aus Eigenblut in Reserve. Admiral Winther muß ohnehin zu einem Grundcheck. General Kennan ist zuckerkrank und bekommt hin und wieder eine Injektion.“ „Und unser guter Rotenfels?“ „Liegt in Barcelona und kuriert seine Gallenblase. Zumindest lag er dort noch bis vor kurzem. Ich hoffe, man hat da gewisse Möglichkeiten.“ „Genügt Blut allein, um so etwas festzustellen?“ „Heute schon, bestätigte man mir.“ „Und wie kommen Sie an die zum Vergleich notwendigen Gengruppen von dieser Dame in Zürich?“ „Da habe ich schon eine Idee“, deutete Urban an. 120
Der Vize wollte diese Einzelheiten gar nicht wissen. Ihm ging es um den reibungslosen Ablauf und um den Erfolg. „Das muß mit den Sicherheitsabteilungen der anderen Dienste verdammt gut abgestimmt werden.“ „Wir sind dabei“, bestätigte Urban. „Von dort kommt überall das Okay.“ „Dann haben Sie auch meines“, antwortete der Vize. „Aber Sie wissen ja: Immer dezent, immer lautlos, nix Presse, nix Radio, nix Telewischn. Unser Dienst hat immer am besten gearbeitet, wenn man den Eindruck hatte, daß es ihn gar nicht mehr gibt.“ Urban hatte grünes Licht und empfahl sich. Noch im Vorzimmer erreichte ihn ein Anruf der EDV. „Betrifft die Kameraden von Herbert von Kolhaase. In seiner Panzerdivision fanden wir einen Namen, der heute eine gewi sse Prominenz hat. Leutnant Ottokar von Rotenfels.“ ,Ja, er war Panzerkommandant unter Guderian.“ , Jm selben Bataillon wie Kolhaase.“ „Man dankt“, sagte Urban. Es war wichtig, so viel Kapital wie möglich zusammenzukratzen, denn nur viel Kapital ergab auch viele Zinsen. Im Laufe des nächsten Tages wurden die Blut- und Gewebeproben jener Männer beschafft und gesammelt, die als Luzifer in Frage kamen. Auf Urbans Vorschlag hin einigte man sich auf einen neutralen Gutachter aus Zürich. Er galt als internationale Kapazität und war bekannt für seine penible Arbeitsweise, wobei von ihm selbst entwickelte Methoden zum Einsatz kamen. Der Züricher Experte, ein gewisser Dr. Wully de Sentis, erhielt die Proben per Kurier zugestellt. Jede Probe kennzeichnete nur eine Ziffer, kein Name. Es waren mehr als ein Dutzend Proben. Sie führten die Ziffern l bis 14. 121
Dr. Sentis Auftrag lautete, die Proben so zu analysieren, daß durch Vergleich mit einer besonderen 15. Probe ein Beweis der Vaterschaft zu führen war. Darüber hinaus bekam der Schweizer Biologe noch Anwe isung, die Ergebnisse der Untersuchung aufgelistet in seinem Safe zu deponieren. Als es soweit war, traf Urban eine besondere Vereinbarung mit ihm.
