Dan Shocker Madame Hypnos Schattenträume 117. Grusel-Schocker mit Larry Brent
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Dan Shocker Madame Hypnos Schattenträume 117. Grusel-Schocker mit Larry Brent
Es regnete in Strömen. Das Wasser prasselte auf den Wagen und klatschte gegen die Windschutzscheibe, daß die Scheibenwischer trotz Schnellgang es nicht schafften, ein freies Sichtfeld zu halten. John Hawker saß dicht über das Steuer gebeugt und preßte sein Gesicht fast gegen die Windschutzscheibe, um überhaupt noch etwas sehen zu können. Er kannte sich hier in dieser Gegend, rund hundertfünfzig Meilen nördlich von New York, nicht aus. Sein Ziel war George-Village, ein kleiner, unbedeutender Ort mit nur einigen hundert Einwohnern. George-Village war im 19. Jahrhundert von eingewanderten Schotten und Iren gegründet worden. Dies war wahrscheinlich mit der Grund, weshalb der Name George-Village bei einigen Leuten sofort eine Gänsehaut erzeugte, wenn er nur genannt wurde. In George-Village ging es angeblich um … Wenn in Blättern und Magazinen, die sich mit übersinnlichen Wahrnehmungen und außergewöhnlichen Phänomenen befaßten, etwas Neues mitgeteilt wurde – dann war George-Village garantiert erwähnt. In dieser schottischen und irischen Exklave waren all jene Geister und unheimlichen Gestalten vertreten, die es auch in Schottland gab. Dämonen und Druiden, Geister und Kobolde, Vampire, Untote und Werwölfe …
Das n e u e Team der PSA mit Larry Brent als X-RAY-1 PSA (Psychoanalytische Spezialabteilung): Sie hat ihren Sitz in New York. Der geheime Einsatzort der Organisation befindet sich zwei Etagen unter den Kellerräumen des bekannten Tanz-und Speiserestaurants ›TAVERN-ON-THE-GREEN‹ im Central Park in Manhattan. Die PSA befaßt sich ausschließlich mit ungewöhnlichen Kriminalfällen. Die Abteilung bildet in einem strengen Aussiebverfahren Spezialagenten heran, die es bisher nicht gab. Nur die Besten bestehen und sind würdig, die Bezeichnung X-RAY zu tragen. Jeder Agent und jede Agentin der PSA trägt das Erkennungszeichen: eine massive goldene Weltkugel in einer Ringfassung oder an einem Armkettchen. Die Weltkugel, auf der das stilisierte Antlitz eines Menschen erscheint, enthält eine vollwertige Miniatursende- und -empfangsanlage. Initiator und Gründer der PSA war DAVID GALLUN, der lange Jahre als X-RAY-1 fungierte. Dr. Satanas, einer der gefährlichsten Widersacher der PSA, ermordete ihn. In seinem Testament wurde LARRY BRENT alias X-RAY-3 dazu bestimmt, das Erbe und die Führung der PSA zu übernehmen. Larry ist Anfang Dreißig. Er erreichte den bisher höchsten Intelligenzquotienten. Brent ist ein Meter achtzig groß schlank und sportlich, hat blondes Haar und rauchgraue Augen. Seit dem Tod von David Gallun, der der erste X-RAY-1 der PSA war, ist Larry sowohl X-RAY-3 als auch X-RAY-1. Durch einen elektronischen Trick wird seine Stimme umgeformt, und wenn er sich über die PSA-eigene Funkanlage an seine Mitarbeiter wendet, glaubt jeder, mit David Gallun zu sprechen von dem niemand außer Larry weiß, daß er tot ist. Von Larrys Doppelrolle darf niemand etwas wissen. Nicht mal sein bester Freund. IWAN KUNARITSCHEW alias X-RAY-7, ein Mann wie ein Bär, mit einem wilden roten Vollbart und einer Schwäche
für hochprozentigen Wodka und selbstgedrehte Zigaretten, ahnt etwas davon. Kunaritschew ist Mitte Dreißig. Der Russe ist der beste Taekwon-Do-Kämpfer innerhalb der PSA. MORNA ULBRANDSON alias X-GIRL-C, Schwedin, Ende Zwanzig, ehemaliges Mannequin. Sie ist außergewöhnlich hübsch und attraktiv, trägt das blonde Haar schulterlang. Augen grün. Wie ihre männlichen Kollegen spricht sie mehrere Sprachen fließend. Morna hat eine Schwäche für Larry Brent, läßt sich das aber nicht anmerken. SU-HANG alias X-GIRL-G, 24, eine junge Chinesin aus Hongkong, die von Larry Brent gern im asiatischen Raum eingesetzt wird. Su ist eine außerordentliche Kennerin der alten Kultur und der Mythen ihres Landes und fährt am liebsten alte Autos, die sie wieder hochpäppelt Mit besonderer Vorliebe steuert sie einen achtzehn Jahre alten Citroën 2 CV, der eine Spitzengeschwindigkeit von 180 erreicht. Wie sie das gemacht hat, ist ihr Geheimnis … * Bevor Hawker sich auf den Weg nach George-Village machte, hatte er etliche Vorbereitungen getroffen. Es war ihm gelungen, Einblick in kriminalistische Studien zu gewinnen, die diesen Ort des Spuks und Unheils näher unter die Lupe nahmen. Es gab keinen Zweifel: Wer sich mit Vorfällen in und um George-Village befaßte, lief Gefahr, eines unnatürlichen Todes zu sterben! Doch erstaunlicherweise war es bis zur Stunde nicht möglich gewesen, die Vorfälle, die auf einen unnatürlichen Tod schließen ließen, in engen Zusammenhang mit diesem geheimnisvollen Ort zu bringen. Auch Hawker war gewarnt. »Bleib zu Haus! Laß deine Finger weg von George-Village«,
meinte er die Stimme seines Freundes Bill Masly zu hören, mit dem er eingehend seinen Plan besprochen hatte. »Die stehen dort mit dem Teufel und Schlimmerem im Bund.« John Hawker lächelte verzerrt. Sein scharfgeschnittenes, kantiges Gesicht wirkte fahl im düsteren Innern des Fahrzeugs. »Ich glaube nicht dran, Bill«, hatte er auf diese Worte seines Gesprächspartners erwidert. »Daß Leute, die das angebliche Geheimnis des Dorfes ergründen wollten, kurze Zeit danach auf rätselhafte Weise ums Leben kamen, ist nichts als ein Zufall gewesen …« »Ein Zufall? Verdammt viele Zufalle …« »So etwas gibt's manchmal im Leben. Und schon entsteht ein Gerücht, geht eine Legende um …« »Ich weiß nicht, John. Ich glaube, du gehst da ein bißchen zu naiv an die Dinge heran!« »Ich weiß genau, was ich tue, Bill.« »Dieser Meinung war ich bisher auch gewesen. Aber ich muß sie revidieren. Denk nur an Joe Shilling!« John dachte an Joe. Ein großartiger Mann, stets mit einem Gespür für das Besondere. Joe Shilling war sein großes Vorbild gewesen. Als Journalist konnte er mit seiner scharfen Feder in wenigen Sätzen das ausdrücken, was andere oft in einem ganzen Buch nicht schaffen. Shilling war an allem interessiert – und Draufgänger gewesen. Seit eineinhalb Jahren war er tot. Auf dem Weg von George-Village nach New York tödlich verunglückt… Schicksal? Bestimmung? »Nein!« meinte John Hawker die Stimme seines Freundes wieder zu vernehmen. »Hexerei, John. Er hat etwas herausgefunden, und sie haben ihn zur Strecke gebracht … so geht es jedem, der zu neugierig ist …« Hawker wollte und konnte nicht daran glauben. Das war sein Pech. Auf dem Weg nach George-Village schlug das Schicksal zu.
In Form eines völlig durchnäßten, verzweifelten Spaziergängers, der am dunklen Straßenrand stand und heftig winkte. Ein Anhalter. Sein Daumen deutete nach – George-Village. * »Das wird wohl heute nichts mehr Werden, Barbara«, sagte der kräftige Mann mit dem schwarzen, glänzenden Haar. Er stand an der Tür des Wohnwagens und blickte in die regnerische Nacht. »Es hat sich eingeregnet. Bei dem Wetter macht's ja keinen Spaß weiterzufahren. Am besten ist es, wir bleiben hier …« William Perkins war zweiundvierzig, von kräftiger Figur und angenehmem Äußeren. Als freier Graphiker genoß er die Freiheit, die ihm dieser Beruf ließ. Unter ihr verstand er vor allen Dingen, nicht unbedingt an einen Ort gebunden zu sein, sondern sich wie ein Zigeuner durchzuschlagen. Am liebsten fuhr er gemeinsam mit seiner Frau quer durch die Staaten und hielt gerade dort, wo es ihm gefiel. Am späten Nachmittag waren sie in den schmalen Waldweg eingebogen, um sich auszuruhen und etwas zu essen. Dann hatte der Regen eingesetzt. Mit einer Stärke und Dauer, die für diese Jahreszeit eigentlich ungewöhnlich waren. Schon nach wenigen Minuten war der Weg aufgeweicht, so daß der Ford es nicht mehr schaffte, den schweren Wohnwagen aus dem schlammigen Boden zu ziehen. Damit konnte William Perkins seinen ursprünglichen Plan, am frühen Abend in George-Village zu sein, nicht mehr in die Tat umsetzen. Er hatte gehört, daß es in dem kleinen Ort besonders viele alte Häuser und enge, winklige Gassen gab, die jenen im fernen Schottland glichen. Da er derzeit mehrere Horrorgeschichten illustrierte, die in solchen abgelegenen Dörfern spielten, glaubte er, hier das richtige Milieu vorzufinden.
So hatten die beiden sich vorgenommen, einige Tage in George-Village zu verbringen, ehe die Fahrt weiter nach Osten ging. William Perkins war ein Mann aus jenem Holz, der aus der Not stets eine Tugend machte. Da es unmöglich war, die tief im Schlamm steckenden Räder ohne große Anstrengung frei zu bekommen, blieb er einfach mitten im Wald, am Rande einer kleinen, romantischen Lichtung, stehen. Barbara, seine Frau, war dieses Leben gewöhnt. Wie William machte es ihr Spaß, durch die Gegend zu fahren und nirgends und überall zu Hause zu sein. Barbara war vier Jahre jünger als William, von einer natürlichen und begeisterungsfähigen Frische, wie man sie selten bei einer Frau fand. Ihr helles, wie ausgebleicht wirkendes Haar, trug sie meistens mit einer Schlaufe zu einem Schwanz zusammengefaßt, so daß durch das streng nach hinten gekämmte Haar das ovale, schön geschnittene Gesicht erst richtig zur Geltung kam. Die Frau des Graphikers lachte gern und oft. Sie bemühte sich nicht, durch kosmetische Tricks die Lachfältchen um ihre Augen zu beseitigen. Sie trug am liebsten leicht fallende, lange Kleider oder knallenge Blue-Jeans und Pullis. Sie gab sich stets betont salopp. In dem gemütlich warmen, anheimelnd beleuchteten Wohnwagen spielte leise das Radio. William saß in der Ecke und brachte einige Skizzen zu Papier. Barbara Perkins stand am Herd in der kleinen Kochnische und rührte in einem dicken, würzig riechenden Eintopf. Draußen prasselte noch immer der Regen auf das Dach. Es hörte sich an, als ob jemand einen riesigen Sack getrockneter Erbsen über den Wohnwagen schütte. Die Frau summte die eingängige Radio-Melodie mit und hob unwillkürlich den Kopf, als sie eine Bewegung draußen vor
dem kleinen Fenster der Kochnische wahrnahm. Ein fahles, totenblasses Gesicht! Es preßte sich wie eine Gummimaske, die jemand gegen die Glasscheibe drückte, ans Fenster. Barbara Perkins stieß einen schrillen, markerschütternden Schrei aus. Ihr Mann sprang auf, wie von einer Tarantel gebissen. »Barbara! Was ist denn los? Mein Gott – warum schreist du so!?« Die Frau wich vom Herd zurück, als hocke in der Nische ein plötzlich zum Leben erwachtes Ungeheuer, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen. »Das Gesicht … Will …«, sie wollte noch mehr hinzufügen, doch ihre Stimme versagte den Dienst. William Perkins kannte seine Frau. Sie war nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen und mit Angst war ihr nicht beizukommen. »Was für ein Gesicht?« »Ich … weiß nicht … es war am Fenster … ich hab es ganz deutlich gesehen. Da ist jemand, Will …« Er ging um sie herum, näherte sich dem kleinen Fenster und warf einen Blick in die verregnete Nacht. »Da ist niemand, Barbara …« Die Frau atmete schnell. Sie wirkte noch ganz erschrocken. »Ein Zweifel ist ausgeschlossen. Ich hab's doch ganz deutlich gesehen …« William Perkins ließ seinen Blick aufmerksam in die Runde schweifen. Hier durch das kleine Fenster war sein Sichtfeld allerdings begrenzt. Allzuviel konnte er nicht beobachten. Drüben standen die Büsche und die Baumreihen. Direkt vor dem Wagen lag die kleine Lichtung, die nun eine einzige Pfütze bildete. Der Mann schüttelte irritiert den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß hier jemand herumkriecht, Barbara … bei diesem Wetter … und dann noch das Wasser da draußen …
da holt man sich doch nur nasse Füße …« Er wandte sich um und lächelte. Er versuchte, das Leben stets von der heiteren Seite zu nehmen. »Du hast sicher geträumt«, sagte er fröhlich. »Da ist wirklich niemand …« Die Achtunddreißigjährige nagte an ihrer Unterlippe. Barbara Perkins war erschreckend bleich. »Und selbst wenn jemand von draußen hereingeschaut hat – vielleicht war er nur neugierig und wollte wissen, was es bei uns zum Abendessen gibt.« Barbara Perkins atmete tief und beruhigte sich erstaunlich schnell. Aber als sie sah, daß ihr Mann zur Tür ging, um zu öffnen, wurde es ihr doch wieder ein wenig flau im Magen. »Wir stehen hier ganz abseits, Will, bitte denk daran.« »Das ist doch nicht das erste Mal. Wir stehen meistens abseits, und noch nie ist es zu einem Zwischenfall gekommen.« »Aber irgendwann ist es immer das erste Mal …« Ihre Hartnäckigkeit veranlaßte ihn die Tür spaltbreit zu öffnen und vorsichtig nach draußen zu sehen. Es regnete nicht mehr so stark wie vor wenigen Minuten. Die dunklen Stämme und dichten Büsche wirkten wie Silhouetten, wie eine schwarze Mauer, die im Halbkreis die kleine Lichtung umstand. Die Tropfen, die in die riesige Pfütze vor dem Wohnwagen fielen, versetzten die Oberfläche in Bewegung. »Hallo!« rief Perkins in das Rauschen des Regens. »Hallo – ist da jemand?« Seine Stimme hallte hohl durch das Unterholz – und verebbte. Keine Antwort! Kein verdächtiges Geräusch … Der Graphiker schlüpfte in seinen Wettermantel und stülpte sich einen alten Schlapphut über. Dann griff er nach dem Gewehr, das neben dem Eingang hing. Er hatte es noch nie gebraucht. Doch zum Schutz für sie beide hatte er die Waffe angeschafft. Man konnte nie wissen … »Ich schau mich mal näher um. Schließ' hinter mir ab, Barba-
ra! – Noch eine Frage …« – »Ja?« »Was war das für ein Gesicht, das du gesehen hast? Ein Mann – oder eine Frau? Die Gefragte wirkte irritiert. »Ich … weiß nicht …«, murmelte sie dann stockend. »Ich habe nur eine helle, runde Fläche gesehen … dann war der Spuk schon wieder vorüber …« Sie konnte keine genaue Beschreibung des von ihr angeblich wahrgenommenen Gesichtes geben. Es war alles viel zu schnell gegangen. »Paß auf dich auf, Will«, sagte sie leise. »Das tu ich immer. Ich hab nämlich die Absicht, noch ein paar Jahre an deiner Seite kreuz und quer durchs Land zu fahren. In Hawaii waren wir übrigens noch nicht … das haben wir schließlich auch noch vor uns.« Barbara lachte. »Den Traum mußt du wohl begraben.« »Du meinst wohl wegen der reichlich dünn fließenden Honorare?« reagierte er sofort. »Du meinst – das können wir uns nicht leisten?« William Perkins ließ sich gern auf solche Streitgespräche ein, die stets in einer heiteren Diskussion endeten. »Hast du die Absicht, dir 'ne Jacht zu kaufen?« fragte ihn seine Frau. »Das ist zu aufwendig … ich habe eher daran gedacht, unseren Wagen hier zum Amphibienfahrzeug umzurüsten. Ich hab da kürzlich von einigen interessanten technischen Neuerungen gelesen … aber darüber sprechen wir später. Erst will ich den Tramp ausfindig machen, der uns in den Kochtopf geguckt hat …« Er ging um den Wagen herum. Der etwa siebzig Zentimeter breite, trockene Streifen um den Caravan wies keinerlei verdächtige Spuren auf. Als ihr Mann sich außer Sichtweite befand, drückte Babrara Perkins die Tür ins Schloß. Sie ging hinüber zur anderen Seite des Wohnwagens und starrte durch das Fenster in die Nacht.
Sie sah die schemengleiche Gestalt ihres Mannes, der sich vom Wohnwagen entfernte, und die Büsche teilte, um dort nachzusehen. Er verschwand schließlich in der Dunkelheit. Drei Minuten vergingen … Dann vernahm die Frau plötzlich ein leises, schabendes Geräusch. Jemand befand sich direkt in der Nähe des Caravan! Vor der Tür … Barbara Perkins hielt den Atem an. Konnte es sein, daß Will schon wieder zurückkehrte ? »Hallo, Will? Bist du's?« Die Frau legte lauschend das Ohr an die Innenseite der Tür und hielt den Atem an. Eine Gäsenhaut zog ihr über den Rücken, als sie das leise Pochen von außen hörte. »Helfen … Sie … mir«, vernahm sie flüsternde Worte. Sie wurden kraftlos gesprochen und drangen wie durch Watte an ihr Ohr. »Bitte … helfen Sie … mir …« Es war die Stimme einer Frau! Barbara Perkins machte schnell einen Schritt zur Seite und schaute durch das größere Fenster des Wohnraums. Von hier aus konnte man einen Teil der Treppe vor der schmalen Tür gut überschauen. Und das genügte. Auf den Stufen lag jemand. Völlig durchnäßt, die langen, dunkelblonden Haare wirr ins Gesicht und über die Schultern hängend. Die Fremde, die dort lag, atmete flach und unregelmäßig und versuchte mit letzter Kraft sich aufzurichten. Sie trug hautenge Blue-Jeans und einen hellroten, nicht minder knappen Pulli. Ihre Haut war erschreckend fahl. Unwillkürlich mußte Barbara Perkins an das Gesicht im Fenster denken.
War das die junge Frau, die vorhin hereingestarrt hatte? Sie brauchte Hilfe. Was war nur geschehen? Warum tauchte sie erst auf, hielt sich dann wieder versteckt und kam zurück? Das Ganze schien keinen rechten Sinn zu geben. Nach dem ersten Schreck von vorhin hatte die Frau im Wohnwagen jedoch ihre Angst überwunden und entschloß sich schnell. Die Fremde schien noch jung zu sein. Nach dem, was Barbara Perkins durch das Fenster erblickt hatte, schätzte sie das Girl auf höchstens achtzehn Jahre. Mit kurzem Geräusch wurde der Riegel zurückgeschoben. Barbara Perkins öffnete die Tür zunächst spaltbreit. Da lag die Fremde zu ihren Füßen. Sie versuchte den Kopf zu heben, doch selbst das fiel ihr schwer. Rasch in die Runde blickend, vergewisserte die Frau aus dem Wohnwagen sich, daß außer dem Mädchen niemand in der Nähe war. Einen Moment spielte Barbara Perkins mit dem Gedanken, ihren Mann zurückzurufen und auf die neue Situation aufmerksam zu machen. Doch dann griff sie selbst zu. »Wer sind Sie? Was ist los mit Ihnen? Wie kann ich am besten helfen? Sind Sie gar verletzt?« Eine Frage nach der anderen sprudelte über ihre Lippen. Barbara ging in die Hocke und faßte die Fremde vorsichtig unter die Achseln, um ihr beim Aufrichten behilflich zu sein. Das Mädchen zog die Beine an. Es half mit, so gut es ging. Die Fremde drehte den Kopf, strich mit beinahe zärtlicher Bewegung das nasse strähnige Haar aus dem Gesicht und blickte zu Barbara Perkins auf. Es war das blasse, schmale Gesicht, das allein durch das Pressen gegen die äußere Scheibe so breitflächig gewirkt hatte. »Warum sind Sie vorhin wieder davongelaufen?« fuhr Barbara Perkins freundlich fort. »Wenn Sie nicht ganz okay sind, wir hätten Ihnen doch bestimmt gern geholfen …«
Was Barbara noch weiter sagen wollte, blieb ihr wie ein Kloß im Hals stecken. Jetzt erst sah sie in die Augen der Fremden und es durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag! Das waren keine menschlichen Augen, es waren die eines – Raubtieres! Dann ging alles so schnell, daß ihre Sinne die chronologische Folge des Geschehens nicht mehr mitbekamen … Durch den Körper des scheinbar entkräfteten Girls ging ein Ruck. Sämtliche Muskeln und Sehnen spannten sich. Das Gesicht wirkte verändert. Barbara Perkins ließ los. Sie wollte der Fremden noch einen Stoß versetzen, damit sie von der schmalen, hölzernen Treppe herabfiel. Doch selbst dazu war die Frau nicht mehr fähig. Sie sah sich außerstande, ihre Augen aus dem Blick der Unbekannten zu lösen. Die hielt sie in Bann, wie der Blick der Schlange das Kaninchen hypnotisiert. Das Grauen schnürte Barbara Perkins die Kehle zu. Nicht nur die Augen der Fremden waren es, auch – die Zähne! Die fletschte sie. Ein Raubtiergebiß wurde sichtbar. Im nächsten Moment sprang das junge, zierliche Girl wie katapultiert in die Höhe, warf Barbara Perkins zurück in den Wohnwagen und schlug ihr Raubtiergebiß in den Hals der entsetzten, wie gelähmt wirkenden Frau … * Er sah sich gründlich die nähere Umgebung an. William Perkins hielt dabei die entsicherte Waffe leicht schräg nach unten geneigt, um nicht durch einen unglücklichen Zufall vielleicht zum Todesschützen zu werden. Ein erschrecktes Zusammenzucken war schon dazu geeignet, daß er mechanisch reagierte und sein Zeigefinger den Abzugshahn
durchzog, ohne daß er es wollte. Mehr denn je war er bei seiner Suche davon überzeugt, daß Barbara sich geirrt hatte. Vielleicht ein Lichtreflex auf der Scheibe, zurückgeworfen von der großen Pfütze außerhalb … Es konnte möglicherweise den Eindruck erweckt haben, als befände sich dort jemand. Unverrichteterdinge kehrte Perkins zum Wohnwagen zurück. Dort brannten noch alle Lichter. Die Tür war verschlossen, wie er es erwartete. Inzwischen würde Barbara den kräftigen Eintopf fertig haben. Er freute sich schon darauf. Grinsend näherte er sich der schmalen Treppe und klopfte mit der Waffenmündung gegen die Tür. »Aufmachen, junge Frau! Hier riecht's nach Bohnen mit Speck. Wenn Sie einem einsamen Wanderer, der schon lange nichts mehr zu sich genommen hat, eine Freude bereiten wollen, dann geben Sie ihm einen Löffel voll ab …«, begann er zu schauspielern. Er erwartete, daß Barbara mit einer witzigen Erwiderung reagierte. Aber im Wagen blieb es still. Hatte sie ihn nicht gehört? Er hatte doch laut genug gesprochen. Noch mal klopfte er an, noch mal rief er. Wieder nichts … »Mach keinen Unsinn, Barbara«, sagte er verärgert. Sie wollte ihm Angst machen. Dabei wußte sie, daß er so etwas nicht leiden konnte. »Mach doch bitte auf! Hier draußen ist's verdammt ungemütlich …«, fügte er laut und mit klarer Stimme hinzu. Niemand öffnete die Tür. Da drückte er die Klinke. Der Eingang zum Wohnwagen war nicht von innen verriegelt?! Es war, als ob sich eine eiskalte Hand in sein Herz kralle. »Barbara!« Sein Schrei war durchdringend. Da lag sie. Vor seinen Füßen. Reglos und verkrampft, und an ihrem Hals sah William Perkins die dunkle, tiefe Bißwunde …
War es Traum, war es Wirklichkeit? Er wußte nichts mehr mit dieser Situation anzufangen. Er handelte rein instinktiv. Achtlos warf er die Waffe auf die kleine Sitzbank und kümmerte sich um seine Frau. Er fühlte keinen Puls mehr, keinen Herzschlag … Barbara atmete nicht mehr! Dennoch konnte und wollte er nicht glauben, daß sie tot war. Vor wenigen Minuten noch hatten sie miteinander gesprochen, gescherzt – und nun … Alles in ihm wehrte sich gegen das, was er hier wahrnahm und mit dem er erst seelisch fertig werden mußte. Seine Blicke klebten förmlich an der Bißwunde. Zwei spitze, lange Zähne – wie die eines Vampirs – hatten den Hals verletzt. Vampir? Es kam ihm beinahe lächerlich vor, daß er diesen Begriff benutzte. Wie kam er nur darauf? Er wußte nicht mehr, was er denken oder fühlen sollte. William Perkins nahm aus der Reiseapotheke Watte, antiseptisches Mittel und ein großes Pflaster. Er säuberte die Wunde von den Blutresten und klebte dann das Pflaster darauf. Er machte sich keine Gedanken darüber, ob diese Rettungsaktion noch half oder nicht. Er fühlte sich einfach verpflichtet, etwas zu tun. Wie unsinnig es war, erkannte er erst in dem Augenblick, als die Wunde versorgt war und seine geliebte Barbara noch immer reglos, den vor Schreck wie gelähmten Ausdruck im Gesicht, am Boden lag. Ein Arzt mußte her. Alles in William befand sich im Widerspruch. Noch während er daran dachte, so schnell wie möglich Hilfe herbeizuschaffen,
durchsuchte er den Wohnwagen nach dem vermutlichen Täter. Aber darin hatte sich niemand versteckt. Wie im Traum starrte er auf seine Frau, die er inzwischen auf eine Liege gelegt hatte, und begriff nicht, wer hier eingedrungen und wie es möglich war, eine so unheilvolle Situation zu schaffen. Perkins Abwesenheit war schuld an dem entsetzlichen Vorfall. Aber warum? Und wer kam als Täter in Frage? Er wurde wahnsinnig, wenn er anfing, darüber nachzudenken. Da wandte er sich ruckartig um, zog die Tür ins Schloß und sicherte sie. Er kuppelte den Caravan ab und setzte sich ans Steuer des Ford. Dann startete er und wollte so schnell wie möglich in den nächstgelegenen Ort. Und das war George-Village. Dort wohnte ein Arzt. Er gab ziemlich heftig Gas, um mit einem Ruck aus der weichen Erde herauszukommen. Die Räder drehten durch. Der Wagen ruckte hin und her, und die Reifen mahlten immer tiefere Furchen. William Perkins wollte es mit Gewalt schaffen, aber das ging nicht. Drei Minuten später gab er auf. Der Ford war schlammverspritzt, seine Hinterräder hatten sich in große Löcher eingegraben. Es war unmöglich aus eigener Kraft herauszukommen. Perkins sprang aus dem Fahrzeug. Er drückte sich den alten Schlapphut ins Gesicht und knöpfte den Gummimantel zu. Dann lief er den schmalen Waldweg zurück, den sie heute mittag gefahren waren. Sein Ziel war die Straße. Die lag ungefähr eineinhalb Meilen von ihrem Standort entfernt. Es mußte doch mit dem Teufel zugehen, wenn er dort nicht jemand anhalten konnte, der bereit war, ihn nach GeorgeVillage mitzunehmen oder wenigstens dem Arzt eine entspre-
chende Nachricht zu geben. Wie von Furien gehetzt lief William Perkins durch den regnerischen, nächtlichen Wald. * »Na, Gott sei Dank«, bemerkte John Hawker, während er den Scheibenwischer abschaltete. »Das war auch höchste Zeit. Der Regen läßt nach. So läßt sich's entschieden angenehmer fahren.« Er nickte dem Mann an seiner Seite, den er vorhin aufgelesen hatte, freundlich zu. »Das ist nett von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen«, sagte der Fremde. »Das ist doch selbstverständlich. Bei diesem Wetter läßt man nicht mal einen Hund draußen stehen.« »Sagen Sie das nicht, Mister! Insgesamt sind fünf Wagen an mir vorbeigefahren, ohne anzuhalten.« »Andererseits kann man das auch verstehen. Es ist nicht jedermanns Sache, einen wildfremden Menschen mitten in der Nacht zum Einsteigen aufzufordern. Da weiß man schließlich nie, wen man an seiner Seite hat…« Der junge Anhalter lachte. »Und Sie scheinen das zu wissen?« John Hawker blickte den Mann an seiner Seite aufmerksam an. »Wen man wirklich mitnimmt, weiß man natürlich nie. Aber ich denke doch, daß ich mich zur Wehr setzen kann, wenn einer mit hintergründiger Absicht hereinkommt. Das nehme ich jedoch bei Ihnen nicht an. Sie waren unterwegs und wurden vom Wetter überrascht. Nun wollen Sie so schnell wie möglich nach George-Village zurück. Das ist doch nur verständlich.« Im nächsten Moment befanden sie sich mitten im lebhaften Gespräch.
