Robert Girardi
Madeleines Geist
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Ein junger Historiker auf der Suche nach Liebe. Ein h...
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Robert Girardi
Madeleines Geist
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Ein junger Historiker auf der Suche nach Liebe. Ein hartnäckiger Priester auf den Spuren einer Heiligen. Ein ruheloser Geist voll Sehnsucht nach Erlösung. Und eine Südstaatenschönheit, die der Spiegel all dieser Träume ist. ISBN: 3-442-43966-3 Original: Madeleine’s Ghost Aus dem Amerikanischen von Michaela Link Verlag: Goldmann Erscheinungsjahr: 1998 Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagfoto: AKG, Berlin
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Ned Conti ist ein junger Historiker mit einer gehörigen Portion Weltschmerz. Sein Promotionsstipendium läuft aus; die einzige Frau, die er je liebte, hat ihn schon vor einiger Zeit verlassen; und zu allem Überfluß treibt auch noch ein Poltergeist in Neds Wohnung in Brooklyn sein Unwesen - eine Tatsache, die den eingefleischten Rationalisten schier um den Verstand bringt. Doch dann findet Ned Arbeit bei Pater Rose in St. Basil: In der Krypta der Kirche soll er einen Wust von Aufzeichnungen daraufhin durchsehen, ob sich darunter geeignetes Material zur Seligsprechung der 1917 verstorbenen wundertätigen Nonne Januarius befindet. Eine gefährliche Reise in die Vergangenheit beginnt. Dem Tod nahe, kommt Ned schließlich einem alten Familiengeheimnis seiner großen Liebe Antoinette auf die Spur, das in mysteriöser Weise mit dem Lebensweg von Schwester Januarius verstrickt ist… Ein zauberhafter Roman über alte Leidenschaften und junge Lieben, magische Momente und die unvergängliche Macht der Menschlichkeit.
Autor Robert Girardi studierte Malerei an der University of Virginia in Charlottesville, bevor er sich vor allem dem Schreiben widmete. Der ehemalige James-MichenerStipendiat lebt in Washington, D.C. »Madeleines Geist« ist sein erster Roman.
Erst die Geschichte lehrt uns hoffen. ROBERT E. LEE
TEIL I EINE HEILIGE FÜR BROOKLYN
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teine fallen von der Decke meiner Wohnung. Erst einer, dann zwei, dann Dutzende. Ich suche Zuflucht unter dem Küchentisch, während sie ringsum tanzen und springen, den Toaster zerbeulen und das alte Linoleum auf dem Fußboden ramponieren. Die Steine fallen wie ein Hagelschauer, was hier in meiner Küche etwas so Absurdes ist, daß ich am liebsten lachen würde. Der erste Stein schlug vor fünf Minuten mit einem großen Plumps auf der Armlehne des orangefarbenen Naugahyde-Sessels auf, bevor er mir in den Schoß rollte. Er war eiförmig, glatt und feucht, als käme er geradewegs vom Grund des Flusses. Ein zweiter Stein traf den Fernseher und fiel hinter die Gasheizung im Kamin. Ich zählte noch fünf weitere, wie warnende Trommelschläge, dann rannte ich zum Tisch. Jetzt hüpfen und springen sie mit großem Radau überall herum. Sie scheinen aus dem Nichts zu kommen. Es gibt keine Löcher in der Decke; die Steine schießen einfach so unter dem Deckenfries hervor und fallen zu Boden, als kämen sie aus großer Höhe. Der ganze Spuk dauert etwa zehn Minuten. Ich warte noch fünfzehn Minuten, bevor ich mich vorsichtig wieder unter dem Tisch hervorwage. Die glatten Steine liegen haufenweise in der Küche, im Wohnzimmer auf dem Teppich, auf dem Sofa und auf dem Fernseher, der keinen Schaden genommen zu haben scheint. Im Bad und im Schlafzimmer liegen keine Steine, aber als ich die Tür von Molesworths ehemaligem Zimmer öffne, erwartet mich dort der größte Steinhaufen von allen. 5
Ich brauche ungefähr anderthalb Stunden, um alle Steine in den Garten zu schaffen. Dieses Unternehmen erfordert acht oder neun Ausflüge mit einem vollen Koffer, den ich im hintersten Winkel des Gartens unterhalb der verrotteten Weinlaube leere. Da liegt jetzt ein ganz hübscher Berg, genug, um damit einen kurzen Gehweg zu bepflastern. Entnervt versetze ich dem Steinhaufen einen Tritt und gehe wieder nach oben, um auf dem Sofa zusammenzubrechen. Das ist jetzt das zweite Mal in den letzten drei Wochen.
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s ist ungefähr zwei Uhr nachmittags, Dienstag, Mitte Juni, die Sonne scheint mir heiß auf den Rücken, und der Himmel sieht verdorrt und bräunlich aus. Mein Hemdkragen ist schweißnaß. Nur einen Häuserblock von hier entfernt hört man die Manhattan Bridge in der Hitze bedenklich knarren, ihre Stützpfeiler altersgeschwärzt und gewaltig wie die Pyramiden. Ich trage ein wenig sommerliches Tweedjackett, eine olivgrüne Kordhose, ein schweres, taubenblaues Baumwollhemd und eine Krawatte in den Farben irgendeines Regiments - das einzig präsentable Outfit in meinem Kleiderschrank. Ich bin rasiert und nüchtern und auf dem Weg zu Pater Rose im Pfarrhaus der St.-Basil-Kathedrale in der Jay Street in Brooklyn. Eine Frau mit breitflächigem Gesicht und dicker Brille kommt vorsichtig an die Tür und preßt ihre Nase gegen das Guckloch, wie ein Tiefseetaucher, der aus einem altertümlichen Messinghelm auf den Boden des Ozeans späht. «Ich möchte den Priester sprechen», sage ich. «Der Pater empfängt im Augenblick keine Besucher. Er ist beschäftigt», sagt sie und macht sich daran, das Guckloch wieder zuzumachen. «Moment, ich habe einen Termin.» Die Frau runzelt die Stirn und mustert mich von oben bis unten. Mich beschleicht der Eindruck, daß die Streifenkrawatte nicht ganz ihr Fall ist. Dies ist ein schlechtes Viertel, im Osten von denselben Sozialbauten überragt, die mein eigenes heruntergekommenes Viertel 7
gegen Süden abschließen. Schließlich nickt sie, schiebt den Riegel beiseite und öffnet die Tür. Ein gräßlicher Geruch erfüllt solche Häuser - Pfarrhäuser, Kasernen, Häuser, die ausschließlich von Männern bewohnt werden: Ammoniak, gekochter Kohl und lange, schreckliche Sonntagabende ohne den Klang einer weiblichen Stimme. Wir gehen durch einen schmalen Korridor und eine Treppe hinauf; an den düster getäfelten Wänden hängen verblaßte Drucke aus dem 19. Jahrhundert: Heilige, Jesus beim Gebet im Garten von Gethsemane, Apostel, die hinter ihm im Gras schlafen. Dann betreten wir einen kleinen Warteraum, in dem zwei alte Kirchenbänke stehen und einige durchgesessene Sessel. Auf einem Beistelltischchen liegen vergilbte Ausgaben des Catholic Digest und der Schönsten Geschichten für Kinder. Ich entscheide mich für letztere und mache es mir mit den Abenteuern von Goofus und Gallant gemütlich, während die Frau geht, um den Priester vorzuwarnen. Als ich kurz darauf in sein Zimmer geführt werde, übt Pater Rose sich gerade im Putten. Er steht am Rand eines Grüns aus Kunstrasen, und das Loch ihm gegenüber ist eine komische Konstruktion, die aussieht wie ein großes Gänseblümchen aus Aluminium. «Pater Rose?» sage ich. «Ich bin Ned Conti. Ich habe gestern angerufen…» Das ist nicht der rechte Augenblick, um ihn zu stören. Der Priester, der meine Gegenwart kaum wahrnimmt, puttet zu Ende. Der Ball verfehlt das Loch und rollt nach links unter einen Stuhl. Der Priester stößt einen kleinen, erstickten Schrei aus und läßt seine Schultern sinken. Während ich darauf warte, daß er sich erholt, sehe ich mich im Zimmer um. Es ist hell und freundlich, frei von 8
der religiösen Düsternis, die das restliche Pfarrhaus erfüllt. Golftrophäen stehen staubgeschützt hinter Glas auf der einen Seite des Raumes. Signierte Fotos von Jack Nicklaus und Arnold Palmer flankieren das abstrakte Kruzifix aus den Sechzigern, das neben einem Fenster hängt, von dem aus man das asphaltierte Handballfeld auf der anderen Straßenseite sehen kann. «Das Putten ist eine Gottesgabe», sagt der Priester müde und wischt den Kopf seines Putters mit einem Taschentuch ab. Er ist ein hagerer Typ mit einem langen Gesicht, und er sieht aus wie eine Art liebenswürdiger Charlton Heston. «Es ist wie mit der Gnade. Das einzige beim Golf, was man nicht wirklich lernen kann. Man muß es eben im Gefühl haben.» Er deutet mit dem Putter auf ein geblümtes Sofa. Ich setze mich, und er läßt sich mit der mühelosen Eleganz eines Mannes, der sein ganzes Leben auf dem Golfplatz verbracht hat, auf der Kante seines Schreibtisches nieder. Sein Gesicht ist sonnengebräunt, seine Handgelenke übersät mit Sommersprossen. Er schlägt die Beine übereinander, und ich kann sehen, daß er teure, zweifarbige Golfschuhe trägt (die Spikes abgeschraubt), obwohl seine schwarze Soutane fadenscheinig ist und von einem einfachen braunen Gürtel mit viereckiger Schnalle zusammengehalten wird - ganz nach Art der Jesuiten, die einst die strenge Schmucklosigkeit ihrer priesterlichen Gewänder bis an die Grenze der Eitelkeit kultivierten; schließlich gibt es nichts Edleres als schlichtes Schwarz. «Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Conti?» fragt Pater Rose. «Ich komme wegen Ihrer Anzeige im U.S. Catholic Historian», sage ich. «Historische Forschung. Das ist mein Fach. Ich bin Geschichtswissenschaftler. Haben Sie viele Bewerbungen bekommen?» 9
Pater Rose betrachtet seinen Putter. «Sind Sie Golfspieler?» Ich bekenne, daß ich keiner bin. «Ich bin danach süchtig.» Er nickt in Richtung Trophäenvitrine. «Vielleicht zu süchtig.» Plötzlich stößt er sich vom Schreibtisch ab und läuft im Zimmer hin und her, hält dabei den Putter mit einer Hand hinterm Rücken - eine Pose, die ich sofort als charakteristisch erkenne. «Letztes Jahr», sagt er, «habe ich mir mit Erlaubnis des Bischofs einige Monate freigenommen, um an der PGATour teilzunehmen. Wissen Sie, auf dem College war ich der beste Golfspieler, aber in unserer Familie wird traditionellerweise der jüngste Sohn Priester. Hat gut fünfundzwanzig Jahre gedauert, bis ich dann wieder an einem Wettbewerb teilnahm. Im großen und ganzen habe ich mich für einen alten Kerl gar nicht so schlecht gehalten, vielleicht, weil ich so klug war, jeden Ball einem anderen Heiligen zu widmen. Nach Abzug der Unkosten ist mir ein Nettogewinn von fünftausendsiebenhundert Dollar geblieben. Diese Preisgelder habe ich für ein besonderes Forschungsprojekt beiseite gelegt.» «Aha», sage ich und versuche so zu klingen, als brauchte ich das Geld eigentlich gar nicht. «Was für ein Projekt ist das denn?» «Es hat eine große geistige Bedeutung für die Zukunft Brooklyns. Das ist alles, was ich im Augenblick dazu sagen will.»
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ir gehen hinunter auf den Kirchhof, um in der Hitze zwischen den Gräbern spazierenzugehen. Pater Rose beschäftigt sich einige Minuten lang schweigend mit meinen Referenzen, den Putter unterm Arm, die Lippen voller Konzentration geschürzt - eine Haltung, die einem Mann, der gewichtige Angelegenheiten bedenkt, wohl ansteht. «Bachelor of Arts, Loyola University of the South», liest er in der nachmittäglichen Friedhofshitze aus meinem Lebenslauf vor. «In New Orleans soll es ja ein wenig wild zugehen, wie man hört. Es heißt, die Jesuiten lassen es sich da unten wohl sein.» Ich zucke unbestimmt die Achseln. «Kennen Sie die Stadt gut?» Er sieht zu mir herüber und schützt mit der Hand die Augen vor dem Sonnenlicht. «Es ist lange her», sage ich. «Aber ich denke, ich würde mich immer noch zurechtfinden.» «Ich kann Ihnen ruhig sagen, daß einige Aspekte meines Projekts mit New Orleans zu tun haben. Eine gewisse Ortskenntnis könnte sich als nützlich erweisen.» «Dann bin ich der Mann, den Sie suchen», sage ich. Er ignoriert diese Feststellung und wendet sich wieder meinem Lebenslauf zu. «Katholische Grundschule, katholisches Gymnasium… und jetzt Promotionskandidat in französischer Geschichte an der Georgetown University. Tja, eine exzellente katholische Erziehung, Mr. Conti.» Er faltet mein Curriculum vitae zusammen und steckt es in eine Tasche seiner Soutane. «Sie müssen ein Mann von festen Überzeugungen sein.» 11
«Ich gebe mir alle Mühe, Pater», sage ich und bedenke ihn mit einem routinierten breiten Lächeln. Genaugenommen legt meine Erziehung eher Zeugnis für den Glauben meiner Eltern ab als für meinen eigenen. Ich habe die katholischen Schulen gehaßt. Die Nonnen haben mich an den Haaren gezogen und mit Linealen geschlagen. Meine Mutter hat mich gezwungen, die zwölfte Klasse durchzustehen, danach erhielt ich katholische Stipendien. «Und wie geht es mit Ihrer Doktorarbeit voran?» «Die ist fast fertig», lüge ich. «In einem Monat schicke ich sie an den Promotionsausschuß.» In Wahrheit bin ich am Anfang gut zurechtgekommen, dann aber irgendwo vom Weg abgeirrt. Seit neun Monaten habe ich meine Doktorarbeit - «Tschakos und Epauletten: Militärmode und Militärdoktrin im Premier Empire» nicht mehr angerührt. Hinter dem großartigen Titel verbirgt sich ein dicht bekritzelter Papierstoß voller halbgarer Thesen zur Wirkung phantastischer Uniformen auf die Entwicklung imperialistischer Vorstellungen im napoleonischen Frankreich. Das Ganze liegt als wüster Haufen von Fußnoten, Kaffeeflecken, Krümeln und Zigarettenstummeln auf dem Küchentisch in meiner Wohnung. Jeden Abend nehme ich mir vor, wieder damit anzufangen, und jeden Abend finde ich einen anderen Grund, es nicht zu tun. Zuerst war es die nervenaufreibende Anwesenheit meines Ex-Zimmergenossen Molesworth - eines lauten, unausstehlichen Lumpen von einem Louisianer mit schlechten Manieren und gewaltigem Bierbauch. Jetzt gebe ich die Schuld diesen merkwürdigen Störungen, die seit seinem Auszug in meinem Apartment vorgefallen sind; Störungen, die ich nur den Taten eines Poltergeistes zuschreiben kann. Ich bin ein vernünftiger Mensch, aber 12
wie sonst soll man sich von der Decke fallende Steine und andere Absonderlichkeiten erklären? Es ist mir unmöglich, mich inmitten dieses Spuks auf meine Arbeit zu konzentrieren. Spuk. Das ist das einzige Wort, das mir zu dem schrecklichen, erdrückenden Gefühl einfällt, das in meinen Räumen Einzug gehalten hat. Man hat mir sechs Jahre gegeben, um meine Doktorarbeit fertigzustellen und vor den Promotionsausschuß in Georgetown zu treten. Die Zeit läuft ab; es bleiben mir kaum noch sechs Monate. Vielleicht - wenn der Geist verschwände? Ich überlege, ob ich Pater Rose gegenüber den Spuk erwähnen soll. Er könnte vielleicht etwas tun, einen Exorzismus arrangieren, falls man so etwas heute noch macht. Aber ich verwerfe die Idee wieder. Zweifellos schlechter Stil, bei einem Vorstellungsgespräch über Geister zu diskutieren. Wir folgen einem holprigen, mit Steinplatten ausgelegten Pfad zwischen den Gräbern und gelangen zu einem kunstvollen, von einem Obelisken aus schwarzem Marmor gekrönten Grabmal, das nicht so recht zu den bescheideneren Grabsteinen seiner Umgebung passen will. Sackgasse. Auf dem Sockel erkenne ich eine französische Inschrift, dann machen wir wieder kehrt. Schließlich setzen wir uns auf eine flache Gedenktafel am Tor, und Pater Rose schlägt mit seinem Putter nach dem Unkraut zwischen den Steinen. Die an die Tillary Street grenzende Mauer ist mit Glasscherben und Stacheldraht ausstaffiert. Ein Flugzeug dröhnt am heißen Himmel, nimmt im Sinkflug Kurs auf den John-F.-Kennedy-Flughafen. «Jede Nacht höre ich Gewehrschüsse», sagt er nach einer Weile, und seine Stimme klingt müde. «Letztes Jahr haben sich zwei schwarze Jungen von höchstens zwölf Jahren auf den Kirchstufen eine Schießerei mit Maschinenpistolen geliefert, genau wie in einem 13
Gangsterfilm. Einer von ihnen ist in meinen Armen gestorben. Die Blutflecken auf dem weißen Marmor sind immer noch da. Und dann kommen die jungen Mädchen aus den Decateur-Wohnblocks zu mir, um Babys taufen zu lassen, die keine Väter und keine Namen haben. ›Bist du katholisch?‹ frage ich. Sie sind nicht katholisch, kennen kein einziges Gebet und haben nur vage mal von Gott gehört. Ich taufe ihre Babys klammheimlich, was soll’s? Aber die Situation ist tragisch. Überall um uns herum Unwissenheit und Laster und Armut. Es scheint keine Lösung zu geben bis auf die eine, die Gott für uns alle am Ende bereithält.» Er verstummt und lehnt sich auf seinen Putter wie ein alter Soldat. Unablässig dröhnt in der Ferne der Verkehr auf dem Brooklyn-Queens-Expressway. «Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Mr. Conti?» «Nur zu, Pater», sage ich. «Nach all diesen Jahren auf katholischen Schulen glauben Sie da an Gott?» Er scheint den Atem anzuhalten, während er auf meine Antwort wartet. Ein schwaches Licht flackert in seinen Augen auf. Er hat mich überrumpelt. Wie soll man auf die Frage lügen? Ich weiß nicht, was ich sagen soll. «Manchmal», bringe ich schließlich heraus. Der Priester will mehr. Ich schüttle den Kopf. Um ehrlich zu sein, begegnete ich bis vor kurzem spirituellen Angelegenheiten mit zynischem Skeptizismus. Ich glaubte an nichts, was ich nicht sehen konnte. Der Geist in meiner Wohnung hat da eine grundsätzliche Änderung bewirkt. Es ist zwar immer noch schwer, die Existenz Gottes aus der Erscheinung eines einzigen Phantoms abzuleiten, aber schon ein Geist könnte auf ein ganzes unsichtbares 14
Universum von Geistern, Dämonen, Heiligen und Wundern hindeuten. Der Gedanke hat für mich etwas Erschreckendes. Ich ziehe den Urknall vor, die gasartigen Wolken von Elektronen und Protonen, die urzeitlichen Aminosäuresuppen. Schließlich legt Pater Rose eine Hand auf meinen Arm. «Ich glaube, ich verstehe Ihr Zögern», sagt er freundlich. «Gott ist für die meisten von uns ein zu großer Gedanke. Wie kann man zu einem Wesen beten, das man sich nicht vorstellen kann, einem Wesen, das überall und nirgends ist? Selbst Christus in seiner Makellosigkeit kann sehr einschüchternd sein. Aber denken Sie doch an die Fürsprache der Heiligen! Ein Heiliger ist ein menschliches Wesen, das sündigte und mit Schwierigkeiten kämpfen mußte und all das überwunden hat, um ganz in den Dienst Gottes zu treten. Was Brooklyn jetzt braucht, ist ein Heiliger. Ein Heiliger, der sich unsere Gebete anhört und bei Gott ein gutes Wort für uns einlegt.» Ich nicke und versuche, ein ernstes Gesicht zu machen, aber ich bin nicht so ganz sicher, worauf er hinauswill. Brooklyn braucht einen Heiligen. Ich brauche die Stelle, die im Catholic Historian annonciert ist. Ich bin jetzt seit fünf Monaten arbeitslos, total pleite und darauf angewiesen, zwischendurch mal ein oder zwei Tage in irgendwelchen Büros einen Aushilfsjob zu bekommen, den mir eine Agentur in Manhattan vermittelt - ich lege Akten ab, gehe ans Telefon, tippe mitunter ein paar Briefe. Demütigend für einen Mann meiner Qualifikation, einen Mann, der alle Kurse absolviert hat, die man für die Promotion braucht. Obwohl ich zu dem Schluß gekommen bin, daß Qualifikationen und eine Promotion in dieser Welt nur Verpflichtungen bedeuten. Einen Augenblick später erhebt sich Pater Rose mit einem Seufzer und streicht sich den Rock seiner Soutane 15
glatt. Er hat eine Verabredung mit zwei älteren Gemeindemitgliedern, denen er die Beichte abnehmen soll. Jeder, der heutzutage zur Beichte kommt, ist mindestens sechzig, erzählt er mir. Die Jungen, so scheint es, glauben nicht mehr an die Sünde. Wir gehen zusammen zu dem schweren, schmiedeeisernen Tor am unteren Ende des Kirchhofs. Er schiebt einen eisernen Riegel von der Dicke meines Handgelenks zurück und läßt das Tor zur Jay Street hin aufschwingen. Ein Bus tuckert vorbei, und wir werden von Dieselabgasen eingenebelt. Er schüttelt mir die Hand. «Sie haben meine Telefonnummer», sage ich hustend. Ich trete durch das Tor und bin schon halb auf dem Gehweg, als er mich zurückruft.
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eute abend ist der Geist eine atmosphärische Störung, ein Sturm am Horizont. Überall in meiner Wohnung finde ich, ein Fremder in meinen eigenen vier Wänden, seine Handschrift: Im Schrank sind Kleider von den Bügeln gerissen, auf meiner Kommode liegen Münzen, zu einem seltsam vertrauten, mondsichelförmigen Muster angeordnet, und die Möbel sind quer zu den Wänden gerückt worden. Die Kühlschranktür steht einen Spalt offen, Milch ist verschüttet, Käse an den Rändern vergammelt. Ich schlüpfe schnell in Shorts und T-Shirt und höre den Anrufbeantworter ab. Ich habe nicht die Absicht, lange zu bleiben. Mittlerweile bin ich fast nur noch zum Schlafen und Duschen hier. Der Geist überzieht meine Handflächen mit einer ungesunden Klebrigkeit, und ich kriege das große Schlottern. Ich brauche ein Gegenmittel: eine Nachricht von Antoinette. Alles würde anders aussehen, schon der Klang ihrer Stimme aus dem fernen New Orleans würde reichen. Antoinette, sage ich laut, Antoinette. Aber es ist eine nutzlose Beschwörung. Es sind keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Wir sind jetzt nur noch Freunde. Sie ruft nie an. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit nehme ich die Linie F nach Manhattan und betrinke mich auf der gewohnten Runde durch die Lower-East-Side-Spelunken und stolpere dann zur Abwechslung rüber nach Soho, wo ich in einer Weinbar eine blonde Frau kennenlerne, die an Geister glaubt. Sie ist Sachbearbeiterin bei Carstairs and White und nicht gerade häßlich, wenn man die Augen zusammenkneift. Nach etwa einem Dutzend Gläser eines 17
sanft prickelnden Pouilly-Fuissé ist sie betrunken genug, um mich mit nach Hause zu nehmen, und ich bin betrunken genug, um mitzugehen. «Es ist der Geist», erkläre ich. «Ich kann unmöglich heute nacht in meiner Wohnung schlafen.» Sie nickt verständnisvoll, und wir steigen in ein Taxi und fahren zu ihrer Eigentumswohnung in einem Hochhaus Ecke 93. Straße und Third Avenue. Es ist ein gut ausgestattetes Apartment im zweiundvierzigsten Stock mit einem Panoramafenster, das sich über die ganze Wand des Wohnzimmers erstreckt und einen Blick auf die Lichter der Stadt bietet. Nach kurzer, zwangloser Schmuserei auf der Couch genehmigen wir uns eine Portion mittelmäßigen Sex und ziehen dann zu einem Nachschlag vom selben Kaliber ins Bett um. Gegen Morgengrauen schlafe ich schließlich ein, glücklich darüber, dem Geist für eine Nacht entkommen zu sein. Aber dann träume ich, daß ich wieder in Brooklyn bin, und unsichtbare Hände tragen mich die Treppe hinauf in die Dunkelheit meiner Wohnung. Ich werde in die Küche gebracht und wieder an den Tisch gesetzt und gezwungen, mich umzusehen, und dort, vor dem Fenster, sehe ich eine formlose Wolke so voller Verzweiflung, wie eine Gewitterwolke voller Regen und Wetterleuchten ist. Dann bewegt sich etwas Weißes in der Wolke, und ein Paar Hände taucht auf, die weißen Hände einer Frau mit Ringen an allen Fingern, und Grauen erfüllt mich. Schweißgebadet wache ich auf und stelle fest, daß es kurz nach elf Uhr morgens ist und ich allein in der Wohnung bin. Ich stehe auf, ziehe mich an und finde einen Notizzettel und eine Visitenkarte neben einem Glas Orangensaft und einem butterbestrichenen, kalten Muffin auf dem Glastisch im Wohnzimmer. 18
«War schön gestern nacht», steht auf dem Zettel. «Ruf mich an. Wollte dich nicht wecken. Du findest schon allein raus.» Ich finde wirklich allein hinaus und trete mit dem Lift die Reise zweiundvierzig Stockwerke nach unten an. Die Straßen hier sind von auffälliger Sauberkeit. Ein paar Stunden lang streife ich durch die unvertraute Gegend, fühle mich schrecklich und verkatert und überlege, ob der Geist mir in das Bett einer Frau gefolgt ist, quer über den Fluß und dreiundneunzig Häuserblocks weit durch lichtüberflutete Straßen.
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igentlich hätte ich von Anfang an wissen müssen, daß mit der Wohnung etwas nicht stimmt. Eine Freundin von mir, Chase Zingari, hat sie vor fünf Jahren für mich gefunden, und Chase ist eine merkwürdige junge Frau, die an Geister glaubt, an das zweite Gesicht und an dämonische Besessenheit. Sie ist halb rumänische Zigeunerin, halb entstammt sie dem Ostküstenestablishment; ihr Gesicht ist von einer Knochenmißbildung zerstört und sieht aus wie aus einem billigen Horrorfilm. Ich war neu in der Stadt und ging gerade durch jene Hölle, die man eben erlebt, wenn man sich in der Voice ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft sucht. Da hörte Chase von einer Dreizimmerwohnung in einem düsteren Industrieviertel namens Molasses Hill in Brooklyn. Ich weiß immer noch nicht, wie sie da rangekommen ist - ein Bekannter, ein Fremder in der Bar -, aber wir bekamen den Schlüssel in der Zentrale einer von der Mafia kontrollierten Müllfirma auf der Lower East Side und fuhren mit der F unter dem Fluß durch, um mal einen Blick zu riskieren. Ich erinnere mich, im ersten rötlichen Licht der Abenddämmerung durch leere Straßen gelaufen zu sein. Nach dem Lärm von Manhattan wirkte die Ruhe hier geradezu unheimlich. Nur einen Häuserblock entfernt glitten dunkle Lastkähne lautlos über den East River. Grillen zirpten aus dem Unkraut, das zwischen den Pflastersteinen wuchs. Der blutrote Sonnenuntergang spiegelte sich in den zerbrochenen Scheiben der Fenster von leerstehenden Lagerhäusern. Vor den drei oder vier 20
baufälligen Mietskasernen gegenüber dem Elektrizitätswerk gaben sterbende Feigenbäume der Schwerkraft nach, nur aufrecht gehalten von Halteseilen aus Draht. Ich sah einen Kolibri, der eben noch an verfaulenden Früchten gepickt hatte, auf das Licht im Westen zuschießen. Ich war bezaubert. Frisch aus dem Wohnheim für Jungakademiker in Georgetown wußte ich nichts von der Gewalttätigkeit und den Verbrechen in South-Brooklyn. Und die Miete war extrem niedrig, direkt ein Wunder. «Also, wo liegt der Haken?» fragte ich Chase. Wir hatten die Wohnung inspiziert und standen nun in dem leeren Wohnzimmer, dessen Holzboden unter unseren Füßen knarrte. Die Schornsteine des Elektrizitätswerks vor dem Fenster sahen aus wie die Finger einer riesigen Hand. «Muß denn immer alles einen Haken haben?» fragte Chase zurück. «Versuch doch einmal in deinem Leben, etwas einfach zu glauben.» Dann führte sie eine Art Tanz mit dem Staub auf, wirbelte durch die leeren Zimmer und kam wieder zu mir zurück. «Es ist ein verdammt toller Fang», sagte sie atemlos. «Dreifünfundsiebzig für zwei Schlafzimmer - ein großes und ein klitzekleines-, ein vernünftiges Wohnzimmer, eine separate Küche und ein Badezimmer, das eine Badewanne in normaler Länge hat. Und sieh mal hier…» Wir traten ans Schlafzimmerfenster. Während wir durch die schmutzige Scheibe nach draußen blickten, verfing sich das letzte Tageslicht auf den Furchen und Narben ihres Gesichts. «Ein Hinterhof!» Und wirklich, hinterm Haus lag ein überwuchertes, eingezäuntes Stückchen Land mit einem lädierten, aus Ziegelsteinen gemauerten Grill. Hinter dem Zaun und der nächsten Reihe Mietskasernen erhoben sich acht oder 21
neun gewaltige Wohntürme in den sich verdunkelnden Himmel. «Was sind das da für Dinger?» fragte ich. «Die Decateur-Wohnblocks, glaube ich», sagte Chase und tanzte in die Küche davon, um sich dort am Gasbrenner ihre Zigarette anzuzünden. «Warte mal, du meinst Sozialbauten?» Ich folgte ihr über das schmutzige Linoleum zum Herd. Motten huschten um die nackte Birne, die von der Decke baumelte. «Wie ist denn die Gegend hier so?» Sie zuckte mit den Achseln. «Irgendwie melancholisch. Paßt zu dir.» «Ich meine, wie sicher ist es hier?» «Du bist jetzt in New York!» «Was ist aus dem früheren Mieter geworden?» «Ausgezogen.» «Chase…» «Ach, komm schon!» Sie zeigte mit ihrer Zigarette auf den Kamin im Wohnzimmer. «Wirf einen Blick auf das einzige, was der Mann hier zurückgelassen hat!» Über dem Kaminsims hing, auf ein Stück Pappe geklebt, eine Zeitungsreproduktion des unvollendeten Porträts des Kaisers von J. L. David. «Dein Held, Napoleon!» Chase schrie die Worte fast. «Das ist ein Zeichen, daß du diese Wohnung nehmen sollst! Also! Wen schert schon die Nachbarschaft? Wir könnten alle morgen tot sein. Scheiße, du mußt einfach einziehen, ich kann’s nicht erklären. Ich kriege dieses kribbelige Gefühl in meinen Beinen. Es ist die richtige Wohnung für dich, ich weiß es einfach!» «Werd mir jetzt bloß nicht intuitiv», sagte ich so ruhig wie möglich. «Sieht ein bißchen gruselig aus hier. Diese F-Haltestelle in Knox…» 22
«Schön», unterbrach mich Chase, «wenn du die Wohnung nicht nimmst, tu ich’s.» Eine Woche später zog ich ein. Jetzt weiß ich, daß ich selbst in diesen ersten Monaten, bevor Molesworth aus Louisiana heraufkam, etwas in der Wohnung spürte, eine stille Erwartung, die Gegenwart eines unsichtbaren Etwas. Aber als Molesworth kam, wurden diese vagen Ahnungen von seinem ungeheuren Menschengestank überlagert. Molesworth allein war genug, um jedwede Erscheinungen zu verdrängen, so ganz und gar wie er dieser Welt angehört, immer noch umwabert von dem ranzigen Gestank der Sümpfe Louisianas. Er war viel zu körperlich, zu robust für Jenseitiges. Sein massiger, rundlicher Leib schwitzte aus allen Poren irdisches Vergnügen; der Geruch seiner Zigarren kräuselte sich unter der Tür seines Zimmers hindurch - und das, obwohl ich ihm ausdrücklich das Rauchen von Zigarren in der Wohnung verboten hatte. Seine Dixiebierflaschen türmten sich, geleert bis auf das letzte kleine Schlückchen, in einer Größenordnung von anderthalb Koffern pro Woche in der Küche auf. Und dann diese Frauen mit ihren wogenden Mähnen und ihrem knalligen Schmuck, die er samstags abends meistens aus der einen oder anderen Bar anschleppte; ihr Gekicher und Gekreische und Lustgestöhn drangen durch die dünnen Wände, während ich mich auf meinem schmalen Bett von einer Seite auf die andere warf. Ich nehme an, der Geist konnte dieses lärmende, verkommene Leben nicht ertragen. Vielleicht versteckte er sich mit den Termiten und den Spinnen im Gebälk oder schlief mit den Ratten zwischen den Mauern. 23
Dann, vor drei Monaten, machte Molesworth sich aus dem Staub und ging zurück nach Mamou in Louisiana; er schuldet mir noch eine Monatsmiete und sechshundert Dollar für Ferngespräche, aber das Geld kann ich natürlich abschreiben. Eines Morgens wachte ich auf, fand sein Zimmer leer und etwas, das wie eine vorbereitete Erklärung klang, auf dem Anrufbeantworter. «Lieber Niggerarsch», ertönte sein breiter, gedehnter Südstaatenakzent. «Umstände, die sich meiner Kontrolle entziehen, haben sich verschworen, mich nach Louisiana zurückzurufen. Und wenn du den alten Molesworth um seine Meinung fragst, wird es höchste Zeit, daß du selbst dich ebenfalls in andere Breiten begibst. Dein Leben in New York ist in eine Sackgasse geraten. Du läßt dich treiben, du hast keinen Plan! Mir liegt es fern, dir einen Rettungsanker hinzuwerfen, aber du solltest vielleicht mal wieder an dein altes Jagdrevier denken. Ich hoffe, du nutzt meinen Abgang nicht aus und masturbierst zuviel. Das war’s für heute von Lyle Molesworth.» Molesworth hatte die beiden Wochen unmittelbar vor seinem mitternächtlichen Verschwinden pausenlos mit einem Rechtsanwalt in Shreveport telefoniert und über Testamente, Hypothekarkredite und Schankerlaubnisse geredet. Sein Großvater Duploux war im Januar gestorben, und Molesworth hatte mitten im Bayou Dessaintes eine Bar auf Stelzen geerbt. Allen Beschreibungen nach geht es in diesem Lokal, das seit Generationen im Besitz seiner Familie ist, ziemlich rauh zu. Es gibt keine Toiletten dort, nur Löcher im Fußboden direkt über dem schwarzen Wasser, in dem es von Alligatoren und Mokassinschlangen nur so wimmelt. Aber aus irgendeinem Grund finden sich in der Bar regelmäßig die unterschiedlichsten Leute ein, zu denen von Zeit zu Zeit auch Johnny Cash und der Gouverneur 24
persönlich zählen, und daneben natürlich die üblichen Heerscharen von Cajun-Raufbolden und Rowdies von den Ölfeldern. Der Legende nach hat sich Hank Williams 1947 dort betrunken auf der Bühne übergeben, und das, was als das ausgespiene Dinner des großen Mannes gilt, wird immer noch aufbewahrt - ein im Laufe der Jahre grün und schwarz gewordener, undefinierbarer Klumpen, der in einem Steinkrug auf dem Regal über der Jukebox ruht. Nach Molesworths Verschwinden machte der Geist da weiter, wo er vor fünf Jahren aufgehört hatte. In den ersten Tagen gab es nichts Konkretes, nichts, worauf ich den Finger hätte legen können: ein leises Scharren, nicht lauter als Blätter, die von einem toten Baum fallen, oder der Atem eines schlafenden Kindes. Nach etwa einer Woche begann ich, ein Seufzen zu hören, und zwar immer in dem Augenblick, bevor ich einen Raum betrat, um bei Anbruch der Dämmerung die Lichter einzuschalten; und einmal fiel mir in dem Grün im hinteren Teil meines Badezimmerspiegels ein seltsames Flackern auf. Aber jetzt haben wir bereits jeden Tag deutlich über dreißig Grad, uns steht ein heißer, elender Sommer bevor, und der Geist gibt sich nicht mehr mit Kleinigkeiten ab. Er läßt Steine von der Decke fallen und verrückt Möbelstücke. Er ist kühner geworden mit dem steigenden Quecksilber, als würde er gleich einer Treibhausorchidee in der Hitze erst richtig gedeihen. Jetzt fegt er wie ein rachsüchtiger Wind durch die Wohnung. Was will der Geist von mir? Geister wollen immer irgend etwas. Nach dem, was ich gelesen habe, sind sie die Kinder der spirituellen Welt; Wesen, die immer an den Rockzipfeln der Lebenden zupfen. Sie wollen Trost, sie wollen Aufmerksamkeit, sie wollen, daß wir wissen, wie sie gestorben sind. Und bin ich wirklich sicher, daß es ein Geist ist? Es gibt Tage, da habe ich meine Zweifel. Könnte 25
es sich nicht um ein ungewöhnliches, elektrisches Phänomen handeln, eine Störung im Magnetfeld der Wohnung, verursacht durch das Elektrizitätswerk direkt gegenüber? Die Hochspannungstransformatoren drüben zischen und fauchen in regelmäßigen Abständen und schleudern Schweife blauer, statischer Elektrizität in die Sommerabende. Oder vielleicht ist die Antwort auch noch einfacher. Vielleicht werde ich verrückt. Es wäre nett, verrückt zu werden, absolut wahnsinnig, frei von den Banalitäten und Verpflichtungen des Lebens; jeder Tag ein Feiertag. Unglücklicherweise bin ich so normal wie eine Scheibe Toast.
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n der Krypta der Kirche riecht es nach alten Knochen und Kampfer. Wir gehen durch die überwölbte Düsternis, vorbei an Gedenktafeln, zu einer kleinen, unvollendeten Kapelle, die durch ein eisernes Gitter vom Rest des Gewölbes abgetrennt ist. Eine nackte Glühbirne hängt über einem ziemlich lädierten Holztisch. Überall stehen vermodernde Umzugskartons herum. Etwa dreißig sind an den rauhen Steinwänden aufgestapelt. Ein weiteres Dutzend steht in der Mitte des Raumes. «Das sind die Unterlagen, von denen ich gesprochen habe», sagt Pater Rose und zeigt mit seinem Putter auf die Kartons. «Man hat sie hierhergebracht, als St. Catherine diesem koreanischen Einkaufszentrum weichen mußte.» Ich öffne einen der Kartons. Ein staubiges Rechnungsbuch, in Leder gebunden und mit verblichenem Goldrand, zeigt das Datum 1849; ein Brief, geschrieben in der krakeligen Handschrift eines anderen Zeitalters, ist aus seinem Umschlag und auf einen Wust ähnlicher Briefe gefallen. Hier in diesen Kartons liegen Tausende von Dokumenten, Hunderttausende von Manuskriptseiten. Meßbüchlein, Predigten, Quittungen, Wäschezettel, persönliche Briefe, Rechnungen und was weiß ich noch, alles gezeichnet von der Feuchtigkeit und den Jahren. Pater Rose zieht einen wackligen Stuhl aus dem Berg in der Krypta, bringt ihn her und bietet ihn mir an. Er selbst hockt sich, seinen Putter über der Schulter, auf den Boden; seine Augen sind halb geschlossen. Als er zu sprechen beginnt, kommt ihm ein merkwürdiger Singsang über die Lippen, so als hätte er das Folgende auswendig gelernt. «1846 kam eine junge Nonne aus New Orleans in diese 27
Gemeinde. Man kannte sie als Schwester Januarius. Wie ihr bürgerlicher Name lautete, wissen wir nicht. Es war eine Regel ihres Ordens, daß die Novizinnen den Namen eines männlichen Heiligen oder Märtyrers annahmen. In diesen schwierigen Zeiten damals war vieles genauso wie jetzt. Gewalt und Armut und Unwissenheit. Allein in der Umgebung der Marinewerft fanden sich mehr als hundert Bordelle und eine ähnliche Anzahl von Spelunken und Spielhöllen. Wegen der Flut ungewaschener irischer Emigranten nahm die Antipathie gegen die Katholiken immer größere Ausmaße an. Mörderbanden fremdenfeindlicher Raufbolde, die sogenannten KnowNothings, die ‹Nichtswisser›, streiften des Nachts durch die Straßen, und kein Katholik war vor ihnen sicher. Der Gemeindepriester wurde eines Tages mitten im Gottesdienst verschleppt, brutal zusammengeschlagen und nackt und blutend auf der High Street liegengelassen, und die erste Holzkirche wurde niedergebrannt… Schwester Januarius kam zwei Wochen nach diesem Zwischenfall hier an. Weil die Situation so schlimm war, legte der Bischof von New York ihr nahe, zu ihrem Orden, den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz, zurückzukehren. Sie weigerte sich. Sie sagte, in der Nacht seien ihr der heilige Benedikt und die heilige Theresa von Ávila erschienen - in der Gestalt von Kolibris - und hätten sie angewiesen zu bleiben. Es gilt als gesichert, daß sie von einem unwiderstehlichen religiösen Fieber gepackt wurde. Sie klopfte an jede Tür in der Gemeinde, bekehrte viele Menschen zum katholischen Glauben und ließ binnen drei Monaten die Zahl der Gemeindemitglieder von St. Basil auf das Doppelte anwachsen. Nach einem Jahr stand eine neue Kirche an der Stelle der alten, und innerhalb von fünf Jahren war es ihr möglich, den Bau der Kuppel, des Kirchturms und der Querschiffe zu 28
überwachen. Fünf Jahre danach erhielt sie von Papst Pius IX. die Erlaubnis, die Kathedrale zu errichten, wie Sie sie jetzt vor sich sehen, die erste auf Long Island. Das sind die Taten einer energischen Frau, werden Sie jetzt vielleicht sagen, aber Schwester Januarius besaß noch andere, geheimnisvollere Fähigkeiten. Die Kranken kamen an ihre Tür und wurden durch eine einzige Berührung geheilt; die Hungrigen wurden zu Hunderten gespeist, und das an Tagen, an denen die Vorratskammern der Kirche vollkommen leer waren. Nach einem ganzen Leben im Dienst der Gemeinde starb sie 1917 im Alter von hundertundeinem Jahr. Es war ein friedlicher Tod während der Vesper, und jene, die zugegen waren, erzählten später, Engel hätten, hart an der Grenze der Sichtbarkeit, über ihrem Bett geschwebt und darauf gewartet, ihre Seele ins Paradies zu geleiten…» Bei diesen Worten richtet Pater Rose sich auf und schwingt den Putter in meine Richtung, sein Gesicht erleuchtet von einer Art Wahnsinn. Ein paar Mörtelkrümel bröckeln von den Steinwänden ab und fallen in einen halb geöffneten Karton mit vergilbten Papieren. «Das sind keineswegs Ausgeburten meiner Phantasie, Mr. Conti! In den zwanziger Jahren entstand eine kurze Monographie, die privat veröffentlicht wurde und die nüchternen Daten ihres Lebens sowie eine Darstellung einiger ihrer vielen Wunder enthielt. Bis vor kurzem hatten wir einen Band davon oben in der Bibliothek. Leider ist er irgendwie verlegt worden, und ich kann kein anderes Exemplar ausfindig machen. Aber ich hoffe, daß der Rest von Schwester Januarius’ Geschichte vielleicht hier in diesen Papieren begraben ist. Ganz besonders interessiere ich mich für zeitgenössische Berichte über die Wunder. Ich bin davon überzeugt, daß wir hier eine unentdeckte Heilige haben, eine der Gesegneten, die eines 29
Kultus, wie ihn die Kirche vermittelt, würdig ist. Wie ich schon sagte, Brooklyn braucht einen Heiligen. Brooklyn ist verzweifelt, seine Gefängnisse sind voll, seine Menschen leben ohne Licht. Sie werden eine Heilige für uns finden, eine Heilige, die beim Allmächtigen Fürsprache für uns einlegt.» «Okay», sage ich und versuche, vernünftig zu klingen. «Und wie soll ich es anstellen, eine Heilige für Sie zu finden?» «Das geschieht in einem Gerichtsverfahren, dessen Ablauf genau festgelegt ist. Vor dem Tribunal der Ritenkongregation in Rom findet ein Prozeß statt. Diese Kongregation ist ein ständiger Ausschuß von Kardinalen, die in solchen Angelegenheiten mit den Nachforschungen betraut sind. Aber der oberste Richter in Fragen der Heiligsprechung ist natürlich der Pontifex persönlich.» Für mich ist der Papst nicht mehr als ein frommer Mann mit einem komischen Hut, aber ich kann nicht dagegen an: Mir läuft ein Schauer über den Rücken. «Das Verfahren ist voller Formalitäten und Rätsel», sagt der Priester einen Atemzug später. «Die Verteidigung, wenn Sie so wollen, muß drei verschiedene Beweise für die Heiligkeit der betreffenden Person beibringen. Als erstes muß gezeigt werden, daß der Kandidat bereits den Ruf der Heiligkeit genießt. Der zweite Schritt besteht darin, die Besonderheit der Tugenden nachzuweisen, die der Heiligzusprechende besaß. Und als drittes müssen natürlich Beweise für das Wirken von Wundern vorgelegt werden.» Mißtrauisch beäuge ich die dreißig Kartons mit Papieren, von denen die meisten mehr als hundert Jahre alt sind, unleserlich und verstaubt. In letzter Zeit leide ich unter diversen Allergien. Meine Nase juckt schon bei dem 30
bloßen Gedanken an eine solche Arbeit. Es gelingt mir gerade noch rechtzeitig, mein Taschentuch aus der Hosentasche zu ziehen, bevor ich niesen muß. «Gesundheit», sagt Pater Rose. «Also, um ehrlich zu sein, Pater, das Ganze scheint mir ziemlich weit hergeholt», sage ich. «Und ohne jede Garantie. Die Geschichte hat die lästige Angewohnheit, unsere Erwartungen zu widerlegen.» Er nickt, läuft, seinen Putter auf dem Rücken, zum anderen Ende des kleinen Raumes und wieder zurück. «Ich erinnere mich», sagt er, «als junger Priester in den Archiven von St. Catherine über einen Brief gestolpert zu sein, in dem ausführlich über ein von Schwester Januarius gewirktes Wunder berichtet wird. Man brachte ein blind geborenes Kind zu ihr. Seine Augen waren nach innen gedreht, und nur ein kleines Stückchen der Hornhaut war im weißen Teil der Augen zu sehen. In Anwesenheit von Zeugen nahm Schwester Januarius mit bloßen Händen die Augen des Kindes heraus, setzte sie richtig herum wieder ein, und das Kind konnte zum ersten Mal in seinem Leben sehen. Wenn dieser Brief existiert - und ich erinnere mich ganz deutlich an ihn -, dann gibt es gewiß noch andere. Diese Briefe brauchen wir als Beweise für Rom. Außerdem hat es wahrscheinlich auch Zeitungsartikel gegeben, und möglicherweise finden sich weitere Briefe bei Privatleuten, aber das ist Ihre Angelegenheit. Brooklyn zählt auf Sie, Mr. Conti.» Mit diesen Worten verläßt mich der Pater, und ich bin allein in der Krypta, und ich muß wieder niesen, dreimal hintereinander. Die Steinmauern schwitzen, alter Mörtel sickert wie Sand durch die Ritzen. Sechs Forscher würden ein ganzes Jahr brauchen, um dieses Durcheinander gründlich zu sichten, um jede Seite zu lesen und zwischen 31
den Zeilen nach Informationen zu suchen. Pater Rose glaubt an göttliche Vorsehung, an das Eingreifen der Heiligen zugunsten einer sündigen Menschheit. Ich bin nach wie vor skeptisch. Trotzdem greife ich jetzt in den nächstbesten Karton und ziehe einen Brief heraus. Seine dünnen, unleserlichen Blätter zerfallen in meinen Händen.
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olasses Hill ist der Hitze des Nachmittags preisgegeben. In den stillgelegten Docks rosten alte Mastenkräne vor sich hin. Die Schornsteine des Elektrizitätswerks puffen flaumig weiße Rauchwolken in den blauen Himmel. Im Sonnenlicht sieht der East River frisch und unverdorben aus wie ein Bergflüßchen. Ich laufe durch die leeren Straßen, und meine Schritte hallen von den Backsteinmauern der Lagerhäuser wider. Die Gegend hier macht in diesem Licht einen so unschuldigen Eindruck, wirkt so friedlich. Das ist ein Trugschluß. Unweit von hier ragen die DecateurSozialbauten auf wie eine feindselige Gottheit, die sich anschickt, die Opferung von Jungfrauen zu verlangen. Wenn man einem Artikel im New York Times Magazine vom letzten Monat Glauben schenken darf, gibt es in diesen acht Türmen pro Kopf mehr Opfer von Gewalteinwirkung als bei den US-Bodentruppen während des Vietnamkriegs. Jeden Abend hört man Sirenen und Gewehrschüsse. Mord und Totschlag gehören hier zum Alltag, und jeden Monat tauchen irgendwo drei oder vier Leichen auf. Kaum eine Woche, nachdem ich eingezogen war und meine Koffer ausgepackt hatte, fanden die Cops eine Frauenleiche im Müllcontainer um die Ecke, in Stücke gehackt und in stabile Einkaufstaschen gepackt. Einige Jahre später bekam Molesworth, während er in Unterwäsche auf der kleinen Veranda vorm Haus seine Zigarre paffte, von zwei jungen Gangstern mit Strumpfhosen überm Gesicht eins übergebraten. Dann zwangen sie ihn mit vorgehaltener Waffe die Treppe 33
hinauf, nahmen das Stereogerät, die Mikrowelle und einen noch verschlossenen Karton mit braunen Zimttörtchen mit. Ich habe bisher Glück gehabt und der Statistik ein Schnippchen geschlagen. Meine Zeit wird kommen. In einer anderen Stadt würde man umziehen. Nicht in New York, nicht bei diesen Preisen. Letzten Monat habe ich bei dem Versuch, einen Hinweis auf die Identität des Geistes zu finden, eine halbe Woche in den Archiven der Stadtbibliothek von Brooklyn zugebracht. Ich habe nichts über den Geist erfahren, aber einiges über die Gegend, in der ich wohne. Auf den Namen Molasses Hill wurde sie wegen der Fässer voller Melasse getauft, die früher zu Tausenden den kleinen gepflasterten Abhang zum Fluß hinuntergerollt, auf Schiffe verladen und irgendwo gegen Sklaven eingetauscht wurden. In den späten vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts verdrängten irische Immigranten die vormaligen holländischen und angelsächsischen Händler. Die Italiener kamen kurz vor der Jahrhundertwende. Sankt Cecilia von Livorno, eine ziemlich große italienische Kirche voller Marmorstatuen und Skulpturen, stand früher einmal nur zwei Häuserblocks von der Kreuzung Jade und Blount entfernt. Einige der noch erhaltenen Bauten stammen aus der Zeit um 1820 und gehören zu den ältesten Häusern in SouthBrooklyn, sind aber für einen Kunsthistoriker nur von geringem Interesse. Sie verfügen über keine wie auch immer gearteten Verzierungen, keine Oberlichter im Stil der dreißiger Jahre, keine eisernen Rokoko-Geländer. Es sind niedrige, häßliche Unterkünfte mit schmucklosen Fassaden, die Schiffszimmerleute aus einheimischen Steinen und Schindeln erbaut haben. Im Innern dieser ehemaligen Heime für Hafenarbeiter und Seeleute 34
vermitteln niedrige Decken, in unregelmäßigen Abständen verstreute Türen und düstere Flure ein klaustrophobisches Gefühl - wie im Frachtraum eines Schiffes. Meine Spukwohnung liegt im obersten Geschoß eines solchen Hauses; es ist ein altes, dreistöckiges Gebäude in der Portsmouth Street, zwei Häuser von der Jade Street entfernt, Hausnummer 624. Irgendwann gegen Ende der sechziger Jahre machten die letzten italienischen Familien den augenblicklichen Bewohnern Platz, abgerissenen, heruntergekommenen Bohémiens, die die Gegend wie Küchenschaben überschwemmen: gescheiterte Künstler, Alkoholiker, Schriftsteller, Fotografen, denen die Dunkelkammerausrüstung aus Kastenwagen gestohlen wurde, die sie schon vor langem verkaufen mußten, um die Miete zu bezahlen, Musiker, die jahrelang keinen Club mehr von innen gesehen haben. Heutzutage ist dieses Viertel eine Art Endstation. Der letzte Ort, an dem man strandet, wenn man strauchelt, wenn man seinen Mut verloren hat - billige Mieten und begrabene Hoffnungen, der richtige Ort, um über dem Trümmerhaufen seines Lebens zu brüten. Die von der Mafia kontrollierte Müllfirma, der die meisten Grundstücke hier gehören, hat St. Cecilia vor zehn Jahren abreißen lassen, einen Zaun um das Grundstück gezogen und es in eine Müllkippe verwandelt. Daher rühren auch die verdammten Krankheitserreger, die an heißen, stickigen Sommertagen wie eine Wolke über uns schweben. Aber Chase hatte recht. Die Atmosphäre hier draußen paßt zu meiner Gemütsverfassung, zu diesen kleinen Trägheiten, die mein Leben seit dem Studium beherrschen. Mitten im Leben, wie der Dichter sagt, kam ich vom rechten Wege ab und fand mich wieder in einem finsteren und schrecklichen Wald… 35
Oder eben in Molasses Hill in Brooklyn, nur eine Haltestelle mit der F von Manhattan entfernt. Ich liege noch nicht ausgezählt am Boden, ich muß nur meine Doktorarbeit beenden. Aber es wird Zeit.
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as Zählwerk meines Anrufbeantworters steht auf fünf, aber die Ziffer blinkt, was bedeutet, daß etwas schiefgegangen ist. Ich drücke die Play-Taste, um festzustellen, daß der Geist sich auf meinem Anrufbeantworter breitgemacht hat. Die erste Nachricht ist ein langes Schweigen mit unheimlichen Klopfgeräuschen im Hintergrund, die zweite ein Brausen wie im Innern einer Muschel, das mit einem leisen, kindlichen Wimmern endet. Ich höre es mir an, und die Haare in meinem Nacken stehen zu Berge. Einen Augenblick lang bin ich sicher, daß jemand direkt hinter mir steht. Ich fahre herum, sehe einen leeren Raum, sehe Staub, fingerdick auf jedem Möbelstück. Das ist unerträglich. Da höre ich das regelmäßige Klappern einer Schreibmaschine aus der Wohnung unter mir. Rust ist zu Hause. Jim Rust kommt mit nackten Füßen an die Tür, und er hat das dicke blaue Arbeitshemd und die Jeans an, die er das ganze Jahr über trägt. «Beschäftigt?» frage ich. Er zuckt mit den Schultern, wischt sich seine Drahtgestellbrille am Ärmel ab. «Du siehst furchtbar aus. Besser, du kommst rein.» Ich trete in die winzige, ordentlich aufgeräumte Wohnung, deren Wände von der Decke bis zum Fußboden mit sorgfältig alphabetisch geordneten Büchern bedeckt sind. Der einzige Ziergegenstand ist eine Indianerdecke, die über dem Kamin hängt. «Lakota Sioux, mindestens hundert Jahre alt», erzählte er mir einmal. «Hab ich geerbt, 37
als mein Bruder von der Regierung der USA getötet wurde.» Und das war alles, was er dazu sagte. Wie andere Leute aus dem Westen, die ich kennengelernt habe, ist Rust äußerst wortkarg und hat die Angewohnheit, wenn irgend etwas in ihm vorgeht, zum Horizont hinüberzuschielen, selbst wenn kein Horizont da ist. Er hat ein wind- und wettergegerbtes Gesicht, in dem vor allem die Augen auffallen, mattblau, wie Kaktusblüten. Geboren auf einer Farm in Wyoming, hat er schon vieles gemacht: Zuckerrüben angepflanzt, in mehreren großen, leeren Staaten draußen im Westen Pferde zugeritten und in den frühen Siebzigern sämtliche Rodeos in Mexiko abgeklappert. Dann, eines Tages, beschloß er zu schreiben. Er verkaufte seinen kleinen Lieferwagen, sein Pferd und seinen Wohnwagen und kaufte eine Schreibmaschine - eine altertümliche, geräuschlose Remington Rand, die ungefähr so geräuschlos ist wie ein Laster, der im dritten Gang eine Steigung nimmt. Dann zog er nach New York City. Rust behauptet, diese Stadt zu lieben, und ich glaube ihm. Er liebt sie mit der Wildheit eines Menschen, der an einem Ort mit zuviel Himmel aufgewachsen ist. Er kaufte sich eine schwarze Lederjacke, eine Zehn-Jahres-Karte für das Museum of Modern Art, trat einem sozialistischen Schriftstellerverband bei und besucht Ballettvorstellungen im Lincoln Center und Aufführungen des No-Theaters bei der Japanischen Gesellschaft. Aber trotz all dieser Kultur ist er im Herzen immer noch ein netter Ex-Cowboy, der es nicht über sich gebracht hat, sich von seinem Hut oder seinen Stiefeln zu trennen. Der Hut, ein zerbeultes schwarzes Ding mit flachem Rand und angelaufenen Silbermünzen, die an einer Kette an der Hutkrone baumeln, hängt über seinem Schlafsack und den Bücherregalen im Schlafzimmer. Die ausgelatschten 38
Stiefel aus rotem und schwarzem Leder und Eidechsenhaut lümmeln sich mit ihrer ausgefallenen Goldstickerei wie ein alter Freund in der Ecke. Ein kleines Stück über dem Knöchel eines dieser Stiefel befindet sich ein geflicktes Loch von der Größe einer 45er Pistolenkugel. Ein berühmter mexikanischer Stiefelmacher in Durango hat sie seinerzeit eigens für Rust angefertigt. Bezüglich des Pistolenlochs äußert er sich nicht genauer. «Hol dir ein Bier», sagt er jetzt und zeigt auf die zerbeulte Coleman-Kühlbox, die er für Leichtverderbliches benutzt. Er geht durchs Zimmer, um seine Arbeit wegzulegen, und ich wühle im Eismatsch nach einer Flasche Vera Cruz. «Du auch?» frage ich. «Warum nicht? Ich glaube, ich war sowieso fast fertig», sagt er, obwohl ich weiß, daß er seine Schreibmaschine gerade erst aus dem Schrank genommen hat. Er schreibt im Stehen, die Schreibmaschine thront dabei auf einer hochkam gestellten alten Seekiste, und daneben liegen, sorgfältig arrangiert, zwei Stapel Papier, einer beschrieben, der andere leer. Wir setzen uns mit unserem Bier im Schneidersitz auf den Fußboden wie zwei Indianer. Rust lebt in dieser Wohnung, als kampiere er draußen im Busch. Keine Möbel, kein Herd, kein Kühlschrank, keine wirklichen Besitztümer. Bis auf die Bücher könnte man alles, was ihm gehört, auf dem Rücken eines Maultiers unterbringen. Über unseren Köpfen eiert der Deckenventilator. Er sieht gefährlich aus. Wir öffnen unsere Flaschen und trinken, und das einzige Geräusch in der Wohnung ist unser leises Schlürfen. «Wie geht es mit dem Roman voran?» erkundige ich mich nach einer Weile und stelle die Bierflasche auf das 39
blaugestrichene Holz. Es ist eine dumme Frage, von der ich weiß, daß Rust sie bestimmt nicht zufriedenstellend beantworten wird. «Es ist nicht direkt ein Roman», sagt er. «Was ist es dann?» «Kann ich nicht sagen. Geschreibsel. Wirres Geschreibsel.» «Na und, wie geht es voran?» Er hält inne und schielt zum Horizont. «So leidlich.» Wir trinken noch etwas mehr, und Rust fragt aus Höflichkeit nach meiner Doktorarbeit. «Kann mich nicht konzentrieren», sage ich. «Der Geist. Versuch du mal, deine Doktorarbeit mitten in einem Spuk zu schreiben. Es ist unmöglich. Und die Stille. Sie ist so verdammt geladen. Unheilgeschwängert, wenn ich so sagen darf.» «Ich hätte eine Idee», sagt Rust und beugt sich vor. «Mach das Radio an, dann hörst du die Stille nicht mehr. Du wirst das Radio hören.» «Ja schon, aber das Radio…» «Einen klassischen Sender. Etwas Mozart. Vivaldi. Eine von diesen ollen Kamellen. Wirkt Wunder, du wirst überrascht sein.» Rust glaubt an den Geist, obwohl er eher ein Skeptiker und Rationalist ist. Er war es auch, der die Erscheinung als erster beim Namen nannte: Ein paar Tage nach Molesworths schmählicher Flucht nach Mamou bat ich Rust nach oben und schloß ihn in der Wohnung ein, während ich auf dem Flur wartete und an einem kalten Stück Peperonipizza aus seiner Kühlbox kaute. Zehn Minuten später kam er zurück und schielte nach einem 40
Horizont, den sonst niemand sehen konnte. «Und?» frage ich. Er nickt. «Irgend etwas. Macht Ohrensausen.» «Was ist es deiner Meinung nach?» «Ein Geist.» «Genau.» Jetzt greift Rust nach dem wildledernen Tabakbeutel und rollt sich mit Hilfe des Zubehörs, das er in seiner Brusttasche aufbewahrt, eine Zigarette. Er bietet mir auch eine an, aber ich schüttle den Kopf. Dieser Tabak, den er da raucht, eine billige mexikanische Mischung, die ein Freund ihm aus Chiapas schickt, schmeckt wie verbrannter Seetang. «Ich war mal ein paar Tage in einer Hütte in Colorado», sagt er, während er das Streichholz heftig hin und her bewegt, um die Flamme auszumachen. «Gehörte meinem Onkel, dem Bruder meiner Mutter. Weiß nicht mehr, was ich da gemacht habe, wahrscheinlich gearbeitet, an einem anderen Buch geschrieben. Vier oder fünf Nächte bin ich in der Hütte geblieben, oben in den Hügeln über Tabernash. Pumaland. Man konnte diese großen Katzen nachts heulen hören, ganz in der Nähe, in einem Kiefernwäldchen. Und höllisch kalt war’s, so minus fünfzehn Grad Außentemperatur, sogar zu kalt, um zu schneien. Aber nach der ersten Nacht habe ich trotzdem draußen geschlafen, eingerollt in meinen Schlafsack und ein halbes Dutzend Büffelfelle. In der Hütte war es noch schlimmer. Hatte dieses seltsame prickelnde Gefühl, genauso wie man’s da oben kriegt. Konnte nicht schlafen. Keine Ahnung, wie du da oben schläfst.» «Tu ich gar nicht», sage ich. «Nicht gut jedenfalls. Ich habe komische Träume und werfe mich im Bett hin und her.» 41
«Na ja, ich habe jedenfalls später herausgefunden, daß vor ungefähr dreißig Jahren irgendein Scheißkerl eine Frau in dieser Hütte umgebracht hat. Hat ihr die Kehle durchgeschnitten, sie ausgenommen, gehäutet und zum Trocknen aufgehängt und das Fleisch geräuchert. Als sie ihn verhaftet haben, war er gerade dabei, ihre Leber zu zerstampfen, um Wurst daraus zu machen. Solche Sachen, die liegen noch jahrelang in der Luft, weißt du.» Rust hat so eine Art, den Nagel auf den Kopf zu treffen. Der letzte Schluck Vera Cruz schmeckt plötzlich wie Blei. Welche Greuel haben wohl auf meinem Ofen gebrutzelt? frage ich mich. Welche schrecklichen Fleischbrocken haben dort im Kühlschrank gelegen? Und diese morbiden Überlegungen führen zu weiteren Gedanken: Plötzlich geht mir auf, daß ich nicht auf mich achtgebe, daß ich mich verkommen lasse. Daß ich älter werde, dreiunddreißig im November, daß ich nicht genug esse, daß ich keine Krankenversicherung habe, daß ich meine vielversprechenden Talente vergeudet habe, daß es niemanden in der Stadt gibt, der mich liebt. Und genau in diesem Augenblick, wie eine schauerliche Bestätigung meiner Gedanken, bläst das Elektrizitätswerk Dampf in den Nachthimmel. Vorm Fenster erhebt sich eine weiße Wolke, und ein gewaltiges mechanisches Klirren schallt über die Dächer von Brooklyn.
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reitag, bei Einbruch der Dunkelheit. Ich bin in Manhattan, um den letzten Scheck von meinem Zeitarbeitsbüro abzuholen. Dann, um dem Gedränge in den Straßen zu entkommen, mache ich im Crescent City Grill auf ein Bier halt. Das ist eine miese PseudoLouisiana Bar auf dem East Broadway, in der freitags zwischen vier und acht Uhr abends eine Flasche Abita nur zwei Dollar fünfundzwanzig kostet. So viel ich weiß, ist das der einzige Ort jenseits der Mason-Dixon-Linie, wo man Abita bekommt, das Heimatgebräu von New Orleans. Louisiana ist zur Zeit in New York ziemlich in. Es gibt jede Menge nachgemachter Cajun-Saloons, pseudokreolischer Cafés und teurer East-Side-Restaurants, die sich durch eine südliche Küche auszeichnen - ländliche Speisen zu lächerlich städtischen Preisen. Die New Yorker sind wie die Franzosen, wenn es um ihre kindliche Begeisterung für alles geht, was als echt amerikanisch gilt: für Country-Musik, Cowboystiefel, kleingeschnittenes und fritiertes Alligatorfleisch, Whisky und noch allerhand ähnlichen Hinterwäldler-Unfug. Das liegt daran, daß New York in Wirklichkeit eine eigene kleine Nation ist, mit Inselcharakter und provinziell in dem Sinne, daß die Einwohner keine Ahnung davon haben, was außerhalb ihrer fünf Stadtbezirke vor sich geht. Daher sind Dallas oder Baton Rouge für einen New Yorker genauso fremd und exotisch wie für einen Pariser oder Berliner. Der Crescent City Grill ist ebenso eine Fälschung wie Disneyland, mit imitierten Mardi-Gras-Köpfen aus Pappmache, mit gebügelten Rebellenflaggen, die von der Decke hängen, und mit dem ausgeschlachteten Fahrgestell 43
eines 59er Ford-Lieferwagens, der dem Discjockey als Kabine dient. Der Barkeeper ist ein Ire aus Cork. Aber ich bin derjenige, der sich wie ein Hochstapler vorkommt in dem zerknitterten Hemd und der schmutzigen Krawatte inmitten all dieser geschniegelten Happy-Hour-Yuppies, die sich hierbei mit Budweiser Light gefüllten Bierkrügen treffen. Sie könnten überall sein, es spielt keine Rolle. Dies ist das Land der Strichcodes und Computerbilanzen und Marketingstrategien und Wareneinheiten. Ich brauche etwas anderes. Später, an der Ecke Houston und Mercer, bewegen sich die Passanten wie im Traum unter dem seltsam lavendelfarbenen Zwielicht. Ich bleibe stehen und blicke auf und kann es beinahe als eine Berührung auf meinem Gesicht spüren. Dieses Licht ist wunderbar, hat die Farbe von Sehnsucht und Nostalgie, von Frauenlippen, die man um Mitternacht im Neonlicht einer verlassenen Bar küssen will, in einer Stadt, die man nicht gut kennt. Nach ein paar Abitas im Crescent City Grill kann ich nichts mehr dagegen tun. Ich denke an New Orleans und Antoinette, und das, obwohl ich vollkommen nüchtern bin und versuche, dem Impuls zu widerstehen. Einmal habe ich unter Antoinettes Fenster im Faubourg Marigny gestanden und gesungen. Zu ihrem Schlafzimmer gehörte ein winziger, vergitterter Balkon. Es war drei Uhr morgens und wir hatten abgemacht, daß wir uns in dieser Nacht nicht sehen wollten, aber sie kam verschlafen und nur mit einem Slip bekleidet heraus und beugte sich träge und lächelnd über das Geländer, während ich mit einem passablen italienischen Tenor, den ich von meinem Vater geerbt habe, «Rose von San Antonio» schmetterte und Molesworth mich, die Mandoline gegen seinen Bauch gepreßt, mit ausdruckslosem Gesicht begleitete. «Mond in all deiner Pracht», sang ich, «so einsam ist 44
mein Herz. Hol meine Rose zurück, die Rose von San Antonio…» Der Himmel glüht nicht lavendelfarben, sondern grün über New Orleans und dem Golf von Mexiko, über Kuba und den Tortugas, die irgendwo da draußen am Horizont herumdümpeln, und vom Mississippi weht in dieser entschwundenen Stunde der Pfiff eines vorübergleitenden Tankers herüber wie die leise Klage der Sehnsucht.