Noch einmal sprach Urban mit Lucia Galazzi. Es war am Dienstag, als die Untersuchungen bei Dr. Sentis schon liefen. „Wie geht es dir?“ Er merkte, daß sie sich über seinen Anruf freute. „Danke, schlecht!“ „Doch nicht, weil du mich vermißt?“ zeigte er sich gutgelaunt. „Daß ich dich vermissen würde, war klar. In diesem Punkt ist von uns alles geregelt.“ Er hatte ihr nie etwas versprochen, und sie hatte auch keinerlei Andeutungen gemacht, daß ihr daran lag, die Verbindung fortzusetzen. „Was fehlt dir, Darling?“ „Dies und das.“ „Bist du krank?“ Daß sie sich nicht wohl fühlte, kam ihm ungeheuer entgegen. „Ist es das Wetter?“ „Nein. Wetterumschwünge stören mich nie.“ „Hast du Kopfschmerzen oder Übelkeit am Morgen?“ „Mehr oder weniger“, gestand sie. Nun hatte er sie soweit. 122
„Sei ehrlich, Lucia: Besteht die Möglichkeit, daß du schwanger bist?“ Ihre Antwort wurde von einem gequälten Lachen eingeleitet. „Ein bißchen.“ „Grund dafür gibt es wohl.“ „Ja, ich erinnere mich dunkel.“ Mit einemmal gab er sich todernst. „Lucia, das betrifft nicht nur dich allein.“ „Nein?“ „Deshalb wünsche ich, daß das geklärt wird.“ „Warum?“ „Um sicherzugehen, verdammt noch mal.“ „Warum fluchst du?“ Er gab sich wirklich alle Mühe. „Weil ich in Sorge bin.“ „Um was besorgt? Daß ein alter Knabe wie du Vater wird? – Ich hole mir einen Teststreifen. Den kann man in jeder Apotheke kriegen.“ „Das ist mir zu unsicher.“ „Es ist erprobt und hundertprozentig.“ „Hör zu!“ Er setzte neu an: „Hör mich an! Meinetwegen kannst du mich für altmodisch halten. Ich möchte, daß das professionell gehandhabt wird. Geh zu einem guten Arzt!“ „Hier kennt mich doch jeder.“ „Ich rufe sofort wieder an.“ Er legte auf, wartete zehn Minuten, dann wählte er erneut ihre Nummer. „Ich habe mit einem guten Freund in Zürich gesprochen. Er behandelt das mit der nötigen Diskretion. Privat durch den zweiten Eingang. Alles gebont?“ Erst war sie dagegen. Doch er ließ nicht locker. Schließlich war sie einverstanden. Fast ein wenig zu schnell, wie es ihm 123
vorkam. Er nannte ihr die Adresse. „Doktor de Sentis.“ „Frauenarzt?“ „Nein“, sagte Urban. „Er ist einer der besten Biologen Europas. Du mußt dich weder auf den berühmten Gynäkologenstuhl setzen noch ausziehen. Er macht das über, ach weiß der Teufel wie, über eine Blut-, Urin- oder Gewebeprobe.“ „Ein neues Verfahren offenbar.“ „Ja ganz neu. Ich sprach gerade mit ihm darüber.“ Sie räusperte sich mehrmals. „Und das soll ich dir glauben? „Hab Vertrauen, Darling!“ „Ich habe mehr Vertrauen“, gestand sie, „als du je zu mir haben kannst.“ „Vergiß, was war“, sagte er. „Denk daran, was ist und was vielleicht sein wird.“ „Und was wird sein?“ „Frühling, Sommer, Herbst und Winter“, wich Urban aus. Sie versprach, morgen zu de Sentis zu gehen, oder heute noch, und daß sie bald nach München komme und sich freuen würde, ihn zu sehen. „Bis bald!“ Das war wirklich das Äußerste, was er in der Sache tun konnte.