John Hawker erfuhr, daß der junge Mann Tom Serridge hieß und aus George-Village stammte. Er war dort geboren und lebte in dem Ort seit sechsundzwanzig Jahren. »Dann wissen Sie bestimmt auch etwas über den Colt.« Tom Serridge verdrehte die Augen. »Eigentlich ist es erstaunlich, wieviele Fremde darüber Bescheid wissen«, entgegnete er. »Mir war nicht bekannt, daß das Ding aus dem Jahr 1871 so viel Interesse wecken könnte …« Bei dem »Ding aus dem Jahr 1871« handelte es sich um den legendären Colt eines Mannes, über den man nichts weiter wußte, als daß er geraume Zeit durch den Wilden Westen geritten war und die ersten Siedlungen der Weißen aufsuchte, auf der Suche nach dämonischen Wesen, die angeblich in Gastkörpern Unterschlupf fanden und dadurch in die Lage versetzt wurden, getarnt ihren unheimlichen Aktivitäten nachzugehen. Jener Waffenschmied, der 1871 in George-Village den Colt herstellte, schuf ihn aus reinem Silber. Mit der Waffe selbst ließen sich auch nur Silberkugeln eines speziellen Kalibers verschießen. Während die herkömmlichen Colts sechs Schuß abgeben konnten, war es möglich, mit dem Silbercolt sieben Kugeln abzufeuern. Die Legende berichtete weiterhin, daß dieser Colt nur jene vernichtete, die im eigentlichen Sinn nicht mehr lebten. Dämonische Geschöpfe, Wiedergänger, Untote, Vampire und Werwölfe. Daß der Silbercolt mit den silbernen Kugeln in GeorgeVillage entstanden war, sprach für sich. Dort hielt sich der Glaube an das Unheimliche, Namenlose seit jeher. Die Menschen, die in George-Village eine neue Heimat fanden, erlebten offensichtlich nicht nur Kämpfe gegen räuberische und mordende Banditen, gegen Indianerüberfälle, sondern auch gegen Angriffe aus der Welt des Satans. Tom Serridge schüttelte den Kopf. »Sagen Sie nur, auch Sie haben die Absicht, wegen des Colts einen der zwei Tage in
George-Village zu verbringen?« John Hawker nickte. »Genau, Tom. Sie haben's erraten.« Serridge lehnte sich zurück. »Das interessiert mich nun wirklich. Es ist das erste Mal, daß ich mit jemand zusammentreffe, der Interesse für das alte Ding zeigt. Unser Sheriff ist ja ein ganz cleverer Mann. Die Idee, in George-Village ein Fest zu veranstalten, das an die wilde Zeit vor einem Jahrhundert erinnert, ist ganz allein auf seinem Mist gewachsen. Das wird sicher ungezählte Fremde anlocken und den Stadtsäckel füllen. Aber die Leute, die wegen des Colts kommen …« Er sprach nicht weiter und schüttelte sich plötzlich vor Lachen. »Warum lachen Sie so?« fragte John Hawker irritiert. »Ganz einfach, Mister Hawker. Mindestens einer – nämlich der Gewinner des Wettschießens – wird von der Trophäe enttäuscht sein.« »Wie meinen Sie das, Tom?« »Die Legende stimmt nicht, Mister Hawker.« Der Journalist hob kaum merklich die Augenbrauen. Das Gespräch entwickelte sich unerwartet in eine Richtung, die ihm nur genehm sein konnte. Vielleicht konnte er auf diese Weise schon mehr über die rätselhafte Waffe erfahren, als er gehofft hatte. »Sie meinen, daß alles künstlich aufgebauscht wurde?« »Genau.« »Und was veranlaßt Sie zu einer solchen Annahme?« »Die Tatsache, daß ich aus George-Village stamme. Kein Mensch dort nimmt die Story von dem silbernen Colt ernst. Das tun nur Außenstehende, die mal davon gehört haben. Es haben sich im Lauf der Jahrzehnte Legenden darum gerankt. Es hat in George-Village niemals Wiedergänger, Untote oder Vampire gegeben. Ganz zu schweigen von den Werwölfen, die angeblich die Nächte im Town verunsicherten.« »Aber man sagt, daß hinter jedem Gerücht ein Körnchen Wahrheit steckt«, widersprach Hawker. »Das bestreite ich auch gar nicht. Ich kenne dieses ›Körnchen
Wahrheit‹ …« entgegnete Tom Serridge leise. »Oh, das ist ja interessant. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich darüber aufklären könnten.« »Die Menschen, die damals hierher kamen, hatten Angst. Die fremde Umwelt, die räuberischen Banden, die Indianer … da bauten sie sich einen Schutzwall aus Aberglauben. Wer auf die Idee kam, daß George-Village, im Gegensatz zu anderen, neu entstandenen Orten, überhaupt nicht bedroht sei, weil es hier einige Menschen gab, die sich auf die geheime Kunst der Schwarzen Magie verstünden – das läßt sich heute nach der langen Zeit nicht mehr rekonstruieren. Die Hauptsache jedoch war, daß die Menschen damals daran glaubten und so eine gewisse Selbstsicherheit fanden, die bewirkte, daß sie Gefahren der Wirklichkeit besser überstanden.« »Sie meinen also, daß ihr Glaube an übernatürliche Dinge sie in die Lage versetzte, mutiger und selbstbewußter zu sein? Daß dies alles gewissermaßen nur eine Art – Ventil war …« »Ja, Mister Hawker. So kann man es bezeichnen.« John Hawker nagte an seiner Unterlippe. Das Ganze konnte natürlich eine Erklärung sein. Aber seltsam – er glaubte nicht daran. »Es ist doch einwandfrei erwiesen, daß sich in GeorgeVillage immer wieder irgendwelche übersinnlichen Phänomene ereignen und es dort Menschen gibt, von denen man behauptet, sie seien Medien …« »Richtig. Doch das ist etwas ganz anderes. Die Anwesenheit irgendwelcher nachtdunkler Geschöpfe, welche die Existenz des Satans' bewirken, das Herumgeistern untoter Wesen, die in die Gräber gehören, ist doch etwas anderes als die Tatsache, daß ein Mensch ein Medium sein kann … Medien gibt es überall in der Welt.« Dieser Bemerkung konnte Hawker sich nicht verschließen. »Aber besonders viele in George-Village …«, fügte er Tom Serridges Worten hinzu.
»Das ist richtig. Vielleicht macht'sja auch das Klima, die Umgebung … warum in der Welt irgendwo gewisse Dinge auftreten und anderswo nicht – das vermag niemand zu sagen. Man muß die Dinge so nehmen, wie sie sind. – Ich bin übrigens auch ein Medium.« John Hawker war Feuer und Flamme. »Was können Sie denn?« »Das läßt sich nur schwer beschreiben. Ich bin imstande, durch Konzentration auf einen bestimmten Gegenstand oder einen bestimmten Ort, Bilder auf einem unbelichteten Film entstehen zu lassen …« Hawker verringerte unwillkürlich die Geschwindigkeit des Autos. »Oder – manchmal ist es auch so, daß ich irgendwelche Dinge vorausahne, die dann kurze Zeit später auch tatsächlich eintreffen …«, fuhr Tom Serridge fort. »Das mit den Fotos interssiert mich«, erwiderte Hawker, ohne auf dje letzten Worte des Beifahrers einzugehen. Es schien, als hätte er sie überhaupt nicht vernommen. »Wenn ich Sie um etwas bitten würde … wären Sie dann imstande, auf einem unbelichteten Film ein Bild entstehen zu lassen?« »Wenn ich in Stimmung bin – immer …« Hawker löste eine Hand vom Steuer und griff hinter seinen Sitz. Er fand nicht sofort, was er suchte, deshalb bat er Tom Serridge, die Kamera vom Rücksitz zu nehmen, die dort lag. In einer Ledertasche steckte eine Sofortbild-Kamera, in der sich ein unbelichteter Film befand. »Machen wir doch gleich die Probe aufs Exempel«, bemerkte der Journalist. Mit diesen Worten öffnete er den Lederbehälter und nahm die Sofortbild-Kamera auf seinen Schoß. »Ich richte das Objektiv auf Sie. Sie denken jetzt an irgend etwas Schönes, und dann werden wir nachsehen, was daraus geworden ist …« Hawker lächelte verschmitzt. Das Ganze schien ihm riesigen
Spaß zu bereiten. »Wenn Sie ein solches Genie sind, Tom, dann frage ich mich allerdings, weshalb man mit Ihnen bisher noch keine Reportage gemacht hat …« »Ich bin nicht daran interessiert, in der Öffentlichkeit bekannt zu werden«, lautete die lakonische Antwort. »Und wenn ich Ihnen jetzt hier etwas zeige – dann muß ich Sie verpflichten, nichts darüber zu berichten.« John Hawker ärgerte sich, daß er vorhin erwähnt hatte, aus welchem Grund er eigentlich nach George-Village fuhr. Er wollte einen Exklusivbericht über die zweitägigen Festlichkeiten schreiben, die morgen im Wettschießen um den silbernen, legendären Dämonencolt ihren Höhepunkt fanden. Es wäre vielleicht besser gewesen, nichts darüber verlauten zu lassen. Doch was geschehen war, konnte er nun nicht mehr rückgängig machen. »Okay. Ich versprech's Ihnen. Was Sie mir zeigen, bleibt unter uns …« »Was soll ich Ihnen zeigen?« »Das überlasse ich Ihnen.« Tom Serridge winkte ab. Sein Gesicht wirkte sehr ernst und leuchtete fahl aus dem Dunkel im Innern des Fahrzeugs. »Nein, nein, Mister Hawker, so einfach brauchen Sie es mir nicht zu machen. Ich möchte Sie – überzeugen … machen Sie einen Vorschlag … « »Waren Sie schon mal in Paris, Tom?« »Nein.« »Schade. Ich hätte gern mal wieder den Eiffelturm gesehen.« »Ich weiß, wie der Eiffelturm aussieht. Ich kann ihn mir genau vorstellen.« »Dann tun Sie's, Tom!« John Hawker löste seine Aufmerksamkeit einen Moment lang von der Straße. Er blickte Serridge an. Dessen Lippen bildeten einen schmalen, harten Strich in seinem Gesicht. Er hielt die Augen halb geschlossen und schien ganz intensiv an etwas
Bestimmtes zu denken … Hawker nahm den Fuß vom Gaspedal. Der Wagen wurde noch langsamer. Draußen fielen nur noch vereinzelt ein paar Tropfen. Leer und kerzengerade lag die Straße vor ihm. Bis zum Ziel waren es schätzungsweise noch vier oder fünf Meilen. Eine halbe Minute verging, eine ganze … Dann atmete Serridge tief durch. Er öffnete die Augen wieder, wirkte ruhig und entspannt. Der Ausdruck der starken Konzentration verlor sich wie ein Nebelstreif unter der wärmenden Sonne. »Nanu?« fragte Hawker überrascht. »Es ist wohl nichts daraus geworden?« »Nehmen Sie den Film heraus«, erhielt er zur Antwort. »Sie wollten den Eiffelturm sehen – vielleicht haben Sie Glück Da fuhr der Jornalist an den Straßenrand und bremste. Er ließ das Sofortbild aus der Kassette gleiten und nahm es vorsichtig zwischen die Fingerspitzen. Er knipste die Innenbeleuchtung an und starrte auf die Bildfläche, um zu sehen, was sich dort entwickelte. Die Sekunden tropften dahin. Tom Serridge sagte kein Wort. Im Innern des Autos war es erschreckend still. Beinahe unheimlich … Hawker hielt den Atem an. Die Augen des Journalisten verengten sich, als er die dunklen Umrisse erkannte, die auf der Oberfläche des Sofortbildes langsam aus dem Nichts heraustraten. Etwas Spitzes, Dunkles war aus großen, schwarzen Rippen zusammengesetzt … Hawker biß so fest auf die Lippen, daß seine Zähne sich eingruben und er sich verletzte, ohne den Schmerz zu spüren. So abwesend war er mit seinen Gedanken. Das Bild wurde schärfer. John Hawker glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
»Das gibt es doch nicht«, entrann es unwillkürlich seinen Lippen. Da entstand tatsächlich – der Eiffelturm von Paris! Er hatte schon viel gehört und gelesen von übersinnlichen Talenten. Das meiste war als Scharlartanerie entlarvt worden. Hawker war überzeugt davon, daß es solche Kräfte und Mächte überhaupt nicht gab. Er glaubte weder an die Schwarze Magie noch an dämonische Kräfte, noch daran, daß Tote sich aus dem Jenseits melden konnten. Und gerade was George-Village anbetraf, war er besonders skeptisch. Hier wurde mit voller Absicht ein Image gewahrt, um Neugierige aus allen Teilen der Staaten zu veranlassen, den einen oder anderen Tag in dieser Town zu verbringen. Das tat den Geschäftsleuten gut, vor allem dem Inhaber des einzigen Hotels, das es am Ort gab. »Wie haben Sie das gemacht, Tom?« fragte er heiser. »Ich habe einfach an den Eiffelturm gedacht. Oder haben Sie ihn vielleicht vorher fotografiert – und führen mich nun an der Nase herum?« fragte der junge Mann aus George-Village grinsend. Er wirkte wie ein großer, unkomplizierter Junge, dem gerade ein Streich gelungen war. Hawker konnte den Blick nicht wenden von dem Bild. Die Aufnahme sah aus, als hätte sie jemand gemacht, der unterhalb des Wahrzeichens der Seine-Metropole stand und die Kamera schräg nach oben hielt. Es war kein sehr klares Bild. Die Konturen waren verschwommen, und der ganze Turm sah etwas verzerrt aus, als ob es sich um ein Spiegelbild auf einer bewegten Wasseroberfläche handele. »Können Sie das noch mal wiederholen?« fragte Hawker. »Noch mal das gleiche?« »Natürlich nicht. Etwas anderes. Ich meine – das Ganze könnte ja noch Zufall sein. So ganz klar zu erkennen ist das ja schließlich nicht. Natürlich, mit ein wenig Phantasie kann man
annehmen, daß es sich um den Eiffelturm handelt …« Er ertappte sich dabei, daß er zu zweifeln anfing. Alle möglichen Ausreden fielen ihm mit einem Mal ein. Vielleicht war der Film nicht mehr in Ordnung. Der Journalist grinste plötzlich breit. »Versuchen Sie's doch mal mit dem Atomium in Brüssel – das ist bestimmt schwieriger …« Tom Serridge blickte ihn groß an. Dann zuckte er die Achseln. »Schön, wenn Sie wollen. Versuchen kann ich's ja …« Und er experimentierte! »In Brüssel, sagten Sie … das Atomium in der belgischen Hauptstadt …«, er murmelte leise vor sich hin, als müsse er sich ins Gedächtnis rufen, was John Hawker da von ihm verlangte. Serridge bot wieder den Anblick höchster Konzentration. Der Journalist ließ diesmal sein Gegenüber keine Sekunde aus den Augen. Serridges Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. Jegliches Leben schien aus seinem Körper zu weichen, als er sich auf den Fotoapparat auf Hawker Knien konzentrierte. Serridge wirkte plötzlich älter. Die Anstrengung schien ihm sichtlich viel Kraft zu kosten. Dann wieder das tiefe Durchatmen, der Ausdruck der Erleichterung. »Okay – ziehen Sie den Film raus. Ich bin selbst gespannt, was draus geworden ist.« Hawker konnte es kaum erwarten, bis das Sofortbild sich entwickelt hatte. Die Wahrheit erschlug ihn fast. Alle Zweifel wurden hier bedeutungslos. Was sich auf dem Bild zeigte, war eindeutig das Atomium in Brüssel! Tom Serridges Geist, sein inneres Auge, hatte es gesehen und auf den unbelichteten Film transponiert. Brüssel, Belgiens Hauptstadt, lag viele tausend Kilometer entfernt. Und doch schien die Aufnahme eben erst dort gemacht worden zu sein. Hawker war erregt. Er hatte Mühe, seine aufgepeitschten Nerven unter Kontrolle zu halten. Narrte ihn ein Spuk? Befand er sich, ohne daß es ihm bewußt worden war, unter Hypnose? Nein – er war Herr seiner Sinne und ärgerte sich darüber, daß
niemand sonst anwesend war, der das, was er eben erlebt hatte, bezeugen konnte. Wortlos nahm er beide Bilder an sich und verstaute sie in seiner Brieftasche. Was er hier erlebt hatte, würde ihm kein Mensch abnehmen, wenn er darüber erzählte. Sein klarer Menschenverstand wehrte sich gegen das Ereignis. Aber schließlich konnte er es nicht einfach mit einer Handbewegung abtun. Tom Serridge war zufrieden. Er strahlte über das ganze Gesicht und freute sich wie ein kleiner Junge. »Ich kann mir denken, daß Ihnen das die Sprache verschlägt. Damit hatten Sie wohl nicht gerechnet … Sie sehen, daß Leute aus George-Village doch mit anderen Maßstäben zu messen sind als Normalsterbliche.« »Haben Sie in den nächsten Tagen etwas vor, Tom? Oder ist es möglich, daß ich mich mit Ihnen für eine oder zwei Stunden während der Festlichkeiten in George-Village treffen kann?« fragte Hawker unvermittelt. Serridge lachte laut. »Sie denken wohl, ich bediente mich eines besonderen Tricks bei der ganzen Sache, wie? Und nun wollen Sie mir auf den Zahn fühlen. Da gibt's keine Tricks und keine Hintertürchen, Mister Hawker! Ich hab' Ihnen das vorgeführt, um zu beweisen, daß es Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, die man eben nicht mit den herkömmlichen Gesetzen erklären kann. Ich hab' nun mal diese Fähigkeit. Warum ich sie hab' – das weiß ich selbst nicht. Es gibt dafür keine Erklärung außer der einen, daß ich eben in George-Village groß geworden bin … und da soll die Luft ja besonders sein.« War doch mehr an diesem George-Village, als man gerüchterweise annehmen konnte? Hawkers Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Er startete wieder. Plötzlich sagte Serridge: »Ich könnte Ihnen noch etwas zeigen, Mister Hawker…«
»Und das wäre?« »Ich sagte Ihnen vorhin schon, daß es besonderes viele Menschen in George-Village gibt, die die Fähigkeit haben, einen Blick in die nahe Zukunft zu werfen. Was würden Sie sagen, wenn ich jetzt einfach behaupte, daß wir innerhalb der nächsten zwei bis drei Minuten auf jemand stoßen, der ebenfalls mitgenommen werden will?« »Das ist ohne weiteres möglich. Bei dem Wetter kann das schon mal passieren. Ich würde sagen, Sie haben es einfach geraten …« »Wenn ich Ihnen noch eine genaue Beschreibung desjenigen gebe, der als Anhalter mitgenommen werden will. Was würden Sie dann sagen?« »Das zumindest würde mich hellhörig machen, Tom. Entweder haben Sie wirklich das zweite Gesicht, oder die ganze Sache ist nichts weiter als ein abgekartetes Spiel … aber das letztere ist wohl sehr unwahrscheinlich. Schließlich haben wir uns erst vor wenigen Minuten kennengelernt, und Sie haben wahrhaftig keinen Grund, mir irgendwelchen Popanz vorzuführen.« »Genau, Mister Hawker. – Aber bevor wir uns weiter darüber unterhalten, möchte ich Sie bitten, nicht unbedingt höher zu beschleunigen. Gleich hinter der nächsten Kurve nämlich steht jemand, der mitgenommen werden möchte. Es handelt sich um ein junges Mädchen. Sie hat blonde Haare, wirkt zierlich und trägt Blue-Jeans und einen knallroten Pulli …« John Hawker konnte sich nicht erinnern, jemals eine Situation wie diese erlebt zu haben. Er grinste. Das Grinsen gefror auf seinen Zügen. Als er nämlich um die Kurve kam, sah er im Licht der beiden Scheinwerfer eine einsame Gestalt am Straßenrand, die die rechte Hand hob, mit dem Daumen Richtung George-Village deutete und genauso aussah, wie von Serridge beschrieben! Das schlug dem Faß den Boden aus.
»Und wenn ich jetzt nicht halte?« kam es schnell über die Lappen des Fahrers. »Sie werden halten! Ich weiß es ganz genau …« Hawker hatte ursprünglich die Absicht, genau das Gegenteil von dem zu tun, was Serridge ihm angekündigt hatte. Als er jedoch auf der Höhe der jungen Anhalterin angekommen war, trat er plötzlich wie unter einem inneren Zwang auf die Bremse. Das Fahrzeug kam zum Stehen. Die Unbekannte machte auf dem Absatz kehrt und lief auf sie zu. Hawker kurbelte die Scheibe auf seiner Seite herunter. »Fahren Sie nach George-Village?« wurde er gefragt. Das Mädchen war sehr schön und sehr jung. Sie hatte langes, blondes Haar, das vom Regen durchnäßt war und an ihrem Kopf klebte. Ihre Haut war frisch und glatt wie die eines Pfirsichs. Ihre Augen glänzten. Mit ihren gleichmäßig weißen Zähnen, ihrem kirschroten Mund lachte sie Hawker entwaffnend und verführerisch an. Der Journalist nickte. »Das ist fein«, reagierte die blonde Unbekannte auf seine Worte. »Darf ich dann mit Ihnen fahren? Ich war unterwegs. Beim Spaziergang wurde ich vom Regen überrascht. Es wäre nett von Ihnen …« »Steigen Sie schon ein«, sagte Hawker knapp. Gegen seine Gewohnheit etwas unfreundlicher als sonst. Darüber ärgerte er sich am meisten. Er kam mit der Situation nicht so zurecht, wie er's gern gehabt hätte. »Danke.« Ihr schöner roter Mund war ganz nahe. Ihre Haut duftete betörend nach Parfüm. Das Rot ihrer Lippen … das war noch nicht alles. Er nahm auch das Rot in ihrem unken Mundwinkel wahr. Das stammte nicht vom Lippenstift. Es hatte eine andere Farbe und bildete einen schmalen, eingetrockenten Streifen. Der sah aus wie Blut.
Das Mädchen schien sich verletzt zu haben. Doch darüber machte Hawker sich dann keine weiteren Gedanken … * William Perkins kam es so vor, als würde er eine Ewigkeit brauchen, um das Ende des Waldweges zu erreichen. Dann endlich sah er das graue, feucht schimmernde Band der asphaltierten Straße vor sich. Motorengeräusch in der Ferne. Ein Wagen näherte sich. Perkins forcierte noch mal sein Tempo, um gleich diesen ersten Wagen nach Möglichkeit anzuhalten. Er taumelte mehr auf die Straße, als daß er lief. Sein Atem flog, und er hatte Seitenstechen. Wie ein Betrunkener torkelte William Perkins auf die Straßenmitte und begann heftig zu winken. Aus der Ferne schoben sich wie zwei runde, pupillenlose Augen die Fläche der Scheinwerfer. Sie wurden rasch größer. Das Fahrzeug näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Es handelte sich um einen knallroten Wagen, wie ihn Perkins in dieser Form noch nie gesehen hatte. Das war ja ein richtiger Flitzer, raketenschnell, und er sah so aus, als ob er für das nächste Jahrhundert gebaut worden wäre. Es handelte sich um eine Lotus. Der Fahrer schaltete rücksichtsvoll das Fernlicht ab, um den auf der Straße stehenden Menschen nicht zu blenden. Im Wagen saßen zwei Männer. Der eine war blond, hatte blaugraue Augen und ein sonnengebräuntes Gesicht. Ein frischer, sportlicher Typ, auf Anhieb sympathisch. Der andere an seiner Seite war einen ganzen Kopf größer, breitschultrig und hatte einen roten Haarschopf und einen nicht minder roten, wilden Vollbart.