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in kleines Straßencafe ist auf dem Asphaltdreieck zwischen der Houston und der East First aus dem Boden geschossen, keine zwanzig Schritt von dem gelben Eingang der Second Avenue F. Bunte Lichter baumeln über einem Dutzend Tischen in einem durch ein Seil abgesperrten Bereich; gegenüber dem Maschendrahtzaun, der den Basketballplatz abteilt, spielt ein Jazztrio. Lastwagen donnern die Houston Street herunter auf die gotischen Zinnen der Williamsburg Bridge zu; Taxis fädeln sich mit quietschenden Reifen in den Verkehr ein. Ein halbes Dutzend Penner, schmutzig und nach Urin stinkend, versammelt sich am Rand, um Zigaretten zu schnorren. Es scheint ein ziemlich unmöglicher Platz für ein Café zu sein, aber die meisten Tische sind voll besetzt mit junkiedürren East-VillageTypen, die von der Siebziger-Nostalgie geprägte Kleider tragen und Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Plattformsohlen. Ihre weit ausgestellten Hosen flattern um Fußknöchel herum, die ich mit Daumen und Zeigefinger umfassen könnte. Ich beschließe, auf ein Bier haltzumachen, einfach aus Lust an der ungewöhnlichen Idee, es auf einer Verkehrsinsel zu trinken, und weil Freitag abend ist. Der Kellner, ein Engländer mit einem Mund voller schlechter Zähne, kommt mit einer Flasche Fuller’s herbei, auf der ein Plastikbecher thront. «Das ist alles, was wir im Augenblick haben», sagt er. «Entweder das hier oder Wasser, und Sie können nicht Wasser trinken und hier sitzen. Wenn Sie die Musik hören wollen, ohne etwas zu trinken, müssen Sie zu denen da 46
rübergehen.» Er zeigt mit dem Daumen auf die Penner; die orangefarbenen Spitzen ihrer geschnorrten Zigaretten glimmen in der Dunkelheit. Ich nicke, und der Kellner setzt das Bier ab und geht weiter. Das Trio ist in eine gelbe Verlängerungsschnur eingestöpselt, die zu einem Mietshaus auf der anderen Straßenseite führt. Die Leadsängerin, eine übergewichtige junge Frau, deren scharfe Gesichtszüge etwas Griechisches haben, schnipst mit den Fingern und beginnt, den Text von «Birdland» ins Mikrofon zu hauchen, als plötzlich von irgendwoher Funken stieben und die ganze Anlage den Geist aufgibt. Die bunten Lichter flackern kurz und verlöschen, und wir versinken in der fluoreszierenden Düsternis der Straße. Ein erschöpftes Seufzen geht durch die Menge. Der englische Kellner stellt sich auf einen Stuhl und gestikuliert wild. «Nicht weggehen, Leute», sagt er. «Nur eine Frage der Sicherungen. Gestern abend war’s dasselbe.» Dann springt er herunter und verschwindet in dem dunklen Eingang des Mietshauses auf der anderen Straßenseite. Ich betrachte in der Dunkelheit meine Nachbarn. Zu meiner Linken sitzt eine Frau mit streichholzkurzem Haar und Bodypiercing und raucht wie eine europäische Intellektuelle eine Zigarette, den Handballen ans Kinn gepreßt. Es ist nicht schwer, sich ihr Leben vorzustellen: die Katzen, der Freund in einer Avantgarde-Band, gelegentlich Drogen, die vagen künstlerischen Ambitionen, die heruntergekommene Wohnung im fünften Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl, die sie sich mit sechs weiteren jungen Männern und Frauen teilt, die ihr ziemlich ähnlich sind. Aber was geht in ihrem Kopf vor? Sie trägt ein großes Kruzifix, aber ich glaube nicht, daß sie an Gott glaubt. Glaubt sie statt dessen vielleicht an Mode? 47
Daß das Aussehen mehr über einen Menschen aussagt als das, was er tut? Ich bin noch ganz in diese geistreichen Erwägungen versunken, als ich an einem Tisch vor dem Seil an der Second-Avenue-Seite eine vertraute Silhouette ausmache. Diese vorgebeugten Schultern und die seltsame Haltung des Kopfes, als würde der Hals wie eine dicke, steife Röhre direkt aus dem Rückgrat herausragen. Und selbst aus dieser Entfernung und in dem schlechten Licht und halb abgewandt kann man sehen, daß mit dem Gesicht irgend etwas nicht stimmt. Es ist eingefallen, ungleichmäßig, eine schlechtgemachte Maske: Chase. Sie zeichnet mit ihrer Zigarette einen verzweifelten Wirbel in die Düsternis, unterstreicht Worte eines Gesprächs, das ich nicht hören kann. Alles, was ich von der Frau sehe, die ihr gegenüber im Schatten sitzt, ist ein blasser, knochiger, tätowierter Arm. Chase ist in letzter Zeit extrem depressiv. Im Frühling ist sie dreißig geworden und - wie sie so gerne betont - hat damit bereits vier Jahre länger gelebt als der Dichter John Keats. Als wir uns zum ersten Mal trafen, hatte sie gerade ihr Studium an der Brown University abgeschlossen und war voller exzentrischer Intelligenz und nervöser Energie, voller Respektlosigkeit und Aufmüpfigkeit. Man konnte nie wissen, was sie als nächstes sagen würde. Die weinerliche Seite war zwar bereits vorhanden, aber verdeckt von dem schützenden Mantel der Jugend. Jetzt sieht es so aus, als bestünde ihr Leben nur noch aus Tiefpunkten. Ihr einziges noch verbliebenes Gesprächsthema kreist darum, daß sie noch Jungfrau ist und daß ihr Gesicht sie um ein Leben in der Welt betrogen hat. In Wahrheit bin ich Chase in letzter Zeit aus dem Weg gegangen und habe es auch versäumt, auf die letzten drei 48
oder vier Nachrichten zu reagieren, die sie auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen hat. Ich fühle mich schuldig deswegen, aber das ist im Augenblick das einzige, was ich tun kann, um nicht unterzugehen. Trotzdem… alles ist besser, als an einem Freitagabend ganz allein vor sich hin zu saufen. Ich gehe, mein Fuller’s und den Plastikbecher in der Hand, an ihren Tisch. «Hallo, Chase…» Sie dreht sich um und registriert meine Anwesenheit mit einem kurzen, mißbilligenden Blinzeln. «Ned», sagt sie ohne Enthusiasmus. Ihre Begleiterin ist eine klapperdürre junge Frau mit exquisiten Gesichtszügen und hellblondem Haar. Ich brauche einen Augenblick, um Jillian Summer zu erkennen, eine alte Freundin von Chase aus gemeinsamen Brown-Zeiten. Ich bin schockiert. Als ich Jillian das letzte Mal gesehen habe, war sie üppig und sexy und wog mindestens vierzig Pfund mehr als heute abend. Sie sieht aus, als hätte sie gerade sechs Monate in einem Käfig in Transsilvanien verbracht, wo sie von Rattenflügeln und Wasser leben mußte. «Soll das eine neue Mode sein, Jillian?» erkundige ich mich. «Weißt du nicht, daß der Gruftilook ein wenig passé ist?» Jillian blickt höhnisch zu mir auf. «Der Bastard ist da», sagt sie und zeigt mit ihrer Zigarette auf den Stuhl zwischen ihnen. «Setz dich, Bastard.» Chase schüttelt den Kopf. «Ich spreche im Augenblick nicht mit ihm», sagt sie. «Scheiß drauf», sagt Jillian. «Ich unterhalte mich ab und zu ganz gern mit einem Bastard. Würde gerne hören, was der Bastard zu der Sache zu sagen hat.» 49
Ich sehe, daß sie beide betrunken sind. Jillian lallt. Der Tisch ist übersät mit leeren Fuller’s-Flaschen. Ziemlich starkes Zeug. Chase erzählt mir, daß sie schon seit vier Uhr nachmittags trinken. «Wir waren die ersten Kunden hier», sagt sie stolz. Jillian zerrt am Saum meiner Khakihose und zieht mich unsanft auf den Stuhl herunter. Es gilt als anerkannte Tatsache, daß Jillian und ich einander nicht ausstehen können. Das stimmt nicht ganz; es ist mehr eine Frage ästhetischer Differenzen. Irgendwo unter dem Firnis von bohemegeprägtem Zynismus und Angst glaube ich immer noch an Verantwortung, Ehre, frisch gemähten Rasen, die Segnungen der amerikanischen Kultur und die Vorzüge des Ehelebens - das ganze bürgerliche Repertoire. Jillian glaubt an gar nichts. Ihre Geschichte ist traurig, typisch verkorkstes Kind aus reichem Haus: Mit neunzehn war sie eine kühle Blondine aus einer wohlhabenden Ostküstenfamilie mit MayflowerBackground. Sie verfügte über ein klassisches Aussehen, ein großes Treuhandvermögen, eine wunderschöne Stimme und eine glänzende Zukunft an der Oper. Ich habe sie einmal im Solarium in Providence ein Stück aus Puccinis Madame Butterfly singen hören. Es war atemberaubend, hat mir die Tränen in die Augen getrieben. Zehn Jahre später ist ihr Treuhandvermögen futsch, sie drückt genug Heroin, um als Süchtige durchzugehen, gibt sich überall an der Eighth Avenue für Peepshows her und verdient sich unter dem Namen April Storm gelegentlich ein Zubrot mit Pornofilmen. Vor einer Weile und aus Gründen, die ich lieber nicht näher beleuchten möchte, kriegte ich die Nachmittagsvorstellung von Jillians jüngstem Film mit, 50
Anal Annie’s Ecstasy Girls, im Paramour in der 42. Straße. In einer besonders denkwürdigen Szene schnallt sie sich einen riesigen fleischfarbenen Penis um, rollt eine dralle Rothaarige mit dem Hintern nach oben und macht sich mit fröhlicher Hingabe daran, die kreischende junge Frau von hinten zu bearbeiten. Man kann nur hoffen, daß Jillians Pilgrim-Ahnen in ihrem protestantischen Himmel von solchem Treiben barmherzigerweise nichts erfahren. Hätten sie nur gewußt, welches Schicksal ihre Nachkommenschaft an diesen grünen Küsten erwartete, als sie 1620 ihren schnallengestiefelten Fuß auf Plymouth Rock setzten, hätten sie die Mayflower eigenhändig und von tiefem Entsetzen erfüllt in der Massachusetts Bay versenkt. «Wir haben uns gerade über dich unterhalten, Bastard», sagt sie jetzt und wendet sich von mir ab, um sich eine neue Zigarette anzuzünden, obwohl die vorige immer noch im Aschenbecher glüht. Im Profil sieht sie Grace Kelly ähnlich, und mein Herz seufzt. «Und was habt ihr gesagt?» erkundige ich mich, obwohl ich es eigentlich nicht wissen will. «Wir haben gesagt, daß ich dich in den vergangenen zwei Wochen sechs verdammte Male angerufen habe», sagt Chase, «und du hast nicht ein einziges Mal zurückgerufen.» «Ich habe keine Nachrichten von dir bekommen», lüge ich. «Erzähl mir doch nichts», sagt Chase. «Wirklich, der Anrufbeantworter ist irgendwie im Eimer.» Diese letzte Behauptung ist wahr; der Geist hat sich in dem Ding breitgemacht. «Und du wolltest dem Bastard lediglich helfen, das macht mich wirklich sauer», sagt Jillian zu Chase. «Er ist 51
nicht nur ein Bastard, er ist auch noch ein egoistischer Bastard.» «Ich laß euch zwei Trunkenbolde jetzt wohl besser allein», sage ich und will zu meinem Tisch zurückgehen, als Chase eine trockene Hand auf meinen Arm legt. «Irgend jemand von der anderen Seite versucht Kontakt zu dir aufzunehmen», sagt sie. Ihre Augen sind dunkel und ernst. In meinem Nacken stellen sich die Haare auf. Ich habe Chase kein Wort von dem Spuk gesagt, hauptsächlich deswegen, weil ich jahrelang über ihren Glauben an Geister gespottet habe. Gerade in diesem Augenblick holpert ein Kleinlaster voller Drahtkleiderbügel über ein Schlagloch auf der Houston Street, und ein paar von den verrosteten Metalldingern scheppern klirrend auf den Bürgersteig. Das verschafft mir einen Augenblick Zeit, um mich wieder zu fassen. «Was für eine andere Seite?» bringe ich heraus. «Meinst du New Jersey?» «So ist es richtig, benimm dich nur wie ein Bastard, Bastard», sagt Jillian und springt vom Tisch auf. «Ich geh mir Zigaretten holen.» «Aber du hast doch schon welche», sagt Chase und deutet auf den Aschenbecher. «Egal», erwidert Jillian, stolpert hinüber zu der Seilschranke und verschwindet in der Nacht. Als von Jillian nichts mehr zu sehen ist, richtet Chase ihre dunklen Augen wieder auf mich. Ihr mißgestaltetes Gesicht sieht im gelben Licht der Straßenlaternen wie ein Totenschädel aus. «Ich hatte diese Träume», sagt sie. «Sehr lebendig, sehr klar. Irgend jemand will mit dir reden. Ich hatte sechs Träume und habe dich jedesmal angerufen. Und zum Schluß, im letzten Traum, habe ich einfach deine 52
Telefonnummer aufgeschrieben und sie dieser Hand gegeben, die aus einer Wolke herausragte. Eine Frauenhand mit vielen Ringen. Irgendwelche merkwürdigen Anrufe gekriegt in letzter Zeit?» Ich halte mich an der Tischkante fest, um nicht zu zittern. «Nur die Geldeintreiber», sage ich durch zusammengebissene Zähne. «Collegedarlehen. Sie werden langsam ziemlich aggressiv.» «Und sie sagt, du kennst ihre Cousine oder so. Ich bin nicht ganz durchgestiegen. Das ist alles, was ich dir im Augenblick erzählen kann.» «Chase, können wir bitte über etwas anderes reden?» Endlich gehen die Lichter wieder an, der englische Kellner kehrt zurück, und die Musik setzt wieder ein. Wir warten darauf, daß Jillian zurückkommt, aber nach zwei Stunden ist immer noch nichts von ihr zu sehen; sie ist wahrscheinlich losgezogen, um etwas Heroin aufzutreiben. Dann bin ich betrunken, und Chase ist noch betrunkener, und wir gehen rüber zu Stella’s auf der Second Avenue und dann zur Telephone Bar, bis wir schließlich im Blue and Gold in einer der Nischen in der Nähe des Billardtisches landen. Die Bälle krachen über den abgeschabten Filz, und aus der Jukebox schrillen Question Mark und die «96 Tears» der Mysterians, und der Mann in der Jägerjacke auf dem verblichenen Jagdbild aus den Fünfzigern, das mir gegenüber an der Wand hängt, kommt seiner Beute niemals auch nur einen Schritt näher, und Chase läßt den Kopf auf meine Schulter sinken und fängt wieder mit der alten Leier an, daß sie ihr Leben nicht ertragen kann. «Ich meine es ernst», sagt sie. «Ich komme langsam an den Punkt, wo ich von der Brooklyn Bridge springen und der ganzen erbärmlichen Angelegenheit ein Ende machen 53
möchte.» Dann bittet sie mich, sie zu küssen, aber ich kann nicht, weil ihre Lippen total schief sind, eigentlich überhaupt keine richtigen Lippen, sondern irgend etwas, das die plastische Chirurgie aus einem Stück Haut von ihrem Hintern gemacht hat. «Ist schon in Ordnung», sagt Chase, als ich den Kopf hängen lasse. «Ich mache dir keinen Vorwurf. Scheiß drauf! Wir sitzen sowieso alle in der Scheiße mit Kurs auf irgend etwas Unheimliches und Schreckliches. Das ist noch etwas, was ich aus meinen Träumen weiß. Du und ich und Jillian…» Aber plötzlich verlöscht das Licht in ihren Augen, und sie sinkt ohnmächtig und mit geöffnetem Mund in sich zusammen. Ich sitze im Taxi, auf dem Rückweg nach Brooklyn. Der haitianische Fahrer flucht leise vor sich hin, überfährt rote Ampeln und läßt Voodoo-Musik aus dem Radio plärren sie fahren alle nur äußerst ungern über die Brücken -, aber schon bald sind wir in der Canal Street, und ich höre das vertraute Rumpeln von Reifen auf Eisengittern, und wir sind hoch oben über dem Fluß; New York liegt unter uns, von allen Seiten eingehüllt in falschen Flitter und flackernde Lichter, so rein und unverdorben im hellen Mondlicht wie die Stadt Gottes in der Vision des heiligen Augustinus. Und für einen kurzen Augenblick und Chase’ düsterer Prophezeiung zum Trotz scheint es, daß wir doch eine Chance haben, daß unser Leben sich am Ende noch zum Guten wenden wird.
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ieder ein Montagabend, kurz nach elf, und der Himmel ist schwarz von dem Unwetter über Brooklyn und den großen Schornsteinen des Elektrizitätswerks auf der anderen Straßenseite, und ich sitze in dem orangefarbenen Naugahyde-Sessel in meinem Wohnzimmer und versuche eine Schale Fruit Loops zu essen, aber ich bin wie gelähmt vor Angst. Die Lichter in der Wohnung haben sich in einer Art übernatürlicher Verdunkelung abgedämpft, und der Geist beschäftigt sich damit, Möbelstücke zu verrücken. Ich hatte mir gerade die Elf-Uhr-Nachrichten angesehen, als der Fernseher zu rauschen und zu flimmern begann und die Möbel anfingen zu knarren wie der Rumpf eines alten Schiffes. Jetzt stehen mir die Haare zu Berge, und ich habe Ohrensausen. Es ist so, als säße man mitten in einer Dekompressionskammer, in der der Druck sich ständig verändert. Zu meiner Linken fällt der Schreibtischstuhl um, als hätte ihn eine Sturmböe erwischt. Dann öffnet sich mit einem leisen, schmatzenden Laut die Kühlschranktür. Im schauerlichen weißen Licht leuchten mir Ketchup, Bierflaschen und tagealte Bagels aus dem Inneren entgegen. Der Poltergeist hat schon vorher Möbel verrückt, aber auf das, was jetzt passiert, bin ich nicht vorbereitet: Das schwere Bücherregal auf der anderen Seite des Zimmers neigt sich knarrend dem Boden zu, und die Bücher poltern auf den Teppich. Plötzlich macht das Regal einen kleinen Hüpfer, dann noch einen, und alles, was mir dazu einfällt, sind die lebendigen, tanzenden Teetassen in Walt-DisneyFilmen. Mit einer übelkeiterregenden Parodie 55
menschlicher Bewegungen hopst das Bücherregal fast zwei Meter auf mich zu, zögert einen Augenblick lang mit einer Geste, die irgendwie feminin wirkt, und kippt dann mit einem gewaltigen Krachen vornüber. Im nächsten Moment flackern die Lichter wieder auf, der Druck in meinem Nacken läßt nach, das Fernsehbild formiert sich zitternd wieder zu dem gewohnten Bild des Nachrichtensprechers, und Normalität kehrt ein. Ich seufze und nehme noch einen Löffel Fruit Loops, die mittlerweile matschig geworden sind. Da kommt es mir in den Sinn, daß der Geist, wenn er Bücherregale voller historischer Schriften durchs Zimmer hüpfen lassen kann, diese Bücherregale genausogut dazu benutzen könnte, um mir damit den Kopf einzuschlagen. Und mit der Endgültigkeit eines Schlüssels, der ins Schloß gleitet, wird mir klar, daß der Geist mit jedem Tag stärker wird und daß er vielleicht versucht, mich zu töten.
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egen Mittag treffe ich Pater Rose, der auf dem Kirchhof seinen Schlag übt. Er hockt auf einer niedrigen Grabplatte, die Spikes seiner Golfschuhe in die Sandsteintafel gebohrt, ein Eisen-9 in der Hand. Die Taschen seiner Soutane sind zum Bersten voll mit Übungsbällen. Sie geben einen leisen, pfeifenden Ton von sich, wenn er sie in hohem Bogen durch die Luft sausen läßt, ein weißes Schwirren im heißen Wind, bis sie von ihrem Ziel abprallen, dem schwarzen Obelisken, der etwa zwanzig Meter weiter weg steht. «Mr. Conti», sagt er, als ich die schmale Treppe von der Krypta hinaufkomme, «bitte halten Sie mich nicht für respektlos jenen gegenüber, die hier liegen.» Er klettert von dem Stein herunter, streift sich die Golfhandschuhe aus italienischem Leder ab und schüttelt mir die Hand. «Dieser Gedanke ist mir nicht gekommen, Pater», sage ich. Er zwinkert mir zu. Unsere Beziehung hat etwas Verschwörerisches angenommen, so als versuchten wir beide mit vereinten Kräften, dem Papst etwas unterzujubeln. «Ich denke eher, daß die Toten wohl nichts gegen ein wenig Gesellschaft einzuwenden haben.» Ich blinzele in das grelle Licht und niese. Nach der Dunkelheit der Krypta brennt mir die Sonne in den Augen, und meine Allergien spielen verrückt. Jeder Karton mit Dokumenten scheint seine eigene Spezies von Schimmelsporen zu haben. Einige lassen mir die Augen tränen, andere bringen mich zum Husten, und wieder andere bescheren mir einen wahren Niesrausch. Ich niese noch einmal; Pater Rose wünscht mir Gesundheit und fuchtelt mir mit dem Eisen-9 vor dem Gesicht herum. 57
«Sehen Sie das?» «Ja», sage ich. «Ein Eisen-9; ich übe heute meinen Chip», sagt er, nimmt seine Vortragspose ein und fährt in dem priesterlichen Tonfall fort, den er für Golf und Gott reserviert hat. «Der Chip ist einer der am wenigsten geübten Schläge, von guten Golfern enorm unterschätzt, einfach weil gute Golfer tief drinnen das Gefühl haben, ihr Spiel sollte nur aus dem Drive und dem Putt bestehen. Man schlägt einen Ball mit ein, zwei Drives auf das Grün, man puttet. Einfach, oder? Natürlich sind nicht einmal die Besten von uns talentiert genug, den Ball jedesmal mit perfekten Drives aufs Grün zu bekommen. Unser Ball landet im Rough, ein winziges Stückchen vom Grün entfernt, oder, Gott behüte, in einem Hindernis. In diesem Fall ist der Chip unser größter Verbündeter. Wenn man den vom Kurs abgekommenen Ball mit der Sünde vergleicht - Sie gestatten mir diese unbeholfene Metapher -, dann wird der Chip zu einer Art notwendiger Buße. Und den Chip zu ignorieren, ist eine große Eitelkeit, die wiederum eine Todsünde darstellt. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill?» Ich bejahe. Pater Rose lächelt, die Augenlider halb geschlossen, heiter und gelassen wie ein Kardinal. Dann folgt er mir hinunter in die Krypta und läßt sich zu einem Lagebericht auf dem ramponierten Stuhl nieder. Er ist eigentlich kein mißtrauischer Mensch, aber er ist vorsichtig und kontrolliert zweimal wöchentlich meine Fortschritte im Archiv. «Also, wie geht es voran?» fragt er jetzt. Ich wate wie ein Fischer in Anglerstiefeln durch das Chaos. Eine Fliege summt um die nackte Glühbirne an der Decke herum, während ich ein dickes gelbes Blatt ans 58
Licht halte. «‹… und obwohl unser Leben in diesem neuen Land voller Entbehrungen ist›», lese ich laut vor, «‹ und man immer häufiger davon hört, daß Siedlungen in unserer Nähe überfallen werden, glauben mein Mann und ich trotzdem, daß dieses weite Land eine wahre Labsal für die Seele darstellt. Besser hier unter Wilden und schreienden Eulen und Raubtieren als zu Hause im Osten, umgeben von den Bewohnern der falschen und sündhaften Städte, die wir hinter uns gelassen haben. Sonntags gehe ich in Ermangelung einer Kirche und eines Gottesdienstes in den Feldern spazieren, inmitten von Gottes wunderbarer Schöpfung…› Ein schöner Gedanke, nicht wahr, Pater?» Er runzelt die Stirn. «Was ist das?» «Ein Brief von einem Gemeindemitglied, das um 1846 in eine Siedlung im Wilden Westen ausgewandert ist. Von einigem Interesse als historisches Dokument, würde ich meinen.» «An wen adressiert?» Die Augen des Priesters leuchten auf. «Weiß man nicht», sage ich. «Die erste und letzte Seite fehlen.» «Ah.» Er dreht sich um und blättert geistesabwesend einen Stapel Gasrechnungen aus den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch. «Wie Sie dort sehen, ist das Pfarrhaus 1876 auf Gaslicht umgestiegen», sage ich. «Und elektrische Leitungen sind erst ziemlich spät hinzugekommen, Anfang dieses Jahrhunderts.» «Das ist ja alles sehr interessant», sagt Pater Rose mit einer ungeduldigen Schärfe in der Stimme. «Aber nicht das, wonach wir suchen. Ich fange gerade an, den Papierkram für die Ritenkongregation vorzubereiten. Ich 59
habe einen Brief an den Bischof geschrieben. Es ist eine sehr komplexe Prozedur. Ich brauche etwas Konkretes. Bald.» «Tut mir leid, Pater, keine Wunder. Aber ich habe bereits eine Menge Papier durchgesehen.» Ich zeige auf die säuberlich gestapelten Häufchen, die überall herumliegen. «Und ich werde mir noch sehr viel mehr ansehen. Außerdem war ich bei der Historischen Gesellschaft von Brooklyn und in den Archiven der Erzdiözese. Es ist fast so, als hätte die Geschichte unsere Heilige mit Haut und Haaren verschlungen. Ich habe sogar in historischen Fachzeitschriften inseriert. Ein Aufruf mit der Bitte um Briefe, Informationen, irgend etwas. Bisher ohne Ergebnis.» Ich sehe, daß er enttäuscht ist. Er macht einen zaghaften Schritt auf das Eisengitter zu, durch das man in die Krypta gelangt. In der Grabesdüsternis da draußen kniet eine alte Frau vor einer in die Wand eingelassenen Gedenktafel. Eine elektrische Votivkerze flackert in einer Nische neben einem Schwarzweißporträt von einem jungen Mann, das in einem Oval aus durchsichtigem Zelluloid steckt. Im Hintergrund hört man wie immer, sogar durch diese dicken Mauern, die Verkehrsgeräusche. «Pater?» Er dreht sich wieder um. «Ob ich Sie wohl in einer anderen Angelegenheit um Rat fragen dürfte?» Wir gehen nach oben, in sein helles Büro im dritten Stock des Pfarrhauses, und umgeben von Golftrophäen erzähle ich ihm von dem Geist. Es macht mich nervös, darüber zu reden, und ich unterdrücke den Drang, niederzuknien und ein Bußgebet zu sprechen wie ein Zehnjähriger bei seiner 60
ersten Beichte, so als hätte ich den Geist mit meinen eigenen unverziehenen Sünden selbst über mich gebracht. Er lehnt sich in seinem Stuhl zurück und legt die Fingerspitzen zusammen. «Glauben Sie, es handelt sich um eine feindselige Erscheinung?» fragt er schließlich. «Schwer zu sagen, Pater. Zuerst die Steine, jetzt die Möbel. Und ich habe immer das Gefühl, als würde mir jemand über die Schulter sehen. Es ist wirklich sehr bedrückend.» «Warum erzählen Sie mir das alles, Mr. Conti?» «Ich dachte, Sie hätten vielleicht eine Idee, wie ich ihn loswerden kann», sage ich. «Eine Umsiedlung sozusagen.» Unglücklich rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. «Gespenster fallen nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Kirche, fürchte ich. Nur Geister.» «Gibt es da einen Unterschied?» «Natürlich. Sie kennen das Zweite Vatikanische Konzil?» «Sicher.» «Im Zweiten Vatikanischen Konzil wurde mit vielen alten Praktiken kurzer Prozeß gemacht. Der Exorzismus war eine davon. Ich sage nicht, daß es ihn überhaupt nicht mehr gibt. Nur eben extrem selten. Und es gibt eine Strömung, die solche Aktivitäten aufs Schärfste mißbilligt. Zur Zeit obliegt es den jeweiligen Bischöfen, ob sie in ihren Diözesen Exorzismen zulassen oder nicht. Bischof Allen lehnt sie ganz entschieden ab. Heutzutage glaubt die Kirche an Psychologie und verdrängte Erinnerungen. Unsere Interessen gelten Freud und der Psychotherapie, 61
nicht mehr Geistern und Dämonen.» «Was ist mit Heiligen?» Diese Frage ignoriert er. «Wenn ich in meiner Gemeinde einen Exorzismus genehmigen würde und es dem Bischof zu Ohren käme», sagt er, «würde man mich zur Erholung auf eine Ferienranch in Arizona schicken, im Verein mit all den anderen überspannten Priestern, die die Finger nicht von den Meßdienern lassen können. Und das ist nicht die Art von Gesellschaft, mit der ich gern für zehn oder zwölf Monate eingesperrt sein möchte.» Ein sanfter Lichtschein umgibt die blankpolierten Trophäen in ihren Vitrinen. Arnold Palmer lächelt wohlwollend auf uns herab. Hier, in dieser Umgebung, fällt es schwer, an die gespenstische Stille meiner Wohnung um drei Uhr morgens zu glauben, in der der Geist in der Dunkelheit wie eine Motte gegen das Fliegenfenster flattert. Pater Rose steht auf und nimmt seinen Putter aus der karierten Golftasche in der Ecke. «Sonst noch etwas?» Ich zögere. «Ein Rat? Hilfreiche Hinweise?» Er beugt sich vor und zielt mit dem Schläger auf einen der Übungsbälle, die auf dem Teppich verstreut liegen. Dann richtet er sich auf und heftet seine schwarzen Augen auf mein Gesicht. «Ja. Sie leben in einer schrecklichen Gegend, in einem Apartment, das ungewöhnlichen Störungen ausgesetzt ist. Mein Rat ist sehr einfach. Ziehen Sie um.»
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m Donnerstag nehmen Rust und ich die U-Bahn, um uns im Kino an der Ecke Fünfunddreißigste und Dritte eine in voller Länge wiederhergestellte Version von Nicholas Rays 55 Tage in Peking anzusehen. Der Film ist schrecklich, ein miserabel konzipiertes Epos über die Belagerung des europäischen Viertels in Peking während des Boxeraufstands von 1900 mit Charlton Heston, Ava Gardner und David Niven in den Hauptrollen. Er strotzt nur so von der für die Fünfziger typischen Hysterie, von Pappchinesen, schlechter Schauspielerei und mißverstandenen historischen Tatsachen, aber ich nehme kaum Notiz davon. Ich kann mich nicht auf die Handlung konzentrieren, weil ich immer noch über den Rat des Priesters grübele. Ich grübele jetzt schon seit zwei Tagen. Ich habe die Kleinanzeigen in der Voice immer wieder durchgelesen, aber die Schlußfolgerung ist stets die gleiche: das hier ist New York, selbst ein Korridor wird hier für fünfhundert Dollar im Monat vermietet. Und solange es mir nicht gelingt, die erste und die letzte Miete zuzüglich der Kaution zusammenzusparen - ungefähr zweitausend Dollar -, kann ich mir einen Umzug nicht leisten. Nach dem Film warten wir an der Fünfunddreißigsten auf dem leeren Bahnsteig zwei Ebenen tiefer auf die F nach Brooklyn. Wir warten ziemlich lange, aber von der F ist keine Spur zu sehen. Der Gestank und die Wärme hier unten sind schier unerträglich. Ratten huschen zwischen Müll und schwarzen Wasserpfützen die Trassen entlang. Von irgendwoher kommt ein langsames, tröpfelndes Geräusch. Ich fühle mich wie ein Statist in einem Sergio63
Leone-Western, hängengeblieben in einer dieser gewaltigen Cinemascope-Großaufnahmen von Desperados, die auf den Santa-Fe-Expreß warten, um einen der Fahrgäste zu töten. Rust schlurft an der Bahnsteigkante entlang. Dann wirbelt er plötzlich auf seinem Stiefelabsatz herum und sieht mich an. «Ich will dir eine Geschichte erzählen», sagt er. Ich rolle mit den Augen. «So ungefähr vor zwanzig Jahren war ich als Rancharbeiter auf einer Hazienda in Mexiko, im Bundesland Chiapas. Die Leute waren sehr reich, alteingesessene Grundbesitzer. Die von König Carlos von Spanien unterzeichnete Urkunde hing in einem großen Rahmen in der Halle der Hazienda. Consuela, die dreizehnjährige Tochter, war mit einem Poltergeist geschlagen, so wie du. Wenn sie in der Nähe war, schleuderte das Ding den Leuten Schüsseln voller Chili an die Köpfe, warf Gemälde von den Wänden, ließ Türen zuknallen. Einmal hat der Geist bei einem Tanzabend, den sie im Ballsaal veranstalteten, die Katze in ein Faß mit Tequila-Punsch geworfen. Das wäre ja alles noch ganz komisch, wäre da nicht das Ende der Geschichte. Eines Nachts verschwand das Mädchen. Am nächsten Morgen war sie einfach nicht in ihrem Zimmer. Eine Woche lang haben wir nach ihr gesucht. Wir Rancharbeiter mußten die ganze Umgebung durchkämmen. Wenn es dunkel wurde, nahmen wir Taschenlampen mit in die Hügel hinauf. Aber gefunden haben wir sie schließlich auf andere Weise. Gefunden haben wir sie wegen der Vögel.» «Vögel», sage ich mit einem Kloß in der Kehle. «Was für Vögel?» «Ganz plötzlich versammelten sich Geier auf dem Dach 64
der Hazienda. Sie sind niemandem besonders aufgefallen, bis es irgendwann ein halbes Dutzend war; große, böse, schwarze Vögel, die auf uns herabstarrten. Schließlich lehnte Luis eine Leiter an die Dachtraufe und kletterte hinauf, und da war sie, die arme Kleine, beziehungsweise das, was noch von ihr übrig war. Die Augen und alle weichen Teile hatten die Geier gefressen. Mit der linken Hand hielt sie eine Flasche Rattengift aus der Küche umklammert. Bei der Gerichtsuntersuchung hieß es, daran sei sie gestorben; ihre Zunge war ganz schwarz von dem Zeug. Es ging als Selbstmord durch. Aber wie sie aufs Dach raufgekommen war, konnte niemand sagen. Einige Leute meinten, es sei der Geist gewesen, der Poltergeist, der sie irgendwie dort hinaufbrachte und ihr das Gift in die Hand drückte. Ich weiß es nicht. Ich weiß aber, daß es nicht gut tut, mit diesen verdammten Dingern zu leben. Es ist, als lebe man mit einer undichten Gasleitung. Früher oder später muß es einfach knallen.» Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, bin aber plötzlich total erschöpft. Ich möchte nicht mehr daran denken. Jetzt warten auch einige andere Fahrgäste auf dem Bahnsteig. Ein tadellos gekleideter alter Mann führt hitzige Selbstgespräche; zwei schwarze Teenager, die trotz der Wärme Lederparkas tragen, hängen über einem tragbaren Recorder, aus dem Rap-Musik plärrt; eine dünne, traurig aussehende Frau starrt angestrengt auf das dritte Gleis. Plötzlich blickt Rust auf, und in diesem Augenblick spürt man einen heißen Wind aus dem Tunnel, gefolgt von einem gewaltigen Dröhnen. Bei diesem Geräusch kommen ungefähr zwanzig junge Puertoricaner von dem Nahverkehrszug-Gleis eine Ebene über uns heruntergestampft, und der Bahnsteig ist voll. Aber als der Zug einfährt, geht ein Stöhnen durch die Menge. Es ist ein Dienstwagen, an den 65
Längsseiten mit schwarzen und gelben Streifen bemalt wie ein Pestschiff, die Fenster vergittert. Aus unerklärlichen Gründen steht der Dienstwagen die nächsten fünfzehn Minuten auf dem Bahnsteig. In dem einzigen Waggon des Zuges huschen Männer in hellblauen Uniformen hin und her. Im Zugbegleiterwagen stapeln sich kaputte Drehkreuze, Eisenschrott und sonstiger Müll. Schließlich fährt eine Ebene über uns ein anderer Zug ein, und auf der Treppe ertönen die Schritte schwerer Stiefel. Fünf Bahnarbeiter, ausgerüstet mit Pistolen, laufen hastig den Bahnsteig hinunter. Sie haben zwei nervöse Männer in Anzügen im Schlepptau, die kleine schwarze Aktenkoffer bei sich tragen. Die Türen öffnen sich, die Wachen und die beiden Männer treten in das gelbe Licht, und eine Sekunde später ist der Dienstwagen verschwunden, davongeschlingert in die Dunkelheit des Tunnels. Ich blicke hinüber zu Rust. Er zuckt mit den Schultern. «New York», sagt er. «Da weißt du nie, was los ist. Nicht wirklich. Wir wissen nur, was man uns erzählt. Und man erzählt uns nicht viel.» Er hat recht. Diese Stadt ist eine einzige riesige Verschwörung, ein Rätsel, dessen Lösung geschickt vor uns verborgen wird. Es gibt da etwas, das wir nicht mitkriegen, obwohl gewisse Hinweise unübersehbar sind: Dampf erhebt sich über den Straßen, das Pflaster vibriert. Das Grundgestein unter unseren Füßen ist durchschossen mit Tunneln und Geheimgängen, Arterien, die in die Finsternis unter den Wolkenkratzern führen, zu einer geheimen Endstation, wo das Herz der Stadt bloß liegt, pulsierend und schrecklich, liebevoll umsorgt von Bahnarbeitern wie eine Ameisenkönigin von den Arbeiterinnen - die Kammern seiner mechanischen Pumpe befeuert mit Dampf und Blut und den zerstörten Hoffnungen von Millionen. 66
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onntag. Chase gibt in ihrem Loft östlich von Carroll Gardens eine Dinnerparty für Jillian. Ich spiele mit dem Gedanken, nicht hinzugehen, aber Sonntage sind schlimm: lange, leere Nachmittage voller Flüstern und schalem Sonnenlicht, gefolgt von unbarmherzigen Abenden, die wie eine Eiswand vor einem aufragen. Es ist nicht das Essen - Chase ist eine hervorragende Köchin, bewandert in verschiedenen, auch ziemlich unbekannten asiatischen Kochstilen -, es sind ihre Freunde: eine kunterbunte Schar von Filmleuten, die sich was darauf einbilden, zur Szene zu gehören, sowie drogensüchtige junge Burschen in Stulpenstiefeln, Hexen, Kommunisten und Performancekünstler. Rüde Bohémiens mit einer leidenschaftlichen Antipathie gegen Tischmanieren und die alltäglichen Liebenswürdigkeiten, die das Getriebe des bürgerlichen Lebens geschmeidig halten. Als die Dunkelheit vom Fluß heraufsteigt, gehe ich die Tide Street hinauf und kriege in der Knox Street die F zur Bergen Street. Die Gegend hier ist mittlerweile überwiegend spanisch, aber in ein oder zwei Häuserblocks leben immer noch Italiener; es gibt eine Reihe italienischer Restaurants und einige wenige sichere Straßen, in denen wahrscheinlich Mafia-Leute die Runde machen. Chase’ Loft liegt an der Ecke Smith und Baltic in einer alten Episkopalkirche, St. John the Baptist. Die Kirche wurde vor zehn Jahren, nachdem der letzte Episkopale Brooklyns geflüchtet oder gestorben war, in ein Wohnhaus umgewandelt. Die massiven, mit Eisennägeln beschlagenen Türen auf 67
der Seite zur Baltic Street hin sind mit einem Eisenklopfer von mittelalterlichen Proportionen ausgestattet. Durch die gotischen Buntglasfenster schimmert Licht, und ich höre das Dröhnen einer alten, auf volle Lautstärke gestellten Sob-Sister-Aufnahme. Nach einigen Sekunden öffnet Jillian mir die Tür, in der Hand ein Whiskyglas. Sie hat sich ihr blondes Haar heute abend weiß ausgebleicht und mit Gel nach hinten gestrichen, und sie sieht ungesund aus und sogar noch dünner als bei unserer letzten Begegnung. Sie trägt ein langärmeliges Strickoberteil, das wie ein nasser Badeanzug an ihrem Körper klebt, und ihre Rippen stehen hervor wie die Rippen auf einem Dürer-Porträt des gekreuzigten Christus. «Scheiße. Es ist der Bastard», sagt sie. Einen Augenblick lang sieht es so aus, als würde sie mich nicht reinlassen. «Jillian, schön, dich wiederzusehen», sage ich, nehme die Flasche billigen kalifornischen Chablis in die linke Hand und halte ihr die rechte hin. «Schon gut», sagt sie, macht eine wegwerfende Geste, dreht sich um und überläßt es mir, die Tür zu schließen und abzusperren. Ich sehe einen Moment lang zu, wie ihr knochiger Hintern die Treppe hinaufwackelt und kann nicht umhin, mit einer gewissen Wehmut an seine ehemals üppigen Proportionen zurückzudenken. Wieder einmal eine schöne Frau vor die Hunde gegangen, dank Heroin und New York City. Aber das ist eigentlich nicht fair. In meinen Augen ist der Rock ’n’ Roll an allem schuld. In den frühen Achtzigern, damals an der Brown University, gründeten Chase und Jillian zusammen mit einer Kunststudentin eine Frauenband. Chase zupfte den Baß, Jillian übernahm die Leadgitarre und sang, und die Kunststudentin hämmerte auf irgend etwas herum. In 68
jenen Tagen war der Punk das allgemein übliche Ausdrucksmittel der Gegenkultur, und Jillian war schon bald bekannt für ihre grellen Tätowierungen, ihr mißtönendes Kreischen und ihre Mißachtung aller Regeln des Anstands. Bei der Vorführung ihrer berüchtigten Nummer «Fuck me blind», ihrem Markenzeichen, zog sie sich nackt aus und masturbierte auf der Bühne mit dem Kopf des Mikrofons. Das Obszönste daran waren die feuchten, glucksenden Laute, die über die alten VoxVerstärker kamen. Drei Jahre lang hatte Sob Sister eine Reihe berühmtberüchtigter Auftritte in der Umgebung von Providence und in Boston. Die Mädchen wurden achtmal verhaftet und für kurze Zeit von der alternativen Plattenschmiede Dischord Label unter Vertrag genommen. Als alles vorbei war, war Jillians Stimme - ausgebildet für die Oper von den besten Gesangslehrern, die man mit Geld kaufen konnte - unwiederbringlich ruiniert. In der Mitte des Loft steht direkt unter einem gotischen Eiszapfen, der von der Decke herunterzeigt, ein langer Tisch aus ausrangierten Türen, hübsch gedeckt. Ich zähle zwölf schwarze, achteckige Teller, zwölf Sets bewußt durcheinandergewürfelter Silberbestecke. Ein Arrangement schwarzer Papierblüten treibt auf einer makellos sauberen, stählernen Bettpfanne in der Mitte des Tisches. Ich schenke mir etwas Wein ein und gehe voller Bewunderung für die einzelnen Gedecke an der langen Stuhlreihe entlang. Jede Serviette ist zu einem OrigamiVogel gefaltet, jeder Vogel anders als die anderen. Auf den Türknäufen balancieren Aschenbecher, gestohlen aus einem japanischen Hotel. «Hast du dich jemals gefragt, was in dieser Stadt mit den Türen geschieht?» rufe ich Chase zu. «Die Leute werfen 69
sie einfach weg! Man kann sie überall sehen, in Müllcontainern und Seitengassen; sie liegen einfach auf dem Bürgersteig rum. Dann mietet man eine Wohnung und muß feststellen, daß sämtliche Türen fehlen.» Chase, die hinter den Glasbacksteinen des Küchenbereichs über einen riesigen Wok voller Gemüse gebeugt ist, ignoriert mich. Sie hat genug zu essen gemacht, um eine Armee satt zu kriegen, aber bisher ist außer Jillian und mir nur Byron Poydras da. Er lümmelt sich auf der Ledercouch auf der anderen Seite des Zimmers, vollkommen vertieft in eine Ausgabe von Gnarl. Poydras ist auch einer von diesen Künstlerfreunden von Chase, bei denen ich nicht genau sagen könnte, was sie eigentlich tun. Ich gehe über die kahle Holzfläche hinüber zu der Couch. «Eins würde ich gerne mal wissen, Poydras», sage ich. «Was fängst du eigentlich mit deiner Zeit an?» Er blickt von seinem Comic auf, träge wie eine Katze. «Herumbummeln, meistens», erwidert er. «Okay. Und wo bummelst du rum?» Ein nichtssagendes Schulterzucken muß mir als Antwort genügen. Er ist ein langgliedriger Bursche von etwa siebenundzwanzig Jahren, einer von diesen schlaksigen Don Quichottes aus dem Süden. Ein Vorhang blonden Haares hängt permanent vor seinem Gesicht, die Knöpfe an seinen Manschetten stehen grundsätzlich offen. Das macht mich rasend. Ich möchte sie zuknöpfen, sein Haar mit einem Kamm bearbeiten. Statt dessen setze ich mich neben ihn und lese über seine Schulter hinweg mit. Gnarl ist ein Avantgarde-Comic, das Benito Mussolini als gerissenen Pandabären und Gabriele d’Annunzio und den Rest der Schwarzhemden als bösartige Waschbären porträtiert. 70
«Ned», sagt er ein paar Seiten später, «hör auf, über meine Schulter mitzulesen. Das macht mich nervös.» Es ist schwer vorstellbar, daß irgend etwas Poydras nervös machen könnte, aber ich ziehe ab, um mein Weinglas nachzufüllen. Im Gegensatz zu den meisten von Chase’ Freunden haben Poydras und ich etwas, das nach Boheme-Maßstäben als herzliches Verhältnis durchgehen kann. Er stammt aus New Orleans und hat einmal durch merkwürdige Umstände auf der Louisiana State University eine von Antoinettes Schwestern kennengelernt. Obwohl er selbst hetero ist, steckt er bis über beide Ohren in der Transvestitenszene, die ein Hauptbestandteil des Lebens im East Village zu sein scheint. Ich habe festgestellt, daß viele der hierher verpflanzten Louisianer an diesen perversen Spektakeln teilnehmen, die jeden August im Wigstock Festival im Tompkins Square Park gipfeln - eine ganztätige Angelegenheit, in deren Mittelpunkt Transvestiten, Frauenimitatoren und sexuelle Verwirrung stehen. Vielleicht ist es das Erbe von Mardi Gras, das die Louisianer in New York zu solchen Exzessen verleitet. Immerhin verkleiden sich mittlerweile seit mehr als einem Jahrhundert in den Karnevalsvereinen die Männer als Frauen und die Frauen als Männer. Wir warten eine Stunde lang, aber kein weiterer Gast trifft ein. Chase ist mit den letzten Vorbereitungen so beschäftigt, daß sie es nicht bemerkt, aber um halb elf ist alles fertig, und sie sieht sich in ihrer beinahe leeren Wohnung um, und ihre schiefstehenden Augen füllen sich mit Tränen. «Nicht schon wieder», sagt sie mit einem schrillen, unglücklichen Ton in der Stimme. «All das verdammte Essen.» «Es sind deine lausigen Freunde, Chase», rufe ich aus. «Sie finden es schick, nicht aufzutauchen. Es ist einfach 71
nicht cool, dort zu sein, wo man gesagt hat, daß man sein würde. Da draußen ist eine ganze neue Generation von Beatniks, die glauben, eingehaltene Verabredungen seien ein Zeichen unterschwelliger Mittelklassetendenzen.» «Du bist ein scheißelitärer Bastard.» Jillian wedelt mit ihrem whiskygefüllten Glas von der anderen Seite des Zimmers in meine Richtung. In der ganzen letzten Stunde ist sie nervös auf und ab gelaufen, hat Whisky verschüttet und Selbstgespräche geführt. Jetzt sind ihre Augen rot, ein hübscher Kontrast zu dem ungesunden Grün ihrer Haut. Sie kommt zu mir herüber und stößt mir einen Finger ins Gesicht. «Wieso glaubst du eigentlich, daß du was Besseres bist?» sagt sie. «Ich habe eine Neuigkeit für dich, du Scheißer - du säufst ab, genauso wie wir alle!» Ich bin erschrocken über ihre Worte und weiß nicht, was ich sagen soll. Einen Augenblick lang sind ihre Augen, rot und anklagend, alles, was ich sehen kann. «Ha», sagt sie und reißt, Whisky verspritzend, die Hände hoch. Aber in diesem Moment greift Chase ein. «Kommt schon, ihr zwei», sagt sie müde. «Laßt uns essen.» Das Essen heute abend ist indonesisch mit einem Hauch Thai. Als Appetithäppchen bekommen wir mit Curry zubereitete Shrimps, dann eine Kokosnußsuppe mit Limonengras, einen kalten Brokkoli-Muschel-Salat und schmackhaftes, erst gekochtes, dann gebratenes Hühnchen Jakarta. Von den halb geöffneten Buntglasfenstern, die auf die Baltic Street hinausgehen, bläst mir ein warmer Wind in den Nacken. Das Fenster, das mir am nächsten ist, zeigt Johannes den Täufer in seinem Eselsfell in der Wüste; das Bild daneben stellt den heiligen Andreas dar, wie er, ans Kreuz geschnallt, über einer kleinen Flamme aus buntem 72
Glas geröstet wird. Von irgendwo da draußen weht der Wind die klagenden Laute einer Tuba zu uns herüber. «Hört doch», sage ich und zeige mit der Gabel über meine Schulter. «Was sollen wir hören?» fragt Chase. «Ich muß es euch sagen», beginnt Poydras plötzlich von seinem Ende des Tisches. «Ich fixe. Habe mir drei Schüsse gesetzt, bevor ich heute abend ins Taxi gestiegen bin.» Dann lächelt er dämlich, wie ein Kind, das sich gerade in die Hosen gepinkelt hat. «Warum nimmst du vor meiner Dinnerparty Stoff?» fragt Chase ihn. «Das macht die ganze Erfahrung des Essens kaputt. Das Essen sollte für sich stehen.» «Die Musik», sage ich. «Hört denn niemand die Musik von draußen?» Chase schüttelt den Kopf. Aber meine Ohren sind schon immer sehr gut gewesen. Ich kann Babys über einen ganzen Häuserblock weg schreien hören; Paare, die sich im Nebenzimmer lieben, leise wie Kirchenmäuse; Uhren, die in den stillen Stunden des Morgens ticken, gleichmäßig wie ein Metronom. Eine Zeitlang essen wir, ohne zu reden. Da bemerkt Chase, daß Jillian ihren Teller nicht angerührt hat. «Jillian», sagt sie und klingt verletzt, «du hast versprochen, du würdest essen.» Jillian schiebt ihr Whiskyglas mit einer diktatorischen Geste zurück und erhebt sich vom Tisch. «Tyrannisier mich nicht, ja! Sag jetzt bloß kein Wort mehr!» faucht sie, einen hysterischen Ton in der Stimme, und dann stürzt sie zur Toilette am anderen Ende der Wohnung. Einen Augenblick später hören wir das Keuchen und Husten, mit dem sie sich hinter dem dünnen 73
grünen Vorhang erbricht, der die Toilette vom Rest der Welt abschirmt. «Gütiger Himmel», sage ich, und das Essen bleibt mir im Halse stecken, «was ist denn los mit ihr?» Ich denke, ich kenne die Antwort, denke, sie liegt unter den langen Ärmeln verborgen, aber ich bin überrascht zu hören, daß es etwas ganz anderes ist. Jillian ist magersüchtig geworden und kann sich deswegen nicht mehr mit Peepshows oder Pornofilmen durchschlagen; sie ist gezwungen, ihre reichen Eltern um Hilfe zu bitten. «Magersüchtig?» frage ich. «Was ist aus dem Heroin geworden?» Chase lächelt beinahe. «Das Heroin hat sie schon vor einem Jahr aufgegeben. Jetzt nimmt sie nichts mehr außer Single-Malt Scotch. Nicht mal was zu essen. Ab und zu trinkt sie einen Vitaminsaft, meistens gemischt mit Whisky. Es ist wie Milch, nur dicker und ekliger.» «Habe ich das richtig verstanden», sage ich laut, «du hast eine Dinnerparty für eine Magersüchtige gegeben?» Chase zuckt mit den Schultern. «Ich dachte, ich könnte sie dazu bewegen, etwas zu essen. Sie sagte, sie würde es versuchen. Ich habe mich geirrt.» Eine Viertelstunde später taucht Jillian wieder auf und setzt sich ganz ruhig hin, als sei nichts geschehen. Chase serviert das Dessert, eine Safraneiscreme, und dazu einen vietnamesischen Kaffee, mit Kondensmilch gesüßt. «Ich habe gerade mit Inge telefoniert», bemerkt Jillian. «Sie kommt auf einen Happen rüber. Ich dachte, bei all dem Essen, das übriggeblieben ist…» Mit gesenktem Kopf, demütig wie ein Dienstmädchen, nickt Chase und setzt sich wieder auf ihren Stuhl am Ende 74
des Tisches. Inge ist eine große Deutsche Mitte Zwanzig, rothaarig, mit sehr blasser Haut, einem etwas schiefen Lächeln, einem Pferdegebiß und Brüsten von der Größe des Matterhorns. Sie poltert die Stufen hinauf, küßt Jillian auf den Mund, bedenkt den Rest mit einem teutonischen Nicken, stürzt sich auf den Tisch und beginnt mit Begeisterung zu essen. Jillian lächelt, während Inge ißt. Vielleicht ißt Inge für sie beide. In sich gekehrt sitzt Chase vor ihrem Kaffee, raucht eine Zigarette, zwei Finger an die Stirn gelegt. Die Konversation, die bisher schon eher trostlos war, kommt vollkommen zum Erliegen, und wir alle sehen Inge beim Essen zu. Ab und zu blickt sie auf, lächelt uns an und wendet sich wieder ihrem Teller zu. Ihr Appetit ist gewaltig. Sie macht einer großen Platte Hühnchen den Garaus und hat die Muscheln mit Brokkoli schon zur Hälfte erledigt, als mir einfällt, wo ich sie schon einmal gesehen habe, und ich bin gerade betrunken genug, um es auszuposaunen. «Du hast einen Film gemacht, stimmt’s?» frage ich. «Du und Jillian. Ich hab ihn im Paramour gesehen. Ihr habt eure Sache wirklich gut gemacht, alle beide.» «]aha», strahlt Inge. «Wir hatten eine Szene zusammen in einem Fuck-Film. So haben wir uns kennengelernt.» Mit diesen Worten beugt sie sich über den Tisch und küßt Jillians eingefallene Wange. Chase funkelt mich durch den Rauch ihrer Zigarette wütend an, aber Jillian scheint es nichts auszumachen. «Und hast du dir einen runtergeholt, während wir es getrieben haben?» erkundigt sich Jillian und sieht mir direkt in die Augen. «Nein», sage ich und zucke zusammen. «Natürlich 75
nicht.» «Ich meine, ich könnte es verstehen, wenn du dir einen runtergeholt hättest; Inge und ich waren nämlich echt scharf zusammen.» «Jaha», sagt Inge lächelnd. «Später hat sich rausgestellt, daß Inge es gerne von hinten hat», fährt Jillian fort. «Als die Kamera abgestellt war, wollte sie, daß ich weitermache. Also haben wir an diesem Abend bei Florent gegessen, ich habe sie dann mit nach Hause genommen, und wir haben es noch mal versucht, ohne die Mannschaft und die Lichter. Du wärst überrascht, wie viele Frauen es so mögen. Von hinten.» «Sehr gut fürs Fucken», stimmt Inge ihr zu. «Faxen?» frage ich perplex. «Fucken.» «Was?» «Ficken, um Himmels willen, Ned», sagt Chase ärgerlich und drückt ihre Zigarette im Aschenbecher aus. «Oh.» Genau in diesem Augenblick erreicht uns wieder diese getragene, klagende Musik von der Straße. Es hört sich an wie eine Beerdigungsprozession in einem mexikanischen Dorf. «Hey, Ned», sägt Poydras, und seine Augen leuchten und sind gleichzeitig von einer Art Wahnsinn erfüllt. «Jetzt hör ich’s auch. Ich hör die Musik!» Die Musik wird lauter, scheint die Baltic Street heraufzukommen, ein lakonisches Klagelied - Tuba und Posaune, dazu das stetige Dröhnen einer Trommel und das zurückhaltende Klirren von Triangeln. Wie aufs Stichwort stehen wir alle vom Tisch auf und treten ans Fenster, Inge noch immer mit vollem Mund. 76
Es ist Mitternacht, und unten ist soeben eine italienische Kirchenprozession um die Ecke gebogen. Ich sehe eine kleine Blaskapelle, ein Dutzend langmähniger, italienischer Mädchen in engen schwarzen Kleidern, die auf ihren Stilette-Absätzen ein wenig wacklig wirken. Ihnen folgen sechs oder sieben Kerle mit an den Schultern ausgepolsterten Anzügen, die auf einer schwarzverhüllten und mit billigem Silbertand behängten Sänfte eine fünf Meter hohe Gipsstatue der heiligen Jungfrau tragen. Im Schlepptau dieses heiligen Bildnisses mühen sich ein paar alte Italienerinnen, über ihre Rosenkränze gebeugt, auf den Knien das Pflaster entlang. «Wow», sagt Poydras. «Was ist das, die Beerdigung von irgendwelchem Gesindel?» fragt Chase. «Guckt euch doch nur diese Flittchen mit ihren langen Haaren an.» «Es ist das Fest der Jungfrau von Palermo», erwidert Jillian leise. «Fing vor ein paar hundert Jahren mit einem einfachen Schuster in Sizilien an. Banditen hatten - in einer Vendetta - seine Kinder entführt, und er ging in die Basilika und versprach der Jungfrau Maria, auf Knien durch die ganze Stadt zu rutschen und dabei den Rosenkranz zu beten, wenn seine Kinder gesund und munter zu ihm zurückkämen… Na ja, er bekam seine Kinder zurück, aber in Stücke gehackt wie ein Haufen Steaks. Also packte er ihre blutigen Leiber in eine Schubkarre und schob sie am nächsten Tag zum Entsetzen der Gemeinde während der Messe in die Basilika. Dort ließ er sich auf die Knie fallen und flehte die heilige Jungfrau an, seine Kinder wieder ins Leben zurückzurufen. Vor den Augen der versammelten Gläubigen fügten die blutigen Stücke sich wieder zusammen und die Kinder hüpften aus der Schubkarre, flink wie Pinocchio, lachend und plappernd und so gut wie 77
neu.» «Was für eine Scheiße die Leute doch so glauben», sagt Chase. Jillian zuckt mit den Schultern. «Als die Gegend hier noch italienisch war, gab es immer Tausende von Leuten, die dieser Statue folgten, die meisten von ihnen auf den Knien. Aber die Puertoricaner haben nichts übrig für die Jungfrau von Palermo. Sie haben ihre eigenen Heiligen.» «Woher weißt du das alles?» fragt Poydras voller Ehrfurcht. «Stand heute morgen im Lokalteil der Times», erwidert Jillian. Als die Prozession unter unserem Fenster vorüberzieht, erkenne ich auch die Melodie. Es ist eine alte italienische Weise. «He, Jillian», sage ich, «kennst du die Melodie? Es ist eine Arie aus…» «Ja, ich weiß, aus Massenets Manon.» Sie zieht einen Stuhl ans Fenster, stellt sich drauf und beginnt, in einem klaren, hohen Sopran zu singen, der bis zu der Prozession auf der Straße hinunterdringt. Die Leute blicken überrascht auf, und als sie Jillian im Licht des Kirchenfensters singen sehen, brechen sie in Jubelrufe aus. Einige Sekunden lang erklingt ihre Stimme glockenhell. Ich beobachte ihr Gesicht und habe den Eindruck, machtvolle Emotionen dort vorüberziehen zu sehen: Bedauern, Scham, eine Sehnsucht nach Reinheit. Aber nach wenigen Augenblicken bricht ihre Stimme, sie gerät ins Stocken und ringt nach Luft, und dann marschiert die Prozession an uns vorbei, hinein in die Nacht.
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eute abend wird Brooklyn von Regengüssen gepeitscht. Der Fluß riecht wie ein nasser Hund. Moskitos tanzen über die Wände, aber ich bin zu müde, um mich auf die Jagd nach ihnen zu machen. Statt dessen döse ich zur Wiederholung einer alten Folge von Enterprise vor mich hin, schlafe in dem orangefarbenen Naugahyde-Sessel vorm Fernseher ein und habe einen sehr lebhaften Traum. In dem Traum stehe ich auf der oberen Galerie eines großen Hauses mit Blick auf einen Fluß; dieser Fluß ist braun und bewegt sich träge dem Horizont entgegen. Eine lange, zu beiden Seiten von immergrünen Eichen gesäumte Auffahrt führt zum Ufer hinunter, und ein Stück weiter weg sind Männer und Frauen in weißen Kleidern auf den Feldern bei der Arbeit. Die Sonne brennt vom Himmel und wirft die dicken, schwarzen Schatten der schweren Säulen auf das polierte Holz der Galerie. Eine Gruppe von Reitern versammelt sich unten vor den Treppenstufen in der Auffahrt. Ich kann das Schnauben der Pferde hören und die Männer, die lachen und plaudern, und eine unerfreuliche Wolke von Zigarrenrauch steigt in der stickigen Luft zu mir auf. Es ist sehr heiß, und mein Herz schlägt so schnell. Ich halte den Atem an und spüre das Hämmern in meinen Ohren. Kurz darauf brechen die Männer auf; die Hufe ihrer Pferde klingen hohl im Staub, und die Halfter klirren. Ich bin froh, daß sie fort sind, denn ich warte auf einen anderen. Ich warte eine ganze Stunde lang, verstecke mich in den heißen Schatten unter der Dachtraufe, und es liegt eine so furchtbare Vorahnung in der Luft, daß mir ganz 79
schwindlig wird, und die Hitze ist schrecklich. Endlich sehe ich eine einsame Gestalt auf einem Pferd die Straße entlangkommen. Sie reitet auf das Haus zu, und ich trete aus dem Schatten heraus und lege meine Hand auf das Geländer, und da plötzlich sehe ich, daß meine Hand weiß und zart ist und zwei kunstvolle Ringe auf den beiden mittleren Fingern stecken, einer davon ein Rubin von antikem Schliff und mit Diamanten umgeben, die im Sonnenlicht glitzern und funkeln. Es ist eine Frauenhand. Da höre ich einen Mann die Treppe heraufkommen und seine Stimme, die meinen Namen ruft, und mein Herz rast wie verrückt, denn es scheint mir, als hätte ich so lange auf ihn gewartet, so lange… An dieser Stelle weckt mich die Nationalhymne im Fernsehen, und mein Hals und meine Schultern sind schweißnaß. Hinter mir nehme ich ein leises, raschelndes Geräusch wahr, aber ich drehe mich nicht um, denn ich habe Angst vor dem, was ich dort finden würde. Ich bleibe in dem orangefarbenen Sessel sitzen, unbeweglich und steif, bis das Rascheln aufhört. Dann stehe ich ganz vorsichtig auf - immer noch, ohne mich umzudrehen -, gehe ins Bett und ziehe mir die Decke über den Kopf, und ich mache weder die Lichter im Wohnzimmer noch den Fernseher aus, der bis zum Morgen vernehmlich knackt und zischt.
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ie Tide Street ist ein langer, dunkler Canon. Zwei noch funktionierende Straßenlaternen senden ihr purpurfarbenes Flackern in die Düsternis; die übrigen sind kaputt. Ich komme spät von der Arbeit nach Hause und halte mich ganz nah an den dunklen Backsteinmauern der Lagerhäuser, wende mich dann nach links und mache einen Umweg die Tyler Street hinunter, um den Tippelbrüdern und den wilden Hunden aus dem Weg zu gehen, die von den wochenalten Pitataschen in den Müllcontainern vor der Bäckerei Damascus leben. Dann gehe ich durch die schmale Gasse zwischen den Lieferwagen der Bäckerei hindurch, die schweigend und schwarz wie düstere Kolosse dort lauern. Irgend etwas krampft einem an dieser Stelle das Herz zusammen, nicht eigentlich Furcht, sondern eher die Gewißheit, daß man es nicht schaffen wird, daß heute nacht die Nacht ist; ein paar gesichtslose Gangster, eine Kugel, auf der dein Name steht - und jetzt, als ich aus dem Schatten heraustrete, bleibt mir das Herz stehen: Ich mache eine Gestalt aus, vielleicht zwei, die sich ein ganzes Stück vor mir zwischen den Lieferwagen auf mich zu bewegen. Ich erstarre. Dann höre ich ein vertrautes Knurren, und die Gestalten werden deutlicher. Zu meiner ungeheuren Erleichterung ist es der «Angsthase mit den Hunden» . Das war Molesworths Bezeichnung für einen chronisch verängstigten Nachbarn, dessen wirklicher Name Geoff Pulaski ist. Geoff ist ein großer, magerer Mann Ende Dreißig, der das ganze Jahr über schwarze Ledersachen trägt und zudem einen verblüffenden, vorzeitig ergrauten 81
Haarschopf hat, der von seinem Hinterkopf absteht, sowie ein weißes, angespanntes Gesicht, das aus einem Holzschnitt von Edvard Munch stammen könnte. Geoff nimmt, als wir auf gleicher Höhe sind, die Leine kurz und sieht mich in der Dunkelheit prüfend an. Die Hunde knurren und scharren auf den Pflastersteinen, zerren an ihren Ketten, um mir an die Kehle gehen zu können. Es sind Mastiffs, größer als Rottweiler und noch tödlicher, gezüchtet für die Bärenjagd im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Sie sind nicht anders als die vielen anderen Tiere in unserer Gegend: große Savoyarden, russische Wolfshunde und einige wenige dänische Doggen, alle angeschafft von nervösen Bohémiens, die kaum Geld genug haben, um sich selbst durchzubringen geschweige denn Tiere, die in zwei Tagen ihr Eigengewicht an Hackfleisch verschlingen. Statt den Rest des Heimwegs allein zurückzulegen, beschließe ich, Geoff zur Hundepromenade nach Brooklyn Heights zu begleiten. Er begreift sofort, aber unglücklicherweise ist es nicht möglich, schweigend nebeneinander herzugehen. Wir müssen miteinander reden, um die Illusion aufrechtzuerhalten, Freunde zu sein und nicht nur zwei verängstigte Ratten, die sich um der Sicherheit willen zusammengerottet haben. Als wir wieder in die Tide Street einbiegen, dort, wo die Lagerhäuser stehen, halten die Hunde ihre Nasen in die saure, nach Brotteig riechende Luft, und ich erkundige mich höflich nach Geoffs Job. Er ist Produktionsassistent bei einem Nachrichtenmagazin einer Kabelsendergruppe, der Aramco Group; Zielgruppe sind homosexuelle Teenager. In seinem Job läuft alles prima. Er erkundigt sich nach meinem Job. In meinem Job läuft alles prima. Dann wendet sich das Gespräch wie immer dem einzigen Thema zu, das wir wirklich gemeinsam haben: 82
das Viertel, in dem wir wohnen, und die sichersten Wege hinein und hinaus. Jeder hat da seine Theorie, untermauert von Intuition, schlechten Erfahrungen oder Gerüchten. Es gibt zwei Wege, die hineinführen: mit der F bis zur Haltestelle Knox, dann die Tyler runter zur Tide, oder mit der A nach Brooklyn Heights und dann über Straßen, die nur aus Schlaglöchern zu bestehen scheinen, zur Portsmouth Street. Geoff vertritt die Schule, die die F an der Knox Street meidet; sie ist zwar die nächste U-Bahn-Haltestelle, bedeutet aber gleichzeitig auch einen zehnminütigen Marsch durch verlassene Straßen. Seiner Meinung nach fahren die Schlägertypen aus den Sozialbauten mit dieser U-Bahn und machen in der Dunkelheit unter der Manhattan Bridge Jagd auf die Fahrgäste, die in Knox ausgestiegen sind. Die A dagegen, sagt er, die einen noch um sieben Minuten längeren Fußweg notwendig macht, gehört nicht zum Revier dieser Schläger. In Wahrheit ist es eine reine Glückssache. Dein Schicksal wird dich ereilen, wenn es dich ereilen will, in der A oder der F oder irgendwo sonst auf einer dieser dunklen Straßen. Aber wir finden solche Theorien tröstlich; sie vermitteln uns die Illusion, die Dinge irgendwo noch unter Kontrolle zu haben. «Du kennst doch Ang Dong, hm?» fragt Geoff. «Wohnt zwei Häuser weiter als du. Ein koreanischer Künstler, macht Skulpturen aus Kaffeesatz.» Ich nicke, obwohl ich von dem Typ noch nie etwas gehört habe. «Ang war wie du, er dachte, die F sei okay. Es ist ja auch eine vielbenutzte Linie, nicht wahr? Immer überfüllt. Irrtum. Sie heißt schließlich nicht umsonst ›Todeslinie‹. Er wurde unvorsichtig, ist letzte Woche nach Einbruch der 83
Dunkelheit mit der F nach Hause gekommen, und da haben sie sich ihn geschnappt. Du weißt ja, wie vorsichtig sie sind, wenn es darum geht, Koreaner zu überfallen, aber sie haben sich ihn trotzdem geschnappt.» Es ist eine allgemein anerkannte, aber unbewiesene Theorie, daß die Schläger sich nicht gern an Koreaner heranmachen, denn im Gegensatz zu den Weißen, die mehr Geld als Mumm haben, beherrschen die Koreaner oft ziemlich gut die asiatischen Kampfsportarten, und sie gelten allgemein als ernstzunehmende Gegner. Ich glaube das zwar nicht, aber trotzdem, ich bin erschüttert. «Vielleicht war es dunkel. Vielleicht konnten sie nicht sehen, daß er Koreaner war», sage ich. «O nein. Sie wußten es sehr wohl. Sie haben ihn trotzdem gekriegt. Haben ihn sich gegriffen, ihm einen Arm um die Kehle gelegt, und zack, war er bewußtlos. Es wird immer schlimmer. Von den Iren hast du natürlich schon gehört. Zum Teufel auch, sie wohnen in unserem Haus…» Mittlerweile sind Geoff und ich unter dem großen Bogen der Manhattan Bridge angelangt, deren gesperrte Gehwege mit orangefarbenen Baunetzen verhangen sind. Früher einmal konnte man von hier zur Canal Street in Chinatown rüberlaufen, so wie man auf der Brooklyn Bridge von den Heights zum Bankenviertel kommt. Die alten Fußgängerwege der Manhattan Bridge hängen eine Ebene tiefer als der Hauptbogen über dem Fluß, die Brücke verfügt über mittlerweile unbenutzte Aussichtsplattformen zu beiden Seiten des Turms, halbkreisförmige Terrassen, die in längst vergangenen Tagen mit Eisenbänken und kunstvollen Gaslaternen ausgestattet waren. Ich habe alte Fotos gesehen. Jenseits der Jay Street befindet sich immer noch ein terrassenförmig angelegter Park, der zum Aufgang der 84
Brücke hinführt, aber der Park ist jetzt mit Stacheldraht abgesperrt und quillt über von Schutt, und die Holzplanken des Gehwegs enden irgendwo auf halbem Wege hoch über den kabbeligen Wassern des East River im Nichts. Bevor wir die Pearl Street erreichen, bleibt einer von Geoffs Mastiffs plötzlich am Straßenrand stehen, stößt ein kehliges Jaulen aus, und plötzlich brechen alle drei wie auf Kommando in gräßliches Gebell aus - ein bösartiges Geräusch, das von den Stützpfeilern der Brücke widerhallt. Geoff kann die Ungeheuer kaum im Zaum halten. Auf seiner Stirn bilden sich Schweißperlen, und er rollt in der Dunkelheit mit den Augen, eine Karikatur der Angst. In eben diesem Augenblick entsteigen zwei ausgemergelte schwarze Frauen dem Durcheinander von Kabeln und ausgeschlachteten Maschinen unterhalb eines Brückenbogens, der etwa zwanzig Meter von uns entfernt liegt. Vorsichtig und in einem weiten Bogen kommen sie auf uns zu und bleiben ein kurzes Stück außerhalb der Reichweite der beiden Hunde stehen. «O mein Gott», flüstert Geoff mir zu, «was ist, wenn sie Waffen haben?» Der Gedanke ist wirklich absurd. Die Frauen sind nur noch Haut und Knochen, so schwach wie Kinder. Die eine trägt zerrissene Jeans und ein schmutziges T-Shirt mit der Aufschrift «Virginia gehört den Liebenden»; die andere hat eine Art gesteppten Hausmantel an und trägt eine Mülltüte aus Plastik unterm Arm. Ohne die Hunde aus den Augen zu lassen, kippt die zweite Frau den Inhalt der Mülltüte aufs Pflaster. Ich sehe einige Kleidungsstücke für Männer, einen Gürtel und ein paar schwarz gewordene Laufschuhe auf dem Boden vor mir liegen. «Wollen Sie ’n Hemd kaufen?» fragt die Frau in Jeans. 85
«Hab hier ein hübsches Hemd für Sie alle beide.» Sie zieht einen unkenntlichen Lappen aus dem Durcheinander heraus. «Ganz bestimmt nicht!» Geoff scheint ehrlich empört zu sein, als hätte ihn in New York noch nie jemand angebettelt. «Sind die Hündchen da bissig?» fragt die andere Frau mit schriller, erschrockener Stimme. Die Frau in Jeans kniet sich hin und durchstöbert den Kleiderhaufen, bis sie ein gelbgestreiftes Baumwollhemd findet, das früher einmal von guter Qualität gewesen sein muß, jetzt aber schmutzig und zerfetzt ist. «Na kommen Sie schon, Mister, wie wär’s denn hiermit? Zwei Scheine. Hat man da, wo Sie herkommen, nicht mal zwei lumpige Scheine übrig?» Ich erkenne ihren Akzent auf der Stelle. Neunter Bezirk. «Kommen Sie aus New Orleans?» Argwöhnisch schaut sie von dem Kleiderhaufen auf. «Wer will das wissen?» Geoff seufzt gereizt und manövriert die Hunde um die beiden herum zurück aufs Kopfsteinpflaster. «Ich warte da vorne auf dich», sagt er und geht ein Stück weiter die Pearl Street hinunter. «Ziemlich weit weg von zu Hause», sage ich zu der Frau und denke einen Augenblick lang über das seltsame Geschick nach, das sie hierhergeführt hat, über die Drogen, die falschen Entscheidungen, das Pech, die verzweifelte Armut. Wie weit bin ich von ihrem Los entfernt, wie weit sind wir alle von diesem Los entfernt? Die Frau steht, das Hemd an die Brust gepreßt, einen Moment lang still da. «Ja, Mister, weit weg von zu Hause», sagt sie mit brüchiger Stimme. «Hätte nie 86
gedacht, daß ich mal so weit nach Norden kommen würde. Ich bin nicht direkt aus New Orleans, müssen Sie wissen, geboren bin ich Richtung Algier. Aber als meine Mama gestorben ist, sind wir übern Fluß gezogen. Haben bei meinem Opa gelebt. Er hat in einer Band Zugposaune gespielt. Der alte Mississippi ist rot wie Schlamm, und manchmal grün, hängt vom Regen ab. Nicht so wie dieser Fluß hier…» Das Hemd noch immer in der Hand, zeigt sie auf den Manhattan River, der auf der anderen Seite des Hafenbeckens in dem dämmrigen Licht dahinfließt, stoisch, unerreichbar. «Nein, Mister, dieser Fluß hier hat ein schwarzes Herz, schwarz wie die Nacht…» Ihre Stimme verliert sich, und sie sieht mir ins Gesicht, und ihre Augen sehen in dem düsteren Licht milchig und krank aus. «Vermissen Sie New Orleans nicht?» Ich nicke und spüre plötzlich einen seltsamen stechenden Schmerz in der Brust. «O doch. Ich bin eigentlich nicht von da. Aber ich vermisse es trotzdem.» «Die Leute sind nett da unten in Louisiana», sagt sie. «Sie haben Zeit, wissen Sie? Sie sollten zurückgehen. Jede Menge hübscher Mädchen da unten für einen glücklichen, jungen Mann, wie Sie einer sind. Ich kann nicht zurück, aber was ist mit Ihnen?» Es ist eine Frage, die ich lieber nicht beantworte. Am Ende kaufe ich ihr das Hemd für fünf Dollar ab, und die beiden Frauen verschmelzen wieder mit ihrem unvorstellbaren Leben unter der Brücke. «Worüber hast du dich mit dieser Frau unterhalten?» fragt Geoff, als ich ihn einen Häuserblock weiter einhole, das zerlumpte Hemd in meiner geballten Faust. «Sie hat mir einen guten Rat gegeben», sage ich und belasse es dabei.