Die Ergebnisse der Blut-, Haar- und Talgproben aus der dreiundvierzig Jahre alten Uniform gingen ebenfalls nach Zürich. In Brüssel hatte sich eine Sondergruppe gebildet. Sie hatte Vollmacht, notfalls blitzartig zuzugreifen. 124
Soweit liefen die Vorbereitungen, als Urban mit General von Rotenfels in einem Münchner Cafe saß und lustlos an seinem Bourbon herumsüffelte. „Dir geht es besser“, stellte er fest. „Das Gelbe ist weg.“ „Jetzt werde ich zartgrün“, spottete der General. „Die Spanier sind gute Chirurgen, was Stierkampfwunden betrifft. Aber mit Leber und Galle haben sie es nicht so. Ich bin einfach ausgerückt. In zwei Stunden nimmt mich eine Kuriermaschine mit nach Brüssel.“ „Ich bringe dich nach Erding“, sagte Urban. „Nicht nötig. Es gibt Taxis.“ Rotenfels schien viel zu sehr beschäftigt, als daß ihn das Ergebnis der Fahndung nach Luzifer interessierte. „Wir fanden die Uniform eines gewissen Herbst von Kolhaase“, berichtete Urban, „der damals wohl zu Lucy überlief.“ „Kolhaase?“ Der General dachte nach. „Ich erinnere mich dunkel. Wurde Kolhaase nicht von der SS liquidiert?“ „Dann wäre ein anderer an seiner Stelle…“ Urban sprach nicht weiter. „Warum sollte er das?“ fragte der General. „Aber was nützt euch schon die Uniform?“ „Wir bekamen Blut-, Haar- und Gewebeproben zu Vergleichszwecken.“ „Zum Vergleich mit wem?“ Urban antwortete nicht darauf, sondern sprach von General Mark Kennan. „Deine Meinung über Kennan in allen Ehren“, sagte er, „aber er gerät immer mehr ins Visier.“ „Vergeßt das! Mark ist okay.“ „Er gerät bereits unter Beschuß. Mal sehen, wie er sich im Trommelfeuer verhält.“ „Das kann ich dir sagen“, antwortete der deutsche General. 125
„Er ist sauer und haut ab. Er geht fischen, jagen, spielt Golf oder so.“ „Mit seiner Freundin?“ Rotenfels winkte ab. „Mark Kennan, in seinem Alter? Der und Frauen.“ „Freundin“, betonte Urban. „Mannequin, kaum zwanzig. In Düsseldorf.“ „Quatsch!“ „Er wird sich pensionieren lassen oder ins Ausland absetzen“, fuhr Urban fort. „Aber nicht ohne die Dame. Von ihrer Seite aus ist es bestimmt keine heiße Liebe, aber Kennan ist Witwer, ziemlich vermögend und hat keine Kinder.“ Rotenfels trank den Kaffee aus und bestellte noch einen Cognac. „Den hat mir der Arzt auch verboten“, jammerte er. „Dies und das und jenes und alles – aber wozu lebt man dann noch?“ Er schaute auf die Uhr. „Wird Zeit.“ Der General ließ sich ein Taxi rufen. „Ich hätte dich gern nach Erding gebracht“, erklärte Urban. „Du hast Wichtigeres zu tun“, sagte der General. „Du mußt wieder einmal ein bißchen das Vaterland retten.“ Urban schaute ihm nach, als er ins Taxi stieg. Er war noch elastisch wie ein Junger. Dann fing es zu regnen und zu winden an. Urban machte, daß er um die Ecke und nach Hause kam
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15. Der Schweizer Biologe Dr. de Sentis meldete sich bei Urban. „Die beschriebene weibliche Person war bei mir“, meldete der Wissenschaftler. „Ich kann Sie beruhigen, Bob, keine Schwangerschaft.“ „Darum ging es auch gar nicht.“ Der Biologe war einigermaßen im Bilde und fuhr fort: „Und dann war sie noch einmal da.“ „Wann?“ „Gestern nacht.“ „An Ihrem Safe?“ „Würde mich sehr interessieren, wie sie ihn aufbekam.“ „Sie hat nicht nur Kunst, Sprachen und Musik studiert. Wahrscheinlich genoß sie auch auf anderen Gebieten eine erstklassige Ausbildung.