»Da scheint etwas passiert zu sein, Towarischtsch«, sagte der Rothaarige. »Da ich keine Vollbremsungen liebe, wäre es ganz gut, wenn du jetzt das Bremspedal schon mal ein bißchen leicht mit dem Fuß antippen würdest …« »Als Fahrer sollte man sich immer nach den Wünschen seines Beifahrers richten«, erwiderte der blonde Mann lachend. »Womit ich allerdings sonst – als mit dem Fuß – das Bremspedal antippen sollte, ist mir ein Rätsel. Wenn du annimmst, daß ich hier artistische Glanzleistungen vollbringe, muß ich dich gewaltig enttäuschen. Ich habe nicht die Absicht, mit den Füßen das Lenkrad und den Händen Brems- und Gaspedal zu bedienen.« Larry Brent, der Fahrer des roten Lotus, nahm Gas weg und bremste dann leicht. »Ich hoffe, so ist's sanft genug … zufrieden?« Der Beifahrer – Iwan Kunaritschwew alias X-RAY-7 – nickte und brummte vor sich hin, was so viel wie Zustimmung darstellte. »Ich muß dich loben, Towarischtsch. Diesmal wurde ich kaum in den Sitz zurückgepreßt und mit der Stirn bin ich auch nicht gegen die Windschutzscheibe geflogen. Ich hab' mir lediglich die Kniescheiben am tief herabgezogenen Armaturenbrett angestoßen. Das macht fast gar nichts. Du hast den Wagen schon so richtig im Griff. Man merkt, daß du in der letzten Zeit sehr oft mit ihm fährst …« Larry Brent alias X-RAY-3, der in seiner Doppelfunktion auch als X-RAY-1 fungierte, war einer der erfolgreichsten Agenten der PSA und seit geraumer Zeit auch deren geheimer Leiter. Er hielt knapp einen Meter vor dem winkenden Mann, der sofort um die Kühlerhaube gelaufen kam und den Fahrer ansprach. »Fahren Sie nach George-Village?« »Ja«, erwiderte Larry Brent. »Ich bin in eine Notlage geraten. Meine Frau ist verunglückt. Ich brauche dringend einen Arzt. Leider kann ich nicht selbst fahren, weil mein Wagen im Schlamm steckengeblieben ist.«
»Selbstverständlich, Mister. Wir werden dem Doc in GeorgeVillage sofort Bescheid geben. Können wir sonst noch etwas für Sie tun? Ist es sehr schlimm? Vielleicht können wir Ihre Frau gleich mitnehmen? Dann ging's eventuell schneller.« William Perkins schüttelte den Kopf. »Nein … danke …, es ist sehr freundlich von Ihnen, aber nicht nötig.« Den beiden Freunden im Wagen fiel auf, daß der Mann nervös und verwirrrt war. »Aber ich kann Ihnen möglicherweise behilflich sein, den Karren aus dem Dreck zu ziehen«, bot Iwan Kunaritschew seine Hilfe an. »Was einer nicht schafft, das gelingt zweien bestimmt. Während mein Freund in George-Village alles erledigt, helfe ich Ihnen gern.« William Perkins lächelte. »Das ist sehr nett. Vielen Dank! Da sage ich selbstverständlich nicht nein …« Als aber der starke Russe ausstieg, bereute Perkins seine Zusage. Eigentlich wußte er nicht, mit wem er es hier zu tun hatte. Wenn diese beiden Burschen … aber nein! Er verwarf die aufblitzenden Gedanken ebenso schnell wieder, wie sie gekommen waren. Die beiden Reisenden sahen nicht so aus, als ob man sie zu fürchten hätte. Auf der einen Seite freute er sich wirklich, daß er jemand hatte, mit dem er sich unterhalten konnte. So ganz geheuer war das, was geschehen war, ihm schließlich nicht. Da konnte es nicht schaden, wenn sich jemand in seiner Nähe befand. Barbara hatte schließlich ein Geräusch gehört und ein Gesicht am Fenster zur Küchennische gesehen. Dieser Vorfall war noch immer nicht ganz geklärt. Er war längst davon abgerückt, daß es sich nur um eine Täuschung seiner Frau gehandelt haben könnte. Larry Brent fuhr los. Er beschleunigte scharf, und wenige Augenblicke später waren auch die roten Rücklichter von der Nacht verschluckt. William Perkins und Iwan Kunaritschew machten sich auf
den Weg Richtung Wohnwagen. Der Boden unter ihren Füßen schmatzte. Er war aufgeweicht. Stellenweise war der Weg sehr kritisch. Die beiden Männer mußten dann die Pfützen umgehen, wenn sie nicht hineintreten wollten. Nur zögernd kam ein Gespräch auf, mit jeder Sekunde, die verstrich, war Perkins jedoch froh, daß ein Begleiter zu ihm gestoßen war und den Weg mit ihm gemeinsam ging. Der Gedanke daran, daß Barbara tot und reglos im Wohnwagen lag, erfüllte ihn mit Grauen. Der Grafiker lief sehr langsam. Er hatte keine besondere Eile, zum Standort des Caravan zurückzukehren. Dann sah Iwan Kunaritschew den hellerleuchteten Wohnwagen in der Lichtung stehen. Durch die Fenster fielen breite Lichtstreifen, die sich im feuchten Gras und in der riesigen Pfütze spiegelten. Perkins trat auf einen Ast. Es gab ein hartes, trockenes Geräusch, das sich wie ein Schuß anhörte. Der bewirkte, daß ein Nachtvogel sich kreischend aus dem Wipfel eines dichtbelaubten Baumes erhob und mit mächtigem Flügelrauschen davonflog. Erschreckt blickte er dem Tier nach, das wie ein Schatten in der Dunkelheit untertauchte. Dann sagte Perkins etwas, womit Kunaritschew im ersten Moment nichts anfangen konnte. »Glauben Sie an Vampire, Mister?« »Wie kommen Sie gerade jetzt darauf?« reagierte der Russe sofort. Etwas am Verhalten dieses Mannes mißfiel ihm. Selbst wenn man von dem Gedanken ausging, daß er eine Unfallverletzte oder schwerkranke Frau im Wohnwagen hatte, war seine Verwirrung von einem Grad, der zur Situation nicht paßte. Perkins fuhr zusammen, als Kunaritschew ihn ansprach. »Wieso?« reagierte er erschreckt. »Habe ich etwas gesagt?«
Kunaritschew nickte. »Sie sprach davon, ob ich an Vampire glaube. Würde es Ihnen nützen, wenn ich Ihre Frage mit ja beantworten würde?« Perskins verzog das Gesicht. Man sah ihm den inneren Kampf an, den er mit sich ausfocht. Er wollte etwas sagen und zwang sich doch dazu, den Mund zu halten! Er fuhr sich mit der gespreizten rechten Hand durchs Haar und schüttelte dann den Kopf. »Es ist verrückt … und Sie werden mich für verrückt halten … ich kann nicht darüber sprechen … bitte vergessen Sie, was ich gesagt habe.« »Vielleicht kann ich Ihnen helfen«, entgegenete X-RAX-7. »Nein. Mir kann niemand mehr helfen. Ich muß das allein ausbaden …« Er atmete unruhig, und seine Hände öffneten und schlössen sich zu Fäusten. »Meine Frau … es war kein normaler Unfall … sie hat worhin etwas wahrgenommen, und ich bin aus dem Wagen gegangen, um nachzusehen … als ich zurückkehrte, fand ich sie tot … der Biß an ihrem Hals sieht so aus, als ob ein … Vampir sie angefallen hätte.« Nun brach es doch aus ihm heraus. Er brauchte ein Ventil. »Wenn sie tot ist, wie Sie sagen, dann verstehe ich nicht, was ein Arzt noch nützen soll«, bemerkte Iwan Kunaritschew leise. William Perkins stand da wie ein Häufchen Elend. Resigniert ließ er die Schultern sinken. »Ich weiß überhaupt nicht mehr, was richtig und was falsch ist, Mister … ich sah sie da liegen und hab' sie auf eine Bank gebettet … vielleicht ist meine Frau tot … vielleicht lebt sie auch noch, wer weiß …?« Nun wurde Iwan das Verhalten dieses Mannes klar. Er stand unter einer Art Schock. Er hatte das Erlebnis bis jetzt noch nicht verkraftet. Kunaritschew spurtete los. Mit drei, vier schnellen Sätzen befand er sich an der Stiege zum Wohnwagen und stürmte über sie nach oben. Er riß die Tür auf und starrte in den hell erleuchteten Caravan. Als ob er eine schwere Last trüge, kam nun auch William
Perkins näher. »Als ich Sie vorhin anhielt, war ich auch überzeugt davon, daß Eile not tut«, murmelte er abwesend. »Aber selbst die größte Eile nützt wohl nichts mehr … man kann ihr nicht mehr helfen, nicht wahr …« Iwan Kunaritschew wandte sich um. Er blickte ernst. »Nein, Mister … helfen kann man ihr nicht mehr. Sie ist nämlich – nicht mehr da …« * Er setzte die beiden Anhalter mitten in George-Village ab. Am Marktplatz verabschiedeten sich Tom Serridge und die junge grazile, blonde Frau von ihm. Tom Serridge reichte Hawker die Hand. »Und Sie vergessen nicht, worüber wir gesprochen haben, nicht wahr?« Damit spielte er auf die Sache mit den Gedankenfotos an, die John Hawker so in Bann gezogen hatten. Diese Worte klangen fast wie eine Drohung. »Natürlich nicht, Tom. Ich hab' Ihnen mein Wort gegeben.« Der Journalist hielt die Hand vor den Mund und gähnte. Er war müde. Seit Stunden hatte er keine Pause eingelegt. »Ich nehme an, wir sehen uns morgen. Beim Schützenfest …«, fügte er müde lächelnd hinzu. »Sicher. Das denke ich auch. Morgen ist ja hier allerhand los. Werden Sie sich auch an dem Wettbewerb beteiligen?« Hawker winkte ab. »Soviel mir bekannt ist, soll die Schießerei mit Gewehren und Pistolen der damaligen Zeit ausgetragen werden, als George-Village entstand. Ich kann nicht schießen. Auf alle Fälle werde ich mir diesen Klamauk nicht entgehen lassen, der schließlich ein Stück Geschichte dieses Ortes darstellt …« Es war erst wenige Minuten nach zehn Uhr abends. In den Gassen und Straßen herrschte noch Leben. Alles war auf den Beinen. Da wurde gehämmert und genagelt, da wurden die
Häuser mit frischem Grün geschmückt und Girlanden von Fenster zu Fenster gespannt. Gerade auf dem Marktplatz, an dem sie angehalten hatten, ging es hoch her. Primitive, mit Zeltplanen bespannte Buden wurden aufgerichtet und letzte Hand an die Ausgestaltung des Straßenbildes gelegt, das sich so Historisch wie möglich zeigen sollte. Im Hintergrund hörte man Pferde wiehern. Auch die sollten morgen das Straßenbild beleben. Für die Zeit der Festlichkeit waren alle Straßen für den Autoverkehr gesperrt. Morgen war George-Village wieder so wie vor hundert Jahren, als es noch keine Autos gab. Hinweisschilder für die Besucher vermerkten, daß die Autofahrer auf einem speziell eingerichteten Parkplatz ihre Fahrzeuge abstellen sollten. Langsam rollte Hawker durch die schmalen Gassen GeorgeVillages. Die Häuser standen dicht an dicht, und man hatte nicht den Eindruck, in einer Stadt des Westens zu sein, sondern eher in einem Dorf mit schottischem oder irischem Charakter. Auch die Menschen hatten ein eigenartiges Naturell. Sie wirkten verschlossen und beobachteten jeden Fremden mit einem gewissen Mißtrauen. Bis zum Hotel, in dem John Hawker sein Zimmer bestellt hatte, waren es noch rund zweihundert Meter. Es hieß nur ›Hotel‹. Einen zusätzlichen Namen brauchte es nicht, weil es kein weiteres am Ort gab. Es war kein großes Haus und verfügte nur über wenige Zimmer. Für die Zeit der Festlichkeit, für die man eine höhere Anzahl Gäste als sonst erwartete, standen Privatquartiere bereit. In dem allgemeinen Getümmel bemerkte der Journalist nicht, daß er auf eine besondere Weise beobachtet wurde. Tom Serridge und das junge, blonde Mädchen blieben an einer dunklen Straßenecke stehen und sahen ihm nach.
Wer das Paar an der Ecke sah, war der Ansicht, daß es sich um zwei Menschen handelte, die sich seit langem kannten. Ihre Blicke begegneten sich. In den Augen beider schimmerte das Licht und die bernsteinfarbene Tönung von Raubtieraugen. »Wir hätten die Gelegenheit dazu gehabt«, sagte das blonde Mädchen unvermittelt. »Ich weiß. Aber es war mir zu riskant. Wir können uns keinen Fehler erlauben …« »Und wann werden wir …« »Noch heute nacht. Er ist sehr müde, Das kommt unserem Vorhaben entgegen. Er hat überhaupt keine Chance …« Um die Lippen Tom Serridges spielte ein grausames Lächeln. Hätte man ihn jetzt aus der Nähe betrachtet, wäre dem Beobachter vielleicht aufgefallen, daß das ganze Gesicht mit winzigen Stoppeln bedeckt war, die zu sprießen begannen. Für den Bruchteil eines Augenblicks sah es so aus, als ob sich auf Tom Serridges Gesicht ein fellartiger Überzug bilde. Doch blitzartig, wie es begonnen hatte, hörte das Wachstum der Haare wieder auf, und der junge Mann sah wieder so aus wie zuvor … Das Paar wollte gerade seinen Beobachtungsort verlassen, als von der anderen Straßenseite ein Mann mittleren Alters auf sie zukam. »Hallo!« sprach er sie an und winkte ihnen. Serridge und seine Begleiterin blieben stehen. »Ja, bitte?« fragte der junge Mann freundlich. »Entschuldigen Sie, daß ich Sie anspreche«, fuhr der Ältere fort. Er hatte listige kleine Augen und dunkles, schütteres Haar. Er trug eine ausgebeulte Hose und ein kariertes Hemd. »Ich habe Sie gerade da stehen sehen, die Straße entlangblickend. Sie sind eben erst angekommen?« Tom Serridge nickte. »Sie sind fremd hier«, nickte der Alte. »Sie suchen bestimmt ein Zimmer. Ich kann Ihnen eins anbieten. In meinem Haus. Da ist noch etwas frei. Und es ist gar nicht teuer …«
»Vielen Dank für das Angebot. Wir können es leider nicht annehmen. Wir sind bereits gut untergebracht.« Der Alte hob die Augenbrauen. »Aha! Dann ist es gut. Und bei wem, wenn ich fragen darf? Wissen Sie – ich lebe seit vierundsechzig Jahren hier in George-Village. Ich kenne jeden. Ich kenne die, die ich Ihnen empfehlen könnte – und die, bei denen ich Ihnen lieber abrate, nicht hinzugehen …« Er unterbrach sich, als er bemerkte, daß das junge Paar für das, was er sagen wollte, überhaupt kein Interesse aufbrachte. Er blickte den beiden nach, wie sie die Gasse entlanggingen und zwischen den verwinkelt stehenden Häusern verschwanden. »Ich verstehe das nicht«, fuhr der Alte im Selbstgespräch fort. »Möchte nur wissen, was die da hinten wollten … da ist doch keiner in diesem Teil des Ortes, der ein Zimmer zur Verfügung stellen könnte«. Er schüttelte irritiert den Kopf. »Fremde … lauter Fremde … man kommt einfach nicht zurecht mit ihnen. Aber höflich könnten sie wenigstens sein … Wohin die beiden wohl gehen? Da hinten gibt's doch nur noch Wald …« Da kam der Mann auf die Idee, die Verfolgung aufzunehmen. * Larry Brent erkundigte sich unmittelbar nach seiner Einfahrt in den Ort beim erstbesten Passanten nach der Wohnung des Arztes. Sie war einfach zu finden. Das Haus lag direkt neben GeorgeVillages einzigem Hotel … X-RAY-3 fuhr umgehend dorthin. Es handelte sich um ein düsteres, handtuchschmales Haus mit roten Ziegeln. Neben dem Hotel wirkte es beinahe wie verloren. Der PSA-Chef mußte mehrere Male klingeln, ehe sich jemand in dem dunklen Gebäude rührte.
»Ja, ja … ich komm' ja schon … nur langsam mit den jungen Pferden …«, murrte eine dunkle, etwas heisere Stimme. »Es wird ja wohl nicht so eilig sein. Oder hat sich einer beim Aufstellen der Buden den Hammer auf den Nagel geschlagen? Bei der Hektik heute muß man ja mit allem rechnen …« Ein Schlüssel drehte sich rasselnd im Schloß, dann wurde der Riegel zurückgezogen. In der Tür zeigte sich ein kleiner Mann mit einer stark gebogenen Nase in einem müde wirkenden Gesicht. »Ja, bitte?« fragte der Kleine. Er reichte Larry bis knapp an die Brust. »Was kann ich für Sie tun, da Sie's so eilig haben, mir die Nachtruhe zu stehlen? Die Füße des Mannes steckten in Filzpantoffeln, er hatte sich rasch einen rotweiß-gestreiften Frottee-Bademantel übergeworfen. »Sie sind Doc Meiler?« fragteX-RAY-3. Sein Gegenüber nickte. In wenigen Worten berichtete Larry von der Situation, wie sie sich zugetragen hatte. »Etwas Genaueres wissen Sie nicht?« fragte der Arzt. »Leider nein.« »Bitte, gedulden Sie sich drei Minuten. Ich bin gleich wieder zurück. Ich hab' schon im Bett gelegen …« »Das tut mir leid, Doc.« Meiler winkte ab. »Das braucht Ihnen nicht leid zu tun. Dafür habe ich meinen Beruf! Ich war allerdings überzeugt, heute abend früh zur Ruhe zu kommen. Morgen gibt es nämlich einen langen Tag …« Mit diesen Worten deutete er hinüber Richtung Marktplatz, von wo viele Geräusche klangen. »Da werd' ich wohl einiges zu tun haben. Ich hoffe, daß es nur bei einfachen Blessuren bleibt. Wenn einige Kerle abends zu tief ins Glas geschaut haben und mit der Waffe, die man ihnen anvertraut hat, in ihrer überschäumenden Fröhlichkeit nicht auf die Zielscheibe, sondern zur Abwechslung auf biedere Bürger
zielen, weil sie meinen, sich damit einen besonderen Spaß erlauben zu können – wenn das nicht vorkommt, will ich zufrieden sein. – Einen Moment bitte!« Er drückte die Tür ins Schloß und eilte den Korridor zurück. Larry hörte die sich entfernenden Schritte. Er selbst schlenderte einige Schritte Richtung Hotel, um durch die großen, weit geöffneten Fenster einen Blick in das Innere des Gebäudes zu werfen. Das Restaurant lag genau zur Straße und die Gäste konnten zum Marktplatz hinunterschauen, der in einer Senke lag. Von hier oben aus hatte man einen vortrefflichen Blick über die kleinen, ziegelgedeckten Häuser hinweg in die engen, dunklen Gassen. Im Hotel waren schon zahlreiche Gäste angekommen. Brent ließ seinen Blick kurz über die Anwesenden schweifen und machte dann kehrt, um zu Doc Meilers Haus zurückzukehren. Da stutzte er plötzlich. Jemand von den Gästen kam ihm bekannt vor. An einem Ecktisch, der etwas vom Fenster zurückstand, saß eine bildschöne Frau. Sie hatte langes, dichtes, schwarzes Haar und die edlen Gesichtszüge einer ägyptischen Königin. X-RAY-3 zweifelte im ersten Moment daran, daß die Person, die er zu sehen glaubte, es sein konnte. Die Frau hatte zartgebräunte Haut und trug ein seegrünes Sommerkleid. Das saß wie eine zweite Haut an ihrem Oberkörper und hatte einen gewagten Ausschnitt, so daß der Ansatz des schönen Busens voll zur Geltung kam. Der schlanke Hals und die wohlgerundeten Schultern wurden durch die dünnen Spaghettiträger betont. Diese Frau hätte jedem Maler Modell stehen können, und der Künstler wäre begeistert von einer solchen exotischen Schönheit gewesen. Und eine Exotin war sie! Eine – Ägypterin!
Wenn man diese Frau sah, stellte man sich unwillkürlich Salome beim Tanz mit den sieben Schleiern vor. Larry Brent wußte genau, daß er sich nicht täuschte. Er war der Schönen schon mal in seinem Leben begegnet. Damals – in Hongkong. Das war Madame Hypno, jene rätselhafte Schöne, die in den großen Theatern und Varietes der Welt auftrat, um ihre einmaligen Darbietungen zu zeigen. Er hätte sich vorstellen können, daß es normal gewesen wäre, ihr in Chikago, New York, Paris, London, Brüssel, Berlin oder München zu begegnen – aber nicht hier in diesem gottverlassenen Nest, das sich George-Village nannte. Was hatte Madame Hypno hier zu suchen? Larry Brent wurde ein komisches Gefühl nicht los. Die Anwesenheit der schönen Araberin irritierte ihn aufs höchste … Kurzentschlossen betrat er das Hotel. Lächelnd passierte er die Tischreihen und steuerte direkt auf die schwarzhaarige Frau zu. Die blickte hoch, als er vor ihrem Tisch stand. »Hallo«, sagte X-RAY-3 freundlich. »So sieht man sich also wieder. Auf eine Weise und an einem Ort, den wohl niemand von uns angenommen hätte. Haben Sie auch die Absicht, sich am Wettschießen zu beteiligen?« Ein Blick aus dunklen Augen traf ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Larry das Gefühl, als ob so etwa wie ein Erkennen über Madame Hypnos Züge glitt. Doch dann wurde ihre Miene plötzlich kalt und abweisend. »Entschuldigen Sie«, sagte sie mit ihrer dunklen, rauhen Stimme, die jedem einen angenehmen Schauer über den Rücken rieseln ließ. »Ich glaube – Sie täuschen sich. Oder ist das Ihre plumpe Art, auf diese Weise jemand kennenzulernen?« Brents Augen verengten sich. Mit einer solchen Reaktion hatte er nicht gerechnet. »Erkennen Sie mich denn nicht wieder?« entfuhr es ihm unwillkürlich.
Er mußte daran denken, wie sie miteinander geplaudert hatten und sich das Versprechen gaben, bei Gelegenheit eine ruhige Stunde des Wiedersehens zu nützen. Unter dem Namen »Madame Hypno« hatte die Araberin eine Popularität ersten Ranges errungen. Sie war zu einer wahren Weltenbummlerin geworden. In fast jeder größeren Stadt auf allen Kontinenten war Madame Hypno ein Begriff. Die Ereignisse seinerzeit in Hongkong hatten auch sie in Bann gezogen. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Iwan Kunaritschew und Larry Brent kennen, und als man sich voneinander trennte, war man sich einig darüber, so bald wie möglich ein Treffen herbeizuführen. Bei dieser Gelegenheit schon hatte Larry Brent mit dem Gedanken gespielt, Madame Hypno für die Arbeit der PSA zu gewinnen. Mit ihren hypnotischen Gaben war sie prädestiniert dazu, eine hervorragende Mitarbeiterin zu werden. »Wieso sollte ich Sie kennen?« reagierte sie scharf. Ihr Blick ging an ihm vorbei, über seine Schultern hinweg, und es schien, als ob sie jemand anderen ins Auge fasse. »Ich habe Sie nie gesehen. Sie müssen sich täuschen, mein Herr …« »Mein Name ist Larry Brent, Madame. In Hongkong …« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe Sie nicht darum gebeten, an meinen Tisch zu kommen.« Larry hatte das Gefühl, mit einem kalten Waschlappen einen Schlag nach dem anderen ins Gesicht zu bekommen. Das konnte doch nicht wahr sein! Für ihn gab es nicht den geringsten Zweifel daran, daß es sich um die Frau handelte, die er kannte. Oder konnte es sein, daß es jemand gab, der ihr wie ein Ei dem anderen frappierend ähnlich sah? »Sie sind doch – ›Madame Hypno‹, nicht wahr?« »Richtig.« »Wir beide haben uns doch …« »Ich kann mich nicht erinnern, Sie jemals gesehen oder gesprochen zu haben, Mister!« Die Frau ließ ihn überhaupt nicht
zu Wort kommen. Was war nur los mit ihr? Wieso ließ sie ihr Gedächtnis im Stich? »Ist etwas, meine Liebe?« tönte eine Stimme da hinter Larry. X-Ray-3 wirbelte herum. Durch den Eingang zur nach oben führenden Treppe war ein hagerer, dunkelhaariger Mann getreten mit einem energischen Kinn und einer geraden, aristokratischen Nase. Er trug einen hellen Sommeranzug, darunter ein offenes Sporthemd mit abgestepptem Kragen. Die Haut des Fremden war gebräunt, seinem Körper haftete ein dezent männlicher Duft von Aftershave an. »Wirst du belästigt?« »Schaff mir den Kerl vom Hals, Pierre«, sagte Madame rauh. »Er redet die ganze Zeit schon auf mich ein. Er behauptet, daß wir uns kennen – dabei haben sich unsere Wege nie gekreuzt. Wahrscheinlich hat er mein Bild auf einem Plakat oder in einer Zeitschrift gesehen und nimmt sich nun das Recht heraus, daß auch ich ihm bekannt sein müsse …« »Bitte gehen Sie, Mister«, sagte der Mann mit der geraden Nase und dem Namen Pierre. »Wir möchten gern allein sein.« Deutlicher konnte man es nicht sagen. Larry Brent war nicht der Typ, der einem Problem aus dem Weg ging. Und dies hier war eines. Doch die Tatsache, daß er draußen erwartet wurde und Mister Perkins dringend auf ärztliche Hilfe wartete, veranlaßte ihn, auf dem Absatz kehrt zu machen. »Entschuldigen Sie«, murmelte er beiläufig. »Dann hab' ich mich wohl getäuscht … so etwas kann ja vorkommen …« Aber dies war keine Täuschung! Er wußte es genau! Madame Hypno hatte ihn verleugnet … Warum nur? * Der alte Mann war einfach neugierig. Steven McDolan war ein Mensch, der grundsätzlich alles wis-
sen mußte. Das hatte sein Leben in diesem engen, nur von wenigen Einwohnern belebten Ort so mit sich gebracht. Da wußte einfach einer alles vom anderen. Die beiden Fremden, denen er eben begegnet war, verhielten sich wirklich merkwürdig. Deshalb ging er ihnen einfach nach. Im Schatten der Häuser bewegte er sich für sein Alter erstaunlich elastisch und flink. McDolan hielt beträchtlichen Abstand, so daß er die Fremden gerade noch im Auge hatte. Er erreichte die äußerste Häuserreihe und beobachtete. An die Gebäude schlossen sich kleine, verwilderte Garten an, in denen zum Teil Hühner – und Hasenställe standen. Hinter der Umzäunung begann sofort der Wald. Und dort im Gebüsch verschwand das Paar. Der alte Mann kratzte sich im Nacken, und ein verständnisvolles Grinsen huschte plötzlich über sein Gesicht. Er seufzte. »Ich bin ein alter Narr«, murmelte er im Selbstgespräch vor sich hin. »Es ist doch wirklich idiotisch, daß ich ben beiden nachschleiche … zwei junge Menschen, eine milde Sommernacht … und dann der Wald hier … Na, was werden die beiden schon hier wollen …« So dachte er in diesem Moment und nahm sich vor, in die Stadt zurückzugehen und auf dem Marktplatz die letzten Vorbereitungen für das bevorstehende Fest zu beobachten. Die Wolken verzogen sich. Klar und hell stand die volle Scheibe des Mondes am nächtlichen Himmel. Fahles Silberlicht ergoß sich über die kleinen Häuser mit den ziegelroten Dächern, die ungepflegten Höfe und Gärten, über die Kronen der Bäume. Steven McDolans Herzschlag stockte, als er sah, wie das Paar dort drüben plötzlich wie von einer unsichtbaren Wand aufgehalten wurde. Das blonde, junge Mädchen stand mit dem Rücken zu einem Baum, der junge Mann vor ihr. Seine Hände ruhten auf ihren
Schultern, und dann näherte er sein Gesicht dem ihren. McDolan wollte sich umwenden. Er hatte geahnt, was kommen würde – und doch glaubte er nicht daran. Wenn die beiden nur der Liebe wegen in den nächtlichen Wald gehen wollten – warum blieben sie dann hier vorn im Mondlicht stehen? Sie mußten doch damit rechnen, daß man sie von den Fenstern der Häuser aus sah? Es schien – als wären sie beide unter einen plötzlichen Bann geraten. McDolan schluckte heftig. Narrte ihn ein Spuk – oder war es Wirklichkeit? Dort drüben am Baum kam es ihm so vor, als ob das Mondlicht stärker schiene als an anderen Stellen. Er nahm die Dinge wahr wie auf einer Kinoleinwand. Die helle, glatte Haut des Paares veränderte sich. Sie wurde plötzlich dunkel, als ob ein Schatten über Gesichter und Hände der beiden gleite. Aber da war kein Schatten … was die Farbe veränderte kam aus den Körpern der beiden Menschen. Es waren dichte, rasch wachsende Haare, die aus den Poren sprossen. Aus der menschlichen Haut – wurde im Nu ein tierisches Fell! Steven McDolan stierte in die Gesichter und auf die Hände. Sie waren mit einem dichten, struppigen Fell bewachsen. Den Gesichtern dort drüben – haftete nichts mehr Menschliches, sondern nur noch etwas Tierisches an. In den Augen glitzerte ein kaltes Licht. Der schöne blonde Haarschopf des Girls war verschwunden. Eine dichte Mähne struppigen Haares rahmte ihr Antlitz, in dem sich die sinnlichen, weiblichen Lippen nur verächtlich verzogen. Der Mund der vor wenigen Minuten noch so schönen Frau öffnete sich. Ein gelbliches Gebiß mit dolchartigen, spitzen Eckzähnen wurde sichtbar. Das Gesicht eines – Vampirs, das eines Raubtieres! Ein dumpfes Grollen kam aus der Kehle der beiden unter dem Mondlicht so rasch Veränderten. Ohne daß es McDolan bewußt wurde, entrann auch seinem
Mund ein leises, heiseres Stöhnen. Sein ganzer Körper verkrampfte sich. Sein Geist wehrte sich gegen das, was er sah. Er war Zeuge der Umwandlung eines Menschen in einen Werwolf geworden! Da schaltete sein Verstand ab. Der alte Mann machte auf dem Absatz kehrt und versuchte so schnell wie möglich den Ort zu verlassen und Freunde und Bekannte einzuweihen. Er bewegte sich so überhastet, daß er über seine eigenen Füße stolperte. Er konnte es nicht verhindern, daß er zu Boden stürzte. Dumpf schlug er auf. Sein erschreckter Aufschrei wurde ihm zum Schicksal. Die beiden tierischen Menschen wirbelten herum. Ihre Blicke erfaßten den einsamen Mann, der sofort versuchte, sich wieder vom Boden aufzuraffen. Die Mundwinkel der beiden Werwölfe zogen sich in die Höhe. Ein leises, bedrohliches Knurren entrann der Kehle, und derjenige, der Tom Serridge gewesen war und nichts mehr mit ihm gemein hatte, warf sich wie von einem Katapult geschleudert nach vorn. Der Wolf stürmte auf Steven McDolan zu. Der alte Mann zuckte wie unter einem Peitschenschlag zusammen. Sein Atem flog. Sein Herz pochte wie rasend. Nichts wie weg hier, forderten seine fiebernden Gedanken. Der kalte Schweiß brach ihm aus. McDolan versuchte in die Höhe zu kommen. Sein Bein schmerzte. Der Fuß war umgeknickt, und der Mann kam nicht so schnell empor, wie er es sich wünschte. Er mußte um Hilfe rufen. Der Unheimliche kam schnell näher … Der alte Mann öffnete den Mund zum Schreien. Doch Angst und Grauen schnürten ihm die Kehle zu. Kein Laut kam über seine Lippen.