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eute abend sieht man aus dem hinteren Fenster meiner Wohnung die Sozialbauten, hell erleuchtet wie ein Piratenschiff, und in der Luft hängt ein seltsamer süßer Duft, wie das Parfüm einer Frau. Dieser Geruch hält einige Tage vor, bewegt sich von Zimmer zu Zimmer, und ich zerbreche mir den Kopf, woher er kommt, bis mir klar wird, daß es ein Phantomduft ist, das Werk des Geistes. Der Duft stört mich nicht sehr - er riecht nach frisch gewaschener Haut und sauberem Haar, nach Magnolienblüten und Verbenen -, aber irgend etwas daran erinnert mich stark an Antoinette, und das ist schlecht für meine Gemütsverfassung. Plötzlich erscheint mir mein Leben unerträglich. Ich kann mich an keinen glücklichen Tag erinnern, an keine glückliche Stunde, keine Minute, in der die Hoffnung etwas anderes zu sein schien als eine Folter. Dann überlege ich, ob ich Antoinette in New Orleans anrufen soll, zweitausend Meilen entfernt von hier, aber ich rufe sie nicht an. Was würde das schon nützen? Wir würden uns freundlich unterhalten, so wie wir es ab und zu tun, ein wenig über die alten Zeiten lachen, und danach würde ich tagelang nicht schlafen können. Aber der Geruch wird nur noch stärker und vertrauter, und die Sehnsucht wird schlimmer, und Antoinettes Gegenwart greifbarer als die des Geistes in meiner Wohnung, und ich melde ein Gespräch an, zu einer Zeit am Nachmittag, von der ich weiß, daß sie nicht zu Hause sein wird, einfach nur, um zu wissen, daß in ihrem Apartment im Faubourg Marigny das Telefon klingelt. Ich war seit zehn Jahren nicht mehr in New Orleans. In New 88
Orleans war ich glücklich. Die Welt schien freundlich zu sein, und ich war verliebt. Diese letzten zehn Jahre waren hart, eine Aneinanderreihung von Kämpfen und Enttäuschungen und gescheiterten Beziehungen. Nach diesem törichten Anruf weiß ich mir nicht mehr zu helfen, also nehme ich mir ein Sixpack Koch’s Golden Reserve mit aufs Dach und strecke mich auf dem Liegestuhl aus, den ich dort eigens für solch melancholische Gelegenheiten hingestellt habe, ziehe mir meine alte New-Orleans-Saints-Mütze tief über die Augen und überlasse mich meinen Erinnerungen.
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TEIL II NEW ORLEANS UND DIE VERGANGENHEIT Heute, während die Sonne über Brooklyn untergeht, denke ich an New Orleans. Ich denke an das A und P und an Amors Bogen, hineingewoben in das Eisengeländer der Pontalba Apartments; ich denke an den Fluß, der sich braun und schlammig im Regen dahinwälzt, und an den grünen Himmel über der Stadt. Ich denke an Antoinette. Wir liegen zusammen unter dem Moskitonetz in ihrem Himmelbett, und wir haben uns gerade geliebt. Es ist die Zeit der Hurrikans. Unheilverkündendes gelbes Licht dringt durch die Jalousien vor den Fenstern, und draußen auf den Straßen des Faubourg Marigny hört man das Gejaul des Verkehrs, dünn und hohl wie die Geräuscheffekte in einem Theaterstück…
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n jenen Tagen bewohnten Molesworth und ich ein rosafarbenes Haus an der Ecke Mystery und Fortin Street. Das schon ziemlich verwohnte Gebäude lag direkt neben dem Maschendrahtzaun des Fairgrounds, der Pferderennbahn, und verfügte über einen unkrautüberwucherten Garten, dessen größten Teil ein kleiner 1949er Lieferwagen von International Harvester einnahm. Das Vehikel gehörte einem von Molesworths Cousins aus der Stadt. Unsere Wohnung bestand aus einem kleinen Schlafzimmer, einer erbärmlichen Miniküche mit einem Gasherd, der zu Lebzeiten von Kingfish Huey Long als neu durchgegangen wäre, sowie einem schmalen Wohnzimmer, das an einem Ende ein Erkerfenster mit Blick auf den berstenden Asphalt der Mystery Street hatte. Durch irgendein Druckmittel, welches weiß ich nicht mehr, bekam ich das Schlafzimmer, und Molesworth quartierte sich auf der Schlafcouch im Wohnzimmer ein. Aber innerhalb weniger Tage nach unserem Einzug hatte er allem seinen Stempel aufgedrückt. Sein Zeug lag überall herum, selbst im Badezimmer und in der Küche: ungelesene Lehrbücher, schmutzige Unterwäsche, Bierflaschen, Zigarettenkippen, Haschischstummel, vergilbende Stapel der Times-Picayune und gelegentlich ein billiges Pornomagazin, dessen abscheuliche Schwarzweißfotos einige der häßlichsten nackten Frauen, die ich je gesehen hatte, von allen denkbaren Blickwinkeln aus zur Schau stellten. Nach einer Woche gab ich es auf, hinter ihm herzuräumen, und wir hausten in für Studenten typischer Verwahrlosung - schmutziges Geschirr in der 91
Spüle und Abfall, der in Mülltüten auf der Veranda langsam verweste. Wir waren in unserem ersten Semester auf der Loyola Zimmergenossen gewesen, eine jener seltsamen Schicksalsfügungen, die den Lauf eines ganzen Lebens verändern können. Als uns im zweiten Jahr freigestellt wurde, auch außerhalb des Campus zu wohnen, bekam Molesworth über seinen Cousin dieses Haus, und wir teilten uns die hundertachtzig Dollar Monatsmiete, Wasser und Elektrizität inklusive. Damals erschien mir das ziemlich teuer, aber für einen Studenten ist alles teuer. Während der nächsten drei Jahre bestand unsere Beschäftigung einzig und allein aus Trinken. Ich erinnere mich an verkaterte Vormittage, an denen ich zu spät zur Vorlesung kam; an Lautsprecher von der Rennbahn, die bis in meine unruhigen Träume hinein das dritte Rennen verkündeten; an das Dröhnen der Pferdehufe und die leuchtenden Seidenblousons der Jockeys. Das Trinken war Molesworths Hobby und seine Leidenschaft. Andere Männer spielen Golf oder Rackett oder bauen Schiffe in Flaschen; Molesworth saß gern in Bars und trank. Er sammelte Bars wie andere Leute Briefmarken. Kein Etablissement war ihm zu schäbig oder zu entlegen. Es war unmöglich, mit Molesworth zusammenzuleben und ihn nicht auf seinen Sauftouren zu begleiten. Wie alle Männer, die von einer Leidenschaft besessen sind, konnte er sehr beredt und sehr überzeugend sein, aber er war kein Alkoholiker: allein oder heimlich zu trinken hätte ihm keinen Spaß gemacht. Irgendwann legte er sich schließlich einen alten, zerbeulten britischen Landrover zu, ein Originalmodell mit offenen Seiten und Rechtssteuerung sowie einem schlecht sitzenden Leinenverdeck und durchsichtigen Plastikfenstern, die mit Druckknöpfen über den Türen befestigt wurden. Wenn es regnete oder die Temperatur 92
unter zehn Grad Celsius fiel, mußten wir die Zündkerzen herausnehmen und sie in einer Bratpfanne auf dem Herd vorwärmen. Mit diesem klapprigen, unsicheren Vehikel donnerten wir durch ganz New Orleans und Umgebung, immer auf der Suche nach Kneipen, wo es einen Bourbon und ein gut gezapftes Jax zu einem ordentlichen Preis gab. Da ich bereits während des Grundstudiums ein rundes Dutzend Prüfungen recht gut hinter mich gebracht hatte, wurde ich mit meinem B. A. ein Semester vor der Zeit fertig. Ein Stipendium und ein günstiges Darlehen der Historischen Fakultät veranlaßten mich, auch mein Promotionsstudium an der Loyola zu absolvieren, und das Leben ging ziemlich genauso weiter wie zuvor. Noch mehr Bars und lange Nächte, und die Trompete, die die Vollblüter in der verschlafenen Stille des Mittags direkt vor meinem Fenster an den Start rief. Falls ich jemals ein Rennpferd erwerben sollte, so schwor ich mir, würde ich das Tier Tylenol nennen. Vor kurzem entdeckte ich unter meinen Papieren eine Liste der Bars, die wir damals besucht haben, hingekritzelt auf die Rückseite einer Cocktailserviette: Clayton’s, Laffite’s Westpark Grill, The Arabi Ale House, St. Bernard’s, The Broad Street Tap, Tad Bourbon’s Bourbon Street, The Loyola Blue Jay, The Sazerac House, Feret’s, Tchoupitoulas Inn, Bar Les Revés, The Natchez Parlor, The Paris Lunch, Mulaudon’s Café, The Seminóle Trail, St. Claude’s Cocktail Hour, The Happy Time, Club Tomorrow, The Academy Grooto, Café Girod, The Melpomene Café, Claudelle’s Toledano Street Saloon, Harry’s Louisiana Emporium, The Irish Channel, The Gin Mill, Beauregard’s Rest, The Contreras House Bar, Prytania Station, McDonough’s Pelican North, McDonough’s Pelican South (Lakeside), The Louisiana Drinking Society, The Pup and Oyster, Mad Jack’s Bayou 93
Getaway… Die Liste geht weiter, aber der Rest ist unleserlich, ausgelöscht von dem runden, verräterischen Fleck, den irgendeine dunkle, hochprozentige Flüssigkeit vor vielen Jahren dort hinterlassen hat. In den Bars von Louisiana kann man viel über das Leben lernen. Zum einen bieten sie natürlich ein ordentliches Training für die Leber, aber daneben noch etwas anderes, das sich nicht näher bestimmen läßt. Das Erlebnis, das einem morgens um vier zuteil wird, wenn man betrunken neben einer durchtriebenen Blonden aus Gretna hockt, die man zwei Stunden zuvor noch nicht kannte; der Augenblick vor der letzten Bestellung, in dem alles möglich scheint.
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m Mitternacht, mitten in einer verregneten Woche gegen Ende meines ersten Jahres als Doktorand, nahm Molesworth mich mit ins Spanish Town. Das Spanish Town war eine neue Bar, die einer von Molesworths Freunden aus Bayou Dessaintes einen Monat zuvor eröffnet hatte. Es war ein freistehendes Haus an einer schlaglochübersäten Straße mit Lagerhäusern nahe des Flusses, dort, wo die Tchoupitoulas Street an der Felicity Street auf den Deich trifft. Über die ganze Vorderfront erstreckte sich eine Kolonnade, und davor stand, im Regen glitzernd, eine Reihe von Harley Davidsons, ganz Chrom und wulstige Benzintanks. Dunkle Gestalten lungerten unter dem Säulengang herum, ihre Zigaretten eine glühende Drohung oder ein Versprechen, wie die Leuchtkäfer, die angeblich über den anonymen Gräbern schweben, die im Süden auf den Äckern verstreut liegen. Aus dem offenen Eingang zur Bar hörte man das Hämmern und Klirren von Zydeco-Musik, die mit voller Lautstärke auf den Deich hinausplärrte. Das Innere der Bar wirkte primitiv und erst halb fertig. Noch war es dem vertrauten Gestank von bierverdünntem Urin, der in den Bars der Südstaaten vorherrscht, nicht gelungen, den Geruch von Fensterkitt und Farbe zu übertönen. Ich hatte halbwegs erwartet, Kastagnetten, Sangria und Flamenco vorzufinden, aber das Spanish Town hatte absolut nichts Spanisches. Vielmehr war es genau die Art von Spelunke, die von schwarzem Abschaum und rauflustigem Sumpfgesindel heimgesucht wird. Eine bis auf halbe Höhe lackierte alte Theke voller geschnitzter Meerjungfrauen, von deren Schuppen sich 95
das falsche Gold abschälte, erhob sich auf höchst seltsame Art und Weise mitten in dem großen, luftigen Raum der Lagerhalle - wie eine hölzerne Festung in der Prärie. Von den Leitungsrohren an der Decke baumelte die blaue Pelikan-Flagge Louisianas. Für einen Mittwoch herrschte ziemlicher Andrang; jeder wollte einen Platz direkt an der Theke. Ich ließ mich an einem Tisch in der Nähe der Tür nieder, und Molesworth kehrte mit zwei Flaschen Jax vom Tresen zurück. Er reichte mir meine Flasche herüber und ließ sich schwer auf den Stuhl fallen, der unter seiner Körperfülle bedenklich knarrte. Schon damals wog er über neunzig Kilo. «Eins muß man ihm lassen. Dieser Niggerarsch hat hier ein gutes Ding laufen, aber es läuft aus den total falschen Gründen.» «Von welchem Niggerarsch redest du, Molesworth?» Manchmal konnte er ziemlich geheimnisvoll tun. «Ich spreche von diesem Niggerarsch Dothan», sagte er. Dothan Palmier war Molesworths Freund aus dem Bayou, der Besitzer und Gründer des Spanish Town, ein undurchschaubarer Gangstertyp, von dem ich zwar einige Geschichten gehört, den ich aber persönlich nie kennengelernt hatte. «Dieser Hurenbock hatte ein schönes Haus draußen im Bayou und ein schönes kleines Geschäft, in dem Porsche zerlegt und in Einzelteilen nach Mexiko verkauft wurden.» Molesworth beugte sich vor, stützte seine Unterarme, die so massig waren wie die von Popeye, auf den Tisch, und das Bier tröpfelte seinen rötlichen Bart herunter. «Außerdem hat er gewaltige Mengen Drogen an die Einheimischen verkauft. Cajun-Produktion. Guter Stoff. Und er hatte diese Felder auf einigen Inseln mitten im 96
Sumpf. Hat Kanäle um sie herum gegraben und mit Alligatoren gefüllt. Mann, was für ein Ding!» «Vielleicht wollte er ja ehrlich werden», sagte ich. «Was ist daran so schlimm?» «Du kapierst nicht. Dothan hat seinen Anteil an seinen Bruder verkauft, ist hier runter gekommen und hat diese blödsinnige Bar eröffnet, nur um einer Frau nachzulaufen. Wenn das nicht der schlechteste Grund ist, um irgend etwas zu tun.» «Ist sie schön?» «Nicht mein Geschmack, aber entscheide selbst.» Molesworth machte eine ruckartige Kopfbewegung. «Dothan hat sie jetzt hinterm Tresen stehen.» Ich blickte hinüber, konnte aber nur die in Leder oder buntkarierten Hemden steckenden Rücken der Gäste sehen. «Jeder muß sich mal eine Schwäche gönnen», sagte ich. Molesworth grunzte, kippte sein Bier hinunter und ging die nächste Runde holen. Ich nippte an meinem Glas und dachte nach. Ich wohnte mit einem Mann zusammen, der mit Dieben und Drogenhändlern auf vertrautem Fuß stand. Sein Werdegang an der Loyola war verblüffend. Er war jetzt in seinem sechsten Jahr und machte keinerlei Anstalten, irgendwann fertigzuwerden. Ich hatte ihn immer zu laut für das gesetzte Jesuiten-Institut gefunden, und seine Zensuren entsprachen keineswegs den Erwartungen. Einmal hatte ich ihn gefragt, wie es ihm gelungen war, die Zulassung zu bekommen und darüber hinaus sogar einen Erlaß der Studiengebühren. Es war eines jener Arrangements, für die Louisiana so berühmt ist: Anscheinend hatte sein Onkel, der Pastor einer schäbigen kleinen Gemeinde in Plaquemines, ein paar schmutzige Einzelheiten gegen Bischof Mulready von der 97
Kirchengemeinde New Orleans in der Hand, der seinerseits einen wichtigen Platz im Aufsichtsgremium der Loyola innehatte. Fünf Minuten später kehrte Molesworth mit zwei Dixies zurück und machte mich auf eine Tür in einer dunklen Ecke auf der anderen Seite des Raumes aufmerksam. Dort in der Dunkelheit stand ein ausgestopfter Grizzlybär, der mir bisher nicht aufgefallen war, hoch aufgerichtet auf seinen Hinterbeinen, die Klauen ausgestreckt, die Zähne gebleckt. Unter dieser Tür wurde eine dünne Linie gelben Lichtes sichtbar. «Komm mit», sagte Molesworth. «Laß uns mit Dothan reden.» Aber als wir uns am Rand der Menge auf diese Tür zubewegten, erhob sich plötzlich wildes Gejohle, und eine junge Frau kletterte auf die metallene Oberfläche der Theke. Sie trug ein enges rotes Kleid mit einem Plisseerock, der fünf Zentimeter über ihren Knien endete, sowie schwarze Cowboystiefel und hatte sich eine weiße Rose zwischen ihre Brüste geklemmt. Mit einer verachtungsvollen Geste schnippte sie ihre Zigarette einer der hölzernen Meerjungfrauen entgegen und begann, zu dem Lied, das gerade aus der Jukebox kam, zu tanzen. Ich kannte das Lied, eine muntere Nummer von Papa Languenbec und seinen Cajún Allstars über einen Jungen, der seine Mutter bis zum Wahnsinn liebt, voller Akkordeon und Fiedel und obszönen Anzüglichkeiten, und das Ganze gesungen in einem nasalen, unverständlichen Cajun-Französisch. Ich blieb in Reichweite der Bärenklauen stehen, um ihr beim Tanzen zuzuschauen. Jenseits der Bogenfenster, wo in der Sommerhitze einer vergangenen Ära einst die Baumwollballen gedampft hatten, hatte es mittlerweile aufgehört zu regnen, und über dem Fluß lag eine Art 98
grüner Schimmer. Umrahmt von dieser schwachen Beleuchtung ließ die junge Frau ihre Hüften kreisen, wirbelte ihr dichtes schwarzes Haar von einer Seite zur anderen, stampfte mit ihren schwarzen Stiefeln im Rhythmus der Musik auf die Theke und schüttelte, was sie zu schütteln hatte, und das war wahrhaftig nicht wenig. Sie hatte duende. Sie war das Spanische im Spanish Town. Die Louisiana-Spießer und die Motorradrowdies zu ihren Füßen pfiffen und grölten, warfen ihr Geld zu und hämmerten mit Fäusten, die die Ausmaße von Schweinshaxen hatten, auf die Theke. Dann spürte ich Molesworths Hand schwer wie das Gesetz auf meiner Schulter. Er drehte mich zu sich um und schüttelte den Kopf. «Ist sie das?» fragte ich, aber ich war nicht in der Lage, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. «Was glaubst du?» «Gütiger Gott, wie konntest du sagen, sie sei nicht schön? Sie ist…» «Das habe ich nicht gesagt, Niggerarsch», fiel er mir ins Wort. «Ich habe lediglich gesagt, sie sei nicht mein Geschmack, und das bedeutet, daß ich keine Lust auf eine Ladung Schrot zwischen den Augen habe.» Widerwillig folgte ich ihm durch die Tür und hinein in einen riesigen, neonüberfluteten, unfertigen Küchentrakt. Stahltöpfe, groß wie Badewannen, standen hier und dort herum. Jemand hatte einen riesigen Abluftventilator und zwei noch in ihre Kisten verpackte Kochherde an die Wand geschoben und überall Verpackungsmaterial verstreut. Ich trat über einen offenen Kasten mit Löffeln von der Länge meines Armes hinweg. «Dothan hat vor, ein bißchen in Catering zu machen», erklärte mir Molesworth. «Er will vielleicht etwas von 99
seinem Jambalaya nach Norden verkaufen. Chicago oder New York oder so. Du weißt ja, wie die da auf solche Sachen stehen.» Dothan Palmier saß in seinem Büro über einen Kartentisch gebeugt und ging mit dem bleistiftkauenden Eifer eines Zehnjährigen bei den Mathe-Aufgaben die Rechnungen durch. Ein schmaler Schießschartenschlitz von einem Fenster gab den Blick auf den Deich und die Lichter von Marrero jenseits des Flusses frei. Als wir eintraten, blickte er mit schmalen Augen auf und klappte das große, rote Rechnungsbuch zu. «Hi, Dothan», sagte Molesworth. «Wie läuft’s, alter Niggerarsch?» «Lyle», sagte er. Er stand auf, schüttelte Molesworth die Hand und schnitt eine Grimasse, die wohl ein Lächeln sein sollte. Er trug enge schwarze Jeans, spitze Cowboystiefel, die sich an den Zehen nach oben bogen, und ein einfaches, weißes Hemd mit aufgerollten Ärmeln über dicken Bizeps, wie ein Farmerssohn, der mit seinen Muskeln protzt. Molesworth machte uns bekannt, und wir schüttelten uns die Hände. Seine Pranken waren von schwerer Arbeit gezeichnet, übergroß, hart und vernarbt. Die Tätowierung einer Python schlängelte sich aus dem Dschungel drahtigen schwarzen Haares auf seinem linken Unterarm und verschwand unter dem goldenen Band seiner Armbanduhr. Er war schätzungsweise fünfunddreißig und auf eine dunkle Cajun-Art attraktiv, außerdem klein, vielleicht einssiebzig. Aber irgend etwas an ihm machte es einem schwer, ihn zu ignorieren, und er besaß eine gefährliche, undurchschaubare Ausstrahlung. Dothan holte aus einem ramponierten Aktenschrank in der Nähe des Fensters eine Flasche Early Times und drei 100
kleine Whiskygläser und schenkte ein. «Hübsche Bude hast du hier», sagte Molesworth und hob sein Glas. «Laß uns darauf anstoßen.» «Scheiße, ich habe noch einen weiten Weg vor mir. Sieh dir nur die Ruine da draußen an.» Er zeigte auf die Küche. «Laß uns besser nicht drüber reden. Trinken wir lieber darauf, daß du vor Ende des Jahrzehnts dein Studium beendest.» Molesworth schüttelte den Kopf und lachte; ein tiefes, dröhnendes Geräusch aus dem Bauch. «Keine Chance», sagte er. «Wartet», sagte ich, «laßt uns auf das schöne Mädchen hinterm Tresen trinken. Sie ist einfach umwerfend.» Beide Männer sahen mich an. Molesworth schien erschrocken, und sein Kiefer hing schlaff herab wie bei einem Bernhardiner. Dothan fixierte mich einen Augenblick lang, ohne mit der Wimper zu zucken und völlig ausdruckslos. «Du meinst Antoinette», sagte er ruhig. «Er weiß es nicht, Dothan», unterbrach Molesworth ihn. «Der Blödmann hat keinen blassen Schimmer.» «Schon gut», erwiderte Dothan. «Sie ist eine schöne Frau. Das kann auch der Dümmste sehen.» «Also dann» - ich hob mein Glas - «auf Antoinette…» Wir tranken. Dothan leerte sein Glas und wandte sich nach vielleicht einer Minute angespannten Plauderns mit Molesworth abrupt wieder seinen Rechnungsbüchern zu. «Wenn ihr zwei mich jetzt bitte entschuldigt», sagte er. Molesworth und ich gingen durch die Küche und hinaus in die Bar. «Du bist ein richtiger Niggerarsch», sagte er, als er sicher sein konnte, daß wir außer Gefahr waren. «Dieser Bursche da hinten hat einem Mann in Chalmette 101
für weniger als das, was du da drin gemacht hast, ein Messer zwischen die Rippen geschoben.» «Mach dich nicht lächerlich», sagte ich. «Und außerdem ist eine solche Frau ein bißchen Ärger wert.» «Jetzt redest du wirklich Blech», sagte Molesworth und wandte sich mit schweren Schritten dem Ausgang zu. «Noch eine Runde», sagte ich. «Auf mich.» Molesworth zögerte eine Sekunde, zuckte dann mit den Schultern und schaffte uns mit seinem massigen Körper Platz am Tresen. Er war ein praktisch veranlagter Mensch. Er würde sich sogar vom Teufel persönlich ein Bier spendieren lassen. Ein paar Augenblicke später kam Antoinette an unser Ende des Tresens, eine halb zu Asche verglommene Zigarette im Mundwinkel. Ohne sie herauszunehmen, beugte sie sich über die Theke und küßte Molesworth auf seine dicke Wange. «Hallo Lyle», sagte sie. Molesworth nickte. «Antoinette.» «Was darf ich den Herren bringen?» «Teufel auch, dieser Niggerarsch gibt einen aus», sagte Molesworth. «Mach mir irgendwas Tolles, Teures. Mit dem Mixer.» «Na schön, einen Frozen Bastard… Und was ist mit dir?» Sie ließ ihre Augen zu einer schnellen Musterung über mich hinweggleiten. Ich lehnte mich ein wenig überrascht zurück. New Orleans ist wie London; man kann jeden Einheimischen auf ein oder zwei Straßen genau einschätzen, wenn man weiß, worauf man achten muß. Ich hatte tiefstes Bayou erwartet, wie bei Dothan mit seinem schleppenden Lafayette-Akzent, aber was ich hörte, war 102
geschliffen, städtisch: St. Jerome’s Academy for Girls, Haus im Garden District und die Sommer auf einer Yacht im Golf von Mexiko. «Also?» «Frozen Bastard», krächzte ich. Da lächelte sie unerwartet und verschwand mit einer schnellen Pirouette hinter dem Mixer am anderen Ende der Theke. Wir alle haben unsere Augenblicke. Wie jene seltenen Nächte, in denen wir die Hand ausstrecken und das Unwahrscheinliche so real wird wie die Münzen in unserer Tasche. Als Antoinette die Drinks brachte - zwei peinlich pinkfarbene Angelegenheiten mit Papierschirmchen und Ananasscheiben -, machte ich ein paar improvisierte Witze, und sie lachte und ließ sich auf ein neckisches Geplänkel mit mir ein, während Molesworth neben mir über seinem Glas brütete. Am anderen Ende des Tresens schwenkten ein paar ungehobelte Burschen ZwanzigDollar-Scheine, um Antoinettes Aufmerksamkeit zu erregen. Sie war der erklärte Liebling der Kneipe, die Göttin des Hauses. Aber sie ignorierte die anderen, hatte alle Zeit der Welt. Abgesehen von den offensichtlichen Symmetrien, die allen schönen Frauen gemein sind, hatte ihr Gesicht etwas seltsam Vertrautes. Plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen, ein wahrer Geniestreich. «Im Presbytère», sagte ich, «im Louisiana State Museum…» «Das Museum ist im Cabildo», erwiderte sie. «Was ist damit?» «Da hängen doch diese historischen Gemälde. An eins erinnere ich mich besonders: eine hübsche junge Frau in einem weißen Kleid, zirka 1825. Mein Gott, sie sieht genauso aus wie du. Sie könnte deine Schwester sein. Mir fällt nur der Name nicht ein. Aber…» Antoinette schien beeindruckt. «Ich weiß, von welchem 103
Bild du sprichst», meinte sie. «Ein Foto davon hängt in meiner Wohnung. Irgend jemand hat das Gemälde auf dem Dachboden im Haus meiner Tante Tatie auf der Esplanade im Vieux Carré gefunden. Als Tante Tatie dann das Zeitliche segnete, haben wir es dem Museum geliehen. Die Frau auf dem Gemälde ist irgendeine meiner Vorfahren. Wir sind Kreolen, zu hundert Prozent. Die Familie meiner Mutter hat schon immer hier gewohnt. Wir hatten flußabwärts Plantagen. Ein paar Leute haben mich schon auf die Ähnlichkeit hingewiesen, aber ich kann da nichts feststellen.» «Es sind vor allem die Augen. Sie hat dieselben Augen. Welche Farbe haben deine Augen?» Ich griff plötzlich nach ihrer Hand und beugte mich über die Theke hinweg zu ihr hinüber. Antoinette war überrascht, wehrte mich jedoch nicht ab. «Manchmal blau», sagte sie beinahe flüsternd, «manchmal grau. Kommt auf die Stimmung an.» «Nein», sagte ich. «Sie haben die Farbe von Regenwasser.» Es entstand eine Pause, meine Nase kaum einen Zentimeter von dem glimmenden Ende ihrer Zigarette entfernt. Molesworth zu meiner Linken stöhnte hörbar. Antoinettes Hand fühlte sich in der meinen kühl und klein an. Dann machte sie sich sanft frei und trat einen Schritt zurück. «Dein Freund hier ist betrunken, Lyle», sagte sie zu Molesworth. «Betrunken, aber süß. Bring ihn wieder her, wenn er nicht so betrunken ist.» Dann wandte sie sich dem Tumult am anderen Ende des Tresens zu. «Du bist ein blöder Hurenbock», sagte Molesworth, als sie gegangen war. «Ich wasche meine Hände jedenfalls in Unschuld», fuhr er fort und rieb sich die Hände, als finge er schon mal damit an. 104
Plötzlich von so etwas wie Glück erfüllt, lachte ich, leerte meinen Drink mit einem einzigen Zug und versuchte, mir nichts daraus zu machen, als Molesworth mir seinen Ellbogen in die Rippen stieß und ich mich umdrehte und Dothan direkt vor dem Eingang zur Küche stehen sah, eine dunkle Gestalt in dem harten, gelben Licht unter den Tatzen des Bären.
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n Herzensangelegenheiten ist Glück das A und O. Ich war nie ein besonders vom Glück begünstigter Mensch, das heißt, das Schicksal hat es nur einmal gut mit mir gemeint und mich dann nie mehr eines Blickes gewürdigt. Zwei Wochen nachdem Molesworth mich ins Spanish Town mitgenommen hatte, lief ich im Museum in der Gibson Hall in der Tulane Street zufällig Antoinette über den Weg. Ein trüber, grauer Himmel hing straff gespannt wie eine Trommel über dem Audubon Park, und die Palmen entlang der St. Charles Avenue ließen schlaff die Blätter hängen. Bei so bedrückendem Wetter kann man sowieso nichts tun, unmöglich, sich zu konzentrieren, also schlenderte ich zum Museum hinüber, um mir die gelben Schädel und die indianischen Relikte in ihren staubigen Glaskästen anzusehen. Das Museum ist ein seltsamer, vernachlässigter kleiner Kasten mit wenig Besuchern und einer Fülle nicht zueinander passender Kuriositäten: schmuddelige Knochen rätselhaften Ursprungs, Schnüre mit Glasperlen aus Hügelbauten, zwei ägyptische Affenmumien aus dem Mittleren Königreich, alte, auf Menschenhaut geschriebene Handschriften und goldene Ornamente, die die Konquistadoren - vielleicht der wackere Cortez persönlich - aus den blutigen Städten der Azteken geraubt hatten. Antoinette stand in einem wenig der Jahreszeit entsprechenden ärmellosen Kleid vor einer Vitrine mit aztekischen Artefakten. Sie zitterte, und das Haar fiel ihr in nassen Locken den Rücken hinunter. Auf ihren nackten Armen waren blaue Flecken zu sehen, und als ich näherkam, sah ich, daß sie bis auf die Haut durchnäßt war. 106
«Antoinette?» sagte ich. Sie drehte sich mit leerem Blick zu mir um. Ihre Pupillen schienen geweitet zu sein. Ich war seit meinem ersten Besuch noch zweimal im Spanish Town gewesen und hatte jedes Mal versucht, mit ihr zu reden, obwohl ich sehen konnte, daß sie mich nicht erkannte. «In deiner Bar», sagte ich. «Ich bin ein paarmal dagewesen…» «Dothans Bar.» Sie runzelte die Stirn, und in ihrer Stimme lag eine gewisse Schärfe. Sie war zu vollgepumpt mit irgendwelchem Zeug, um echten Ärger zu zeigen, aber als ich darüber nachdachte, daß vielleicht etwas zwischen ihnen vorgefallen war, verspürte ich eine boshafte, prickelnde Freude. «Ist alles in Ordnung mit dir?» Ich trat näher an sie heran. «Stimmt irgendwas nicht?» Sie ignorierte meine Frage und zeigte auf die Vitrine. «Sieh sich einer mal dieses Zeug da an», sagte sie. «Das ist wirklich irre.» Hinter dem dicken Glas lag auf einem Streifen roten Samtes eine große Klinge aus Obsidian, um deren Heft goldene Drahtschnüre gewickelt waren. Ich las das Etikett und schauderte. «Die Aztekenpriester benutzten es, um den Menschen, die sie ihren Göttern opferten, das Herz aus dem Leib zu schneiden», sagte sie mit einem dumpfen, monotonen Tonfall. «Sie glaubten, die Sonne sei ein schwächlicher alter Mann, der menschliches Blut brauche, um zu überleben und sich am nächsten Tag erheben zu können. Also standen die Menschen an den Fundamenten dieser steinernen Tempel Schlange, Tausende von ihnen, und manchmal kamen sie freiwillig. Einer nach dem anderen kletterten sie hinauf, um sich mit diesem Stück 107
blankpoliertem Stein das Herz herausschneiden zu lassen. Dann rollten die Priester ihre Körper zur anderen Seite hinunter, wo ihnen die Haut abgezogen wurde. Scheiße, stell dir vor, man schneidet dir bei lebendigem Leib das Herz raus, und du wärst noch in der Lage, diese Leute zu sehen, wie sie es hochheben - diesen blutigen Fleischklumpen-, in diesem letzten Sekundenbruchteil, bevor es dir schwarz vor Augen wird.» Sie drehte sich zu mir um, als erwarte sie eine vernünftige Antwort. «Scheußlich», sagte ich und schnitt eine Grimasse. «Nein. Eigentlich nicht. Verdammt, ich wäre auch freiwillig hingegangen. Ich glaube, es wäre gar nicht so schlecht, sich das Herz rausschneiden zu lassen. Wer braucht schon ein Herz?» «Jeder braucht ein Herz», sagte ich, als spräche ich zu einem Kind. Sie schüttelte den Kopf und öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber statt dessen beugte sie sich plötzlich vor, legte ihre Hände und ihre Stirn auf das Glas und ließ ein leises Stöhnen hören. «O Mann», sagte sie. «Das ist schlimm. Ich komme runter. Schnell.» Dann begann sie zu zittern und kleine Krämpfe schüttelten ihren Körper. Ich berührte ihre nackte Schulter, spürte die Krämpfe wie Elektroschocks durch sie hindurchlaufen und bekam es mit der Angst zu tun. Ihre Zähne begannen zu klappern. Ich legte meine Bücher auf den Boden, zog meinen Mantel aus, legte ihn um ihre Schultern und stand, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte, einen Augenblick lang in dem schummerigen Licht des Museums. Aus einer Vitrine in meiner Nähe grinsten die schwarzen Affengesichter der Mumien, grinsten mich durch eine Glasscheibe und über eine Entfernung von dreitausend Jahren hinweg an. 108
«Wir müssen dich zu einem Arzt schaffen oder etwas in der Art», sagte ich schließlich. Sie preßte ihre Kiefer zusammen, damit man das Klappern ihrer Zähne nicht mehr hören konnte. «Nein», sagte sie. «So was ist mir schon mal passiert. Bloß ein schlechter Trip. Hör zu, du mußt mir helfen, nach Hause zu kommen. Wirst du das tun?» Dann stieß sie sich von der Glasscheibe ab und stand eine Sekunde lang benebelt auf ihren eigenen Füßen, bevor sie in meinen Armen zusammensank.
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ntoinette wohnte im Faubourg Marigny, einem Vorort in Nord-Villere, einen Block entfernt von den Elysian Fields. Durch das runde Fenster im Treppenhaus konnte man die Kapelle St. Roche sehen. Ich zerrte sie mit einiger Mühe die beiden Stockwerke hinauf in ihr Apartment, wo sie auf ein abgenutztes viktorianisches Sofa aus gelbem Satin kroch und eine Decke über sich zog, die zusammengeknüllt auf dem Boden gelegen hatte. Die Wohnung war das reinste Chaos. Ein bißchen schlimmer noch, falls das möglich war, als mein eigenes rosafarbenes Haus in der Mystery Street. In jeder Ecke lagen Kleiderhaufen, und ein teurer orientalischer Teppich war mit französischen Modezeitschriften, offenen Lippenstiften, Apfelkerngehäusen, halb verzehrten, kalorienreduzierten Fertiggerichten, leeren Magerjoghurtbechern und anderem Müll übersät. Auf dem Fußboden stand ein Aquarium ohne Wasser, und schief zwischen den Glastüren, die auf den Balkon führten, hing ein großes gerahmtes Foto von dem Porträt, das ich im Cabildo gesehen hatte. Antoinettes Lippen waren ganz weiß, und sie sah, die Decke bis ans Kinn hochgezogen, mit glasigen Augen zu, wie ich ihre Küchenschränke durchstöberte auf der Suche nach irgend etwas, das ihr helfen würde: ein Aspirin, ein Kräutertee. Als ich mich an das oberste Regal machte, warf ich ein Glas mit getrockneten roten Bohnen auf den gefliesten Fußboden; jetzt lagen überall auch noch Bohnen und Glasscherben herum. «Bitte», sagte sie vom Sofa aus, wobei ihre Lippen sich 110
kaum bewegten. «Komm her.» Ich kehrte dem Chaos den Rücken und kniete neben ihr nieder. Es war deutlich zu sehen, daß sie unter der Decke zitterte. «Ein Arzt wäre vielleicht doch keine so schlechte Idee», meinte ich. «Du siehst furchtbar aus.» Aber das stimmte nicht. Selbst krank und zitternd war sie noch immer eine der schönsten Frauen, die ich je gesehen hatte. «Nein», sagte sie in einem rauhen Flüsterton. «Ein Arzt würde vielleicht zur Polizei gehen oder, schlimmer noch, zu meinen Eltern. Ich habe einen Schuß zuviel genommen. Der Stoff gehört Dothan. Selbstgemachtes Zeug von diesem halbverrückten Chemiker oben in Dessaintes. Man weiß nie, wie man drauf reagiert. Diesmal ist es wie ein Eisblock. Es ist, als säße ich nackt auf einem Eisblock.» Dann streckte sie den Arm aus, griff nach meinem Handgelenk und zog mich zu sich heran. Ihr Atem stank. «Ich möchte dich etwas fragen, und du mußt mir die Wahrheit sagen.» Ich nickte. «Du hast ein nettes Gesicht, aber das haben auch viele Menschen, die in Wirklichkeit gar nicht nett sind. Kann ich dir vertrauen?» «Ich wohne mit Molesworth zusammen», sagte ich. «Falls du dich nicht mehr daran erinnerst.» «Doch, ich erinnere mich, aber das war nicht meine Frage. Bist du ein Gentleman?» In ihrer Frage schwang keine Spur von Ironie mit, und sie war in demselben Tonfall gestellt, den vielleicht die Frau auf dem Porträt an der Wand hundertfünfzig Jahre zuvor benutzt hätte. «Ja», sagte ich. «Das bin ich.» Sie schloß die Augen. «Okay», sagte sie. «Ich kann nicht 111
aufstehen. Ich kann mich kaum bewegen. Ich bin festgefroren. Du mußt etwas für mich tun…» Ich ging ins Badezimmer, und eine Sekunde lang stand ich nur glotzend da. Das Badezimmer, gebaut für eine andere Ära, war so groß wie die ganze übrige Wohnung zusammen und beherbergte eine alte klauenfüßige Badewanne, ein Bidet und ein Waschbecken mit zwei Wasserhähnen, einen für kaltes Wasser, einen für heißes. Sämtliche Armaturen bestanden aus abgegriffenen Messingfischköpfen. Der Raum war bis auf Schulterhöhe mit Fliesen aus der Zeit der Jahrhundertwende gekachelt. Durch ein Oberlicht konnte man den Verkehr draußen auf der Straße beobachten. Ich ließ die Jalousien ein kleines Stück aufspringen, gerade weit genug, um dem grauen Nachmittag Eintritt zu gewähren. Dann ließ ich ein Bad ein, so heiß, wie es mir möglich war, ohne mir den Ellbogen zu verbrennen. Als alles soweit fertig war, ging ich zurück in das kleine Wohnzimmer und stellte mich vor sie hin. «Bitte», sagte ich. «Dein Bad ist fertig.» «Du mußt mir helfen, mich…» Ich schüttelte den Kopf. «Bitte», sagte sie. Es klang wirklich mitleiderregend. «Verläßt du dich immer so auf die Freundlichkeit von Fremden?» sagte ich, aber sie verstand die Anspielung nicht und hielt mit großer Kraftanstrengung die Arme hoch. Ich half ihr ins Badezimmer und zeigte mit der Hand auf das grünliche Badewasser, das unter den fischköpfigen Leitungshähnen dampfte. «Da», sagte ich mit einer lässigen Handbewegung. «Ich schaffe es nicht.» Mit klappernden Zähnen drehte 112
sie sich zu mir um. «Meine Kleider. Bitte…» Ihre Haut sah in dem fahlen Licht grau aus und fühlte sich an wie Eis. Ich begann sie auszuziehen, blinzelnd, als schälte ich eine Zwiebel. Steif und ohne mit der Wimper zu zucken, stand sie vor mir, während ich den Reißverschluß an ihrem Kleid öffnete und es zu Boden fiel. Dann kniete ich mich hin, zog ihre Schnürsenkel auf, hielt sie an den Knöcheln fest, zog ihre kalten Füße aus den Schuhen, stand auf und machte einen Schritt rückwärts. «Der Rest», sagte sie. «Was macht das jetzt noch aus?» «Okay», sagte ich. «Betrachte mich als deinen Arzt.» Aber als ich den Verschluß ihres BHs öffnete, schloß sie die Augen und hielt sie auch noch geschlossen, während ich ihre Unterhose über die Wölbung ihrer Hüfte streifte. Ihre Nacktheit glitzerte vor dem Hintergrund der Fliesen. Ich versuchte jeden Gedanken auszuschalten, nahm ihre Hand und führte sie zur Badewanne. Sie hob einen Fuß über den Rand, aber als ihr Zeh die Wasseroberfläche berührte, zog sie ihn mit einem leisen Aufschrei zurück. «Ich kann nicht», sagte sie. «Es ist zu heiß.» «Du mußt», sagte ich. «Ich kann nicht.» «Langsam.» Während sie durch zusammengebissene Zähne die Luft einsog, setzte sie einen Fuß ins Wasser, Millimeter um Millimeter. Dann, eine Hand auf meine Schulter gelegt, tauchte sie den anderen Fuß ein. Eine Träne rollte über ihre Wange, und ohne meinen Arm loszulassen, ging sie in die Hocke, und Dampf stieg von ihrem kalten Fleisch auf. Ich versuchte, nicht hinzusehen, aber es war unmöglich. Ich schaute weg und sah sie trotzdem, in dem versilberten Spiegel auf der gegenüberliegenden Wand. Ihre Brüste 113
trieben auf dem Wasser. Schließlich tauchte sie ganz unter, und ihr schwarzes Haar breitete sich wie Tinte auf der Oberfläche aus. Eine Luftblase stieg nach oben, dann noch eine, und schließlich kam sie schwer atmend wieder hoch und lehnte ihren Kopf an den Rand der Badewanne. «Okay», sagte sie. «Ich glaube, ich komme jetzt zurecht.» «Gut», sagte ich. «Ich hatte nämlich nicht die Absicht, dir auch noch den Rücken zu schrubben.» Ohne ein weiteres Wort ging ich aus dem Badezimmer, zog meinen Mantel an und raffte meine Bücher zusammen. Aus dem Badezimmer hörte man jetzt tiefe Atemstöße und die typischen Wannengeräusche von spritzendem Wasser. «Antoinette», rief ich zu ihr hinein, «ich mach mich jetzt auf den Weg.» Die Badegeräusche setzten einen Herzschlag lang aus. «Nein, bitte nicht», rief sie. «Warte, bis ich rauskomme. Bitte.» Sie saß lange Zeit in der Wanne und entspannte sich. Ich hörte, wie sie frisches Wasser einlaufen ließ - einmal und danach noch einmal. Ich setzte mich in meinem Mantel aufs Sofa und versuchte den Text zu lesen, den ich für ein bevorstehendes Geschichtsexamen brauchte, Frankreich und das Zeitalter Napoleons von Hervé Surgère. Es war eine trockene Lektüre, geschrieben von einem Mann, der keinerlei Gefühl hatte für die Grandiosität der Ära, aber der Text enthielt dennoch einige unvergeßliche Anekdoten. Ich las, wie der Kaiser nach seiner Rückkehr von Elba für jene hundert Tage, die in Waterloo gipfelten, seinen Marsch auf Paris begann und auf dem Weg dorthin eine große Schar Anhänger um sich versammelte. Die neue 114
royalistische Regierung schickte ihm eine Armee entgegen, die aus Veteranen von Austerlitz und Marengo und anderen Feldzügen bestand. Die Männer, die ihn aufhalten sollten, wurden von geckenhaften Adligen angeführt, die 1793 das Land verlassen hatten und nach der Abdankung des Kaisers wie ein Heuschreckenschwarm wieder in Frankreich eingefallen waren. Sie trafen auf einem Feld in der Nähe von Grenoble aufeinander, Napoleon und seine Truppe aus einigen hundert Getreuen gegen eine Armee von Tausenden. Ganz allein ging der Kaiser über das offene Feld, näherte sich der feindlichen Armee so weit, daß ihre Gewehre ihn mühelos hätten treffen können. Dann blieb er stehen, breitete die Arme aus, heftete seinen Blick auf den blauen Himmel und auf die fernen Gipfel des Zentralmassivs und schaute in die Mündungen der Musketen, die auf sein Herz zielten. «Soldaten!» rief er. «Wollt ihr auf euren Kaiser schießen?» «Feuer!» befahlen die Offiziere. «Feuer!» Aber die Männer warfen ihre Waffen weg und stürmten mit Tränen in den Augen auf Napoleon zu. Aus dem Badezimmer war jetzt weiteres Plätschern zu hören und dazu ein unmelodisches Summen. Mit einem Seufzer klappte ich das Buch zu und schnüffelte ein wenig in Antoinettes Apartment herum. Es hatte früher zu einer viel größeren Wohnung gehört, war vielleicht im letzten Jahrhundert die Zweitwohnung eines kreolischen Gentleman gewesen. Stuckmedaillons an der Decke wechselten sich ab mit billigen Preßspanplatten, und hoch an den Wänden zogen sich phantasievolle Weinranken entlang, jäh unterbrochen von Pappmachewänden, die später eingebaut worden waren. In dem winzigen Schlafzimmer war kaum Platz genug für das alte Himmelbett aus dunklem Holz. Es hatte das 115
schwere, solide Aussehen von Möbelstücken, die von Sklavenhandwerkern gefertigt worden waren. Aus den zerdrückten Kissen lugte, die Füße voraus, ein brauner Stoffbär hervor. Auf der Kommode stand ein Messingkasten, bis zum Rand gefüllt mit Ohrringen und einer Unmenge von gerahmten Familienfotos, die mehrere Generationen zurückreichten. Außerdem stand dort einer von diesen Plastikwürfeln, in dem lauter Fotos von Dothan steckten: Dothan und Antoinette an einem Strand am Golf von Mexiko; Dothan rittlings auf einer großen Harley, seine tätowierte Hand auf dem Gashebel, seine Augen verborgen hinter einer verspiegelten Sonnenbrille; Dothan ohne Hemd, ein Fuß auf dem Kotflügel eines alten gelben Lieferwagens, den Kolben einer Schrotflinte auf die Hüfte gestützt, im Hintergrund ein kleiner Schuppen aus Teerpappe und das wilde Grün des Sumpflands. Ich hatte den Würfel gerade mit den Fingerspitzen hochgehoben und ihn ins Licht gehalten, als Antoinette ins Zimmer kam, barfüßig und nüchtern, eingehüllt in einen dicken weißen Frotteemantel, ein blaues Handtuch wie ein Turban um ihr Haar geschlungen. «Das ist Dothan», sagte sie, an den Türrahmen gelehnt. «Aber das weißt du ja.» Ich legte den Würfel sorgfältig zu den anderen Fotos zurück. «Fühlst du dich jetzt besser?» «Mir geht es gut», sagte sie ein wenig verdrossen und bahnte sich durch das Chaos auf dem Boden ihren Weg zum Bett. Dort Setzte sie sich im Schneidersitz auf die Decke und verschränkte die Arme. Danach folgte ein verlegenes Schweigen, währenddessen ich auf das Brausen des Verkehrs lauschte, der in Richtung des Pontchartrain Expressway durch Marigny strömte. Sie sprach als erste. «Ich weiß, was du denkst…», 116
begann sie. «Vergiß es», unterbrach ich sie. «Wenn es dir jetzt wieder besser geht, gehe ich.» Ich stieß mich von der Kommode ab und machte ein paar Schritte auf die Tür zu. «Warte!» sagte sie, aber als ich stehenblieb und mich zu ihr umdrehte, wandte sie den Blick ab und biß sich errötend auf die Lippen. «Ich möchte nur, daß du mich noch eine Weile im Arm hältst, bevor du gehst.» Und nach einer weiteren Sekunde des Schweigens fuhr sie mit sehr leiser Stimme fort: «Bitte. Das ist das letzte, worum ich dich bitten werde.» Ich ging hinüber zum Bett, setzte mich hin und streckte die Arme nach ihr aus. Sie beugte sich vor, legte ihren Kopf auf meinen Mantel, drückte ihr Gesicht in den Tweed und schlang ihre Arme um meinen Hals. So blieben wir etwa eine Viertelstunde lang sitzen, ohne ein Wort zu sprechen. Wir lauschten dem Verkehr und dem Regen, und das graue Licht des Nachmittags dunkelte der Abenddämmerung entgegen. Ich spürte ihren warmen, feuchten Leib durch den Frotteemantel, und ich spürte ihr Zittern. Dann war sie ganz still, und einen Augenblick lang dachte ich, sie sei eingeschlafen. Aber schließlich nahm sie meine Hand, küßte sie sanft und setzte sich aufrecht hin. «Es ist schon spät», sagte sie. «Du solltest besser gehen.» Da mir nichts anderes einfiel, erwiderte ich: «Okay. Ich hoffe, es geht dir jetzt besser.» Dann stand ich auf, ging hinaus in den Regen und versuchte, nicht an ihren Körper zu denken und an ihr schwarzes Haar und daran, wie sie nackt und zitternd im Badezimmer auf mich gewirkt hatte. Dann ging ich ins French Quarter in ein Lokal, das allgemein unter dem Namen Twenty Naked 117
Girls bekannt ist, und zwar wegen eines Neonschilds an der Vorderseite, das diesen Namen rechtfertigt. Die Stripperinnen, die dort auf der Bühne stehen, haben nichts außer G-Strings zwischen sich und der Welt. Ich bestellte mir einen wäßrigen Bourbon und sah zu, wie eine Frau mit riesigen Brüsten ihre Kleider auszog und mit der Hand zwischen ihren Beinen herumfummelte, aber ich fühlte mich beschissen, einfach beschissen. Ich ging, ohne mein Glas auszutrinken, und lief die Orleans Street hinauf, durch den Congo Square rauf zur Broad Avenue, wo ich in den Bus stieg, der mich an der Ecke Gentilly und Marepas absetzte, nur ein paar Schritte entfernt von den Tribünen des Fairgrounds. Als ich heimkam, stand Molesworths Landrover nicht in der Einfahrt, und das Haus war leer. Ich ging in mein Zimmer, legte mich, noch immer im Mantel, aufs Bett und starrte in die Dunkelheit. Draußen zog der Regen, von Windböen gepeitscht, über die schlammige Rennbahn jenseits des Maschendrahtzauns, zog über die Autos hinweg, die Richtung Covington fuhren, zog über die Grabsteine hinweg, die sich in dem Teich auf dem Friedhof von Métairie spiegelten. Und ich wußte, es regnete auch auf das Flachdach von Antoinettes Apartmenthaus, während sie in ihrem großen Bett lag und schlief, ihre Haut noch feucht unter ihrem Bademantel; ich wußte, daß es auf die braunen Fluten des Flusses regnete, der sich stetig dem Meer entgegen wälzte.
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wei Tage später, am Freitagnachmittag, klopfte es in unserem rosafarbenen Haus in der Mystery Street an der Tür. Molesworth hievte sich argwöhnisch vom Sofa hoch, da unsere einzigen regelmäßigen Besucher Schuldeneintreiber und Gerichtsbeamte waren, die versuchten, den vorherigen Mietern Vorladungen zuzustellen. Aber auf der kleinen Veranda vor dem Haus stand ein Teenager, ein Botenjunge von Marche Florists, im Arm zwei Dutzend gelbe, cellophanverpackte Rosen. «Ich glaube, du hast dich im Haus geirrt, Partner», sagte Molesworth und machte Anstalten, die Tür zu schließen, aber der Junge ließ nicht locker. «Mystery Street Nummer vierundzwanzig, stimmt’s? Mr. Ned Conti. Sind Sie das?» «Niggerarsch», rief Molesworth über seine Schulter hinweg, «der Junge hier hat was für dich.» Ich kam, noch an einem Käsesandwich kauend, aus der Küche, unterzeichnete für die Blumen und stand mit dem Strauß im Arm ziemlich töricht mitten im Wohnzimmer, während aus dem Fernsehen die Blödeleien von Wile E. Coyote plärrten. Noch nie hatte mir jemand Blumen geschickt, und ich hatte keine Ahnung, was ich mit ihnen anfangen sollte. «Als erstes schneidest du die Stengel ein», sagte Molesworth gelassen. «Dann stellst du sie ins Wasser. Und dann, das Wichtigste überhaupt, liest du die Karte und stellst fest, wer blöd genug war, dir diese Unmenge Blümelein zu schicken.» Ich tat, was er sagte. Ich schnitt die Stengel ein, 119
verfrachtete den Strauß in unseren Plastikwasserkrug und stellte ihn auf den Kaminsims, wo er inmitten der Verkommenheit unserer Wohnung glitzerte und funkelte wie die personifizierte Hoffnung. Dann las ich die Karte. «Das hier ist für dich», stand da. «Ich werde um acht Uhr heute abend im Napoleon House sein.» «Na und?» fragte Molesworth, der seinen Blick eine Sekunde lang vom Fernseher abwandte. «Die Blumen sind von meiner… ähm… Mom», sagte ich. «Von deiner Mom?» Er hob eine Augenbraue. Dann schüttelte er den Kopf. «Ganz wie du willst, Niggerarsch», sagte er und wandte sich wieder seinem Zeichentrickfilm zu.
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m acht Uhr waren die Straßen des French Quarter total überlaufen, voller Touristen und Pferdekutschen. Ich fuhr mit dem Bus zur Ecke Dauphine und St. Louis und ging den Rest des Weges zu Fuß durch die Menschenmengen. Die Austernrestaurants waren bis auf den letzten Platz besetzt, und vor den Bars standen die Gäste bis auf die Straße hinaus Schlange: betrunkene Geschäftsleute aus dem mittleren Westen auf Sauftour, Hochzeitsreisende Arm in Arm, leicht beschwipst von zwei Hurricanes bei Pat O’Brien und ein wenig benommen von allem. Obwohl ich erst knapp fünf Jahre in der Stadt war, hatte ich mir die Verachtung der Einheimischen für diese käsegesichtigen Legionen zu eigen gemacht, die keinen Alkohol vertrugen. Es war ein milder Abend; die Bogenfenster des Napoleon House standen zur Chartres Street hin offen. Ich ging hinein, bestellte mir aus einer Laune heraus einen Sazerac Cocktail, setzte mich an den Tresen und wartete. Etwa gegen halb neun kam der Kellner, ein steinalter Schwarzer mit schmutziger roter Jacke und schiefsitzender Fliege zu mir und tippte mir auf die Schulter. «Mr. Ned Conti?» fragte er. «Ja», sagte ich überrascht. «Folgen Sie mir bitte.» Ich nahm mein Glas und folgte ihm um den Tresen herum, einen schäbigen Korridor entlang und vorbei an einem Schild, auf dem Patio geschlossen stand. In der Mitte des Innenhofs gab es einen Springbrunnen, der aber nicht in Betrieb war. Bananenbäume und andere Pflanzen 121
in großen Tontöpfen umringten ein halbes Dutzend schwarzer Eisentische. Antoinette saß an einem Tisch auf der anderen Seite des Springbrunnens vor einem Martini. Zwei Kerzen auf alten Cognacflaschen beleuchteten ihr Gesicht und ließen die Straßsteine auf der Brosche an ihrem grünsamtenen Cocktailkleid funkeln. Sie sah gut aus, ihre Augen blitzten und verrieten nichts mehr von den Qualen, die sie einige Tage zuvor ausgestanden hatte. «So, da wären wir, Sir.» Der Kellner deutete auf einen Stuhl ihr gegenüber. Antoinette blickte auf und lächelte. «Vielen Dank, Henri», sagte sie zu ihm, bevor sie mich begrüßte. «Darf ich Ihnen etwas bringen, Sir?» fragte der Kellner. «Ja, am besten noch einen Sazerac», erwiderte ich und blickte in mein Glas. Antoinette zog ein Gesicht. «Du bist wohl ein Tourist», sagte sie. «Sazerac!» «Tja, ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Ich hatte einfach Lust auf was Ausgeflipptes», sagte ich und versuchte, ihren Busen in dem tief ausgeschnittenen Kleid zu ignorieren. «Hmm…» Sie schürzte die Lippen und wandte sich dann an Henri. «Au hon gout, Henri. Lo vrai fai por loui. Et lo même por moi», sagte sie, und es klang so, als spräche sie Gombo-Französisch, den aussterbenden alten Dialekt von New Orleans. Ich hatte ihn noch nie zuvor von irgend jemandem gehört. «Bon, bon ’zelle Toinette.» Henri nickte und ging langsam über den Hof zurück in die Bar. «Ich habe ihm gesagt, er soll dir einen ordentlichen Drink machen», erklärte mir Antoinette. «Nicht dieses widerliche Zeugs aus der Flasche, sondern richtig 122
handgemixt.» «Du scheinst ja einigen Einfluß hier zu haben», sagte ich mit Blick auf die leeren Tische. «Sieht so aus, als hätten sie den Patio eigens für dich geöffnet.» «Papa hat genau hier in diesem Hof um Mamas Hand angehalten», sagte sie. «Ich bin sozusagen hier geboren. Das Essen ist zwar nicht mehr so gut wie früher, aber ich liebe dieses Lokal.» Als Henri die Drinks brachte, kostete ich den Sazerac, und er rann wie Feuer meine Kehle hinunter. «Verdammt», sagte ich, «wirklich ein höllischer Drink.» Der alte Kellner lächelte erfreut und ging davon. «Henri war früher Chef-Barkeeper hier, bis man fand, er sei zu alt dafür», sagte Antoinette. «Aber er ist einer der wenigen Leute, die immer noch einen handgemixten Sazerac machen können. Du weißt schon, Absinth, Bourbon, süßer Wermut, Zucker und Angostura. Das Geheimnis besteht darin, daß man den Absinth im Glas schwenkt und ihn dann wegschüttet, bevor man die anderen Sachen hinzufügt. Heutzutage kriegt man natürlich keinen Absinth mehr. Aber Pernod geht auch.» Ich nickte sprachlos. Antoinette rückte mit ihrem Metallstuhl näher zu mir heran. «Laß mich mal probieren.» Sie kostete den Sazerac und zog eine Grimasse. «Haut ganz schön rein.» Dann legte sie mir eine Hand auf den Arm und senkte ihre Stimme. «Hör zu, ich möchte die Sache sofort hinter mich bringen, denn das Ganze ist ein wenig peinlich. Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du neulich getan hast. Ich hatte total die Kontrolle verloren und brauchte jemanden, der mir half, und du warst da, und ich bin dir wirklich…» «Du brauchst nicht…», begann ich. 123
«Bitte, laß mich weiterreden. Ich bin dir wirklich dankbar für das, was du getan hast, und dafür, wie du es getan hast - so lieb. Also, das ist für dich…» Sie beugte sich vor, küßte mich auf die Lippen, während ihre Hand immer noch auf meinem Arm lag, und ich war zu verblüfft, um ihren Kuß zu erwidern. «Du schmeckst nach Sazerac», sagte sie, aber als ich nichts erwiderte, lehnte sie sich zurück und sah mich durch schmal gewordene Augen wartend an. Ich muß weiß wie ein Laken gewesen sein, denn nach einer Weile meinte sie: «Scheiße, ich wollte dir keinen Schreck einjagen.» «Nein, ich bin nur überrascht.» «Wenn du nicht möchtest, daß ich dich küsse, brauchst du’s nur zu sagen.» «Das ist es nicht», sagte ich, zog sie plötzlich an mich und küßte sie heftig auf die Lippen, küßte sie ein zweites Mal und versuchte, sie noch näher zu mir herüberzuziehen, fegte statt dessen aber nur ihr Martiniglas vom Tisch, das auf dem Pflaster zerbrach. «Schon gut.» Sie lachte und schob mich, eine Hand flach auf meine Brust gelegt, von sich weg. «Du solltest besser vorsichtig sein.» Rückblickend ein Ratschlag, den ich hätte beherzigen sollen. Aber statt dessen lehnte ich mich, während sie sich auf die Suche nach Henri machte, in dem Metallstuhl zurück und blickte hinauf in den Himmel, der von einer so wunderbaren Grün-Blau-Schattierung war, daß es an ein Wunder grenzte.
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rgendwo gegen vier Uhr morgens, wir hatten erst getrunken, dann was zu Abend gegessen, dann noch mehr getrunken und ein halbes Dutzend Touristenbars abgeklappert, endeten wir schließlich bei Lafitte’s, dessen von Sklaven gezimmerte Wände einen guten Meter tief in den Boden eingesunken waren. Es war jetzt eine Pianobar mit grellem Licht über dem Stutzflügel, Glastischen und Sitzgruppen aus rotem Leder, aber früher einmal, in einem anderen Zeitalter, hatte das Haus dem Piraten Lafitte als Tarnung für seinen illegalen Sklavenhandel gedient, und noch immer haftete ihm der Ruch seiner kriminellen Vergangenheit an. Antoinette und ich saßen aneinandergelehnt auf einem Ecksofa, halbleere Dixie-Flaschen vor uns auf dem Tisch. Der übergroße Cognacschwenker auf dem Flügel an der gegenüberliegenden Seite des Raumes war vollgestopft mit Dollarscheinen, und die Frau davor heulte gerade ihre letzte Nummer, aber das Lokal würde erst in einer Stunde schließen. Über der Stadt lag eine Ahnung der Morgendämmerung. «Es gibt da noch ein paar Kleinigkeiten, die ich dir gern sagen möchte», begann Antoinette. «Schieß los.» «Aber du wirst dich hinterher nicht mehr dran erinnern. Du bist betrunken.» «Keine Sorge», erwiderte ich. «Ich werde mich schon erinnern.» «Das French Quarter», sagte sie. «All diese Touristenbars. Was glaubst du, warum ich heute abend 125
unbedingt im Quarter bleiben wollte? Glaubst du, es gefällt mir, hier rumzuhängen?» «Ich weiß», sagte ich. «Die Bar im Hyatt. Die Plastikalligatoren, die da von der Decke hängen. Großer Gott.» Sie umklammerte meinen Arm, und ihre Stimme war plötzlich vollkommen ernst. «Meine Freunde gehen nicht hierher, deine Freunde gehen nicht hierher. Dothan geht nicht hierher. Verstehst du, was ich meine?» Während ich über ihre Worte nachdachte, beugte sie sich tief über den Tisch. Ihre Haut sah in dem dämmerigen Licht weich und glatt aus wie Elfenbein. Ihr schwarzes Haar lockte sich um die Perlen an ihren Ohren. Auf der Straße stolperten Betrunkene vorbei. Alles, was ich durch das niedrige Fenster von ihnen sah, waren ihre Schuhe. «Ich meine, daß es am Anfang gefährlich sein könnte für dich», fuhr Antoinette leise fort. «Dothan reagiert nicht immer vernünftig, und er hat in der Vergangenheit einige verrückte Sachen gemacht. Wir müssen uns heimlich treffen. Nicht, daß mir das gefällt, aber wir haben keine andere Wahl, bis ich mir überlegt habe, wie ich mit ihm Schluß machen kann. Ich werde vollkommen ehrlich zu dir sein, denn ich mag dich, und du bist ein netter Kerl. Ich versuche schon seit einer ganzen Weile; von Dothan wegzukommen. Er ist einfach zuviel für mich. Er will zuviel. Aber ich bin schwach, und ich schaffe es nicht allein. Ich rufe ihn an, wenn ich ihm gesagt habe, daß wir uns mal eine Weile nicht sehen sollten; ich rufe ihn an, weil ich mich einsam fühle oder weil ich mich langweile. Und wenn er nicht in der Nähe ist und wenn ich mich einsam fühle oder langweile, mache ich Dummheiten, so wie neulich. Das war wirklich blöd. Also brauche ich deine Hilfe.» Sie vermied es, mich anzusehen, und als ich 126
ihr Gesicht anhob, standen Tränen in ihren Augen. «Ich verspreche nichts», sagte sie. «Ich möchte, daß du das nicht vergißt. Aber ich möchte…» Ich hielt den Atem an. «Ich möchte, daß du mein Liebhaber wirst. Willst du mein Geliebter sein?» Ich hätte über die Dinge, die sie sagte, nachdenken sollen, aber ich habe überhaupt nicht nachgedacht. Statt dessen nahm ich sie in die Arme und küßte sie. «Mit dem Teufel persönlich», flüsterte ich. «Für dich würde ich es mit dem Teufel persönlich aufnehmen.» Und draußen in dem grünen Firmament über der Stadt ertönte das langgezogene Heulen eines Güterzugs, des Illinois Central, der nach Norden fuhr und jetzt in die sumpfige Düsternis entlang des Flusses tauchte.