“ „Sie hinterließ fast keine Spuren“, berichtete der Schweizer. Urban hatte gehofft, Lucia hätte Verwertbares hinterlassen. Das Wort fast klang nicht ganz hoffnungslos. Doch dann zeigte sich, daß der Schweizer es lediglich zurückhaltend formuliert hatte. „Also“, begann er, „ich hatte die Ergebnisse der Untersuchung in einem Schnellhefter gesammelt, numeriert von eins bis vierzehn. Dazu einen Testbogen mit der Ziffer Null.“ „Null ist Lucia Galazzi?“ versicherte Urban sich. „Die Namen der Personen sind mir unbekannt“, machte der Biologe weiter. „Wir hatten die vierzehn Nummern mit Büroklammern an die Testformulare geklemmt und zur Sicherheit extra mit Tesafilm befestigt“ Urban mußte zugeben, daß er neugierig war. „Und weiter?“ „Die nächtliche Besucherin war also nicht in der Lage, die 127
Nummern irgendwelchen Namen zuzuordnen. Deshalb ging sie anders vor. Sie vertauschte die Nummern. Das heißt, keines der Testformulare hatte am Morgen noch die Nummer, die wir ihm beiordneten.“ „Sie bemerkten es an der veränderten Reihenfolge?“ „Wir hatten sie numerisch geordnet“, sagte der Biomediziner, „fanden sie aber in unregelmäßiger Reihenfolge vor. Obwohl sie sich mit den Klebestreifen große Mühe gab, entdeckten wir, daß sie nicht mehr fest saßen.“ „Und wie kamen Sie auf die Tauschaktion?“ erkundigte Urban sich. „Durch die Kopien der Testbögen. Wir fertigten von jedem Testbogen von Null bis vierzehn Kopien an, versehen mit den richtigen Nummern.“ „Damit ist das Endergebnis auf jeden Fall gesichert.“ „Samt dem Testbogen, der mit der Nummer null übereinstimmt. Wir wissen also, welche Gene mit denen der Dame identisch sind.“ „Es gibt also einen?“ Der Biologe faßte es präziser. „Einer der Genlieferanten von eins bis vierzehn muß der Vater von Lucia Galazzi, also von Test Nummer null sein.“ Jetzt hatte Urban nur noch eine Frage. „Welche Nummer?“ „Die Sieben.“ „Eine Glückszahl.“ „Vielleicht ist er nicht so glücklich. Obwohl man sich Mademoiselle Galazzi schon als Tochter wünschen könnte.“ „Bitte Ihre Honorarrechnung an die genannte Adresse“, sagte Urban und bedankte sich. Dann rief er die Geheimdienstkollegen von der NATOSonderkommission an. 128
„Die Nummer sieben“, sagte er. „Ist das tausendprozentig?“ „Nur hundertprozentig.“ „Dann läuft jetzt die vorletzte Operation.“ „Ja, fangen wir an“, empfahl Urban.
General Mark Kennan schaufelte alles in seine Reisetasche. Draußen wartete sein Dienstwagen. Er ließ sich zum Bahnhof bringen. Als der Dienstwagen weg war, nahm er ein Taxi zum Flugplatz. Die Linienmaschine der Lufthansa Brüssel – Düsseldorf ging meist pünktlich. In Zivil, in einem grünen amerikanischen Offiziersregenmantel ohne Rangabzeichen, dafür mit einem Pepitahut auf dem Kopf, erkannte den General keiner. Außerdem trug er eine schwach getönte Sonnenbrille mit Silberrand. Wie stets hatte er den Flug reservieren lassen, und das vor Tagen schon. Er zahlte mit American-Express- Karte. Am Zoll zeigte er seinen Paß. Weil er lediglich Handgepäck hatte, schaute der Beamte nur kurz hinein. Wie jeder mußte auch Kennan durch die Röntgenzelle. Er war ohne Befund. Wenig später saß er in der Boeing 727. Die Türen schlossen sich, die Maschine bekam ihre Startzeit. Die Triebwerke wurden angelassen. Sie rollte, schwenkte herum, wartete noch einige Minuten. Dann der Start. Zweihundert Kilometer weiter östlich, eine Minute zu früh, erfolgte die Landung in Düsseldorf. Zumindest äußerlich ohne Nervosität ging der General durch 129