McDolan zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub. Da endlich – jetzt war er auf den Beinen. Der Schmerz raste durch seinen Körper. Er hatte das Gefühl, als ob sein linkes Bein von lauter glühenden Nadeln durchbohrt würde. Er torkelte nach vorn. Weit kam er nicht. Da erwischten ihn die Pranken. Ein kurzer, heftiger Schlag. Der Mann spürte den Druck der krallenbewehrten Pranken auf seiner Schulter. Er vernahm das Geräusch aufreißenden Stoffes. Die messerscharfen Krallen rissen sein Jackett bis zur Haut auf. Steven McDolan wurde zu Boden gerissen. Der unheimliche Widersacher mit dem Werwolfkopf und den struppigen Tatzen warf sich auf ihn. Durch das Gewicht des anderen Körpers wurde McDolans Brustkorb zusammengedrückt. Dennoch versuchte er zu schreien. Da preßte sich die Hand des Wolfsmenschen auf seinen Mund und erstickte den Schrei im Keim. Steven McDolan konnte nicht viel Kraft einsetzen. Es blieb ihm kein Spielraum zur Gegenwehr. Der andere war ihm körperlich überlegen. Keine Spur von Gegenwehr erfolgte. McDolan – wie gelähmt – fiel langsam zur Seite. Reglos lag der alte Mann da. Da erhob sich der Wolfsmensch, riß aus der Hocke die leblos wirkende Gestalt empor und schleppte sie auf seinen Armen Richtung Wald, wo die andere Veränderte wartend stand und, ohne einzugreifen, von dort aus den Vorfall beobachtet hatte. Ein dumpfes Knurren entrann der Kehle des weiblichen Wolfsmenschen, als der Partner mit dem Opfer auftauchte. McDolan atmete nicht mehr. An seinem Hals zeigte sich ein blutiger Streifen, und sein Kopf hing kraftlos über dem linken Armgelenk seines Bezwingers. Fahles Mondlicht lag über dem Waldrand und beleuchtete
scharf die sich hier abspielende Szene. Das unheimliche Paar tauchte ins Dickicht und nahm sein Opfer mit. So verschwand in dieser merkwürdigen Nacht Steven McDolan, ohne daß jemand Zeuge von dem rätselhaften Überfall geworden wäre. Kein Mensch hatte das Drama gesehen oder gehört … Hinter dem Wolfsmenschenpaar schloß sich das Blattwerk der dichten Büsche wie ein Vorhang, der ein grausiges Spiel beendete. * Larry Brents Gedanken drehten sich wie ein Karussell. Das seltsame Zusammentreffen mit Madame Hypno beschäftigte ihn ständig. Ihr Verhalten paßte nicht zu der Freundschaft, die sie geschlossen hatten. Sie gab vor, ihn nicht zu kennen. Genau das Gegenteil aber hatte er in dem Augenblick registriert, als er sie ansprach. Das Aufleuchten in ihren Augen – nur für den Bruchteil einer Sekunde erkennbar – hatte ihm gezeigt, daß sie genau wußte, wer er war. Dieser komische Mensch, den sie mit »Pierre« angesprochen hatte, schien irgend etwas mit ihrem Verhalten zu tun zu haben. Wären jetzt nicht andere Dinge brennender gewesen, hätte er sich sofort daran gemacht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Er lief die wenigen Schritte zum Nebenhaus. Der Arzt stand bereits auf der Straße. Nachdenklich und ein wenig verärgert sah er sich nach beiden Seiten um. Dann erblickte er Larry Brent. »Na endlich!« rief er. »Ich habe schon gedacht, Sie führen mich an der Nase herum … heute ist hier in George-Village alles möglich.«
»Ich hatte Durst«, entschuldigte Larry Brent seine Verspätung. »Da habe ich schnell einen Schluck zu mir genommen. Wir können sofort losfahren.« X-RAY-3 öffnete die Beifahrertür, um seinen Fahrgast einsteigen zu lassen. Meilers Augen wurden groß wie Untertassen. » Das ist Ihr Wagen?« kam es wie aus der Pistole geschossen aus seinem Mund. »Ich denke, da hat jemand eine Rakete vor meiner Haustür geparkt. Dieser Superschlitten fährt wirklich? Das ist keine Atrappe? Ich meine, hier in George-Village hat man sich einiges für den morgigen Tag einfallen lassen. Vielleicht will man ein paar alte, klapprige Gäule im Wettlauf mit den heutigen Benzinkutschen durch die Main Street jagen … Das Publikum liebt ja die verrücktesten Ideen. Aber wenn das ein Auto sein soll, freß' ich einen Besen.« »Dann wünsch' ich Ihnen guten Appetit, Doc«, grinste Larry Brent, »Und hoffentlich verschlucken Sie sich nicht. Der Superschlitten – wie Sie ihn bezeichnet haben – fährt wirklich …« Als Meiler saß und X-RAY-3 ihn bat, die Sicherheitsgurte anzulegen, huschte ein ungläubiger Ausdruck über dessen Gesicht. »Das ist fantastisch. Und man hat das Gefühl, hier drin unendlich sicher zu sein … Ich glaube, an dem, was Sie mir gesagt haben, scheint doch etwas Wahres zu sein …« Er unterbrach sich, als Larry Brent den Wagen startete. Der Motor war kaum zu hören. Ein leises, sattes Geräusch – das war alles. Dann zog der Wagen an, als der PSA-Agent das Gaspedal nur leicht antippte. »Donnerwetter«, entfuhr es Doc Meiler. »Da steckt was unter der Haube … aber machen Sie's gnädig, Mister Brent! Ich fahre zwar auch gern Auto – aber nicht zu schnell …« Larry nickte. »Ich richte mich immer nach meinen Beifahrern. Das erspart mir viel Ärger.« Er fuhr raus aus George-Village und beschleunigte dann
schnell, nachdem er die Ortsgrenze passiert hatte. Er fuhr nicht übermäßig schnell, um keinen Ärger mit Meiler zu bekommen. Der kleine Arzt war zuerst skeptisch. Er blickte nach draußen, schien aber die nähere Umgebung nicht so recht wahrzunehmen. Sein Blick war in imaginäre Ferne gerichtet. Dann lockerte sich Meilers angespannter Gesichtsausdruck. »Das ist ja ein herrliches Fahrgefühl«, konnte er sich nicht verkneifen zu bemerken. »Sie fahren doch höchstens fünfzig, nicht wahr?« »Ich fahr' hundert, Doc«, entgegnete X-RAY-3. »Aber das merkt man ja gar nicht! Der Wagen liegt wie ein Brett auf der Straße. Legen Sie doch noch einige Meilen zu, Mister Brent!« Larry grinste. Doc Meiler bekam Freude am Fahren. Der PSA-Agent drückte das Gaspedal tiefer. Im Innern des Lotus merkte man die Beschleunigung nicht. Aber am Ansteigen der Tachonadel auf der Skala sah man, was los war. Innerhalb der nächsten Sekunden fuhr X-RAY-3 mit rund zweihundert Meilen über die nächtliche, menschenleere, asphaltierte Straße. Meiler freute sich. »Wenn Sie so weitermachen, hebt das Ding noch ab«, kam es über seine Lippen. Ganz geheuer war ihm das doch wiederum nicht. Er mißdeutete Larry Brents Grinsen falsch. Wenn Meiler gewußt hätte! Der Lotus barg einige geheime Extras, die den Wagen auch in die Lage versetzten, flugfähig zu werden. Mit einem einzigen Knopfdruck wäre es Larry Brent jetzt möglich gewesen die eingefalteten Flügel der Maschine auszufahren und die asphaltierte Straße als Startbahn zu benutzen. Larry Brent verkniff sich aber den Spaß. Er ging mit der Geschwindigkeit weiter herunter und plauder-
te munter mit seinem Nachbar, als es plötzlich geschah. Schlagartig setzte Regen ein. Es klatschte nur so vom nächtlichen Himmel. Man konnte meinen, das Ende der Welt sei gekommen. Ein heftiger Wind peitschte die Wipfel der Bäume. Laub und Dreck wurden emporgeschleudert, flogen quer über die Straße und bildeten eine matschige, glitschige Schicht. X-RAY-3 handelte noch geistesgegenwärtig und nahm die Geschwindigkeit so schnell zurück, wie es ging. Doch das Unheil nahm seinen Lauf. Im Nu stand die Straße unter Wasser. Der orkanartige Sturm entwurzelte mehrere Bäume, knickte sie wie Streichhölzer, und die riesenhaften Bäume flogen quer über die Fahrbahn. Nur wenige Meter von dem heranrasenden Lotus entfernt! Bremsen quietschten. Der Wagen rutschte auf der nassen Fahrbahn weiter, als ob Larry Brent überhaupt nicht reagiert hätte. Es war kaum etwas zu sehen. Die Nacht war erfüllt vom Rauschen des Regens, der flutartig vom Himmel stürzte. Schemenhaft zeichneten sich in der Dunkelheit die gestürzten Stämme ab. Mit Stotterbremse versuchte X-RAY-3 die Geschwindigkeit weiter herabzusetzen, um das Tempo doch noch in den Griff zu bekommen. Innerhalb von drei Sekunden spielte sich das ganze Drama ab. X-RAY-3 erkannte, daß er es nicht mehr schaffte, den Lotus zum Halten zu bringen. Auf alle Fälle jedoch mußte er dem Frontalzusammenstoß mit den mächtigen Bäumen ausweichen. Das wäre ihr sicherer Tod … Weiter mit der Geschwindigkeit herunter – dann den Wagen nach links ziehen. Dort waren auch die Baumreihen. Der Straßengraben, der innerhalb weniger Sekunden von dem herabprasselnden Wasser gefüllt worden war bildete einen reißenden Strom.
Der Wagen holperte. Es schien, als würde er von unsichtbaren Händen emporgestoßen. Der Lotus flog förmlich über die großen Huppel hinweg, warf Erde und Laub hoch und kippte durch die rasche Linksdrehung auf die Seite. Es war Larry Brents Ziel gewesen, dem Hindernis auf der Straße auszuweichen und quer in den Wald zu fahren, in der Hoffnung, so weit wie möglich auf dem Waldboden auszurollen. Doch die Geschwindigkeit war noch etwas zu hoch. Und diese Tatsache wurde ihm zum Schicksal. Der Wagen brach aus. X-RAY-3 konnte nicht mehr gegensteuern, um das Unheil abzuwenden. Der Lotus überschlug sich dreimal. Die beiden Menschen im Innern des Wagens wurden von den Sicherheitsgurten fest gegen die Sitze gepreßt. Dann erfolgte ein Schlag. Mit dem linken Kotflügel knallte das Fahrzeug gegen einen Baumstumpf. Der Lotus drehte sich noch mal um seine eigene Achse und krachte mit dem Heck gegen eine alte Buche, deren Rinde in einer Breite von fast zwei Metern wegradiert wurde. Der Lotus blieb auf dem Dach liegen. Die Räder drehten sich rasend schnell. Im Wagen rührte sich nichts … * Die Ruhe, die plötzlich herrschte, war nicht minder erschreckend als der Lärm zuvor. Da war kein Regen mehr, kein Sturm. Alles war wieder ruhig. Larry Brent lag atemlos in seinem Sitz. Sein Schädel dröhnte, und das Blut rauschte vor Aufregung in den Ohren. Der Blick von X-RAY-3 galt dem Mann an seiner Seite. Doc Meiler hing etwas verunglückt in seinem Gurt, schien aber sonst nichts abbekommen zu haben.
Alle Scheiben waren noch ganz. Die Spezialverglasung des Lotus' hatte sich spätestens in dieser Situation bezahlt gemacht. »Alles okay, Doc?« fragte Larry Brent. Der Arzt ließ einen langen Seufzer hören. »So weit ich sehe und fühle, würde ich sagen ja. Die Kopfstellung ist allerdings etwas unbequem. Mister Brent …« Dagegen taten sie beide etwas. Larry befreite sich zuerst aus den Sicherheitsgurten und war dann dem Doc behilflich, ebenfalls aus der Schlaufe herauszukommen. Beide Türen des Fahrzeugs ließen sich zum Glück öffnen. Die zwei Männer krochen nach draußen. Als sie wieder auf den Beinen standen, sahen sie die Bescherung. Der Lotus sah mitgenommen aus. Der linke vordere Kotflügel war abgerissen, das Heck eingedrückt. Von der Straße bis in den Wald – es war eine Strecke von rund vierzig Metern – war der Boden aufgewühlt wie von einem Pflug. Doc Meiler wirkte blaß. Er fuhr sich durch die Haare und meinte: »Ich glaube, wir hatten noch mal Glück, Mister Brent. Das hätte ins Auge gehen können …« X-RAY-3 nickte und ging um das Fahrzeug herum. Der Lotus war in dem Zustand nicht mehr zu gebrauchen. Er mußte abgeschleppt werden, und es war nicht mal sicher, ob die Reparaturen in George-Village durchgeführt werden konnten. So wie er die Sache jedoch sah, schien der Wagen nur an der Karosserie etwas abbekommen zu haben. Sie selbst hatten zum Glück nicht den geringsten Kratzer. Doc Meiler wollte noch etwas zum Zustand des Fahrzeugs sagen, als er im Ansatz des Sprechens innehielt und sich irritiert in der Runde umschaute. »Mister Brent«, entfuhr es ihm verwundert. »Das … das kann … doch nicht sein«, stotterte er. »Der Boden … sehen Sie sich das doch mal näher an …« Larry Brent hatte es bereits bemerkt, als er aus stieg.
Der Untergrund war feucht. Doch er war nicht so naß, daß das Wasser zentimeterhoch stand, wie sie es vorhin auf der Straße wahrgenommen hatten. Als sie die tief eingegrabene Schleifspur zur Straße hin zurückgingen, stellten sie fest, daß sich auch darin kein Regenwasser befand. Es gab keines im Straßengraben – und keines auf der Straße … Aber dieser heftige Regen … Larry Brent begann zu rennen. Er lief auf die Stelle zu, wo sie vor wenigen Minuten die über die Fahrbahn gestürzten Bäume wahrgenommen hatten. Er blieb wie vor einer unsichtbaren Mauer stehen. »Aber … da sind ja gar keine Bäume mehr, Mister Brent!« Doc Meiler schrie es förmlich heraus. Er war ganz außer sich. »Sie haben also das gleiche gesehen wie ich«, bemerkte XRAY-3. »Natürlich. Weshalb sollte ich etwas anderes gesehen haben als Sie?« Larry antwortete nicht gleich. Er blickte sich in der Runde um, wirkte ernst und verschlossen und hatte den Mund fest zusammengepreßt, so daß die Lippen einen harten Strich in seinem markant geschnittenen Gesicht bildeten. »Es gab keinen Regen … und es wurden keine Bäume entwurzelt … es hätte eigentlich genügt, wenn ich allein diese Wahrnehmungen gehabt hätte. Da hätten nicht Sie noch in Mitleidenschaft gezogen zu werden brauchen.« »Ich verstehe nicht, Mister Brent, was Sie damit sagen wollen.« »Das kann ich mir denken. Und es ist auch verdammt schwer, das mit ein paar Worten zu erklären. Dennoch will ich's versuchen. Wir hatten eine Vision, Doc. Aber die kam nicht von ungefähr. Sie wurde uns geschickt.« »Von wem? Und – warum?« »Auf beide Fragen gibt es keine eindeutigen Antworten. Ich kann allerdings Vermutungen aussprechen. Es sieht ganz so
aus, als ob man uns daran hindern wollte, dorthin zu kommen, wohin wir eigentlich fahren wollten. Und der Verursacher dieses unheilvollen Vorgangs sitzt ganz offensichtlich in George-Village! Haben Sie jemals etwas von Madame Hypno gehört, Doc?« »Die berühmte Illusionistin? Aber natürlich. Man sagt von ihr, daß es nichts gäbe, was sie ihren Zuschauern nicht zeigen könne. Sie läßt Kleinwagen und schwere Panzer, Schwärme von Insekten und Riesenechsen und Elefanten auf der Bühne und im Zuschauerraum erscheinen, und jedermann sieht und fühlt sie. Man sagt, daß sie mit dem Prinzip der Massensuggestion arbeitet. Anders ist auch das, was sie da alles im wahrsten Sinne des Wortes ›herbeizaubern‹ kann, nicht zu erklären. – Aber was hat sie mit dem Geschehen hier zu tun?« »Es ist ein Verdacht – weiter nichts, Doc. Madame Hypno hält sich in George-Village auf. Wenn man bedenkt, was für ein Fest da morgen stattfindet, müßte man davon ausgehen, daß sie nur gekommen ist, um sich an dem Schießwettbewerb zu beteiligen. Aber hinter ihrer Anwesenheit scheint noch viel mehr zu stecken …« Große Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Wußte Madame Hypno etwas über das Geheimnis des silbernen Colts aus dem Jahr 1871? War sie bereit, alles einzusetzen – sogar den Tod eines Menschen – um ihr Ziel zu erreichen; Sie hatte Larry Brent verleugnet, und X-RAY-3 zweifelte keine Sekunde länger daran, daß die Ereignisse, die sich hier abgespielt hatten, auf das Konto der arabischen Schönheit gingen. Viele Jahrzehnte lang war der geheimnisvolle Colt, dem man dämonentötende Kräfte zuschrieb, im Besitz eines ungenannten Millionärs gewesen. Der hatte kurz vor seinem Tod die Freigabe der Waffe angeordnet und ihre Rückgabe an den Ort ihrer Herstellung befohlen. Sein letzter Wunsch war es gewesen, daß in einem Wettschießen der beste Schütze Besitzer des aus purem Silber bestehenden Colts werden sollte.
Um den Colt rankten sich zahllose Legenden. Nur wenigen waren diese Legenden vertraut. Es schien, als ob auch Madame Hypno genau wußte, was dahintersteckte. Es war Larrys und Iwans Ziel, den Wettbewerb zu gewinnen, um die einmalige Waffe, von der es kein zweites Exemplar auf der ganzen Welt gab, für die PSA in Besitz zu nehmen. In den Archiven der Psychoanalytischen Spezialabteilung gab es eindeutige Hinweise darüber, daß tatsächlich mit diesem Colt mehrere Male silberne Kugeln verschossen worden waren und daß diese Kugeln jene getroffen hatten, die weder Fleisch noch Blut waren und doch Leben besaßen … Über das Leben des Coltherstellers wußte man nur wenig. Man kannte die Daten seiner Geburt und seines Werdegangs und den Tag, an dem er verschwand. Das war eine Woche nach der Herstellung dieser einzigartigen Waffe geschehen. Billy Carthnee, der Waffenschmied, kehrte eines Tages von einem Spaziergang nicht zurück. Freunde und Bekannte fanden Spuren am nahen Waldrand, die eindeutig auf einen Kampf hinwiesen. Demnach sah es so aus, als ob Carthnee niedergeschlagen worden war, aber noch Gelegenheit gehabt hatte, sich zur Wehr zu setzen. Feinde aus dieser Welt – so wurde allgemein behauptet – hätte Carthnee nie gehabt. Da er aber eine Waffe gegen die finsteren Eindringlinge – Geister, Dämonen, Wiedergänger, Untote und Werwölfe – gefunden hätte, seien seine Gegner in diesen Reihen zu suchen. Das Böse in der Welt schlief nie. Es war allgegenwärtig. Es hatte seine eigenen Gesetze. Carthnee hatte magische Geschöpfe mit magischen Kugeln vernichtet. Er selbst war ihnen zum Opfer gefallen. Das Wiederauftauchen des lange Jahre verschollenen Silbercolts aber bewirkte nun, daß sich einige Personen dafür interessierten. Larry Brent war überzeugt davon: nicht nur Menschen aus
Fleisch und Blut waren am Besitz des Colts interessiert, sondern auch jene, denen er Schaden zufügen konnte. Die Vampire, Untote, Wolfsmenschen … Gerade sie mußten ein Interesse daran haben, in den Besitz der Waffe zu gelangen, um ein für allemal eine Gefahrenquelle für sie auszumerzen, die durch Billy Carthnee entstanden war. All diese Dinge gingen X-RAY-3 durch den Kopf, während er sich mit Doc Meiler vom Unfallort entfernte. Zu der Waldschneise, wo er Iwan Kunaritschew abgesetzt hatte, waren es höchstens noch achthundert bis tausend Meter. Kurz davor war es zu diesem eigenartigen, rätselhaften Unfall gekommen. Wortlos setzten die beiden Männer ihren Weg zu Fuß fort, froh darüber, noch mal mit heiler Haut davongekommen zu sein. Dann kam der schmale Weg mit der Fahrspur, die der Caravan hinterlassen hatte. In der Dunkelheit erblickte Larry Brent in der Ferne ein schwaches Licht: die Beleuchtung des Wohnwagens. Die beiden Männer schritten schneller aus und erreichten den Standort innerhalb der nächsten fünf Minuten. Meiler wollte sich sofort an die Arbeit machen. Aber da gab es nichts für ihn zu tun. »Meine Frau ist verschwunden«, begann William Perkins zu erklären. » Sie ist bis zur Stunde nicht wieder aufgetaucht …« Dann kam alles zur Sprache. Perkins nahm kein Blatt vor den Mund. Der Arzt hörte sich alles in Ruhe an. Er unterbracht den Sprecher kein einziges Mal. Dann schüttelte Meiler den Kopf. »Das Ganze hört sich an wie eine phantastische Story«, knurrte er ungehalten. »Da kommt man hierher, riskiert Kopf und Kragen bei einem wolkenbruchartigen Regen und einem Orkan, der sich gewaschen hat – und dann wird man nicht mal gebraucht …«
Nun war es an Larry Brents und Meilers Reihe, die Vorgänge zu erzählen. »Als ich euch zu Fuß hierher kommen sah«, schaltete Iwan Kunaritschew alias X-RAY-7 sich ein, »da hab' ich mir erst gedacht, du hättest dein Fahrzeug vorn an der Straße abgestellt, um den frischgeputzten Lack nicht mit Schlamm zu verspritzen. Es ist ja eine komische Geschichte, Towarischtsch …« »Es sind mehrere komische Geschichten, Brüderchen. Jeder von uns hat sie auf seine Weise in Fortsetzungen erlebt.« Am Standort des Caravan, nur knapp achthundert Meter von dem verunglückten Lotus entfernt, hatte niemand einen Regentropfen abbekommen und kein Windhauch das Blattwerk der Bäume bewegt. Kein Wunder! Doc Meiler und Larry Brent waren einer hypnotischen Vision zum Opfer gefallen. X-RAY-3 hatte den vermeintlichen umstürzenden Bäumen ausweichen müssen, um dem Frontalzusammenstoß zu entgehen. Sie hatten viel Glück gehabt. Genausogut könnten sie beide jetzt nicht mehr am Leben sein … Das Ganze war nichts anderes als ein Mordanschlag gewesen. Larry führte noch ein eingehendes Gespräch mit Doc Meiler. Der PSA-Agent erkundigte sich danach, was es denn nun auf sich hatte mit den angeblichen Gerüchten, daß es in GeorgeVillage seit jeher seltsame Besonderheiten und Ereignisse gegeben hatte. Meiler lachte rauh und winkte ab. »Alles Unfug, Mister Brent. George-Village ist so normal oder unnormal wie jedes andere Dorf dieser Größe auch. Die Menschen im Dorf sind nicht anders als anderswo. Gerüchte. Nichts weiter. In GeorgeVillage gibt es keine Vampire, keine Untoten, keine Wolfsmenschen. Mir selbst ist auch niemals jemand begegnet, der über übersinnliche Fähigkeiten verfügt. All diese Legenden gehen zurück auf das Leben von Billy Cathnee. Mit dem
Schmieden seines Silbercolts und seiner Jagd nach Dämonen und der Tatsache, daß er auf geheimnisvolle, nie geklärte Weise verschwand – das alles hat den Namen George-Villages verändert.« »Mit dem Verschwinden Cathnees, Doc, ist das so eine Sache«, widersprach Larry. »Die Aussagen seiner Freunde und Bekannten und des Sheriffs, der seinerzeit den Fall auf dem Schreibtisch hatte, sprechen für sich. Cathnee hatte keine Feinde. Er war eine Seele von Mensch. Und doch hat man ihn entführt …« »Gangster gab es damals in dieser wilden Zeit überall. Es gab sie damals, wie es sie heute gibt. Ich kenne die Geschichte ziemlich genau. Sie hat mich auch interessiert. Schließlich ist durch Billy Cathnee George-Village ja gewissermaßen berühmt geworden. Ich sehe die Sache ganz anders …« »Und wie sehen Sie sie, Doc?« »Cathnee war – wenn man der Chronik Glauben schenken kann – ein sympathischer Kerl. Aber er hatte einen Fehler. Er verdiente mit seinem Beruf eine schöne Stange Geld. Das war einigen Leuten ein Dorn im Auge. Cathnee hatte eine Eigenart – ich weiß nicht, ob Sie darüber unterrichtet sind …« »Und was für eine war das?« »Er vertraute keiner Bank. Er trug stets sein ganzes Geld mit sich herum.« Meiler lachte leise. »Er war ein richtiger Schotte. Er selbst nahm gern viel Geld ein, gab aber selten oder nie einen Cent aus. Man erzählt sich sogar, daß er die Banknoten in das Futter seiner Hosen und Jacketts eingenäht hätte. Und das scheinen damals in der wilden Zeit auch andere gewußt zu haben. Sie lauerten ihm auf und schlugen ihn nieder. Dann raubten sie ihn aus. Die Leiche ließen sie irgendwo verschwinden …« X-RAY-3 nickte zu Meilers Worten. »Das alles paßt natürlich auch in die Geschichte. Und man sollte dem nicht zu geringe Bedeutung beimessen. Aber da ist ein Punkt, den man ebenfalls
nicht außer acht lassen darf.« »Und der wäre?« »Billy Cathnee ging verloren – die Waffe, welche Silberkugeln verschießt, nicht. Man fand sie im Gestrüpp.« »Im Vergleich zu der Menge des Bargeldes, das Cathnee vermutlich dabei hatte, war der Wert des Colts gering.« »Aber er war ein einmaliges Stück. Die verachtenswerten Gauner, die den Waffenschmied vermutlich überfielen, hätten sich diese Trophäe bestimmt nicht entgehen lassen.« Doc Meiler zuckte die Achseln. Aber er erwiderte nichts mehr darauf. Larry und Iwan wechselten einen Blick. Sie verstanden sich, auch ohne daß ein Wort zwischen ihnen fiel. X-RAY-7 wußte, was in Larry vorging. Daß der silberne Colt im Gebüsch gefunden wurde, sprach eher dafür, daß an dem Gerücht mehr dran war, als manch einer wahrhaben wollte. Billy Cathnee war Opfer finsterer Wesen geworden. Wären es Gauner aus Fleisch und Blut gewesen, hätten sie sich den Silbercolt nicht entgehen lassen. Die Carthnee überfielen waren nur interessiert daran, sein Leben auszulöschen. Den Colt konnten sie nicht an sich nehmen, weil er eine Gefahr für sie darstellte. Die Tatsache, daß Barbara Perkins auf recht außergewöhnliche Art überfallen wurde und schließlich verschwand, veranlaßte die vier Männer, noch mal eine Suchaktion zu starten. Eine ganze Stunde lang durchstreiften sie den Wald und leuchteten mit Taschenlampen die dunkelsten Ecken aus, in der Hoffnung, vielleicht doch eine brauchbare Spur zu finden. Unverrichteterdinge trafen sie schließlich wieder am Caravan zusammen. Larry versuchte zwischen dem Vorgang, der ihm beinahe das Leben gekostet, und dem Ereignis hier einen Zusammenhang zu sehen. War es möglich, daß die hypnotischen Irrbilder Madames auch William Perkins beeinflußt hatten? Konnte es nicht
so sein, daß er seine angeblich von einem Vampir gebissene Frau auch nur als Vision wahrgenommen hatte? Vielleicht standen sie alle vier noch immer unter dem Einfluß einer unwirklichen Situation … Vielleicht befand sich Mrs. Perkins mitten unter ihnen, aber keiner von ihnen konnte sie sehen! Zu all diesen Dingen war Madame Hypno fähig. Aber wenn sie wirklich hier in irgendeiner Form aktiv geworden war, dann konnte Larry, trotzdem er sich das Hirn zermarterte, keinen Grund darin sehen. Aber nichts geschah unmotiviert. Er mußte der Sache auf den Grund gehen. Denn – was sich vorhin ereignet hatte, konnte auf andere Weise jederzeit wieder geschehen, und dann war der Gegner möglicherweise erfolgreich. Dazu durfte es nicht kommen. »Dann bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Weg nach George-Village zu Fuß zurückzulegen«, sagte Larry, als sie sich zum Aufbruch klar machten. »Das kommt nicht in Frage«, widersprach William Perkins. »Sie nehmen selbstverständlich meinen Wagen. Sie hatten wegen mir so viele Unannehmlichkeiten, daß ich Ihnen gern auf diese Weise behilflich sein möchte. Was ich für Sie tun kann, ist ja kaum der Rede wert.« So gingen sie gemeinsam daran, den schweren Ford aus dem Schlamm zu schieben. Unter die durchdrehenden Räder wurden Äste und Zweige geschoben und einige Frühstücksbrettchen, die Perkins aus dem Wohnwagen holte. Da ging es. Die Brettchen gaben ihren Geist auf und krachten unter dem Gewicht des nach vorn rollenden Wagens durch, aber der Ford kam endlich aus den tiefen Mulden heraus und bekam festeren Boden unter die Profile. Auf engstem Raum manövierte William Perkins geschickt das Fahrzeug.