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ir waren vorsichtig. Wir gingen in Touristenbars, die keiner von unseren Bekannten freiwillig betreten hätte, und liebten uns in Hotelzimmern im Quarter - im Lasalle, im Landmark French Quarter, im Monteleone -, mischten uns in den Strom der Kongreßbesucher und der Hausfrauen aus Akron, deren erkahlenden Ehemännern die Hypotheken ins Gesicht geschrieben standen. Die Hotels waren alle gleich: harte Doppelbetten, billige Auslegeware auf dem Boden, triste Filme für eine Extragebühr, gedruckte Blumenstilleben an den Wänden, der Geruch von Anonymität und jenseits der dicken Spiegelglasfenster die Lichter von Algiers. Wir hatten unsere Routine und unsere kleinen Spielchen. Sie hinterließ mir eine Nachricht in Flournoys Des Indes à la planète Mars in meiner Lesenische in der Bibliothek an der Loyola. (Ich arbeitete damals an einem Forschungsprojekt über das Phänomen des automatischen Schreibens im 19. Jahrhundert, und bei dem Buch handelt es sich um ein berühmtes Werk, das angeblich von einem jenseitigen Wesen à la planchette geschrieben wurde. ) Die Nachrichten - die ich auswendig lernen und dann zerstören sollte wie eine Figur aus Kobra, übernehmen Sie - waren kleine Schnipsel gelben Papiers, auf denen der Name eines Hotels stand, eine Stunde des Tages oder der Nacht, eine Zimmernummer und als Unterschrift lediglich ein Herz. Sie traf alle Vorbereitungen, bezahlte alles mit einer Kreditkarte, die ich nie zu Gesicht bekam, und saß immer schon in der Hotelbar, wenn ich kam, oder in unserem 128
Zimmer, frisch gebadet und die Haare wie Scheherezade in ein Handtuch gewickelt. Meinem Mantel haftete noch der Geruch der Außenwelt an, wenn wir einander in die Arme fielen wie zwei junge Tiere. Eine Weile war das genug. Ich stellte keine Fragen, und wir sprachen nicht von Dothan. Eine Weile waren da nur ihr Körper und ihr Geruch und das Gefühl ihrer Haare in meinen Händen, und danach rauchten wir wie zwei Figuren aus einem Film und bestellten den Zimmerservice: Cheeseburgers mit Schinken oder lauwarme Gumbosuppe um drei Uhr morgens. Ich war noch jung und hatte nicht viel Erfahrung mit Frauen, aber ich wußte, daß etwas fehlte, daß ihr Herz ihrem Körper nicht folgte, wenn wir uns liebten. Daß ihr Geist kalt und beobachtend im Zentrum aller Ereignisse lauerte. Ich will nicht sagen, daß es ihr an Begeisterung mangelte. Davon hatte sie mehr als genug, und ich lernte von ihr ein paar Dinge im Bett, die mir später bei farbloseren Frauen gut zustatten kamen, aber etwas Wesentliches fehlte. Dann, eines Nachts, nachdem wir miteinander geschlafen hatten und Antoinette an meiner Schulter vor sich hindöste, traf es mich wie ein Schlag: Es war nicht Liebe, was wir da machten; es war Sex. Ich weckte sie und sagte es ihr. Sie sah mich mit verschlafenen Augen an. Dann stemmte sie sich hoch, gab mir einen ironischen Kuß auf den Mundwinkel und sagte: «Baby, versuch einfach zu schlafen.» Aber ich konnte nicht schlafen, und so grübelte ich bis zum Morgengrauen darüber nach. Einige Tage später, im Bett von Zimmer 247 im alten River Mark Hotel, brachte ich das Thema abermals zur 129
Sprache. Durch die dünnen Wände drangen das Gejohle und die Pfiffe einer Junggesellenparty. In der Suite nebenan hatten sie eine Stripperin zu Gast. Ich hatte dieses dralle Geschöpf mit dem Aufzug hochkommen sehen, eingehüllt in einen langen Regenmantel und begleitet von einem hünenhaften Mann. Der Fernseher in unserem Zimmer dröhnte, um den Lärm dieser Orgie zu übertönen. «Du kannst den Fernseher ruhig ausmachen», sagte Antoinette schließlich, während sie sich von mir wegdrehte. «Er funktioniert nicht.» Ich stand auf und schaltete den Apparat aus, aber statt wieder zurück ins Bett zu gehen, setzte ich mich nackt auf den Schreibtischstuhl ihr gegenüber. Sie blinzelte mich neugierig an. Ihre grauen Augen funkelten in dem dämmerigen Licht der Schreibtischlampe wie die einer Katze. Das Gejohle nebenan brandete von neuem auf, und von der anderen Seite des Zimmers kam das Geräusch einer Klospülung. «Tut mir leid, daß das so ein lausiges Hotel ist», sagte Antoinette und legte sich ein Kissen über den Kopf. Als sie wieder hochkam, um Luft zu schnappen, und mich immer noch auf dem Stuhl sitzen sah, streckte sie mir einladend die Arme entgegen. Ich schüttelte den Kopf. «Wir müssen reden», sagte ich. Sie war einen Augenblick still. «Okay, warum reden wir nicht im Bett?» fragte sie schließlich. «Das wird nicht funktionieren.» Also seufzte sie und drehte sich auf den Rücken, ihre Brüste zu beiden Seiten ihres Körpers ausladend wie ein Fluß, der über die Ufer tritt. Sie faltete ihre Hände zwischen ihnen - eine Heilige in Ruhestellung. Es war nie leicht mit ihr gewesen, wenn es ans Reden ging; Worten traute sie nicht. 130
«Na schön, wenn du also reden willst», sagte sie, den Blick zur Decke gerichtet, «warum ziehst du dann nicht deine Hose an?» Es wäre wohl wirklich seltsam gewesen, ein ernstes Gespräch nackt zu führen, also stand ich auf, zog meine Jeans an und mein T-Shirt und setzte mich wieder auf den Stuhl. «Dann mal los.» Ich zögerte, blickte aus dem Fenster über die Stadt hinweg, nur ein Schemen in dem grünen Licht, und schaute dann wieder zu Antoinette hinüber, die immer noch an die Decke starrte. Das Hotel schien plötzlich furchtbar still zu sein. Ich wußte, daß ich viel zu verlieren hatte, aber ich konnte nicht anders. «Ich habe keine Lust mehr auf Hotelzimmer», sagte ich. «Diese ganze Sache fängt langsam an, ein bißchen billig zu wirken.» «Ich gebe zu, dieses Hotel ist ein Drecksloch, aber es war alles, was ich für heute abend bekommen konnte, Baby», sagte sie. «Das Quarter war total ausgebucht. Aber dir gefällt doch das Holiday Inn Château LeMoyne, stimmt’s? Mit dieser großen Jacuzzi-Badewanne, erinnerst du dich?» «Du verstehst nicht, worum es mir geht, Antoinette», sagte ich. «Erstens ist das alles furchtbar teuer. Hotelzimmer drei, vier Nächte die Woche. Mein Gott! Und das alles verschwindet sang- und klanglos auf deiner Kreditkarte. Ich finde das nicht richtig.» «Geld», sagte sie mit einer abschätzigen Handbewegung. «Mach dir deswegen mal keine Gedanken.» Die Party nebenan wurde leiser und wieder lauter, wie ein Radiosender, der ab- und wieder angedreht wurde. «Antoinette», sagte ich sanft, «laß uns das nächste Mal zu dir gehen. Oder zu mir.» «Nein», sagte sie. 131
«Warum nicht?» «Du bedrängst mich. Hör damit auf. Laß es einfach eine Weile so weiterlaufen.» «Antoinette, schläfst du immer noch mit Dothan?» «Frag mich das nicht», erwiderte sie scharf. «Das geht dich nichts an, verdammt noch mal.» «Okay», sagte ich. «Ich gehe jetzt wohl besser.» Ich weiß nicht, woher ich den Mut nahm, aufzustehen, in dem Chaos von Kleidern auf dem Fußboden herumzuwühlen, meine Socken anzuziehen, meine Schuhe zuzuschnüren, meinen Gürtel zu schließen, meinen Mantel zu holen und zur Tür hinüberzugehen. Ich legte meine Hand auf den Knauf und drehte mich halb zu ihr um. Sie lag reglos auf dem Bett, die Hände immer noch zwischen den Brüsten gefaltet, den Blick zur Decke gerichtet. «Ich bin verrückt nach dir», sagte ich. «Das weißt du. Aber ich brauche jetzt etwas. Ein Wort. Irgend etwas, um so weitermachen zu können. Sonst ist es nur Sex. Und ich bin wohl immer noch zu sehr Katholik, um zu glauben, daß so etwas gut ist.» Ich stand da wie ein Narr und sah sie an. Sie sagte kein Wort. Nach einer Weile drehte ich den Türknauf um, trat hinaus auf den mit Teppich ausgelegten Flur und stand von neuem zusammen mit der Stripperin und ihrem Bodyguard im Lift. Dieses Mädchen, ein oder zwei Jahre jünger als Antoinette, war zweifellos auf dem Weg zu einem anderen Auftritt in einem anderen Hotel auf der anderen Seite der Stadt, und ich konnte sie mir in dem harten, weißen Licht ziemlich genau ansehen. Ruhig, blaß, gefaßt und kein einziger Schweißtropfen deutete auf das Spektakel hin, das sie gerade hinter sich gebracht hatte.
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ch wartete die ganze Woche auf Antoinettes Anruf, aber sie rief nicht an. Es war eine der schlimmsten Wochen meines Lebens. Ich schwankte zwischen Verzweiflung und Selbstbeweihräucherung darüber, wie ich mit der Situation fertig geworden war. Das sei genau das Richtige gewesen, sagte ich mir, genau das Richtige. Aber dann brach ich zusammen und betete zu irgendeiner geheimen Gottheit der Liebenden, daß Antoinette zu mir zurückkehren möge. Diese Sache schien mir keine Angelegenheit für den katholischen Gott zu sein, den Gott der Keuschheit und Abstinenz und der Strafe, den Gott auf dem Kreuz, der Maria Magdalena niemals auch nur mit einem Finger berührt hatte und der durch den Apostel Paulus zu uns sprach, um uns zu sagen, daß die körperliche Liebe selbst innerhalb der heiligen Schranken der Ehe bestenfalls ein sündhafter Kompromiß mit den bösen Verlockungen des Fleisches war. Statt dessen betete ich voller Leidenschaft und Verzweiflung zu einem ganz anderen Wesen, zu einer weiblichen Gottheit in einem mit Samt ausgeschlagenen Boudoir; zu einer Göttin des Lachens und des Rascheins von Seide und der langen Nachmittage in den Armen einer Frau, deren Mann anderswo war. Um mir die Zeit zu vertreiben, trank ich. Molesworth wurde der Organisator und Führer meiner Flucht. Ich präsentierte mich ihm wie ein Büßer, und im Landrover machten wir bis drei oder vier Uhr morgens die Runde durch die Stadt. Molesworth war ein Mann, der keine Fragen stellte. Irgendwann in seiner fernen Vergangenheit hat einer seiner hinterwäldlerischen Verwandten wohl alle 133
natürliche Neugierde aus ihm herausgeprügelt, oder vielleicht gehörte er auch zu den wenigen Glücklichen, die es einfach zufrieden waren, nichts zu wissen. Aber ein Mann, der keine Fragen stellt, bekommt trotz alledem oft Antworten. Wir hatten uns in einer der stinkenden, bierklebrigen Nischen ganz weit hinten im Stew Pot niedergelassen und waren über zwei Flaschen Jack’s in düsteres Schweigen versunken, als ich ihm mein Herz ausschüttete. Molesworth hatte den ganzen weiten Weg hierher auf sich genommen, um von seinem Bekannten, einem argwöhnischen Ex-Sträfling, ein paar Tüten einheimisches Gras zu erstehen. Der Deal ging in einer der Kloboxen vonstatten, während ich für den Fall, daß die Polizei auftauchen sollte, die Tür im Auge behielt, mein Bier trank und versuchte, so unschuldig auszusehen, wie es in dieser Situation möglich war. Das Stew Pot ist eine wenig frequentierte Spelunke draußen am Rand von Belle Chasses auf der anderen Seite des Flusses und typisch für die Etablissements, wie man sie in Plaquemines findet. Das übliche zähe CajunKrokodilfleisch, in billigem Fett fritiert, die üblichen Countrysongs aus der Jukebox und zur Zierde des Ganzen Konföderiertenflaggen und ausgestopfte Fische. Lediglich eine bemerkenswerte Ausnahme unterschied diese Kneipe von anderen: über der Theke hing ein riesiges Porträt von Judah P. Benjamin in Gehrock und grauem Bart, irgendwann gemalt während des Bürgerkriegs. Das Porträt war fleckig, vom Alter geschwärzt und an einer Ecke eingerissen, aber trotz alledem ein Museumsstück. Wie es ins Stew Pot gelangen konnte, überstieg meine Vorstellungskraft. Als der Barkeeper, ein typischer armer Schlucker aus dem Bayou, mit einer neuerlichen Runde zu uns kam, fragte ich ihn, ob er etwas über das Bild wisse. 134
Er zuckte mit den Schultern. «Irgend ’n Geschenk von irgend ’nem alten Arschloch», sagte er. «Woher kommt es?» «Teufel soll mich holen, wenn ich das weiß. Hing schon hier, als ich hier anfing.» «Das ist Judah P. Benjamin», sagte ich. «Wer?» «Er war Jude.» Der Bayou-Bursche glotzte mich an und drehte sich argwöhnisch zu dem Porträt um. «Oh», sagte er. «Ein Jude.» Als er wegging, hob Molesworth eine Augenbraue. «Judah P. Benjamin wurde, obwohl er als Jude in einer Zeit großen Antisemitismus lebte, unter Jefferson Davis Außenminister der Konföderation», dozierte ich. «Man nannte ihn oft das Gehirn des Südens. Er führte ein unstetes Wanderleben. Geboren in Westindien als Sohn eines Rabbis, kam er nach Yale und ging dann nach dem Krieg lieber ins Exil, als einen Eid auf die Union zu schwören. Schließlich wurde er in England als Rechtsanwalt berühmt, bevor er in Frankreich in den Armen seiner französischen Mätresse auf einem Landsitz außerhalb von Paris starb. Nach New Orleans, der Stadt, die er über alles liebte, kehrte er nie zurück.» «Und wen interessiert das?» «Das ist Geschichte, Molesworth. Dich sollte es interessieren. Jeden sollte es interessieren. Judah P. Benjamin im Stew Pot. Unglaublich.» «Mir ist das scheißegal», sagte Molesworth. «Machen wir, daß wir hier rauskommen.» «Und wohin?» «Zurück in die Zivilisation. Laß uns ins Spanish Town 135
gehen. Bin schon eine Weile nicht mehr dagewesen. Wir können Dothan Hallo sagen und auch dieser schönen Hexe, die er hinterm Tresen stehen hat.» Alles Blut wich aus meinem Gesicht. «Nein», sagte ich. «Ich kann nicht ins Spanish Town.» «Du kannst nicht?» fragte Molesworth überrascht. «Frag mich nicht.» Molesworth zuckte mit den Schultern, wandte sich wieder seinem Bier zu und machte mit dem unteren Ende seiner Flasche eine grüßende Geste in Richtung Judah P. Benjamin, der ihm zuzunicken schien, während ein Lächeln voller wohlwollender Autorität um seine bärtigen Lippen spielte. Nach einer Weile sagte ich: «Und, willst du mich nicht fragen?» Er schüttelte den Kopf. «Nee.» «Okay», seufzte ich. «Ich erzähl’s dir.» Ich sagte ihm alles und ließ nur jene intimen Details aus, die ein Gentleman aus Gründen der Diskretion niemals in einer Kneipe wiederholen würde. Als ich fertig war, setzte er seine Bierflasche mit einem entschlossenen Klicken auf den Tisch, und in seinen Augen stand so etwas wie Enttäuschung. «Habe ich dir denn gar nichts beigebracht, Niggerarsch?» fragte er. «All diese Jahre, und du bist immer noch derselbe YankeeNiggerarsch, der du warst, als du ins Wohnheim eingezogen bist. Diesmal hast du’s wirklich geschafft, wahrhaftig.» Dann holte er mit seiner dicken Hand zu einer vagen Geste aus. «Was geschafft?» fragte ich und versuchte, in meinen Worten keine Panik durchklingen zu lassen. Er beugte sich zu mir herüber, seine Stimme war 136
plötzlich rauh und tief, und sein Atem roch nach Bier und schlecht geputzten Zähnen. «Es gibt Scheißkerle, und es gibt Scheißkerle. Dothan gehört zu den letzteren. Er kommt aus einer Familie von lauter Scheißkerlen. Ich will nicht sagen, daß er nicht ein anständiger Kerl ist. Er ist vollkommen vernünftig, nicht wie sein Bruder Curtis. Aber, mein Gott, wenn dieser Hurensohn durchdreht…» Auf dem Weg zurück in die Stadt, den Belle Chasse Highway hinauf durch die grünlichen Nebel des späten Abends, flog eine Schnepfe ganz niedrig über den Kühlergrill des Landrovers hinweg und glitt auf ihren großen Schwingen in die Dunkelheit davon in Richtung des Bayou Barriere County Clubs. Molesworth hupte dem Vogel hinterher und machte eine wilde Geste mit seinem Styroporbecher voller Bourbon und Soda. In jenen Tagen, bevor sich eine zudringliche nationale Gesetzgebung breitmachte, gehörte Louisiana zu den wenigen Staaten, die zivilisiert genug waren, um ihren Bürgern zu gestatten, zu trinken und Auto zu fahren und eine Waffe bei sich im Wagen zu haben, und das alles gleichzeitig. «Wenn ich ein alter Römer wäre», sagte Molesworth, «würde ich diesen Vogel als Omen nehmen. Als schlechtes Omen.» «Du bist aber kein alter Römer, Molesworth», rief ich über das Dröhnen des Motors. «Die Auguren, du weißt schon. Die Leute, die die Zukunft aus dem Flug der Vögel vorhersagen konnten. Mit solchen Sachen hatten’s die alten Römer. Denk nach, wann hast du zum letzten Mal nachts eine Schnepfe fliegen sehen?» «Keine Ahnung», sagte ich. «Tagaktiv, diese Vögel, nicht nachtaktiv.» Molesworth kannte sich, wenn er auch sonst nur wenig wußte, in der 137
Tier- und Pflanzenwelt der Sümpfe Louisianas so gut aus wie niemand sonst. «Und sie sind Flußvögel. Wir sind ein gutes Stück vom Fluß entfernt hier draußen. Ein Omen, Niggerarsch!» «Okay», sagte ich. «Ich geb auf. Was will dieser bestimmte Vogel uns sagen?» Er schwieg für einen Augenblick, nahm einen Schluck von seinem Bourbon, sein Pferdegebiß blitzte im Halbdunkel kurz auf, und dann wies er mit dem Kopf auf die Windschutzscheibe. Auf Kurzwelle kam jetzt das klagende Wimmern einer Cajun-Geige. «Dieser kleine Vogel sagt mir, daß du ein Narr bist, Ned.» Für einen Moment schien eine ungewöhnliche Note des Mitleids in seiner Stimme mitzuschwingen, ein Umstand, der mir mehr Angst einjagte als alles andere, was ich heute abend gehört hatte. «Es wird ein schlimmes Ende nehmen mit dir. Eine Frau wie die. Was für ein Narr ist das, der seinem Unglück so in die Arme läuft?» Mehr war nicht aus ihm herauszubringen. Eine Weile fuhren wir schweigend weiter, begleitet nur vom Motorengeräusch. Als wir nach Gretna und auf den West Bank Expressway kamen und etwas langsamer wurden, nutzte ich das verminderte Dröhnen, um beinahe im Flüsterton zu sagen: «Aber sie ist so schön. Sie ist die schönste Frau, die ich je gesehen habe. Ohne sie schleppen die Tage sich dahin, leer und dumpf. Sie ist wie die Sonne, Molesworth. Ohne sie ist die Stadt dunkel, das ganze Land. Dunkle, leere Straßen voller fremder Menschen.» «Hübsch gesagt, Niggerarsch», meinte Molesworth. «Aber laß mich dir eine kleine Geschichte erzählen. Da war dieser griechische Niggerarsch, der aus irgendeinem Grund Paris genannt wurde, obwohl ich nie begreifen werde, warum man einem Griechen den Namen einer 138
französischen Stadt gegeben hat. Na jedenfalls, eines Tages ging er mit dieser tollen Puppe auf und davon, du weißt schon, die mit irgendeinem anderen armen Hurensohn verheiratet war. Aber Paris hatte die Wahl in dieser Angelegenheit. Es ist nicht so, als hätten die Menschen keine Wahl. Er hätte es vorziehen können, der tollste Mann auf der Welt zu sein, der reichste Mann auf der Welt, oder aber mit dieser Puppe davonzulaufen. Und er hat sich für die Puppe entschieden. Was als nächstes passiert ist, weißt du... Scheiße. Der Rest ist Geschichte, und das fällt in dein Gebiet. Jede Menge Ärger.» Weiter sprachen wir nicht darüber. Er zerknautschte den Styroporbecher und warf ihn zu dem übrigen Müll auf den Boden, und kurz darauf waren wir auf der New Orleans Bridge und näherten uns der Stadt, deren Lichter, wenn man Molesworths Auguren-Prophezeiung Glauben schenken durfte, ein tragisches Schicksal beleuchteten.
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wei Tage später klopfte es in der Mystery Street an unsere Tür, und der Junge von Marche Florists brachte einen zweiten Rosenstrauß von Antoinette. Diese hier waren weiß, um die Reinheit ihrer Absichten zu zeigen, und auf der Karte stand: «Es tut mir leid. Alles. Hab dich vermißt. Ich werd’s versuchen. Bitte, komm heute abend in mein Apartment. 177 Marigny Nummer 3, falls du’s nicht mehr weißt. A.» Molesworth war irgendwohin gefahren, also versteckte ich die Rosen unter einer Decke in meinem Schlafzimmer, verließ das Haus und ließ mir in einem salvadorianischen Frisiersalon auf der Esplanade bei DeSoto einen Haarschnitt verpassen. Es war einer von diesen Salons, wo man fünf Dollar bezahlt und nachher aussieht wie ein Gaucho aus einem alten Film. Anschließend ging ich wieder nach Hause, zog mich um und schlenderte dann hinüber zum Delgado-Museum, wo ich geistesabwesend durch die Räume streifte, bis es Zeit war, den Bus stadteinwärts zu nehmen. Der Verkehr auf den Vorortstraßen war spärlich. Durch die Fensterläden von Antoinettes Apartment drang bleiches, einladendes Licht. Ohne ein Wort zu verlieren, drückte sie auf den Summer, und ich stieg, immer zwei Stufen gleichzeitig, die schmale Treppe hinauf. Die Tür stand offen, und aus dem Inneren der Wohnung kam tiefe, langsame Jazzmusik. Es war genau acht Uhr. Als ich eintrat und meinen Mantel auszog, bemerkte ich das Glitzern von Silber und Kristall. Der kleine Tisch im Wohnzimmer war fürs Abendessen gedeckt. Genau in diesem Augenblick kam Antoinette mit einer Flasche 140
Wein und zwei Gläsern aus der Küche. Sie lächelte. «Ich wußte, du würdest pünktlich sein», sagte sie. «Aber sieh mich an, ich bin nicht mal umgezogen.» Sie trug einen neuen Bademantel aus rotem Plüsch, der bis auf den Boden reichte, und das Haar fiel ihr lose und feucht über die Schultern. Irgend etwas hatte sich in der Wohnung verändert. Ich sah mich kurz um, erblickte das Sofa, dessen gelbe Kissen sorgfältig aufgeschüttelt waren, den orientalischen Teppich, das Foto von dem alten Gemälde, das nun gerade zwischen den Glastüren hing. «Wow, du hast aufgeräumt», sagte ich. «Nur für mich?» «Naja, sozusagen. Ich habe ein Dienstmädchen.» Sie trat an den Tisch, um den Wein zu öffnen, aber ich versperrte ihr den Weg, nahm ihr die Flasche ab und legte meine Hand unter dem Bademantel auf ihre Brust, küßte sie und machte mich daran, sie ins Schlafzimmer zu ziehen. «Hey», sagte sie, «was wird aus meinem Abendessen? Es ist fast fertig, Langusten-Étouffée, Salat, Wein…» Ich blieb in der Tür stehen und drückte sie gegen den Rahmen. Sie legte ihr Gesicht an meine Schulter, und in der Luft schwebte der Duft von Parfüm und Seife und Shampoo und der ureigene Geruch ihres Körpers. «Du hast mir also verziehen», sagte sie, ihr Gesicht noch immer an meiner Schulter. «Klar», sagte ich und zog ihr mit einer geschickten Handbewegung den Bademantel von den Schultern, zog sie vollends ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter uns, obwohl wir allein im Apartment waren.
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päter lagen wir auf dem Himmelbett einander in den Armen und lauschten dem leisen Murmeln der in die Dunkelheit getauchten Stadt jenseits der Fensterläden. Die Jazzplatte auf dem Plattenteller wiederholte sich zum xten Mal. Wir waren zu träge, um aufzustehen und sie umzudrehen. Ich schob mein Gesicht in ihre Achselhöhle und atmete den angenehm bitteren Duft ihres Körpers ein. «He», sagte sie und gab mir einen leichten Klaps mit dem Handrücken auf die Nase. Draußen im Wohnzimmer hob sich die Nadel wieder einmal von der Platte und ging zurück an den Anfang. «Irgend jemand müßte die mal umdrehen», sagte sie. «Mhm.» «Und mein Étouffée wird bald nicht mehr genießbar sein.» «Wir essen es zum Frühstück.» «Hast du Hunger?» «Ja», sagte ich, «aber nicht direkt auf das Étouffée.» Sie lächelte und zog mich an sich. Nachdem wir uns abermals geliebt hatten, setzte Antoinette sich im Bett auf und zündete sich eine Zigarette an. Sie bot mir ebenfalls eine an, aber ich schüttelte den Kopf. «Erinnert mich zu sehr an diese Motelzimmer», sagte ich. «Oh.» Hastig drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus und legte ihren Kopf auf meine Brust. «Ich verspreche immer noch nichts. Ich werde 142
versuchen, die Dinge anders zu regeln. Ich möchte, daß du das weißt», sagte sie. «Aber du wirst mir zeigen müssen, was ich tun soll, denn das ist etwas Neues für mich. Was möchtest du, daß ich tue?» Ich dachte einen Augenblick lang nach. Dann sagte ich: «Ich möchte, daß du mir von Dothan erzählst.» Sie versteifte sich, rollte sich von mir weg, und eine lange Zeit war es sehr still im Zimmer, bis sie schließlich sagte: «Na schön, ich erzähle dir von Dothan.» Und mit sehr leiser Stimme fuhr sie dann fort: «Dothan und ich haben am Mittwoch miteinander geredet. Er ist für die nächsten drei Monate in Südamerika. Vor allem Kolumbien. Dann Venezuela und Peru. Ich weiß nicht, was er da unten tut, und ich will es auch nicht wissen, aber ich kann es mir denken. Nun, wir haben uns jedenfalls vorgenommen, seine Abwesenheit zu nutzen, um über einiges nachzudenken, und wenn er zurückkommt, steht uns also diese große Aussprache bevor.» «Was wirst du zu ihm sagen?» «Ich weiß nicht.» «Hast du ihm von mir erzählt?» Sie zögerte. Ich konnte ihre Augen in der Dunkelheit nicht sehen. «Hast du?» «Ja.» «War es schlimm?» Sie zündete sich eine weitere Zigarette an und stieß den Rauch durch die Nase aus wie eine Gangsterbraut. In den wenigen Sekunden, die sie brauchte, um ihre Zigarette anzuzünden, hatte ihre Stimmung sich gewandelt. «Es gibt vieles von Dothan und mir, was du noch nicht weißt», sagte sie ein wenig rauh. 143
«Okay.» «Ich meine, ich habe ihn geliebt. Ich habe ihn wirklich sehr geliebt.» «Liebst du ihn immer noch?» «Willst du wirklich die ganze Story?» «Ja.» «Na schön», sagte sie und inhalierte tief. «Papa hatte eine Hütte oben in Bayou Dessaintes, in der Nähe von Mamou. Eine Fischerhütte, eigentlich kaum mehr als ein Schuppen. Papa liebte die Hütte und war glücklich, wenn er da oben sein konnte und fischen durfte, mal ohne Mamas Gesellschaftsdamen und den ganzen Scheiß im Garden District. Von uns Mädchen war ich sein Liebling. Einmal erzählte er mir, ich würde ihn an seine Schwester erinnern, die starb, als sie noch jung und schön war und bei den Nonnen zur Schule ging. Na ja, wie dem auch sei, Papa hat mich jedenfalls immer mitgenommen, wenn er zum Wochenende rauf fuhr. Er hat geangelt, und er hat mir erlaubt, Bier zu trinken und zu rauchen. Einmal, ich war so etwa zehn, da hat er mir sogar zwei Bier zu trinken gegeben, und ich war sturzbesoffen. Papa hat nur gelacht. Dann hatte er immer diese Pokerrunden mit ein paar Jungs aus dem Ort, und ich saß in meinem Nachthemd auf einem Stuhl dabei - nichts wirklich Aufregendes, nur ein altes Flanellding, das bis oben hin zugeknöpft war -, ich saß da neben Papa und sah ihm zu und sagte ihm, welche Karten er behalten und welche er ablegen sollte. Weiß der Teufel, sie haben bis vier Uhr morgens gespielt, aus dem Radio kamen alte Cajun-Sachen, Hank Williams und so weiter, und sie haben getrunken und geredet, wie Männer aus dem Bayou es eben tun, und schmutzige Witze gerissen, aber Papa fand nichts dabei, denn sie waren immer höflich zu mir. Bis auf den heutigen Tag, das kann ich dir sagen, bin 144
ich eine ziemlich gute Pokerspielerin. Außerdem verstehe ich mich auch aufs Angeln und kann einen Außenbordmotor mit einem Gummiband, Klebstoff und etwas Spucke wieder in Ordnung bringen.» «Na klar - jagen, fischen, zocken», unterbrach ich sie. Sie bestrafte mich mit einem Rippenstoß für meinen Sarkasmus und fuhr dann mit ihrer Erzählung fort. «In einem Sommer also fuhren Papa und ich für zwei Monate rauf in die Hütte, denn er hatte wirklich schwer gearbeitet und mußte mal für eine Weile raus. Aber diesmal, verstehst du, war ich dreizehn und schon ziemlich gut entwickelt. Ungefähr genauso vollbusig wie meine Schwester Jolie, die siebzehn war und in ihrem letzten Jahr auf der St. Jerome’s Academy. Man könnte sagen, daß ich mein Leben in zwei deutliche Abschnitte einteile, v. B. und n. B. - das heißt vor dem Busen, als ich noch ein kleines Mädchen war, und nachher, als ich ziemlich schnell erwachsen wurde und ein paar Sachen tat, die vielleicht noch eine Weile hätten warten sollen.» Hier hielt sie einen Augenblick inne und sagte dann schließlich: «Moment mal», legte ihre Zigarette auf den Rand des Aschenbechers, ging hinaus und drehte die Platte um. Plötzlich begann es zu regnen, so wie es das in Süd-Louisiana so oft tut: Der Regen peitscht von Algiers herüber und fegt mit Tropfen, die leicht gegen die Fensterläden schlagen, über die tieferliegenden Viertel der Stadt hinweg. Bevor sie wieder ins Bett kam, zog Antoinette die Vorhänge weit auf und öffnete das Fenster für die Sintflut, wobei sie die Läden jedoch geschlossen ließ. Feuchte Luft drang ins Zimmer und mit ihr der Geruch des Flusses und des Schlamms und der fruchtbaren Bayous des Deltas. Als sie wieder neben mich kroch, hatte sich eine leichte Kühle über ihren Körper gelegt. 145
«Halt mich fest», sagte sie. Ich hielt sie in den Armen, bis sie wieder warm war, und beobachtete dabei über ihre Schulter hinweg die Zigarette im Aschenbecher, die allmählich bis zum Filter herunterglomm und schließlich erlosch. Ein paar Minuten später rollte sie sich von mir weg, holte tief Luft und fuhr fort. «Irgendwann tauchte also dieser jüngere Mann bei Papas Pokerrunden auf, ein Kind im Vergleich zu den anderen, damals vielleicht so fünfundzwanzig, würde ich sagen, aber er war ein Wahnsinns-Pokerspieler und - mein Gott! eins der allerschönsten menschlichen Wesen, die mir je vor Augen gekommen waren, abgesehen vielleicht von Peter Frampton mit seinem offenen Hemd auf dem Cover von Frampton Comes Alive, in den ich damals ernstlich verknallt war. Dieser pokerspielende Junge war der Sohn von Claude Palmier, einem Cajun-Fährtensucher aus Mamou, den Papa immer angeheuert hat, wenn er Freunde aus New Orleans zu Jagdausflügen mitnahm. Dothan war sein Name. Ein unheimlicher Name, irgendwas Biblisches, aber er sah aus wie eine Mischung aus Elvis und Richard Burton, und da stand ich nun, dreizehn Jahre alt, mit diesen brandneuen Brüsten und drehte fast durch, wann immer er das Zimmer betrat. Papa ließ mich von diesem Sommer an auch nicht mehr im Nachthemd rumlaufen, denn ich wurde ja, wie er es ausdrückte, ›langsam, aber sicher eine junge Dame‹. Aber vergiß nicht, wir befinden uns in den Siebzigern. Statt meines züchtigen Flanellnachthemds trug ich hautenge Jeans und so eine Art Bikinioberteil. Die Haare in der Mitte gescheitelt wie Laurie Partridge, und alle möglichen Teile von mir hingen aus meinen Klamotten raus. Alles in allem hätte das Nachthemd wohl weniger tiefe Einblicke gewährt… Nach einer Weile merke ich also, wie Dothan mir über 146
seine Karten hinweg verstohlene Blicke zuwirft, aber nicht so deutlich, daß irgend jemand anders ihn dabei hätte erwischen können. Er hat es sehr geschickt gemacht. Immer die richtigen Augenblicke abgepaßt. Ich hab versucht, nicht hinzusehen, aber das war unmöglich. Er hat einfach nur dagesessen mit diesen schwarzen Augen, die mich ansahen, als wüßte er Dinge von mir, die ich nicht mal selbst wußte. Wahrscheinlich hatte er keine Ahnung, daß ich erst dreizehn war, aber ich glaube, letzten Endes hätte das auch keine große Rolle für ihn gespielt. Dann, eines Nachts, als das Spiel ziemlich hoch herging, setzte Dothan eine Runde aus, um die Außentoilette zu benutzen. Er ging hinaus auf die Veranda und von dort in den Garten, schlich sich aber ganz leise zurück und stand nun auf der anderen Seite, direkt vor der Fliegentür. Irgend etwas ließ mich aufsehen, und er lächelte, winkte mir zu und trat wieder zurück in die Dunkelheit. Also erzählte ich, mir sei plötzlich furchtbar heiß, und ging hinaus auf die Veranda, wo er im Schatten stand und rauchte. Er warf die Zigarette fort, preßte mich gegen die Hauswand und fing an, mich wie verrückt zu küssen, und seine Hände waren überall auf meinem Körper, seine Gürtelschnalle drückte sich in meinen nackten Bauch, und er flüsterte mir Sachen ins Ohr, die ich noch nie zuvor gehört hatte. Schließlich hängte ich meinen Ellbogen um seinen Hals und preßte mich an ihn, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes getan, und küßte ihn ebenfalls, und wahrscheinlich hätte er mich gleich an Ort und Stelle vorm Haus flachgelegt, wären da nicht die Männer drinnen gewesen, die immer noch Karten spielten.» «Mein Gott!» sagte ich leicht schockiert. «Hattest du keine Angst?» Sie überlegte einen Augenblick. «Nein, ich hatte keine Angst», antwortete sie. «Ich wußte genau, was er wollte, 147
und ich wußte, was ich ihm geben wollte. Ich bin die jüngste von fünf Schwestern, und du weißt ja, wie Schwestern sind.» «Und wann ist es dann passiert?» «Warum erzähle ich dir das alles eigentlich?» Ich zuckte mit den Schultern. «Weil es mich interessiert?» «Du bist gefährlich. Frauen liegen im Bett und erzählen dir Sachen, die sie dir lieber nicht erzählen sollten…» Für eine Minute sah es danach aus, als würde Antoinette mit ihrer Erzählung aufhören, aber dann fuhr sie doch fort. «Es ist zwei Wochen später auf dem Rücksitz seines Lieferwagens passiert. Er hat mich mit Wein betrunken gemacht, und außerdem wollte ich es, also haben wir es getan. Danach kriegte ich schließlich doch Angst, und ich habe geweint, weil ich wußte, daß es kein Zurück mehr gab. Aber er hat mich geküßt und mir gesagt, daß er mich liebe und mich haben wolle und mich immer würde haben wollen, weil ich in seinen Augen so schön wie die Sterne sei, und er schwor, er würde mich heiraten und mich von Papa wegbringen, und wir würden zusammen in einem großen Haus in den Sümpfen leben, und, bei Gott, er meinte es ernst. Jedes einzelne Wort. Dothan mag zwar manchmal ein ziemlicher Ganove sein, und er schmuggelt vielleicht auch ein bißchen und was weiß ich noch alles, aber wenn er etwas sagt, dann meint er es ernst. Also schliefen wir den ganzen Sommer lang miteinander, und ich erwärmte mich langsam dafür. Ich schlich mich kurz vor der Morgendämmerung aus der Hütte, direkt nachdem Papa ins Bett gegangen war, und Dothan und ich schliefen miteinander. In seinem Wagen, den er auf einem der Trampelpfade im Bayou geparkt hatte. Oder in den Ruinen einer alten spanischen Festung, wo man zusehen konnte, wie die Sonne sich langsam über die verfallenen Steinmauern erhob. Als ich im Herbst nach New Orleans zurückkehrte, kam Dothan am Wochenende 148
immer mit seinem kleinen Lieferwagen runter, und wir haben uns draußen in Arabi oder sonst irgendwo ein Hotelzimmer gemietet. Meinen Eltern habe ich dann erzählt, ich schliefe bei einer Freundin, während Dothan und ich in Wirklichkeit in irgendwelchen Vorortbars herumhingen, wo die Leute nicht zu heikel waren, was Ausweise betrifft, und Dothan hat den Hinterwäldlern aus den Sümpfen erzählt, ich sei seine Frau…» Antoinette saß für eine Weile schweigend da und rauchte; ihre Augen waren ganz dunkel. «Soll ich weitermachen?» fragte sie schließlich. «Ja.» «Irgendwann haben meine Eltern es natürlich rausgekriegt. Ich hatte ein regelrechtes Lügennetz aufgebaut, und das ist schließlich Knall auf Fall gerissen. Jolie hat mich verpetzt, dieses Miststück. Sie sagte, es sei nur zu meinem Besten, aber ich glaube, sie hat es getan, weil sie eifersüchtig war. Weil sie auch einen Freund haben wollte, der so schön war wie Dothan. Als Papa herausfand, um wen es sich handelte, wurde er fuchsteufelswild. Meinte, ich dürfe Dothan nie wiedersehen. Niemals. Denn er war ein Cajún, um Gottes willen, eine Bayou-Ratte. Nicht gut genug für seine Tochter. Zwischen den Kreolen und den Cajuns hat es schon immer nicht zum besten gestanden. Die Kreolen waren Aristokraten, Nachfahren französischer und spanischer Adliger. Plantagenbesitzer. Und die armen Schweine von Cajuns, na ja - das waren Habenichtse aus den Sümpfen. Opossumfressender Abschaum, Leute, die aus Kanada weggelaufen sind, als die Briten ihnen zugesetzt haben.» «Plantagenbesitzer?» Ich hob skeptisch eine Augenbraue, eine Angewohnheit, die ich von Molesworth übernommen hatte. «Hatte deine Familie früher wirklich 149
eine Plantage?» «Ja, eine ziemlich große sogar unten am Fluß hinter English Turn. Mit Sklaven und allem Drum und Dran.» «Was ist daraus geworden?» «Während des Bürgerkriegs niedergebrannt, das ist daraus geworden, wie alles andere auch. Wir haben immer noch etwas Land da unten, total verwildert. Aber das ist Mamas Familie. Papas Familie war in Wirklichkeit gar nicht so viel anders als die von Dothan. Sie waren zwar Kreolen, aber arm. Fischer oder so, draußen auf Grand Isle. Papa ist auf die harte Tour nach oben gekommen. Ging im Zweiten Weltkrieg zur Armee und hat dann auf Staatskosten, weil er ja schließlich GI war, die Ingenieurschule besucht. Hat ’ne Menge Geld auf den Ölfeldern gemacht mit irgendeiner Erfindung. Das Haus in der Pyrtania Street mit diesen ganzen alten Bildern und den staubigen alten Büchern, das kommt alles von Mama. Hast du das Haus schon mal gesehen?» Ich schüttelte den Kopf. «Wirst du noch», sagte sie, beugte sich vor und küßte mich sanft auf die Lippen, bevor sie ihre Geschichte fortsetzte. «Nachdem er die Sache mit Dothan rausgefunden hatte, wollte Papa nicht mehr mit mir reden. Kein Wort. Drei Wochen lang bin ich in meinem Zimmer geblieben, bin nicht zur Schule gegangen. Gegessen habe ich so gut wie gar nichts. Ich habe nur geweint und geweint. Es war schrecklich. Mama kam zu mir, um mit mir zu reden, aber ich wollte nicht mit ihr reden, und ich wollte auch mit sonst niemandem reden. Ich habe nur geweint, weil sie mich alle die ganze Zeit beobachtet haben und ich nicht zu Dothan konnte. Schließlich habe ich es geschafft, ihn von einer Telefonzelle aus heimlich 150
anzurufen, und er kam in seinem Lieferwagen runter und hat direkt vorm Haus geparkt und an die Tür geklopft. Ich habe ihn durchs Fenster gesehen, bin aber nicht runtergegangen. Bis nach oben in mein Zimmer konnte ich die Brüllerei von unten hören und splitterndes Glas. Dothan hat Papa erklärt, er wolle mich heiraten. Heute weiß ich, wie lächerlich das war, aber damals schien es mir wie direkt aus Romeo und Julia. Ich war kaum vierzehn Jahre alt, auf meinem ersten Jahr in der St. Jerome’s Academy. Scheiße! Natürlich hat Papa nein gesagt. Und dann sagte er noch, wenn er Dothan jemals wiedersähe, würde er die Polizei verständigen und dafür sorgen, daß er wegen Unzucht mit Minderjährigen hinter Gitter käme. Dann sagte Dothan irgend etwas, und Papa warf eine halbvolle Flasche Old Grand Dad nach ihm, aber Dothan ging in Deckung, und die Flasche krachte in Mamas Porzellanschrank und zerdepperte jede Menge von ihrem kostbaren, alten Geschirr. Ich habe ihn wegfahren sehen, aber da hatte ich schon aufgehört zu weinen, weil ich wußte, was ich tun würde. Eine Woche später beschloß ich, wieder zur Schule zu gehen, und ein paar Tage danach wartete Dothan in seinem Wagen auf mich. Ich hatte meine Schuluniform an. Ich erinnere mich noch gut daran: blauer Blazer mit dem Kreuz und der Krone auf der Brusttasche, weißes Hemd mit kleiner Fliege, blauer Faltenrock, Schnürschuhe. Ich legte einfach meine Bücher an den Straßenrand und stieg, ohne noch einen Gedanken darüber zu verschwenden, in den Wagen. Jolie sah uns wegfahren und rannte schreiend hinter uns her, aber ich habe mich nicht umgeschaut. Wir sind dann runter zum Fluß gefahren, zu den Getreidesilos am Deich, und haben uns an Ort und Stelle im Wagen geliebt. Dann sind wir weiter nach Baton Rouge. Dothan hatte da schon eine Wohnung in Spanish Town gemietet, 151
nicht weit entfernt von der Uni. Das ist auch der Grund, warum er die Bar Spanish Town genannt hat, nach den sechs Monaten, die wir dort waren und gelebt haben, als wären wir verheiratet.» «Sechs Monate? Und wie fanden deine Eltern das?» «Meine armen Eltern waren verzweifelt. Sie haben die Polizei hinzugezogen, sie haben das FBI hinzugezogen, sie haben überhaupt jeden hinzugezogen. Es wurde eine Fahndung nach Dothan ausgelöst. Die Staatspolizei hat überall im Land nach ihm gesucht. Es war sogar in der Zeitung und im Fernsehen. Die Rede war von Kidnapping, aber Dothan hatte keine Angst. Wir würden drei Jahre lang miteinander so leben, sagte er. Dann, wenn ich siebzehn war und dem Gesetz nach ehemündig, würden wir heiraten. Er hat den Lieferwagen verkauft, sich von einem seiner Gaunerfreunde einen gefälschten Führerschein unter anderem Namen besorgt und einen Job in einem Elektronikgeschäft angenommen, wo er Stereoanlagen verkaufte. Dothan in einem Elektronikladen, schon allein der Gedanke ist verrückt! Wir hatten eine ganze Weile unseren Spaß. Dothan spielte Ehemann, und ich spielte Ehefrau, und wir rauchten Pot und bestellten uns jeden Abend Brathähnchen und Pizza, hingen in den Bars rum und schliefen nachher miteinander. Aber ich war zu jung dafür, wirklich. Ich vermißte meine Familie und meine Freunde in der Schule. Also rief ich eines Samstags, als Dothan weg war, um irgendwo etwas Gras zu schnorren, Mama an, und sie weinte und weinte. Sagte, sie liebe und vermisse mich. Sie wollte, daß ich nach Hause kam. Dann war plötzlich Papa am Telefon, und auch er weinte. Das hat mich wirklich erschüttert, Papa weinen zu hören. Es war schrecklich. Ich habe an Ort und Stelle ein Abkommen mit ihnen geschlossen. ›Erlaubt mir, weiter 152
mit Dothan zu gehen‹, sagte ich, ›bringt ihn nicht in Schwierigkeiten, und ich komme nach Hause und gehe wieder zur Schule.‹ Sie waren einverstanden. Am nächsten Tag packte Dothan meine Sachen zusammen und fuhr mich zurück nach New Orleans. Er hatte Angst, aber Papa hielt Wort und regelte die Sache mit der Polizei irgendwie so, daß Dothan keine Schwierigkeiten kriegte. Dothan und ich sind seither immer zusammengewesen, seit zehn Jahren jetzt. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen, und einmal haben wir fast ein Jahr lang nicht miteinander gesprochen. Ich bin mit ein paar Männern ausgegangen. Einige von denen habe ich sogar mit nach Hause gebracht, aber sie waren nichts im Vergleich zu Dothan, und als wir uns wieder versöhnten, wär's einfach toll. Und seither ist es auch toll gewesen, bis vor kurzem. Bis er von Mamou hierherunterkam und seine Bar eröffnete. Und das ist so ziemlich die ganze Geschichte. Aus, Ende.» Anschließend schwieg Antoinette ein paar Minuten lang, rauchte ihre Zigarette und stieß den Qualm durch die Nase aus. Der Regen setzte wieder ein, und der Wind klapperte an den Fensterläden. Sie stand auf und schloß das Fenster, zog ihren Bademantel an und drehte sich zu mir um, um mich durch schmal gewordene Augen anzusehen. «Komm, essen wir endlich das Étouffée», sagte sie. Ich stand auf und zog ihren zweiten Frottee-Bademantel an, und wir gingen ins Wohnzimmer. Das Étouffée war ausgetrocknet, nachdem es so lange auf dem Herd gestanden hatte, und der Reis klebte, aber der Salat war gut und der Wein wunderbar. Es war ein schweigsames Essen. Seite zwei der Jazzplatte war nun an der Reihe, sich endlos zu wiederholen. Schließlich blickte Antoinette mir direkt in die Augen. 153
«Okay», sagte sie. «Was sonst noch? Da ist doch noch was?» Ich schaute hinunter auf den Teller. «Wie ist er?» fragte ich. «Du bist eifersüchtig?» «Nein. Ein bißchen.» Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und seufzte. «Er ist irre. Er tut einfach, was ihm in den Sinn kommt und scheißt auf den Rest der Welt. Du mußt dir klarmachen, daß ich mit ihm aufgewachsen bin. Ich habe alles mit ihm zusammen getan, vor Dothan war ich ein kleines Mädchen. Er nimmt eine Menge Drogen, in letzter Zeit mehr, also habe ich das auch gemacht, denn es gab eine Zeit, da haben wir alles zusammen getan. Ich finde Drogen nicht so schlimm, solange das Zeug der Entspannung dient und keine Macht über dein Leben hat.» «Ist er gefährlich? Molesworth meint, er sei gefährlich.» «Ich nehme an, er kann ziemlich gemein sein. Zu mir war er nie gemein. Er hat mich nie geschlagen. Weiß der Himmel, ich habe ihn hundert Male geschlagen. Habe ihm einmal ein blaues Auge verpaßt, nachdem mir zu Ohren gekommen war, daß er mit irgendeinem Weibsbild in Shreveport war. Ich liebe ihn. Ich werde ihn immer lieben. Es ist nur so, daß…» Ihre Stimme verlor sich. «Was?» «Er ist derselbe geblieben. Er wird immer derselbe sein. Ich glaube nicht, daß er jemals erwachsen wird. Er wird immer derselbe Hitzkopf bleiben, derselbe gute, alte Junge. Ich war am Anfang jünger als er, und er wußte alles. Dann habe ich ihn eingeholt, und ein oder zwei Jahre hatten wir jede Menge Spaß. Aber jetzt bin ich älter als er. Ich bin aufs College gegangen - na ja, mehr oder weniger , ich müßte noch ein Jahr oder so auf der Dominican hinter 154
mich bringen. Ich weiß Dinge, die er nicht weiß, und ich sehe mittlerweile, daß viele Dinge, die er tut, schlicht und einfach dumm sind. Wir driften auseinander. Er wird sich nie ändern. Ich glaube, Veränderung ist eine gute Sache. Und ich würde gern eine Weile mit jemand anders gehen.» Sie richtete ihre hellen Augen auf mich, und ich sah, daß es ihr ernst war mit dem, was sie gesagt hatte, und ich spürte einen Stich in meinem Herzen für diesen Mann, der sie liebte und der sie von Anfang an geliebt hatte. Männer können so sein, beständig und blind, während ihre Frauen sich in den dunklen Stunden, in denen sie nicht hinsehen, verändern, gerade dann, wenn sie glauben, es könne ihnen nichts passieren. Die Frauen streifen ihre alte Haut ab, wenden sich ab und werden vollkommen anders und das innerhalb einer Woche, eines Tages, einer Stunde. Antoinette setzte ihr Weinglas ab, beugte sich über den Tisch und griff nach meiner Hand. «Nachdem ich dir jetzt das alles erzählt habe», sagte sie, «möchte ich, daß du es vergißt. Ich möchte, daß du mit mir schläfst und während der nächsten drei Monate weiter mit mir schläfst. Und wenn Dothan zurückkommt, möchte ich so weit wie nur möglich von ihm weg sein. Einfach nicht mehr da. Okay?» Ich wollte etwas sagen, aber Antoinette legte ihre Finger auf meine Lippen und griff nach meiner Hand, und wir gingen ins Schlafzimmer und stiegen wieder in das hohe Himmelbett, wo wir für die nächsten drei Tage blieben. Wo wir uns liebten und in dem sanften Licht leise miteinander redeten, während der Regen über die Stadt zog, der braune Fluß schäumend über die Deiche brodelte, die Sandsäcke im unteren Delta platzten und das Wasser sich unter dem wildgelben Sommerhimmel über die schwarze, reiche Erde der Baumwollfelder ergoß. 155
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it einem Schlag trat ich aus dem verstohlenen Leben von Motelzimmern und Touristenbars im French Quarter in eine Welt, von der ich vorher kaum gewußt hatte, daß sie existierte. Die Art, wie Antoinette mit ihrer Kreditkarte umging, und ein oder zwei Kommentare von Molesworth hatten in mir den Eindruck erweckt, daß ihre Eltern ziemlich gut betucht sein mußten, aber sie waren weit mehr als das: Sie waren stinkreich. Laut Louisiana Magazine war Antoinettes Vater, Charles Gaston Rivaudais, ein genialer Ingenieur und der Hauptaktionär der Louisiana Gulf Company und einer der zwölf reichsten Männer im Land. Ihre Mutter, Hélène d’Aurevilley Rivaudais, war die letzte noch lebende Nachfahrin einer prominenten kreolischen Familie von Plantagenbesitzern, die hier ansässig waren, seit der Sieur de Bienville seine Landmesser damit beauftragt hatte, an einer strategisch günstig gelegenen Biegung des Flusses die Straßen für eine neue Stadt abzustecken. Ihr voller Name lautete Antoinette Marie Jeanne d’Aurevilley Rivaudais, ein wunderbarer Zungenbrecher. Sie hatte vier ältere Schwestern - Elsie, Manon, Claudine und Jolie. Sie waren alle attraktiv, wenn auch keine von ihnen so schön war wie Antoinette. Elsie, die älteste und verantwortungsbewußteste, hatte einen Ingenieur von der University of Texas geheiratet, der in der Firma ihres Vaters in leitender Stellung arbeitete. Sie hatten zwei Töchter, zwei Rangen von vier und fünf Jahren mit blauen Augen und strohblondem Haar. Manon, die Künstlerin der Familie, hatte während ihrer Zeit auf der Juilliard University in New York einen irischen Jazzmusiker 156
kennengelernt und ihn vor einem Jahr in einer schnellen Zeremonie im Rathaus von Manhattan geheiratet. Danach waren sie, ohne einen bestimmten Grund dafür zu haben, nach New Orleans gezogen und lebten nun in einem nach kreolischer Art gebauten Haus mit Innenhof aus dem 19. Jahrhundert, einem Hochzeitsgeschenk von Papa. Der irische Ehemann beschäftigte sich mit professionellem Whiskytrinken, rauchte daneben türkische Zigaretten und gab sich gelegentlich zu einem Auftritt in irgendwelchen Clubs in der Stadt her. Manons Spezialität war die Harfe, dieses verdammenswert bourgeoise Instrument. Zweimal im Jahr gab sie mit einem Kammermusikquartett im Orchesterpavillon im Audubon-Park ein Konzert und lebte ohne einen Hauch von Gewissensbissen von ihrem Treuhandvermögen. Claudine und Jolie waren nur ein Jahr auseinander, drei beziehungsweise vier Jahre älter als Antoinette. Die beiden waren die Ehrgeizigen in der Familie. Sie waren zusammen auf die Louisiana State University gegangen, hatten beide einen Abschluß in Politikwissenschaft gemacht und lebten nun in Washington in einem hübsch eingerichteten Stadthaus unweit des häßlichen, weißen Hochzeitskuchens mit Namen Capitol. Claudine arbeitete in einer untergeordneten Stellung für den republikanischen Kongreßabgeordneten Robert Essex, der die besseren Bezirke von New Orleans repräsentierte und zufällig ein wichtiger Aktionär der Louisiana Gulf Company war; Jolie arbeitete als Lobbyistin für die National Rifle Association, eine bedeutende Interessenvertretung der Waffenbesitzer des Landes. Beide Mädchen gehörten zu dem Kontingent an attraktiven, trinkfesten LouisianaYuppies, die unserer Hauptstadt etwas Farbe verleihen. Ich bewunderte die Rivaudais. Ich bewunderte ihren Stil und ihre Selbstsicherheit und die Anmut, mit der sie 157
durchs Leben gingen, jene Anmut, die von dem Wissen herrührt, daß man an einen bestimmten Ort gehört. Ich zeigte die Ehrerbietigkeit des ewigen Wanderers für diese Dinge, die sie für selbstverständlich hielten: Familienporträts und Grüften auf alten Friedhöfen überall in der Stadt, die voll waren mit ihren vertrauten Toten und ihren Geschichten. Aber die Rivaudais schienen mich nicht besonders zu mögen, denn ich paßte nicht recht ins Bild. Ich fühle mich unwohl in Gesellschaft, bin sarkastisch und zynisch und besitze, wie Antoinette einmal meinte, ein typisch nördliches Temperament. Ein Temperament, geboren aus grauen Nachmittagen und Graupelschauern und Melancholie, obwohl ich eigentlich aus Washington, D. C. komme, wo mein Vater beim Amt für Indianische Angelegenheiten arbeitete. Aber das schlimmste für Leute wie die Rivaudais ist die Tatsache, daß ich ein Intellektueller bin. Die Rivaudais hielten Ideen für überflüssig, ja sogar für gefährlich. Sie waren altmodische, kreolische Pragmatiker, zufrieden mit gutem Essen, starken Drinks, hübschen Kleidern und schönen Dingen, eben den kleinen Annehmlichkeiten, die einem das Leben versüßen.
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m Januar, ein eisiger Wind wehte von Norden über den Lake Pontchartrain, luden ihre Eltern Antoinette und mich zum Abendessen in eines der Privatzimmer im Kommandantenpalast ein. Sie wollten mich etwas besser kennenlernen und die unvorteilhafte Meinung bestätigen, die sie sich bei unserer ersten Begegnung gebildet hatten. Trotz ihrer Erleichterung darüber, daß Antoinette Dothan aufgegeben hatte, waren sie doch sehr argwöhnisch in bezug auf meine Motive. Wie sollte ich ihnen klarmachen, daß ich keinen Pfifferling auf ihr Geld gab, daß es nur ihre Tochter war, die ich wollte? Ihre Tochter: ungeschminkt, nackt und schlafend in meinen Armen um drei Uhr morgens. Es war eine teure, exquisite Mahlzeit voller verlegener Gesprächspausen und angestrengter Konversation. Antoinette, die steif neben mir saß, sah in einem hautengen Kleid aus Knittersamt einfach prachtvoll aus, obwohl sie kaum einmal die Augen von ihrem Teller hob. Schließlich erhob sich Mama, eine große, gutaussehende Frau um die Sechzig, deren Haar immer noch genauso schwarz war wie das ihrer Tochter, und verschwand Richtung Damentoilette. Antoinette warf mir ein schwaches Lächeln zu und ging sittsam hinter ihr her, und ich fand mich allein am Tisch mit dem großen Mann höchstpersönlich. Er machte einen selbstsicheren, robusten Eindruck, ein Mann im Vollbesitz einer verblüffenden Masse weißen Haares und eines Schnurrbarts, der jedem Husaren Ehre eingelegt hätte. Aber in seinen Augen lag eine gewisse Müdigkeit, und seine Unterlippe neigte dazu, enttäuscht herunterzuhängen. Er sah aus wie ein 159
pensionierter Konföderiertengeneral nach dem Krieg, wie General P. G. T. Beauregard im Contreras House vor den Aufständen der Weißen Liga, wie General Lee bei Lexington im Jahre 1870. Ein Mann, der lange genug gelebt hatte, um seine geheimen Überzeugungen widerlegt und seine größten Hoffnungen durch unglückliche Umstände zerstört zu sehen. Er trank seinen Cognac aus und sah mich unter seinen buschigen Augenbrauen prüfend an, während ich nervös herumzappelte. Im Hintergrund hörte man das leise Klirren von Gläsern und das gedämpfte Gemurmel, das allen teuren Restaurants auf der Welt gemein ist. Unser Kellner, der sich als Remi vorgestellt hatte, trat in der Uniform des Hauses zu uns - schwarze Hose, fleckenlose rote Schürze, gestärktes Smokinghemd mit Fliege und an den Füßen diese lächerlichen, glänzenden, schwarzen Smokingslippers. Er brachte uns auf einem Ebenholztablett unsere Rechnung. Papa scheuchte ihn weg, ohne auch nur einen einzigen Blick darauf zu werfen. «Noch nicht, Remi», sagte er. Remi zog sich ohne einen Muckser zurück. Ich bin immer wieder beeindruckt von Männern, die den Respekt von Kellnern und Barkeepern besitzen, von Männern, die wissen, daß Geld prompte, effiziente und unterwürfige Bedienung bedeutet. Dann nahm Papa eine in einer Aluminiumröhre versiegelte Zigarre aus der Innentasche seines Jacketts, schraubte die Kappe ab und ließ einen dunklen, duftenden Klotz herausgleiten. Er schnupperte daran, lächelte, klickte das Ende mit einer kunstvollen Vorrichtung an seinem Schlüsselring vorsichtig ab und zündete sie an der Kerze an. Binnen Sekunden war die Luft unseres kleinen Speisezimmers schwer von Zigarrenrauch. 160
«Jetzt verstehen Sie, warum man uns hier hineinbefördert hat», sagte er. «Die Leute wissen, daß ich nach dem Essen gern eine gute Zigarre rauche, und Zigarrenqualm ist heutzutage äußerst unbeliebt.» Das war natürlich Heuchelei. Die Privatzimmer im Kommandantenpalast sind schon wochenlang im voraus für ganz besondere Gäste reserviert, und das für einen beträchtlichen Zuschlag auf die Preise im großen Speisesaal. Während der nächsten Minuten schien Papa vollkommen beschäftigt mit seiner Zigarre. Er nahm einen um den anderen Zug, blies Rauchringe zur Decke und schien mich vollkommen vergessen zu haben. Ich saß ganz still da, die Hände im Schoß gefaltet, als erwarte ich meinen Urteilsspruch. Schließlich, als ich die Hand nach dem Rest des Weins ausstreckte, tat er mit übertriebenem Gehabe so, als erinnere er sich plötzlich wieder an meine Gegenwart. «Verzeihen Sie mir meine schlechten Manieren», sagte er. «Ich habe noch eine, wenn Sie auch rauchen möchten.» Er zog eine zweite Aluminiumröhre aus der Tasche und schob sie über den Tisch. «Sie kommen übrigens eigentlich aus Kuba. Ich habe sie über Panama mit jamaikanischen Etiketten importieren lassen. Hier.» Ich schüttelte den Kopf. Er nickte, als hätte ich genau das bestätigt, was er sich ohnehin schon gedacht hatte, und gab sich dann von neuem dem Genuß seiner Zigarre hin. In seinem hahnentrittgemusterten Sportjackett, dem weißen Hemd mit dem offenen Kragen und der Zigarre im Mund war er der Inbegriff des Patriarchen, der sich eine Mußestunde gönnt. Dann legte er die Zigarre auf den gläsernen Aschenbecher und beugte sich so plötzlich vor, daß ich zusammenzuckte. 161
«Ich möchte Sie etwas fragen, Ned», sagte er mit einer plötzlichen Schärfe in der Stimme. «Nur zu, Mr. Rivaudais», sagte ich. «Was wollen Sie von uns?» Es war eine Anschuldigung. Ich spürte, wie mir im Nacken der Schweiß ausbrach. Eine Sekunde lang sah ich vor mir das Bild, wie ich von Bayou-Gangstern aus dem Haus gezerrt und mit gebrochenen Gliedern am Straßenrand liegengelassen wurde. Aber ich kann mir genausogut die Ärmel aufkrempeln wie jeder andere auch. Ich blickte hinunter und trommelte, um den dramatischen Effekt zu erhöhen, mit den Fingerspitzen auf die Tischdecke. Dann sah ich auf, um ihm eine wohlverdiente Antwort zu geben. «Ich erzähle Ihnen, was ich von Ihnen will, Mr. Rivaudais», sagte ich. «Einen Scheißdreck will ich von Ihnen.» Er lehnte sich ein wenig überrascht zurück. Ich fragte mich, wie viele glücklose Verehrer seiner Tochter das hier schon erlebt hatten. Ich machte ihm auch eigentlich keinen Vorwurf. Die Welt ist voll von Taugenichtsen, und er hatte fünf attraktive Töchter und keine Söhne. Der arme Hund. «Sie sind also Student», sagte er schließlich. «Stimmt. Doktorand.» «Und studieren irgendeine Art Geschichte.» «Französische Geschichte, ja.» «Und was versprechen Sie sich davon?» «Ein gebildeter Mensch zu werden», sagte ich. «Und dann?» «Dann bin ich, frei nach Samuel Johnson, die passende Gesellschaft für mich.» 162
«Mhm.» Er stieß seine Zigarre ungefähr in meine Richtung. «Und natürlich ist Ihnen nicht in den Sinn gekommen, daß ich einer der wohlhabendsten Männer in diesem Land bin und daß eine Verbindung mit meiner Tochter Ihnen die Möglichkeit gäbe, sich ihr Leben lang selbst Gesellschaft zu leisten, ohne viel anderes tun zu müssen.» Das war ein bißchen stark. Kein Wunder, daß Antoinette mit einem Hallodri aus dem Bayou davongelaufen war. Das sagte ich ihm auch. «Sie wissen davon», erwiderte er mit leicht verunsicherter Miene. «Ja», sagte ich, und meine Stimme wurde etwas lauter. «Und da wäre noch etwas, was Sie wissen sollten, Sir. Diese Sache ist mir egal, und ihr verdammtes Geld ist mir auch egal. Um genau zu sein, in meinen Augen ist das Geld eher ein Punkt, der gegen Ihre Tochter spricht, den ich aber übersehen will, weil ich verrückt nach ihr bin. Und zu Ihrer Information, das alles hier ist überhaupt nicht mein Stil.» Ich machte eine Handbewegung, die das Restaurant einschloß, den Kellner ebenso wie die juwelengeschmückten Gäste im großen Speisesaal. «Ich habe keinen Protest gehört, als ich Sie hierher brachte, mein Sohn», sagte er gelassen. «Ich würde eher sagen, ganz im Gegenteil. Sie schienen ausgesprochen angetan zu sein von dem Gedanken an ein kostenloses Essen im Kommandantenpalast.» «Es war nicht meine Absicht, Ihre Gastfreundschaft zu mißbrauchen», sagte ich. Dann stand ich auf, wobei ich um ein Haar den Stuhl umgeworfen hätte, und klingelte nach dem Kellner. Zwei Sekunden später trat Remi auf slipperbeschuhten Füßen ein; wieder machte er Anstalten, Papa die Rechnung zu reichen. 163
«Nein», sagte ich, «ich übernehme das.» Der Kellner sah Papa an, der sich die Zigarre zwischen die Zähne geklemmt hatte und mit den Schultern zuckte. «Sie haben gehört, was der Junge gesagt hat», meinte er nur. Der Kellner nickte entschuldigend, reichte mir die Rechnung und verließ den Raum. Die Gesamtsumme belief sich auf 575 Dollar ohne Mehrwertsteuer und Trinkgeld. Eine der Weinflaschen, die Papa bestellt hatte, schlug mit 125 Dollar zu Buche. Ich wurde weiß. Ließ mich wieder auf den Stuhl sinken und tastete mit der benebelten Fassungslosigkeit eines Mannes, dem man gerade eröffnet hat, daß er nur noch sechs Monate zu leben hat, nach meiner Kreditkarte. Plötzlich begann Papa zu lachen und lachte so lange, bis ihm der Zigarrenqualm aus der Nase kam. «Ich finde das überhaupt nicht lustig, Sir», sagte ich steif. Er wischte sich mit seiner Serviette die Augen ab. «Ihr Gesicht», stieß er hervor. «Als Sie die Rechnung sahen! Unbezahlbar.» Dann griff er danach. «Nein», sagte ich schwach, «ich regle das.» Aber er machte eine für mich unsichtbare Geste, und einen Herzschlag später stand der Kellner da, die Rechnung wurde gegengezeichnet, und die Sache war erledigt. «Machen Sie sich keine Gedanken deswegen. Ich habe ein Konto hier», sagte er. «Und das hier betrachte ich als eine einwandfreie Geschäftsausgabe. Der Versuch, meine Tochter unter die Haube zu bringen. Teufel auch, ich war selber mal Student, wenn Sie’s glauben können. Habe jeden Penny dreimal rumgedreht. Ich weiß, wie das ist.» 164
Dann beugte er sich vor und legte mir versöhnlich eine Hand auf den Arm. «Hören Sie mir zu, nehmen Sie einen Rat von mir an. Bitte.» «Okay.» Ich sah ihm in die Augen. Sie waren blau und wässerig, eine traurigere Ausgabe von Antoinettes Augen. «Was Sie brauchen, Ned, ist Sinn für Humor. Den werden Sie nämlich bitter nötig haben, wenn Sie es mit meiner Tochter aufnehmen wollen. Einen hochentwickelten Sinn für Humor.» Ich dachte, daß er wahrscheinlich recht hatte, also schüttelten wir uns die Hände. Ein paar Minuten später kamen Antoinette und ihre Mutter zurück, Hand in Hand, mit leuchtenden Augen und nach Orangen riechendem Atem. Sie waren an der Bar gewesen und hatten Cointreau getrunken. «Na, habt ihr zwei Männer euch gut unterhalten?» fragte Mrs. Rivaudais, beugte sich über ihren Mann und küßte ihn auf die Stirn. Antoinette kam um den Tisch, setzte sich neben mich und legte mir eine Hand aufs Knie. «Ja», sagte ich. «Wir haben uns gut unterhalten. Mr. Rivaudais hat versucht, mich zu überreden, eine seiner Zigarren zu rauchen, aber ich habe ihm einen Korb gegeben.» «Sehr vernünftig», meinte Mrs. Rivaudais. «Himmel, was für einen Gestank diese Dinger machen.» Mit diesen Worten schlug sie ihrem Mann übermütig auf die Schulter, und alle lachten. Dann kam Remi mit einem Schlummertrunk auf Kosten des Hauses herein, und alle redeten gleichzeitig, und die Stimmung war deutlich entspannter. Aber als ich schließlich wieder einen Blick auf Papa warf, sah ich eine müde Traurigkeit in seinen Augen, die mich die ganze Zeit über beobachteten.