den Zoll. Draußen nahm er ein Taxi und nannte dem Fahrer eine Adresse am Rheinufer. Es war eine gute bis feine Gegend. Das Appartementhaus hatte Luxusqualität. Marmorfassade mit viel Glas, elegantes Foyer, zwei Lifte, oben zwei Penthäuser. Der General hatte dem Mädchen – ihr Name war Susan Osborn – vor einem Jahr diese Wohnung geschenkt. Er besaß den Schlüssel, und er war hier wie zu Hause. – Er führte mit der Schönen ein heimliches Doppelleben, das ihn glücklich machte. Kennan fuhr hinauf und betätigte den Summer. – Wenn er wußte, daß Susan zu Hause war, benutzte er seinen Schlüssel nicht. Von Düsseldorf aus hatte er mit ihr telefoniert. Er meldete sich immer an, um sie nicht zu überraschen, falls sie nebenbei einen jungen Liebhaber hatte. Kennan hielt das für möglich, wenn auch nicht für wahrscheinlich. Aber es war ihm egal. Er war so alt und weise, daß es ihm nichts ausmachte. Dinge, von denen er nichts wußte, die quälten ihn auch nicht. Niemand öffnete. Gewiß war sie noch einkaufen. – Also schloß er selbst auf. Im rot tapezierten Entree stellte er die Tasche ab, behielt aber den Mantel an. Der Duft ihres Calix-Parfüms verstärkte sich. Doch in der Wohnhalle war alles anders. Susan lag gefesselt und geknebelt im Sessel. Neben ihr stand ein Mann, die Pistole auf Mark Kennan gerichtet. „Du?“ stieß der General noch heraus. – Dann fiel der Schuß. Die Kugel traf Kennan in Herzhöhe. Der General ging zu Boden, faßte sich dorthin, wo das Projektil in seinen Körper eingedrungen war, und sein Stöhnen verriet, daß er wohl nicht 130
mehr lange leben würde. Der Schütze schaute sich um und lauschte. Dann trat er auf die Terrasse. Von dort kletterte er auf die nächste Terrasse. Er hatte den Weg erkundet. Dann horchte er wieder. Da er nichts Verdächtiges hörte, verließ er die andere Wo hnung, nahm aber nicht den Lift, sondern die Treppe.
Vierzig Sekunden nach dem Schuß stürmte das Einsatzkommando in die Wohnung von Mark Kennan. Sie halfen dem General auf die Beine. „Wo ist er?“ „Fort“ Mark Kennan deutete zur Terrasse. Er taumelte wie ein Betrunkener und befreite mit zittrigen Händen seine Freundin von den Fesseln. Die Männer des Einsatzkommandos kamen wieder herein. Sie verließen die Wohnung – bis auf einen. „Den kriegen wir“, sagte der Polizeibeamte im Kampfanzug. „Oder auch nicht.“ „Wie geht es Ihnen, General?“ „Diese kugelsicheren Westen“, stöhnte General Kennan, „sind verdammt schwer und unbequem. Sie machen aus einem unbeweglichen Mann einen nahezu gelähmten. Und schützen konnte sie mich auch nicht. Sehen Sie sich das an!“ Er zog Mantel, Sakko und das Hemd aus. Er deutete auf seinen nackten Oberkörper. Um das Herz herum war die Haut blutunterlaufen, als hätte man mit einem stumpfen Beil dagegengeschlagen. „Gibt einen Bluterguß.“ „Und was für einen, Sir.“ 131
„Nun, mitgegangen, mitgehangen. Ich wollte Ihr Spiel nicht verderben.“ „Aber Sie leben, General.“ „Erst wenn ich einen Drink habe und noch weiß, ob der Geschmack von Bourbon noch der alte sein wird.“ Kennan winkelte sich steif in einen Sessel. Das wirklich wunderschöne blonde Mädchen, schlank und graziös wie eine Gazelle, machte ihm seinen Drink zurecht. Sie kam herüber, reichte ihm das Glas, und der Polizist dachte: General müßte man sein, reich und eine Mischung aus Cowboy, Haudegen und Globetrotter. Dann spielt es keine Rolle, wie alt man ist. Im Sprechfunk schepperte eine Stimme. Daraufhin sagte der Einsatzleiter: „Verstanden. Ende. Verfluchter Mist!“ Dann wandte er sich an den Amerikaner. „Sein Wagen ist weg“, übermittelte er. „Aber wir kriegen ihn. Und wenn nicht wir, dann die anderen. Sind noch ein paar gute Liberos am Ball.“ „Scheißspiel“, bemerkte General Mark Kennan und ließ sich Whisky nachschütten.