Er stellte es Richtung Straße und überließ Larry Brent dann das Steuer. »Ich werde die Nacht hier bleiben«, sagte der Grafiker. »Vielleicht ergibt sich noch was. Ich weiß zwar nicht, was ich von all dem halten soll, aber ich kann doch schließlich nicht einfach von hier weggehen, ohne etwas über das Schicksal meiner Frau zu wissen.« Larry Brent versprach, den Ford gleich in der Frühe wieder hierher zu bringen, damit William Perkins darüber verfügen könne. Er selbst wollte sich so schnell wie möglich um ein Leihfahrzeug bemühen, bis sein eigener Wagen so weit fertig gestellt war, daß man ihn wieder fahren konnte. Larry, Iwan und Doc Meiler fuhren den Weg nach GeorgeVillage zurück. X-RAY-3 fuhr nicht übermäßig schnell, um jede eventuell eintretende Situation sofort in den Griff zu bekommen. Er wollte sich nicht noch mal überraschen lassen … Es ging alles gut. Larry lieferte Melier ab, der während der Fahrt kein einziges Wort mehr gesprochen hatte. Der Mann war müde. Er war froh, als er zu Hause war. »Nachdem unsere Reise so gut verlaufen ist, kann ich mir einen Schluck zu Gemüte führen«, bemerkte in diesem Augenblick Iwan Kunaritschew. »Den hab' ich die ganze Zeit schon nötig.« Mit diesen Worten zog er eine Taschenflasche aus seinem Jackett. Doc Meiler seufzte. »Sie sprechen mir aus der Seele, Mister Kunaritschew«, bemerkte der Arzt leise. »Mir sitzt noch jetzt der Schreck in den Gliedern. Ich bin vollkommen fertig – und doch fürchte ich, keinen rechten Schlaf mehr zu finden. Die Sache geht mir nicht aus dem Kopf …« Er saß im Fond neben dem Russen und schnupperte plötzlich. »Was haben Sie denn da für einen Saft entkorkt?« fragte er unvermittelt.
Kunaritschew hielt dem Doktor die geöffnete Flasche unter die Nase. Der schnupperte stärker. Anerkennend zog er dann die Augenbrauen hoch. »Das ist gar kein Whisky, wie wir ihn hier kennen – aber von der Würze hat's der auch in sich …« »Das will ich meinen, Towarischtsch Doc«, knurrte X-RAY7. »Das ist ein Korn …« »Selbstgebrannt?« »Nein. Nur geschmacklich aufgebessert.« An Meilers Gehabe war sofort zu erkennen, daß es sich bei ihm um einen Kenner handelte Larry war überzeugt davon, daß der Doc über sämtliche in Schottland und hier hergestellten Whiskysorten bestens Bescheid wußte. Meiler war bestimmt kein Trinker, doch von Fall zu Fall verschmähte er auch einen ordentlichen Schluck nicht. »Das hab' ich gleich gerochen«, nickte er bestätigend. »So etwas Aromatisches ist mir lange nicht mehr unter die Nase gekommen …« »Wollen Sie 'nen Schluck?« fragte Iwan freundlich. »Ich laß' Sie gern mal versuchen …« »Das Angebot schlag' ich natürlich nicht ab. Gern. Vielleicht bringt ein Schluck meine aufgepeitschten Nerven wieder in Ordnung.« Kunaritschew benutzte den Schraubverschluß als Becher und schüttete ihn randvoll. Sie standen auf dem Bürgersteig vor Meilers Haus. Der Arzt blickte die beiden PSA-Agenten an. »Und Sie? Trinken Sie nichts?« »Nach Ihnen, Doc«, antwortete Kunaritschew. »Ich hab' leider nur diesen einen Becher. Und mein Freund hier ißt weder Fleisch noch Fisch. Nach dem dürfen Sie sich nicht richten. Der ist für andere Sachen zuständig. Champagner ist noch das äußerste, womit er seine Zungenspitze in Berührung bringt. Ist das nicht fürchterlich?« »Cheerio!« sagte Meiler einfach und kippte die nach strengen Gewürzen riechende Flüssigkeit.
Mit einem Schluck brachte er den Korn über die Kehle. Er reichte den Schraubverschluß sofort an Kunaritschew weiter, der sich einschenkte und ebenfalls auf Doc Meilers Wohl seinen Schnaps trank. Der Arzt nickte. »Donnerwetter«, sagte er anerkennend, »der ist ja …« Was er sagen wollte, blieb unausgesprochen. Meiler lief knallrot an, als ob ihm irgend etwas in der Kehle stecken geblieben wäre, dann riß er die Arme hoch und zog pfeifend die Luft ein, so daß es sich anhörte, als ob man einen Fahrradschlauch quäle, in den man mehrere Knoten schlang, um ihm die letzte Luft aus dem Ventil zu pressen. »Nanu?« fragte Iwan überrascht. »Bekommt er Ihnen nicht?« »Oh … mein Gott!« entfuhr es Meiler heiser. »Das … ist … ja …« Es schien, als könne er erst nur noch abgehackt und danach überhaupt nicht mehr sprechen. Es hielt ihn nicht länger an der Stelle, wo er gerade stand. Meiler stieß wie eine Lokomotive mit hörbarem Zischen die Luft aus, und dann setzte er sich in Bewegung, als ob er von unsichtbaren Händen nach vorn gedrückt würde. Er lief im Trab zum Eingang seines Hauses, rannte flink die Stufen zur Tür hoch, machte auf dem Absatz kehrt, rannte sie wieder nach unten und lief dann zweimal um den geliehenen Ford herum – puterrot im Gesicht, die Tränen sprangen aus den Augen, als ob ihm jemand Zwiebelsaft gespritzt hätte. Im Vorbeikommen gab er das eine oder andere Wort von sich, das ohne jeglichen Zusammenhang schien. »Was …« »… haben … Sie …« Beim dritten Mal: »Der … Geschmack … wieso …« Iwan Kunaritschew schraubte den leeren Verschluß auf die Flasche und steckte sie wieder in sein Jackett. »Ah – jetzt verstehe ich, Doc«, murmelte er. »Sie wollen wissen, womit
ich den Geschmack diskret aufgebessert habe.« »Richtig«, schnaufte Meiler, als er wieder auf Iwans Höhe ankam. Er lief bereits zum vierten Mal um das Auto. Dabei hatte er immer noch die Arme in der Höhe, als fürchte er ersticken zu müssen, wenn er sie sinken ließe. Meiler taumelte auf Kunaritschew zu. Er wirkte bleich und erschöpfter als vorhin. »Er war doch … etwas … zu streng«, japste der Doc nach Luft. »Was ist denn das für ein … Teufelszeug, das Sie da zusammengebraut haben …?« »Ich habe den Korn in Paprikaschoten und Peperoni ziehen lassen«, verriet X-RAY-7 sein Rezept. »Das gibt an sich ein fantastisches Aroma. Vorschriftsmäßig getan, wären zwei, drei Stunden vollkommen ausreichend … aber ich hatte es vergessen. Ich war eine ganze Zeit nicht zu Hause. Da hat das Zeug fünf oder sechs Wochen gezogen. Ich konnte mich nicht entschließen, den teuren Korn wegzuschütten. So habe ich ihn in Flaschen aufgefüllt und aufbewahrt. Hin und wieder nehme ich 'nen kleinen Schluck … das tut gut …« »Gut?« MeDer verdrehte die Augen. »Fünf Wochen?« echote er ungläubig, als würde ihm erst jetzt bewußt, was er da erfahren hatte. »Das wirft … einen ja um … Das hält das stärkste Pferd nicht aus …« Larry Brent, der gewußt hatte, was kam, verzog keine Miene und sagte kein Wort. Iwan Kunaritschew begleitete den Doktor zum Haus, wo Melier mit zitternden Fingern die Tür aufschloß, über die Schwelle ging, sich noch mal umwandte und mit schwachem Winken Kuneritschew und Brent seinen Gute-Nacht-Gruß darbrachte. Umgehend suchten sie das Hotel auf. Dort waren ihre Zimmer vorbestellt. Als sie an der Rezeption danach fragten, wurden sie jedoch ungläubig gemustert. Mister Brent? Mister Kunaritschew?« wiederholte der Portier die ihm genannten Namen. Dann schlug er in seinem Buch
nach. »Richtig – ja, die Bestellung wurde aufgegeben …« »Na also. Dann ist ja alles in bester Ordnung«, bemerkte XRAY-3. Der Portier druckste herum. »Es tut mir leid, Sir«, sagte er leise. »Die Zimmer sind nicht mehr frei.« »Das gibt es doch nicht!« entfuhr es Brent. »Wir reservieren grundsätzlich nur bis einundzwanzig Uhr dreißig. Wir haben nicht mehr damit gerechnet, daß Sie noch eintreffen würden. Wir haben bis vor etwa zwanzig Minuten auf Sie gewartet. Dann mußten wir die Zimmer weitervergeben. Es lagen viele Anfragen vor, und wir können es uns nicht leisten, wegen unzuverlässiger Gäste die Zimmer leerstehen zu lassen …« Es war eine halbe Stunde vor Mitternacht. »Das ist reichlich spät, zugegeben. – Dann geben Sie uns bitte ein anderes Zimmer.« »Wir sind voll belegt, Sir.« Achselzucken. »Es tut mir leid.« Genau das wollte X-RAY-3 nachprüfen. Er klappte seine Brieftasche auf, nahm eine Hundert-Dollar-Note heraus und schob sie dezent über den Tresen in die Hände des Portiers. Die Fingerspitzen des Mannes zuckten. »Vielleicht haben Sie doch noch einen Raum frei«, sagte XRAY-3 leise. »Wir sind nicht sehr anspruchsvoll. Es ist ja nur für ein oder zwei Tage. Das kleine Trinkgeld gehört Ihnen …« Man sah dem Portier förmlich an, wie schwer es ihm fiel, auf den Schein verzichten zu müssen. »Selbst wenn Sie den Betrag verdoppeln würden, Sir – ich kann nicht! Wir haben kein Zimmer. Sie sind einfach zu spät gekommen. Wir haben nicht mehr mit Ihnen gerechnet.« Brent seufzte. »Dann ist wohl nichts zu machen. – Vielleicht können Sie uns ein anderes Haus empfehlen.« »Es gibt kein weiteres Hotel am Ort. Das nächste liegt fünfzig Meilen von hier entfernt.« »Das sind ja schöne Aussichten«, knurrte der Russe.
»Aber privat könnten Sie möglicherweise Glück haben«, funktionierte plötzlich das Gedächtnis des Portiers wieder. »Ich habe hier eine Liste – sie enthält alle Namen der Familien, die Privat-Unterkünfte für den Festtag zur Verfügung stellen. Es sind mehr Fremde nach George-Villag gekommen, als man anfangs vermuten konnte. Ich hoffe doch sehr, daß Sie noch Glück haben …« Es schien, als wolle er sich auf irgendeine Weise doch noch den Schein verdienen. »Bitte gedulden Sie sich einen Moment, Sir. Ich werde rasch den einen oder anderen Teilnehmer anrufen.« Es dauerte keine drei Minuten, und schon hatte der Mann Erfolg. »Es geht alles klar«, strahlte er von einem Ohr zum anderen. Ehe Larry es verhindern konnte, wechselte der Schein auf dem Tresen seinen Besitzer. Gekonnt ließ der Hotelangestellte die Note knisternd zwischen den Fingern verschwinden. »Allerdings war es mir leider nicht möglich, für Sie beide ein Zimmer im selben Haus zu bekommen … Sie sind bei zwei verschiedenen Familien untergebracht. Die Gannys haben noch ein Zimmer frei und die McDolans … ich hoffe, das macht Ihnen nichts aus …« Der Portier blickte fragend von einem zum anderen. Iwan Kunaritschew senkte langsam die Augenlider, zog den Kopf zurück und fuhr sich mit einer sanften, weitausholenden Gebärde durch das dichte, rote Haar. »Nun«, sagte er mit schmelzender Stimme. »Es ist zwar nicht schön, sich von seinem besten Freund zu trennen. Doch die eine Nacht, Brüderchen, werde ich wohl ohne dich aushalten. Ich hoffe, auch du kommst drüber hinweg.« Mit diesen Worten wandte er sich um, senkte dann den Blick, nahm seinen Koffer und verließ mit einem elegantem Gang, den Larry ihm nicht zugetraut hätte, die kleine Empfangshalle des Hotels …
Larry Brent heftete sich ihm an die Fersen. Unmittelbar hinter Kunaritschew verließ auch er das Hotel. Der Portier blickte ihnen mit weit aufgerissenen Augen und ungläubigem Gesichtsausdruck nach. Neben einer hölzernen Säule, die links und rechts einen kunstvoll geschnitzten Durchlaß flankierte, tauchte eine schattengleiche Gestalt auf. Sie trug das dichte schwarze Haar schulterlang. Ihr Gesicht war von einer malerischen Ebenmäßigkeit und faszinierenden Schönheit. Die schwarzen, undurchdringlichen Augen waren mandelförmig, der sinnlich geschwungene Mund kirschrot. Das war Madame Hypno. Auch sie blickte den beiden Nännern nach, die wenig später draußen vor dem Eingang mit dem Ford vorbeifuhren. Das Antlitz der rätselhaften Schönheit war ernst und verschlossen. In ihrem Gesicht regte sich kein Muskel. * Larry fuhr direkt zu der zuerst angegebenen Adresse. »Sie wollten uns im Hotel nicht mehr haben«, murmelte er nachdenklich. »Du glaubt also wirklich, daß das mit den Zimmern nur eine faule Ausrede war?« machte Kunaritschew sich bemerkbar. »Das wage ich nicht zu behaupten. Vielleicht waren sie dort wirklich der Ansicht, daß wir nicht mehr aufkreuzen würden. Dabei hatte ich ausdrücklich bestätigen lassen, daß wir auch zu vorgerückter Stunde noch absteigen können. Es steckt also mehr dahinter als das, was man uns sagte.« Mit ihrer Ankunft zeigte sich schon, daß die Fahrt nach George-Village einige Ereignisse bewirkte, die sie in dieser Form nicht einkalkuliert hatten. Das wiederum aber bewies, daß hinter der Prämie einige Gestalten her waren, deren Anwesenheit Larry Brent und Iwan
Kunaritschew vermutet hatten. »Es sieht ganz so aus, als ob morgen ein heißer Tag würde«, fuhr Larry unvermittelt fort. »Mir scheint, als ob der Gewinner nicht zu beneiden sei. Da sind einige, die ihm den wohlverdienten Sieg sicher abspenstig machen wollen – und Madame Hypno spielt dabei eine besondere Rolle. Wenn ich nur wüßte, was dahintersteckt. Dann wäre mir wohler zumute …« X-RAY-3 lieferte seinen Freund unter der angegebenen Adresse ab. Sie wollten beide so schnell wie möglich zur Ruhe kommen, um morgen bei Kräften zu sein. Da gab es einiges mehr, das sie erwartete, womit sie nicht gerechnet hatten. Iwan Kunaritschew kam bei den Gannys unter. Larry fuhr noch einige Straßen weiter. Sein Ziel war das Haus der Familie McDolan. Dort brannten noch sämtliche Lichter. Als er dort ankam, wurde er mit einer gewissen Nervosität empfangen. Er erfuhr, daß Grandpa McDolan noch immer nicht zurück war. Einige Familienangehörige waren seit über einer Stunde unterwegs, ohne daß sie eine Spur von dem alten Mann in George-Village gefunden hätten. Trotz der Aufregung wurde Larry freundlich empfangen. Sein Zimmer lag am hintersten Ende eines Korridors im ersten Stock. Es war eine Dachkammer mit schrägen Wänden. Darin standen nicht mehr als ein Bett, ein alter, wurmstichiger Schrank, zwei Korbsessel und ein aus Korb geflochtener Tisch. »Es ist nicht sehr vornehmen – aber bequem«, sagte Mrs. McDolan zu ihm. Sie war eine etwa sechzigjährige, resolute Frau, die ein dunkles Kleid trug und das dichte, fuchsrote Haar streng nach hinten gekämmt zu einem Knoten zusammengefaßt hatte. Larry mußte ihr zustimmen. Trotz der bescheidenen Einrichtung war das Zimmer gemütlich. Dabei spielt die Holzverkleidung der Wände, die anheimelnde Deckenleuchte und die mit einem altrosefarbenen Schirm versehene Nachttischlampe ebenso eine Rolle wie die mit Rüschen versehenen Vorhänge
und der Teppichboden. »Fühlen Sie sich bitte hier wie zu Hause«, wurde er eingeladen. Mrs. McDolan versuchte ein Lächeln. Das gelang ihr, aber man sah ihr an, daß es ihr schwer fiel. »Und entschuldigen Sie, daß wir alle hier ein wenig durcheinander sind …« »Aber selbstverständlich. Sicher ist Ihr Mann igendwo in einem Zelt oder bei einer der Buden. Dort halten sich ja noch immer viele Menschen auf. Ein solches Fest, wie es morgen in George-Village stattfindet, ist im wahrsten Sinn des Wortes ein Jahrhundertereignis. Die alte Zeit von damals wird noch mal lebendig …« Mrs. McDolan lachte. »Ja, da mögen Sie wohl recht haben.« – Sie wurde gleich darauf wieder ernst. »Ich hoffe ja auch, daß er einen alten Freund getroffen hat und daß die beiden irgendwo zusammensitzen und über dem Trinken und Plaudern die Zeit vergessen haben. Aber so ganz sicher kann man bei Steven da nicht sein. Der hat manchmal komische Anwandlungen, dann spaziert er stundenlang in der Gegend herum. Er geht dann in die Wälder und sogar selbst zu der alten Höhle, die fast drei Meilen vom Ort entfernt liegt. Ich möchte nur wissen, was ihn dort so anzieht …« Sie winkte ab und fuhr fort: »Aber ich will Sie nicht mit meinen Sorgen belästigen. Sie sind schließlich hier, um sich zu amüsieren und nicht, um mein Lamentieren anzuhören …« »Was ist das für eine Höhle, von der Sie eben gesprochen haben?« fragte Larry wie beiläufig. »Sie war früher so eine Art Versteck. Gewissermaßen ein Schutzraum vor Indianerüberfällen und dergleichen. Wenn es brenzlig wurde, sorgte der Sheriff dafür, daß alle Frauen und Kinder evakuiert wurden und sich zu dem Versteck begaben. Die Stelle dort ist sehr interessant. Doch – als Fremder wird Sie das sicher interessieren. Aber natürlich nicht jetzt, sondern bei Tageslicht. Die Höhle selbst ist nicht mehr zugänglich – sie ist längst verschüttet. Aber von dem Plateau aus vor dem ehemali-
gen Eingang hat man eine wunderbare Sicht über den in der Talsenke liegenden Ort. Die sich dort verborgen hielten, konnten sich dann selbst davon überzeugen, wie der Zustand hier war und ob sie eine Rückkehr wagen konnten.« »Das ist ja alles sehr interessant«, erwiderte X-RAY-3. Er brachte sein Gepäck aufs Zimmer und erhielt die Hausschlüssel. Er entschuldigte sich, daß er noch mal weg mußte. Er berichtete von seinem Unglück mit dem Lotus. Es kam ihm darauf an, jetzt, nachdem sie eine Unterkunft gefunden hatten, so schnell wie möglich eine Tankstelle oder Reparaturwerkstätte mit dem Abschleppen seines Fahrzeuges zu beauftragen, damit morgen früh alles klappte. Wenn der Wagen so weit wiederhergestellt werden konnte, daß er wenigstens fuhr, wollte ihm das schon genügen. Eine Spezialreparatur im Herstellerwerk würde sowieso unumgänglich sein. Die Leute hier in der Reparaturwerkstätte würden überhaupt nicht begreifen, was sie mit manchen Knöpfen und Hebeln anfangen sollten. Dafür waren die Techniker zuständig, die dieses Gefährt mit den Extras aus der Taufe gehoben hatten. Es gab am Ende des Ortes eine Tankstelle, und der Besitzer war spezialisiert auf kleine Reparaturen und Lackschäden. Der Mann – zwei Zentner schwer, ein Nacken wie ein Stier – ließ sich die von Larry angegebene Stelle genau beschreiben und nickte dann eifrig. »Alles klar, Mister. Ich weiß schon, wo das ist. An der Stelle passiert oft etwas. Die Kurve dort ist doch ziemlich steil. Sie müssen verdammt schnell gewesen sein, und außerdem hatten Sie großes Glück, daß Sie so glimpflich davongekommen sind …« Mit dem Abschleppwagen machte der Tankstellenbesitzer sich auf, das im Wald liegende Fahrzeug zu holen. Als er am Marktplatz vorbeikam, nahm er kurzerhand zwei Männer mit, die an einer Bude standen und keinen sicheren Halt mehr auf
ihren Füßen hatten. »Ich hab' da einen Unfall. Kommt, steigt ein! Die Kiste liegt auf dem Dach mitten im Wald. Allein schaffe ich das nicht. Ich zahl' euch morgen 'ne Extrarunde.« Die beiden setzten sich neben ihn auf die breite Sitzbank des Abschleppwagens, und der Fahrer startete wieder. Das monotone Geräusch des Motors und die federnde Bewegung wirkten wie ein Schlafmittel auf die Arbeitskräfte, die er sich da an Land gezogen hatte. Schon nach wenigen hundert Metern waren beide eingeschlafen und schnarchten um die Wette. Ehe er in sein Quartier zurückfuhr, steuerte er noch mal das Hotel an, in dem er ursprünglich die Nacht hatte verbringen wollen. Im Restaurant und in der Bar brannte noch immer Licht. Die über dem Hotel liegenden Fenster waren verhangen und dunkel. In den Aufenthaltsräumen des Hotels herrschte nur noch wenig Betrieb. Die Blicke des Agenten schweiften über die Fassade hinauf zu den dunklen Baikonen, als versuche er, etwas Bestimmtes in sich aufzunehmen. Doch da gab es nichts Verdächtiges. Es war alles ganz normal … Normal fand er auch das Pärchen, das neben einer vorspringenden Wand stand – engumgschlungen – und sich küßte. Der Mann hatte dunkle Haare, war schlank und sportlich, sie war blond, grazil, trug enganliegende Jeans und einen nicht minder hautnahen Pulli. Larry Brent fuhr einmal um das Hotel herum und schlug dann den Weg zu dem Haus der McDolans ein. Er machte sich über das Paar weiter keine Gedanken. Das Paar aber machte sich Gedanken über ihn! »Ist er fort?« fragte die Blonde, die ihr heißes Gesicht an die Wange des jungen Mannes preßte.
Der konnte über ihre Schultern hinweg die Straße genau überblicken. Die roten Rücklichter des Ford waren verschwunden. »Du Luft ist rein. Jetzt ist er an der Reihe …« Tom Serridge wandte den Blick. Er schaute hinauf zum zweiten Stock des Hotels. Das dritte Fenster von links … dort hatte John Hawker sich einquartiert. Sie gingen genau vor wie abgesprochen. Die Hotelhalle war leer. Der Portier saß hinter der Rezeption und blätterte in einem Magazin. Die junge, blonde Frau betrat den kleinen Empfangssaal. Sie steuerte direkt auf die Rezeption zu und verwickelte den anwesenden Mann hinter der Theke in ein Gespräch. Das blonde Girl fragte nach einem Mister Bovan. »Mieter Bovan?« wiederholte der Mann hinter der Rezeption. »Ich bin nicht sicher, ob wir einen Gast solchen Namens haben …« »Bitte, schauen Sie doch mal nach. Er muß hier sein. Er hatte versprochen am späten Abend abzusteigen. Das ist sehr wichtig für mich. Ich bin extra hierher gefahren, um ihn zu sprechen. »Natürlich schaue ich im Gästebuch nach. Das dauert allerdings einige Minuten. Wir haben im Moment sehr viele Gäste im Haus …« Er nahm das speckige Buch vom Regal unter dem Tresen und begann darin zu blättern. Tom Serridge beobachtete das alles sehr genau. Als er sah, daß der Portier vollauf beschäftigt war mit dem Studieren der Namen, huschte er geduckt in die Empfangshalle. Seine Begleiterin taktierte so geschickt, daß der Hotelangestellte das Eindringen des Fremden überhaupt nicht bemerkte. Es gelang Serridge, unbemerkt die Halle zu passieren und sich im Korridor hinter einem Mauervorsprung zu verstecken. Wie erwartet wurde ein Mister Bovan nicht gefunden. »Das tut mir leid. Sie müssen sich täuschen.« Der Portier zuckte die Achseln.
Langsam verließ sie das Hotel und bog dann nach rechts ab. Sie ging die Straße entlang, umrundete das große Gebäude und huschte im Kernschatten der Hauswand auf die hintere Seite. Dort befand sich der Lieferanteneingang. Das blonde Girl preßte sich unmittelbar neben der Tür mit dem Rücken zur Wand und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Dann erfolgte ein leises, trockenes Knacken. Von innen wurde der Riegel zurückgeschoben. »Pst«, machte eine Stimme. »Alles okay, Jane …« Die Blonde huschte durch die Tür in den kahlen Gang, in dem es muffig roch. Hier hinten machte das Hotel nicht mehr einen so guten Eindruck wie vorn an der Fassade. Waren Rezeption, Lokalitäten und Empfangsraum gut in Schuß, restauriert und mit neuer Farbe versehen, ließ der Flur zu wünschen übrig. Die Wände waren feucht, der Verputz schmierig und bröckelig. Unmittelbar neben dem Eingang führte eine steile Treppe in ein Kellergewölbe, wo Fässer und Flaschen lagerten. Vorsichtig zog Tom Serridge die Tür wieder ins Schloß und schob den Riegel vor. Da gab es keinen Zimmerkellner und kein Mädchen, das ihnen über den Weg gelaufen wäre, und sie erreichten ungesehen den Hauptkorridor, von dem aus sie in die erste Etage vordringen konnten. Serridge und seine Begleiterin blieben unmittelbar am Ende der Treppe hinter der Wand stehen, und der seltsame Mann, der John Hawker so merkwürdige Kunststücke vorgeführt und vor gut einer Stunde in der Gestalt eines Wolfes den reglosen Körper Steven McDolans weggeschafft hatte, spähte vorsichtig um die Wand. Der Korridor war leer. Ein dicker roter Teppich dämpfte alle Schritte.