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ine Woche später nahm ich ein Studentendarlehen auf, um von einem Arzt in Gentilly, der seinen Hausstand auflöste, für achthundert Dollar einen zerbeulten 1900er MG zu kaufen. Am Tag darauf fuhren Antoinette und ich die Golfküste entlang, runter nach Biloxi. Der Wind pfiff durch die Löcher in dem rissigen Cabrioverdeck, der Auspuff stotterte und knatterte, aber in den Kurven war der alte Sportwagen Spitze, und das laute Dröhnen des Motors bei Vollgas war ein Klang von seltsamer Harmonie, wie man ihn bei neueren Modellen nicht mehr findet. Antoinette hatte sich auf den ersten Blick in den alten Wagen verliebt. Sie streckte sich glücklich darin aus, legte die Füße aufs Armaturenbrett wie ein Teenager und ließ ihre Hand auf meinem Oberschenkel liegen, während ich mich mit der grimmigen Entschlossenheit eines Stirling Moss durch die Gänge schaltete. Sie trug eine Sonnenbrille, hatte sich einen Seidenschal um den Kopf gewickelt und schrie mir durch das Röhren des Motors zu, ich solle ihr erzählen, wie es mir gelungen war, die erste Runde zu gewinnen. «Papa sagt, du hättest ihm die Stirn geboten», meinte sie. «Das hat er gern, wenn Leute ihm die Stirn bieten. Er sagt, du hättest Rückgrat. Er mag Rückgrat.» Dann legte sie ihre Hand auf meine, die den Schaltknüppel umfaßt hielt, und küßte mich aufs Ohr, und in dieser Nacht liebten wir uns in einem der heruntergekommenen alten Zimmer im Biloxi-StantonHotel mit ganz besonderer Intensität. Das war der erste von mehreren Ausflügen, die wir während der drei Monate zwischen Thanksgiving und 166
Mardi Gras unternahmen. Obwohl Dothan auf seiner unsäglichen Reise nach Süden war, lag sein Schatten immer noch über der Stadt. Um ihm zu entrinnen, fuhren wir nach Natchez und Opelousas und Galveston und machten daneben noch kleinere Spritztouren. Bei solchen Gelegenheiten fuhren wir hundert Meilen über die Küstenstraße, machten auf Ashland, Destrehan und Oak Alley halt, wo wir Arm in Arm und begleitet von den Touristen die von immergrünen Eichen gesäumte Auffahrt zum großen Haus hinaufschlenderten, dessen achtundzwanzig Baumstämme im Winterlicht glitzerten. Wir fuhren nach Oxford, um Faulkners Haus zu sehen, und hinauf nach Jackson zu einer Weihnachtsparty, die eine von Antoinettes alten Klassenkameradinnen von St. Jerome’s gab. Dann zog es uns nach Gulfport und Mobile. Weihnachten verbrachten wir bei Antoinettes Familie; alle fünf Mädchen hatten sich bei den Rivaudais auf St. Eustatius, Leeward Islands, versammelt, zusammen mit ihren Ehemännern und ihrer Brut sowie einigen Tanten und Onkeln. Ich schickte Molesworth eine sarkastische Postkarte von dieser idyllischen Tropeninsel, auf der eine barbusige Schöne knietief im türkisfarbenen Wasser zu sehen war, und darunter die Zeile: «Ich wünschte, du wärest hier!» Auf die Rückseite schrieb ich: «Eigentlich nicht», und beließ es dabei. New Orleans im Winter ist sehr mild, aber die Feuchtigkeit ist von einer Intensität, die einem bis auf die Knochen gehen kann. Der Heizkessel in unserem rosafarbenen Haus gab Mitte November den Geist auf, und im Garten herrschte Frost. Aber in diesem Jahr spürte ich die Kälte nicht einmal. Es war unmöglich zu frieren, wenn Antoinette in der Nähe war, ihre warme Stimme in meinem Ohr oder auch nur am anderen Ende der Telefonleitung. Ich tat mein Möglichstes, Dothan zu 167
vergessen. Antoinette bekam ein paar Postkarten aus Caracas, Bogotá und Lima. Die Postkarten durfte ich nicht lesen, und irgendwann einmal gab es mitten in der Nacht ein langes Telefongespräch voller Schweigen. Es war mir egal. Sie hatte mich gelehrt, im Augenblick, in der Gegenwart zu leben. Zum ersten Mal in meinem Leben verschwendete ich keinen Gedanken an Zukunft oder Vergangenheit.
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enn ich jetzt an die Mardi-Gras-Party im Haus ihrer Eltern zurückdenke, erfüllt mich ein bittersüßes Gefühl. Es war der Höhepunkt dieses kurzen, strahlenden Lebens. Ich wanderte durch die gutgekleidete Menge, geblendet und verwirrt, und konnte mein Glück nicht fassen, erwartete, daß jeden Augenblick die Decke auf mich herunterkrachen würde. Das Haus der Rivaudais war ein überwältigendes Ding, erbaut im Jahre 1857 von einem wohlhabenden englischen Baumwollexporteur namens Albert Douglas. Sklavenarbeit, fünfzehn verschiedene Sorten einheimischer Harthölzer und lavendelfarbener Marmor aus Carrara in Italien hatten den Bau ermöglicht. Zwei Balkone zogen sich an der Vorder- und Rückseite des Hauses entlang und beschirmten gewaltige, hohe Räume voller Antiquitäten. Historische Häuser haben oft die steife und leicht gespenstische Atmosphäre eines Wachsfigurenkabinetts. Nicht so das Rivaudais-Haus, das ebenso elegant wie komfortabel war. Antoinette, die dasselbe tiefausgeschnittene grüne Samtkleid trug, das sie in jener Nacht im Napoleon House angehabt hatte, führte mich vor Partybeginn herum. In meinem zerknitterten Second-Hand-Shop-Smoking aus den fünfziger Jahren fühlte ich mich wie ein Kellner, dem man zeigt, an welchen Tischen er zu bedienen haben würde. Aber ich nickte und lächelte und riß einen Witz nach dem anderen und versuchte, nicht zu zeigen, wie gräßlich deplaziert ich mich fühlte. Wir steckten unsere Köpfe in den Salon im Erdgeschoß, wo sich gerade ein Jazzquartett aufwärmte, und schauten 169
dann noch kurz in die geräumige Küche, in der sich die Lebensmittellieferanten gegenseitig auf die Füße traten. Dann gingen wir über die breite Treppe aus poliertem Marmor nach oben, vorbei an altersnachgedunkelten Porträts von Vorfahren - spanische Edelmänner und französische Damen, die schon zwei- oder dreihundert Jahre tot waren. Wir waren gerade in der Bibliothek in der ersten Etage angekommen, als sich das Parterre mit Gästen zu füllen begann. Durch die hohen Fenster konnte ich beobachten, wie teure Wagen in die kreisförmige Einfahrt fuhren und wie Diener in roten Jacketts sie dann zu einem bewachten Parkplatz ein Stück die Pyrtania Street hinunterbrachten. Über dem Kamin hing das Porträt eines besonders furchteinflößenden Kerls. «Auch ein Vorfahre von Mama», erwiderte Antoinette auf meine Frage. «Das hier sind alles Mamas Vorfahren. Vaters Leute waren zu arm oder zu anständig, um sich porträtieren zu lassen. Wahrscheinlich war dieser Bursche da ein echter Mistkerl. Sieht spanisch aus, findest du nicht auch? Wie der große Inquisitor oder so. Diese Augen! Haben mich immer zu Tode erschreckt, als ich noch ein kleines Mädchen war. Früher hatte ich Angst, allein hier hereinzugehen.» Obwohl ein Feuer im Kamin brannte, schauderte sie, und ich legte meinen Arm um ihre nackten Schultern. Von unten ertönte nun das Geklimper des Jazzquartetts. Ich war noch nie zuvor in einem so gut ausgestatteten Zimmer mit einer so schönen Frau gewesen. Die Welt schien ein wunderbarer Ort zu sein. Ich drehte mich zu Antoinette um und küßte sie, glücklich und blind. Wir schmusten noch ein paar Minuten auf der Couch, bis sich die Tür öffnete und eine atemlose Jolie ins Zimmer stürzte. «He, ihr zwei», sagte sie, «der Blödsinn da kann warten. Nettie, Papa will dich unten haben, bevor das Haus so voll 170
ist, daß man keinen Schritt mehr tun kann.» «Weshalb?» fragte Antoinette ärgerlich, während sie sich von mir losmachte. «Du weiß schon, Bilder. Hoch mit dir!» Sie schnipste mit den Fingern, und Antoinette stand seufzend auf und strich sich das Kleid glatt. «Ich bin nicht in Stimmung für diesen verdammten Scheiß», sagte sie zu Jolie. Untereinander benutzten die Mädchen die fröhlich-obszöne Sprache von Lastwagenfahrern. «Was für Bilder?» fragte ich, während wir die Treppe hinuntergingen. «Typische Papa-Geschichte», flüsterte Antoinette. «Er hat die Zeitungsleute bestellt. Southern Living. Sie machen eine Doppelseite über die Party und über das Haus.» «Über uns», sagte Jolie mit einem maliziösen Lächeln. «Es soll ein Artikel über uns werden.» Eine halbe Stunde später lehnte ich, die Hände in den Taschen, an der Wand neben der Tür und sah zu, wie die Familie auf der Treppe posierte. Zuerst die Eltern: Papa mit rötlichem Gesicht und leicht angetrunken, offensichtlich nicht besonders glücklich in seinem tadellos sitzenden Smoking; Mama in einem blauen Tüllgewand von verblüffenden Proportionen, mit Saphiren am Hals beide ein Sinnbild irdischer Zufriedenheit. Dann die Mädchen, nach Größe sortiert, angefangen von Jolie, der kleinsten, bis zu Antoinette, der größten; alle in Cocktailkleidern mit nackten Schultern traten sie dem Blitzen und Surren der Kameras mit funkelnden, gesunden Zähnen entgegen und ließen sich von den Gästen applaudieren, die sich im Foyer versammelt hatten, Louisianas Crème de la Crème, Bewohner des Garden District, Vorsitzende der angesehensten Karnevalsvereine. 171
Es war schwer, diese Antoinette, elegant und lächelnd für die Seiten von Southern Living, mit jener anderen in Einklang zu bringen; mit dem LSD-süchtigen Barmädchen, das für die Trunkenbolde im Spanish Town tanzt, oder mit der ermatteten Geliebten, die selbst in meinen Armen noch ihre Vergangenheit trug wie eine zweite Haut. Plötzlich fühlte ich mich ein wenig benommen. Das Spektakel war einfach zuviel für mich. Ich schlenderte während der nächsten ein oder zwei Stunden zwischen den Partygästen umher, einen Drink in der Hand, und warf ab und zu einen Blick auf Antoinette, die Konversation machte mit gutgekleideten Leuten, die ich nicht kannte. Antoinette, deren glänzendes Haar das Licht widerspiegelte, während der Klang ihrer von Lachen erfüllten Stimme eine Oktave über dem Partygeplauder zu mir herüberwehte. Schließlich fand ich mich, ein wenig betrunken schon, auf der Terrasse hinterm Haus wieder. Die Lieferanten hatten hier draußen einen Tisch mit Shrimps und Scampis aufgestellt. Es war eine Fehlkalkulation gewesen, kaum besucht wegen des schlechten Wetters. Der zuständige Koch döste auf einem Regiestuhl unter den Dachsparren, eine eher komische Figur mit seiner hohen Mütze. Das Gas aus dem Brenner zischte leicht, die Flamme ein fahles Gelb. Die teflonbeschichteten Bratpfannen, groß und zweckmäßig, lagen auf dem Hackklotz neben Tupperwarebehältern voller sorgfältig vorbereiteter, durchscheinender Shrimps und Olivenölflaschen. Der Himmel über dem verdüsterten Garten war von grüner Glasigkeit. Ein kalter Wind griff plötzlich nach dem Regen und wehte ihn zu uns herüber. Der Koch, der mit offenem Mund vor sich hin schnarchte, schauderte im Schlaf. Ein leises Rauschen in den immergrünen Eichen wisperte mir eine Warnung zu, die ich nicht hören konnte. 172
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as Ende kam schneller als erwartet. Fünf Tage nach Mardi Gras, am ersten Samstag der Fastenzeit, die Stadt war saubergeschrubbt und bußfertig nach ihrer Orgie, ging ich auf dem Rückweg von der Bibliothek bei Antoinette vorbei. Ein Chevy Apache Jahrgang 1958 stand im Halteverbot am Straßenrand, direkt vor Antoinettes Haus. Seine Reifen, breit und mit Geländeprofil, waren genau das, was man für schlammige Nebenstraßen im Bayou-Land braucht. Ich legte eine Hand auf die große, gewölbte Motorhaube und spürte die Wärme dort; der Motor tickte noch. Die Fenster von Antoinettes Wohnung waren offen, die Läden davor geschlossen. Aus der Wohnung selbst hörte man das vage Auf- und Abschwellen von Stimmen. Einen Augenblick lang zögerte ich. Am besten, ich komme später noch einmal wieder, dachte ich, wenn Antoinette die Dinge geregelt hat. Aber dann schämte ich mich meiner Feigheit. Ich holte tief Luft und ging mit den schweren, resignierten Schritten eines Verdammten, der das Schafott erklimmt, die Treppe hinauf. Ich öffnete mit dem Schlüssel, den Antoinette mir gegeben hatte, die Tür, trat ein und legte meine Bücher auf die Couch. Sie waren im Schlafzimmer. Ich blieb kurz stehen und lauschte. Als ich genug gehört hatte, rief ich nach ihr. Schweigen. Schließlich Dothan: «Wer ist das, verdammt noch mal?» «O Gott!» Das war Antoinette. Dann kam sie in ihrem roten Morgenrock ins Wohnzimmer, und ich sah, daß sie darunter nackt war. 173
«Ned», sagte sie. Ihr Gesicht war geschwollen vom Weinen, und sie war unnatürlich blaß. Sie schien überrascht, obwohl ich recht häufig nachmittags auf meinem Weg nach Hause bei ihr vorbeikam. «Das ist kein günstiger Zeitpunkt.» «Was geht da drin vor?» fragte ich ruhig. «Nichts. Okay?» Mit diesen Worten begann sie mich zur Tür zu drängen. Aber ich blickte hinunter auf ihren Morgenrock und ihre nackten Füße und sagte: «Hast du mit ihm geschlafen?» Aus dem Schlafzimmer kam das hastige, metallische Klicken einer Gürtelschnalle und der Klang von Stiefeln auf Hartholz. Eine Sekunde später stand Dothan in der Tür, halbnackt, sein Hemd in der Hand. Er war so braun und muskulös wie ein Indianer. Eine weißliche Narbe lief diagonal über seine Brust, und eine zweite Tätowierung, der griechische Buchstabe Omega, leuchtete rot auf seiner Schulter. Seine Augen waren schwarz. Mit einem langen, sehnigen Arm zeigte er auf mich. «Wer ist der Scheißer?» blaffte er. «Sieh zu, daß dieser Scheißkerl sofort die Fliege macht.» «Nur ein Freund.» Antoinette drehte sich zu ihm um, und ihre Stimme war von bewundernswerter Gelassenheit. «Er ist vorbeigekommen, um mir ein paar Notizen zu bringen. Ich habe dir doch erzählt, daß ich vielleicht wieder anfange zu studieren… Danke, Ned», sagte sie zu mir und versuchte abermals, mich zur Tür zu drängen, aber ich wich ihr aus. «Dothan», sagte ich, «mein Name ist Ned Conti. Wir müssen miteinander reden.» «Jetzt erinnere ich mich an dich, du Scheißer.» Drohend machte er einen Schritt auf mich zu. 174
«Antoinette hat mir alles über Sie erzählt», sagte ich. «Ach ja?» Er kam näher, bis er direkt vor mir stand. Seine Unterarme stanken, und da war noch etwas anderes, der schwache Ammoniakduft von Sex. Er hatte sich die Koteletten wachsen lassen, die sich wie zwei haarige Hände auf beiden Seiten seines Kiefers nach unten streckten. Ich unterdrückte einen jähen Anfall von Panik. Aus dieser Sache gab es keinen Ausweg. «Und was hat sie gesagt?» Ich konnte beinahe spüren, wie seine Muskeln sich anspannten. «Sie sagte, es sei aus zwischen euch beiden», sagte ich. «Sie sagte, sie sei verrückt nach mir.» Das war eine Lüge. Antoinette hatte nie etwas Derartiges gesagt, hatte niemals auch nur ein einziges Versprechen gegeben. Dothan fuhr zu ihr herum. «Ist das wahr?» zischte er. Antoinette senkte die Augen und sagte nichts. Graues Licht fiel durch die Fensterläden. Im Apartment nebenan stellte jemand die Dusche an, und man hörte das Murmeln eines Fernsehapparates. «Ist das wahr?» wiederholte Dothan. «War da was zwischen dir und diesem lächerlichen kleinen Zwergscheißer?» Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schloß ihn wieder und schüttelte den Kopf. «Sie lügt», sagte ich. Ich sah sie an, aber sie wich meinem Blick aus. «Ich werde es jetzt so ausdrücken, daß Sie mich verstehen. Wir haben während der letzten vier Monate miteinander gebumst. Schon bevor Sie nach Kolumbien gegangen sind, um Drogen zu kaufen.» Ich schaute noch immer Antoinette an, als der Schlag kam, eine Explosion in meinem linken Auge. Krachend fiel ich rückwärts über das Sofa, blind, und dann war 175
Dothan über mir, schnell wie ein Affe mit wirbelnden Fäusten. Ich bekam einen Schlag auf den Kiefer und noch einen aufs Auge. Ich erinnere mich nicht an viel, nur an das Zischen von Dothans Flüchen in meinem Ohr und an den rohen Gestank, der von ihm ausging. Es war ein Geruch, der mir noch tagelang anhaftete. Dann hörte ich Antoinettes Stimme seinen Namen schreien, und plötzlich stand sie hinter ihm, versuchte ihn von mir wegzuzerren; ihr Morgenmantel hatte sich geöffnet, ihre Brüste hingen herunter, die Brustwarzen rot und geschwollen wie die Zitzen einer Hündin. Er wirbelte herum und schlug ihr mit dem Handrücken mitten ins Gesicht, und sie taumelte mit einem Aufschrei zurück. Aber eine Sekunde später ließ er plötzlich von mir ab, und die beiden lagen ineinander verschlungen und weinend auf dem Boden; Dothan küßte ihr Haar, ihr Gesicht. «Es tut mir leid, Baby», schluchzte er. «Es tut mir leid. Es tut mir so leid. Ich habe dich noch nie geschlagen. Ich wollte dir nicht weh tun. Ich bin ein verdammtes Arschloch. Ich bin ein Arschloch.» Dann rollte er sich von ihr weg und rammte seine Faust in den harten, alten Eichenboden, einmal und noch einmal und noch einmal, bis ich ein übelkeitserregendes Krachen hörte, das das Brechen von Knochen war. «Nein, Dothan! Hör auf, bitte! Ich bitte dich!» Er hörte auf, sein Gesicht verzerrt vor Schmerzen, und sie nahm seine gebrochene Hand, legte sie zwischen ihre Brüste, beugte sich darüber und weinte. Mit seinem anderen Arm zog er sie an sich, und so ineinander verschlungen stürzten sie weinend zu Boden und streichelten einander. Ich sah das alles mit dem einen unverletzten Auge wie durch einen Nebel, während ich mich mühsam aufraffte, mein Gesicht blutverschmiert, meine Lippe gespalten, in meinem Mund ein metallischer Geschmack. Irgendwie las 176
ich meine Bücher auf, die vom Sofa gefallen waren, und ging um die beiden herum, die sich in einer Ekstase, die den Rest der Welt ausschloß, auf dem Boden wanden. Ich taumelte das schmale Treppenhaus hinunter und fand mich draußen auf der Straße wieder; der Wind war kalt und der Schmerz in meinem Auge furchtbar, aber es tat nicht weh genug, um mir klarzumachen, was für ein Narr ich die ganze Zeit über gewesen war. Was für ein Narr.
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ine Woche später wurde der dritte und letzte Rosenstrauß in meinem Haus an der Mystery Street abgeliefert. Rot diesmal, ein Symbol für Blut und Leiden. Der Botenjunge wartete mitleidig, während ich in meiner Brieftasche nach einem Trinkgeld für ihn kramte. «Mann», sagte er, «hat dir einer ein Holzbrett ins Gesicht geknallt?» «Bin gegen eine Tür gerannt», sagte ich. «War wohl ’ne mächtig große Tür.» «Könnte man sagen.» «Ich war schon mal hier, stimmt’s? Ihr seid die einzigen Leute in dieser Gegend, die Blumen kriegen.» «Ja», sagte ich und gab ihm drei Dollar. «Viel Glück, Mann», sagte er, stieg wieder in den Marche-Florist-Lieferwagen und verschwand aus meinem Leben. «Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut», stand auf der Karte. «Ich würde dich gern sehen, wenn das okay ist.» Und dann folgte ein neutraler Touristentreffpunkt, das Café du Monde im alten French Market auf dem Jackson Square sowie eine Zeitangabe, eine Stunde am späteren Nachmittag noch desselben Tages. Ein unversöhnlicher Wind fegte vom Fluß herauf, aber trotzdem saßen wir draußen hinter einer der großen beigen Säulen, eingehüllt in unsere Mäntel. Der Kellner brachte zwei Cafés au lait und einen Pappteller mit 178
puderzuckerbestreuten Beignets, bevor er vor Kälte zitternd wieder ins Lokal zurückging. Mein Auge war drei Tage lang fest zugeschwollen gewesen, und ich konnte es gerade erst wieder ein wenig öffnen. Die Haut um das Auge herum wies eine verblüffende Purpurschattierung auf, und auf meiner Augenbraue prangte noch immer eine Beule von der Größe eines Wachteleis. Antoinette trug einen kurzen Mantel aus falschem Leopardenfell, lange Handschuhe aus rotem Ziegenleder und einen leuchtend bunten Schal, den sie sich um den Kopf geschlungen hatte. Dunkle, undurchsichtige Brillengläser verbargen ihre Augen. Sie sah aus wie ein italienisches Starlet, das sich bemüht, sein Inkognito zu wahren. Schließlich nahm sie einen Schluck von ihrem Kaffee und steckte ihre Hände dann wieder in die Taschen. «Wow», sagte sie. «Dein Auge.» «Ja», sagte ich. «Tut es weh?» «Nicht mehr so sehr.» «Es tut mir leid», sagte sie. «Was tut dir leid?» «Das mit deinem Auge.» Sie klang allerdings nicht übermäßig bekümmert. Tauben hockten auf der Reiterstatue von General Jackson im Park; Touristen in Regenmänteln lungerten in dem Laubengang des Cabildo herum. Auf den Stufen der Kathedrale St. Louis waren zwei Priester in ein Gespräch vertieft - wahrscheinlich diskutierten sie theologische Angelegenheiten. Vom Fluß her ertönte das lange, hohle Pfeifen eines Tankers, der in Algiers andockte. 179
Antoinette wandte den Blick ab. «Du mußt ein paar Dinge wissen», sagte sie. «Erstens: Ich liebe Dothan.» «Aber du bist ihn doch leid, das hast du mir selbst gesagt. Du wolltest die Sache beenden, von ihm loskommen.» Ich muß wohl ein wenig verzweifelt geklungen haben. Sie hob eine Hand, um mich zum Schweigen zu bringen. «Bitte», sagte sie. «Er braucht mich. Er hat mich immer gebraucht. Wir werden wahrscheinlich heiraten. Zumindest reden wir davon. Er muß nur noch ein paar Sachen ins reine bringen, mit seiner Vergangenheit aufräumen. Ich hatte eine Menge Spaß mit dir. Aber es waren nur drei Monate…» «Vier.» «Wie auch immer. Dothan und ich sind seit zehn Jahren zusammen. So etwas kann man nicht einfach wegwischen, ohne der Sache nicht wenigstens noch mal eine Chance zu geben.» Es fehlte etwas in ihrer Stimme, eine gewisse Tiefe, und mir wurde klar, daß sie die ganze Zeit über schon gefehlt hatte. Sie wollte gerade weitersprechen, aber ich stand plötzlich auf, und mein Stuhl kippte um und fiel klappernd auf die Pflastersteine. «Das reicht», sagte ich. Sie blickte zu mir auf. Ich konnte ihre Augen durch die dunklen Gläser hindurch nicht sehen. «Nimm die Brille ab», sagte ich. Sie tat es. Ihre Augen waren heute von stählernem Blau, fest entschlossen. «Okay», sagte ich. «Ich wünsch dir ein schönes Leben.» Dann, während ich versuchte, mich nicht allzu lächerlich zu fühlen, drehte ich mich um und überquerte den Platz, ging vorbei an Tauben und Touristen und an den 180
kunstvollen Geländern der Pontalba-Apartments, die von einer philanthropischen Baronesse im Jahre 1849 erbaut worden waren. Antoinette rief noch einmal meinen Namen, glaube ich, aber ich rechne es mir hoch an, daß ich nicht zurückgeblickt habe.
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eine größte Stärke war schon immer der Abgang. Ich bin ein Experte, wenn es darum geht, meine Sachen zu packen und in die Nacht zu verschwinden. Die Wurzeln, die mich irgendwo festhalten, sind niemals stark genug. Ich habe einige wenige Bekannte, noch weniger Freunde, ein oder zwei Möbelstücke, einen Koffer voller Kleider, acht Kisten mit Büchern. Nichts Unentbehrliches, nichts Wirkliches. Ist ein Augenblick der Glückseligkeit ein ganzes Leben wert? fragt der Poet. All die Jahre seit damals bin ich mit diesen vier Monaten mit Antoinette ausgekommen. Jeder einzelne glückliche Augenblick wurde so oft studiert, daß er nun ganz zerfleddert ist wie ein Brief von einer alten Geliebten, die man niemals wiedersehen wird. Die Seiten sind vergilbt, die Tinte zu einem Wispern verblaßt. Nur der Name unter dem Brief, mit einer flüssigen, halb vergessenen Handschrift daruntergesetzt, ist noch übriggeblieben. Drei Tage nach unserer letzten Begegnung im Café du Monde war ich abfahrbereit. Der MG war gepackt, die Rechnungen bezahlt oder ad acta gelegt. Ich ließ mich von meinem Geschichtskurs auf der Loyola beurlauben, indem ich etwas von einem Todesfall in der Familie erzählte. Meine Bücher verkaufte ich an Ribari’s, das Antiquariat auf dem Carondolet, und meine Matratze schenkte ich Molesworth. Am letzten Nachmittag fuhren er und ich im Landrover zu einem letzten Drink zu Saladin’s, einer kleinen Kneipe auf dem Gentilly Boulevard. Wir saßen an einem staubigen Tisch in der Nähe des Fensters, tranken in düsterem Schweigen jeder zwei Dixies und betrachteten den Verkehr draußen. Der 182
Frühling nahte. Die Knospen der Magnolienbäume wirkten aus dieser Entfernung wie weiße Knöpfe. «Ich glaube immer noch, daß du einen Fehler machst, Niggerarsch», sagte Molesworth. «Aus der Stadt wegzulaufen, nur weil Dothan dich kurz und klein geschlagen hat. Zum Teufel, wenn alle Leute, die der Knabe kurz und klein geschlagen hat, beschlossen hätten, die Stadt zu verlassen, hätten wir jetzt einen wunderbaren Verkehrsstau auf dem Pontchartrain Expressway.» «Keine Sorge, Molesworth», sagte ich. «Ich habe die Miete bis zum Ende des Monats bezahlt. Das sollte dir eigentlich genug Zeit geben, einen anderen Dummen zu finden.» «Darum geht es nicht.» Er runzelte die Stirn und wurde plötzlich ernst. «Es ist schlecht für deine Seele, wenn du einer Frau gestattest, dich aus der Stadt zu verjagen. Was passiert denn, wenn du irgendwo anders hingehst? Sie wird immer da sein, wird in deinen Gedanken lauern, und jedesmal, wenn du in den Spiegel guckst, wird sie auftauchen wie ein Geist. Was glaubst du, warum ich Mamou verlassen habe und zur Uni gegangen bin?» Er wandte mir sein großflächiges Gesicht zu, und zum ersten Mal sah ich eine tiefe Traurigkeit in seinen Augen. «Molesworth», sagte ich schockiert. «Du?» Er nickte. «Das überrascht dich, wie? Der alte Molesworth ist ein menschliches Wesen.» «Wer war sie?» «Spielt jetzt keine Rolle mehr», sagte Molesworth mit müder Stimme. «Es ist vorbei. Sie ist verheiratet. Drei Kinder. Scheiße. Jedesmal, wenn ich nach Hause komme, reißt es mir das Herz heraus. Wenn ich geblieben wäre, hätte ich die Sache vielleicht durchgestanden, hätte mir meine eigene Stadt zurückerobert. Statt dessen bin ich 183
weggelaufen. Großer Fehler.» «Zu spät, Molesworth», sagte ich. «Diese Straßen sind Gift für mich. Der grüne Himmel, der Fluß. Ich kann keinen Tag länger bleiben.» «Wohin gehst du?» «Nach Springfield, für eine Weile zu meiner Mom. Danach irgendwohin, wo mir meine Scheine anerkannt werden. Ich bring mein Studium zu Ende und schreibe dann meine Doktorarbeit.» Ich zuckte mit den Schultern. «Das Leben wird mich verschlingen. Ob die eine Stadt oder die andere, spielt keine Rolle. Vielleicht New York. New York soll sich gut als Exil eignen.» «Du bist ein morbider Bastard, weißt du das?» Schweigend tranken wir unser Bier aus, und er fuhr mich zurück zu dem Haus an der Mystery Street mit dem abblätternden, rosafarbenen Anstrich und sah von der Veranda aus zu, wie ich meine letzten Habseligkeiten in den MG packte. Als ich fertig war, ging ich zu ihm hinauf und schüttelte ihm die Hand. «Das war’s, Lyle», sagte ich. «Tja - Gott segne dich.» «Dich auch, Niggerarsch.» Dann stieg ich in den Wagen und fuhr davon, die Mystery Street hinunter zur Esplanade und von dort auf die Schnellstraße. Schon nach einer Viertelstunde hatte ich die Stadt hinter mir gelassen, jagte über dunkles Pflaster, das Heulen des MGs in den Ohren, die kabbeligen Wasser des Lake Pontchartrain zu meiner Linken, darüber kleine Flugzeuge, die aus der Düsternis dem Flughafen entgegenschwebten, und vor mir, durch die schmutzige Windschutzscheibe betrachtet, nur die traurige Aussicht auf die Städte des Nordens.
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ber die Vergangenheit ist die Vergangenheit, und das Leben geht weiter. Zweieinhalb Jahre später, wieder war Frühling, rief ich während der Examenswoche an der Georgetown University Antoinette an. Ohne Grund, aus einer Laune heraus. Wir haben in jener Nacht stundenlang miteinander geredet, nicht als Liebespaar, sondern als alte Freunde. Ich nehme ehrlich Anteil an ihrem Leben und sie an meinem. Seither sind wir lose in Verbindung geblieben mit einem gelegentlichen Telefonanruf und dem noch seltener als gelegentlich geschriebenen Brief. Ich brachte an der Georgetown die Kurse für meine Promotion zu Ende und zog dann nach New York, wo ich bei der New York Historical Society eine Assistentenstelle bekam, die vor drei Jahren ausgelaufen ist. Molesworth spürte mich in Brooklyn auf, nachdem mysteriöse Ereignisse ihn gezwungen hatten, den Staat Louisiana zu verlassen, und nach einem Zwischenspiel von sechs Jahren wurde er wieder einmal mein Wohngenosse. Antoinette brachte das College nie zu Ende. Sie ging von der Dominican ab, um am Rande des French Quarter auf der Treme Street eine Boutique für erlesene Second-handKleider zu eröffnen, die sie Antoinettes Vintage Armoire nannte. Das Geschäft ist sehr beliebt und wirft einen ordentlichen Profit ab, vor allem zur Karnevalszeit. Ich habe Antoinette im Lauf der Jahre sogar ein paarmal persönlich gesehen. Ab und zu kommt sie nach New York, um Kleider für ihren Laden zu kaufen. Bei ihren Besuchen gehen wir zu Domsey’s, dem Warenhaus für getragene Kleider in Williamsburg, und ich helfe ihr, die Kisten mit 185
moderig riechenden Kleidern zu packen, die sie dann per Schiff gen Süden schickt, wo sie gereinigt und repariert und zum Zehnfachen dessen, was sie bezahlt hat, weiterverkauft werden. Dann gehen wir essen und treiben uns bis in die frühen Morgenstunden in irgendwelchen East-Village-Bars herum. Sie sieht immer noch wunderschön aus, obwohl ich mich hüte, sie anzurühren. Wir sind jetzt über Dreißig und klüger geworden. Die Jahre haben ihr eine attraktive Patina von Weltmüdigkeit verliehen, die ihr gut steht, wie eins der Kleider aus den Vierzigern, die sie in ihrem Geschäft verkauft. Irgendwo auf ihrem Weg ist sie Dothan losgeworden. Wir haben nie darüber geredet. Sie ist unverheiratet und hat im Augenblick auch kein ernstes Verhältnis; ich habe natürlich den Eindruck, daß immer jede Menge Männer um sie herum sind. Ich liebe sie nach wie vor, aber das ist kein Thema. Wir leben in einer Welt, in der Herzenswünsche, wenn man sie sich erst mal erfüllt hat, bitter werden können. Ich habe mein Leben. Es hat andere Frauen gegeben. Eines Tages werde ich meine Doktorarbeit beenden und wieder jemanden finden. New York ist eine Stadt, die aus einsamen Menschen wie mir besteht. Jetzt, an diesen leeren, roten Abenden in Brooklyn - das Elektrizitätswerk auf der anderen Seite schwirrt, der widerliche Gestank der Lackfabrik weht durchs Fenster, Glasscherben auf dem Pflaster fangen das letzte Licht ein denke ich, daß Antoinette auf diese Weise besser ist. Als Erinnerung. Als ein Traum von ihrer Stadt, New Orleans, schlafend und umgeben von seinen Bayous, zwischen dem Fluß und dem Meer, unter den grünen Himmeln der Vergangenheit.
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TEIL III EINE SEANCE IN DER PORTSMOUTH STREET
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in leichter Schimmer von Papageiengrün überzieht den Himmel von Brooklyn, und jetzt erinnert mich eine angenehme Brise aus dem Süden so sehr an New Orleans und an bessere Tage, daß ich mich zu einer einsamen Grillfete im Garten entschließe. Jeden Sommer versuche ich, ein paarmal unten zu grillen, denn es ist eine Schande, einen Garten in New York ungenutzt zu lassen, wie verwildert und vernachlässigt er auch sein mag - aber in diesem Sommer hatte ich bisher noch keine Gelegenheit dazu. Mary und Todd, das Vegetarierpärchen aus dem Erdgeschoß, haben den Garten für ihre Nacktmeditationen in Beschlag genommen. An den meisten Nachmittagen seit Anfang Juni habe ich sie in der Lotusposition auf einer Decke im Gras hocken sehen, von mir abgewandt in ihrer Nacktheit und ganz in Anspruch genommen von dem Versuch, in den Augen des anderen das Nirwana zu finden. Beim ersten Mal bin ich stehengeblieben und habe mir das Ganze von dem staubigen Fenster im Flur aus genauer angesehen, aber mittlerweile ist ihr Anblick nichts Neues mehr. Und, wenn ich so sagen darf, die beiden sind zwei ziemlich wenig bemerkenswerte Vertreter der menschlichen Spezies. Todd besteht nur aus Ellbogen und Rippen und strähnigem Hippiehaar, sein Penis ist dünn wie ein Finger, verborgen in dem bleichen Gewirr zwischen seinen Beinen. Mary hat Hängeschultern und braune Brustwarzen und genau die Art von langem Hippiemädchen-Pferdegesicht, die man auf den Plattenhüllen der Sechziger findet. Während der letzten paar Tage sind sie dazu übergegangen, während ihrer Meditationen eine Art tibetanische Gongmusik auf 188
ihrem Tonbandgerät abzuspielen und in dem alten Blumenbeet Räucherstäbchen zu entzünden. Der Übelkeit erregende Geruch von diesem Zeug dringt in meine Wohnung, wo er sich mit dem Pesthauch der Farbenfabrik an der nächsten Ecke vermischt. Sie sind auch jetzt wieder draußen, nackt wie immer, und haben sich ihre langen Haare mit zwei identischen Stirnbändern zurückgebunden, auf denen chinesische Schriftzeichen prangen, aber ich habe nicht die Absicht, mich von ihnen aufhalten zu lassen. Heute nicht. Ich habe ein paar Literflaschen von Pete’s Wicked Ale im Kühlschrank, ein schönes Stück Fleisch von Key Foods, das in einer Schale vor sich hin mariniert, und die Zutaten für einen Salat und für Bratkartoffeln. Ich stehe am Herd in der Küche, trinke eine Flasche Bier und mache die Bratkartoffeln fertig, als die tibetanische Gongmusik aus dem Garten unerwartet dem Gesang einer Frauenstimme weicht. Das ist eine Überraschung. Gesungen haben meine Nachbarn meines Wissens noch nie. Es ist eine schöne alte Melodie, die ich nicht recht einordnen kann, weil ich die Worte nicht verstehe, also trete ich ans Fenster, um mir die Sache anzusehen. Jetzt kann ich die Hippies aber nicht mehr ausmachen, denn ihre Decke liegt direkt unter meiner Küche, die ein Stück über den Garten hinausragt, aber ich sehe, daß sie Gesellschaft von einer Freundin bekommen haben, und sie ist es auch, die singt. In der Mitte des unkrautüberwucherten Gartenfleckchens steht eine junge Frau, bis zur Taille nackt, und wäscht sich in einem hölzernen Bottich die Haare. Obwohl sie mir den Rücken zugewandt hat, kann ich sehen, daß sie von anderem Kaliber ist als Mary und Todd. Ihre Arme sind wohlgeformt und geschmeidig, ihre Brüste hängen als schwere Globen in dem Schatten, den ihr Körper auf das 189
Gras wirft, ihre Haut glänzt weiß, beinahe durchsichtig, als ginge sie niemals hinaus in die Sonne. Und ihr Haar ist ungeheuerlich: dick und schwarz und wahrscheinlich lang genug, um ihr bis zur Taille zu reichen. Sie beugt sich über den Bottich, seift sich das Haar energisch ein, schnellt dann hoch, um es mit beiden Händen auszuwringen, und dreht es schließlich zu einem dicken, schwarzen Seil. Ihr Unterhemd liegt achtlos hingeworfen neben ihr im Gras. Natürlich gibt es Badezimmer für solche Aktivitäten, aber das hier ist wirklich eine bezaubernde Szene, und ich sehe eine Weile wie gebannt zu, während die Frau sich abermals ans Waschen und Wringen macht und dazu mal singt, mal summt, immer diese leise, vertraute Melodie. Ich hoffe, daß sie sich zu mir umdreht, damit ich ihr Gesicht sehen und vielleicht auch einen gründlicheren Blick auf ihre Brüste werfen kann, aber sie tut es nicht. Dann ruft mich ein leichter Brandgeruch an den Herd zurück, und ich muß mich um die Bratkartoffeln kümmern, bevor sie verkohlt sind. Schließlich raffe ich mein Fleisch, den Salat und die Kartoffeln zusammen und schleife einen Sack Holzkohle aus dem Keller herauf. Als ich durch die Stahltür hinaus in die Helligkeit des Gartens trete, schauen Todd und Mary kuhäugig zu mir auf. «Hallo», sage ich und gehe schnell nach hinten zu dem Grill. Ich breite schon die Kohlen aus, als Todd auf leisen Sohlen zu mir herübertappt, nackt und gummihäutig wie ein Hühnchen. «Entschuldige, Mann», sagt er. «Sag mal, was machst du da?» Seine Stimme hat den schleppenden kalifornischen Akzent, den man mit skateboardfahrenden Punks und Surfern verbindet und für den eine bestimmte Schicht von Bohémiens neuerdings eine Vorliebe zu haben scheint, so als hätten sie sich den Bazillus alle in derselben Kommune 190
in Oregon geholt. «Ich grille, Todd», sage ich und wende mich wieder meinen Kohlen zu. «Sieh mal, wir meditieren hier draußen, okay?» sagt er. «Könntest du nicht später wiederkommen und dein totes Fleisch ein andermal kochen?» Ich fahre wütend zu ihm herum und spieße die Luft zwischen uns mit der Grillgabel auf. Todd tritt erschrocken einen Schritt zurück. «Ihr Leute habt diesen Garten den ganzen Sommer mit eurer Meditation und eurer Nacktheit okkupiert», sage ich, und meine Stimme steigt um eine Oktave. «Der Garten gehört euch nicht; er gehört zum Haus. Der halbe Sommer ist rum, und ich habe noch kein einziges Mal gegrillt! Und wenn du dich mit mir unterhalten willst, dann zieh dir verdammt noch mal was an!» Er blinzelt. Seine Augen sind von einer unbestimmten Sandfarbe, und er scheint zu zögern. Aber da ist die Grillgabel und die Tatsache, daß er nackt ist. «Mann, du bist aber wirklich gereizt», sagt er schließlich und zieht sich zu weiteren Meditationen auf die Decke zurück. Später erweist sich der Geruch von gegrilltem Fleisch als zu viel für sie, und eingehüllt in ihre Decken wie zwei Indianer kommen sie zu mir und setzen sich auf die andere Seite des verzogenen, alten Picknicktisches zwischen den Feigenbäumen, um mir beim Essen zuzusehen. «Ist das gut?» fragt Todd und zeigt mit dem Kopf auf mein Steak. «Was glaubst du?» sage ich und kaue begeistert. «Nein, im Ernst, wir haben seit zehn Jahren kein Steak mehr gegessen», sagt Mary. «Wir haben total vergessen, wie so was schmeckt.» 191
«Es ist sehr gut», antworte ich mit vollem Mund. «Exzellent, um genau zu sein.» «Aber wie schmeckt es?» beharrt Mary. «Wie Fleisch», sage ich. «Oh.» Sie sehen hungrig aus, also werde ich weich und biete ihnen etwas von meinen Bratkartoffeln an, die sie mit den Fingern von meinem Teller essen. «Hey, Mann,» sagt Todd, «wir wollten den Garten nicht okkupieren. Es ist nur so, daß wir wirklich versuchen, unsere Meditationsfähigkeiten zu steigern. Wir bereiten uns darauf vor, für einen Monat in diesen Ashram in Colorado zu gehen, und wir wollen bereit sein.» «Ach ja?» sage ich und versuche interessiert zu klingen. «Wie seid ihr auf Colorado gekommen?» «Es ist eine Art Urlaub», sagt Mary. «Es gibt da ein Reisebüro im Village, das diese Meditationsprogramme zusammenstellt. Man kann überall auf der Welt meditieren.» «Sogar in Paris?» frage ich ab. «Warum nicht?» sagt Todd. Dann, obwohl ich nicht eingestehen möchte, daß ich sie durchs Fenster beobachtet habe, gewinnt meine Neugier die Oberhand. «Und wer war eure Freundin?» erkundige ich mich. «Freundin?» «Die Frau, die sich hier draußen die Haare gewaschen hat.» «Wann?» «Oh, vor einer halben Stunde ungefähr.» Sie sehen einander verwirrt an. 192
«Ja», sage ich. «Sie hatte langes schwarzes Haar, und sie…» «Tut mir leid, Mann.» Todd schüttelt geduldig den Kopf. «Wir waren nur zu zweit, den ganzen Tag. Wir waren allein hier draußen.» Mary nickt zustimmend. «Todd kann besser meditieren, wenn niemand in der Nähe ist. Hängt mit den Schwingungen zusammen.» Ich habe alle Mühe, das Stück Fleisch in meinem Mund hinunterzuschlucken. «Den ganzen Tag allein», sage ich mit gepreßter Stimme. «Seid ihr da sicher?» Ich gebe ihnen den Rest von den Bratkartoffeln und dem Salat und werfe, was vom Steak noch übrig ist, über den Zaun zu den bissigen Hunden, die den Nachbargarten bewachen. Dann greife ich mir meine Literflasche Pete’s und gehe nach oben in meine Wohnung, wo ich zitternd auf dem Bett zusammenbreche. Es ist etwas passiert. Eine Eskalation. Ich habe den Geist gesehen.
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ie Züge sind voll, die Taxen strömen in Viererreihen auf der Second Avenue stadteinwärts. Die Bars im East Village stinken schon nach Zigarettenqualm, während die letzten Sonnenstrahlen sich rot in den Fenstern des Bankendistrikts spiegeln. Es ist Samstagabend, und die Stadt vibriert wie ein voll aufgedrehter Motor. Ich steige in Knox in die überfüllte F nach Manhattan und finde im hinteren Teil des Wagens einen Sitzplatz. Die Farbskala reicht hier von Mokka bis hin zu tiefdunkler Schokolade, und ich bin weit und breit die einzige Portion Schlagsahne. Das ist nichts Besonderes in der U-Bahn, vor allem nicht in den heißesten Monaten des Sommers, in denen die Stadt stinkt wie eine alte Matratze und die Flucht der Weißen zu den Stränden ihren Höhepunkt erreicht hat. Mir gegenüber sitzt jetzt eine Gruppe junger Latinos mit ihren Freundinnen, die in einer Mischung aus Spanisch und Englisch plappern und kreischen, einer Sprache, die wahrscheinlich das amerikanische Idiom des 21. Jahrhunderts sein wird. Die Jungen haben perfekt mit Gel zurückgestrichenes Haar und im Zickzackmuster rasierte Koteletten, die Mädchen klebrige, steife Pompadourrollen, ergänzt von knallrotem Lippenstift und riesigen goldenen Ohrringen. Dann steige ich in Delancey in die Z nach Essex um und lande in einem Wagen voller chinesischer Familien. Die Luft ist zum Schneiden dick und riecht nach Ingwer. Ich höre den Klang verschiedener Dialekte und das klagende Weinen der Babys. Als wir in einem Tunnel zwischen der Canal und der Chambers Street für ein paar Minuten halten, kommt ein Koreaner mit einer Einkaufstasche 194
voller billiger Plastikspielzeuge durch, die er verkaufen will. Er hockt sich in die Mitte des Wagens und führt seine Sachen vor. Er hat einen Kreisel, der «The Yellow Rose of Texas» spielt, wenn man ihn schlägt, außerdem von innen beleuchtete riesige Kürbisse, die von Halloween übriggeblieben sind, und einen niedlichen Aufziehhund, der kläfft und Purzelbäume schlägt, wenn man ihn auf den Fußboden stellt. Der Koreaner zieht einen der Hunde auf und setzt ihn ab, damit er seinen Salto vorführen kann. Das ist das Demonstrationsmodell, dessen weiße Pfoten schwarz geworden sind von dem Schmutz hunderter UBahn-Waggons. Eine ältliche Chinesin zu meiner Rechten kauft ein halbes Dutzend beleuchteter Kürbisse, eine junge Mutter ersteht einen Kreisel, um ihr Kind ruhigzustellen, und aus einer Laune heraus bezahle ich acht Dollar für einen der Purzelbaumhunde. Später, während ich mir den Weg durch die Menge in Chinatown bahne, komme ich mir ziemlich dämlich vor, weil ich den Hund bei mir habe, der nicht in meine Tasche paßt. Er ist ein Geschenk für Chase, ein Friedensangebot. Wir haben nicht mehr miteinander geredet seit ihrer Dinnerparty, bei der ich irgend etwas gesagt oder getan haben muß, das sie veranlaßt hat, mich abzuschreiben. Natürlich schreibt sie dauernd Leute ab, nur um sie anschließend wieder aufzuschreiben. Wir haben via Anrufbeantworter verhandelt, und heute abend erwartet sie mich im Le Hibou.
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as Le Hibou, einer der seltsamsten Clubs in Manhattan, liegt versteckt in einem dunklen Winkel der Doyers Street, die in den zwanziger Jahren Schauplatz so vieler gräßlicher Morde in den Kriegen der chinesischen Geheimgesellschaften war. Das ist das traditionelle Herz von Chinatown, mehr Shanghai als New York, aber während der letzten Jahre haben sich albanische Zigeuner auf diesem kleinen Gebiet breitgemacht. Jetzt findet man in der Doyers Street Seite an Seite mit Dim-Sum-Stuben und billigen asiatischen Souvenirläden Zigeunersalons, in denen man sich aus der Hand lesen lassen kann, und billige Lokale, die albanische und bulgarische Küche servieren. Das Le Hibou liegt in der Mitte des Häuserblocks, und ein gespenstisches Licht fällt durch die Fenster mit der aufgemalten goldenen Eule. Das Haus war ursprünglich ein Restaurant mit französischer Landküche, eröffnet von einem albanischen Zigeuner, der als Hilfskoch im Crillon in Paris gearbeitet hatte. Im Innern findet man immer noch Weinranken aus Plastik, Karten von der Auvergne und Poster von Edith Piaf im Olympia. Aber wer würde, solange er noch alle Tassen im Schrank hat, in Chinatown nach französischer Küche suchen? Das Restaurant war ein Fehlschlag, der Albaner hatte sich die falschen Darlehen von den falschen Leuten geholt und wurde mit durchschnittener Kehle in einem Müllcontainer gefunden. Das Lokal jedoch wurde unverzüglich neu eröffnet; jetzt ist es ein berüchtigter Treffpunkt für Ganoven und Betrüger der verschiedensten Sparten, ein Ort, an dem Stammeszwistigkeiten mit einem 196
schnellen Messerstich bereinigt und Frauen für eine Handvoll Hunderter verschachert werden. Als ich eintrete, sitzt Chase am anderen Ende der Bar über einem Cognacschwenker, in dem sich eine blutfarbene Flüssigkeit befindet. Ich ziehe den Hund auf und stelle ihn neben ihren Ellbogen, und er kläfft fröhlich und macht auf der klebrigen Theke einen sauberen Purzelbaum. «Hey, das ist aber ein süßes kleines Hündchen», sagt Jamal, der Barkeeper. «Wo hast du den her?» «In der Z gekauft», sage ich. Das scheint ihn nicht zu überraschen. Fast alles könne man in der U-Bahn kriegen, meint er. Einmal, auf der 1-2-3, habe er einen Mann mit schmutzigem Metzgerskittel rohe, in Plastik eingewickelte Steaks verkaufen sehen. «Frag mich nicht, woher dieses Fleisch kam», sagt er. «Oder was es für Fleisch war.» «Hast du welches gekauft?» «Machst du Witze?» Er ist ein großgewachsener Mann mit einem steifen, aufgezwirbelten Schnurrbart und einem dichten, schwarzen Haarschopf. Er spricht mit mir, weil er weiß, daß ich ein Freund von Chase bin; Nicht-Zigeuner werden im Le Hibou ohne Begleitung nicht geduldet. Chase hat bisher noch kein Wort gesagt. Sie schaut von mir zu Jamal und dann wieder zu mir und runzelt die Stirn. «Für dich», sage ich, als Jamal sich abwendet, und zeige auf den Hund. «Warum?» fragt sie. Ich zucke mit den Schultern und beschließe, ehrlich zu sein. «Ich brauche deine Hilfe bei einem Problem.» Chase greift nach ihrem Hund, und wir gehen hinüber zu einem der Tische unter der Laube aus Plastikweintrauben, 197
die am Samstagabend für Pärchen reserviert sind. Von hier aus haben wir einen freien Blick auf die Eingangstür und den Billardtisch, an dem vier Zigeuner herumhängen, verdrossen, mit Queues in den Händen und Zigaretten in den Mundwinkeln, Brillantine im schwarzen Haar. Es ist früh, das Lokal noch halbleer. Gegen Mitternacht wird es hier von Zigeunern in Armani-Anzügen und ihren Gangsterbräuten in hautengem Stretch nur so wimmeln. Die Messerstechereien fangen für gewöhnlich gegen eins an, wenn jeder den Bauch voll Arrak hat. Chase ist heute abend in düsterer Stimmung, was in letzter Zeit oft vorkommt. Sie weigert sich, mir in die Augen zu sehen. Von Zeit zu Zeit zieht sie den Hund auf und läßt ihn auf der Tischdecke einen Purzelbaum schlagen. So knapp wie möglich erzähle ich alles, was mir mit dem Geist passiert ist. Ich komme mir dabei ziemlich blöd vor, denn ich habe während der ganzen Jahre unserer Freundschaft beharrlich die Existenz des Übernatürlichen geleugnet, aber die jüngste visuelle Manifestation des Geistes hat mich wirklich erschüttert. Es ist an der Zeit, einen ernsthaften Versuch zu starten, den Geist loszuwerden, und Chase hat Zigeunerverwandte mit Beziehungen zur anderen Seite. Ihre Großtante, eine gewisse Madame Ada, betreibt eine Art Tarot-Teestube, war früher mit Houdini befreundet und ist bekannt als große Geisterexpertin und Medium. Etwa vor einem Jahr habe ich in den Elf-Uhr-Nachrichten ein Feature über sie gesehen. Sie ist unglaublich alt und ziemlich verrückt und empfängt niemanden ohne Empfehlung. Chase schweigt noch eine Weile, nachdem ich fertig bin, und starrt in ihr Glas. «Dann lag ich also mit meinen Träumen ganz richtig», sagt sie schließlich. «Jemand von der anderen Seite hat 198
versucht, Kontakt mit dir aufzunehmen. Und ich hatte die ganze Zeit über recht, was die Welt der Geister betrifft. Gibst du das jetzt zu?» «Ja», sage ich und winde mich ein wenig dabei, aber sie reitet nicht auf der Sache herum. «Das Problem ist, daß du deinen Spuk zu lange hast laufen lassen, und das ist wie Krebs», sagt sie. «Für eine Operation ist es möglicherweise zu spät. Der Geist hat sich in dein Leben eingeschlichen, und nun sitzt du in der Falle. Du mußt tun, was immer er von dir verlangt. Einen anderen Ausweg gibt es nicht.» «Bist du dir da sicher?» Ein unangenehmes Gefühl breitet sich in meiner Magengegend aus. «Ja. Warum hast du mir nicht früher Bescheid gesagt?» «Aus Stolz, würde ich sagen. Außerdem läuft ein moderner Mensch nicht einfach rum und redet über Geister. Ich schätze, ich habe es einfach verdrängt und gehofft, es würde sich als etwas anderes erweisen. Ratten in den Wänden. Elektrostatische Störungen. Wahnsinn. Irgend etwas.» «Aber du hast Rust davon erzählt.» «Ja.» «Ist schon gut», sagt Chase mit leiser, trauriger Stimme. «Die Leute vertrauen mir nicht. Warum sollten sie auch? Ich habe dir damals das Apartment besorgt. Dachte, es wäre ein guter Platz für dich. Ich habe mich geirrt. Ich hab’s verbockt. Kein Wunder, daß die Leute mir nicht vertrauen.» «Das darfst du nicht sagen.» Sie winkt ab. «Wie kann man auch jemandem mit so einem Gesicht vertrauen? Gib mir die Hand.» Sie hat es mal wieder geschafft, das Gespräch auf ihr 199
Lieblingsthema zu bringen. Widerwillig gebe ich ihr die Hand, und sie greift danach und läßt sie über ihr Kinn und ihre rekonstruierten Wangen gleiten, und ein unwillkürliches Schaudern durchläuft mich. «Siehst du», sagt sie. «Es fühlt sich sogar scheußlich an. Irgendwie unvollendet. Ich habe lange Zeit meiner Mutter die Schuld gegeben, aber sie war Alkoholikerin. Eine reiche High-Society-Alkoholikerin aus einer Familie von Trinkern. Mein Vater hat sie geheiratet, weil sie weiß war, verstehst du, er war ein Zigeunerjunge mit einem Stipendium. Er dachte, sie sähe aus wie Jackie Kennedy. Scheiße auch. Du siehst ja, was ihnen das eingebracht hat.» Sie zeigt mit beiden Zeigefingern auf ihr Gesicht. «Chase…» «Du denkst, ich bin betrunken, aber ausnahmsweise bin ich mal stocknüchtern. Laß mich eine Geschichte erzählen. Einmal schickten die Griechen ihre größten Krieger aus, um Silenus zu fangen, den weisen Zentaur, denn er kannte als einziger die Antwort auf die Frage: Was ist das beste von allem? Als sie ihn schließlich in ihren Netzen hatten und unter Androhung des Todes die Antwort von ihm verlangten, hat er sie gewarnt: ›Es wird euch nicht gefallen, was ihr zu hören bekommt‹, sagte er, aber sie ließen nicht locker, und schließlich gab Silenus nach. ›Das allerbeste ist, niemals geboren worden zu sein.‹ Wie findest du das, Ned?» Die Ankunft einer überdimensionalen weißen Limousine vor dem Lokal erspart mir die Antwort. Discomusik plärrt aus dem offenen Schiebedach des Wagens, aus dem nun Zigeuner in leuchtendbunten Anzügen steigen, gefolgt von einigen Frauen in hauchdünnen Kleidern. Begleitet von einer Woge von Applaus und Pfiffen betreten sie den Club. Jamal springt über die Theke, um einen der Neuankömmlinge zu umarmen, einen dunklen, 200
verblüffend gutaussehenden jungen Mann mit perfekter Frisur und einem Profil, das mich an die Porträts von Lord Byron erinnert. Selbst aus dieser Entfernung kann man erkennen, daß seine Augen etwas Raubtierhaftes haben, stechend und schwarz wie Kohle sind. Chase springt aufgeregt von ihrem Stuhl auf. «Das ist Ulazi!» ruft sie und zupft an meinem Ärmel. «Ulazi ist wieder da!» Dann läuft sie um den Tisch herum auf die Menge zu und landet in den Armen des jungen Mannes mit dem auffallenden Profil. Er lächelt dünn und vermeidet es, ihr Gesicht zu küssen. Eine Sekunde später kommen sie Arm in Arm zum Tisch und setzen sich, gefolgt von einer Blondine mit Schmollmund und Wuschelhaaren, ausstaffiert wie Miss America mit einem trägerlosen Minikleid aus roten, weißen und blauen Pailletten. «Ich habe dir doch von Ulazi erzählt», sagt Chase zu mir. «Ulazi, das ist Ned Conti. Ein Freund von mir aus Brooklyn.» «Oh. Ja.» Ulazi schüttelt mir mit eisernem Griff die Hand. Dann kommt Jamal mit einer Flasche Arrak und ein paar Gläsern. «Das geht aufs Haus, Freunde», sagt er, beugt sich vor und flüstert Ulazi ein paar Worte auf Romani ins Ohr. «Ich komme gleich rüber», erwidert Ulazi ärgerlich. «Sag ihnen, ich unterhalte mich mit meiner Schwester.» Jamal verschwindet, und Ulazi gießt vier gewaltige Portionen Arrak in die Gläser. Dieses Zeug schimmert bläulich, schmeckt widerlich wie Schuhputzmittel und ist in den Vereinigten Staaten eigentlich verboten. «Auf meine Schwester», sagt Ulazi. Chase hebt ihr Glas und lächelt stumm. Sie scheint ihren Blick nicht von ihm 201
losreißen zu können. Plötzlich ist sie ein fügsames, glückliches Mädchen, das seinen Star anhimmelt. «Aber Schätzchen», sagt die Blondine zu Ulazi, «du weißt doch, daß ich euren scheußlichen Schnaps nicht trinken kann. Ich will einen Bourbon mit Wasser. Kannst du dem Burschen nicht sagen, daß er mir einen Bourbon mit Wasser bringen soll?» «Du wirst trinken, was wir trinken, Cheryl», sagt Ulazi mit harter Stimme. «Du wirst mich nicht vor meiner Schwester beleidigen. Und damit basta.» «O Scheiße», sagt Cheryl, aber sie steckt ihre Nase in das Glas und befeuchtet sich wie eine Katze die Zunge. Ihr Akzent klingt nach den Hügeln von North Carolina, und ich sehe sie mir genauer an. Am Myrtle Beach habe ich Mädchen wie sie zu Tausenden ihren Sommer verlungern sehen, Mädchen, die aus goldfarbenen Bikinis herausplatzten, die kaum mehr als kleine, mit Nähgarn zusammengehaltene Fetzchen waren. Während ihr Makeup langsam in der Sonne zerschmolz, mußte ich gegen meinen Willen feststellen, daß ich jede einzelne von ihnen wollte. New York ist voll von Cheryls. Grobknochige Mädchen aus dem Süden mit einer gewissen robusten Schönheit, die Asheville oder Winston-Salem gegen die Lichter der Großstadt eingetauscht haben. Die besten von ihnen enden nach kurzen Karrieren in Off-BroadwayShows als Ehefrauen von kleinen italienischen SubBauunternehmern oder Polizeisergeants aus der Bronx; die schlimmsten von ihnen enden bei Männern wie Ulazi. Mir fallen jetzt wieder ein paar Dinge ein, die Chase mir von ihrem Halbbruder erzählt hat: Er ist Schauspieler, ein Gigolo und Gangster, eine Art Berühmtheit unter den Zigeunern. Nachdem er in New York kurze Zeit als Dressman gearbeitet hatte, ging er nach Hollywood, um sein Glück beim Film zu machen, und spielt seither 202
Nebenrollen als Schurke in den mexikanischen Seifenopern, die in Los Angeles produziert werden. Er ist der Sohn der spanischen Zigeunerin, die Chase’ Vater nach der Scheidung von ihrer Mutter geheiratet hat. Chase vergöttert ihn, das ist nicht zu übersehen. Vor ein paar Jahren hielt sie ihn einmal in Providence versteckt, als die New Yorker Polizei ihn wegen Betrug und tätlichem Angriff suchte. Eine wohlhabende Witwe von der Fifth Avenue hatte ihn angezeigt. Nachdem er sechs Monate lang für zweitausend Dollar die Woche mit der unglücklichen Dame geschlafen hatte, kam es zum Streit zwischen den beiden, und Ulazi schlug sie und nahm ein paar von ihren Juwelen mit; Genaueres haben wir nie erfahren. Schließlich wurde die Anklage fallengelassen. Wir trinken noch ein paar Runden Arrak. Der Stoff schmeckt wie Feuerzeugbenzin. Cheryl erstickt fast daran und hämmert sich mit der Faust auf ihr Brustbein. «Verdammt», sagt sie. «Verdammt.» «Was hast du so getrieben, kleiner Bruder?» fragt Chase und hält seinen Arm mit eisernem Griff umklammert, als wolle sie ihn davon abhalten zu fliehen. «Ich habe das ganze Jahr noch nichts von dir gehört. Hast du meine Weihnachtskarte bekommen? Ich hab dir ein paar teure Socken zum Geburtstag geschickt. Hast du sie bekommen?» Ulazi nickt düster, hebt einen Fuß und zieht sein Hosenbein hoch, um die Socken zu zeigen. Sie sind verziert mit winzigen Wappen, auf denen die Lilie Frankreichs zu erkennen ist. «Ich wollte dich schon lange anrufen», sagt er. «Aber du weißt ja, wie das ist.» Chase stößt ein kleinmädchenhaftes Lachen aus. Ich bin schockiert. Ich habe sie noch nie so erlebt. «Du rufst nie 203
an, du schreibst nie», sagt sie, als sei das ein Kompliment. «So bist du eben.» Das Schauspiel widert mich an, also wende ich mich der Blondine zu. «Du kommst aus North Carolina?» frage ich. Sie lächelt und zeigt einen Mund voller ebenmäßiger, weißer Zähne. «Hey», sagt sie. «Wie bist du darauf gekommen?» Ich bedenke sie mit einem mysteriösen Grinsen. «Du und Ulazi hier, seid ihr schon lange zusammen?» «Ungefähr seit einem Jahr», sagt sie. «Ully und ich sehen uns jedes Mal, wenn er nach New York kommt, und das ist ziemlich oft. So jeden zweiten Monat.» «Oh!» Chase sieht mit verletzter Miene die Blondine an und dann ihren Bruder. «Du meinst, du kommst seit einem Jahr nach New York und hast es nicht geschafft, mich zu besuchen?» Auf diese Frage hin bedeutet Ulazi Cheryl mit einer ungehaltenen Kopfbewegung zu verschwinden, und die Blondine steht hastig auf und zieht Chase hinter sich her. «Laß uns mal für kleine Mädchen gehen, Schätzchen», sagt Cheryl nervös. Chase ist zu verwirrt, um Widerstand zu leisten, und plötzlich bin ich mit dem Zigeuner alleine. Einen Augenblick lang herrscht Schweigen. Dann richtet Ulazi seine seltsamen schwarzen Augen auf mich. «Bumst du meine Schwester?» fragt er. Ich sehe ihn ausdruckslos an. «Du weißt schon, was ich meine. Bezahlt sie dich dafür, daß du sie fickst?» Er meint es ernst. «Nein», erwidere ich entgeistert. «Wir sind einfach Freunde.» Er starrt mich an, und seine Augen werden schmal. 204
«Okay, ich glaube dir», sagt er schließlich. «So wie sie aussieht, müßtest du schon ein ziemlicher Spinner sein, um sie zu ficken, Geld hin, Geld her. Du siehst ein bißchen billig aus, aber nicht wie ein Perverser.» «Vielen Dank», sage ich. «Aber so was kann man nie wissen. Es gibt da die komischsten Sachen. Ich hab in L. A. mal einen Typ kennengelernt, der nur Amputierte vögelt. Gutaussehender Bursche übrigens. Versteh mich nicht falsch. Chase ist ein tolles Mädchen. Es ist nur schlecht für mich, mit ihr zusammenzusein - schlecht für meine Karriere. Man kann nie wissen, wann man jemandem von den Modemagazinen über den Weg läuft oder irgendeinem Produzenten, und es hilft, wenn man mit einer bestimmten Art Frauen gesehen wird. Mehr so was wie Cheryl. Häßlichkeit, das ist wie Pech. Färbt ab, verstehst du?» Ich finde diese Einstellung verachtenswert, halte es aber für besser, ihm das nicht zu sagen. Eine Minute später kommen die Mädchen zurück, und nach einer weiteren Runde Arrak stehen Ulazi und Cheryl auf und verabschieden sich. «War schön, euch alle kennengelernt zu haben», sagt Cheryl fröhlich. «Ja, wir müssen uns jetzt noch mit ein paar Geschäftsfreunden treffen», sagt Ulazi. «Du weißt schon, Geschäfte.» Er läßt ein falsches Grinsen in seinem Gesicht aufblitzen, das eine Reihe makelloser Zähne entblößt. «Seh ich dich bald?» sagt Chase, und Panik schwingt in ihrer Stimme mit. «Komm doch mal zum Abendessen. Warum kommst du nicht mal zum Abendessen?» Er schüttelt den Kopf. «Ich habe diesmal wirklich 205
furchtbar viel zu tun, Chase», sagt er. «Ich ruf dich an.» Dann verschwinden sie durch eine gepolsterte Tür in die privaten Partyräume im hinteren Teil des Lokals. Eine Stunde später gehen Chase und ich die Doyers Street hinauf und durch den Columbus Park, dann die Baxter hoch zu einem vietnamesischen Lokal auf der Canal Street, wo das Essen gut und billig ist. Aber als wir die Tür öffnen wollen, stellen wir fest, daß sie von innen verschlossen ist. Die letzten Pärchen sitzen bei den Resten ihrer Frühlingsrollen an kleinen Tischen, und auf der anderen Seite der Glasscheibe macht der Wirt eine abwehrende Handbewegung. «Wir schließen», sagt er. Chase wendet sich ab und zündet sich eine Zigarette an. Einen Augenblick lang steht sie auf dem Gehsteig und bläst mit zurückgeworfenem Kopf Rauch in die Luft. «Ich kann einfach nicht glauben, daß er die ganze Zeit über nach New York gekommen ist», sagt sie zu dem ausgebrannt fahlen Himmel über Manhattan. «Und er hat mich nie angerufen. Kein einziges Mal. Ich habe ihm jeden Monat Geld geschickt, bis er sich da draußen in L. A. etabliert hatte, und das in einer Zeit, in der ich kaum meine Miete aufbringen konnte. Dann habe ich ihm Briefe geschrieben, so viele Briefe. Weißt du, ich glaube, er hat sich nicht mal die Mühe gemacht, sie zu lesen. Dieser Bastard.» Wir gehen die Canal Street hinauf, um ein Taxi zu nehmen, stehen aber unentschlossen an der Ecke, während der Verkehr Richtung Brücke hinunterschießt. «Man verweigert mir meinen Platz an der verdammten Festtafel des Lebens», sagt sie. «All diese Jahre habe ich gedacht, ich könnte mir meinen Weg dorthin erkämpfen. 206
Aber an der Festtafel haben nur die Schönen Platz. Am Eingang steht ein Bursche, der sich erst dein Gesicht ansieht.» «Mach dich nicht fertig, bloß weil dein Halbbruder ein Blödmann ist», sage ich, aber sie hört mir nicht mehr zu. Ich winke ihr ein Taxi herbei, und als sie sich bückt, um einzusteigen, beuge ich mich vor und küsse sie sanft auf die Lippen.
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ie Uhr in meinem Zimmer tickt vor sich hin. Auf der anderen Seite der Portsmouth Street brummt das Elektrizitätswerk in die gelbe Nacht. Zwischen den Transformatoren zischen Blitze hin und her. Wenn ich aus dem Badezimmerfenster sehe, liegt Manhattan vor mir, feuerumrandet, dem Himmel entgegenbrennend, und die Seile der Brücken glitzern über dem dunklen Fluß wie geblasenes Glas. Das Apartment ist heute nacht wie ein Ofen. Schlafen unmöglich. Gestern hat das Außenthermometer fast vierzig Grad angezeigt. Der Wetterfrosch im Radio sagt, wir befänden uns mitten in einer der schlimmsten Hitzewellen, die die Ostküste seit mehr als hundert Jahren erlebt hat. In Philadelphia sind schon fünfzehn Leute an hitzebedingten Krankheiten gestorben. Wie viele es in New York waren, sagen sie nicht. Diese Bedingungen scheinen dem Geist zu gefallen. Gestern abend waren zwei neue Geräusche da: ein Klatschen wie Flügelschlagen und ein sehr fernes Husten. Das klatschende Geräusch könnten die Vorhänge in Molesworths altem Zimmer gewesen sein, aber das Husten? Und als ich in der Dunkelheit zum Badezimmer stolperte, lag meine Hand mitten im Wohnzimmer für einen Augenblick auf etwas, das sich wie die Rückenlehne eines Eßzimmerstuhls anfühlte. Erst am nächsten Morgen fiel mir auf, daß ich so einen Stuhl überhaupt nicht besitze. Ich war im Halbschlaf, als das passierte, also bin ich mir, was diesen Zwischenfall betrifft, nicht ganz sicher. Aber ich kann ihn auch nicht einfach ignorieren.