Der Mann, der General Kennan hatte töten wollen, um alle Schuld auf ihn zu schieben, denn Tote konnten sich nicht mehr verteidigen, war spurlos verschwunden. Der BND-Agent Robert Urban und die zuständigen Leute von Polizei, Justiz und Verfassungsschutz wußten nicht, wohin er sich abgesetzt hatte. „Er sucht Unterschlupf im Osten“, vermutete Urban, „auf dem kürzesten Weg.“ „Aber wie und von wo aus?“ Nur eines half ihnen noch. Sie hatten erfahren, daß Lucia Galazzi in der Stadt war. 132
Sie nahmen an, daß sie, über alle Maßnahmen und Gegenmaßnahmen unterrichtet, mit ihrem Vater zusammen in den Osten gehen würde. Ein Kommando folgte ihr, als sie das Hotel verließ. Die Wagen der Beschatter wechselten einander ab. Bald war klar, daß sie einen kleinen Flugplatz im Rheintal bei Büderich ansteuerte. Als kein Zweifel mehr bestand, daß dieser Sportflugplatz ihr endgültiges Ziel war, sagte Urban, der bis jetzt den Kollegen nur zugehört hatte: „Sie gehört euch.“ „Nur werden wir nicht viel machen können.“ „Mithilfe bei der Spionage zum Schaden der Bundesrepublik und der NATO“, zählte Urban auf. „Wenn das nicht reicht, werden wir uns etwas einfallen lassen.“ „Sie wird nicht dauerhaft zu eliminieren sein. Sie ist Schweizerin. Aber den Papa, den schnappen wir uns heute.“ „Eine saubere Familie.“ „Gegen politische Überzeugungen ist kein Kraut gewachsen“, befürchtete Urban. Die Bundesstraße Nr. 22 wurde gesperrt. Als sie an der dritten Sperre vorbeifuhren, sahen sie, daß die Polizei den Wagen mit der Züricher Nummer gestoppt hatte und daß sie dabei waren, ihn zu durchsuchen. Lucia Galazzi stand daneben. Sie trug schon Handschellen. Urban blickte ihr mitten ins Gesicht. Sie war blaß und sah müde aus. Lucia hatte einen Schock erlitten. Sie bemerkte Urban nicht. Sofort fuhren sie weiter zu dem kleinen Sportflugplatz. Ohne Blaulicht und Sirene bogen sie von der Bundesstraße ab. Hinter dem Hangar für Kleinflugzeuge ließ der Mann vom 133
Verfassungsschutz die Kolonne stoppen. „Wie gehen wir vor?“ „Massiv.“ „Er darf es erst im letzten Augenblick merken.“ „Sonst wird er rabiat.“ „Und tötet sich“, befürchtete Urban. „Wie war’s, wenn Sie das zu Ende bringen?“ fragte der Mann vom BfV. „Kein Einspruch, Euer Ehren“, sagte Urban. Er zog den Burberrys an, steckte eine MC in Brand und trat dann hinaus in den Wind, der vom Rollfeld herüberwehte.