Aber selbst wenn keiner gelegen hätte – niemand hätte die beiden Eindringlinge bemerkt. Auf Zehenspitzen eilten sie den Korridor entlang. Da bog jemand von der anderen Seite in den gleichen Korridor ein! Der Mann war groß und hager, hatte dunkle Haare und ein aristokratisches Gesicht. Das energische Kinn und die scharfgeschnittenen Lippen schienen eine Nuance härter zu werden. Der Mann, der ihnen dort entgegen kam, war Pierre – der Begleiter Madame Hypnos … * Bei seiner Ankunft mußte Larry Brent feststellen, daß die Stimmung im Haus der McDolans sich beträchtlich verbessert hatte. Die Enkelkinder lagen im Bett, Schwiegersohn und Tochter des alten McDolan saßen im Wohnzimmer bei einer Flasche Wein. Die alte Mrs. McDolan wirkte bleich, aber etwas erleichterter als zuvor. Mrs. McDolan öffnete die Tür, als sie den schweren Wagen vorfahren hörte. Um auf sein Zimmer zu kommen, mußte Larry quer durch den Korridor gehen. Er passierte dabei das Wohnzimmer, dessen Tür weit offen stand. Die veränderte Stimmung fiel ihm sofort auf. »Offenbar hat sich, während ich nicht da war, einiges zum Guten gewendet«, sagte der PSA-Agent lächelnd. »Ich nehme an, Ihr Mann hat sich wieder eingefunden und alle Aufregung war umsonst …« Mrs. McDolan atmete tief durch. »Es war genauso, wie ich vermutet hatte. Er traf einen Freund, und die beiden verquatschten die Zeit. Um ungestört zu sein, sind sie weit aus
dem Dorf gelaufen und haben sich abseits auf eine Bank gesetzt. Da hätten wir auch noch gesucht. Aber zum Glück ist uns dieser Weg schließlich dort erspart geblieben. Mein Mann ist von allein zurückgekommen, er ist seit gut zwanzig Minuten wieder zu Hause. Ich bin so froh …« * In dem Apothekenschränkchen des Caravan fand William Perkins ein Beruhigungsmittel. Er nahm zwei Dragees und benötigte dazu ein großes Glas Wasser, um sie zu schlucken. Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen. Es war ein leiser, sanfter Regen, der fiel. Das monotone, gleichmäßige Rauschen war irgendwie angenehm … Perkins löschte alle Lichter und ging dann ins Bett. Als er lag, tastete er unwillkürlich neben sich. Nein, da war niemand! All das, was sich in den letzten Stunden ereignet hatte und was er so gar nicht begriff, war kein Traum, sondern Wirklichkeit. Barbara fehlte. Er konnte es gar nicht fassen. Am liebsten wäre er weiterhin durch den nächtlichen Wald gestreift, auf der Suche nach seiner Frau, die auf geheimnisvolle Weise verschollen war. Er kam sich fremd und verlassen vor in dem Wohnwagen. Und dieses Gefühl wurde noch verstärkt durch die Angst, die er einfach nicht überwand. Bei diesem Gedanken griff er unwillkürlich links neben sich. Er fühlte den kühlen Lauf des geladenen und gesicherten Gewehres. Das wiederum beruhigte ihn. Eine Zeit lang starrte er an die Decke und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Vielleicht hatte er doch in der allgemeinen Aufregung etwas übersehen, was ihm jetzt in der Ruhe zum Bewußtsein kam … Seit dem frühen Abend bis jetzt in die
späte Nacht kamen ihm die Stunden vor wie eine Ewigkeit. Er schloß die Augen und wartete auf Schlaf. Plötzlich zuckte er zusammen. Es schien ihm, als ob er seit Stunden geschlafen hätte. Seine Glieder waren bleischwer. Ein Geräusch! Draußen vor dem Wohnwagen … Schon zuckte seine Hand zum Lichtschalter, als er sich in letzter Sekunde eines anderen besann. Er durfte sich nicht verraten! Er kannte sich hier aus. Jeder Quadratzentimeter Fläche des Caravan war ihm vertraut. Aber der andere, das andere – oder was immer es sein mochte – war hier nicht zu Hause. Die Dunkelheit brachte Perkins nur Vorteile … Im Aufrichten griff er nach der Waffe und warf schnell einen Blick auf den kleinen, magnetischen Reisewecker, der auf der metallenen Oberfläche des Nachttisches klebte. William Perkins mußte zweimal hinschauen. Die Zeiger standen auf fünf Minuten nach zwölf! Da hatte er ja nicht länger als sieben oder acht Minuten hier gelegen. Wenige Minuten vor Zwölf hatte er sich hingelegt und mußte nur für einige Sekunden lang eingenickt sein. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Draußen vor der Tür des Wohnwagens machte sich jemand zu schaffen. Jemand bewegte die Klinke, wie um einzudringen! William Perkins hielt den Atem an. Auf Zehenspitzen schlich er in die Kochnische, um durch das zugezogene Fenster einen Blick nach draußen zu erhaschen. Er nahm eine schattenhafte Bewegung war. Da befand sich tatsächlich jemand … Die gleiche Person, das gleiche Etwas – dem er nicht wagte, bisher einen Namen zu geben – das heute abend schon mal Barbara erschreckt hatte? Er schaltete einfach ab. Er war in dieser Sekunde nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, und handelte rein instinktiv.
Wie ein Dieb in der Nacht öffnete er den Verschluß des Fensters und drückte es langsam nach außen. Das geschah vollkommen lautlos. Die kühle, feuchte Luft schlug in sein erhitztes Gesicht, als er – hinter dem Fenster stehend – vorsichtig den Lauf des Gewehres durch den Fensterspalt nach außen schob. Der Winkel war zu steil, als daß er genau gesehen hätte, wer sich da vor der Caravantür befand. In das leise Rauschen des Regens mischten sich die schabenden Geräusche an der Tür. Es hörte sich an, als ob jemand mit Krallen drüber hinwegstreiche … William Perkins umspannte mit dem Zeigefinger den Abzugshahn. »Hallo!« rief der Grafiker mit scharfer Stimme. Die Gestalt auf der Treppe vor dem Caravan wirbelte herum. Im gleichen Moment drückte Perkins ab. Hart und trocken bellte der Schuß auf. Die Gestalt, die von Perkins Zuruf irritiert worden war und sich nach vorn gebeugt hatte, lief genau in die Kugel hinein. Ohne nachzudenken lud William Perkins ein zweites Mal durch und drückte abermals ab. Auch dieses Projektil traf mitten ins Ziel. Es bohrte sich in die Brust der – Frau, die da stand! Da ergriff den Schützen die Panik. »Barbara!« entrann es gurgelnd seinen zitternden Lippen. Siedend heiß peitschte das Blut durch seine Adern. Seine Frau! Er hatte auf seine eigene Frau geschossen … Er wußte später nicht mehr zu sagen, wie er im einzelnen vorging, was er getan hatte. Er stürmte durch den Wohnwagen, stolperte über einen Schemel, raffte sich wieder auf und öffnete die Tür. Wie betrunken taumelte er die Stufen nach unten, wo Barbara stand. Ihr Gesicht war kreidebleich, und ihre großen, weit aufgerissenen Augen glühten darin wie Kohlen.
»William!« fragte sie verwundert. Sie schluckte. Man merkte ihr an, wie schwer es ihr fiel zu sprechen. »O mein Gott, Barbara!« Seine Stimme versagte ihm den Dienst. Nur ein Hauch kam aus Perkins' Kehle. Der Grafiker lief auf seine Frau zu und faßte sie mit beiden Händen fest an den Schultern. »Das wollte ich nicht, Barbara … ich habe nicht gewußt, daß du es bist … o mein Gott, was hab ich nur getan?« Die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund. Nicht ein einziges dieser Worte wurde ihm bewußt. William Perkins befand sich wie in Trance. »Es ist schon gut, William …«, antwortete die blonde Frau mit ruhiger Stimme. Er hielt sie fest. Mit irren Augen musterte er sie von Kopf bis Fuß. »Ich sehe kein Blut … du bist … ja gar nicht … verletzt? Aber ich habe doch … auf dich geschossen … ich hab' doch gesehen …« Sie lächelte ihn zuversichtlich an. Der Ausdruck des Schreckens in ihrem Gesicht war gewichen. »Ich hatte noch mal Glück, William … du hast mich nicht getroffen … du hast … daneben geschossen …« Er schüttelte den Kopf. Zu einer Erwiderung war er in seinem Zustand nicht mehr fähig. Verwirrung und ein unendlich großes Glücksgefühl zogen ihn ganz in Bann. Er verstand die Welt nicht mehr. Es war zuviel, was da auf ihn einstürmte. Er hätte schwören können, daß die Kugeln mitten in Barbaras Brust gedrungen waren. Aber er sah keine Verletzung, keine blutende Wunde. Hatte er wirklich daneben geschossen? Mochte es sein, wie es wollte. Barbara lebte – das war sicher und die Hauptsache für ihn. Er umschlang sie, preßte sie an sich und bedeckte ihr heißes Gesicht mit Küssen. Er fragte nicht, wieso das alles in dieser Nacht geschehen war und wo sie sich die ganze Zeit über aufgehalten hatte. Barbara war wieder da. Das allein zählte.
Dann waren sie wieder zusammen im Wohnwagen. Es war alles so wie früher. Die letzten Stunden kamen ihm vor wie ein Alptraum, der endlich vorübergegangen war. Sie nahmen einen Drink zu sich, und William Perkins war dem Schicksal dankbar, daß er so unsicher gezielt und nicht getroffen hatte. Er verdrängte mit Macht die Bilder, die ihm vorgaukelten, wie Barbara in ihrem Blut vor dem Eingang des Caravan lag. Nicht auszudenken! Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie sich auszog und dann unter die Decke schlüpfte. Er fühlte ihre Nähe, ihren warmen, geschmeidigen Körper. »Es ist schön, daß du wieder da bist«, sagte er leise und glücklich. »Wo bist du nur gewesen, Barbara? Was ist eigentlich heute abend alles passiert? Es fällt mir so schwer, die Dinge chronologisch zu ordnen.« »Du bist ein bißchen durcheinander, William«, erwiderte sie. »Ich will dir alles erklären – morgen, nicht jetzt. Du würdest mich doch nicht verstehen. Es ist auch gar nicht so wichtig.« Ihre Reaktion forderte förmlich seinen Widerstand heraus. Dennoch war er zu schwach zu reagieren. Als sie in seinen Armen lag, waren die Sorgen von vorhin wie verflogen. Er küßte Barbara, war zärtlich zu ihr, ließ seine Hände sanft und schließlich fordernd über ihren nackten, wohlgeformten Körper gleiten … Später schlief er ein. Er atmete tief und ruhig, wäre aber weniger ruhig gewesen, hätte er seine noch wache Frau sehen können. Deren bleiches Gesicht leuchtete fahl wie ein Mond in der Dunkelheit des kleinen Schlafzimmers. Um Barbara Perkins' Lippen spielte ein wissendes, rätselhaftes Lächeln. Ihre weißen, gleichmäßigen Zähne schimmerten in der Finsternis.
Gleichmäßige Zähne? Nein! Die beiden Eckzähne waren dolchförmig gebogen und länger als die anderen. Es waren die Zähne einer Raubkatze … Der schlafende William Perkins lehnte sich selig lächelnd an die Schulter der Frau, die zurückgekommen war. An seinem Hals zeigten sich zwei dunkle, blutunterlaufene Stellen. Eine Bißwunde. Vorhin, als er Barbara liebte, hatte sie ihm diesen Biß beigebracht, ohne daß es ihm bewußt geworden war. Er trug den Keim des Verderbens, das Gift der Untoten, nun auch in seinen Adern … * X-RAY-3 rollte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Er war müde, dennoch fand er keinen Schlaf. Die Dinge, die er während der letzten Stunden erlebt hatte, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Madame Hypno spielte in seinem Nachdenken eine besondere Rolle. Larry warf die Decke zurück. Am Abend war zu viel geschehen, als daß man es einfach mit einer Handbewegung abtun konnte. Um ein Haar wäre er tödlich verunglückt. Durch eine Vision, die nur Madame Hypno bewirkt haben konnte. Sie – von der er in Hongkong als Freund geschieden war – hatte sich innerhalb weniger Monate zu seiner Feindin entwickelt. Nichts geschah ohne Grund. Und diesen mußte er unbedingt finden. Kurzerhand sprang er aus dem Bett und zog sich noch mal an. Vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt breit und lauschte in den finsteren Gang. Von unten her drangen leise Stimmen durch das Haus. Die Familie war noch zusammen. Ein Lachen war zu hören. Er konnte sich unmöglich ungesehen durch den Korridor bewegen. Da drückte Larry Brent die Tür zu und ging zum Fenster. Direkt unter der Fensterbank draußen begann der Dachvor-
sprung, darunter stand ein Schuppen, der schräg an die Hauswand angebaut war. X-RAY-3 wurde zum Fassadenkletterer. Federnd sprang er auf das Fenster und ließ sich dann an der Fensterbank hinab. Er fühlte unter den Fingerspitzen die rauhe, kalte Platte, an der er sich festhielt. Bequem erreichte er mit den Füßen den Dachvorsprung des Schuppens und ließ sich dann in die Hocke rutschen. Der Rest war eine Kleinigkeit. Nur zwei Meter tief befand sich der Erdboden. Larry Brent sprang, federte ab, ging in die Knie, und der Boden unter seinen Füßen dröhnte dumpf, als er aufkam. Das alles ging unbeobachtet über die Bühne. Der PSA-Agent richtete sich auf und lief dann unwillkürlich geduckt an der Hauswand entlang zum Gartenzaun, über den er sprang. Er ging die dunkle, menschenleere Straße entlang und ließ den geliehenen Ford zurück, um die McDolans im Haus nicht durch Motorgeräusch auf sich aufmerkssam zu machen. Larry hielt sich bewußt im Schatten der Häuser, damit er nicht gesehen wurde. Die verwinkelten Gassen und die vorspringenden Mauern waren geradezu geeignet dafür, ihm jeglichen Schutz zu gewähren. Zu Fuß lief er zu dem einzigen Hotel in George-Village, um sich dort noch mal umzusehen. Er wollte alles daransetzen, noch in dieser Nacht zu vorgeschrittener Stunde ein Gespräch mit Madame Hypno herbeizuführen. Wenn ihm das nicht gelang, dann würde er kein Auge mehr schließen und sich irgendwo im Hotel verbergen. Es mußte seinen Grund haben, daß man ihnen die vorbestellten Zimmer schließlich doch nicht gegeben hatte. * John Hawker – trotz der anstrengenden, über vierhundert
Meilen hinwegführenden Fahrt – fiel ebenfalls nicht in einen so tiefen Schlaf, wie er das von sich gewöhnt war. Er wurde immer wieder wach und registrierte die feinsten Geräusche im Hotel. Warum war er nur so nervös? John Hawker wußte keine Antwort darauf … und da war wieder ein Geräusch. Es kam diesmal aus allernächster Nähe. Aus dem Badezimmer! Hawkers Augen verengten sich. Wieso konnte … Er fackelte nicht lange und handelte. Blitzschnell warf er die Decke zurück und riß die Beine aus dem Bett. Hawker trug eine khakifarbene, mit braun-grünem Rand eingefaßte, kurze Pyjamahose. Er schlief stets mit nacktem Oberkörper. Es traf den Journalisten fast wie ein Schlag, als er sah, daß im Bad Licht gemacht wurde. Heller Schein unter der Türritze. Hawker fröstelte. Da war tatsächlich jemand in seinem Badezimmer! Kurz entschlossen griff er nach der Klinke, drückte sie herunter und stieß blitzschnell die Tür nach innen. Er stand im hellen Licht – und einer jungen, hübschen Frau gegenüber, dem Girl, das er heute abend zusammen mit Tom Serridge hier in George-Village abgeliefert hatte. Die Anhalterin. »Was machen Sie denn hier?« entfuhr es ihm. Sie stand vor dem Spiegel und fuhr mit einer Bürste langsam wie träumend über ihre schönen, langen Haare. »Das sehen Sie doch, Mister Hawker«, bekam er zu hören. »Ich pflege meine Haare …« Sie sagte das, als handele es sich um die größte Selbstverständlichkeit der Welt. »Und wie kommen Sie hier herein?« »Durch die Tür, Mister Hawker.« »Aber die war doch – abgeschlossen!« Die Blondine warf ihm aus den Augenwinkeln einen Blick
zu, lächelte überheblich und meinte: »Und wenn schon? Auch abgeschlossene Türen kann man umgehen. Es gibt ja auch Balkontüren. Und von der hab' ich gesprochen …« Hawker wirbelte herum. Einziges, ungläubiges Erstaunen kennzeichnete seine Miene. Er starrte hinüber zu der Balkontür. Der lange, dünne Vorhang wiegte sich leise im Wind. Die Tür stand offen. »Wollen Sie etwa damit sagen, daß Sie – die Fassade hochgeklettert und über den Balkon hereingegangen sind?« »Schon möglich, Mister Hawker. Ich weiß gar nicht, was Sie daran so interessiert.« »Nun hören Sie mal! Natürlich interessiert mich das. Sehr sogar. Schließlich ist es keine normale Sache, wenn Sie mitten in der Nacht in meinem Zimmer auftauchen und …« »Oh …«, fiel sie ihm ins Wort. »Sie mögen wohl keine – jungen Mädchen?« John Hawker stieß hörbar die Luft durch die Nase. »Davon kann keine Rede sein. Hier geht es einzig und allein darum …« Wieder kam er nicht dazu, das auszusprechen, was er eigentlich sagen wollte. Er wandte gerade seinen Blick der jungen Unbekannten zu, als es geschah. Hawker erhielt einen Stoß in den Rücken, daß er förmlich in das Badezimmer hineinflog. Der Mann aus New York knallte gegen die Wanne, taumelte und konnte den Sturz nicht mehr verhindern. Er rutschte in die Badewanne, und das leise, spöttische Lachen zweier Menschen begleitete diese unfreiwillige Darbietung. »Als Clown im Zirkus würden Sie sich hervorragend machen, Hawker«, bekam er zu hören. Es war ein Mann, der sprach. Tom Serridge stand in der Tür und kam mit eisiger Miene näher. »Schade, daß über der Badewanne kein Spiegel hängt. Sonst hätten Sie jetzt Ihr komisches Gesicht sehen können. Ich glaube, Sie würden selbst über sich lachen …«
Aber zum Lachen war Hawker nicht zumute. Er kroch aus der Badewanne. Ein wütender Ausdruck kennzeichnete sein Gesicht. »Wir wollten uns über etwas ganz anderes mit Ihnen unterhalten«, fuhr Serridge fort, noch ehe Hawker eine Antwort fand. »Das heißt – groß reden ist eigentlich nicht in unserem Sinn. Wir haben etwas ganz anderes mit Ihnen vor.« »Und was, wenn ich fragen darf?« Hawkers Stimme klang belegt. Er ärgerte sich, daß er eine solche Schwäche zeigte. Er fühlte plötzlich Angst im Herzen. Die Situation sprach für sich. Sie war einfach nicht normal. Da kamen zwei junge Menschen, die er am Abend als Anhalter mitgenommen hatte, unter seltsamen Vorzeichen in sein Hotelzimmer und bedrohten ihn. »Ihr habt kein Recht hier zu sein. Ich habe euch nicht mit hergenommen. Macht, daß ihr verschwindet! Und ich will das Ganze vergessen …« Tom Serridge grinste sarkastisch. »Sie reden, als ob Sie Entscheidungen zu treffen hätten. Wann das Spielchen hier zu Ende ist, bestimmen wir …« Schnell stand der junge Mann vor ihm. Ein unangenehmer Geruch ging von ihm aus. Der Duft von Schweiß und Tier … ein anderer Vergleich fiel Hawker nicht ein. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, zischte Serridge. »Es wird Ihnen nichts passieren … nicht viel, um ganz ehrlich zu sein. Wir möchten, daß Sie zu uns gehören, das ist alles …« »Zu euch?« Der eingekreiste Journalist blickte unruhig von einem zum anderen der Eindringlinge. »Wie soll ich das verstehen?« »Das ist eigentlich schnell erklärt«, entgegnete Serridge. »Sie sind Journalist … und damit von Berufs wegen neugierig. Sie wollen über etwas berichten, was wir lieber nicht in der Presse sehen. Wir machen dann stets Feinde zu unseren Freunden. Das ist einfach. Und bequem. So hat es unser Herr und Meister bestimmt …
Hawker hörte die Worte, aber ihm fehlte der Sinn. »Wir sind von weit hergekommen, weil unser Herr und Meister uns gerufen hat. Er braucht Hilfe – weil er befürchten muß, daß die Waffe in falsche Hände fällt«, fuhr Tom Serridge fort. »Wir haben erkannt, daß du einer unserer Feinde sein kannst. Wir sind die Wächter unseres Meisters.« Serridge ging einfach vom Sie auf das Du über. »Nur wenn er lebt, können auch wir leben. Ebenso die Untoten, die auf ihre Stunde warten …« Hawker schluckte. Sein kantiges, männliches Gesicht war wie aus Stein gemeißelt. »Doch dies geschieht nicht nur zur Sicherheit, sondern auch, um uns Kraft und Frische zu schenken. Nur auf diese Weise ist es möglich, daß wir auch im Mondlicht imstande sind, unsere Körper je nach Bedarf zu wechseln und immer so zu zeigen, wie es gerade notwendig ist.« »Ich verstehe das alles nicht. Ihr seid wohl wahnsinnig. Was soll das unnütze Gerede?« »Man muß es erleben, um es zu begreifen.« Diese Worte kamen von dem jungen, blonden Mädchen. Es trat einen weiteren Schritt auf Hawker zu und legte zärtlich einen schlanken Arm um seine Schultern. Er ließ es sich willig gefallen. Mit einer verführerischen Geste näherte die schöne Fremde ihr Gesicht dem seinen. »Ihr seid schon eine merkwürdige Gesellschaft«, sagte der Journalist erleichtert und grinste. »So was laß' ich mir natürlich ganz gern gefallen …« Er nahm die Situation nicht mehr ernst. Die Nähe des blonden Girls ertegte ihn. Er spürte ihren heißen Atem, ihre feuchten, sinnlichen Lippen, die über sein Gesicht glitten, sich seinem Ohrläppchen und schließlich seinem Hals näherten. Ihr verführerisch duftendes Haar streichelte seine Haut. Er schmiegte sich an sie. Es packte ihn ganz plötzlich, und er vergaß, daß da noch jemand war, der ihn beobachtete. Er be-
gann die Fremde zu liebkosen. »Sie heißt Jane«, hörte er die Stimme Tom Serridges aus dem Hintergrund. »Hm«, knurrte die Blondine. »Ich bin Jane – du heißt John, nicht wahr?« Er war plötzlich ganz verrückt nach ihr. Er suchte ihren Mund, drehte seinen Kopf nach unten und fand ihre feucht glänzenden, schön geschwungenen Lippen. Seine Hände glitten über ihre Schultern, und er fühlte, wie sich ihre Muskeln unter dem dünnen Stoff des engen Pullis zusammenzogen. Mit beiden Händen umfaßte er ihren Kopf und spürte zwischen seinen gespreizten Fingern das seidige, weiche Haar. Er versuchte ihren Kopf herumzudrehen, aber es ging nicht. Es war erstaunlich, über welche Kräfte das junge Mädchen verfügte. Sie gab ein leises, gurrendes Lachen von sich und schien dieses Liebesspiel – wie er – voll zu genießen. Hawker vergaß seine Umgebung und die Drohung, die er sowieso nicht ernst genommen hatte. Er versuchte die Anwesenheit Tom Serridges zu ignorieren. »Komm'«, wisperte der Jounalist. »Laß uns nach draußen gehen … hier ist es so unbequem, so eng …« Mit heißen Küssen bedeckte er Janes Gesicht. Ihr Mund hing jetzt an seinem Nacken, und dann fühlte er einen spitzen, kaum spürbaren Schmerz. Er empfand ihn nicht mal als unangenehm. Jane preßte ihre Lippen fest an seinen Hals. Sie saugten sich förmlich daran fest. Dann – so plötzlich wie sie dieses zärtliche Spiel begonnen hatte – löste sie sich von ihm. John Hawker taumelte einen Schritt zurück. Schwindel packte ihn. Die Luft um ihn begann zu flimmern, als ob er Schwierigkeiten mit seinen Augen hätte. Es wurde ihm siedend heiß und im nächsten Moment wiederum durchfuhren ihn eisige Schauer. Tom Serridge und Jane standen da. Ihre Gesichter waren ein
einziges teuflisches Grinsen. Sie schienen alles, was sich hier nun entwickelte, mit aufmerksamen Augen und großer Anteilnahme zu verfolgen. Hawker starrte in den Spiegel über dem Waschbecken und war unfähig, seinen Blick von dort zu wenden. Was er sah, zog ihn ganz in Bann. Panische Angst erfüllte ihn und lahmte alle seine Aktivitäten. Er fühlte sich außerstande eine Abwehrhandlung zu machen oder zu schreien. Seine Haut verfärbte sich. Sie wurde grau-braun und sah aus wie ein Putzlappen. Der Ausdruck seiner fiebrig glänzenden Augen wandelte sich in kalt glitzerndes, eisiges Licht. Seine Augenbrauen wurden struppig und buschig. Dann begannen mitten im Gesicht Haare zu sprießen. Rasend schnell und unaufhaltsam. Sein menschliches Antlitz wurde zu einem – Wolfsgesicht. Die Behaarung griff über – sie erfaßte seinen Nacken, seine Schultern, Brust und Rücken, seine Arme und Hände. Frei blieben nicht mal die Handinnenflächen. Die physische Verwandlung ging schneller vonstatten als die psychische. John Hawker erfaßte mit vollem Bewußtsein das Dilemma und das Grauen, in dem er sich befand. Mit zitternden Fingern tastete er in sein Gesicht und nach der Wunde an seinem Hals, die kaum mehr zu sehen war. »Ihr Teufel …«, entfuhr es ihm. »Was habt ihr … aus mir … gemacht?« Etwas Fremdes bohrte sich in sein Bewußtsein. Unbekannte Gedanken und Inhalte, die er zuvor nicht gekannt hatte. Er begriff, wer der Herr und Meister war. Er wußte, daß er sich hier in George-Village aufhielt. Hier in George-Village hatte seine Wiege gestanden, und Billy Carthnee hatte versucht, diesem Großen aus der Welt des Namenlosen das Handwerk zu legen. Es war ihm nicht gelungen. Trotz der
Waffe, die er gegen ihn entwickelt hatte … Der Herr und Meister war ein Untoter. Geboren im Grab eines alten Friedhofs, der unweit einer Höhle lag, die den Einwohnern in früherer Zeit als eine Art Schutzraum diente. Einer im Ort hatte sich mit Schwarzer Magie beschäftigt und Geister gerufen, die niemand mehr los wurde. Auf den »Herrn und Meister« gingen jene Geschöpfe zurück, die selbst nicht mehr aus Fleisch und Blut bestanden, aber auf das Blut Lebender zurückgreifen mußten, um ihr untotes Leben fortzuführen. Mit Grausen erkannte Hawker die ausweglose Situation, in die er geraten war. Er wurde im Sog mitgerissen, ohne daß er das geringste dagegen tun konnte. Er wurde selbst zu einem Abhängigen, der auf Menschenblut angewiesen war, um weiter existieren zu können. Was für ein Fluch! Er war ein Untoter, eine Werwolfgestalt – ohne, daß er noch etwas mit seinem eigenen Willen, mit seinem eigenen Körper dagegen tun konnte. Er war nichts weiter als eine Puppe, dazu geschaffen, einem anderen, der schon lange nicht mehr leben konnte, die Existenz zu sichern. In seinem tiefsten Innern bäumte sich noch mal aller Widerstand auf gegen das Unrecht, gegen die Verzweiflung, gegen das Grauen, das er hier erlebte. John Hawker öffnete den Mund. Sein Gebiß war das eines Raubtieres. Er brüllte auch wie ein solches – aber dann kam noch ein markerschütternder, gellender Aufschrei aus seiner Kehle, wie ihn nur ein Mensch von sich gab, der sich in höchster Todesnot, in höchster Verzweiflung befand. Der Schrei hallte durch das nächtliche Hotel. * Larry Brent blieb wie von einer Tarantel gebissen stehen.