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chtunddreißig Grad im Schatten, und ich sitze auf einer Bank gegenüber einem Billigschuhladen in der Sonne, esse eine Tüte Erdnüsse, schwitze ausgiebig und beobachte die Menge. Hier in diesem Teil der FultonStreet im Geschäftsviertel von Brooklyn sieht es aus wie auf Bildern von Nairobi oder Timbuktu, die ich im National Geographie gesehen habe: dieselben dunklen Menschenmassen und baufälligen Häuser und Frauen, die irgendwelche Bündel auf den Köpfen tragen. Auf dem Bürgersteig ausgebreitet liegt afrikanischer Trödelkram; direkt neben mir zum Beispiel Phiolen mit flüssigem Weihrauch, hölzerne Zebrafiguren und Bücher über Malcolm X, Tina Turner und die Frage, ob die ägyptischen Pharaonen Schwarze waren. Schließlich erspähe ich Chase am Ausgang der U-BahnHaltestelle Clark Street. Sie winkt mir zu und bleibt stehen, um die Auslage im Schaufenster des Billigladens zu mustern. «Die sind wirklich billiger», sagt sie, als ich sie erreicht habe. «Sieh mal, die da drüben.» Sie zeigt auf ein Paar schwarzer, klobiger Schuhe mit Plateausohlen und großen Chromschnallen, passable Imitationen teurer Modelle, die in den Modeboutiquen von Manhattan für Hunderte von Dollars verkauft werden. «Fünfundneunzig fünfundneunzig. Scheint ein Schnäppchen zu sein. Was meinst du?» «Mhm», sage ich. «Aber man kriegt immer das, wofür man bezahlt hat.» Diese Feststellung hätte meine Mutter mit Stolz erfüllt. Wir stehen noch etwa eine Minute länger dort und sehen 209
uns die Schuhe an. Chase trägt heute ein kurzes Sommerkleid und Birkenstock-Sandalen und dazu eine große italienische Sonnenbrille, sie sieht aus wie ein Käfer in einem Zeichentrickfilm, aber sie ist ausnahmsweise mal guter Laune. «Okay.» Sie schenkt mir ein schiefes Lächeln. «Bereit für die Welt der Geister?» Wir gehen um die Ecke zu Madame Adas Teestube an der Livingston Street. Der Laden liegt im ersten Stock über einem koreanischen Delikatessengeschäft, in dessen Schaufenster ein mit Plastikbuchstaben beklebtes Schild als Spezialitäten des Tages Rind Lo Mein, Bratwurst mit Sauerkraut und Lasagne anpreist. Der ölige Geruch dieser so grundverschiedenen Angebote verfolgt uns, bis wir Madame Adas Salon betreten. Dort herrscht ein machtvoller, ganz eigener Geruch: der Gestank von Katzen, Stuhlinkontinenz und Babypuder - ein Altweibergeruch. Ich lasse mich auf dem Sofa im Flur nieder und warte, während Chase durch den Vorhang nach hinten geht, um ihre Großtante zu holen. Einen Augenblick später höre ich erhobene Stimmen wie bei einer Auseinandersetzung, und es sieht so aus, als würde es noch eine Weile dauern, also betrete ich die Teestube, die in einem Stil eingerichtet ist, den man nur als Zigeunerkitsch bezeichnen kann: Die Wände sind bedeckt mit Brokatstoffen und gerahmten 3D-Bildern vom letzten Abendmahl und der Freiheitsstatue. Aus einem pagodenförmigen Käfig blinzelt mir ein gelber Papagei schläfrig entgegen. Ein Himmelsglobus aus schwarzem Lack ruht müßig auf seiner Achse, umringt von farbenprächtigen Darstellungen der Sternbilder. Und auf einem türkischen Tisch inmitten niedriger, teppichbedeckter Sofas liegt tatsächlich eine Kristallkugel. Eine unbeholfen gefertigte Gipsstatue der Muse Calliope 210
streckt ihre Brüste zu einer Seite hin vor. Von größerem Interesse ist da schon das Bücherregal, das überquillt von alten, dicken Wälzern über verschiedene esoterische Themen, von denen mir einige durch meine Forschungsarbeit, die ich in meinem wilden Abschlußjahr an der Loyola verfaßt habe, vertraut sind. Mit einem Anflug von Nostalgie erspähe ich eine Ausgabe von Flournoys Des Indes à la planète Mars, jenen Band, in dem Antoinette früher, in einem anderen Leben, ihre Liebesbriefchen hinterlegt hat. Dann sind da noch Charles Lintons The Healing of the Nations, J. Murray Spears Messages from the Spirit Land und seltene Ausgaben von Josef Glanvilles The Vanity of Dogmatizing und Sadducismus Triumphatus, in denen sich auch Glanvilles Bericht über die Seance findet, die im Jahre 1661 den berühmtberüchtigten trommelnden Tambourmajor auf den Plan rief. Ich bin überrascht festzustellen, daß es sich bei beiden Büchern um Originalausgaben aus dem 17. Jahrhundert handelt, die ein kleines Vermögen wert sind. Während ich sie mir näher anschaue, teilen sich die Vorhänge, und Chase rollt ihre Großtante in einem Rollstuhl in die Teestube. Madame Ada ist ein sehenswerter Anblick. Sie hat dieselben Hängebacken wie Winston Churchill und einen Kopf von der Größe eines Basketballs, aber vor allem ist sie eine sehr große Frau und wiegt - aufgeschwemmt von Jahren der Völlerei und Bewegungslosigkeit - bestimmt mehr als Molesworth. Die Frau ist kein Krüppel, das weiß ich von Chase, sondern einfach nur ein Mensch, der nicht gern seine Füße benutzt. Eine entsetzliche Sekunde lang stelle ich mir ihre Organe vor, ihr Herz, eingeschlossen von Fett wie ein Dosenschinken. Mit einiger Mühe schiebt Chase ihre Großtante an den Tisch. «Tantchen, das hier ist Ned», ruft sie und läßt sich dann 211
in einen mit Zierdeckchen bestückten Sessel auf der anderen Seite des Zimmers fallen. Die Frau im Rollstuhl schaut mich von oben bis unten an, mit Augen so schwarz und hart wie Murmeln. «Junger Mann, legen Sie die Bücher ganz vorsichtig wieder dorthin, wo Sie sie herhaben, und setzen Sie sich», sagt sie. Ihre Stimme dröhnt von irgendwo aus dem Fleischberg, der sie umgibt. Ich stelle den Glanville wieder in das Regal und setze mich vorsichtig auf die türkische Couch, die so niedrig ist, daß ich nun zu Madame Adas Knien emporschaue. Sie trägt das reich bestickte Hemd und das Umhängetuch ihres Stammes. In ihrem Haar prangt ein Diadem aus griechischen Münzen, die der Schweiß an ihrer Stirn festgeklebt hat. Die nächsten Minuten starrt sie mich schweigend an und heftet ihre schwarzen Augen mit einer Konzentration auf mich, die mir einen kalten Schauer über den Rücken jagt. Ich will etwas sagen, aber Madame Ada legt einen Finger auf ihre Lippen, und plötzlich ist da nichts mehr außer ihren Augen und einem seltsamen, katzenartigen Summen aus ihrer massigen Kehle. Dann klatscht sie plötzlich in die Hände. Es ist ein lautes, knallendes Geräusch, und ich falle fast vom Sofa. «Wissen Sie, wie lange Sie weg waren?» fragt sie. «Wie meinen Sie das?» frage ich zurück. «Zehn Minuten», sagt Chase von der anderen Seite des Zimmers. «Tantchen hat dich zehn Minuten lang in Trance gehalten. Du hast steif wie ein Brett und mit offenem Mund auf dieser Couch gesessen.» «Still, Mädchen!» sagt Madame Ada. Und an mich gewandt: «Sie haben es nicht gemerkt?» Ich schüttele verwirrt den Kopf, und Madame Ada zuckt mit den Schultern und wendet sich Chase zu. 212
«Es gibt nichts, was ich für deinen Freund tun könnte», sagt sie. «Die Schlingen um ihn herum sind zu fest gezogen.» «Einen Moment mal», sage ich. «Sie haben nichts getan. Sie haben bisher ja nicht mal etwas von dem Gespenst gehört.» «Wir benutzen das Wort Gespenst hier nicht», belehrt sie mich mit scharfer Stimme. «Das Wort Gespenst ist eine Beleidigung für die Seelen der Verstorbenen. Wir benutzen das Wort Geist oder Schemen oder Erscheinung oder, wenn Sie unbedingt wollen, Schatten oder Phantasma, aber niemals Gespenst. Auch die Worte Phantom und Wesen haben nicht unsere Billigung.» Ich runzele die Stirn und sage nichts. «Warum kannst du ihm nicht helfen, Tantchen?» erkundigt sich Chase von ihrem Stuhl aus. «Hören Sie mal, warum vergessen wir die ganze Sache nicht einfach?» Ärgerlich stehe ich auf, um zu gehen. «Setzen Sie sich!» Madame Ada visiert mich mit ihren schwarzen Augen wie ein Kanonier sein Geschütz. Ich setze mich. «Ich brauche nichts von dem Geist in ihrer Wohnung zu hören, denn ich kann den Geist sehen. Genau hier.» Sie zeigt mit einem knotigen, von Arthritis verbogenen Finger auf meinen Kopf. «Wo?» frage ich. «Dort, in Ihrer Aura.» «Sie meinen, jetzt im Augenblick?» «Ja. Sie ist immer bei Ihnen. Nicht nur in Ihrer Wohnung, sondern überall, wo Sie hingehen. Und sie ist schon seit einigen Jahren bei Ihnen. Und wartet.» «Sie?» Mir bricht der Schweiß aus. «Hat Chase Ihnen 213
von dem… ähm… Geist erzählt?» Die alte Frau schüttelt den Kopf. «Chase hat mir nichts erzählt, nur, daß Sie Schwierigkeiten mit der anderen Seite hätten.» Chase beugt sich auf ihrem Stuhl vor. Jetzt sehe ich, daß ihre Augen genauso wie die ihrer Großtante sind, nur matter und viel weniger machtvoll. «Sie sind sich also dessen bewußt, daß es sich um den Geist einer Frau handelt?» fragt Madame Ada. «Sie haben sie gesehen. Habe ich recht?» «Vielleicht», sage ich ausweichend. «Lassen Sie mich Ihnen noch etwas sagen. Es liegt in Ihrer Familie. Ihre Leute sehen oft die Toten. Sie tragen dieses Zeichen. Ein bestimmter melancholischer Ton am Außenrand Ihrer Penumbra. Eine Traurigkeit, die es Ihnen ermöglicht, sich ein kleines Stück weit in die Düsternis hineinzutasten. Habe ich recht?» «Meine Mutter», murmele ich. «Sie war etwas unheimlich. Sie hatte diese Migräneanfälle; sie sah Farben, hörte Dinge…» «Und?» «Einmal, als ich noch ein Kind war, sagte sie, unsere Katze, Miss Kitty, habe an der Küchentür gekratzt, damit man sie füttere. Sie hat die Katze gefüttert, und das Tier verschwand wieder. Nur - ich hatte selbst gesehen, wie Miss Kitty zwei Wochen zuvor von einem Auto überfahren worden war.» «Natürlich. Ihre Mutter. Und Sie haben Ihre eigene spirituelle Wahrnehmungsgabe immer wieder geleugnet, stimmt’s?» «Ich weiß nicht», sage ich, und meine Stimme ist das reinste Krächzen. 214
«Also haben Sie etwas gespürt, als Sie in die Wohnung eingezogen sind?» «Nicht wirklich.» Ich senke meinen Blick. Ich kann der alten Frau kaum in die Augen sehen. «Ein Wispern vielleicht.» «Ein Wispern!» Sie schüttelt angewidert ihren gewaltigen Kopf. «Wenn Sie Ihre Gabe kultiviert hätten, wären Sie erst gar nicht in die Wohnung eingezogen. Sie hätten die Erscheinung dort gespürt und sich etwas anderes gesucht.» «Chase hat die Wohnung gefunden», sage ich lahm. «Sie meinte, sie würde zu mir passen…» Madame Ada macht eine ungeduldige Handbewegung. «Und vielleicht tut sie das auch. Vielleicht ist Ihr eigenes Schicksal mit der Rastlosigkeit dieses weiblichen Geistes verknüpft.» «Wer ist sie?» Madame Ada rollt ihren Stuhl zu mir herüber, krallt ihre Hände schmerzhaft in mein Knie und schließt die Augen. Ich spüre, wie ein leises, kribbelndes Gefühl ihren Fingern entsteigt. Ihre Unterlippe beginnt zu zittern, und schließlich spricht sie mit tiefer Stimme. «Ich sehe ein weißes Kleid. Eine Frau in einem weißen Kleid», sagt sie. «Nicht von hier. Von weit weg, von einem wärmeren Ort. Stolz und arrogant. Beherrscht von furchtbaren Leidenschaften. Rache. Sie hat teuer bezahlt für ihre Taten. Sie zahlt immer noch. Sie braucht Ihre Hilfe, um Ruhe zu finden. Ihre Cousine…» Dann läßt sie mich los, und ihre Augen öffnen sich flackernd. «So, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.» «Bitte, wie werde ich sie wieder los?» frage ich verzweifelt. «Wollen Sie mir sagen, daß es nicht an der Wohnung liegt, sondern an mir? Was ist, wenn ich nach 215
Alaska ziehe? Wird der Geist mir dorthin folgen?» «Selbst bis ans Ende der Welt», erwidert Madame Ada mit grimmiger Befriedigung. «Aber warum?» Ich schreie fast. «Der Geist hat lange Zeit auf Sie gewartet. Jetzt wird er nicht wieder weggehen, bevor er hat, was er will. Sie stehen im Mittelpunkt eines komplizierten Gewebes aus Zufällen. Viele Entscheidungen in Ihrem Leben haben Sie zu dem Geist geführt und den Geist zu Ihnen. Sie haben einander unter einer Billion Seelen gefunden.» Mir wird übel. Der Gestank dieser Wohnung ist überwältigend. Es scheint alles so irreal, so lächerlich, aber mein Herz weiß, daß Madame Ada die Wahrheit sagt. «Ich muß ihn loswerden», stoße ich schließlich schwach hervor. «Bitte.» Die alte Frau schüttelt ihren riesigen Kopf. «Die Erscheinung muß so weit ins Licht gelockt werden, daß Sie sie klar und deutlich sehen können. Nur dann wird sie Ihnen Ihre Fragen beantworten, Ihnen erzählen, wer sie ist, was sie von Ihnen will. Sie brauchen eine Séance. Ich bin zu alt für solche Sachen. Sie brauchen ein gutes Medium. Ich könnte Ihnen vielleicht eine Empfehlung geben.» Der gelbe Papagei verlagert sein Gewicht auf der Stange und kreischt; es ist das erste Geräusch, das er seit meinem Eintreten von sich gibt. Bevor ich noch eine andere Frage stellen kann, steht Chase auch schon hinter dem Rollstuhl und legt ihre Hände auf die gewaltigen Schultern der alten Frau. «Ich mache das», sagt sie ruhig. Madame Ada fährt zu ihr herum, und die Münzen an ihrer Stirn klimpern. «Das wirst du nicht», sagt sie und scheint keinen Raum 216
für irgendwelche Einwände zu lassen, aber Chase gibt nicht nach. «Du hast mir einmal gesagt, ich hätte eine Begabung für die Toten, Tantchen», sagt sie. «Du hast mir gesagt, sie würden mit mir sprechen, wenn ich es versuchte. Ich habe es niemals wirklich versucht. Sieh mir jetzt ins Gesicht. Ich bin bereits halb dort.» Die alte Frau mustert ihre Großnichte einen Augenblick und greift dann nach ihrer Hand. Nach einer Weile läßt sie sie wieder los, und ihre Schultern sacken traurig nach unten. «Ja, ich sehe», murmelt Madame Ada, und der Vogel im Käfig kreischt abermals, wie um ihr beizupflichten. «Also gut, Ned», sagt Chase dann zu mir. «Du kannst jetzt verschwinden. Tantchen und ich müssen ein wenig fachsimpeln.» Mir fehlen die Worte. Chase bringt ein Opfer, das ich nicht verstehe. «Bist du dir auch ganz sicher, Chase?» frage ich sie. Sie lächelt. «Madame Ada, ist das gefährlich?» Die alte Frau zuckt mit den Schultern. Als ich die Tür erreiche, ruft sie mich zurück. «Sie haben etwas vergessen, junger Mann», sagt sie. Ich sehe sie ratlos an. «Mein Honorar. Ich ’bin eine Beraterin für Parapsychologie. Meine Dienste sind nicht kostenlos. Sie schulden mir zweihundertfünfzig Dollar.» Mit diesen Worten streckt sie mir eine fette Kralle hin. «Das ist weniger, als die meisten Anwälte berechnen», meint Chase. Ich habe keine Wahl. Also gehe ich hinaus in die 217
Äquatorhitze des Nachmittags und stelle mich in die Schlange vor dem Geldautomat der Chemical Bank auf der Flatbush Street. Es ist Rushhour; millimeterweise kriechen die Autos vorbei, mit überkochenden Kühlern, auf dem Weg zu den Vororten auf der dem Meer zugewandten Seite von Long Island. Der beißende Gestank von Frostschutzmitteln und verbrannten Bremsbelägen füllt meine Lungen. Auf dem Rückweg blinzele ich durch meine Sonnenbrille in den Nachmittagsdunst, bis meine Augen schmerzen. Das Licht am Himmel ist so heiß, daß ich nicht denken kann.
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er Tag, an dem die Seance stattfinden soll, beginnt mit einem blaßblauen, strahlenden Morgen, mit weißen Schäfchenwolken, die hoch über Manhattan hängen, traumartig wie im Lande Oz, und die Sonne scheint fröhlich von den Zwillingsmonolithen des World Trade Center. Mir wäre ein grauer Himmel und Regen lieber, aber das Wetter tut mir nicht den Gefallen, mir mit solcher Theatralik zu dienen. Es ist ein schöner Tag für den Strand, mit vernünftiger Luftfeuchtigkeit und Temperaturen um die zweiunddreißig, dreiunddreißig Grad, und ich höre im Radio, daß die Straßen zur Küste von Jersey gerammelt voll mit Autos sind und daß es in der Long Island Railroad Richtung Hamptons nur noch Stehplätze gibt. Ich verbringe den Tag damit, die Wohnung zu putzen, die dergleichen seit Molesworths Verschwinden nicht mehr erlebt hat. Etwa gegen vier Uhr gehe ich nach Brooklyn Heights und kaufe eine Flasche Wein und zwei Zwölferpacks Genesee Cream Ale, die im Key Food an der Montague Street verkauft werden. Eine Seance ist eine ernste Angelegenheit, ich weiß, aber ich fühle mich mehr nach einer Party. Eine Seance, hat Chase mich gewarnt, müsse man nüchtern und mit leerem Magen angehen wie die heilige Kommunion während des Gottesdienstes. Ich widerstehe der Versuchung, Brötchen und Würstchen zum Grillen zu kaufen. Um sechs Uhr klingelt Chase an der Tür und kommt nach oben. Sie hat einen Koffer voller Krimskrams bei sich und trägt Zigeunerstaat - besticktes Hemd, Schultertuch, Kopfschmuck aus Silbermünzen. Sie sieht 219
lächerlich aus in dieser Aufmachung, aber ihre Augen sind klar, und sie wirkt erholt. Ich habe schon ein paar Bier gekippt und gebe ihr zwei Küsse auf die Wange, vielleicht ein bißchen zu enthusiastisch. Sie macht einen Schritt zurück und schnuppert mißbilligend. «Du hast getrunken», sagt sie. Ich zucke mit den Schultern. Sie setzt ihren Koffer ab und sieht sich in der Wohnung um. «Und du hast geputzt.» Ihr Ton klingt säuerlich. «Ich dachte, da ich Leute hier zu Besuch habe…» «Es ist nicht gut, wenn man putzt. Besser, alles so zu lassen, wie es während des Spuks war.» Sie tritt ans Fenster und starrt hinüber zum Elektrizitätswerk. Die steile Backsteinmauer erstreckt sich über etwa dreißig Stockwerke. Hoch oben in der Fassade ist eine Öffnung von der Größe einer Garagentür, wo man zu den seltsamsten Stunden in der Nacht Arbeiter herumlaufen sehen kann, so klein wie Ameisen. «Ich werde dir das alles nur ein einziges Mal erklären», sagt sie zum Fenster hin gewandt. «Das hier ist kein Spiel; keine Party; wir haben es hier mit einer sehr ernsten Angelegenheit zu tun, mit dem Leben und Tod und dem Elend von Seelen, die in der körperlichen Welt gefangen sind, nicht fähig, sich zur nächsten hinüberzubewegen. Deine Wohnung ist von einem Wesen besessen, das sich dir angeschlossen hat. Wenn wir heute abend keine Séance hätten, würde ich das Apartment unter psychische Quarantäne stellen, das heißt keiner darf rein, keiner darf raus bis auf dich, denn für dich ist es zu spät. Ich will keine Witze über Gespenster hören, und ich will keine Besoffenen. Ich habe während der letzten beiden Wochen hart mit Tantchen gearbeitet. Ich habe nicht geschlafen und nicht gegessen. Ich habe meditiert und mich auf diese 220
Sache vorbereitet, die mein Schicksal ist.» Als sie sich zu mir umdreht, ist ihr Gesicht schneeweiß, und in ihren Augen liegt ein seltsamer, abgespannter Ausdruck. Ich nicke verlegen, aber ich weiß, daß es mir unmöglich ist, diese Sache nüchtern über mich ergehen zu lassen. Als sie nicht hinsieht, hole ich mir schnell noch ein Bier aus dem Kühlschrank, das ich in eine Kaffeetasse gieße. «Kaffee?» frage ich sie und schwenke den Becher, aber sie schüttelt ärgerlich den Kopf und macht sich an eine gründliche Inspektion der Wohnung. Sie klopft an Wände, öffnet Türen, hockt sich zuerst an einer Stelle auf den Boden, dann an einer anderen. Sie geht in mein Schlafzimmer, schlägt meine Bettdecke zurück, geht ins Bad, stellt sich in die Duschkabine und legt ihre Hände an die Fliesen. «Dich wundert vielleicht, was ich hier tue», sagt sie aus dem Badezimmer. «Aber denk nur an die Fox-Schwestern. Man muß sehr vorsichtig sein.» «Hm?» sage ich und nutze die Gelegenheit, um meinen Becher noch einmal mit Bier zu füllen. «Die Fox-Schwestern waren amerikanische Spiritisten aus dem nördlichen Teil des Staates New York, die in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts mit diesem ganzen Spiritualistenkram angefangen haben. Das solltest du eigentlich wissen, du bist doch der Historiker. Die Klopfgeräusche, die jeder bei ihren Séancen hörte, schienen aus dem Nichts zu kommen, echte Geisterstimmen. Aber dann fand irgend jemand heraus, daß die jüngste Schwester die Geräusche produzieren konnte, indem sie sich das Knie verrenkte und es dann wieder zurückspringen ließ. Sie hatten noch eine Reihe anderer Tricks auf Lager. Wachshände, Geheimfächer im 221
Fußboden. Ich möchte lediglich sicherstellen, daß du nichts Derartiges versuchst, daß wir es hier mit einem echten Fall zu tun haben.» «Also weißt du, Chase», protestiere ich, aber ich lasse sie mit ihrer Inspektion weitermachen. Zum Schluß geht sie auch in Molesworths altes Zimmer, wo sie sich ein paar Minuten lang aufhält, bevor sie, ein wenig rot im Gesicht, wieder herauskommt. «Es ist eindeutig dort drin», sagt sie. «Das ist der Ort, an dem die Erscheinung am stärksten ist. Dort werden wir die Seance abhalten.» «Verdammt!» sage ich. «Molesworth war ein absolutes Schwein. Der Gestank! Der Mann hat seine Kleider nur alle sechs Monate gewaschen. Dieser Geist muß einen ziemlich guten Magen haben, wenn er es da drinnen aushält.» «Du mußt ein paar von den Dingern da wegrücken.» Sie zeigt auf ein paar Kisten mit Müll, die Molesworth zurückgelassen hat. Ich schiebe die Kisten hinaus auf den Flur und ziehe den fadenscheinigen Teppich aus dem Wohnzimmer herein, weil wir auf dem Boden sitzen werden. Chase läuft weiter ruhelos auf und ab, und jetzt fällt mir auf, daß ihr Gang ein leichtes Schlingern aufweist und daß sie vorzugsweise das linke Bein benutzt. «Stimmt etwas nicht mit deinem Bein, Chase?» frage ich sie schließlich. Sie hört auf, hin und her zu laufen, und läßt sich schwer auf die Gasheizung fallen. «Nein», sagt sie. «Es ist meine Hüfte. Tut weh.» «Wieso?» Sie zögert und wendet den Blick ab. Als sie zu sprechen 222
beginnt, sieht sie mich nicht an. «Es ist ein Teil meiner Krankheit», sagt sie ruhig. «Es ist nicht nur mein Gesicht, weißt du. Es ist auch der Rest von mir. Eine Knochensache.» «Schlimm?» «Wir haben noch viel zu erledigen. Ich möchte jetzt nicht darüber reden.» Ich respektiere ihren Wunsch. Chase schleppt ihren Koffer in Molesworths Zimmer und schließt die Tür. Eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit taucht sie wieder auf und holt mich herein. An den Wänden hängen jetzt purpurne Seidenbanner, bestickt mit Sternen und Monden und Symbolen, die wie Hieroglyphen aussehen. Ich frage sie, was diese Zeichen zu bedeuten haben. «Nichts Besonderes», winkt Chase ab. «Sie dienen nur dazu, die richtige Stimmung zu schaffen. Die richtige Stimmung ist sehr wichtig.» Auf dem Teppich hat sie in einem weiten Kreis weiße Kerzen aufgestellt. In der Mitte dieses Kreises liegt ein flaches Holzbrett auf einer Art Drehständer mit einem System aus Zahnrädern und Gewichten, die von der Unterseite herabhängen. Ein dicker Stoß Schreibpapier ist an dem alten Holz befestigt. Aus einem Messingständer ragen mehrere Fettstifte heraus. «Weißt du, was das ist?» Chase zeigt mit offensichtlichem Stolz auf das Brett. «Nein», sage ich, obwohl ich es sofort erkenne. «Es ist eine Planchette», sagt Chase. «Echtes 19. Jahrhundert, wird zum automatischen Schreiben benutzt. Sie gehörte früher einmal dem berühmten neapolitanischen Medium Eusapia Palladino. Tantchen 223
sagt, ich hätte nicht genug Erfahrung, um den Geist durch mich sprechen zu lassen, und daß dies das beste sei. Mit Hilfe der Planchette wird der Geist mir die Hand führen und uns geschriebene Nachrichten von der anderen Seite schicken. Nur zu, sieh es dir an.» Ich trete vorsichtig in den Kreis aus Kerzen hinein und presse einen Daumen auf das blankpolierte Holz. Schon bei leichtem Druck schwingt das Brett in kreiselnden Bewegungen auf und ab und von einer Seite zur anderen. Draußen sieht man jetzt die quadratischen, erleuchteten Fenster der Sozialbauten und das schwache Glühen des Lichtes im basaltfarbenen Himmel. Von der Planchette kommt das gedämpfte Sirren von Zahnrädern, das Arbeitsgeräusch einer finsteren und altertümlichen Maschine.
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ie Séance ist auf Mitternacht angesetzt. Um halb zwölf sind von den dreizehn eingeladenen Teilnehmern erst fünf aufgetaucht. Rust ist gekommen und Todd und Mary, die Vegetarier, außerdem Ian, der Ire aus dem Kellergeschoß, der ein grelles, blaugelbes Hawaiihemd trägt, und Geoff, dessen Hunde im Garten angekettet sind und den Wind beschnuppern. Von Chase’ Bohemefreunden, unzuverlässig wie immer, hat sich keiner die Mühe gemacht aufzukreuzen. Inzwischen hat die Versammlung einen deutlichen Partycharakter angenommen. Aus dem Radio dröhnt flotte Fiedelmusik, danach Banjomusik und Gejodel. «Gespensterstunde in der Grand Ole Opry», sagt Rust, und alle lachen. Als kein Bier mehr da ist, holt Ian eine Flasche Whisky aus dem Keller. Wir lassen sie kreisen, während Chase mit verschränkten Armen schweigend auf der Couch vor sich hin zürnt. Geoff, der nervös neben mir hockt, sein frühzeitig weiß gewordenes Haar zeigt zur Decke, setzt die Flasche an und prustet. «Iiih!» sagt er. «Das kriege ich wirklich nicht so runter. Hast du zufällig irgendwas wie Mountain Dew, Ned?» Der Ire ist schockiert. «Das ist ein guter Single Malt», sagt er und greift nach der Flasche. «Mild wie Kuhmilch!» Er nimmt einen Schluck und bietet Rust die Flasche an, der in dem orangefarbenen Naugahyde-Sessel sitzt. Rust schüttelt den Kopf und zeigt grinsend auf Todd und Mary, die in Guatemala-Ponchos und Riemensandalen zu seinen Füßen 225
hocken. «Ich glaube, ich gönne mir heute abend ’ne Prise Hasch», sagt er. «Passend zur Gelegenheit.» Ich gehe ein Stück auf ihn zu und sehe, daß die Vegetarier sich einen Riesenjoint zurechtmachen, und schon bald erfüllt der bekannte Duft das Wohnzimmer. Nachdem Todd und Mary ihre Portion geraucht haben, inhaliert Rust. Dann gesellt sich der Ire zu ihnen auf den Boden; seine Whiskyflasche bleibt einsam auf dem Kaminsims zurück. Ein Zug genügt, und schon beginnt er zu philosophieren. «Wißt ihr, ich leugne gar nicht die Existenz von Geistern und dergleichen», sagt er, während er sich hin und her wiegt. Seine haschischgeröteten Augen bilden einen starken Kontrast zu dem Blau und Gelb seines Hawaiihemdes. «Ganz im Gegenteil. Vor einigen Jahren, in County Clare, wurde meine Großmutter einmal von einem Fer Darrig verfolgt, einem Moorgeist - das heißt, es handelte sich um den Geist eines Mannes, der im Moor ertrunken und dem der Trost eines Begräbnisses in geweihter Erde versagt geblieben war. Das verdammte Ding hat den Schiefer von den Dächern gerissen und jede Menge Tassen und Teller zerdeppert. Hat die alte Frau fast zu Tode geängstigt. Aber ich verstehe die Gründe nicht ganz. Warum zum Teufel sollte irgend jemand aus dem Jenseits kommen, um auf Holz zu klopfen und Geräusche zu machen und Porzellan zu zerdeppern und solche Dinge? Haben die denn dort nicht genug eigenes Geschirr?» Gute Frage. Wir sehen Chase an, die angewidert den Kopf schüttelt und vor sich hin murmelnd in der Küche verschwindet. Genau in diesem Augenblick hört man von den Sozialbauten her Schüsse aus automatischen Waffen, eine Minute später dann die Sirenen, die die Knox 226
herunterjagen. Im Garten fangen Geoffs Hunde an zu jaulen. «Man muß diese Stadt einfach lieben», sagt der Ire. «Alle zehn Sekunden wird irgendein armer Bastard ermordet.» Um Viertel vor zwölf schickt Chase uns hinüber in Molesworths Zimmer, und wir nehmen in einem Kreis um sie herum unsere Plätze auf dem Teppich ein. Sie möchte, daß wir vor der Séance ein paar Minuten in schweigender Meditation verharren. «Denkt an jemanden, den ihr liebt und der jetzt tot ist», sagt sie, als wir unsere Augen schließen. «Denkt an kalte Nächte im Grab. Denkt an das Werk der Würmer. Denkt an alte Knochen, die so lange in der Erde gelegen haben, daß sie zu Staub zerfallen. Denkt an die verstümmelten Leichen von Kindern, die in Wäldern verrotten. Denk…» «Meine Güte, Chase.» Ich unterbreche sie. «Mußt du denn unbedingt so schauerlich werden?» «Klappe», sagt Chase und will gerade fortfahren, aber da ertönt der Summer, und ich gehe an die Tür und bringe Inge und Jillian zur Séance herein. «Tut mir leid, daß wir zu spät kommen», sagt Jillian, als sie ins Zimmer treten, nach Zigaretten und der Außenwelt riechend. «Wir waren im Pyramid und haben alles Zeitgefühl verloren.» «Jaha», sagt Inge. «Das war vielleicht eine Schau heute abend. Prima Transvestitenshow. Die Lady Bunny war da, und Rupaul sollte eigentlich auch kommen, ist aber nicht aufgetaucht.» «Nein, wie schade aber auch», sage ich und will gerade einen Witz über Rupaul reißen, einen hochgewachsenen, homosexuellen Schwarzen, dessen einzige Fähigkeit darin besteht, hohe Absätze und eine Perücke zu tragen, und das 227
ungefähr mit der Eleganz eines Bauerntrampels. Aber Chase sieht mich aus schmalen Augen an. Als sich alle gesetzt haben, läßt sie den Kopf sinken, breitet die Hände aus und kniet einige Minuten lang vor der Planchette. Ich nutze die Gelegenheit, um Jillian zu betrachten. Sie sieht besser aus heute abend, trägt ein hauchdünnes blaues Kleid und lange, baumelnde Ohrringe, und mir scheint, als hätte sie etwas zugenommen. Ihre Wangen haben ein wenig von ihrer verlorenen Jugendfrische zurückgewonnen, ihre Brüste formen sich unter dem Stoff zu einer einzigen geschmeidigen Wölbung. «Hast du in letzter Zeit was gegessen, Jillian?» frage ich. Jillian ignoriert mich, aber Inge kann ihr einfaches Naturell nicht verleugnen. «Essen ist nicht so gut», sagt sie. «Ich habe sie dazu gebracht, Bier zu trinken. Gutes deutsches Bier. Macht stark. Da kriegt man Fleisch auf die Knochen.» «Ja», sage ich. «Geht doch nichts über Bier, um aus Leuten Menschen zu machen.» Jillian funkelt mich wütend an und will gerade etwas erwidern, als Chase plötzlich einen fürchterlichen Schrei ausstößt. Alle schauen entsetzt in ihre Richtung. «Gut», sagt Chase. «Jetzt habe ich endlich eure Aufmerksamkeit.» Und sie macht sich daran, die Anwesenden weiter mit dem zu bedrängen, was sie spirituelle Übungen nennt. Jeder von uns soll das Allertraurigste erzählen, was ihm gerade in den Sinn kommt. Das wird der Stimmung zugute kommen und uns an den Tod denken lassen, was seinerseits dabei helfen wird, den Geist zu rufen. Chase fängt mit Rust an, der zu ihrer Linken sitzt. «Das Trinity-Massaker», sagt Rust. «Das war ein Streik. Die Leute haben gegen die unmenschlichen Bedingungen 228
in den Kupferminen von Trinity in Colorado protestiert. Es war so um 1917 herum. Hundertsiebzig Männer, Frauen und Kinder, niedergeschossen von Bundestruppen im Einvernehmen mit der Regierung der Vereinigten Staaten. Sie haben meine Großmutter getötet, ihr direkt in den Kopf geschossen. Sie war eine schöne junge Frau, neunzehn Jahre alt, mit zwei Kindern. Keiner erinnert sich daran. Aber ich erinnere mich. Ich schreibe ein Buch darüber. Arbeite schon seit fünf Jahren daran.» Ich bin überrascht, die Natur von Rusts rätselhaftem Projekt solchermaßen enthüllt zu finden, aber mir bleibt keine Zeit, etwas zu erwidern, denn Chase zeigt nun mit ihrem weißen Finger auf Ian, der mit traurigen Augen aufblickt. «Meine Mutter», sagt der Ire. «Ich habe ihr nie Lebewohl sagen können. Sie starb zwei Wochen, nachdem ich nach Amerika gegangen bin.» «Der Regenwald in Brasilien», sagt Todd als nächster. «Millionen von Arten verschwinden jeden Tag, damit die Leute das Fleisch für die Hamburger von McDonalds zusammenkriegen. Wir essen den Regenwald als Big Macs und Viertelpfünder mit Käse. Es ist eine Tragödie.» «Ja, Fleisch ist Mord», ergänzt Mary. «Und das ist mein großer Kummer.» «Nein, Mord ist Mord», sagt Geoff mit angespannter Stimme. «Wirklich traurig ist die Tatsache, daß wir in New York nicht auf die Straße gehen können, ohne Angst haben zu müssen, von irgendeinem Gangster erschossen zu werden. Ich liebe diese Stadt, es ist die großartigste Stadt der Welt, und sie ängstigt mich jeden Morgen, wenn ich das Haus verlasse, halb zu Tode. Das ist furchtbar traurig.» «Ich habe nichts Trauriges zu sagen», sagt Inge. «Ich bin 229
ein glücklicher Zeitgenosse», aber ihre Unterlippe zittert. «Ich werde euch was Trauriges erzählen», sagt Jillian. «Als ich zehn Jahre alt war, am Strand von Block Island, hat mein Vater mich vergewaltigt. Ich trug einen roten Badeanzug mit gelben Enten drauf. Er hat ihn mir vom Leib gerissen und mich in der Umkleidekabine vergewaltigt. Meine Mutter fand den Badeanzug und die Blutflecken, und sie muß gewußt haben, was passiert ist, aber sie hat niemals etwas gesagt. Kein Wort, niemals.» Nach dieser Offenbarung folgt eine verlegene Pause, aber Chase scheucht uns weiter. «Jetzt du», befiehlt sie. «Ich weiß nicht», sage ich. In meiner Kehle ist so ein komisches Gefühl. «Der Holocaust, schätze ich. Denkt nur an die vielen Juden. Sechs Millionen, heißt es. Ermordet und in Öfen gestopft.» «Mein Vater war in der SS», sagt Inge neben mir so leise, daß man sie kaum hören kann. «Er gehörte zu einer Einheit, die für viele Kriegsverbrechen verantwortlich war. Ich hab’s ganz zufällig rausgefunden. Ich habe immer gedacht, er sei ein so guter Mensch…» «Ja», sagt Chase zu mir. «Der Holocaust ist schrecklich und traurig, aber er ist nicht das, was dich traurig macht. Du mußt hier ehrlich sein, Ned. Diese ganze Sache findet nur für dich statt.» «Na schön», sage ich und komme mir ein wenig töricht vor. «Antoinette Rivaudais, ein Mädchen, das ich vor langer Zeit in New Orleans kannte. Das ist traurig. Ich liebe sie immer noch. Ich denke jeden Tag an sie. Es ist so, als würde mein Leben dort unten ohne mich fortgeführt. Ich gehe neben ihr dieselben Straßen hinunter, steige die Treppe zu ihrer Wohnung im Faubourg Marigny hinauf wie ein Geist, Gott, wie ich sie vermisse.» «Also», sagt Chase beinahe selbstgefällig, «jetzt kommt 230
etwas wirklich Trauriges: Die Ärzte im St.-VincentKrankenhaus haben mir vor zehn Tagen eröffnet, daß mein Zustand sich verschlimmert hat. Ich wurde mit einer degenerativen Knochenkrankheit geboren. Fängt an mit deinem Gesicht und erstreckt sich dann auf die anderen Gliedmaßen, bis es schließlich das Rückgrat erreicht, das irgendwann so steif wird wie ein Besenstiel. In ein paar Jahren und nach unerträglichen Schmerzen werde ich tot sein.» Ich bin so erschrocken, daß ich nichts zu sagen weiß. Chase und sterben? Das scheint unmöglich. Trotz ihrer Depressionen und ihrer Krankheit erscheint sie mir einfach zu stur dafür. «Mein Gott», sagt der Ire, «ist das wirklich wahr?» «Diese Krankheit ist ein echter Hammer», sagt Mary. «Du machst Witze, stimmt’s, Chase?» sagt Jillian mit besorgten Augen. «Bitte», erwidert Chase, «ich möchte eigentlich nicht darüber reden.» «Über so etwas kannst du nicht einfach hinweggehen», protestiert Jillian. «Wir machen hier eine Séance», sagt Chase, «weil ich herausfinden möchte, wie es ist.» «Wie was ist?» frage ich. «Wie es ist, tot zu sein», sagt Chase. Dann zündet sie die Kerzen an und knipst die Deckenlampe aus, und der Raum ist plötzlich mit flackernden Schatten erfüllt. «Gebt euch die Hände», sagt sie. Auf der einen Seite nehme ich Inges Hand, die warm und klebrig ist, auf der anderen Seite die von Rust, schwielig und hart wie an der Sonne getrockneter Schlamm. «Es ist ein Geist hier in diesem Zimmer», sagt Chase, 231
und ihre Stimme klingt schrill und fremd. «Ein ruheloser Geist. Schließt eure Augen und schaut in die Dunkelheit.» Ich schaue in die Dunkelheit und sehe das Flackern der Kerzen vor meiner Netzhaut, dann überhaupt nichts mehr, und es entsteht ein langes Schweigen; das einzige Geräusch ist das Knistern des Elektrizitätswerks auf der anderen Straßenseite und das kaum wahrnehmbare Atmen von neun Menschen. Endlich hört man ein ersticktes, hustendes Geräusch, und ich öffne die Augen. Alle starren Chase an. Sie scheint eindeutig von irgend etwas besessen zu sein, wiegt sich mit hastigen, ruckartigen Bewegungen vor und zurück, und ihre Hände liegen wie Klauen auf ihren Knien. Ihre Augen sind geschlossen, aber man kann sehen, daß ihre Augäpfel unter den Lidern, die so dünn wie Papier scheinen, sich bewegen. Ihr Mund zuckt und versucht Worte zu formen, aber vergebens. Wir sind wie versteinert. Dann bewegt sich Chase schneller, schüttelt sich wie eine Stoffpuppe in den Händen eines wütenden Kindes. Aus der Küche kommt jetzt das schwache Klappern von Töpfen, und im Wohnzimmer beginnen die Möbel zu knarren. «Wow», flüstert Mary. «Wow», flüstert Todd. «Was ist da los?» fragt Geoff mit furchterfüllter Stimme. «Der Geist», sagt Inge. «Er hat sie in seiner Macht.» Ich bin an diese Erscheinungen gewöhnt, aber alle anderen im Raum sind starr und wie gelähmt vor Schreck. «Wir sollten dieser Sache ein Ende machen», sagt Jillian, «bevor es zu spät ist, bevor Chase irgend etwas passiert.» «Nein», widerspricht ihr Rust. «Laßt sie die Sache durchziehen, laßt den Geist sagen, was er zu sagen hat.» 232
Plötzlich flackern die Kerzen auf, so hell, als hätte jemand das Gas angestellt, und das Schreibpapier auf der Planchette wird wie von unsichtbarer Hand hin und her geschoben und zerknüllt. Einer der Fettstifte fliegt aus seinem Messingständer in Chase’ Hand. Ihre Lider öffnen sich flackernd, um eine blanke, weiße Fläche zu zeigen. Dann schließen sie sich zitternd wieder, und sie beugt sich über die Planchette, um wie rasend zu schreiben. Zuerst ist es nur ein Gekritzel, Seite um Seite davon, dann entstehen Buchstaben und Worte, alles zu schnell, um es lesen zu können, während die Seiten sich mit rasender Geschwindigkeit umdrehen. «Stell deine Fragen, Ned», schreit mir Rust von der gegenüberliegenden Seite des Kreises zu. «Das ist deine Chance!» Einen Augenblick lang spüre ich einen gewaltigen Druck auf den Schläfen, und ich kann nicht denken. «Warum bist du hier?» rufe ich schließlich. «Wie heißt du? Warum gehst du nicht einfach weg? Du bist tot, laß mich in Ruhe! Verschwinde!» Das ist alles, was ich zu sagen habe, aber Chase schreibt immer weiter, und wir können sehen, daß diese Arbeit eine furchtbare Anstrengung für sie bedeutet. Sie ist jetzt in Schweiß gebadet, und ihr Atem kommt stoßweise. Sie ähnelt einem Langstreckenläufer kurz vor dem Ziel. Jeden Augenblick, so scheint es, kann sie zusammenbrechen. Wir beobachten sie noch ein Weilchen länger, wissen nicht, was wir tun sollen. «Irgend jemand muß der Sache ein Ende machen», sagt Jillian. «Es wird sie umbringen!» Chase’ Augen öffnen sich abermals, und wir sehen wieder nur das Weiße darin. Inge stößt daraufhin einen kleinen Schrei aus und wird ohnmächtig, ihre plumpe Hand entgleitet der meinen. Einen Augenblick später ist das Papier auf der Planchette verbraucht, aber Chase kritzelt immer weiter, ein 233
schwarzes, fettiges Gekrakel auf dem alten Holz. «Hör auf damit!» schreit Jillian. «Hör auf!» Rust und ich sehen uns an, dann stürzen wir beide vor. Er packt Chase um die Schultern, ich greife nach ihrem Arm, der nun verzweifelt in die Luft schreibt, und versuche, ihr den Fettstift zu entwinden. Aber ihr Griff ist kräftig, und der Stift zerbricht in meiner Hand. Plötzlich reißt sie den Kopf zu mir herum, und mit einem Gesicht, das irgendwie nicht ihr eigenes ist, zischt sie mir ein paar schnelle Worte zu, die ich nicht verstehen kann; sie scheint französisch zu sprechen. «C’est vous!» ist alles, was ich mitbekomme. Erschrocken lasse ich ihren Arm los und pralle zurück, und in diesem Augenblick fährt ein starker, unsichtbarer Wind durch das geschlossene Zimmer und bauscht die purpurnen Banner auf wie Segel. Die Kerzen verlöschen, und in der darauffolgenden Dunkelheit bricht Panik aus. Aus dem Wohnzimmer höre ich ein unirdisches Stampfen, für das keiner von uns verantwortlich ist. Dann fliegt die Tür auf, und während die anderen aus dem Zimmer stürzen, sehe ich im Halblicht Chase, die noch immer reglos und bleich wie der Tod in Rusts Armen liegt. Die Séance ist vorbei.
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rst drei Tage später komme ich dazu, in Molesworths Zimmer zu gehen und aufzuräumen. Ich nehme die purpurnen Banner ab, falte sie sorgsam zusammen, kratze das Kerzenwachs vom Boden und lege die geisterbekritzelten Blätter zu einem Stapel zusammen. Ich habe sie jetzt mehrmals durchgesehen. Sie sind bedeckt mit Schnörkeln und Spiralen, die weder ein Wort noch einen Namen ergeben, nicht einmal einen Buchstaben. Wenn man die Séance nach ihrem Ergebnis beurteilt, war sie ein absoluter Reinfall. Aber ich habe keine Zeit, über diese Dinge jetzt nachzudenken. Die letzten zweiundsiebzig Stunden waren schrecklich. Chase ist verschwunden, und ich befürchte das Schlimmste. Nach der Séance haben wir ihr eine Flasche Clorox unter die Nase gehalten, und nachdem sie wieder zu sich gekommen war, hat Jillian sie im Taxi in ihr Loft in Carroll Gardens gebracht. Das Taxi habe ich bezahlt. Das war das mindeste, was ich tun konnte. Auf dem Weg nach Hause hat Chase Jillian zufolge unzusammenhängendes Zeug gestammelt über grüne Lichter und große blaue Häuser und eine Dame in einem weißen Kleid, die wunderschön gewesen sei, und sie sagte dann noch ein paar Worte auf französisch, einer Sprache, die sie meines Wissens nach nicht beherrscht. Oben in dem Loft hat Jillian Chase mit ein paar Valium gefüttert, sie ins Bett gesteckt und ist dann selbst auf der Couch eingeschlafen. Am nächsten Morgen war Chase verschwunden. Jillian fand das Schlafzimmer leer vor, die Buntglasfenster standen zur Straße hin offen, die Feuerleiter - Stahlstufen an Ketten - hing zum Gehsteig hinunter. 235
«Chase muß die Leiter ganz langsam und ganz vorsichtig runtergelassen haben», sagte Jillian während eines ruhigen, vorwurfsvollen Telefongesprächs zu mir. «Sonst hätte sie mich mit dem Klirren der Ketten geweckt. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie nicht die Tür benutzt hat, warum sie mir nicht gesagt hat, wo sie hingeht, oder wenigstens eine Nachricht hinterlassen hat.» Ich kannte die Antwort auf diese Fragen, aber Jillians kalter Zorn ließ mich schweigen. Vielleicht zu Recht gibt sie mir die Schuld an allem. Chase ist auf diese Weise verschwunden, weil ihr Verschwinden endgültig sein soll. Sie wollte nicht frische Luft schnappen, wollte keinen Tapetenwechsel; sie wollte ein neues Leben. Seit ihrer Geburt war sie eine Gefangene, die danach strebte, aus dem Gefängnis ihres Fleisches auszubrechen. Auf Jillians Beharren hin ging ich zum achtundvierzigsten Revier an der Ecke Gold und Tillary, um eine Vermißtenanzeige zu machen, aber der diensthabende Sergeant schien meine Bitte, augenblicklich aktiv zu werden, nicht besonders ernst zu nehmen, nachdem er von den näheren Umständen erfahren hatte. «Ihr seid doch alle reif fürs Irrenhaus», sagte er. «Eine Séance! Kommen Sie in sieben Tagen wieder, und wenn sie dann immer noch nicht aufgetaucht ist, reden wir weiter. Aber wenn es nach mir ginge, das kann ich Ihnen sagen, Freundchen, würde ich euch Grünschnäbel alle ins Gefängnis werfen, einfach, weil ihr nicht alle Tassen im Schrank habt.» Der Cop war wahrscheinlich ein oder zwei Jahre jünger als ich, aber so ein strenger Polizeischnurrbart und das Klappern von Handschellen am Gürtel verleihen einem Menschen einen Hauch von Reife. Ich verließ das Polizeirevier mit eingezogenem Schwanz. 236
Anschließend überprüfte ich auf eigene Faust alle Schlupfwinkel, wo Chase sich gern versteckte. Ich ging zum Arcadia und zum Lobster und zum Club 219. Ich versuchte durch Jamal, den Barkeeper im Le Hibou, Kontakt zu ihrem Bruder aufzunehmen. Ich ging in Madame Adas Teestube an der Livingston Street, aber die war geschlossen. Auf einem handgeschriebenen Schild an der Tür stand: ›Bin Fischen gegangen.‹ Dann rief ich ein paar ihrer Freunde an, die in Providence lebten. Sie hatten sie seit Jahren nicht gesehen. Es bleibt nichts mehr zu tun als zu warten. Ich warte. Schließlich kommt der Anruf am Dienstag, gerade als ich die purpurnen Banner und die kunstvollen Kerzenständer wieder in Chase’ Koffer packe. Jillians Stimme am anderen Ende der Leitung klingt angespannt, und ich weiß sofort, daß etwas Furchtbares passiert ist. «Man hat Chase gefunden», sagt sie langsam. «Im East River. Sie hat Selbstmord begangen. Die Cops haben mit ein paar obdachlosen Frauen geredet, die unter der Manhattan Bridge leben und gesehen haben, wie sie sprang. Dachte, du würdest das vielleicht gerne wissen, du Bastard.» Dann hängt sie auf, und ich stehe da, im Ohr nur noch das tote Summen der Leitung. Eine Stunde später gehe ich die Pearl Street hinunter zu dem breiten Kopfsteinpflasterdreieck, wo die Widerlager der Manhattan Bridge sich erheben, einer dunklen Festung gleich. «Hey!» rufe ich in das Chaos aus Baumaterial und Kabelspulen, die unter dem Brückenbogen aufgestapelt sind. «Hey, du da, die Lady aus New Orleans. Ich will mit dir reden! Hey!» Dann setze ich mich an den Straßenrand, das Kinn auf den Knien, und warte. Zehn Minuten später taucht die schwarze Frau, abgemagert, ausgelaugt und 237
gelbäugig, aus dem Dunstkreis des Müllhaufens auf, bleibt aber ein kleines Stück von mir entfernt stehen, wachsam wie ein scheues Tier. «Was wollen Sie, Mistah?» sagt sie. «Ich habe schon mit der Polizei geredet.» «Ich bin nicht die Polizei», sage ich. «Ich habe Ihnen vor ein paar Wochen ein Hemd abgekauft. Ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.» «O ja, ich erinnere mich. Sie sind auch aus New Orleans.» Sie kommt ein wenig näher und hockt sich auf die Pflastersteine. «Das Mädchen, das gesprungen ist, war eine Freundin von mir. Ich wüßte gerne, was passiert ist», sage ich. Die Frau nickt ernst. «Na schön», sagt sie einen Herzschlag später. «Ich werd’s Ihnen erzählen. Es war ungefähr zehn Uhr letzten Sonntag, und Bernice und ich sehen dieses weiße Mädchen die Jay Street runterkommen. Sie bewegt sich auf so eine komische Art, wie im Traum oder so, und sie trägt einen Bademantel oder ein Nachthemd und hat keine Schuhe an den Füßen. Sieht aus wie eine weiße Verrückte, sagt Bernice, aber ich bin mir nicht so sicher. Dann klettert das weiße Mädchen den Zaun da drüben hoch und steigt auf die Brücke, als wolle sie zur Stadt rüber. Aber die Brücke ist im Eimer, ist schon seit Jahren im Eimer gewesen, das kann jeder sehen. Da, schauen Sie selbst.» Sie zeigt auf die verfallenden Bretter des Gehwegs über unseren Köpfen. Ich blicke hinauf und nicke. «Das weiße Mädchen geht weiter, bis sie an die Stelle kommt, an der die Bretter aufhören, ja, und dort bleibt sie eine Minute lang stehen. Dann streckt sie die Arme aus und beugt sich irgendwie vor. Mann, sie ist wie ein Stein direkt ins Wasser gefallen und nicht wieder aufgetaucht.» 238
Einige Minuten lang sitze ich still da. Dann stehe ich auf und halte der Frau einen Zehn-Dollar-Schein hin, aber sie schüttelt den Kopf. «Ich will kein Geld», sagt sie. «Tut mir leid, daß es Ihre Freundin war, das ist alles.» «Danke.» Sie stößt sich von den Pflastersteinen ab und steht einen Moment lang da, die Finger in die Taschen ihrer schmutzigen, abgeschnittenen Jeans gepreßt. «Es ist diese verdammte Stadt», sagt sie. «Gehen Sie heim nach New Orleans, da gehören Sie hin.» Und wie auf Kommando drehen wir uns gleichzeitig nach Manhattan um, das fest vertaut auf der anderen Seite des Flusses liegt wie der dunkle Rumpf eines Sträflingsschiffes.
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er Gottesdienst für Chase ist eine stille Angelegenheit. Er findet in einer Aussegnungshalle für Zigeuner in Manhattan auf der East Seventh gegenüber vom Café Deanna statt. Die Fassade des Hauses, das ansonsten ein normales Mietshaus ist, fällt durch zwei verblichene Gipsurnen auf, deren Bemalung an rosafarbenen Marmor erinnern soll, und durch ein winziges Schaufenster mit einem einzigen Dekorationsstück, einer farbigen Tafel mit der Aufschrift: «Gebr. Gragogian, Einbalsamierer. Man spricht Romani.» Drinnen, am Ende eines schmalen, holzvertäfelten Raums, steht auf einem schwarzverhangenen Tisch eine Urne mit Chase’ Asche. Im Tod wie im Leben kann Chase sich nicht auf ihre Freunde verlassen. Jetzt, in der letzten Stunde, sind von all ihren Freunden - und Chase war eine Frau, die viele Freundschaften gepflegt hat - nur Jillian und ich da. Jillian hat ein paar Pfund zugelegt und sieht sehr gut aus in ihrem enganliegenden Kostüm aus schwarzem Satin; ein schwarzer Schleier fällt von einem kleinen Hut über ihre Augen. Sie sitzt in der ersten Reihe zwischen Madame Ada in ihrem Rollstuhl und Ulazi, gangsterdüster in seinem Zweireiher mit ausgepolsterten Schultern. Hinter ihnen sitzen ungefähr ein Dutzend Gipsy-Verwandte, dunkelhäutige Männer in schuppenbesprenkelten Nadelstreifenanzügen und rundliche, in mehrere Schichten schwarzer Chenille gehüllte Frauen. Ich komme ein paar Minuten zu spät und schlüpfe in eine der hinteren Reihen, wo sich zu meiner Erleichterung kurz darauf Byron Poydras zu mir gesellt. Er ist 240
buchstäblich halb rasiert: Eine Seite seines Gesichtes ist glatt, die andere stoppelig, und um ein Auge sieht man noch einen schwachen Schimmer von purpurfarbenem Lidschatten. Die Nägel seiner linken Hand sind mit Glitzernagellack in derselben Farbe bemalt; Metallictupfen glitzern in dem dämmerigen Licht. «War gestern abend in einer Transvestitenshow», flüstert Poydras, als er sieht, daß ich seine bemalten Fingernägel betrachte. «Wir mußten als Mannfrauen kommen oder als Sie-Er's, so eine Halb-Mann-halb-Frau-Geschichte. Dann mußten wir auf die Bühne und versuchen, die eine Hälfte mit der anderen zu vögeln. Es war irre.» Ich halte es für das beste, keinen Gedanken daran zu verschwenden, und konzentriere mich wieder auf den alten Priester, der vorne über Chase’ Asche murmelt. Aber er spricht Romani, und ich verstehe kein Wort. Als er fertig ist, steht Ulazi auf, holt eine Fiedel aus einem Kasten unter dem Tisch hervor und beginnt zu spielen. Es ist eine alte Zigeunerweise, die durch hohes Gras rollende Wagen heraufbeschwört und nach dem Rauch von Lagerfeuern klingt, nach den Gesichtern der Bauern, die für einen Augenblick im Dämmerlicht am Straßenrand aufscheinen, nach der ganzen Traurigkeit und Schönheit des Lebens. Ulazi spielt mit einer Leidenschaft, die man bei einem so oberflächlichen Menschen nicht erwarten würde, die Violine fest unters Kinn geklemmt, die Augen geschlossen. Er endet mit einer schwungvollen Gebärde und wischt sich wie ein Kind mit dem Handrücken die Tränen von der Wange. «Ozun tula bagran tu-da!» sagt er mit erstickter Stimme, und der Satz wird im Flüsterton von den anderen Zigeunern wiederholt. Ich erkenne die Worte wieder; es ist ein traditionelles Zigeuner-Lebewohl. Chase hat es mir einmal übersetzt: «Oh, wann werden wir unsere 241
Wanderschaft beenden!» Dann schleudert Ulazi die Fiedel mit geübter, melodramatischer Geste zu Boden und wirft sich auf den gewaltigen Schoß seiner Großtante, die die Arme um ihn schlingt, und er weint überschwenglich in ihre Röcke, während der Priester einige letzte Worte sagt. Dann wird die Urne in einen Sperrholzkasten gelegt und Jillian überreicht, die mit genauso großer Würde vortritt wie Jackie, als sie in Arlington die Flagge von JFKs Sarg entgegennahm. Anschließend versammelt sich eine kleine Trauergesellschaft im Foyer der Aussegnungshalle, dessen Dekoration aus vergilbten Schwarzweißfotos unbekannter Männer in Anzügen besteht, die in Glas gerahmt streng auf uns herunterblicken. Anschließend soll es zum Leichenschmaus ins Le Hibou gehen, wo man gemäß einer Zigeunertradition mit Arrak einen Toast auf die Verblichene ausbringt, wieder und wieder, bis alle Teilnehmer sturzbesoffen sind. Ulazi und ein anderer Zigeuner versuchen gerade, Madame Ada aus ihrem Rollstuhl zu hieven, als ich zu ihnen trete. «Es tut mir wirklich leid», sage ich zu der gewaltigen Frau. «Chase war eine gute Freundin, und ich werde sie sehr vermissen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, werde ich gerne mit ins Le Hibou kommen.» Jillian, die hinter dem Rollstuhl steht, funkelt mich wütend an. «Verschwinde von hier, du Schwein!» zischt sie. «Hast du nicht schon genug Schaden angerichtet?» Daraufhin springt Ulazi mit einem Aufschrei vor und schlägt mich zu Boden. Mühsam schnappe ich nach Luft. «Du Bastard!» Er steht über mir und schüttelt die Faust. «Du Bastard! Ich sollte dich umbringen!» Aber das ist alles, was er hervorbringen kann, bevor der Kummer ihm die Kehle zuschnürt und er sich an Madame Adas 242
beträchtlichen Busen wirft. «Wie schade, daß Sie nicht genauso viel Zuneigung für Ihre Halbschwester aufbringen konnten, als sie noch lebte», sage ich, stehe vom Boden auf und klopfe meine Hosen aus. Die ganze Zigeunerversammlung steht mit steinernen Gesichtern um uns herum, und ihre dunklen Augen wandern zwischen Madame Ada und mir hin und her. «Ehrlich, Ma’am», sage ich zu Chase’ Großtante, «ich wußte nicht, daß es so enden würde, ich…» Aber sie fällt mir ins Wort. «Der Tod meiner Großnichte war nicht Ihre Schuld», sagt sie mit zusammengekniffenen Augen. «An dem Tag, an dem Sie beide in meinen Salon kamen, habe ich gesehen, daß sie krank war und sich das Leben nehmen würde. Überall um sie herum waren dunkle Flammen, und ich wußte, daß es nicht mehr lange dauern würde. Das ist nicht der Grund, warum wir nicht wollen, daß Sie die Mahlzeit mit uns teilen, mit der wir ihrer gedenken wollen. Wir wollen Sie nicht dabeihaben, weil an Ihnen das Unglück klebt. Ihr Pech ist Ihnen ins Gesicht und in die Innenfläche Ihrer Hand geschrieben.» Sie packt meine Hand, schaut einen Augenblick lang stirnrunzelnd hinein und stößt sie von sich. «Ja», sagt sie. «Genau wie ich erwartet habe. Nur ein Wunder kann Ihnen helfen, Ihrem Schicksal zu entrinnen.» ’ Mit diesen Worten wendet sie sich ab, und die Zigeuner rollen sie hinüber zum Eingang und tragen sie die Treppe hinunter. Ein graffitibekritzelter Lieferwagen mit eingebautem Hydrauliklift kommt mit einigem Gepolter am Straßenrand zum Stehen. «Niete!» zischt Jillian, als sie mit den anderen an mir vorbeigeht. Die Tür zur Straße wird mir vor der Nase zugeschlagen, 243
und ich stehe allein in dem stillen Foyer, die Augen der toten, anzugtragenden Zigeuner starren durch ihre Glasscheiben auf mich herab, schweigend, anklagend und so still wie die Erinnerung selbst.
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ch bin leer, ohne Leben; ich friere, zittere in der klimatisierten U-Bahn. Der Wagen ist voll mit armen Hunden, die ohne diese Annehmlichkeit in New York leben. Für sie ist die U-Bahn der einzige Ort, an dem sie sich an Vierzig-Grad-Tagen, die diese Stadt wie eine Lötlampe attackieren, abkühlen können. Sie sind leicht zu erkennen. Alte Männer, die in Mietshäusern leben, wo nur ein einziges Fenster zum Luftschacht offensteht und kein Wind sich regt. Hier in der F sitzen sie in Shorts und Sandalen, lesen Zeitung, schwanken unkontrolliert wie Marionetten hin und her, wenn der Zug stehenbleibt und wieder abfährt. Sie fahren nirgendwohin. Nach Coney Island und zurück in dem düsteren, gelben Licht. Als ich in Knox aus dem langen Tunnel trete, weiß ich, daß etwas nicht in Ordnung ist. Ich werde verfolgt. Es sind zwei schwarze Jugendliche, ungefähr fünfzehn, Kleidung ausgewachsener Gangsterstil: Zehn Nummern zu große Jeans schlackern um magere Oberschenkel, um sich über nicht verschnürten, knöchelhohen ZweihundertDollar-Turnschuhen zu bauschen; dicke Dollarzeichen aus Gold baumeln von ebenso dicken Goldketten herab; das Plastikband ihrer falsch herum getragenen Baseballmützen klebt an ihrer Stirn. Sie haben diesen leicht federnden, großspurigen Gang von jemandem, der gerade aus dem Bau entlassen worden ist. Sie johlen und brüllen hinter mir, und sie scheren sich nicht darum, wer sie in dieser Gegend hört. Sie wollen Ärger, und ich weiß, der Ärger bin ich. Vorher in der U-Bahn hatte ich Gelegenheit, sie mir genauer anzusehen. An jeder Haltestelle sind sie ein Stück 245
weiter durch die Waggons nach hinten gegangen, wobei sie meinen an der Delancey Street betreten haben. Am East Broadway haben sie schließlich mir gegenüber gesessen, und als der Zug für die letzte Fahrt unter dem East River die Geschwindigkeit erhöht hat, machten sie laute Bemerkungen, deren Zweck es war, dem durchschnittlichen U-Bahn-Pendler Angst einzujagen. Aber ich bin kein durchschnittlicher U-Bahn-Pendler, und ich habe eine geheime Waffe für solche Augenblicke. Ich hole meine Waffe vorsichtig aus der Gesäßtasche meiner Khakihose, entfalte sie mit großem Brimborium und streiche die zerknitterten Seiten glatt. Dann beginne ich zu lesen. Es ist eine alte, orange-schwarze Penguinausgabe von Alan Mooreheads The White Nile, gewölbt nach der Form meines Hinterns und eselsohrig von häufigem Gebrauch, da ich das Buch mitnehme, wo immer ich in New York hingehe. Denn dieser Text gibt mir den Mut, den ich brauche, um durch die Straßen dieser Stadt zu laufen und U-Bahn und Bus zu benutzen, ohne an die Gefahren zu denken; den Mut, bei dem wütenden Ashanti hinter der Kasse im Delikatessengeschäft Kwanzaa auf der Montague ein Sandwich mit Salat zu bestellen und mit stählernem Blick um eine Extraportion Zwiebeln zu bitten. Das Buch erzählt von der britischen Erkundung Zentralafrikas im 19. Jahrhundert und ist voll von den tapferen und törichten Heldentaten der Männer, die unglaubliche Hindernisse überwanden, viele Gefahren bestanden und zum größten Teil ins gute, alte England zurückkehrten, um davon zu erzählen. Zum Beispiel Mungo Park, fest entschlossen, die Quelle des Flusses Niger zu finden; er ließ sich an der Küste eines unbekannten Kontinents absetzen, ausgerüstet nur mit einem Zylinderhut und einer Reisetasche. Oder Burton 246
und Speke, die die Quelle des Nils entdeckten; Baker und Stanley und Livingston, die in Flanellanzügen durch Afrika streiften; und der große General Gordon, der sein Ende in Khartum im Sudan gefunden hat. Wann immer ich das Gefühl habe, ganz besonders stark in der Minderheit zu sein, wende ich mich der traurigen Geschichte des Generals zu. Umzingelt von einem fanatischen Feind, harrte er monatelang in der Zitadelle von Khartum aus und betete um Entsatztruppen, die dann drei Tage zu spät kamen. Keine Nahrungsmittel mehr, kaum noch Wasser, gar keine Hoffnung, während in der Wüstennacht hunderttausend dunkle Gesichter auf den letzten Angriff warteten. Sein Widersacher, der Mahdi, schickte in letzter Minute eine Botschaft: Es sei Gordon gestattet, die Zitadelle mit seinen persönlichen Besitztümern zu verlassen, wenn er die Stadt dem Gemetzel preisgebe. Ansonsten werde er das unaussprechliche Schicksal aller Ungläubigen erleiden. Aber Gordon lehnte das Angebot ohne zu zögern ab. «Als Gott die Furcht in der Welt verteilte», erklärte Gordon dem Boten, «kam er zu Gordon und hatte keine Furcht mehr übrig. Sag das dem Mahdi! Gordon kennt keine Furcht.» O tapferer General Gordon! Wie viele von uns bringen am Ende solche Gefaßtheit auf? Was gäbe ich jetzt für den winzigsten Hauch dieses Mutes! Die beiden Jugendlichen folgen mir die Knox hinunter, vorbei an dem graffitibeschmierten Wellblechzaun. Sie latschen etwa zwanzig Schritte hinter mir her und rufen sich laut Obszönitäten zu. Mir bricht der Schweiß aus. Binnen einer Sekunde klebt mir das Hemd am Rücken. Ich höre das Geräusch einer zersplitternden Flasche, dann noch einmal, aber ich drehe mich nicht um. Nur die Oberflächenspannung hindert das Wasser in einem etwas zu voll gegossenen Glas am Überlaufen. Ein falscher 247
Blick, und es passiert. Die Schatten entlang der Lagerhäuser werden jetzt tiefer. Von irgendwo ertönt das jammernde Geheul einer Autoalarmanlage. Daraufhin beschleunigen sie ihren Schritt, die unverschnürten Turnschuhe klatschen wie die Schuhe von Clowns auf dem glasübersäten Pflaster. Dann bricht das Gespräch urplötzlich ab. Ihr Schweigen ist noch schlimmer. An dem Lagerhaus direkt vor uns weist ein verrostetes Schild auf eine Manufaktur von Herren- und Knabenhüten hin. Der Himmel ist ganz blauer Schatten und wunderschön, mit einem feinen Hauch Mondlicht. Das ist der Augenblick, den alle New Yorker fürchten, der Augenblick, auf den sie ihr ganzes Leben lang warten. Und dann ist einer der jungen Kerle neben mir und legt mir beinahe freundlich einen Arm um den Hals. Ich blicke auf meine Nase, einen Zentimeter von seiner Nase entfernt. Sein Atem hat den süßen Geruch von irgendwelchem billigen Malzgebräu, und seine Augen blicken irre. Er lächelt. Wir könnten zwei alte Freunde sein, die einander auf der Straße begegnen. «Hey!» sage ich. «Was glotzt du so?» sagt der Junge feindselig. «Ich sehe dich an, würde ich sagen», antworte ich, tauche unter seinem Arm weg und beginne zu laufen, aber der andere steht geduckt wie ein Außenverteidiger zwischen den Müllcontainern der Bäckerei Damaskus und dem Eingang der Tyle Street. Ich versuche, um ihn herumzulaufen, aber er beugt sich zur Seite und hält mir seinen joggingbeschuhten Fuß hin, und ich fliege der Länge nach aufs Pflaster. So einfach ist das. Bevor ich aufstehen kann, höre ich ein unmißverständliches Klicken. «Keine Bewegung!» sagt der eine, und der andere kommt zu mir herüber und zieht mir die Brieftasche aus 248
der Hose. Sie finden nichts, nur eine Karte für den Geldautomaten, den Führerschein und einigen sentimentalen Krimskrams: ein Stückchen von einem Band, das eine frühere Freundin im Haar trug, ein paar Zettelchen aus chinesischen Glücksrollen, ein vierblättriges, in Klarsichtfolie versiegeltes Kleeblatt, das mein Vater einmal zwischen profaneren Kleeblättern im Vorgarten unseres Vorstadtbungalows in Springfield, Virginia, gefunden hat. «Was ist das für Scheiß, Daño?» fragt der eine. «Sieht wie Scheiße aus für mich, McGarrett», sagt der andere. «Besser, wir stellen diesen Nußknacker wieder auf die Beine.» Sie spielen ein Spiel; sie sind Figuren aus Hawaii fünf-null. Daño bückt sich, zieht mich am Kragen hoch und reißt mich herum, und ich schaue in die Mündung einer NeunMillimeter-Garibaldi, die genau zwischen meine Augen zeigt. Diese Waffe stellen die Italiener aus einer Kohlenstoffverbindung her, damit man sie unbemerkt durch die Metalldetektoren in den Flughäfen schaffen kann. Ich halte den Atem an und hoffe, daß sie das laute Pochen meines Herzens nicht hören können. Einen Moment lang mustern sie mich von oben bis unten, und ihre Augen sind schmal im Bewußtsein ihrer Macht. Sie sind in einem gefährlichen Alter; trotz gegenteiliger Beweise können sie sich ihre eigene Sterblichkeit nicht vorstellen. «Was meinst du?» sagt Daño zu McGarrett. «Sollen wir den Burschen abknallen?» Und nach einer Pause zu mir, wobei er jedes einzelne Wort betont: «Was meinst du, Bursche!» «Ganz bestimmt nicht», sage ich. «Das würde Wo Fat 249
nämlich gar nicht gefallen.» «Findest dich wohl witzig, wie?» sagt McGarrett und tippt mit der Waffe an meine Stirn. «Nein», sage ich. «Dann gib mir deine Moneten! Wir wissen, daß du Moneten hast!» ruft der andere, und ich zucke zusammen und taste meine Tasche nach meiner Kleingeldbörse ab, die drei Dollar und ein paar Münzen enthält. Daño leert sie auf seine Hand und starrt die zusammengerollten Scheine und Pennys ungläubig an, und in diesem Augenblick fällt mir auch etwas ein, das Geoff mir mal erzählt hat: Man muß immer fünfzig Dollar in der Tasche haben für die Straßenräuber. Nur einen Dollar weniger, und sie bringen dich wahrscheinlich um. «Okay», sage ich. «Ich will euch eine Geschichte erzählen. Es geht um Gordon von Khartum. Kennt ihr Khartum? Es liegt im Sudan, von Kairo immer den Fluß entlang. Wißt ihr etwas von Gordon? Er war Generalgouverneur des Sudan und versuchte, dem Sklavenhandel dort ein Ende zu machen.» Ich rede schnell, und meine Stimme ist ganz zittrig. «Ha?» sagt McGarrett. Daño schaut von der kümmerlichen Beute in seiner Hand auf. «Wovon redet der?» «Hört zu, als er erfuhr, daß keine Hoffnung mehr war, als die Derwische schon überall über die Palastmauern kletterten, zog Gordon sich in seine Gemächer zurück, legte seine Paradeuniform an, die weiße mit den Goldtressen, setzte seinen Fes auf, schnürte sich das Schwert um und trat oben an die Treppe, um sich ihnen entgegenzustellen. Sie strömten schon in den Hof, Tausende von ihnen, ihre blutigen Speere auf ihr Ziel gerichtet, und fürchteten sich ein wenig hinaufzukommen, 250
denn er stand in dem Ruf, ein Mann zu sein, der mit Göttern und Teufeln sprach. Es entstand ein Augenblick des Schweigens. So ist es oft bei solchen Gelegenheiten. Gordon starrte nur mit seinen blauen Augen auf sie herunter. Er hatte diese blauen Augen, versteht ihr, eiskalter Stahl. Er war bekannt dafür, in staubigen Wüstenstädten mit nur einem einzigen Blick Rebellionen zum Erliegen zu bringen. Dann machte er ungefähr so eine Geste», ich führe ihnen eine vieldeutige Bewegung von Handgelenk und Ellbogen vor, «einige sagen, es sei eine Geste der Verachtung gewesen, andere meinen, es war Resignation - wer weiß, und welche Rolle spielt es schon? Wißt ihr, was dann passiert ist?» Die beiden Jungen sehen einander an und sehen dann mich wieder an. «Was ist passiert?» fragt Daño. «Na ja», sage ich stirnrunzelnd, «einer der Derwische hat gerufen: ‹Mala oun el yom yomeckb, was auf sudanesisch so viel bedeutet wie: (Verfluchter, deine Zeit ist gekommen!)› Und dann haben sie ihn in Stücke gehackt und die Stücke in einen Brunnen geworfen.» «Was?» sagt McGarrett. «Was zum Teufel soll der Mist?» fragt Daño. «Das ist eine Geschichte», sage ich. «Ich scheiße auf die Geschichte», sagt McGarrett. «Genug von diesem Schwachsinn.» «Genau. Ist das alles, was du hast, Mr. Gordon von Cartoon?» sagt Daño und hält mir die zerknitterten Geldscheine unter die Nase. Ich nicke unglücklich. «Dann müssen wir es mit dir machen; das ist eine der Regeln», sagt McGarrett. 251
«Was machen?» frage ich. «Dich vermöbeln», sagt Daño. «Du hast nicht genug Geld», sagt McGarrett und zuckt auf eine leutselige Art und Weise mit den Schultern. «Also wirst du vermöbelt. Geschäft ist Geschäft.» «Ja», sagt Daño. «Das liegt in der Natur der Sache. Vor allem heutzutage, wo die Leute mit zu viel Plastik rumlaufen. Heutzutage haben die Leute für jeden Scheiß Karten, verstehst du? Wir müssen allgemein bekannt machen, daß man, wenn man nicht genug Bargeld bei sich hat, vermöbelt wird.» «Betrachte es als eine Art Straßensteuer», sagt McGarrett. «Wobei das Finanzamt in diesem Falle wir sind.» «Wirklich, ihr….» Ich habe keine Chance, noch mehr zu sagen. Eine Sekunde später kracht das stumpfe Kohlenstoffende der Garibaldi schwer auf meinen Kopf, und ich schnuppere noch eine letzte Portion öligen Kohlenstoff, bevor ich bewußtlos aufs Pflaster sinke.