Seine Unauffälligkeit war immer die Stärke des Generals gewesen. Auch in Galauniform wurde kaum jemand auf ihn aufmerksam. Die Fehler, die ein solcher Mann beging, fielen stets weniger ins Gewicht. – In Zivil kannte ihn kaum einer. Nur Robert Urban. Der BND-Agent schlenderte quer über die taunasse Wiese des Rollfeldes auf die Zweimotorige zu. Der General, der gerade mit dem Piloten sprach, sah ihn kommen. Noch einmal zog er an seinem Zigarillo, warf ihn weg und blickte Urban ins Gesicht. Kalt, überlegen und gefühllos wie immer. „Du, Bob?“ staunte er. „Willst du auf Wiedersehen sagen?“ „Nein, ich möchte guten Tag sagen.“ „Kommst du etwa mit?“ „Ich?“ tat Urban überrascht. „Nach Ostberlin oder nach Moskau?“ Spätestens in dieser Sekunde begriff der General alles und auch den Rest von allem. Er war erkannt 134
Es hatte eine Ewigkeit gedauert, aber das war der Augenblick der Wahrheit. „Moskau? Wieso nach Moskau?“ „Ich weiß alles, Rotenfels. Du bist Luzifer und Lucias Vater.“ Der General, der eigentlich Kolhaase hieß und nur den Namen seines toten Kameraden Rotenfels angenommen hatte, stand da, schob die Hände in die Taschen des Trenchc oats und machte die schmalen Augen eines Mannes, der in die Ferne blickt. „Ja, ich bin Luzifer“, gestand er. „Und die dort?“ Urban brauchte sich nicht umzudrehen. „Spionageabwehr, Polizei und Militärpolizei.“ Der General verstand. Nun schaute er nach links, von Urban aus gesehen nach rechts, wo die Sportflugzeuge standen. An einem davon hantierte ein Mann. Er lud Koffer von seinem Combi in eine Piper. „Deinen Dienstrevolver“, bat Urban. Der General hob die Hände leicht an, bis in Schulterhöhe. „Ich bin in Zivil.“ „Du hast ihn immer dabei. Gib ihn her, Rotenfels! „ Der General knotete den Mantelgürtel auf, faßte in den Hosenbund und gab Urban die Walther PPK. Die Gefahr, daß er sich umbrachte, bestand nun nicht mehr. „Bitte einen Moment noch“, bat der General. „Bedaure“, sagte Urban. „Was ist das für ein General, der sich die Hose feucht macht.“ „General ist General. Und Verräter ist Verräter.“ „Aus Freundschaft, Bob.“ „Meinetwegen.“ Der General ging ein Stück und verschwand hinter dem 135
Leitwerk der Zweimo torigen. Urban schaute auf die Uhr und wartete. Da sah er ihn plötzlich laufen. Rotenfels rannte auf die Sportmaschine zu. Entfernung noch etwa achtzig Meter. – Jetzt schlug er den Mann nieder, schwang sich in die Piper und ließ an. Der Motor war warm und kam sofort. – Er gab Vollgas. Die Einmotorige bewegte sich, rollte zunehmend schneller über das kurzgeschorene Gras. Urban und die Leute des Einsatzkommandos spurteten los. Sie konnten das Flugzeug nicht aufhalten, also versuchten sie es mit den Autos. – Vergebens. Der General in der Piper erreichte die Startbahn und schwenkte herum Mit Startleistung brauste die Piper in Richtung Rhein. Sie war im Nu auf Abhebegeschwindigkeit und wurde steil in den Himmel gerissen. Der General überzog sie heillos. Trotzdem stieg sie bis auf dreihundert Meter. Dort schien sie auf etwas zu warten und kippte dann langsam ab. Rotenfels hatte den Knüppel brutal nach vorne bewegt. Wie ein Stein fiel, trudelte, jaulte die Einmotorige aus dieser Höhe senkrecht zur Erde zurück. Sie bohrte sich in sie hinein wie ein Geschoß. Aufschlag. Dreck. Fetzen. Feuer. Explosion. – Dann erst der Knall. Als sie hinkamen, verbrannte ein Toter in Flugbenzin bis zur Unkenntlichkeit. General Ottokar von Rotenfels alias Herbst von Kolhaase war immer Panzerspezialist gewesen. Er konnte nicht fliegen. – Aber er wußte, wie man sich mit einem Flugzeug umbrachte… ENDE 136