Er hörte oben aus dem weit offenen Fenster den Schrei. Jemand befand sich in tödlicher Gefahr! X-RAY-3 überwand mit wenigen Schritten die Straße, als er sah, daß der Portier hinter der Rezeption nicht die geringsten Anstalten machte, sich von seinem Platz zu erheben und die Zeitung aus der Hand zu legen, in der er las. Der Schrei, der durchs ganze Haus hallen mußte, schien von ihm gar nicht wahrgenommen zu werden. Larry Brent jagte über die Stufen in das Hotel, passierte den Vorraum und rief dem Portier zu: »Da ist jemand in Gefahr! Hören Sie denn nichts?« Der Mann blickte ihn an wie das achte Weltwunder. »Was reden Sie denn da für einen Unsinn, Mister?« fragte er ungehalten. »Was für ein Schrei? Von wo?« Larry Brent gab das Zimmer in der ersten Etage an und bezeichnete genau dessen Lage. »Das kann nur die 104 sein«, murmelte der Mann hinter der Rezeption. »104 – da liegt Mister Hawker. Warum sollte der schreien?« »Das weiß ich ja nicht. Er schreit jetzt noch. Wollen Sie nicht etwas tun?« Die Unbeweglichkeit des Portiers veranlaßte Larry, selbst aktiv zu werden. Er stürmte ohne ein weiteres Wort nach oben, während der Mann langsam wie eine Schnecke um den Tresen herumkam. »Bleiben Sie sofort stehen! Sie haben kein Recht, sich hier im Haus aufzuhalten. Ich weiß überhaupt nicht, was Sie sich da herausnehmen …« Was er noch weiter sagte, hörte X-RAY-3 nicht mehr. Er erreichte die erste Etage und rannte durch den schmalen Korridor Richtung Zimmer 104. Mehrere Male rüttelte er heftig an der Klinke. Die Tür war verschlossen. »Aufmachen! Hallo – so hören Sie doch!«
Aber niemand rührte sich hinter der Tür. Larry erinnerte sich daran, von der Straße aus Fenster und Balkontür weit offen gesehen zu haben. Ohne lange zu überlegen, riß Larry das Fenster zur Straße auf und kletterte auf die Fensterbank. Von hier aus war es nicht schwer, zwei, drei Schritte an der Hauswand entlang zu gehen, um den daneben liegenden Balkon zu erreichen, von wo aus es direkt in Zimmer 104 ging. Im nächsten Moment sprang Brent über die Balkonbrüstung, warf sich herum, teilte den Vorhang und betrat den Raum. Unheimliche Stille … Nicht mehr das geringste Geräusch. Aber von hier waren doch die Schreie gekommen! Irritiert blickte Larry Brent in den halbdunklen Raum. Die Tür zum Bad stand offen. Dort brannte Licht über dem Waschbecken. Kein Mensch im Bad! Aber einer, der im Bett lag … Ein dunkelhaariger Mann, etwa Mitte Dreißig. Er atmete tief und ruhig. John Hawker? Unsicher kam Larry näher. Er hätte schwören können, daß in diesem Zimmer vor wenigen Augenblicken noch ein Mensch in höchster Todesnot um Hilfe geschrien hatte. Und nun war es im ganzen Hotel still wie in einer Kirche. Larry hörte das Pochen seines eigenen Herzens. Er beugte sich über den Schlafenden und studierte dessen Gesicht. Der Mann wirkte ruhig und entspannt und ahnte nichts von dem Eindringling, der durch die offene Balkontür ins Zimmer geschlüpft war. Alles war ganz normal … Oder …? Nein – die Wirklichkeit war ganz anders. Die aber nahm Brent nicht wahr. Im Bad standen Tom Serridge und Jane. Dort hielt sich auch
noch John Hawker auf. Wie hypnotisiert, den Mund zum Schrei geöffnet, stand er vor dem Becken und starrte auf sein Spiegelbild. Er war ein Wolfsmensch, erfüllt von der Gier, anderen das Blut aus den Adern zu saugen, um selbst einen unbändigen Hunger zu stillen. Er wehrte sich gegen diesen furchtbaren Trieb, aber er merkte, wie er mehr und mehr unterlag. Instinktiv fühlte er, daß da außer Tom Serridge und seiner Begleiterin noch jemand im Zimmer war. Sein Schrei konnte nicht ungehört verhallt sein. Er wandte den Blick. Da – ein Schatten! Tatsächlich, da war noch jemand. Ein Fremder. Etwa so alt wie er. Blond und von sportlicher Gestalt. Es war eine Szene wie in einem Alptraum. Hawker war nicht imstande, auf sich aufmerksam zu machen. Und der andere lief im Zimmer umher, als ob er etwas suche, es aber nicht fand. Da war Hilfe. Und doch konnte der andere nichts tun. Hawker war wie gelähmt. Tom Serridge und Jane grinsten. Auch sie sahen den anderen, ohne selbst gesehen zu werden. Wie war das alles nur möglich? Der Journalist wollte noch mal einen Schrei von sich geben. Er war auch sicher, es zu tun. Sein Trommelfell schmerzte von der Stärke des eigenen Aufschreis. Doch niemand reagierte. Der fremde Mann geriet aus Hawkers Blickfeld und ging Richtung Bett. Noch war Hawker psychisch nicht so beeinflußt, daß er sein Menschsein ganz vergessen hätte. In wilder Verzweiflung riß er sich von seinem eigenen, furchteinflößenden Spiegelbild los, rannte an Serridge und Jane vorbei aus dem Bad ins Hotelzimmer. Der Wolfsmensch taumelte auf Brent zu, der am Bett stand.
Mit flackernden Augen sah der Journalist, in dessen Adern der Keim der Untoten gepflanzt war, den Fremden an seinem Bett stehen. Was wollte er dort nur? Das Bett war zerwühlt – und leer. Der andere mußte blind und taub sein, daß er ihn hier nicht sah und hörte. Aber da war ja noch jemand. Hawker schloß und öffnete gleich darauf wieder die Augen, als müsse sich erst an die neue Erscheinung gewöhnen. Da war nicht nur eine Person in sein Hotelzimmer eingedrungen. Sondern zwei. Und sie ähnelten sich wie ein Ei dem anderen. Diese beiden Männer konnten Zwillingsbrüder sein. Sie trugen sogar die gleiche Kleidung. Der eine wandte den Kopf, erspähte John Hawker und kam schnurstracks auf ihn zu. Das war der Moment, da der Journalist vollkommen abrutschte in die geistige Umnachtung seiner Untotenexistenz. Mit einem Aufschrei stürzte er sich auf den Mann, der Larry Brents Zwillingsbruder hätte sein können. Im nächsten Moment lagen sich die beiden in den Haaren. Ein verzweifelter Kampf begann. Hawker hatte übermenschliche Kräfte. Er riß seinen Gegner zu Boden und warf sich auf ihn. Der andere Mann im Bett schien davon überhaupt nichts mitzubekommen. Dort stand der wahre Larry Brent aus Fleisch und Blut, und für ihn bot sich das Zimmer leer und verlassen dar, bis auf den einsamen Schläfer im Bett, der nicht aufwachte. Brents Miene war hart. Der Agent hörte von draußen sich eilends nähernde Schritte. Ein Schlüsselbund rasselte. Offenbar kam der Potier mit dem Geschäftsführer nach oben. Doch dazu bestand nicht die geringste Veranlassung, dachte X-RAY-3.
Auf Zehenspitzen huschte er zum Fenster, um den Schlafenden nicht zu wecken. Er sah nicht John Hawkers verzweifelten Kampf, der auf seinen vermeintlichen Gegner eindrosch, um ihm den Garaus zu machen. Hawkers Kopf ruckte nach unten, als der blonde Mann mit dem sonnengebräunten Gesicht versuchte, den auf ihm Liegenden zurückzudrängen. Es gelang dem Wolfsmenschen, sein Raubtiergebiß in den Hals der visionären Gestalt zu schlagen. Daß er in Wirklichkeit ins Leere zielte, wurde ihm nicht bewußt. Sowohl er, Tom Serridge, dessen Begleiterin, als auch Larry Brent waren jeder auf eine eigene Weise durch eine fremde Macht beeinflußt. Dieser Macht nützte in diesem Augenblick John Hawker ebenso wie X-RAY-3. Larry erreichte den Balkon und machte sich sofort an den Abstieg. Ob seine Nerven ihm vorhin einen Streich gespielt hatten? Hatte er wirklich einen Schrei vernommen – oder ihn sich nur eingebildet? Steckte möglicherweise Madame Hypno dahinter, die ihn hierher locken wollte, um … Er fuhr plötzlich zusammen und unterbrach seine Gedankengänge. Da war ein leises, schabendes Geräusch über ihm. »Verlassen Sie George-Village, Larry«, raunte eine Stimme. Brent riß den Kopf hoch. Schräg über ihm, eine Etage höher, stand jemand. Madame Hypno! Es schien, als hätten seine Gedanken sie wie ein Wunschbild herbeigezaubert. Sie trug ein langes, bis zu den Knöcheln reichendes Gewand, das sie mit zarter Hand vor sich zusammenhielt. Sie hob sich vom Hausschatten kaum ab. »Sie sind gefährdet, Larry! Nehmen Sie morgen nicht am Schießwettbewerb teil …« Er sah ihr schönes, gleichmäßiges Gesicht als eine helle Fläche über sich. Darin zeichneten sich die Sinnesorgane als dunkle, verwaschene Schatten ab.
»Sie stecken also doch dahinter. Warum, Shea?« fragte er sie mit ihrem zivilen Namen. »Keine Fragen! Ich kann im Moment nichts weiter für Sie tun. Reisen Sie ab! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann.« »Ich kann nicht abreisen. Das wissen Sie. Ich muß den Wettbewerb gewinnen …« »Ich muß ihn gewinnen. Und ich werde ihn gewinnen! Fahren Sie ab, Larry! Es ist in Ihrem eigenen Interesse. Sie werden sonst den morgigen Tag – nicht überleben …« * Obwohl erst spät zu Bett gekommen, war er am Morgen doch schon früh auf den Beinen. Larry machte sich fertig und nahm im Kreis der McDolans sein Frühstück ein. Die ganze Familie war an dem großen Eßtisch versammelt – bis auf Steven McDolan. Der Großwvater war nicht da. »Ist er wieder unterwegs?« fragte Larry fröhlich. Mrs. McDolan winkte ab. »Spät ins Bett und früh heraus – so hat er's schon immer gehalten. Was will man da machen? Er frühstückt allein, und dann macht er sich wieder auf den Weg. Alte Männer und alte Frauen haben ihre Eigenheiten …« Während des Frühstücks sprach man über belanglose Dinge. Nachdem die jungen Leute gegangen waren, saß nur noch Mrs. McDolan am Tisch. Larry nutzte die Gelegenheit, sie noch mal auf die alte Höhle anzusprechen, die sie in der letzten Nacht erwähnt hatte. Die Lebensgeschichte Billy Carthnees, die er als Leiter der PSA gründlich studiert hatte, erwähnte ebenfalls eine Höhle, die in der Nähe eines alten Friedhofs liegen sollte. Larry erwähnte auch diesen Friedhof. Es entging ihm nicht, daß Mrs. McDolan zusammenzuckte, aber dann nicht weiter
darauf einging. Geschickt verstand sie es, das Gesprächsthema in eine andere Richtung zu steuern, um nicht weiter über das reden zu müssen, was den Fremden offensichtlich so maßlos interessierte. Mit etwas ungutem Gefühl verließ Larry das Haus der McDolans. An diesem Morgen hatte X-RAY-3 viel zu tun. Zuerst mußte er sich um ein Fahrzeug kümmern, damit der Ford in den Besitz William Perkins' zurückging. In der Tankstelle am Ortsausgang sah er seinen demolierten Lotus. Der Agent sprach mit dem Inhaber der Reparaturwerkstätte und hörte, daß man wohl einiges machen könne. Allerdings würde es vier oder fünf Tage dauern, um den Schaden zu beheben. Dann müßten erst einige Ersatzteile angefordert werden. Gezwungenermaßen mußte Larry sich in dieses Schicksal ergeben. In George-Village war an diesem Vormittag schon einiges los. Groß und klein, alt und jung waren auf den Beinen. Man sah Kinder mit Luftballons, als Cowboy und Indianer verkleidet. Gruppen von Jugendlichen marschierten eingehängt durch die Gasse und sangen Country-Songs. Der Bezirk um den Marktplatz war für jeden Verkehr hermetisch abgeriegelt. Um die Mittagszeit wollten dort der Bürgermeister und der Sheriff eine Rede halten. Es war keine Schwierigkeit für Larry Brent, einen älteren Chevrolet zu mieten. Es war so abgesprochen, daß Iwan mit dem zweiten Wagen hinter ihm herfuhr, wenn er den Ford an William Perkins zurückbrachte. Er traf sich mit Kunaritschew auf dem Marktplatz. Bevor sie George-Village verließen, sahen auch sie sich in dem von mehreren Polizisten bewachten Glaskasten den silbernen Colt an, der als Hauptpreis dem Sieger winkte. Es war ein Colt, der sich in Größe und Aussehen kaum von
einer normalen Schußwaffe unterschied. Er lag auf blauem Samt, und die silberne Oberfläche schimmerte in der klaren Morgensonne. Man sah der Waffe an, daß sie mit großer Kunstfertigkeit geschmiedet worden war. Carthnee war in der Tat ein Meister seines Fachs gewesen. Neben dem Colt lagen die sieben silbernen Kugeln ausgebreitet, die dem Sieger ebenfalls winkten. Sie paßten genau in das Magazin der Waffe und waren für die Größe der Aufnahmelöcher gegossen. In unmittelbarer Nähe des Glaskastens herrschte reges Gedränge. Einwohner und Fremde, die hierher gekommen waren, begutachteten die Waffe. Unter ihnen befanden sich auch Madame Hypno und ihr Begleiter Pierre. Die schöne Araberin würdigte Larry Brent und Iwan Kunaritschew keines Blickes … Larry zermarterte sich vergebens den Kopf wegen des widersprüchlichen Verhaltens der Hypnotiseurin. Er hoffte auf eine andere und bessere Gelegenheit, um ein Gespräch mit ihr zu beginnen. Es schien jedoch, daß gerade ihr ständiger Bgleiter, dessen Herkunft und Name ihm nicht bekannt waren, ein Hindernis darstellte. »Ich glaube, Brüderchen, daß wir unseren Plan etwas anders ausführen müssen, als wir es ursprünglich vorgesehen hatten. Ich möchte gern – noch bevor das Schießen beginnt – mit Madanne einige Worte wechseln. Dazu wird es wohl notwendig sein, daß du mir diesen komischen französischen Aristokraten außer Reichweite hältst …« »Dobro, Towarischtsch«, nickte der breitschultrige Russe. »Solche Sonderaufgaben gehören zu meinen Spezialitäten. Ich denke doch, daß ich da etwas für dich tun kann. Mit eifersüchtigen Liebhabern unterhalte ich mich besonders gern …« Auf dem Weg zu den parkenden Fahrzeugen erzählte Larry Brent, was ihm in der letzten Nacht zugestoßen war. Auch Iwan Kunaritschew konnte sich darauf keinen Reim machen.
In zwei getrennten Fahrzeugen verließen sie den Ort, um in die Waldschneise hinauszufahren, wo William Perkins' Caravan stand. Als sie dort ankamen, erlebten sie eine Überraschung. Der Wohnwagen war leer. An der Klinke war mit einem durchsichtigen Klebeband ein zusammengefalteter DIN-A 4Bogen befestigt. Es mußte sich ganz offensichtlich um eine Nachricht an sie handeln. Larry löste den Bogen und entfaltete ihn. William Perkins hatte mit sauberer, gestochener Schrift tatsächlich eine Botschaft für sie hinterlassen. »Lieber Mister Brent, leider konnte ich nicht länger warten. Wenn Sie hier eintreffen, befinde ich mich auf der Suche nach meiner Frau. Ich habe eine vielversprechende Spur entdeckt, über die ich jedoch nichts Näheres sagen kann. Lassen Sie den Wagen ruhig hier stehen und deponieren Sie die Fahrzeugschlüssel hinter dem linken Vorderrad des Caravan. Dort werde ich ihn dann schon finden. Diese Nachricht bitte vernichten. Mit freundlichem Gruß. William Perkins …« X-RAY-3 hatte den Text halblaut vorgelesen. Trotz des Briefes ließen es sich die beiden Freunde nicht nehmen, eine Kontrollrunde um den Caravan zu machen. Der war abgeschlossen, alle Fenster verriegelt. Der Wagen war leer. Larry und Iwan konnten in das Innere schauen. Alles stand an Ort und Stelle, nichts war verwüstet, kein Mensch lag dort auf dem Boden … »Unser Mißtrauen scheint in der Tat unberechtigt zu sein, Towarischtsch.« Sie machten alles so, wie William Perkins es gewünscht hatte, und fuhren dann im Leihwagen nach George-Village zurück. Larry und Iwan wollten das Mittagessen im Hotel einnehmen. Bei dieser Gelegenheit hoffte X-RAY-3 eine Kontaktaufnahme mit John Hawker herzustellen. Ein anderer Portier tat Dienst,
und Larry erkundigte sich nach dem Journalisten aus New York. Dabei erfuhr er, daß Hawker im Morgengrauen das Haus verlassen hatte. »Nur für kurze Zeit? Oder hat er sein Gepäck mitgenommen?« wollte Brent ganz genau wissen. »Mit seinem Gepäck selbstverständlich. Mister Hawker ist abgereist …« Larry und Iwan blickten sich an. Als sie am Tisch saßen und auf ihr Essen warteten, meinte X-RAY-3: »Hier ist mehr als eine Sache oberfaul, Brüderchen. Hawker kommt nachweilich nur knapp eine halbe Stunde vor uns in George-Village an und reist im Morgengrauen schon wieder ab. Das Ganze ergibt doch keinen sittlichen Nährwert …« Der vollbärtige Russe nickte. »Dann liegt's eben an uns, Towarischtsch, den zu finden. Ah – da kommt ja unser besonderer Freund …« Damit meinte er »Pierre«. Der hochgewachsene, charmant und männlich wirkende Franzose führte Madam Hypno am Arm zu einem reservierten Tisch. Der Begleiter der Araberin war äußerst zuvorkommend. »Wenn du es jetzt fertig bringst, den Kerl von ihrer Seite zu luchsen, damit ich mich mit ihr unterhalten kann, dann werde ich X-RAY-1 'ne Gehaltserhöhung vorschlagen.« Iwan grinste. »Towarischtsch – Unmögliches erledige ich grundsätzlich sofort. Wunder dauern ein bißchen länger. Der Augenblick ist ungünstig. Da mußt du dich wohl noch ein wenig gedulden …« Larry wartete bis zum Nachmittag. Punkt drei Uhr begann das Wettschießen. Auf dem Festplatz war viel los. Die Menschen standen dicht gedrängt, als die Schützen, die sich zum Wettbewerb gemeldet hatten, Aufstellung nahmen. Von sechsunddreißig Bewerbern waren nach einer Stunde
noch acht übrig. Dann ging's im K.O.-System. Schließlich waren noch vier übrig. Zu diesen ersten vier gehörten Madam Hypno, Iwan Kunaritschew und Larry Brent. Der vierte Teilnehmer war ein blasser Holländer mit dickem, lockigem Haar und wasserblauen Augen. Er blieb als nächster auf der Strecke. Dann kam Iwan Kunaritchew. Jeder von ihnen hatte drei Schuß. Wer sämtliche Kugeln ins Schwarze plazierte, hatte alle Aussicht, Sieger zu werden. Für die, die übrig geblieben waren, stand gerechterweise einunddasselbe Gewehr zur Verfügung. Es handelte sich um eine Winchester aus dem Jahr 1871. Der gleiche Jahrgang, der auch den Silbercolt auszeichnete. Das Los entschied, daß Kunaritschew der erste Schütze war. Die Scheiben waren fünfzig Schritte weiter zurückgestellt worden. X-RAY-7 legte an. Larry zweifelte nicht daran, daß sein Freund auch diesmal wieder erfolgreich abschloß. Kunaritschew war ein ausgezeichneter Schütze. Daß Madama Hypno bis zu dieser Minute so erfolgreich war, verwunderte ihn. Dies zeigte jedoch nur, wie wenig er über diese Frau eigentlich wußte. X-RAY-7 faßte sein Ziel ins Auge. Er hatte den schwarzen, inneren Punkt genau im Visier. Kunaritschews rechter Zeigefinger umspannte den Abzugshahn. Dann drückte er ab. Im selben Moment stellte er fest, daß irgend etwas mit seinen Augen nicht stimmte. Er sah die Tafel doppelt. Unwillkürlich verriß er den Lauf, und das Projektil verfehlte den Mittelpunkt der Scheibe. Es klatschte in den neunten Ring. Iwan ließ sich nicht anmerken, was er eben erlebt hatte. Wieder legte er an. Seine Hand war völlig ruhig, sein Auge klar.
Er hätte schwören können, daß vor wenigen Augenblicken die Scheibe viel weiter links gesessen hatte. Wieso mußte er sich nun etwas nach rechts drehen, um den schwarzen Mittelpunkt wieder ins Visier zu bekommen. Er wartete einen Moment, ehe er abdrückte. Er konnte es nicht verstehen, als das Ergebnis durchgesagt wurde. Auch die beiden letzten Schüsse hatten nicht ins Ziel getroffen. Der eine war sogar eindeutig über die Scheibe gegangen. Die Zuschauer johlten. Einige machten spitze Bemerkungen. Andere, denen der Russe in der Zwischenzeit wegen seiner Fairneß sympathisch geworden war, fanden es bedauerlich. Als nächste kam Madame Hypno. Das Triumphgebrüll der Zuschauer setzte ein, als sie kurz hintereinander ihre Schüsse anbrachte. Sie folgten so dicht, daß sich drei Schüsse anhörten wie einer. Das Ergebnis war enorm: Alle drei trafen ins Schwarze! Larry Brent folgte. »Ich wünsch' dir was, Towarichtsch«, knurrte X-RAY-7. »Paß' auf! Das hübsche Mädchen mit den Nofretete-Augen hat's in sich. Wenn sich die Zielscheibe da vorn hin und her bewegt – dann stimmt etwas nicht.« »Danke für den Tip. Ich werd's beherzigen.« Larry beachtete sich und seine Umgebung genau. Er mußte alles daransetzen, bestmöglich abzuschneiden. Ob es ihm gelang, mit Madame Hypno gleichzuziehen, wußte er nicht. Wenn sie einen hypnotischen Trick anwandte, dann blieb er sowieso auf der Strecke. Es sei denn, daß er rechtzeitig merkte, was gespielt wurde. Madame Hypno kam entweder nicht zum Zug – oder sie ließ ihm noch eine Gnadenfrist. Auch bei ihm trafen alle drei Schüsse ins Schwarze. Die Zuschauermenge jubelte. Der Kampf versprach einen unerwarteten Höhepunkt. Die Jury beratschlagte, wie sie die Bedingungen verschärfen konnte, damit sich endlich ein Sieger herauskristallisierte.
Madame Hypno und Larry Brent durften ihre Plätze nicht verlassen, als neue Zielscheiben angebracht wurden. Den übriggebliebenen Teilnehmern und der lauschenden Menge wurde mitgeteilt, daß das Zentrum der Scheibe nur noch die Hälfe dessen war wie auf den bisherigen. Es war früh Abend geworden. Ein leichter Wind kam und und Bewölkung. Dann fing es an zu regnen. Doch die Zuschauermenge wurde nicht kleiner. Jeder wollte den Ausgang des Schützenfestes erleben. Iwan Kunaritschew hatte nach seiner Niederlage seine Konzentration auf Madame Hypnos geheimnisvollen Begleiter verstärkt. X-RAY-7 beobachtete, daß »Pierre« sich von der vordersten Reihe der Zuschauer entfernte, um zwischen den Buden zu verschwinden. Kunaritschew folgte ihm. Hier hinten war kaum etwas los. Die Hauptattraktion war das Wettschießen, und dort hatten sich alle versammelt. Die Bier-, Whisky- und Hot-Dog-Buden waren selbst von ihren Besitzern verlassen, weil sie sehen wollten, wer den silbernen Colt mit nach Hause nahm. Madame Hypnos Begleiter hatte es eilig, den Marktplatz zu verlassen. Wie ein Schatten stieg Kunaritschew hinter ihm her. Die engen Gassen zwischen den Buden boten ihm gute Versteckmöglichkeiten. Hinter Fässern und aufgeschichteten Kästen mußte Iwan mehrere Male stehenbleiben, weil auch der andere plötzlich im Schritt verhielt und sich umblickte, als wolle er sich vergewissern, daß da niemand war, der ihm folgte. Der rätselhafte Begleiter Madame Hypnos verließ den Marktplatz. Die Straßen des Ortes lagen wie ausgestorben. Nicht ein einziger Mensch kam ihnen entgegen auf dem Weg zum Hotel.
»Pierre« steuerte auf den kleinen Parkplatz hinter einer riesigen Reklamewand zu. Kunaritschew bemerkte, daß der großgewachsene, dunkelhaarige Mann mit dem aristokratischen Aussehen öfter einen Blick zum Himmel warf, als wolle er vor dem Einsetzen des Regens noch trockenen Fußes sein hier abgestelltes Fahrzeug erreichen. Iwan verhielt hinter der Reklamewand und lief dann geduckt zwischen den Fahrzeugen der anderen Hotelgäste weiter, um den Begleiter Madame Hypnos nicht aus den Augen zu verlieren. Dessen Ziel war ein schokoladebrauner ChevroletCaprice-Station-Waggon, der mit der Kühlerhaube zur Ausfahrt stand. Wie ein Schatten bewegte X-RAY-7 sich zwischen den abgestellten Fahrzeugen. Er sah, daß »Pierre« die hintere Tür zur Ladefläche aufmachte, sich bückte und dort offenbar etwas zurechtschob. Was tat er dort? Kunaritschew beugte sich nach vorn. Um besser sehen zu können, mußte er in die Höhe kommen. Durch die aufgeklappte Tür war ihm der Blick in die Ladefläche nicht vergönnt, weil er zu weit seitlich stand. Seine Augen verengten sich. Irritiert blickte er nach vorn, weil er den Fremden nicht mehr wahrnahm. Er erkannte die Gefahr zu spät. Wie ein Schatten tauchte der großgewachsene Mann neben ihm auf. Nicht das geringste Geräusch hatte er verursacht, mit keiner Geste sich verraten. Es ging alles so schnell, daß Kunaritschew dem Schlag nicht mehr ausweichen konnte. Ein harter Gegenstand krachte auf seinen Hinterkopf. Iwan taumelte nach vorn. Er brach in die Knie, im Fallen unwillkürlich die Arme emporreißend. Der Russe konnte eine Menge vertragen. Aber gegen den mit Wucht geführten Schlag war auch er machtlos. Nur einen Schritt von ihm entfernt stand Madame Hypnos
Begleiter. Auf seinem bleichen, aristokratischen Gesicht lag ein grausamer Zug. In der Rechten hielt er einen schweren, großen Schraubenschlüssel, mit dem er Iwan Kunaritschew zur Strecke gebracht hatte. »Pierre« machte kurzen Prozeß. Er packte den schweren Russen unter den Achseln und zerrte ihn über den Boden. Es war erstaunlich, über welch ungewöhnliche Kraft dieser Mann verfügte. Es schien ihm überhaupt keine Schwierigkeiten zu bereiten, den Bewußtlosen hochzuwuchten und auf die Ladefläche des Chevrolet-Caprice zu befördern. Den Schraubenschlüssel warf er einfach daneben. Hart schlug der Aristokratische die Tür zu und setzte sich dann ans Steuer. Er startete. Die dunklen, undurchdringlichen Augen des Mannes befanden sich in steter Bewegung. Nichts schien ihm zu entgehen. Er wirkte weder unruhig noch nervös. Er schien genau zu wissen, was er wollte und wohin das führte, was er eingeleitet hatte. Draußen fielen die ersten, dicken Tropfen. Sie klatschten auf das Dach und gegen die Windschutzscheibe, aber der Fahrer stellte die Scheibenwischer nicht an. Auf einem Umweg rollte der Chevrolet-Station-Wagen aus dem Ort. Eine schmale, in schlechtem Zustand befindliche Straße führte weiter in das Hinterland. Links und rechts der Fahrbahn standen Dornengestrüpp und niedriges Buschwerk. Das Ganze erinnerte an eine Steppe. Im Hintergrund zeigten sich im Dunkeln die Umrisse der Berge. Die in die Einöde führende Straße war kurvenreich. Der Fahrer schien sich bestens auszukeimen. Er lenkte schließlich seinen Wagen einfach von der Straße herunter und fuhr querfeldein. Trotz der zahlreichen Regenfälle der jüngsten Vergangenheit war der Boden hier nicht weich und schwammig. Das dicht stehende Gras bildete eine feste und gute Unterlage. Auch das war »Pierre« nicht unbekannt.