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ie Straße, aus der Froschperspektive betrachtet, ist eine graue Mondlandschaft, nur Gipfel und Täler und dicke Staubschichten in den Ritzen zwischen den Pflastersteinen. Die Straßenlaterne über mir flackert grün, ein kreisendes Auge, der Mond des Mondes. Mein Kopf klebt mit getrocknetem Blut am Pflaster. Ich mache mich mit etwas Mühe und viel Schmerzen los, raffe meine Siebensachen zusammen und taumele zurück in die Wohnung. Im Badezimmer fürchte ich mich davor, in den Spiegel zu sehen. Hängt da ein Augapfel raus? Nein, es ist nur das Gesicht eines zu Tode erschrockenen Mannes und eine purpurne Knolle, die drei Zentimeter von seinem Ohr entfernt in nordnordwestlicher Richtung langsam anschwillt. Ich wasche die Wunde vorsichtig mit einem blauen Waschlappen aus, streiche Jod auf den Schnitt, drehe das Badewasser auf, lasse mich eine Stunde lang vom heißen Wasser durchweichen und versuche, mich glücklich zu schätzen. Aber die Wahrheit läßt sich nicht aus mir herausweichen: Mein Leben hängt an einem seidenen Faden. Nur noch die allerdürftigste Chance trennt mich von der Katastrophe. Es ist diese Stadt, ja. Aber wäre es an einem anderen Ort besser? Gibt es eine Ecke in Amerika, die vor diesem mörderischen Wahnsinn sicher ist, diesem Tanz der Begüterten und der Habenichtse? O Arcadia! Dann denke ich an Chase und ihr nasses Grab, und ich bin traurig und verängstigt. Eine Stunde später liege ich auf dem Sofa und sehe die Nachrichten, als das Telefon klingelt. Ich lasse es klingeln. Dann hört es auf zu klingeln, nur um ein paar Sekunden 253
später wieder anzufangen, und ich nehme den Hörer ab, obwohl mir nicht danach ist, mit irgend jemandem zu reden. «Hallo?» «Ned?» «Ja.» «Mein Gott, du klingst ja schrecklich!» Einen Augenblick lang bin ich mir über die Identität der Frau am anderen Ende der Leitung nicht sicher. Dann durchfährt es mich wie ein kleiner Stich. «Hallo, Antoinette», sage ich mit ausdrucksloser Stimme. Ich habe vor sechs Wochen das letzte Mal mit ihr gesprochen, aber heute abend tut mein Kopfweh, und ich kann keinerlei Enthusiasmus aufbringen. Irgendwie kann ich mir nicht einmal ihr Gesicht vorstellen. «Ist alles in Ordnung mit dir?» fragt sie. In den Nachrichten werden gerade in diesem Augenblick drei in durchnäßte Bettlaken eingewickelte Leichen aus dem East River gezogen. Die Journalistin, ein draufgängerisches, attraktives koreanisches Mädchen namens Kim Sung, ist am Schauplatz und versucht ihre Freude darüber zu unterdrücken, daß sie über eine so herrlich schauerliche Story berichten darf. Es ist verblüffend, wie fröhlich uns Tragödien stimmen, solange sie jemand anderem widerfahren. «Während wir uns hier unterhalten, ziehen sie auf der anderen Seite der Brooklyn Bridge ein paar Leichen aus dem Fluß», erkläre ich Antoinette mit demselben ausdruckslosen Tonfall. «Ich seh’s im Fernsehen. Die Journalistin sagt, irgendwelche Unterwasserkabel hätten die Leichen daran gehindert, in den Hafen zu treiben. Die Bettlaken, in die sie eingewickelt waren, haben sich mit 254
den Kabeln verheddert. Sie sind drei Tage lang mit Löchern in den Köpfen dort herumgeschwommen wie Algen. Zwei Kinder und eine Frau. Sie verdächtigen den Ehemann, der von der Polizei gesucht wird. Das geschieht, während wir uns miteinander unterhalten.» Antoinette schweigt am anderen Ende der Leitung, und ich kann die Entfernung zwischen uns knistern hören. «Warum sagst du mir nicht, was los ist, Ned?» fragt Antoinette schließlich. Sie klingt besorgt. «Na schön», erwidere ich, «hier hast du das Ganze in willkürlicher Reihenfolge: Letzte Woche hat meine Freundin Chase Selbstmord begangen, indem sie von der Manhattan Bridge gesprungen ist; ich kriege anscheinend meine Doktorarbeit nicht fertig, die mir vielleicht einen richtigen Job verschaffen könnte; ich habe jahrelang mit niemandem mehr geschlafen, der mir was bedeutet hätte; ich habe kein Geld, das der Rede wert wäre, und keine Krankenversicherung; ich lebe wie ein Schwein in einer lausigen Wohnung in einem der gefährlichsten Viertel von New York, und heute abend, als ich von der U-Bahn nach Hause kam, bin ich ausgeraubt worden.» Aus irgendeinem Grund erzähle ich ihr nichts von dem Geist. Es entsteht ein neuerliches Schweigen, während Antoinette all das verdaut. Meine Stirn ist heiß. Ich stelle fest, daß ich den Hörer so fest umklammere, daß meine Hand schmerzt. «Hör mir zu, Ned», sagt Antoinette jetzt. «Haben sie dich verletzt? Bist du verletzt?» Praktisch veranlagt, wie sie ist, wendet sie sich dem unmittelbarsten meiner Kümmernisse zu. «Ich habe mit der Pistole eins übergebraten bekommen, so nennt man das, glaube ich», sage ich. «Zwei Hooligans mit einer Waffe. Einer großen Waffe. Mein Kopf tut weh, 255
vielleicht ein leichter Schock. Aber ich denke, ich bin okay.» «Ned, du brauchst…» «Ja.» Ich unterbreche sie. «Ich brauche eine Million Dollar; ich brauche ein Haus auf dem Land; ich brauche einen Urlaub. Aber alles, was ich habe, sind ein paar Hemden und einige zerlesene Bücher.» Ich bedaure dieses Selbstmitleid auf der Stelle. Es geht nicht an, Antoinette etwas vorzujammern, die immer eine fröhliche Distanz bewahrt hat, selbst wenn wir miteinander geschlafen haben, aber jetzt ist es nun mal passiert. Mit einem plötzlichen Klicken ist sie wieder da, an ihrem Platz, wie ein Dia bei einer Diashow, und ich spüre ein unwillkommenes Ziehen in meinem Herzen. Sie sitzt in ihrem Slip auf dem gelben, viktorianischen Sofa in ihrer Wohnung im Faubourg Marigny, und draußen vor dem Fenster erhebt sich die Kapelle St. Röche, eine dunkle Silhouette gegen den grünen Himmel. «Ned, ich glaube, ich kann dir helfen», sagt sie nun leise. «Vergiß es, Antoinette», sage ich. «Ich wollte eigentlich nicht jammern.» «Halt den Mund und hör mir zu. Hörst du mir zu?» «Ja.» «Ich kann nichts machen, was die Million Dollar betrifft; das Geschäft ist in letzter Zeit nicht mehr so gut gegangen. Aber ich kann dir mit dem Urlaub und dem Haus auf dem Land helfen.» Was sagt sie da? Die Meilen surren und schwirren zwischen uns. Von dem Elektrizitätswerk auf der anderen Straßenseite kommt das laute Kratzen von Metall gegen Metall.
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s ist fast unmöglich, daß irgend jemand vollkommen aus der Geschichte verschwindet. Selbst die Glücklosesten hinterlassen irgendeinen verblichenen Brief, ein oder zwei Zeilen in einem Polizeiregister, ein paar Knochen in einer Holzkiste, die im Boden neben anderen Holzkisten begraben ist, Kisten, von denen jede einer Nummer in einem Aktenordner auf dem staubigen Regal einer Pfarrhausbibliothek entspricht. Nicht so Schwester Januarius, die Pater Rose in Rom zur Heiligsprechung empfehlen lassen will. Diese Frau hat nichts hinterlassen, gar nichts. Langsam werde ich mißtrauisch. Vielleicht ist Schwester Januarius nur eine Ausgeburt von Pater Rose’ Phantasie. Andererseits halte ich ihn für einen vernünftigen Mann. Plausibler scheint da schon zu sein, daß irgend jemand die Unterlagen durchgegangen ist und jedes diese Frau betreffende Dokument zerstört hat. Aber was ist mit ihren Knochen? Die katholische Kirche ist bezüglich dieses Themas sehr strikt. Katholische Knochen müssen in katholischem Boden beerdigt werden! Ich verlasse die Krypta und den Inhalt von Karton Nummer zweiundzwanzig bündelweise Geschäftskorrespondenz aus den Zwanzigern -, erklimme die steinernen Stufen und folge dem Korridor, der zum Pfarrhaus führt. Pater Rose erteilt drei gelangweilten spanischen Paaren gerade Brautunterricht. In großen Lettern steht das Wort RE-JUNGFE-RUNG! auf einer Tafel geschrieben. Die spanischen Pärchen starren den Pater an, und auf ihren Gesichtern zeichnen sich Verwirrung und Verlegenheit ab. 257
«Die Kirche ist sich bewußt, daß viele junge Leute nicht in der Lage sind, sich von der Promiskuität und den Verführungen dieses verdorbenen Zeitalters fernzuhalten», sagt Pater Rose und tippt mit seinem Zeigestock auf die Tafel. «Und daß sie aus dem Zustand der Gnade, wie ihn die Jungfräulichkeit verleiht, herausfallen. Aber die Kirche glaubt auch, daß es möglich ist, wieder Jungfrau zu werden!» Daraufhin tauschen die spanischen Pärchen verwirrte Blicke, und man hört Getuschel auf spanisch. «Den Zustand der - wenn Sie so wollen - NeuJungfernschaft erreicht man durch Gebet und durch Abstinenz während der letzten drei Monate vor der Hochzeit. Viele Paare stellen fest, daß sie nach dieser Zeit auf einmal wieder vollkommen unerfahren in sexuellen Dingen sind, selbst nach langen Jahren unerlaubter Liaison. Es hat sogar ein oder zwei Fälle gegeben, in denen sich das Hymen der Frau auf wunderbare Weise wiederhergestellt hat und sie tatsächlich körperlich wieder zur Jungfrau wurde…» Einer der Spanier hebt die Hand. «Ja, Cipriano?» Der Mann steht auf. Er sieht wütend aus. Zornesadern treten auf seiner Stirn hervor. «Sie wollen also sagen, Padre», stellt er mit erstickter Stimme fest, «daß unsere Frauen, die Frauen, die wir heiraten wollen, die Frauen, die wir zu unseren Müttern nach Hause bringen wollen, daß diese Frauen Huren sind?» Seine Verlobte, ein hübsches Mädchen von höchstens achtzehn Jahren, das ein kindliches Kleid aus blauem Chiffon trägt, läßt den Kopf hängen und beginnt zu weinen. Pater Rose ist aus dem Konzept gebracht. Er schaut entsetzt von dem Wort auf der Tafel zu seinen Schülern. 258
«Aber überhaupt nicht, Cipriano», sagt er schnell. «Ich rede hier nur von einer theoretischen Situation. Ich möchte keinesfalls andeuten, daß das notwendigerweise auch für Sie gilt. Falls Ihre Verlobte noch Jungfrau ist…» Daraufhin explodiert Cipriano. «Falls!» ruft er. «Falls…!» Aber er ist zu erregt, um weiterzusprechen. Er droht Pater Rose mit der Faust, macht dann eine undefinierbare Handbewegung in Richtung seiner Kameraden, und sie erheben sich alle gemeinsam und folgen ihm zur Tür. Eine der jungen Frauen macht einen Knicks, als sie den Raum verläßt, aber Cipriano zerrt sie hinter sich her. «Brautunterricht!» ruft er aus dem Flur. «Wir brauchen keinen bescheuerten Brautunterricht!» Dann wirft er die Tür zu. Pater Rose wischt das kränkende Wort von der Tafel und seufzt. Dann rafft er seine Notizen zusammen. «Ich komme ganz gut klar mit dem gewöhnlichen ZehnGebote-Kram, Mr. Conti. Sie wissen schon, Götzendienst und deines Nächsten Weib und all das. Aber es ist töricht von der Kirche, Priester als Berater in spezielleren sexuellen Dingen einzusetzen», sagt er. «Wir sind Männer, die dem fleischlichen Leben zugunsten des spirituellen entsagt haben. Es ist so, als würde man einen Golfer bitten, Baseball zu spielen. Abgesehen von dem Umstand, daß wir beide Schuhe mit Spikes tragen, gibt es keine Gemeinsamkeiten.» Ich bin nicht ganz sicher, was er mit dieser Metapher meint, aber ich nicke und bringe mein Mitgefühl zum Ausdruck. Dann, als ich mich zu ihm umdrehe, bemerkt er die geschwollene Beule an meiner Schläfe. «Da haben Sie sich aber ein recht solides Ei eingefangen», sagt er. «Ein Unfall?» 259
«Ausgeraubt», sage ich. «In Ihrem Viertel?» «Ja.» Er scheint nicht überrascht zu sein. «Ich werde für Sie beten», sagt er einfach. «Danke.» Einen Augenblick später steht er auf und streicht sich seine Soutane glatt. Er weiß, daß mein Erscheinen einen wichtigen Grund hat. «Nun?» sagt er. «Die Knochen», sage ich.
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ch muß absolutes Stillschweigen geloben. Pater Rose läßt mich auf die große Bibel auf dem Altar in der Kirche schwören. Dann noch einmal auf den Kelch, der bei der Messe für den Kommunionswein gebraucht wird, auf das Gefäß also, in dem sich das heilige Wunder der Wandlung vollzieht. Als er von der Ernsthaftigkeit meines Schwures überzeugt ist, bringt er mich nach unten in die Krypta und schließt eine unauffällige Tür auf, die ich bisher nicht bemerkt habe. Wir steigen eine kurze Treppe hinunter und stehen plötzlich vor einer beeindruckenderen Tür, auf der sich eine Einlegearbeit mit Chi und Rho, den Initialen Christi, findet. «Das ist das Geheimnis von St. Basil», sagt er mit einer feierlichen Charlton-Heston-Stimme, und ich verspüre ein Kribbeln im Nacken. «Ich habe einen Posten als Assistent des Golftrainers des Heiligen Kreuzes abgelehnt, um diese Aufgabe zu übernehmen. Ich hätte Generationen junger Männer in der Kunst dieses Sports unterrichten können, aber ich habe es vorgezogen hierherzukommen. Verstehen Sie?» Ich zeige mich geziemend beeindruckt von seinem Opfer und sage ihm das auch, aber noch beeindruckender finde ich, was ich sehe, als er die Tür aufschließt und wir in den inneren Raum treten: In der Mitte des fensterlosen Steinraumes steht ein Glassarg, der einen mumifizierten Körper in Nonnentracht beherbergt. Ich trete ehrfürchtig näher. Es ist wie in einem zweitklassigen Horrorfilm. Ein eingefallenes, lederiges Gesicht bleckt scharfe braune Zähne, und Wachsaugen von einem künstlichen Blauton starren aus lidlosen Augenhöhlen. Ein paar Strähnen 261
weißen Haares schlängeln sich unter dem vom Alter grün gewordenen Schleier hervor. Knochige Hände umklammern eine dicke, schwarze Bibel, die schon vor langer Zeit zur Seite gefallen ist. Eine Kette von Weihnachtslichtern, die sich um die Decke herumzieht, gibt dem Ganzen die letzte unheimliche Note. Für etwa fünf Minuten, würde ich schätzen, kann ich meinen Blick nicht von der Mumie abwenden. Pater Rose hält sich in respektvoller Entfernung. Schließlich tritt er näher. «Das ist Schwester Januarius», sagt er, als stelle er uns vor. Dann sinkt er auf einen verblichenen, samtüberzogenen Kniestuhl, spricht ein kurzes Gebet, bekreuzigt sich und führt mich wieder die Treppe hinauf in sein sonniges Büro im dritten Stock des Pfarrhauses. Selbst hier, umgeben von Golftrophäen, schaudere ich bei dem Gedanken an die düstere Krypta. Mit nachdenklich gefalteten Händen setzt sich Pater Rose auf den großen ledernen Chefsessel hinter seinem Schreibtisch. Das ist das erste Mal, daß ich ihn dieses wichtig wirkende Möbelstück benutzen sehe, und unsere Unterhaltung ähnelt ein wenig einem Vorstellungsgespräch bei einem Aufsichtsratsvorsitzenden von IBM. «Nun ja, die Präsentation da unten ist ein wenig unglücklich», sagt er. «Ich gehe oft in die Kapelle von Mutter Cabrini in Washington Heights und beneide sie um ihre wunderschönen Wachsarbeiten, die Kristallsarkophage, die moderne Kapelle, und ich frage mich, warum unsere Schwester Januarius so vernachlässigt wird. Die Antwort ist natürlich einfach. Unsere Heilige ist noch ein Geheimnis. Bis auf den heutigen Tag weiß der Bischof nichts davon, und der Kardinal auch nicht. Verstehen Sie?» «Nicht ganz», sage ich. Plötzlich denke ich an das 262
schlafende Schneewittchen, das in seinem Glassarg auf den Prinzen wartet, und mir scheint, als warte die braune Mumie da unten auf einen Kuß von mir, um zu erwachen. «Wie Sie wissen, wird die Einrichtung eines Kultus für einen Heiligen streng vom Heiligen Stuhl reglementiert», sagt Pater Rose, «und hängt von der Entscheidung der Ritenkongregation in Rom ab. Jede Verehrung von Reliquien, jede Konservierung des Körpers bedarf der Genehmigung. Was Sie da unten gesehen haben, hat Pastor John McCarthy vor beinahe hundert Jahren mit den irdischen Überresten von Schwester Januarius getan, und zwar außerhalb der Gesetze der Kirche, ein Vorgehen, das mit Exkommunikation bestraft wird. Aber Pater McCarthy tat, was sein Glaube ihm befahl. Manchmal mahlen die Räder der Kirche zu langsam für den wahren Gläubigen. Er wußte, daß Schwester Januarius eine Heilige war, hatte tatsächlich sogar Wunder mit angesehen und wollte handeln, bevor der Körper zerfiel…» «Entschuldigen Sie mich, Pater», unterbreche ich ihn. «Sie haben einmal eine Monographie zu diesem Thema erwähnt. Ich habe stundenlang in Bibliotheken gesessen und nach dieser Monographie gesucht. Jetzt stelle ich fest, daß das Ganze ein großes Geheimnis ist, selbst vor dem Papst. Also vermute ich, daß diese Monographie gar nicht existiert.» Pater Rose schweigt zu dieser Anschuldigung, faltet die Hände und schaut hinunter auf die blanke Oberfläche seines Schreibtischs. Sonnenlicht funkelt von den Golftrophäen in den Vitrinen und plätschert wie das Wasser einer tropischen Lagune gegen die geblümte Tapete. Draußen legt sich Sommerdunst über Brooklyn. Schließlich blickt er auf. «Sie haben recht», sagt er und schluckt leer. «Es gibt keine Monographie. Es tut mir leid. Eine Notlüge. Die 263
Geschichte, die ich Ihnen über Schwester Januarius erzählt habe, wurde von einem Pastor zum anderen in mündlicher Tradition weitergegeben, könnte man sagen. Als ich diese Pfarrei vom alten Pastor Carello übernahm, mußte ich mir jedes Detail einprägen. Das konnte ich Sie jedoch nicht wissen lassen, weil strikte Geheimhaltung erforderlich war. Jeder Pastor wählt seinen Nachfolger sorgfältig aus, und zwar aufgrund seiner Hingabe an den Kultus der Heiligenverehrung. Und jeder Pastor muß das Geheimnis auf seine Weise bewahren bis zum Tag, an dem alle Geheimnisse endlich enthüllt werden dürfen.» «Und wann ist das?» Pater Rose zuckt mit den Schultern, steht auf und tritt ans Fenster. «Irgendwann vor dem jüngsten Tag, das liegt an Ihnen und an den Ergebnissen Ihrer Nachforschungen», sagt er. «Lange genügte es den Pfarrern dieser Gemeinde, alles für sich zu behalten, Schwester Januarius als eine Art private Heilige zu behandeln. Aber die Heiligen sind für die Menschen, Mr. Conti, für Menschen, die ihrer Fürsprache bedürfen. Als ich vor Jahren diesen Brief in den Archiven fand, dachte ich, daß es vielleicht doch eine Möglichkeit gäbe, in Rom die Seligsprechung von Schwester Januarius zu bewirken. Wo es einen Brief gibt, mußte es auch noch andere geben.» «Der Brief war also echt?» Pater Rose dreht sich nun ein wenig entrüstet zu mir um. «Der Brief ist irgendwo in den Archiven. Es ist nur eine Frage von Ausdauer und Glauben.» «Glauben.» «Ja.» Es entsteht ein unbehagliches Schweigen, in dem wir das Stöhnen der Handballspieler hören, die auf dem Asphalt unter uns schwitzen. 264
Dann erzähle ich ihm von meinem kurzen Arbeitsurlaub in New Orleans. Ich werde eine alte Freundin besuchen, sage ich, und dabei auch die Archive der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz aufsuchen, zu deren Orden Schwester Januarius wahrscheinlich gehört hat. Sie haben immer noch ein Kloster in dieser Stadt, im Vieux Carré.
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ein Koffer ist gepackt, alles ist bereit. Die Sichel eines lakonischen Mondes schwebt über Manhattan, und vom Fluß her kommt ein nach Salz und Öl duftender Wind auf. Es ist die Nacht, bevor ich nach New Orleans aufbreche, und ich kann nicht schlafen. Konnte noch nie in der Nacht vor einer Reise schlafen. Wer kann das schon? Das Elektrizitätswerk säuselt eine fröhliche Melodie, und jedesmal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich Antoinettes Gesicht. Um drei Uhr habe ich alle Hoffnung auf Schlaf aufgegeben und stehe auf, um die Wohnung sauberzumachen. Es gibt nichts Schlimmeres, als in eine schmutzige und unordentliche Wohnung zurückzukehren, und ich habe seit der Séance keinen Handschlag mehr getan hier. Auf Händen und Knien und noch im Pyjama schrubbe ich mit Gummihandschuhen den Küchenboden, wasche das ganze schmutzige Geschirr ab, räume den Kühlschrank aus. Im Badezimmer kratze ich mit einem Schraubenzieher den Moder aus den Fugen in der Duschkabine und nehme mir mit dem schäumenden Aktivreiniger, den die Fernsehwerbung mit munteren Bläschen anpreist, das Schränkchen und das Waschbecken vor. Der Geist scheint meine Aktivitäten gutzuheißen. Die Toilettenbürste, die seit einiger Zeit verschwunden war, taucht mysteriöserweise an ihrem alten Platz wieder auf. Genauso ist es mit dem Stecker für den Staubsauger, den ich in der Zuckerschüssel in der Küche finde. Als ich gegen Morgen schließlich auf dem Sofa einschlafe, träume ich von Schwester Januarius’ Wachsaugen, die in ihrem Grab unterm Altar in die 266
Dunkelheit starren, und ich träume von einem braunen Fluß, der der Mississippi sein könnte, und ich träume von Antoinette. Um sieben Uhr wache ich schließlich auf, und ich muß mich beeilen, um den Bus nach La Guardia noch zu erwischen. Aber auf dem Weg zur Tür bleibe ich stehen, stelle den Koffer hin und setze mich noch für eine Minute in das Morgenlicht der sauberen Wohnung. Es ist ein alter russischer Brauch, den ich mir nach der Lektüre einer Tolstoi-Novelle zu eigen gemacht habe: Bevor man auf eine Reise geht, verharrt man für einen Augenblick, um nachzudenken, wohin man geht und woher man kommt und was anders sein wird, wenn man zurückkehrt. Also denke ich an New Orleans und an Brooklyn und an mein Leben hier, aber es gelingt mir nicht, mir die Zukunft vorzustellen, die so unwägbar ist wie immer. Dann erhebe ich mich und schließe die Tür hinter der Wohnung voller Schweigen und dem Geist, der in den Wänden sein Werk tut wie eine Termite.
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TEIL IV IM BAYOU
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N
ew Orleans taucht als ein Fleckchen Grün am Horizont aus dem grauen Nachmittag auf. Regen klatscht gegen die dicken Schutzfenster und hinterläßt Perlen; das Flugzeug senkt einen Flügel dem Lake Pontchartrain zu, und wir gehen für den letzten Sinkflug in die Kurve. Ich sehe das graublaue Wasser des Sees, gesprenkelt mit kleinen weißen Schaumkronen und den weißen Pünktchen der Segelboote, und weiter hinten ist das Wetterleuchten eines Wärmegewitters erkennbar. Dann sehe ich das grüne Oval von Jefferson Downs, die Straßen von Kenner wie Linien auf einer Karte, und wir sinken dem Flughafen Moisant Field entgegen - silbrige Wassertanks in den Hinterhöfen, das fahle Blau von Swimmingpools und Autos, die sich wie Goldspritzer in einem Ungewissen Licht auf dem Eastern Expressway bewegen, und hier und dort die bleichen Knospen von Magnolienblüten. Endlich der rauhe Aufprall, wenn die Räder den von eingebranntem Öl bedeckten Asphalt berühren, und das Kreischen der Bremsen bei voll ausgefahrenen Landeklappen. Mein Herz rutscht mir in die Hose, während wir den Duncan Canal entlangrollen und uns dem Terminal nähern, und einen Augenblick frage ich mich, was los ist - ich bin schon früher geflogen, viele Male -, aber dann schaue ich durch das dicke Fenster, vorbei an den Regentropfen und sehe die vertraute grün-weiße Silhouette: die verkrüppelten Kiefern und Jasminbäume und die fransigen Kronen der Palmen, und selbst hier drinnen im Flugzeug scheint es mir, als könnte ich den starken, lehmigen Reichtum des Bayous und des Sees riechen, und es trifft mich wie ein Schlag New Orleans. Nach zehn Jahren bin ich wieder da. 269
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ntoinette wartet in der Ankunftshalle. Sie hat sich eine hübsche Bräune zugelegt und trägt einen rotgepunkteten einteiligen Hosenanzug aus den Vierzigern mit tiefem, rundem Rückenausschnitt. Ihr schwarzes Haar, das sich wegen der hohen Luftfeuchtigkeit kräuselt, hängt ihr über die Schultern. Sie sucht in der Menge nach mir, geht um eine Gruppe japanischer Touristen herum, bleibt stehen, um einem von ihnen eine Frage zu stellen, die ich nicht hören kann. Sie überragt den Mann um einiges, und er blickt mit großen Augen zu ihr auf. Aber dann schüttelt er den Kopf, macht das internationale Zeichen für Verständnislosigkeit und bückt sich, um eine karierte Golftasche vom Gepäckkarussell zu heben. Ich bewundere ihr Profil, während ein anderer Japaner, der in ihr ein Prachtexemplar der einheimischen Fauna sieht, sie bittet, ein Foto von ihr machen zu dürfen. Als das geschehen ist, trete ich leise von hinten an sie heran. «Antoinette», sage ich. Sie fährt herum, und ich sehe, daß sie einen Strauß rosafarbener, in grünes Seidenpapier gewickelter Rosen in der Hand hält - wofür steht rosa, frage ich mich, für eine verheißungsvolle Zukunft? Aber ich habe keine Zeit nachzudenken. Sie stößt einen leisen Schrei aus, und eine Sekunde später finde ich mich in einer ungestümen Umarmung wieder, die Rosen werden zwischen uns zerdrückt. Sie küßt mich voll auf den Mund, lehnt sich dann zurück, die Hand in der Hüfte, um mich genau anzusehen. Eine teure italienische Sonnenbrille steckt in ihrem Haar. Sie rückt sie mit gekonnter Geste zurecht und wirft mir einen langen, grauäugigen Blick zu. Über uns 270
knistert der Flughafen-Lautsprecher und verkündet unverständliche Abflugzeiten. «Hm, du bist bleich wie ein Fisch, Junge», sagt sie und drückt einen Finger in die breifarbene Haut meines Armes. «Wir müssen dich raus in die Sonne schaffen, soviel steht schon mal fest.» Ich zucke mit den Schultern. Sie hat recht. Ich habe den Sommer in einer Krypta mit dreißig Kisten modriger Dokumente verbracht, keinen Steinwurf entfernt von einem mumifizierten Leichnam mit Wachsaugen. Antoinette hingegen sieht wunderbar aus. Gesund und athletisch und auf diese beiläufige Art, die sie immer hatte, elegant. Antike Ohrringe aus Silber baumeln gegen ihre Halsmuskeln. «Das will ich doch stark hoffen, daß ich gut aussehe», erwidert sie auf meine Komplimente. «Hat mich genug gekostet. Ich habe einen persönlichen Trainer, kannst du’s fassen? Dieser prachtvolle Schwarze hat früher für die Saints gespielt und kommt jetzt zweimal die Woche rüber, um mir ein höllisches Konditionstraining zu verpassen. Hier, fühl mal.» Sie beugt ihren freien Arm. Ich drücke zu und fühle die Muskeln, die sich unter dem Fleisch wölben und spannen. «Schön», sage ich. «Und das ist nicht alles, fühl das mal!» Sie stellt ihren Fuß auf den Stahlrand des Karussells, zieht das ausgestellte Hosenbein hoch und spannt ihre Wadenmuskeln an. Ich zögere; sie nimmt meine Hand und preßt sie auf ihre Wade, die sich warm und glatt anfühlt. Aber als ich mich über sie beuge, fällt mir das Haar aus dem Gesicht, und sie sieht die purpurfarbene Beule und die Zickzackwunde auf meiner Stirn. «Schätzchen», sagt sie besorgt, «haben sie dich da erwischt?» Sie zieht mich hoch und fährt sanft mit den 271
Fingerspitzen über die Verletzung. «Ja.» «New York. Was zum Teufel tust du eigentlich da oben?» Aber es bleibt nicht genug Zeit für eine Antwort. Meine Schultertasche kracht aus dem Gepäckschacht, und sobald ich sie habe, zieht Antoinette mich durch die Automatiktüren hinaus in die butterige Augusthitze von New Orleans. «Ich stehe im Parkverbot», sagt sie. «Laß uns gehen. Oh, und das hier ist für dich.» Sie dreht sich um und legt mir energisch die rosafarbenen Rosen in die Arme. «Willkommen daheim», sagt sie, beugt sich vor und küßt mich auf die Wange.
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er Wagen ist neu und beeindruckend, ein rotes SaabTurbo-Cabrio mit weißer Innenausstattung aus italienischem Leder. Antoinette schleudert sich die Schuhe von den Füßen und fährt das Ding barfüßig, sorglos, als führe sie einen klapprigen alten Lieferwagen. In dem hellen Lack sind auch schon ein oder zwei größere Kratzer. Wir fädeln uns in den Verkehr auf dem Airline Highway ein, fahren im lockeren Fluß des Samstagsverkehrs der Stadt entgegen. «Hübscher Wagen», überschreie ich den Ansturm heißen Windes. «Ich denke schon. Jedenfalls, wenn man seine Autos modern mag», ruft sie zurück. «Papa hat ihn letztes Jahr für mich gekauft. Ich wollte den Wagen eigentlich nicht. Ich wollte ein großes, altes, rosafarbenes Cadillac-Cabrio, Baujahr 59, und hatte mir auch schon eins für zehntausend Dollar organisiert - bei diesem Typen, den ich schon lange kenne, der mit Dothan im Spanish Town gearbeitet hat. Aber Papa war nicht wohl bei dem Gedanken, ich könnte in einem dreißig Jahre alten Auto rumfahren, also kaufte er mir dieses Ding hier. Hat mich nicht mal gefragt. Ich hasse es, wenn du die Wahrheit wissen willst. Ich komme mir darin vor wie ein Mädchen aus einer Studentenverbindung. Man brauchte eine Schleife im Haar, um dieses Ding zu fahren.» Nun brechen die Wolken, die ich vorhin aus dem Flugzeugfenster gesehen habe, mit einem Donnerkrachen auf, und es fängt an zu regnen. Antoinette fährt mit offenem Verdeck. Regentropfen klatschen auf die Windschutzscheibe, aber wir bleiben dahinter trocken. Ich 273
bin noch nie zuvor mit ihr gefahren, und es ist ein furchterregendes Erlebnis. In ihrer Vorstellung vom Fahren scheint es allein darum zu gehen, wie man auf dem schnellsten Weg von einem Punkt A zu einem Punkt B kommt, und zum Teufel mit all den Feinheiten, die es sonst noch gibt. Sie blickt zu mir herüber, wie ich mit zusammengebissenen Zähnen auf dem Beifahrersitz sitze, und lacht. «Hey, bisher ist noch keinem meiner Passagiere etwas zugestoßen», sagt sie. Als der Regen stärker wird und ich die ersten Tropfen abbekomme, fischt sie eine LSU-Mütze aus dem Tohuwabohu auf dem Rücksitz und wirft sie mir rüber. «Hier, setz das auf, wenn du nicht naß werden willst.» Dann tritt sie das Gaspedal durch, und wir rasen die Straße runter, bis das Stadtzentrum vor uns liegt, ein grau-grüner Schwaden vor der Windschutzscheibe. Sie hat das Radio eingestellt, einen Sender, der Country-Oldies spielt, und singt mit, ein Lied voller gebrochener Herzen, während wir den Pontchartrain Expressway kreuzen. Ein kleines Stückchen vor uns glitzern dumpf und häßlich die gestreiften Metallwände des Superdome wie die Wände eines futuristischen Gefängnisses. «Wie wär’s mit einem Bier?» Antoinette haut mir schroff aufs Knie. Ich bin in meinem Sitz runtergerutscht wie ein Zehnjähriger. «Ich bin dabei», sage ich. «Aber nur eins. Wir müssen nämlich nachher kurz zu meinem Laden, und dann gleich weiter. Die ganze Familie wartet auf uns. Okay?» Bei Dryades verlassen wir die Schnellstraße und fahren Richtung Perdido. Antoinette parkt den Saab an der Ecke Perdido und Carondolet, direkt neben einem Hydranten. Einen halben Block weiter, kurz bevor die Carroll Street 274
in eine Sackgasse mündet, prangt, hell erleuchtet gegen den grauen Himmel, ein Neon-Martiniglas und flackert in dem Regen angenehm blau. Antoinette hüpft mit einem kurzen athletischen Satz aus dem Saab, ohne die Tür zu öffnen. Es ist nicht das erste Mal; ich kann die abgestoßenen Stellen und die Grasflecken auf der Armlehne sehen. «Willst du das Verdeck nicht zumachen?» frage ich. «Mach dir keine Sorgen um meinen Wagen», sagt sie ärgerlich und ist schon auf halbem Weg zur Bar runter. Sie ist darin verschwunden, noch bevor ich mich ganz aus dem Sicherheitsgurt befreit habe. Ich lasse die Rosen auf dem Rücksitz, wo sie vom Regen profitieren werden, und laufe hinter ihr her. Die Cocktailbar ist lang und dunkel. Segelschiffdrucke hängen in den Nischen, ein blankpoliertes, hölzernes Schiffssteuerrad und ein Netz mit gläsernen Schwimmkörpern sind unter die Decke genagelt. Das Ganze hat den spröden Charme der fünfziger Jahre. Das Lokal liegt in der Nähe der Bundesbehörden und der Geschäfte auf der Canal Street und ist genau das, wohin man seine Sekretärin mitnehmen würde, wenn man eine Affäre mit ihr hat. Antoinette sitzt bereits auf einem roten Kunststoffhocker an der Theke, raucht eine Zigarette und trinkt einen Gin Tonic. Sie deutet auf ein zweites Glas, das auf einer papiernen Cocktailserviette vor sich hin schwitzt. Am Rand des Glases stecken eine Limonen- und eine Zitronenscheibe. «Trink aus», sagt sie. «Wir sind schon spät dran. Die anderen sind bereits heute morgen hingefahren.» Ein wenig benommen klettere ich auf den Hocker. Ich hatte vergessen, wie New Orleans im Sommer ist: die Luft wie ein heißes Bad und die klimatisierten Häuser frostig275
kühl. Und dann ist da noch etwas - ein seltsames Entrücktsein. Ich fühle mich wie ein Mann, der in seiner eigenen Vergangenheit spukt, und es scheint, als könnte ich beinahe durch meine Hand auf der Theke hindurchsehen. O verdammte Substanzlosigkeit! «Du siehst aus, als wäre dir etwas übel», sagt Antoinette. «Ein bißchen käsig im Gesicht. Ist dir übel?» «Nein», sage ich. «Es ist nur so lange her, daß ich…» «Ach komm schon.» Sie verpaßt mir einen steifen Schlag auf die Schulter. «Krieg mir jetzt bloß keine verschleierten Augen. Du bist wieder da, das ist alles. Du warst zu lange weg. Das ist dein Urlaub. Tu mir den Gefallen und versuch dich zu entspannen. Kannst du das? Na komm schon, versuch’s.» Mit diesen Worten streckt sie die Hand aus und klopft mir mit einem spitzen Knöchel auf den Kopf. Ich beschließe, ihren Rat zu befolgen, aus Angst, daß ich mit mehr Beulen nach New York zurückkehre als ich jetzt schon habe. Sie kippt ihren Gin Tonic und bestellt noch eine Runde, obwohl ich meinen noch kaum angerührt habe. Dann klickt sie ihre kleine, rechteckige Handtasche auf, holt eine antike Tablettendose heraus, nimmt eine gelbe Pille aus dem Döschen, legt sie sich auf die Zunge und spült sie mit einem Schluck Gin hinunter. «Was ist das?» frage ich. «Habe gestern nicht viel Schlaf bekommen», sagt sie. «Nur eine Kleinigkeit, um mich aufrecht zu halten.» «Mhm.» «Frag nicht.» Wir schweigen eine Minute lang, und Antoinette schlürft ihren zweiten Drink, während ich meinen ersten austrinke. Dann hält sie inne und betrachtet mich mit einem 276
verschleierten Blick. «Heraus damit», sage ich. «Nichts», erwidert sie. «Du bist überempfindlich.» Dann erzählt sie mir von der bevorstehenden Familienversammlung. Ihre Eltern haben eine Art Angelhütte, flußabwärts zwischen Pointe à la Hache und Jesuit Bend, die sie nun zweimal im Jahr mit Töchtern und Ehemännern und Enkelkindern und wahlweise gekochten oder gegrillten Langusten füllen. «Als ich mit dir telefoniert habe, hast du dich so niedergeschlagen angehört», sagt sie. «Diese Sache ist vielleicht ein bißchen langweilig, aber alles ist besser als New York, stimmt’s?» «Stimmt.» «Wir fahren seit etwa zehn Jahren runter in die Hütte. Seit Papa seine Hütte im Bayou draußen vor Mamou aufgegeben hat. Weißt du, er konnte sie nach dieser ganzen Dothan-Geschichte nicht mehr richtig leiden. Ich glaube, er gab sich immer die Schuld an allem, weil er mich mitgenommen hat - unbeaufsichtigt. Aber, um die Wahrheit zu sagen, es hätte überall passieren können. Ich war in diesen Tagen einfach pflückreif.» Plötzlich scheint sie sehr nervös zu sein. Mit der brennenden Zigarette im Mundwinkel trommelt sie mit den Fingern auf die Theke, ihr Fuß wippt im Takt, und ich begreife, daß die gelbe Pille gewirkt hat und daß es Speed ist. Sie versucht, etwas zu sagen, schüttelt dann aber den Kopf. Ihre Gedanken sind schneller als ihre Zunge. Ich versuche, sie runterzuholen. «Was ist eigentlich aus Dothan geworden?» sage ich, und sie hört eine Sekunde lang auf, nervös herumzuzappeln, so als hätte ihr jemand gerade die Tür vor der Nase zugeschlagen. 277
«Dothan, hm», sagt sie. «Ich weiß nicht, wo zum Teufel er im Augenblick steckt, und es ist mir auch egal. Ungefähr drei Jahre, nachdem du aus der Stadt verschwunden bist, haben wir uns endgültig getrennt. Der Bastard hat mir ein schönes, dickes blaues Auge verpaßt, so ähnlich wie das, das du abgekriegt hast. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich gehört, daß die Staatspolizei ihn wegen irgendeiner Drogensache sucht. Er hat ein paar Jahre auf der Gefängnisfarm oben in Angola zugebracht. Er war ein übler Kunde, aber da wimmelt es nur so von üblen Kunden. Ich habe einiges durch Leroy Threefoot erfahren, diesem Halbblut-Choctaw, der in der Bar gearbeitet hat, den Burschen, von dem ich beinahe den Cadillac gekauft hätte. Leroy hat mir erzählt, Dothan habe sich einen kleinen Schwarzen als Lover genommen, wie sie das da oben alle machen, und daß ihm jemand beide Arme gebrochen und ihm ein Messer in die Lunge gejagt habe. Aber er hat sich wieder erholt. Als er raus kam, ging er nach Texas. Das ist alles, was ich weiß. Aber ich sag dir, Texas ist genau das richtige für ihn, da gehört er hin. Ein Staat voller weißer Proleten, shitrauchender Arschlöcher und Klapperschlangen. Da müßte Dothan eigentlich gut reinpassen.» Antoinette trinkt ihren Gin Tonic aus, lutscht an einem Eiswürfel, spuckt ihn wieder ins Glas, nimmt ihre Handtasche und läßt sich vom Hocker heruntergleiten. Da ist etwas Fremdes an ihr, etwas, worauf ich nicht recht meinen Finger legen kann, eine Spur Müdigkeit vielleicht oder Traurigkeit unter der sexy Bräune und dem Speed, aber ich weiß noch nicht genug, um mir sicher zu sein. «Fertig?» sagt sie. Es ist keine Frage. Sie ist schon an der Tür, und ich verschlucke mich in der nächsten Sekunde an meinem halben Glas Gin und folge ihr. 278
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ntoinettes Laden liegt an der Treme Street und erstreckt sich über das Erdgeschoß eines dreistöckigen, nach kreolischer Art erbauten Stadthauses aus dem späten 19. Jahrhundert, das schmiedeeiserne Balkone hat und einen Anstrich in einem lebhaften Rosa. «Da oben sind zwei Apartments», sagt Antoinette und zeigt auf die oberen Stockwerke. «Ganz hübsche ZweiZimmer-Wohnungen mit einem kleinen gemeinsamen Garten hinten im Hof. Zwei homosexuelle Paare wohnen da, ordentlich und ruhig. Ich sollte sie eigentlich rauswerfen und ein bißchen renovieren, mit der Miete raufgehen und mir ein paar Yuppies ins Haus holen. Aber du weißt ja, wie es mit dem Geld bei mir ist. Konnte das Zeug noch nie ausstehen.» «Das Haus gehört dir?» frage ich. «Jetzt ja. Papa hat es mir letztes Jahr an meinem Geburtstag überschrieben.» «Nett von ihm.» Antoinette parkt den Saab in der zweiten Reihe auf der schmalen Straße, und wir gehen in den Laden. Innen ist kaum genug Platz, um sich zu bewegen. Es riecht nach Gewürzen, Zigaretten und Mottenbällen, und von der Decke bis zum Boden ist alles mit alten Kleidern vollgestopft - Anzüge, Kostüme, Jacketts, Mäntel, Röcke, Hüte, Schuhe, Handtaschen. Das Strand- und Treibgut der vergangenen vier Jahrzehnte. «Das ist der Verkaufsraum», sagt sie. «Hier ist alles um fünfzig Prozent reduziert. Oder zwei zum Preis von einem.» Ein handgeschriebenes Schild über einem Regal 279
verkündet: SEVENTIES! HIP! HYPERMODERN! ZU VERKAUFEN! Ich sehe häßliche Polyesterkleider, Maximäntel und die zotteligen Kaninchenfelljacken, die, wie ich mich erinnere, die flotten Bienen meiner Jugend getragen haben. «Die Leute sind im Augenblick unheimlich heiß auf die Siebziger, man glaubt es kaum», sagt Antoinette und zieht ein unanständig grünes Sweaterkleid heraus, das mit einer fedrigen Substanz umsäumt ist. «Ich weiß», sage ich. «Man sieht es im ganzen East Village. Klobige schwarze Schuhe mit Zehn-ZentimeterSohlen und ausgestellte Hosen. Das Zeug war damals häßlich und ist es immer noch.» Sie runzelt die Stirn, und wir bahnen uns unseren Weg zum nächsten Raum. Hier gibt es eine Kasse, gläserne Schauvitrinen und gerahmte Schwarzweißfotos von Leuten aus den Zwanzigern. Vor einem dieser Fotos bleibe ich stehen; es zeigt eine hübsche Frau mit dem glänzend schwarzen Bubikopf jener Ära. Die Ähnlichkeit ist verblüffend: dieselben Wangenknochen, dasselbe freimütige Lächeln. «Das ist meine Tante Tatie», sagt Antoinette. «War zu ihrer Zeit wohl eine ziemlich ausgenippte Type. Hatte Liebhaber, war nie verheiratet.» «Liegt in der Familie, würde ich sagen.» Antoinette wirft mir einen Blick zu. «Sie war so lieb. Sie starb vor ein paar Jahren im Altersheim. Ich vermisse sie sehr.» Die Kasse, bewacht von drei Highschoolmädchen, steht auf einem antiken Schreibtisch an der Wand am anderen Ende des Raumes. Antoinette stellt die drei als Sticky, Polly und Emmy-Lou vor. Die Mädchen sehen mich gleichgültig an. Ich beeindrucke sie nicht. 280
«Wie ist es gestern gelaufen?» erkundigt sich Antoinette. Polly zuckt mit den Schultern. «Ganz gut.» Sie alle sind übertrieben geschminkt, tragen Kleider aus dem Laden und sehen aus wie kleine Mädchen, die sich an den Zedernholzkommoden ihrer Großmütter vergriffen haben. Zwei von ihnen rauchen indische Zigaretten, und eine ungesunde Wolke von dem Zeug schwebt über ihren Köpfen in der Luft. Speedmetal kreischt auf höchster Lautstärke aus einem Kassettenrecorder auf dem Regal hinter ihnen. Es ist nur allzu leicht, sich das Leben vorzustellen, das auf sie wartet: Mit neunzehn wird eine den Bassisten einer Rockband heiraten, und nach einer Achterbahnfahrt von Drogen und Auftritten in entlegenen Regionen kommt es zur Scheidung; mit dreißig ist ihre Jugend futsch und ihre Hoffnung dahin. Die nächste wird innerhalb von fünf Jahren an einer Überdosis sterben oder ihr Leben bei einem Autounfall lassen, bei dem Alkohol im Spiel war. Aber die dritte, die könnte uns vielleicht überraschen. Ich sehe eine Versöhnung mit ihren Eltern und schließlich ein Jurastudium. Alle drei zusammen sieben Abtreibungen. Antoinettes flatterige Nervosität macht diesen lieblosen Spekulationen ein Ende. Sie haut eine Kiste voller Glasperlen von der Kasse herunter, und Sticky seufzt und bückt sich, um das Chaos wieder aufzuräumen. Dann sehe ich mich im Geschäft um, während Antoinette die Kasse öffnet und die Einnahmen des Vortags zusammenrechnet. Es gibt noch ein Hinterzimmer, angefüllt mit einem seltsamen Durcheinander von Herrenbekleidung. Ich zähle fast hundert Paar khakifarbener Reithosen, vorschriftsmäßige Dienstkleidung der US-Armee vor dem Weltkrieg, einen ganzen Ständer mit Zweireihern aus der Zeit der Wirtschaftskrise sowie zehn Kartons mit spitz zulaufenden Slippern, die sich an den Zehen nach oben 281
biegen. Ich probiere einen mottenzerfressenen Admiralshut auf, und während ich nach Napoleonmanier vor dem abblätternden ovalen Spiegel posiere, steht plötzlich Sticky hinter mir. «Hey, Mister», sagt sie. Ich fahre verlegen herum und will den Hut abnehmen, aber sie winkt ab. «Keine Sorge», sagt sie. «Jeder probiert diesen Hut auf. Die meisten Leute sehen blöd damit aus, aber Ihnen steht er ganz gut.» «Ich kann wohl kaum durch die Stadt laufen und so aussehen wie einer von Napoleons Marschällen», sage ich. «Warum nicht?» fragt sie und meint es ernst. Dann schaut sie über ihre Schulter, dorthin, wo die anderen sich mit dem Bargeld beschäftigen, und senkt ihre Stimme. «Ich möchte mit Ihnen reden. Hier hinten.» Sie zieht mich durch die Hintertür auf die Veranda, von der aus man den Garten überblicken kann. «Ich möchte mit Ihnen über Nettie reden», sagt sie mit ernstem Gesichtsausdruck. «Sie meinen Antoinette?» «Hören Sie, sind Sie ihr Freund oder so was?» «Nein», sage ich. «Hm, sie hat von Ihnen gesprochen, als wären Sie ihr Freund.» «Was?» Ich spüre ein leises Kribbeln im Nacken. «Antoinette spricht über mich?» «Ja, sie sagt, Sie kämen von New York runter und daß sie sich eine Weile nicht gesehen hätten, und sie schien wirklich aufgeregt zu sein deswegen, also dachte ich, Sie wären ihr Freund. Aber Sie sind nicht ihr Freund?» «Nicht daß ich wüßte.» 282
«Aber Sie mögen sie, ja?» Sie zupft nachdrücklich an meinem Ärmel. «Ja.» «Okay. Ich möchte nur sagen, daß ich mir Sorgen um sie mache. Ich meine, ich kenne ihre Familie nicht oder so, sonst würde ich es denen sagen: Nettie nimmt in letzter Zeit eine Menge Speed. Ich meine, echt eine Menge. Sie war so depressiv, als letztes Jahr diese ganze Sache mit Victor passiert ist…» «Wer ist Victor?» Sie macht eine ungeduldige Handbewegung. «Netties ehemaliger Freund. Also hat sie viel geschlafen - Sie wissen ja, wie das ist, wenn man depressiv ist: Man liegt nur den ganzen Tag im Bett und raucht Zigaretten und schläft - und um sich da rauszuholen, hat sie angefangen, Speed zu nehmen. Seither ist sie nicht mehr richtig von dem Zeug weggekommen. Und in letzter Zeit kommt sie in den Laden und nimmt Geld aus der Kasse, so wie heute. Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, daß das schlecht fürs Geschäft ist. Wir haben hier früher wirklich gutes Geld gemacht: das Geschäft ist sehr beliebt, einer der ganz wenigen richtigen Second-hand-Shops in New Orleans mit wirklich guten Klamotten. Aber jetzt, glaube ich, verlieren wir Geld, und ich frage mich…» Sie sieht noch einmal über ihre Schulter, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe ist. «Ich frage mich, ob sie wieder anfängt zu koksen.» «Sie meinen…?» «O ja, Kokain. Sie und Victor haben in dem Zeug gebadet. Vielleicht bin ich paranoid, aber ich sehe die verräterischen Zeichen. Ängstlichkeit und so. Es geht mich nichts an; es ist nur, daß jemand, der ihr nahesteht, davon wissen sollte. Das ist alles.» Sticky ist ein wenig außer Atem, als sie zu Ende kommt. 283
Ich schweige einen Augenblick, während ich das alles verdaue. Dann hören wir Antoinette aus dem Laden rufen. «Sticky? Da sind ein paar Quittungen, über die ich mit dir sprechen möchte.» «Okay. Ich muß», sagt Sticky. «Ich möchte ja nicht unken, aber Nettie ist prima, und sie braucht vielleicht etwas Hilfe, und wenn Sie ihr helfen könnten, wäre das super. Okay?» Antoinette ruft noch einmal, und das Mädchen schlüpft davon, und ich stehe mit meinem Admiralshut auf der Veranda, feierlich wie der Kaiser persönlich mit gekreuzten Armen, den Blick versonnen auf den grünen, vom Regen nassen Garten unter mir geheftet.
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ie Sonne ist jetzt herausgekommen, und der wolkenlose Himmel zeigt ein beharrliches Blau. So ist das hier unten. Regen am Morgen und dann klar und heiß in den langen Stunden, die sich vom Mittag bis zur Abenddämmerung hinziehen. Antoinette hat ihre italienische Sonnenbrille aufgesetzt, und wir jagen über den Belle Chasse Highway, ein glitzernder roter Käfer auf dem dunklen Asphalt. Schon bald macht der Highway eine scharfe Rechtskurve, und da liegt der Fluß, eine braune, träge Schlange auf der anderen Seite des Deiches. «Wie findest du meine Mädchen im Laden?» ruft Antoinette über das Heulen des Saabs hinweg. «Sie haben es schrecklich eilig, erwachsen zu werden. Bohémiens, Juniorausgabe. Sie erinnern mich an einige Leute in New York. Ich sehe sie vor mir, in ein paar Jahren im Village, wie sie in die Szene eintauchen. Aber indische Zigaretten? Ich dachte, die wären schon seit Jahren out.» Antoinette grinst. «Nicht bei diesen Küken.» «Vielleicht hat eine von ihnen etwas mehr drauf. Das Mädchen im Piratenkostüm. Nett, die Kleine.» «Sticky? O ja. Sticky ist prima. Sie liebt mich.» «Ich glaube, sie macht sich außerdem auch Sorgen um dich. Die Pillen…» «Scheiße. Ich kann nicht glauben, daß sie darüber mit dir gesprochen hat.» Antoinette starrt mit gerunzelter Stirn nach vorne, und als ihre Lippen sich nach unten ziehen, sehe ich scharfe Sorgenfalten um ihre Mundwinkel. «Was ist mit diesen Pillen, Antoinette?» 285
«Nichts. Vergiß sie. Sie sind nicht viel stärker als ein Espresso.» «Und was ist mit Kokain? Nimmst du das auch?» Sie schüttelt den Kopf und schlägt ungeduldig auf das Lenkrad. «Laß es uns vergessen, ja?» «Antoinette…» «Später», sagt sie. «Der Nachmittag ist so schön. Verdirb ihn bitte nicht.» Sie hat recht. Wir fahren am Jesuit Bend vorbei, ein hohes Federwolkenfeld zieht über den blauen Himmel, und der Duft des offenen Landes weht zu uns herüber. Schon bald rollen wir an meilenlangen Orangenhainen vorbei, zwischen denen ab und zu Gruppen immergrüner Eichen auftauchen; früher einmal der Standort großer Herrenhäuser. In den Tagen vor dem Bürgerkrieg, als ein einziger Weißer ganze siebzehntausend schwarze Sklaven besitzen konnte, war dieses Land im Plaquemines-Delta der Mittelpunkt einer unglaublich opulenten Plantagenkultur, die erkauft war mit dem Schweiß anderer. Reis, Zuckerrohr und Indigo wurden auf Feldern angebaut, die dem Sumpf abgerungen waren, und flußaufwärts gegen die Luxusgüter dieser Welt eingetauscht: Teppiche und Sèvres-Porzellan und Bücher aus Frankreich, Seidenballen und Gewürze aus dem Orient, Duellpistolen und Tafelsilber und Biberhüte aus England, ja, sogar Renaissancegemälde aus Italien. Damals war jeder Pflanzer auf seinem Land der absolute Herrscher und schuldete nur dem eigenen Gewissen Gehorsam. Aber das alles fand 1862 ein Ende, als Admiral Farraguts Kanonenboote die Kette durchbrachen, die die Konföderierten über die Mündung des Flusses gespannt hatten. Die Unionisten bombardierten Fort St. Philipp und Fort Jackson bis zu deren Kapitulation und dampften dann 286
an den Plantagen vorbei nach New Orleans, das sich kampflos unterwarf. Ungefähr fünf Meilen südlich von Naomi fährt Antoinette vom Highway ab auf eine Straße, die durch einen Orangenhain in den Bayou führt. Man hört das Summen unzähliger Bienen, und am unteren Ende eines der grünen, schattigen Wege zwischen den Bäumen sehe ich kurz einen Imker in einem Overall, der sich um eine Reihe quadratischer weißer Kisten kümmert. Einige der gelbschwarzen Insekten klatschen gegen die Windschutzscheibe, bevor wir den Kiesweg verlassen und in eine schmale Straße mit einem Schild ›Privat Durchfahrt verboten‹ einbiegen; die Straße ist mit Muschelschalen gepflastert und gerade breit genug, daß ein einziger Wagen sie befahren kann. Die Luft hier wimmelt nur so von Stechmücken und Moskitos. Zu beiden Seiten der Straße fällt der Boden zum Sumpf hin ab, und wir sind umgeben von einer üppigen Vegetation: Weiden und Kiefern, Zypressen, Magnolien und niedrige, verkümmerte Büsche, durchsetzt mit wilden kreolischen Lilien und Kamelien. «Alligatoren», sagt Antoinette, als wir eine neue Holzbrücke überqueren, und ich drehe mich schnell um, um zu sehen, wie etwas, das wie ein moosbewachsener Balken aussieht, unter die grüne Wasseroberfläche abtaucht. Dann endet die Muschelpflasterung. Antoinette steuert den Saab ziemlich unsanft über einen tief ausgefahrenen Pfad, und ich muß den Arm aus dem Fenster strecken und die Zweige vom Wagen weghalten, damit wir weiterkommen. Jetzt ist da nur noch das grüne Licht, das durch die Bäume fällt, und die Geräuschkulisse des Sumpfes. «Heiliger Bimbam», sage ich, «das ist…» Aber ich bin zu überwältigt, um weiterzusprechen. «Nicht New York», sagt sie, und sie lächelt. 287
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ie Fischerhütte der Rivaudais liegt an einem Hang mit Blick über die stillen Wasser einer Lagune. Dieses dunkle, längliche Gewässer fließt in ein schiffbares Flüßchen, das sich durch den Bayou zu einem See namens Fond schlängelt, dessen Uferlinie die Grenzen des Staates Indiana nachzuzeichnen scheinen. An einem Ende des Pond liegt die kleine Stadt Cœur de France. Dort gibt es ein Geschäft für Angelzubehör, eine Kneipe, die gleichzeitig Gemischtwarenhandlung und Postamt ist, eine katholische Kirche, die die Spanier vor zweihundert Jahren hier erbaut haben, ein Gefängnis und ein paar Dutzend Wohnhäuser, die auf Zypressenstelzen auf dem sandigen Boden stehen. Dieser Flecken ist von hier aus die nächste Verbindung zur Zivilisation, ungefähr drei Stunden mit der Piroge durch den Bayou. «Früher gab es dort den ganzen Sommer lang Tanzveranstaltungen», erzählte Papa Rivaudais. «Richtige Tanzabende, wie in Frankreich auf dem Lande. Es gab eine Art Tanzsaal hinter der alten Kirche. Aber das ist lange her. Als wir noch ein frisch verheiratetes Ehepaar waren, Mrs. Rivaudais und ich, haben wir immer das Wochenende hier unten verbracht. Sind Samstag nachmittags angekommen, hinein in die Piroge und den ganzen Weg bis nach Cœur de France gepaddelt. Dann haben wir die ganze Nacht getanzt, sind wieder in die Piroge und den ganzen Weg zurückgepaddelt. Aber irgendwann ist dann ein Hurrikan hier durchgekommen so gegen Ende der Fünfziger - und hat die Tanzhalle einfach weggepustet. Der Priester damals war ein abergläubischer alter Kauz, und er ist zu dem Schluß 288
gekommen, daß Gott wohl keine Tanzerei in seiner Kirche haben wollte, und das war’s. Die Tanzhalle ist nie wieder aufgebaut worden. Sonst würde ich Ihnen sagen, schnappen Sie sich Nettie, holen Sie sich die Piroge und fahren Sie rüber nach Cœur de France. Tanzen ist so ungefähr das beste, was zwei junge Leute tun können, um sich näher zu kommen. Sie wissen, was ich meine?» Ich sitze mit Antoinettes Vater am Ende des kleinen Landestegs, der ungefähr zwanzig Meter in das schwarze Wasser der Lagune hineinragt. Angeblich angelt Papa Rivaudais, aber in Wirklichkeit sitzt er nur in sich zusammengesunken auf einem Klappstuhl, starrt mit leerem Blick hinaus auf die Lagune. Die offensichtlich teure Fiberglasrolle liegt ihm locker in der Hand. Zu seinen Füßen steht ein Styroporkühlbehälter mit alkoholfreiem O’Doul’s, eine Kiste mit Angelzeug und ein leerer Weidenkorb für die Fische. Die Jahre haben den Mann, der immer noch zu den zwölf reichsten Bürgern des Staats Louisiana zählt, schließlich doch eingeholt. Die Hand, mit der er die Rute umfaßt hält, zittert, und ein Auge hängt schlaff herunter - das Vermächtnis eines Schlaganfalls im vergangenen Jahr. Sein weißes Haar lugt in Strähnen unter der Angelmütze mit dem langen Schirm hervor, und der einst so schmucke Schnurrbart ist dünn und vergilbt. Ich erinnere mich an den robusten Patriarchen, der er vor zehn Jahren noch war, und ich bin erfüllt von Mitleid. Papa Rivaudais ist alt geworden und überlebt nur dank einer faden, salzlosen Kost und eines Schuhkartons voller Medikamente. Noch während wir miteinander reden, füllen seine Lungen sich mit Flüssigkeit. Er beugt sich vor und spuckt baumwollweißen Schleim in das schwarze Wasser des Bayous. Dann wischt er sich seinen Mund mit einem roten Halstuch ab, das er dann 289
wieder in die Tasche des langärmeligen, karierten Hemdes stopft, das er sogar bei dieser drückenden Hitze trägt. «Sie müssen mich entschuldigen», sagt er. «Wenn das Zeug hoch kommt, kommt es hoch. Mein Arzt sagt, spucken sei besser als schlucken.» «Das ist schon in Ordnung», sage ich. Dann lassen wir uns zu einem langen Schweigen nieder. Von irgendwo in der Nähe ertönt der Ruf eines Seetauchers. Die drei Hütten auf dem Hügel sind durch überdachte Gehwege verbunden und von einer hölzernen Terrasse umgeben. Die mittlere Hütte mit dem altmodisch überdachten Eingang, dem steinernen Schornstein und den Schiebefenstern stammt wahrscheinlich aus den Zwanzigern; die beiden Nebenhütten mit gläsernen Schiebetüren und Klimaanlagen sind neuere Anbauten, erst ein paar Jahre alt. Trotzdem hat der ganze Bau noch immer etwas Ländlich-einfaches. So etwa müssen die ersten französischen Siedler gelebt haben, als sie im Schlepptau des Sieur de Bienville und seiner Soldaten hierherkamen. Damals gab es hier nur die Bäume und den Himmel und die Indianer draußen im Bayou. Von den Hütten weht jetzt das schrille Kreischen eines Kinderlachens herüber, das Weinen eines Babys und der Klang von Frauenstimmen. Ich schaue über meine Schulter und sehe, daß Antoinette und ihre Schwestern auf die Terrasse treten. Sie bereiten alles zum Grillen vor. Ich erkenne Jolie wieder, obwohl sie sich ihr Haar blond gefärbt hat. Sie trägt ein Baby auf dem Arm. Außerdem sind da noch zwei kleine Mädchen, Zwillinge aus dieser Entfernung, die einander an den Haaren ziehen. «Es macht Ihnen doch nichts aus, bei einem alten Mann zu sitzen, oder?» fragt Papa Rivaudais und blickt zu mir auf. «Oder würden Sie lieber raufgehen und den Frauen 290
Gesellschaft leisten?» In seiner Stimme liegt ein Hauch der alten Ironie, und hinter dem verblaßten Blau seiner Augen blitzt Heiterkeit auf. «Nein, es macht mir nichts aus», sage ich. «Die Ehemänner sind alle zum Fischen gefahren. Ich werde langsam zu alt dafür. Zwei Stunden in einer Piroge, und ich habe es wochenlang mit den Knochen wegen der Feuchtigkeit.» «Und Mrs. Rivaudais?» «Meine Frau ist unterwegs, kümmert sich um die Grabstätten ihrer Angehörigen. Macht das jetzt wie jede gute kreolische Hausfrau. Am Ende, wenn man lange genug lebt, findet man immer zu den alten Sitten zurück. Vor ungefähr einem Jahr habe ich sogar mit einem Priester gesprochen. Hatte wohl seit vierzig Jahren kein Wort mehr mit einem gewechselt, außer um zu sagen: ›Hallo, Pater, wie geht es Ihnen?‹ Wissen Sie, was der Kerl mich gefragt hat?» Ich schüttle den Kopf. «Er hat mich gefragt, ob ich an Gott glaube. Eine Minute lang war ich sprachlos. Dann habe ich gesagt: ›Na ja, schon.‹ Das erste Mal, daß ich darüber nachgedacht habe, seit ich ein Junge war. Gott! Glauben Sie an Gott, Mr. Conti?» Das ist das zweite Mal in zwei Monaten, daß mir diese Frage gestellt wird. Ich denke einen Augenblick nach, aber der alte Mann gibt mir keine Gelegenheit zu einer Antwort. Er holt tief Luft, ein Rasseln in seiner Kehle, und beugt sich vor. «Haben Sie schon mal was von diesem Franzosen gehört, von Pascal?» fragt er und zieht eine zerfledderte Ausgabe der Pensées aus der tiefen Tasche seiner khakifarbenen Jägerjacke, die an der Stuhllehne hängt. 291
Ich bin sprachlos. Ich habe die Rivaudais immer für eine Familie gehalten, in der rein praktische Erwägungen den Ton angeben und nichts sonst. So viel also zu meiner blasierten Selbstgefälligkeit. «Toller Bursche, dieser Pascal», fährt Papa Rivaudais fort. «Ungemein religiös, aber daneben ein brillanter Mathematiker und außerdem der Vater öffentlicher Verkehrsmittel. Er hat im 19. Jahrhundert in Paris die erste mit Pferdekraft betriebene Buslinie eingerichtet. Aber er hat als Skeptiker begonnen, genau wie ich, genau wie Sie, und er macht uns Skeptikern einen interessanten Vorschlag. Schließ eine Wette mit dir selbst ab, sagt er. Wette mit dir selbst, daß Gott existiert. Wenn er existiert, gewinnst du, wenn er nicht existiert, gewinnst du trotzdem, denn es spielt eigentlich keine Rolle, und du hast es geschafft, dir etwas zu geben, woran du dich in diesem traurigen Leben festhalten konntest. Etwas, das dich warm hält, das dich schützt gegen das, was der alte Pascal les silences effrayantes de ces espaces inconnues nannte. Verstehen Sie, was ich meine? Hier…», sagt er und reicht mir das Buch. Ich sehe mir das Buch höflich an, gebe ein paar Kommentare über französische Philosophen dieses Zeitalters ab und gebe es ihm zurück. Aber ich bin trotzdem ein bißchen überrascht. Pascal im Bayou. «Wissen Sie, ich versuche mit der Familie über das, was ich gelesen habe, zu reden, aber die rollen nur mit den Augen. Sie denken, ich bin ein verrückter alter Mann, sogar meine Frau. Wir sind keine Dummköpfe, Mr. Conti. Irren Sie sich da nur nicht. Mein père und mein grandpère, die waren beide sehr clever - ich meine auf so eine ländliche Art und Weise, denn sie waren ja in Wirklichkeit Leute vom Land. Na ja, es sieht so aus, als könnten wir durchaus etwas von diesem Zeug in der 292
Familie gebrauchen.» Er klopft auf das Buch. «Ich meine, ein bißchen abstraktes Denken…» Nach diesen Worten entsteht ein langes Schweigen, und ich höre das Wasser gegen die Steine plätschern. Es ist durchaus möglich, still neben einem alten Mann zu sitzen und dabei nicht verlegen zu werden, denn ab einem gewissen Alter hat man das Gefühl, daß alle Gespräche geführt und alle Fragen erörtert sind und daß es nur noch die Gesellschaft ist, die zählt. So wie Kinder wollen auch alte Leute nicht allein sein. Schließlich holt uns ein Ziehen an der Leine in die Gegenwart zurück. «Ha!» sagt Papa Rivaudais. «Manchmal kommen die Fische zu uns, wenn wir nicht zu den Fischen gehen.» Es folgt ein kurzer Kampf, er ist schwach, aber seine Angelerfahrung trägt schließlich den Sieg davon. Er holt eine Brasse von zwei Pfund ein, deren dunkle Schuppen in dem schwindenden Licht glitzern. «Die Geschöpfe tun mir beinahe leid», sagt er. «Lacrima ramm, wie die Römer zu sagen pflegten, wie traurig das doch ist, aber ich sage Ihnen, schlitzen Sie sie auf, nehmen Sie sie aus, legen Sie sie auf den Grill, mit etwas Zitronensaft und Knoblauchbutter, und die Traurigkeit geht vorüber.» Er wirft den Fisch in den Korb. Dann, eine Viertelstunde später, zieht er noch einen aus dem Wasser, einen zwei Pfund schweren Sonnenfisch, über und über mit silbernen Flecken bedeckt. So sitzen wir noch eine Stunde nebeneinander. Ich trinke ein alkoholfreies Bier mit ihm, und er rollt die Schnur auf, als die Sonne untergeht, golden hinter den grünen Bäumen. Dann, in der Abenddämmerung, gleiten zwei Pirogen vom Fluß in die Lagune. «Da sind sie. Die Ehemänner», sagt Papa Rivaudais und erhebt sich unter einigen Schwierigkeiten. Ich erkenne vier Männer in den Pirogen und höre, wie sie sich alle 293
gleichzeitig irgendwelche Dinge zurufen. Ich bücke mich, um die Angelsachen und den Korb aufzuheben, während Papa Rivaudais den Klappstuhl zusammenlegt, aber er verharrt einen Augenblick und wendet sich mir zu. In dem abnehmenden Licht kann ich sein Gesicht kaum noch sehen. «Ich verrate Ihnen ein Geheimnis», sagt er. «Antoinette habe ich von all meinen Mädchen am liebsten. Kein bißchen Bosheit in dem Kind.» Ich schweige. «Sie hätte mich fast umgebracht, als sie mit diesem weißen Sumpfschwein durchgebrannt ist. Sie war nicht viel älter als dreizehn, wissen Sie.» «Ja, Sir», sage ich. «Und ich erzähle Ihnen noch was: Das Mädchen ist seither nicht mehr dieselbe. Dieser Hurensohn hat etwas in ihr zerbrochen. Sie hat es nie geschafft, irgendwo seßhaft zu werden. Sie ist die einzige, die das College nicht zu Ende gebracht hat, die einzige, die nicht verheiratet ist, die kein Kind hat. Immer unzufrieden, immer auf dem Sprung von einer Sache zur anderen. Der Laden war gut für sie, aber es reicht einfach nicht. Sie wissen, was ich meine, Mr. Conti?» Ich weiß es nicht, aber ich nicke trotzdem, und er legt mir die Hand auf die Schulter, und wir gehen langsam hügelaufwärts auf die hell erleuchteten Hütten zu.