Knapp zehn Minuten später war er dort, wo er sein wollte. Hinter Büschen und Gestrüpp und hochwachsenem Unkraut lag eine alte, verwitterte Mauer, befand sich ein morsches Tor, das windschief in den Angeln hing. Dies war der Rest des alten Friedhofs, der in den ersten Jahren nach der Gründung George-Villages benutzt wurde. Unmittelbar neben dem Friedhof führte in die Felsenwand der Eingang in eine Höhle. Dieser Eingang war mit schweren, aufeinander geschichteten Steinen zugebaut. »Pierre« ließ den Chevrolet-Caprice-Kombiwagen unmittelbar vor dem morschen Friedhofstor stehen. Dann verließ er das Fahrzeug, öffnete die hintere Klappe und zerrte den immer noch ohnmächtigen Kunaritschew über die Ladefläche nach draußen. Er warf ihn sich über die Schultern wie einen Kartoffelsack. Ein leichter Nieselregen fiel. Der Wind hatte sich verstärkt. Er blies kühl und unangenehm. Der Aristokratische betrat den düstern Ort. Zwischen alten, knorrigen Bäumen und niedrigen Heckensträuchern waren die Hügel der ehemaligen Gräber mehr zu ahnen als zu sehen. Die Kreuze waren längst verwittert, Steine gab es nicht. Wer hier einst beigesetzt worden war, ließ sich nicht mehr feststellen. Madame Hypnos rätselhafter Begleiter ging zwischen den ehemaligen Grabreihen entlang, ohne einen Blick darauf zu werfen. Sein Ziel war die andere Seite des kleinen Friedhofs, wo die Mauer direkt gegen die Felswand stieß. Dort in der Ecke, zwischen Mauer und Felswand, gähnte ein dunkles Loch, das in die Mauer führte. Eine eigenartig bedrückende, beklemmende Atmosphäre lag über dem stillen, einsamen Ort. Und wäre Iwan Kunaritschew jetzt bei Sinnen gewesen – die Haare hätten sich im gesträubt über das, was hier existierte. Der warme, sanft fallende Regen schien sie herauszulocken
wie Würmer aus der lockeren Erde. Deutlich war zu sehen, daß sich unter den Grabhügeln etwas tat. Unter der Erde pochte es. Darunter stieß irgend etwas dagegen und versuchte sich Raum zu schaffen. An zehn, fünfzehn, zwanzig Gräbern war es das gleiche. Und dann brach es durch! Dick wie ein Arm. Die alte, feste Erde wurde gespalten und flog zur Seite. Mehrere Arme schoben sich langsam in das dämmrige, verlöschende Tageslicht. Die ausgedörrten Hände schienen wie nach einem Halt zu suchen. Die Farbe der mumifizierten Arme war braun wie die Erde … Der Aristokratische ging mit seinem Opfer durch diesen gespenstigen Friedhof und nahm die aus den Gräbern wachsenden Hände mit einen Lächeln entgegen, das Grausamkeit und Triumph zugleich zeigte … * Der erste Schuß fiel. Trocken nachhallend verebbte er. Hunderte von Menschen umringten die beiden Übriggebliebenen. Es war so still, daß man eine Stecknadel hätte fallen hören. Jeder war gespannt. Wie würde dieser Wettbewerb ausgehen? Beide hatten die gleiche Chance. Einen eigentlichen Favoriten gab es nicht mehr. Madame Hypno ließ das Gewehr sinken. Sie wirkte plötzlich abgespannt und müde. Larry, der nahe neben ihr stand, blickte sie wortlos an. Zum ersten Mal registrierte er so etwas wie Unruhe und Nervosität bei seiner Konkurrentin. Madame Hypnos Hände zitterten. Sie nahm die Waffe zum zweiten Mal hoch, um den zweiten Schuß anzubringen. Deutlich sah man der Araberin an, wie sie sich bemühte, sich zu konzentrieren. Es gelang ihr nicht. Ihr Blick war unstet, und sie wandte sogar mehrere Male den
Kopf und schaute sich in der Runde um, als suche sie etwas Bestimmtes. Vermißte sie ihren Begleiter? Der war jedenfalls nicht mehr zu sehen. Ebenso wenig wie Iwan Kunaritschew. Madam Hypno legte erneut an. Sie drückte ab und schoß. Ein Raunen ging durch die Menge, als das Ergebnis bekanntgegeben wurde. Die Araberin hatte nur den äußersten Ring getroffen! Schweiß perlte auf der Stirn der schönen Frau. Nervös nagte sie an ihrer Unterlippe. Madame Hypno ließ das Gewehr sinken und atmete tief durch. Sie versuchte sich zu konzentrieren, um zu neuer Kraft zu kommen. »Ich kann nicht mehr«, wisperte sie plötzlich. Hilfesuchend blickte sie Larry Brent an. »Hier, Larry – nehmen Sie! Ich gebe auf … Schießen Sie weiter und gewinnen Sie! Jetzt – werde ich Sie nicht mehr beeinflussen …« Sie wankte. Ein Schwächeanfall. Sie drohte zu fallen. XRAY-3 griff nach ihr und hielt sie fest. »Was ist los mit Ihnen, Shea?« fragte er besorgt. Sie schüttelte den Kopf. »Fragen Sie nicht lange! Handeln Sie lieber! Offiziell wären Sie längst der Sieger. Wenn ich vorhin nicht alle getäuscht hätte …« »Sie haben?« Madame Hypno nickte. »Hypnose! Sie kennen das ja«, fiel sie ihm ins Wort. »Ich habe vorhin nur ein einziges Mal ins Schwarze getroffen. Sie aber – dreimal. Ich hatte es in der Hand, in der letzten Runde vorhin als Siegerin hervorzugehen. Mit Hilfe meiner Täuschungen. Aber ich hab's nicht fertiggebracht. Ich ließ die Jury es so sehen, daß auch ich gleichgezogen hätte, während ich es ohne weiteres hätte bewerkstelligen können, auch Sie als Verlierer hinzustellen. Das hat ›Pierre‹ offensichtlich irritiert. Vielleicht weiß er jetzt nicht genau, was
ich eigentlich im Schild führe. Alles ist für ihn schließlich noch drin …« »Was reden Sie denn da, Shea?« Unruhe entstand rundum. Die Herren von der Jury bahnten sich einen Weg durch die Menschentraube. »Sie haben nicht viel Zeit, Larry«, wisperte Madame Hypno rasch. »Pierre erwartet mich. In der Höhle. Dort soll die Übergabe des silbernen Colts erfolgen. Dieser Augenblick ist das größte Risiko für ihn. Deshalb die Geisel.« »Welche Geisel, Shea?« Larry konnte sich auf das alles noch keinen rechten Reim machen. »Meine Schwester, Larry. Er hat sie in seiner Gewalt. Er braucht den silbernen Colt dringend – ohne ihn jedoch selbst berühren zu können. Ich muß die Waffe für ihn aus der Welt schaffen. Schießen Sie – hier, nehmen Sie das Gewehr! … ich werde Ihnen alles andere dann erklären …« X-RAY-3 nahm die Winchester. Madame Hypno lehnte sich gegen den Fahnenmast und hatte den Blick gesenkt. Brent legte an, faßte das Ziel ins Visier und drückte ab. Ruhig, als wäre die Waffe mit seinem Körper verwachsen, lag die Winchester in seiner Hand. Larry traf dreimal ins Schwarze. Da brauste der Jubel auf. Er wurde als Sieger ausgerufen und nahm aus der Hand des Bürgermeisters den silbernen Colt entgegen. Man beglückwünschte den PSA-Agenten, und Larry fühle die fremde, schwere Waffe in der Hand. Massives, handgearbeitetes Silber. Sogar der Griff des Colts bestand aus dem Edelmetall. Die Menschenmenge löste sich auf. Der Kampf war ausgetragen. Die Frau hatte aufgegeben. Mit einer solchen Wende hatte eigentlich niemand gerechnet. Der PSA-Agent verließ an der Seite der unterlegenen Araberin den Schießstand. Eigenartigerweise konnte Larry keinen besonderen Triumph dabei empfinden, daß er nun die legendä-
re Waffe in seinem Besitz hatte. Madame Hypnos Verhalten stimmte ihn mehr als nachdenklich. Es ängstigte ihn. »Was ist mit Ihrer Schwester, Shea? Was hat ihr Schicksal mit diesem Colt zu tun?« »Pierre«, murmelte sie mit schwacher Stimme. Sie war förmlich ausgelaugt. Man merkte ihr an, daß sie gewaltige Kräfte verbraucht hatte und ihr Organismus kurz vor dem Zusammenbruch stand. Offenbar hing das damit zusammen, daß sie zu oft hypnotische Visionen hatte entstehen lassen, um ihre Umwelt zu täuschen. »Er hat mich gezwungen. Er hat Clea in seine Gewalt gebracht und von mir verlangt, daß ich in die Staaten reise. Wir haben uns in Paris kennengelernt. Ich mußte meine Tournee unter einem Vorwand abbrechen. Pierre ist ein Mensch besonderer Art. In Wirklichkeit ist er kein Mensch mehr, Larry. Er lebt – und lebt doch nicht! Er ist ein Untoter! Seine große Furcht besteht darin, daß durch diesen Colt, mit dem die silbernen Kugeln abgefeuert werden können, seine Existenz ausgelöscht wird. Er hat mich erwählt, unter Druck gesetzt, um für ihn den Colt zu sichern. Ich hatte gehofft, bis zuletzt durchzuhalten. Nun muß ich erkennen, daß ich die Kraft nicht länger aufbringe. Ich bin nicht imstande, neue Träume entstehen zu lassen, um die zu täuschen, die mir gefährlich werden können. Ich mußte selbst meine Freunde in die Irre führen, um das Spiel zu spielen, das Pierre mir aufzwang. Helfen Sie mir, Larry! – Ich bitte Sie innigst darum …« »Was kann ich für Sie tun, Shea? Wo ist Pierre jetzt? Was führt er im Schild?« »Zusammen mit uns kam auch Clea hierher. Er hält sie an einem Ort des Grauens gefesselt. Als Pierre den Festplatz verließ – das war eine Warnung für mich. Er hat gemerkt, daß ich mich nicht strikt an die Abmachungen gehalten habe. Cleas Leben ist aufs höchste gefährdet. Ich durfte nicht zulassen, daß Sie gewinnen. Der silberne Colt durfte niemand anderem als mir in die Hände fallen. Ich habe versagt.«
All die Dinge, die sie die ganze Zeit über bedrückten, sprudelten nur so aus ihr heraus. Larry Brent erfuhr, daß Shea den Colt in der einsamen Höhle in der Nähe des alten Friedhofes, wo zahlreiche Siedler der ersten Zeit bestattet worden waren, in Pierres Beisein ebenfalls begraben sollte. Der Silbercolt sollte ein für allemal aus dem Dasein der Menschen verschwinden, um Pierre von seiner Angst zu befreien. Und diese Angst war verständlich, wie Larry nun anfing zu begreifen. »Er war der Hersteller, und sein Ziel war es, dunkle Mächte, die sich ins Leben der Menschen schmuggelten, aufzuspüren und zu vernichten«, schloß Madame Hypno ihren Bericht. »Aber dann ist er umgeschwenkt. Die er ursprünglich bekämpfen wollte, zogen ihn auf ihre Seite. Er wurde selbst zum Dämon, zu einem Untoten, der sich von anderen bedienen und begleiten läßt. In seinem Schatten leben Vampire, Wiedergänger und Werwölfe. Er hat sie um sich geschart, denn er ist der Herr und Meister. Viele von ihnen sind hier in George-Village versammelt, um ihm beizustehen. Sie können ihm helfen -doch nur in der Nacht, wenn das Tageslicht ihre Körper nicht zerfressen kann. Der sich jetzt Pierre nennt, hat die Möglichkeit, eine höhere Stufe seiner untoten, dämonischen Existenz zu erreichen. Pierre steht unmittelbar davor, nicht nur von Zeit zu Zeit sich im Tageslicht zeigen zu können – er wird es ohne Einschränkung von Stund' an immer können. Voraussetzung ist, daß der Colt aus den Augen der Menschen verschwindet. Und nur der, der ihn geschaffen hat, kann ihn zurückfordern. Pierre – ist niemand anders als der Waffenschmied Billy Carthnee, der vor mehr als hundert Jahren den silbernen Colt angefertigt hat …« * Sein Schädel dröhnte.
Iwan Kunaritschew verzog das Gesicht. Mechanisch versuchte er mit der rechten Hand seinen Hinterkopf zu erreichen, um den Umfang der Verletzung abzutasten. Da merkte er, daß er gefesselt war. Kunaritschew wandte den Kopf. Den konnte er bewegen. Der Russe stellte fest, daß er sich im Innern einer kühlen, schummrigen Höhle befand. Das versickernde Tageslicht war kaum der Rede wert, das noch durch den fernen Eingang drang. Es dauerte eine geraume Weile, ehe die Augen von X-RAY-7 sich an die düstere Umgebung gewöhnt hatten. Was er aber dann sah, war nicht dazu angetan, seine Stimmung zu heben. In der Wand, gegen die er lehnte, gab es mehrere Nischen. Darin standen – Menschen. Sie wirkten bleich und leblos, wie ausgetrocknete Mumien, die jemand vergessen hatte. Wo befand er sich? Wie kam er hierher? Kunaritschew zermarterte sich das Gehirn. Er rekonstruierte noch mal all die Dinge, die sich vor seiner Bewußtlosigkeit ereignet hatten: Der Zusammenstoß mit dem rätselhaften Mann, der sich Pierre nannte. Der schlug ihn nieder und brachte ihn hierher. Aus welchem Grund? Die Augen des Russen waren weit aufgerissen, als könnten sie nur auf diese Weise alles in sich aufnehmen, was sich ihnen bot. In einer Nische stand ein junger Mann, nebenan eine schlanke, blonde Frau mit Blue-Jeans und einem hauteng anliegenden Pulli. Diese Menschen schienen aus Wachs gegossen. Etwas weiter links waren andere Nischen, die in diesem Felsen auf natürliche Weise entstanden sein mußten. Auch darin waren Menschen, Kunaritschew glaubte seinen Augen nicht trauen zu dürfen. Er schluckte. Das da drüben war doch niemand anders als William Perkins und seine Frau Barbara! Wie kamen die hierher? Noch während Fragen über Fragen über ihn hereinstürmten,
vernahm er ein Geräusch. Schritte, die sich näherten. Neben ihm wuchs wie ein Pilz aus dem Boden eine hochaufgerichtete, dunkle Gestalt. Der rätselhafte Begleiter Madame Hypnos! Er lachte leise und sarkastisch. »Man sollte im Leben niemals allzu neugierig sein«, sagte er mit kühler, gelassener Stimme. »In den meisten Fällen führt das zu nichts …« »Was soll der Unfug? Warum halten Sie mich hier gefangen?« »Ganz einfach, Mister … Ich kann jeden gebrauchen. Besonderes Interesse hab' ich an meinen Feinden. Die mache ich dann stets zu meinen Freunden. Allerdings ist noch nicht der Zeitpunkt gekommen, wo meine anderen Freunde dies bewerkstelligen können. Ich gebe mich mit solchen Kleinigkeiten schon lange nicht mehr ab. Alle, die Sie hier sehen, werden erwachen, wenn die Nacht hereinbricht. Dann können sie wieder leben, dann werden sie auf das Blut ihrer Mitmenschen angewiesen sein. Sie werden dann ganz automatisch einer von uns werden, und die Nacht wird von Stunde an Ihr Metier sein. Und von der gleichen Sekunde an werden Sie auf Gedeih und Verderb mit meinem eigenen Leben verflochten sein. So will es das Gesetz der Finsternis …« Pierre wollte dem noch etwas hinzufügen, doch er wurde unterbrochen. Ganz deutlich war draußen das Geräusch eines sich nähernden Wagens zu hören. »Aha«, sagte Pierre unvermittelt. »Das Spiel ist vorbei. Nun kann sich erfüllen, wonach ich seit fast einem Jahrhundert vergebens strebe. Madame Hypno kommt, um unter meiner Aufsicht einen unheilvollen Irrtum zu begraben, den ich mal in meinem Leben begangen habe …« * Madame Hypno hielt unmittelbar neben dem schokoladen-
braunen Chevrolet-Caprice-Station-Wagon. Das Gesicht der schönen Araberin wirkte wie aus einem Marmorblock gemeißelt. Kein Muskel bewegte sich darin, und nur die dunklen, mandelförmigen Augen schienen zu leben. Sie machte einen ruhigen, gefaßten Eindruck. Doch in ihrem Innern brodelte ein Vulkan. Beherzt griff sie nach dem Tuch neben sich, in dem ein länglicher Gegenstand eingewickelt war. Die Araberin verließ den Wagen und lief den Mittelweg des Friedhofes entlang. Noch immer regnete es leicht, und die Dunkelheit hatte zugenommen. Der Wind in dieser abgelegenen Gegend verursachte seltsam raunende Geräusche, die sich anhörten, als ob sich Unsichtbare leise miteinander unterhielten. Shea Sumaile, wie Madame Hypno mit ihrem zivilen Namen hieß, versuchte die gespenstigen Hände aus den Gräbern zu ignorieren. Ganze Arme reckten sich wie dicke, ausgetrocknete Stämme einer verblühten Pflanze in den grauen, regnerischen Himmel. Was hier abseits George-Villages geschah, bewies eindeutig, daß Pierre alias Bill Carthnee sich weiter in die Netze der Mächte der Finsternis verstrickt hatte. Der war nicht mehr nur Herr und Meister einiger Untoter und Wolfsmenschen, die gemeinsam mit ihm eine Lebensgruppe bildeten – er war bereits imstande, die Toten aus ihren Gräbern zurückzurufen, um sie zu seinen Dienern zu machen. Unwillkürlich beschleunigte Madame Hypno ihren Schritt. Sie begann plötzlich zu rennen und lief zu dem dunklen Eingang in der hintersten Ecke des alten Gemäuers, das gegen die Felswand stieß. Sie war nicht das erste Mal hier. Pierre, ihr unheimlicher Befehlsgeber, hatte sie nach ihrer gemeinsamen Ankunft hierher geführt, um ihr klipp und klar zu zeigen, worum es ihm ging. Und hier an diesem Ort, in einer kleinen Seitenhöhle, wurde ihre Schwester Clea gefangengehalten, um
Sie, Shea Sumaile, gefügig zu machen. Von vornherein ließ der dämonische Carthnee sie wissen, daß es sinnlos war, ihn mit hypnotischen Visionen zu bombardieren. Bei ihm wirkten sie nicht. Shea Sumaile hatte es heimlich ausprobiert. Sie machte die Erfahrung, daß der Unheimliche auf hypnotische Bilder nicht ansprach. Dann stand die Hypnotiseurin vor dem Eingang. Ihr Herz schlug wie rasend. Unwillkürlich umklammerte sie stärker den Colt, um den das Tuch gewickelt war. Neben dem Eingang waren mehrere Steine aufgeschichtet, die alle unverwittert waren. Zu dem ehemaligen Schutzraum der ersten Einwohner von George-Village gehörte diese, über einen schmalen Schacht zu erreichende, kleinere Höhle. Madame Hypno betrat die alte Höhle. Die Schritte der Frau hallten hohl durch das Innere des Gewölbes und wurden als mehrfach verstärktes Echo zurückgeworfen. Der großgewachsene Mann kam ihr entgegen. »Du hast's also geschafft«, sagte er hart. »Dann komm' mit und erfüll' den letzten Teil des Planes …« »Erst will ich Clea sehen! Vorher werde ich nichts tun …« »Auf einmal so mißtrauisch? Es besteht doch gar kein Grund dazu, meine liebe Shea …« »Nennen Sie mich nicht ›meine liebe Shea‹«, reagierte sie mit scharfer Stimme. »Ich habe das Spiel satt. Hier ist außerdem niemand, dem wir Sand in die Augen streuen müßten.« »Da irren Sie sich, meine liebe Shea«, sagte er mit ausdrücklicher Betonung. »Wir haben Besuch. Da ist mir doch tatsächlich jemand nachgegangen. Das hab' ich nicht so gern, wie Sie wissen …« Sie kamen an dem auf dem Boden liegenden Iwan Kunaritschew vorbei. Shea Sumailes Lippen bildeten einen harten Strich in ihrem angespannten Gesicht. Sie wollte etwas sagen, aber unterließ es. Der Untote Billy Carthnee führte sie an den reglosen Gestal-
ten seiner Diener vorbei, die in weniger als einer Stunde zu ihrem gespenstigen Leben erwachen würden, um die Nacht zu verunsichern und Menschen als ihre Opfer zu erwählen. Hinter einem Felsvorsprung im absolut Finsteren hockte auf dem nackten Boden ein junges Mädchen. Wie Iwan Kunaritschew war es gefesselt und wirkte bleich und erschöpft. »Sie hat begonnen, ihr Essen zu verweigern«, sagte Pierre alias Billy Carthnee. »Sag' ihr, daß das dumm von ihr ist. Damit nützt sie niemand. Am wenigsten sich selbst.« »Clea!« entrann es tonlos den Lippen der Hypnotiseurin. Madame Hypno ging in die Hocke und lächelte ihrer Schwester zu. Clea war von ebensolcher Schönheit wie ihre große Schwester Shea. Sie wirkte noch graziler, und ihr Haar war länger als das Shea Sumailes. Die Gefesselte war höchstens achtzehn oder neunzehn. Seit vierzehn Tagen befand sich Clea Sumaile in der Gewalt des Untoten, und nur Madame Hypno war in der Lage, das Schicksal ihrer Schwester zu verändern. »Gib sie frei! Nimm ihr endlich die Fesseln ab!« »Erst, wenn du den Colt dort vergraben hast, wo ich es dir angegeben habe.« »Ich möchte, daß du ihre Fesseln löst. Gib sie endlich frei! Laß sie hinaus in das Leben!« »Okay«, nickte der Untote. »Dann soll sie hinausgehen. Ich hab' nichts dagegen. Fünf Minuten früher oder später – was ändert das schon.« Er lockerte die Fesseln, und Shea Sumaile war ihrer Schwester auf die Beine behilflich. Clea war schwach und hatte Mühe, um zu stehen. »Geh'«, flüsterte Madame Hypno freundlich. »Ich komm' gleich nach. Dann wird alles wieder gut werden. Ich werde dir helfen zu vergessen, was du hier erlebt hast.« Clea nickte schwach. Sich an der Felswand entlangtastend,
lief sie, einen Fuß vor den anderen setzend zum Höhlenausgang. Madame Hypnos Widersacher führte sie zu einem Loch im Felsboden, um das mehrere Steine aufgeschichtet waren. »Nimm das Tuch ab, laß mich den Colt sehen und wirf ihn dann in dieses Loch!« Shea Sumaile tat, wie ihr geheißen wurde. Als Shea das Tuch langsam von der Waffe löste, blieb sie ganz ruhig und gelassen. Dann war der Colt zu sehen. Der Mann an ihrer Seite gab einen wilden Aufschrei von sich, als er den silberblinkenden Gegenstand sah. »Das ist nicht der Colt, der dem Sieger winkte!« brüllte er, daß es schaurig durch die Höhle hallte. Er bückte sich, griff danach und warf die Waffe dann wütend gegen die Felswand. Der Colt platzte auseinander und schepperte zu Boden. »Ein Spielzeug! Du hast es gewagt, mir eine Nachbildung der Waffe zu bringen. Das ist dein Tod, Verräterin!« Shea Sumaile wußte, was kam. Sie warf sich blitzschnell herum. Ihr Gegner wollte sich wie eine Raubkatze auf sie stürzen. Da krachte der erste Schuß. Eine kurze Feuerzunge leckte durch die Dunkelheit. Der Untote fuhr zusammen und schlug beide Hände vor die Brust, als das Projektil sich in seinen Körper bohrte. Dann erfolgte ein zweiter Schuß. Auch diese Kugel traf. Noch immer stand Pierre alias Billy Carthnee. Mit irren Augen, in denen der Wahnsinn flackerte, suchte er nach dem Schützen. Der stand zwischen Eingang und dem gefesselten Iwan Kunaritschew. Ein dritter, ein vierter Schuß folgten dicht hintereinander. Sie trafen ihr Ziel. Larry Brent, der sich auf dem Rücksitz des Fahrzeuges, mit dem Madame Hypno hierher gefahren war, versteckt hatte, war heimlich in die Höhle getreten, um den Plan, den er mit der
Araberin abgesprochen hatte, konsequent durchzuführen. Billy Carthnee war kein Mensch mehr. Dämonisches Leben beseelte einen Körper, der seit mehr als hundert Jahren schon verwest sein mußte. Wenn Shea Sumaile es richtig wußte, dann konnten nur sieben silberne Kugeln jenem Verirrten endgültig die ewige Ruhe geben. X-RAY-3 ließ sich nicht auf das geringste Risiko ein. Siebenmal drehte das Magazin des Colts sich. Siebenmal züngelte die Mündungsflamme aus dem Lauf, siebenmal trafen die Kugeln. Da brach der Untote wie vom Blitz gefällt zu Boden. Sofort war Larry Brent neben der am Boden kauernden Araberin, deren Atem flog. »Sie haben es geschafft, Brent«, kam es ungläubig über ihre Lippen. »Allein wäre es mir nicht möglich gewesen«, erwiderte XRAY-3. »Sie haben ihn abgelenkt, so daß er nicht gemerkt hat, wie der Hase lief.« Jetzt erst ließ Larry die Taschenlampe aufflammen. Im Lichtstrahl sahen sie alle die unheimliche Veränderung, die mit dem Toten vorging. Nicht ein einziger Blutstropfen quoll aus den Einschußlöchern des Körpers. Pierre alias Billy Carthnee hatte seit einem Jahrhundert kein Blut mehr in sich – und doch hatte er gelebt! Es war sein Ziel gewesen, die einzige Waffe, die ihn zur Strecke bringen konnte und die durch seine eigenen Hände entstanden war, verschwinden zu lassen, um dieses unwerte Leben fortzuführen. Ein Leben, das nur eixstieren konnte, wenn andere Menschen als Opfer herhielten … Der Körper des Untoten zerfiel wie eine an Luft geratene Mumie. Braun-graue, papierdünne Reste blieben zurück, die raschelnd auseinanderbröselten, wenn man sie nur berührte. Was von Billy Carhtnee übrigblieb, sah aus wie trockenes,
welkes Laub, das jemand zwischen den Fingern zerrieben hatte. Sie verließen die Höhle des Grauens. Larry Brent, Madame Hypno und deren Schwester, Iwan Kunaritschew … Zurücklassen mußten sie die anderen, die wie Billy Carthnee seit langem oder kurzem Tote waren und nun mit dem endgültigen Verlöschen der Existenz dieses »Herrn und Meisters« auch ihren Frieden gefunden hatten. Das waren Tom Serridge und seine Begleiterin Jane, das waren William und Barbara Perkins, das waren John Hawker und der alte Mister Steven McDolan aus George-Village. Doc Meiler, den Iwan Kunaritschew später holte, untersuchte die Leichen und kam zu einer erstaunlichen Feststellung. Nicht eine von ihnen hatte einen einzigen Tropfen Blut in den Adern. Mit dem Einbruch der Dunkelheit hätte nur noch ihr unwahres Leben begonnen, das sie nur erhalten konnten, wenn sie auf Jagd nach Menschen gingen, um sich deren Blut einzuverleiben. Sie waren Vampire, Schatten der Nacht, an die niemand glaubte – und die es doch gab. Shea Sumaile hatte ihren Arm um die Schultern ihrer grazilen Schwester gelegt und ging gemeinsam mit Larry, Doc Meiler und Iwan Kunaritschew zu den am Friedhofstor stehenden Fahrzeugen zurück. Auch die letzten Geheimnisse waren für X-RAY-3 gelöst. Madame Hypno hatte ihm anvertraut, daß sie verantwortlich zu machen war für den visionären Regen, den Sturm und die entwurzelten Bäume auf der Straße, die Larry veranlaßten, sein Fahrzeug in der letzten Nacht herumzureißen. Sie hatte die Träume geschickt, die wie Schatten in das Leben anderer Menschen eingriffen. Auch als Larry sich im Zimmer John Hawkers aufhielt, hatte sie dafür gesorgt, daß er die Wahrheit nicht erkannte. »Pierre« alias Billy Carthnee hatte diese Aktion von
ihr erwartet, um nicht vorzeitig seine wahren Pläne aufdecken zu müssen. Beeinflußt wurden die McDolans durch die visionären Träume der Araberin. Ein letzter Blick auf den gespenstigen, düsteren Friedhof … Die Arme der Toten, die aus den flachen Grabhügeln herausgestoßen waren, waren wieder verschwunden. Was immer sich dort in der Erde rührte, würde nun nicht mehr gerufen werden können. Mit dem endgültigen Tod Billy Carthnees waren die anderen Untoten, die mit ihm auf Gedeih und Verderb verbunden waren, ebenso unfähig zu Aktionen geworden wie jene Toten, zu deren Herrn er sich hatte erheben wollen … Kunaritschew fuhr Shea Sumailes Wagen. Larry saß neben der Araberin und deren Schwester hinten im Fond. Es war ein Pontiac Grand Prix neuesten Baujahres. Clea blickte durch die Scheibe und begann zu lächeln. »Ich bin froh, daß alles vorbei ist, Shea«, flüsterte sie und atmete tief durch. »Und sieh nur die vielen, schönen Blumen dort drüben. Ist das nicht herrlich?« Clea deutete in die angegebene Richtung. Damit zeigte sie genau auf den alten, unheimlichen Friedhof, wo die Toten sich hatten herausgraben wollen. Shea Sumaile schickte auch ihrer Schwester die Schattenträume. Zu einem guten Zweck! Das Mädchen sollte nicht sehen, wie gräßlich dieser Totenacker wirklich war … ENDE