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er Himmel ist sternenübersät, aber selbst hier kann man die Lichter von New Orleans noch als blaßgrünen Schein wahrnehmen. Aus der Dunkelheit des Bayous ertönt jetzt das Quaken der Frösche und das gelegentliche Platschen und Klatschen von Fischen in der Lagune. Ein auf dem Kopf stehender Halbmond wirft seinen welligen Glanz aufs dunkle Wasser. Die Ehemänner haben im Hof ein Lagerfeuer entfacht, und die orangefarbenen Flammen beleuchten unsere Gesichter auf der Terrasse. Wir alle sind draußen, um unter den Sternen zu essen: Mama und Papa, Antoinette und ihre Schwestern - Elsie, Manon, Claudine und Jolie - und deren Ehemänner. Das Baby schläft. Die zwei kleinen Mädchen, beide acht Jahre alt und mit langen, schwarzen Zöpfen, tanzen wie Pocahontas um das Lagerfeuer und rollen sich dann balgend und kreischend über die Holzspäne der Einfahrt. Eine ist Manons Tochter und halb Irin; die andere hundert Prozent Kreolin, die Frucht von Claudines Verbindung mit ihrem Ehemann Paul Sarpy von den Sarpyville-Sarpys, Abgeordneter des Kreises St. Charles, aber die kleinen Mädchen könnten Schwestern sein; sie ähneln sich wie zwei Erbsen in einer Schote. Der dunkle, schöne Schlag der Rivaudais scheint jedes geringere Erbe zu dominieren. Der Tisch ist mit Papiertellern und Töpfen übersät. Die Kohlen im Grill glühen weiß und sind erst jetzt so richtig bereit, wie immer genau zwanzig Minuten, nachdem der letzte gegessen hat. Es gab gegrillte Brassen, LangustenJambalaya, Maiskolben, verschiedene Gemüse, rote Bohnen und Reis. Jetzt nippen wir an unserer Louisiana295
Limonade, die eine starke Mischung aus zerstoßenem Eis, Minze, frischer Limonade und einem einheimischen Zuckerrohrschnaps namens Davant ist. Ich stütze mich mit meinem Drink in der Hand aufs Geländer und höre zu, wie die Ehemänner sich über Sport unterhalten. New Orleans versucht, sich ein Eishockeyteam zuzulegen. Vielleicht werden aus den Winnipeg Glaciers irgendwann in den nächsten Monaten die New Orleans Revelers in der National Hockey League. Ich habe dem nichts hinzuzufügen. «Meiner Meinung nach braucht diese Stadt ein gutes Hockeyteam», sagt Paul Sarpy. «Ich meine, warum nicht, wenn die Fans das Team unterstützen?» Jim Remington ist sich da nicht so sicher. Er ist Jolies Mann, ein alter Freund von Paul aus den Tagen, als sie beide als Assistenten von Abgeordneten auf dem Capitol Hill arbeiteten. Sie sind immer noch die beiden überschwenglichen Hilloid-Oberschüler in karierten Shorts und gebügelten Polohemden. Ihre Slippers tragen sie ohne Socken, und ihre Frauen haben sie beide auf der Antrittsparty von Bush in einem Haus der Republikaner an der Ecke A und First Street South East kennengelernt. Jim stammt aus der für ihre Waffenwerke berühmten Familie Remington und ist Vizepräsident einer neuen Abteilung für Alarmsysteme. Antoinette hat mir erzählt, daß er das Haus ihrer Eltern an der Pyrtania Street und ihr eigenes Apartment im Faubourg Marigny verdrahtet hat. Kostenlos. «Finde dich damit ab, Paul», sagt Jim. «New Orleans ist einfach zu heiß für ein Hockeyteam. Es ist eine Sonnenstadt. Hockey kommt nicht in die Sonnenstädte.» Er ist ein großer, gutaussehender Bursche mit schwarzem Haarschopf, und er scheint sich mit dem Rest des Rivaudais-Clans ganz gut zu verstehen. 296
«Ihr habt doch alle von den Los Angeles Kings gehört?» fragt Charles-François, Elsies Ehemann. «Los Angeles ist eine Sonnenstadt, aber es hat eine Hockeytradition, die bis in die dreißiger Jahre zurückgeht.» Er sitzt ganz dicht neben seiner Frau am Picknicktisch, ein zufriedener, langsam erkahlender Ingenieur Anfang Vierzig. Sie ist nur ein oder zwei Jahre jünger als er, würde aber problemlos für achtundzwanzig durchgehen. Ihre beiden Mädchen verbringen den Sommer in einem Feriencamp, und die beiden schmusen wie Jungverheiratete. «Ich persönlich würde ein Hockeyteam in New Orleans bevorzugen», sagt Manons Mann, Sean O’Farrell, der Ire. «Ach komm», spottet Jim. «Jede Sportart ist doch gut für dein Geschäft. Noch mehr Sauferei.» «Wir sind keine richtige Sportkneipe», winkt er ab. «Aber ich mag Hockey. Temporeiches Spiel, wirklich. Bei uns kursiert im Moment folgendes Gerücht: Das Team wird sich Bayou Blades nennen, und sie wollen als ihren Stützpunkt Baton Rouge nehmen.» «Unsinn.» «Wir werden ja sehen», sagt Sean. Von dem flippigen Jazzmusiker ist nichts mehr übriggeblieben. Er hat sein Saxophon vor langer Zeit weggelegt, und die künstlerische Ader, die er einmal besessen hat, ist in der Hitze Louisianas versiegt. Aber vor kurzem hat er sich vom Nichtsnutz der Familie zum Mittelpunkt einer Art Erfolgsstory aufgeschwungen: Nach Jahren mürrischen Herumlungerns hat er im French Quarter eine irische Bar namens O’Farrell’s Four Provinces eröffnet. Sie ist eine exakte Replik seines Lieblingspubs in Dublin, bis hin zum Guiness vom Faß und den Schrammen in der Eichenvertäfelung, die eine IRA-Bombe in den Siebzigern dort hinterlassen hat. Das 297
Lokal ist so erfolgreich, daß er an eine Ausweitung seines Geschäfts nach Métairie denkt. «Wo sollen wir denn ein Hockeyteam unterbringen?» sagt Charles-François jetzt. «Jedenfalls nicht im Superdome.» «Das war doch was», lacht Paul. «Zambonis im Superdome.» «Was wir wirklich brauchen, ist ein Baseballteam», meint Jim. «Das ist nämlich ein guter Sonnensport. Die Jungs des Sommers…» Die Unterhaltung driftet vom Sport zur Lokalpolitik der Republikaner und schließlich zu den Verwüstungen im Sumpf. Tausende von Meilen Sumpfland sind von der Nutria zerstört worden, einem kleinen braunen Tier aus Südamerika, das einer Bisamratte ähnelt und in den Dreißigern unbeabsichtigt in das Ökosystem eingeführt wurde. Es vermehrt sich rasend und frißt einfach alles. Das ist ein Thema für alle, selbst für Mama Rivaudais. Sie meint, die Nutria sei ein süßes kleines Tier und habe das gleiche Recht zu leben wie die anderen Tiere auch. Nur Antoinette, ihr Vater und ich halten uns zurück. Dem alten Mann, das weiß ich, ist sein Schweigen ans Herz gewachsen, und er döst in seinem Stuhl ein. Antoinette hat ihre eigenen Gründe zu schweigen. Und ich war für solche Treffen noch nie besonders geeignet; sie langweilen mich zu Tode. Ich nicke und lächele, nippe an meiner Louisiana-Limonade und stoße gelegentlich einen Laut der Zustimmung aus, aber sie haben nicht viel Verwendung für mich. Die bloße Tatsache, daß ich in New York lebe, scheint eine Bedrohung für sie zu sein. «New York City», sagt Paul und läßt die Worte wie eine Anschuldigung von der Zunge rollen. Dies ist einer der wenigen Kommentare des ganzen Abends, die in meine 298
Richtung zielen. Er hängt seine Daumen in die Gürtelschnallen seiner Karoshorts wie ein Hilfssheriff und mustert mich von oben bis unten. «Meiner Meinung nach hat New York in der nationalen Politik viel mehr Einfluß, als ihm zusteht.» Claudine rollt bei dieser Bemerkung mit den Augen. Wieder so eine Ansprache ihres Ehemannes. «Die Interessen New Yorks sind nicht die Interessen Amerikas, denn New York steht zum Beispiel London näher als Baton Rouge. Aber sogar wir hier unten wissen, was die New Yorker denken, was die New Yorker tun. Und das nur deswegen, weil New York der Ort ist, an dem die Medien sitzen, und die Medien kontrollieren die Informationen und machen die Politik in diesem Land.» Ich stimme ihm zu. Er scheint ein wenig enttäuscht. Er will mehr, eine Auseinandersetzung. Mir ist nicht nach weiteren Bemerkungen, aber ich sehe, daß den anderen das nicht genügt. Die Ehemänner sehen mich, ihre Drinks in der Hand, erwartungsvoll an. «Ja, New York erinnert mich an das Paris des Jahres 1871», sage ich zögernd. «Eine radikale Stadt voller radikaler Ideen, beherrscht vom Mob und seinen Zeitungen und entschlossen, den Preußen die Stirn zu bieten. Das übrige Frankreich hat kapituliert, Paris nicht. Paris hatte seinen eigenen Kopf, der nicht der Kopf von Frankreich war. Als das übrige Land in Sedan einen demütigenden Frieden annahm, wurde die Fremdenlegion herbeigerufen, um die Pariser zu befrieden, und es gab einen entsetzlichen Bürgerkrieg. Mindestens hunderttausend Zivilisten wurden auf den Straßen abgeschlachtet. Man hat sie an den Barrikaden begraben, dort, wo sie starben, unter den Pflastersteinen der meisten großen Kreuzungen. Bis zum heutigen Tag werden bei Straßenreparaturen immer noch Knochen ausgegraben.» Ich bedauere meine Worte sofort, aber diese unbeholfene historische Analogie ist das einzige, 299
was mir in den Sinn kommt. Es folgt ein verlegenes Schweigen. Paul scheint verwirrt oder beleidigt zu sein; er weiß nicht, was er sagen soll. Jim Remington hüstelt. Antoinette sieht zu mir herüber und will mir wohl zu Hilfe kommen, aber dann zuckt sie die Achseln und lächelt. Das Lächeln ist für mich allein, träge und liebevoll. Ich spüre einen kleinen Ruck in meinem Herzen, meine Verlegenheit fällt von mir ab, und plötzlich ist die Nacht wunderschön. Ich wende mich wieder meiner Louisiana-Limonade zu, die mir in diesem Augenblick ein hervorragendes Getränk zu sein scheint. «Wißt ihr, eine makellose Haut ist ein Gottesgeschenk», sagt Mama Rivaudais und bricht damit endlich das Schweigen. Es ist ein Kommentar, der vollkommen aus dem Rahmen fällt und die Spannung erfolgreich löst. Man reagiert mit Gelächter und allgemeiner Ungläubigkeit. «Wahrhaftig! Du verträgst wohl die Hitze nicht, Mama!» ruft Elsie vom Picknicktisch herüber, wo sie noch immer auf dem Schoß ihres Mannes sitzt. «Alle meine Mädchen haben makellose Haut», fährt Mama beharrlich fort. «Makellos sogar während der Highschoolzeit, wenn die Mädchen dazu neigen, Pickel zu kriegen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß eine von euch jemals auch nur ein einziges kleines Pickelchen gehabt hätte. Kannst du dich daran erinnern, Lieber?» Sie stupst ihren Mann an, um ihn zu wecken. «Hm?» fragt der alte Mann. «Makellose Haut», sagt sie. «All unsere Mädchen. Was meinst du?» Er ist für einen Augenblick verwirrt; dann nickt er. «Ja, wie ein Babypopo», sagt er und schläft wieder ein. Antoinette, die ihre Arme auf dem Geländer verschränkt hat, schüttelt den Kopf. «Nun, ich kann mich durchaus an 300
ein oder zwei Pickel erinnern», sagt sie. «Ihr Mädchen solltet dankbar sein für das, was ihr habt, und ihr habt viel. Der gütige Gott war sehr freundlich zu dieser Familie. Einige Mädchen würden für eine makellose Haut töten.» Immerhin erhebt sich jetzt ein zustimmendes Gemurmel, und es folgt ein Augenblick der Anerkennung von Gottes Großzügigkeit. Näher werden wir heute abend den Mysterien wohl nicht kommen. Dann brennt das Feuer nieder, den bezopften Indianern geht bei ihrem Tanz ums Feuer die Puste aus, und ihre Mütter bringen sie zu Bett. Die alten Leute ziehen sich langsam in die Dunkelheit der mittleren Hütte zurück, und die Frauen und Männer teilen sich auf die beiden Seitenflügel auf. So funktioniert das bei diesen Rivaudais-Familientreffen. Frauen und Kinder schlafen in einer Hütte, die Ehemänner in der anderen, und Mama und Papa dazwischen. «Haben sie dir ein gutes Bett gegeben?» fragt Antoinette. «Ja», sage ich. «Das Ausziehsofa.» Wir stehen am Geländer und starren hinaus auf die Lagune. Ein Licht geht hinter den gläsernen Schiebetüren in der Hütte der Ehemänner an, und sie bereiten sich auf einen Abend in brüderlicher Kumpanei vor, voller Foppereien, Zigarettenrauch und schlechter Zoten. Wir hören ein seltsames zischendes Geräusch, und die dunkle Schnauze eines Alligators durchbricht das Gekräusel des Mondlichts auf dem Wasser. Antoinette läßt ihre Hand unter meinen Arm gleiten. Der Mond scheint auf ihre Wange. Mama hat recht: Die Haut ihrer Tochter ist wahrhaftig makellos. «Ich bin froh, daß du mitgekommen bist», sagt Antoinette. «Wir müssen diese Mann-Frau-Sache 301
mitmachen, Familientradition, weißt du. Sonst würde ich die halbe Nacht aufbleiben und mit dir reden.» «Das ist schon in Ordnung», sage ich. «Ich bin wirklich müde. Die Reise. Ich kann gar nicht glauben, daß ich New York erst heute morgen verlassen habe. Wir reden morgen.» «Weißt du», sagt sie, «in letzter Zeit habe ich nicht besonders gut geschlafen. Eigentlich würde ich ganz gerne mit jemandem reden.» «Was ist mit deinen Schwestern?» Sie zuckt die Achseln und schweigt. Ich drehe mich um und fasse sie vorsichtig an den Schultern. «Diese Pillen», sage ich. «Vielleicht haben sie etwas mit deinen Schlafproblemen zu tun.» Sie sieht mir nicht in die Augen, «Mach du dir keine Gedanken wegen mir», sagt sie. Dann reckt sie sich ein wenig hoch, küßt mich schnell auf die Lippen und ist verschwunden. Draußen in der Lagune sinkt der Alligator wieder zurück in das schwarze Wasser, stumm wie ein Stein.
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ls ich am nächsten Morgen aufwache, sind die Hütten leer, und ich höre das Jammern der Zikaden aus dem grünen Dschungel des Bayou. Eine einsame Nutria schnüffelt auf der Terrasse herum und huscht dann davon. Die Fliegentür der mittleren Hütte hängt ein wenig schief und quietscht in dem leisen Wind, und einen Augenblick lang beschleicht mich das unheimliche Gefühl, daß alle von Indianern gekidnappt worden sind. Ich muß an die berühmte Lost Colony denken. Daran, wie 1590 die zurückkehrenden Schiffe der Engländer die Häuser der Siedler leer fanden - einziger Hinweis auf das Geschehen: ein in die Borke eines Baumes geschnitzter indianischer Name, und, für immer in den verzauberten Tiefen der Wälder verschwunden, die pausbäckige Virginia Dare, das erste in der Neuen Welt geborene angelsächsische Kind. Ich ziehe eine abgeschnittene Jeans und ein T-Shirt an und gehe hinunter auf den Landesteg, wo Papa Rivaudais im warmen Morgenlicht auf seinem Klappstuhl vor sich hin döst, die Angelrute in der Hand. «Sir?» Er bewegt sich und blickt auf, wobei die wäßrigen Blauaugen sich mit einiger Mühe auf mich konzentrieren. «Hm?» «Die anderen?» Es stellt sich heraus, daß sie die Pirogen genommen haben und zu einer frühmorgendlichen Expedition nach Cœur de France aufgebrochen sind, von der sie nicht vor dem Nachmittag zurückkehren werden. «Aber meine 303
Tochter hat Ihnen im Haupthaus etwas zum Frühstück hingestellt», sagt der alte Mann. «Sie ist ein gutes Mädchen, meine Antoinette. Denkt immer an die anderen.» Ich finde den in Klarsichtfolie eingewickelten Teller auf dem Tisch in der alten Küche: kalte Muffins mit Marmelade, kalter Schinken, zwei gekochte Eier, ein Glas Preiselbeersaft und eine Notiz. Wir haben um fünf Uhr versucht, Dich zu wecken, Dich aber nicht wachbekommen. Du wirst den Tag wohl mit den alten Herrschaften verbringen müssen. Wenn Du Papa leid wirst, Mama ist unterwegs und kümmert sich um ihre Angehörigen. Du brauchst nur dem kleinen Pfad hinter der Haupthütte zu folgen, bis Du an einen weißen Stein kommst, einem Grenzstein des Kreises Plaquemines. Dann biegst Du nach links ab, und nach einer halben Meile Muschelpfad kommst Du an die Familiengruft. Ich weiß, wie versessen Du auf Geschichte bist. Versuch Mama dazu zu bringen, von der Familie zu erzählen. Ich seh dich dann heute abend. - A. Die Aussicht auf einen Tag mit den alten Herrschaften finde ich gar nicht so verdrießlich. Ich esse und putze mir die Zähne; dann verbringe ich eine Stunde mit dem alten Mann. Seine Augen sind heute besonders schlecht. Er bittet mich, ihm ein paar Passagen aus dem Pascal laut vorzulesen, was ich in meinem eingerosteten Französisch auch tue. «Mein Vater hat mir früher jeden Sonntag die Comics vorgelesen, als ich noch ein Kind war», sage ich, als er genug hat. Der alte Mann nickt und blinzelt in die Sonne. «Und 304
jetzt lesen Sie mir vor», sagte er. «Es ist ein Rad. Dreht sich immer weiter. Man ist ziemlich bald wieder dort, wo man angefangen hat.» Etwa gegen elf hole ich mir ein paar kalte Abitas aus der Kühlbox auf der Terrasse und folge der von Antoinette beschriebenen Route. Der Pfad schlängelt sich zwischen den Bäumen hindurch, und ich höre die Rufe fremder Vögel und rieche den schweren, lehmigen Geruch des Sumpfes. Krabben hasten mir aus dem Weg, und ein oder zwei Mal sehe ich eine Schlange sich durch das von Algen bedeckte Wasser winden. Nach einer Weile komme ich über eine gut erhaltene, nur zu Fuß begehbare Brücke und von dort zu dem weißen Grenzstein, an dem die Muschelstraße beginnt. Das Terrain ist hier offener. Eine Reihe hoher, immergrüner Eichen, die schwer mit Louisiana-Moos bewachsen sind, bewegen sich im Wind. Schon bald zweigt die Muschelstraße ab. Dann, auf einem Hügel mit Blick auf den Fluß und den Deich unter mir, sehe ich ein weißgetünchtes Mausoleum, umgeben von einem kunstvollen, schmiedeeisernen Zaun. Einer der funkelnden Range Rovers der Rivaudais steht vor dem Zaun, die Hecktür offen. Auf dem Backsteinweg, der um das Grabmal herumführt, liegen unzählige Malund Gartenutensilien. Mama Rivaudais kniet im weißen Maleroverall auf der mit Muscheln belegten Fläche zwischen Gehweg und Zaun und streicht die eisernen Schnörkel mit schwarzem Rust Oleum an. Als ich näherkomme, steht sie auf und wischt sich die Hände an der Hose ab. Die Frauen dieser Familie halten sich gut. Sie ist knapp über Siebzig, aber ihr Haar bekommt gerade erst eine gräuliche Tönung, und ihr Gesicht zeigt erst wenige Falten. «Es scheint so, als könnten Sie etwas Hilfe brauchen», sage ich. Sie sieht mich einen Augenblick lang neugierig 305
an, dann nickt sie, und ich tausche mein letztes warmes Bier gegen den Farbeimer und streiche in den nächsten Stunden den Zaun, während sie nach wahrer Mutter-Art hinter mir hockt und mich mit einer Vielzahl lästiger Instruktionen versorgt. Etwa gegen zwei machen wir eine Pause, um ein paar Sandwiches zu essen, und sie führt mich durch das Grabmal, um mir die Verbesserungen zu zeigen, die sie während der letzten Jahre vorgenommen hat. «Als Kreolin lernt man als erstes, auf jeden Fall gut für seine Angehörigen zu sorgen», erzählt sie mir. «Die Toten müssen genauso versorgt werden wie die Kinder. Früher sah man an Allerseelen ganze Familien in New Orleans ihre Gräber tünchen und Blumen in die Töpfe pflanzen und Ordnung machen. Jetzt ist es eher wahrscheinlich, daß man da draußen erschossen oder ausgeraubt wird, vor allem auf dem Old St. Louis Nummer eins und zwei. Mir tun die Familien leid, die ihre Toten in der Stadt haben. Es ist eine Schande. Man kann sich nicht einmal mehr richtig um sie kümmern. Wir können von Glück sagen, daß wir die meisten der unseren hier draußen haben…» Das Grab ist ein quadratischer Monolith aus Backstein und Gips. Mama Rivaudais hat eine Blumenrabatte mit Gladiolen bepflanzt, die ihre Blüten den Mauern des Grabmals entgegenneigen, als seien sie in Trauer. Auf jeder Seite des Mausoleums ist ein schmales, vergittertes Fenster in die Wand eingelassen; die Vorderfront bildet ein kleiner Säulengang, über dem ein Kreuz angebracht ist. Die schwere, eisenbeschlagene Tür ist mit einem silbernen Vorhängeschloß verschlossen. Über dem Türsturz ist ein Wappen eingemeißelt, das eine Palme mit drei Mondsicheln zeigt sowie das lateinische Motto: «Non duco, non sequor» - «Ich führe nicht, ich folge nicht.» «Antoinette sagt, Sie seien Historiker.» 306
«Na ja, beinahe», sage ich. «Ich bin nur einen Zentimeter von meinem Doktor entfernt.» «Immerhin. Wollen wir Sie mal auf die Probe stellen.» Wir gehen die Treppe unter dem Portiko hinauf, um aus der heißen Sonne zu kommen. «Dieses Ding haben sie in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts vorne vorgebaut», sagt sie. «Während des Griechenlandfimmels, als die Leute überall Säulen hingestellt haben, selbst an Außentoiletten. Das eigentliche Grabmal war etwa dreißig Jahre zuvor über der Familiengruft errichtet worden, die damals nur ein feuchtes, mit einer Steinplatte bedecktes Loch war. Es ist eins der wenigen unterirdischen Gräber in ganz SüdLouisiana; ein Geologe hat mir mal erzählt, dieser Hügel hier sei der Überrest eines gewaltigen Felsens, den ein Gletscher vor zig Millionen Jahren hier vorbeigeschleift hat. Aber die Gruft wurde erst in den späten dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts angelegt, etwa fünfzehn Jahre, nachdem die Franzosen nach New Orleans kamen. Damals ist meine Familie hergekommen. Es waren Franko-Spanier aus der Gascogne, im Süden. Seither haben wir in dieser Gegend hier gelebt. Sehen Sie, all dieses Land», sie zeigt hinaus auf den Bayou und zum Fluß unter uns, «hat früher uns gehört. Es war die ertragreichste Plantage weit und breit. Wir haben Zuckerrohr angebaut und Indigo und Reis. Keine Baumwolle. Baumwolle war etwas für Emporkömmlinge, für die Horde der nouveau riche wie die flußaufwärts in Nottoway oder San Francisco. Wir hatten ein wunderschönes Herrenhaus, eins der größten in Louisiana. Während des Krieges ist es dann natürlich niedergebrannt.» Sie hält inne, und wir blicken hinunter zum Fluß und auf den Deich, der sich bis weit in die Ferne erstreckt. Diese Flußbiegung hier hat etwas Vertrautes für mich, diese 307
Krümmung zur Schleife, dieser sanfte Anstieg des Ufers auf der gegenüberliegenden Seite. «Ja», sage ich, «das Haus lag dort unten, wo der Fluß sich verbreitert…», aber dann halte ich plötzlich inne. Ich weiß das alles gar nicht. Ich spüre ein seltsames Kribbeln im Nacken. Mama Rivaudais sieht mich eine Sekunde lang neugierig an. «Sie haben recht», sagt sie gelassen. «Aber ich nehme an, daß das für einen Historiker wie Sie auf der Hand liegt. Diese Stelle des Flusses bot einen perfekten Anlegeplatz für Dampfer von und nach New Orleans.» Plötzlich ist mir sehr heiß, sogar im Schatten, und auf meiner Stirn steht Schweiß. «Sie sehen ein wenig erhitzt aus», sagt Mama Rivaudais. «Sie sollten besser einen Hut tragen.» «Wahrscheinlich», sage ich. «Lassen Sie uns reingehen und uns ein wenig abkühlen.» Sie zieht einen Schlüssel aus der Tasche und schließt das Vorhängeschloß an der schweren, alten Tür auf. Die Luft im Mausoleum ist abgestanden, aber es ist hier mindestens zehn Grad kühler als draußen. Meine Augen gewöhnen sich an das schwache Licht, das durch die Fenster fällt. Der Fußboden besteht aus abgetretenen, achteckigen, schwarzen und weißen Marmorfliesen, und von der Decke hängt eine alte Eisenlaterne herab. Gegenüber dem Eingang steht ein kleiner Marmoraltar, nach hinten abgeschlossen von einer Steinplatte mit dem Wappen aus Palme und Mondsicheln und etwas, das aussieht wie ein reich verzweigter Apfelbaum, an dem an Stelle von Früchten winzige Schilde hängen. «Das war ursprünglich der Grabstein», sagt Mama Rivaudais, deren Gesicht im Schatten liegt. «Die Ahnentafel, die hier eingraviert ist, verfolgt unsere Familie 308
angeblich bis nach Spanien zurück, bis zu Rodrigo Diaz de Vivar.» Links von dem Stein befindet sich eine schmale Steintreppe, die in die Dunkelheit hinunterführt. «Es ist ein wenig unheimlich da unten», sagt Madame Rivaudais. «Aber da wir schon mal hier sind…» Sie nimmt eine Taschenlampe aus einer stählernen Werkzeugkiste hinterm Altar und geht voran. Die Stufen sind schlüpfrig von der Feuchtigkeit. Wir steigen langsam hinunter und halten uns dicht an der Mauer. Am Fuß der Treppe, auf einem schmalen Treppenabsatz, bleiben wir stehen, und sie leuchtet mit der Taschenlampe in die Düsternis. Vor uns liegt ein niedriges Tonnengewölbe aus Ziegelstein. Der Boden ist mit Wasser bedeckt. Trittsteine aus Leichtbeton führen geradewegs in die Dunkelheit. In der Mauer finden sich zahlreiche zugegipste Nischen, immer vier in einer Reihe, eine über der anderen. «Darf ich Sie mit der Familie bekannt machen», sagt Mama Rivaudais mit einer gewissen Heiterkeit in der Stimme. «Wir wollten das Wasser hier herauspumpen lassen und einen Ingenieur bitten, die Wände abzustützen, aber das geht erst nächstes Jahr. Ein großes Projekt.» «Mhm.» In meinen Gedärmen rumort es seltsam. Von einem Trittstein zum nächsten begeben wir uns vorsichtig zu einer erhöhten Platte in der Mitte der Grabkammer. Im Schein der Taschenlampe erkenne ich Namen und Daten, die von den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts bis zu den Neunzigern des 19. Jahrhunderts reichen. «Sehen Sie», sagt sie. «Schurken, Sklavenhalter, Duellanten und ihre Damen. Romantisch, wie?» Alle Nischen sind belegt bis auf eine; etwa auf Taillenhöhe in der Mitte der Wand klafft ein Loch. Mama Rivaudais läßt den Lichtkegel der Taschenlampe auf 309
diesem Makel ruhen. «Traurige Geschichte das», sagt sie. «Die Einzelheiten sind unklar, aber es war wohl so, daß eine der Herrinnen von Belle Azur eines Tages einfach auf und davon ist. Das war gut zwanzig Jahre vor dem Bürgerkrieg. Sie hinterließ einen Ehemann, der berühmt dafür war, ein echter Mistkerl zu sein, und zwei hübsche kleine Mädchen. Es war ein ziemlicher Skandal. Selbst meine Tante Louise, die alles über die Familie wußte und über alles sprach, solange es nur skandalös genug war, wollte nicht viel darüber erzählen. Man hat nie erfahren, was aus der Frau geworden ist. Sie kehrte nie zurück, um sich hier an ihrem Platz mit den übrigen begraben zu lassen.» Mir ist ein wenig übel. Ich bin zwar an Gruften und Friedhöfe gewöhnt, aber dies hier ist mein Urlaub, und gerade jetzt kriecht mir ein unangenehmes Gefühl böser Vorahnung das Rückgrat hinauf. Selbst eine Stunde später, im Range Rover auf dem Rückweg zur Hütte, kann ich noch immer die Kühle dieses Ortes spüren wie ein Schaudern auf der Haut.
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m Abend wird wieder mit der ganzen Familie gegrillt. Die Ehemänner lassen sich über irgendein Thema aus, das mit der pompösen Selbstsicherheit von Landbesitzern zu tun hat. Papa schläft, und die Frauen führen ihre eigene leise Unterhaltung. Ich lehne im Schatten am Geländer, eine frische Louisiana-Limonade in der Hand, und sehe zu, wie Antoinette von einem Ende der Terrasse zum anderen läuft, gefangen zwischen dem grünen Licht des Bayous und dem gelben Licht des Hauses. Sie ist ein Mitglied dieses reichen, selbstgefälligen Clans, aber sie ist gleichzeitig auch anders. Ihr ist eine Nervosität eigen, die die anderen nicht haben, eine gewisse Fahrigkeit. Vielleicht ist es eine große Langeweile, die an ihr nagt, oder vielleicht sind es Selbstzweifel oder etwas, das schlicht und einfach Ehrgeiz heißt - derselbe Dämon, der ihren Vater in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg aus der armen Barackenstadt im Bayou, in der er geboren ist, forttrieb. Ich weiß es nicht. Ich kenne sie nicht mehr gut genug. Jetzt kommt das Gespräch auf Mardi Gras. Die Ehemänner gehören den illustren Karnevalsvereinen von Comus und Rex an; Jolie war als Debütantin Faschingskönigin von Rex. «Das alles muß jemandem von außen ziemlich seltsam erscheinen», sagt Paul zu mir. «Mardi Gras und der ganze Wahnsinn und die Homosexuellen, die sich im French Quarter als Frauen verkleiden.» «Nach New York kommt einem nichts mehr so seltsam vor», sage ich und lächle grimmig. «Vor allem das East 311
Village. Da haben wir weiß Gott unsere eigenen Spinner.» «Darauf möchte ich wetten», sagt Jim. «Man sieht mehr und mehr davon», sagt CharlesFrançois. «Ich meine, besonders in den letzten Jahren.» «Von was?» fragt Sean. «Von Männern, die sich als Frauen verkleiden, von dieser ganzen Geschichte», sagt Charles-François. «Nein, das war schon immer so», sagt Mama Rivaudais. «Ich erinnere mich an sehr hübsche junge Männer, die in den Dreißigern in Kleidern auf die Straße gegangen sind, als ich noch ein Mädchen war.» «Also, ich kann die Begeisterung der Männer für Höschen und BHs nicht verstehen», sagt Jolie und will sich noch weiter über dieses Thema auslassen, beschließt dann aber, nach dem Baby zu sehen. «Ich sage euch, es ist wirklich eine Entwicklung der letzten Jahre», beharrt Charles-François. «Ich bin in New Orleans aufgewachsen, ich muß es ja schließlich wissen. Es wird immer schlimmer.» «Quatsch», sagt Manon. «Das French Quarter war schon immer so. Voller Perverser.» «Okay, Mister Historiker», sagt Paul nun zu mir. «Wie sieht das aus historischer Perspektive aus?» «Was?» Ich bin ein wenig verwirrt. «Die homosexuelle Überkreuzverkleiderei», sagt er ein wenig aggressiv. Ich nehme einen tiefen Schluck von meiner LouisianaLimonade. «Tja, die alten Griechen hatten es mit den Knaben, selbst Sokrates, zumindest, wenn man Plato Glauben schenken darf. Und aus einer gewissen Perspektive könnte man wohl sagen, daß sie Röcke trugen. Der Chiton ist ein rockähnliches Kleidungsstück.» 312
«Wie wär’s mit etwas Modernerem», sagt Paul. Ich denke einen Augenblick lang nach. «Okay, dann also Folgendes: Während der Eroberung von Peru, um 1500 herum, stießen der Konquistador Pizarro und seine Männer auf einen friedlichen Dschungelstamm, in dem die Frauen sich wie Männer kleideten und die Männer wie Frauen. In jenen Tagen hatten die Indianer noch schreckliche Angst vor Hunden, und die Spanier reisten mit einem Rudel raubgieriger Mastiffs, die immer kurz vorm Verhungern gehalten wurden. Der Stamm schickte zwei Abgesandte, um die gestrengen Konquistadoren zu begrüßen: eine maskulin wirkende Frau, ausgerüstet mit Schild und Speer, und einen affektiert lächelnden Mann mit bemaltem Gesicht und Federn im Haar. Pizarro warf nur einen Blick auf das Paar und ließ die Hunde los. Der ganze Stamm wurde in Stücke gerissen… Ist das die Art von Geschichte, die ihr hören wolltet?» Ein paar Sekunden lang herrscht verdutztes Schweigen. Dann der Klang von Antoinettes Lachen. Ich lächele unschuldig und wende mich wieder meiner Limonade zu.
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m Mitternacht kommt Antoinette von der anderen Seite der Terrasse herüber und küßt mich mit einem beunruhigenden Glitzern in den Augen auf die Wange. «Womit habe ich das verdient?» frage ich. «Damit, daß du du bist», sagt sie. Dann, nach einem Herzschlag, schmiegt sie sich an mich und flüstert: «Ich langweile mich zu Tode mit diesem Familienschwachsinn. Laß uns von hier verschwinden.» «Wohin?» «In eine Bar», sagt sie. Wir schlüpfen unbemerkt von der Terrasse in die Dunkelheit. Der Saab steht mit heruntergelassenem Verdeck zusammen mit den anderen teuren Schlitten ein kleines Stück abseits. Antoinette dreht den Schlüssel um, der Motor springt mit einem kleinen Ticken an, das nicht lauter ist als das einer Uhr, und wir knirschen langsam über die Muscheln hinaus auf die Bayou-Straße. Es ist ein Gefühl, als würden wir aus einem Gefängnis minimaler Sicherheitsstufe mit freundlichen Wächtern und gutem Essen fliehen. Als wir in sicherer Entfernung von den Angelhütten sind, stößt sie einen lauten Freudenschrei aus und dreht das Radio auf. Cajun-Musik ist das einzige, was wir in dieser Gegend finden können, und ich erkenne das Lied von Papa Languenbec und den Cajun-Allstars, das auch damals, vor so vielen Jahren, gespielt wurde, als ich sie zum ersten Mal sah. Es erscheint mir wie ein Omen, obwohl ich nicht sicher bin, wofür. Auf der Stelle bedauere ich den Gedanken. Ich bin genauso abergläubisch geworden wie Molesworth. Antoinette beugt sich über mich vor zum Handschuhfach, und ihre 314
Brüste streifen meinen Arm. «Entschuldige», sagt sie und zieht ihre kleine schwarze Handtasche heraus. Sie läßt sie auf ihrem Schoß aufschnappen, nimmt die Pillenschachtel heraus und läßt sich ein paar von den gelben Pillen in den Mund rollen. «Hier», sagt sie und reicht mir die Schachtel. «Was soll ich damit?» Am liebsten würde ich sie aus dem Fenster werfen. «Nimm zwei davon», sagt sie. «Du spinnst», sage ich. «Bist du müde?» «Eigentlich nicht.» «Nun, du wirst sicher bald müde, und ich möchte nicht, daß du müde wirst. Mir ist heute nacht nicht nach Schlafen, und ich möchte, daß du mit mir aufbleibst. Ich habe dich seit Jahren nicht gesehen, nicht wirklich.» «Ich kann auch ohne die Pillen wachbleiben.» «Wirst du aber nicht.» Wir lassen das Gestrüpp des Bayou hinter uns und dringen in die regelmäßigen Schatten der Orangenhaine ein. Der Mond hebt sich über dem Fluß seinem Zenit entgegen. «Bitte», sagt sie und legt eine Hand auf meinen Oberschenkel. Ich nehme zwei von den Pillen. Sie wirken erst, als wir den Belle Chasse Highway hinaufdonnern. Dann ist es ein Gefühl, als schwebte ich, und die Lichter der entgegenkommenden Wagen flattern wie langgezogene Wimpel über den farblosen Boden, und der Klang des Windes ist der Klang vieler Stimmen in meinem Ohr, und alles bewegt sich sehr schnell, und nichts spielt mehr eine Rolle. «Wow», sage ich. «In diesen Pillen ist mehr drin als 315
Speed.» Antoinette lächelt vom Fahrersitz ein träges Lächeln. Sie scheint ihre Hände überhaupt nicht am Steuerrad zu haben. «Ich habe immer noch Kontakt zu ein paar Leuten aus alten Zeiten», sagt sie. «Dothans Bande. Dieser alte Knabe Hash Davis, der Chemiker, der das abscheuliche LSD gemacht hat, das ich früher gefuttert habe wie Bonbons. Jetzt hat er diese Dinger zusammengemixt. Gelbe Pollys nennt er sie, nach seiner Frau, einer hellhäutigen Schwarzen aus Tallahassee namens Pauline. Es ist eine Prise Speed gemischt mit einem Fitzelchen von irgendwas Halluzinogenem. Nicht viel stärker als ein durchschnittlicher Martini. Aber man muß sie mit Alkohol ausbalancieren. Dafür sind sie gedacht. Bier steht auf dem Rücksitz.» Sie zeigt mit dem Daumen über ihre Schulter, und ich sehe ein Sixpack kalte Abitas in Papas Styroporkühlbox. Außerdem liegt da meine Schultertasche. «Da sind ja meine Sachen», sage ich. Ich ziehe zwei Dosen Bier aus der Kühlbox und gebe ihr eine. «Ja», sagt sie. «Ich habe mir die Freiheit genommen, für dich zu packen. Wir fahren nicht zurück.» «Wie weit ist es noch bis zu dieser Bar?» «Mach dir deswegen keine Gedanken.» «Was ist mit deinen Eltern? Ich hatte keine Gelegenheit, mich bei ihnen zu bedanken…» «Lehn dich einfach zurück und entspann dich, okay?» sagt Antoinette und kippt die Hälfte ihres Biers in einem einzigen Zug hinunter, während die Lichter des Highways sich im braunen Glas brechen. Ich sacke resigniert zurück und lasse die Schwerkraft und die Vorwärtsbewegung und die gelben Pillen mich dorthin bringen, wohin sie mich haben wollen. 316
Irgendwann findet Antoinettes Hand wieder meinen Oberschenkel und bleibt dort liegen, ein warmer, beharrlicher Druck. Währenddessen fährt sie sorglos und mit unglaublicher Geschwindigkeit, lenkt mit der anderen Hand. Wir nähern uns den Fünfundachtzig, den Hundert, rasen auf Wohnwagen zu, lassen das Fernlicht aufblitzen und donnern an ihnen vorbei in die Dunkelheit. Nach zwei Stunden sind wir durch den halben Staat gefahren, durch Paradis und Lafourche und Thibodaux und Morgan City und Calumet. Dann haben wir Broussard hinter uns und vor uns die Lichter von Lafayette, die Straßen dort voller Lieferwagen mit betrunkenen Cajuns zu dieser späten Stunde einer Samstagnacht, in der die Bars bis zur Morgendämmerung geöffnet sind. Dann lassen wir auch diese Stadt hinter uns, und überall um uns herum breitet sich der typische Sommergestank des Sumpfes aus. Für kurze Augenblicke erscheinen Hausboote auf dem Bayou, kaum mehr als Wohnwagen, die auf Fünfzig-GallonenÖlfässern treiben, und von irgendwo aus all dieser unermeßlichen Dunkelheit weht der Klang eines Akkordeons zu uns herüber. Schließlich zeigt Antoinette auf ein Ausfahrtsschild mit der Aufschrift: «LA 10 - Bayou Nezpique, La Flange Landing - 15», und wir fahren ab und folgen Nebenstraßen, bis diese zu Kieswegen werden und die Vegetation uns links und rechts immer näher rückt. Nach wenigen Minuten fahren wir auf einen offenen Parkplatz aus festgestampfter Erde, auf dem ungefähr fünfzig Autos stehen, meistens kleine Lieferwagen, obwohl ich auch einen neuen BMW und ein oder zwei Cadillacs erspähe. Hinter diesem provisorischen Parkplatz kommt Schilf, und der Mond scheint auf einen See, auf dem noch mehr Schilf wächst, dahinter die kleinen Höcker schlammiger Inseln. In der Luft, die leicht nach Schwefel riecht, ist wieder 317
dieser Klang, schwach wie die Hoffnung, von ferner Musik. Die Uhr auf dem Armaturenbrett zeigt zwei Uhr siebenunddreißig in der Früh. «Komm schon», sagt Antoinette. «Wir wollen uns betrinken.» Mit diesen Worten springt sie flink wie eine Gazelle über die Fahrertür. «Meine Tasche», sage ich, als ich neben ihr stehe. «Sollten wir sie nicht besser im Kofferraum einschließen?» Sie schüttelt ungeduldig den Kopf. «Wir sind hier nicht in New York», sagt sie. «Das ist Louisiana. Cajun-Land. Die Leute sind ehrlich hier draußen. Hör auf, dir Sorgen zu machen.» Ich zucke die Achseln und folge ihr. Am Ufer ragt ein Betonkeil in den See, eine Bootsanlegestelle. Daneben steht eine Blechhütte, in der ein verschrumpelt wirkender Einheimischer sitzt. Sein Gesicht, kurz erhellt vom Licht einer Sturmlaterne, ist faltig und verwittert. «Wann kommt das nächste Boot?» fragt Antoinette. Der alte Mann blickt hinauf zum Mond, der über dem See hängt, als würde er dort die Antwort suchen. «Demnächst», sagt er und spuckt einen dunklen Fleck Tabaksaft auf den Boden. Wir warten aneinandergekauert unten beim Schilf. Antoinette sucht Halt und legt mir eine Hand auf die Schulter. «Wie fühlst du dich?» fragt sie, während sie sich zu mir umdreht, und ihre Augen leuchten mir aus der Dunkelheit entgegen. «Gut», sage ich, und das stimmt. Die Pillen und das Bier balancieren einander wirklich aus und schärfen die Sinne. Details treten hervor, scharf und hyperreal: Im Schilf 318
schreckt ein Einsiedlerkrebs in seinen Panzer zurück; Antoinettes Lippen stechen dunkel von ihrer Haut ab; ein sanfter Wind streicht am Außenrand meines Ohrs entlang. «Wegen der Pillen», sagt Antoinette, «möchte ich nicht, daß du dir allzu große Sorgen machst. Ich komme da schon runter. Ich habe früher doppelt so viele genommen wie jetzt.» «Himmel», sage ich in die Nachtluft. «Wie viele waren das denn?» «Keine Ahnung. Ich habe pausenlos welche geschluckt. Ich habe sie ungefähr vor acht Monaten zum ersten Mal genommen, um vom Koks runterzukommen. Da war so ein Typ, Victor. Ich mochte ihn eigentlich nicht, aber er hatte jede Menge Koks. Ich habe ihn bei Mike’s an der Theke kennengelernt. Er trug immer teure italienische Anzüge und hatte Unmengen Koks, und wir haben was davon geschnupft, und dann hat er mich gefickt. Wir haben uns nie geliebt. Er war nur der letzte in einer langen Reihe von Arschlöchern. Dann ist etwas passiert, und ich hatte ihn satt, ihn und alles. Satt bis zum Erbrechen.» «Was ist passiert?» Antoinette schweigt einen Augenblick, und sie will gerade antworten, als ein plötzlicher Windstoß durchs Schilf fährt und ein lautes Surren ertönt, wie das Geräusch eines großen Ventilators. «Da kommt es», ruft der ledergesichtige Einheimische von seinem Platz im Schuppen aus, und wir stehen auf und gehen den Steg hinunter. Es ist ein Flachboot mit Propeller am Heck. Der Fahrer sitzt auf einem erhöhten Stuhl wie ein Linienrichter beim Tennis. Ein Scheinwerfer gleitet über das Wasser. Ich habe solche Boote als Kind in Filmen über die Everglades gesehen. Ein paar Minuten später gehen Antoinette und ich an Bord und klammern 319
uns aneinander fest, während das Flachboot sich aufbäumt, durchs Schilf donnert, hinweg über kleine, schlammige Inselklumpen, immer geradeaus auf ein Licht zu, das am Horizont schimmert. Es ist eine qualvolle Fahrt. Antoinettes nackte Arme sind mit Gänsehaut überzogen, und der Wind weht ihr das Haar zurück. Schon bald ist unser Ziel deutlich zu erkennen: Das Licht ist eine Kneipe, die auf Stelzen mitten im See steht. Es ist ein heruntergekommen wirkendes Ding mit einer großen offenen Terrasse und Holztischen, an denen sich jetzt trinkende und essende Männer und Frauen drängen. Pirogen und Motorboote sind am Steg und am Geländer festgemacht. Wir haben noch ungefähr fünfzig Meter, der Flachbootfahrer stellt den Propeller ab, und wir gleiten den Rest des Weges zum Anleger hinauf. «Da wär’n wir. Ich mache jetzt Schluß», sagt der Fahrer. «Ihr sitzt hier fest bis zur Morgendämmerung, es sei denn, ihr wollt zurückschwimmen.» Dann wirft er eine Leine über den Poller und entfernt sich über den Landesteg Richtung Bar. Antoinette und ich klettern vorsichtig von Bord und setzen uns auf den Steg, um wieder zu Atem zu kommen. «Ich war schon einige Male hier draußen», sagt sie, «und jedesmal hat mich diese Fahrt zu Tode geängstigt.» Ich bin zu steif, um etwas zu sagen. Durch das Gesumme der Menschenmassen in der Bar höre ich das dumpfe Stottern und Knallen eines Benzingenerators. «Bist du soweit?» fragt Antoinette. Das Neonschild im Fenster verheißt kaltes Bier, Langusten, Krabben und einen schönen Abend. Auf einem anderen Schild steht KOPF EINZIEHEN, darüber zur Verdeutlichung ein flackernder Punkt. An der Theke stehen die Leute in Dreierreihen. Gegenüber, abgetrennt 320
durch eine niedrige Wand, liegt ein mit roten und weißen Linoleumquadraten ausgelegter Tanzboden, auf dem sich tanzende Pärchen im Twostep tummeln. Eine drei Mann starke Zydekoband - Akkordeon, Mandoline und Kontrabaß - schrammelt auf einem dreieckigen Musikpodium in der Ecke ihr Programm herunter. Die Wände sind mit ausgestopften Fischen und altertümlichen Jagdutensilien bedeckt, zu denen auch eine Entenflinte von der Größe einer Kanone gehört. Ich schreie über die Musik hinweg in Antoinettes Ohr. «Was ist das hier für eine Kneipe?» «Ja, toll!» sagt sie, da sie mich nicht verstanden hat. Das Publikum ist Cajun pur. Schwarze Haare und hohe Wangenknochen verraten die dunklen Spuren anderer Rassen: Choctaw-Indianer und Feldsklaven, die irgendwelchen, schon seit hundertfünfzig Jahren nicht mehr bestehenden Plantagen entflohen sind. Aber ich sehe auch andere Typen: Yuppie-Pärchen aus der Hauptstadt in J.-Crew-Ensembles; LSU-Collegekids, hypermodern in Billigklamotten Marke sechziger Jahre; selbst ein oder zwei Geschäftsleute sind da mit gelockerten Krawatten, Brieftaschen mitten im Durcheinander der Biergläser auf dem Tisch. Ich erspähe ihn auf der anderen Seite der Bar am Stützpunkt der Kellnerinnen. Eine Hand an die Wand gestemmt, beugt er seine massige Gestalt über eine zierliche Kellnerin, die mit hochgerecktem Gesicht und weit aufgerissenen Augen vor ihm steht wie ein kleines, glückloses Säugetier vor dem hypnotischen Blick einer Python. Ein volles Tablett mit Bierflaschen ruht auf ihrer Hüfte. «Sieh mal, wer da ist», schreie ich Antoinette ins Ohr und gestikuliere. Sie nickt und macht mir ein Zeichen, daß sie die Drinks besorgen wird, und verschwindet zur Theke. 321
Ich drängle mich durch die Menge und beobachte die Szene aus der Nähe. Es ist die übliche Masche, das sagt mir seine Körpersprache. Ich habe das alles schon miterlebt, in zahllosen Bars überall in der Lower East Side. Will sie mit ihm schlafen oder nicht? Aber diese da ist widerspenstig. Sie schüttelt den Kopf. Nein. Er schlägt einen anderen Kurs ein. Er schmeichelt, was für gewöhnlich fatal ist, aber hier ist er im Vorteil. Er ist der Boss. Die Sache könnte ewig so weitergehen. Schließlich lege ich meine Hände an den Mund und belle: «Molesworth!» Molesworth fährt ärgerlich herum. Wenn er überrascht ist, dann zeigt er es nicht. «Ich bin hier beschäftigt, Niggerarsch», sagt er, als hätten wir uns erst gestern verabschiedet. Dann dreht er sich wieder zu der Kellnerin um, aber die hat die Gelegenheit genutzt, um zu verschwinden. «Verdammt! Schon mal was von Timing gehört?» Ich stoße einen Finger in seine fleischige Brust. «Molesworth, ich will meine sechshundert Dollar!» Er mustert mich von oben bis unten, denkt nach und schüttelt dann den Kopf. «Keine Chance», sagt er. «Nicht, bevor ich diese Telefonrechnung gesehen habe. Aufgeschlüsselt.» «Sieh dir diese Kneipe doch an», sage ich. «Du machst hier jede Menge Moos! Deine Kundschaft trinkt in einer halben Stunde für mehr als sechshundert Dollar, und du kannst es dir nicht leisten, mir zu zahlen, was du mir schuldig bist? Elender Geizkragen!» Ich bin fest entschlossen. Sein rotes Hängebackengesicht verfällt für einen Augenblick. Er blinzelt zur Band hinüber, die sich in den letzten Song ihres Sets hineinquält, und blinzelt dann wieder mich an. In seinen 322
Schweineäugelchen liegt ein leicht verletzter Ausdruck. «Ist das der Grund, warum du den ganzen Weg hier herunter gekommen bist, Niggerarsch?» fragt er. «Um dir dein verdammtes Geld zu holen?» «Genaugenommen besuche ich Antoinette.» Ich zeige in Richtung Theke, wo sie bereits Hof hält, umringt von drei ansehnlichen Männern, während ein vierter bereits auf der Lauer liegt. Molesworth runzelt die Stirn. «Du lernst nie dazu, was?» «Mein Geld.» Er seufzt und zeigt auf einen riesigen Mann, der auf einem Hocker am Ende der Theke sitzt. Der Mann trägt ein großes buntes Halstuch und eine Lederweste. Eine liegende Acht ist auf seine Schulter tätowiert - das Symbol der Unendlichkeit. «Ja, Boss?» sagt er zu Molesworth. Ich schaue an ihm hoch. Sein Kopf ist einfach unverschämt riesig. «Puddin’, gib diesem Niggerarsch hier sechshundert Dollar», sagt Molesworth schmollend. Der menschliche Berg namens Puddin’ nimmt ein Bündel Hunderter aus der Tasche, zählt sechs davon ab und reicht sie mir leidenschaftslos rüber. Dann schlendert er wieder zurück zu seinem Posten an der Theke. «Puddin’ ist meine wandelnde Kasse», erklärt Molesworth. «Für alles vom Zwanziger aufwärts. Der Mann ist sicherer als Fort Knox.» Die Geldscheine in meinen Fingern fühlen sich wunderbar an, knackfrisch, und ich bin beschwichtigt. «Also, kommst du mit dem Laden klar, Molesworth?» erkundige ich mich. Er zuckt mit den Schultern. «Ich kann mich nicht 323
beschweren. Aber ich kann jetzt nicht reden. Bleib in der Nähe. Ich geb dir ’n Bier aus, wenn es hier etwas ruhiger wird.» «Wann ist das?» «Sieben Uhr morgens.»
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in Samstagabend, den man in einer vollen Bar verbringt, ist wie der Besuch in einem Mikrokosmos. Der Abend zerfällt in verschiedene Abschnitte: die Schlägerei zwischen zwei Raufbolden aus Jefferson, die sich wegen einer undiplomatischen Bemerkung in die Haare geraten sind; die zwanzigminütige Unterhaltung mit der Blonden, die vielleicht jemanden von der Tulane kennt, den man ebenfalls kennt; dann die Unterhaltung mit ihrer Zimmergenossin, einem Rotschopf mit dezidierten Ansichten über die politische Situation in China. Und schließlich, die Blonde und ihre Zimmergenossin sind vergessen, sind da diese Leute aus deiner Heimatstadt an einem Tisch in der Ecke: noch mehr Bier, für das keiner zu zahlen scheint, und die Dunkelheit schwindet einem neuerlichen trüben Morgen entgegen. Um halb sechs Uhr früh finde ich mich an einem Tisch draußen wieder, zusammen mit lauter Männern und Frauen, die ich nicht kenne, und sehe zu, wie die Sonne sich im Osten über dem Bayou erhebt. «Da kommt sie», sagt eine Frau, als der erste Lichtschein die Baumgrenze überwindet. «Ja», sagt ein Mann, «jeden Morgen das gleiche.» «Nicht ganz», sagt ein anderer. «Der Sonnenaufgang findet jeden Morgen zu einer etwas anderen Zeit statt, und das Licht ist anders, je nach Jahreszeit.» «Aha, wir haben einen Physiker unter uns», sagt noch ein anderer. «Scheiß auf den Physiker. Hier ist sie.» Und es stimmt. Die Sonne hat den Horizont in der 325
kurzen Spanne dieses Gesprächs ausgefüllt, und das Wasser leuchtet in ihrem Schein rot und golden, und über dem Sumpf erheben sich mehr Vögel, als ich je gesehen habe, dem Morgenhimmel entgegen. Dann leeren sich die Tische, und überall tuckern Motorboote, man riecht Dieselabgase und hört das leichte Platschen von Paddeln. Das Lokal leert sich. Ein paar Minuten später gesellt Antoinette sich zu mir. «Wo bist du seit halb fünf gewesen?» fragt sie. «Hier draußen. Ich habe den Sonnenaufgang beobachtet. Und du?» «Ich habe ein paar Leute getroffen, die ich aus New Orleans kenne.» Sie läßt sich schwer neben mich fallen und nimmt meine Hand, mit der Innenfläche nach oben gedreht. «Ich würde dir ja die Zukunft vorhersagen», meint sie, «aber ich bin betrunken. Kann die Zukunft nicht vorhersagen, wenn ich betrunken bin.» Ich sehe sie an; ihre Augen schwimmen in Alkohol. «Schon gut», sage ich. «Ich will auch gar nichts über die Zukunft wissen.» Dann treffen sich unsere Blicke, und wir sind beide betrunken, und es ist Morgen, und der Himmel ist klar und wunderschön. «Gnade», sagt sie. «Ich gebe nach.» Wir lehnen uns aneinander, und ihre Lippen sind sehr nah; ausgerechnet diesen Augenblick wählt Molesworth, um uns zu stören. «Also gut, Kinder», sagt er. «Zeit fürs Frühstück.» Er kommt mit einem Tablett, auf dem sich eine seltsame Zusammenstellung von Zutaten befindet. Ich sehe Tabascosauce, Tomatensaft, Cajun-Gewürze, Zwiebeln, Eier, Zitronen, Tequila, eine Flasche Benedictine, Gläser und ein paar andere Kleinigkeiten. Molesworth läßt sich auf die Holzbank fallen und macht sich daran, drei 326
komplizierte Drinks zu mixen. Das Endresultat sieht aus wie eine Bloody Mary mit einer braunen Brandyschicht auf dem Boden. Ich kann den Geruch von Tomatensaft, Tequila und Zitrone über den ganzen Tisch hinweg riechen. Schließlich bricht er mit einer schwungvollen Gebärde ein rohes Ei über jedem Drink auf und verteilt die Gläser. «Voilà», sagt Molesworth, schaut von Antoinette zu mir und hebt sein Glas. «Wollen wir sagen, auf die Liebe?» Antoinette schenkt ihm ein träges Lächeln. «Warum nicht?» Und dann, noch immer lächelnd, leert sie das Gebräu in einem einzigen langen Zug. Ich ersticke fast an dem Ei, und dann spüre ich das würzige Brennen der Tomaten-Tequila-Mixtur, nur allzu schnell gefolgt von der weichen Wärme des Brandys, aber am Ende fühle ich mich prima. Das ist ein Drink wie eine lange, anstrengende Reise, nach der man froh ist, wieder zu Hause zu sein. Mein Kopf und meine Nebenhöhlen sind plötzlich ganz klar. Ich hole tief Luft, bin verwundert. Für den Augenblick bin ich weder betrunken noch verkatert. «Mein Gott, was war das?» rufe ich. Molesworth lächelt geheimnisvoll, und sein gewaltiges rotes Gesicht legt sich in Falten wie ein Landschinken. «Das ist das Cajun-Stärkungsmittel vom guten alten Molesworth, zum Patent angemeldet», sagt er. «Du solltest es in Flaschen füllen», meine ich. «Du würdest ein Vermögen machen.» «Darüber habe ich auch schon nachgedacht», sagt er. «Aber», er kommt mir ganz nahe, «die Zutaten müssen absolut frisch sein. Steck es in eine Flasche, und der Kick ist weg.» «Ja, das war wirklich toll, Lyle», sagt Antoinette. «Aber ich habe mein eigenes Stärkungsmittel.» Sie zieht die 327
Pillenbox aus ihrer kleinen Handtasche, aber bevor sie sich eine der gelben Pillen in den Mund stecken kann, reißt Molesworth ihr das Schächtelchen weg. Er ist ziemlich schnell für eine Mann mit so fleischigen Händen. «Was ist das für ein Scheiß, Schätzchen?» sagt er und sieht sich die gelben Pillen genauer an. «Weißt du doch», sagt Antoinette. «Hast du sie von Hash Davis?» Antoinette nickt; sie ist ein wenig nervös. «Du solltest nichts schlucken, was dieser Bastard zusammenbraut», sagt Molesworth. «Du wirst Babys mit zwei Köpfen kriegen, ganz zu schweigen von den unmittelbaren Konsequenzen.» Dann wirft er die Pillendose in das teefarbene Wasser des Sees. Antoinette ist einen Augenblick lang ganz still. Dann läßt sie ihre Handtasche zuschnappen und steht mit der ganzen gekränkten Würde einer südlichen Matrone auf, deren Ehre verletzt wurde. «Lyle, du bist ein Scheißkerl», sagt sie durch zusammengebissene Zähne. «Das mußtest du nicht tun. Ich bin kein unschuldiges Highschoolmädchen und auch keine Süchtige.» Mit diesen Worten geht sie stocksteif in Richtung Bar und Toiletten. «Tut mir leid, Niggerarsch», murmelt Molesworth zu mir gewandt, als sie verschwunden ist. «Sie ist besser dran ohne diesen Scheiß. Wir hatten hier letzten Monat eine von diesen flotten Collegebienen, die sich wegen dieser Dinger auf dem Boden gewunden hat. Die Puppe hätte fast ihre Zunge verschluckt. Noch so ein Zwischenfall, und ich übergebe Hash den Staatsbubis.» «Du mußt dich nicht bei mir entschuldigen, Molesworth», sage ich. «Ich war selbst in Versuchung, 328
diese Pillen loszuwerden, nur daß…» «Nur daß du ihr gestattest, dich wie ein Schwein mit einem Ring durch die Nase herumzuführen.» «Ach, komm schon…» «Sei vorsichtig, daß du nicht auch noch die zweite Hälfte deines Lebens auf diese Frau verschwendest. Die erste Hälfte hast du ja schon weggeschmachtet.» Eine halbe Stunde später taucht Antoinette wieder auf und marschiert, ohne nach links oder rechts zu schauen, zu dem Flachboot hinunter, dessen Propeller am Liegeplatz zu dröhnendem Leben erwacht. Ich steh auf. «Das ist mein Schiff, Molesworth.» «Ja.» Er hievt sich schwerfällig und schnaufend hoch, und wir schütteln uns die Hände. «Tja…» Er schaut über die Schulter nach hinten, so als beratschlage er sich mit einer unsichtbaren Gottheit, und sieht dann wieder mich an. «Erzähl mir nichts, Ned», sagt er. «Es war nur eine Frage der Zeit. Ich fürchte, ich werde deinen Arsch bis ans Ende meiner Tage sehen.» «Wie meinst du das?» «Ich meine, es liegt dir im Blut.» «Was?» Er grinst. «Das hier», erwidert er und zeigt auf den See und den Himmel und den Bayou und die schilfschlammigen Inseln, die Zypressen und die immergrünen, mit Louisiana-Moos überwucherten Eichen und den ganzen Staat Louisiana, der sich in die flackernd blaue Ferne bis hin nach New Orleans erstreckt, jene unglaubliche Stadt, die in diesem Augenblick an ihrem kaffeebraunen Fluß im Sonnenlicht erwacht.
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ntoinette sagt kein Wort. In ihrem Saab holpern wir auf der unbefestigten Straße durch den Bayou auf den Highway zu. Ihre italienischen Brillengläser spiegeln die Bäume und den Himmel wider; ich kann ihre Augen nicht sehen. «Okay, vielleicht hätte Molesworth deine Pillen nicht einfach so wegwerfen dürfen», sage ich, «aber du bist zu alt, um wie ein Kind mit Drogen rumzuspielen.» Statt einer Antwort kommt ein kleines ersticktes Geräusch von ihr, und ich sehe, daß ihre Hände auf dem Steuerrad zittern. «Alles in Ordnung?» «Scheiße!» sagt sie, und plötzlich sind ihre Lippen ganz fleckig. Dann beginnt sie richtig zu zittern. Sie läßt das Steuerrad los, und ich strecke schnell die Hand aus, um es festzuhalten. «Nein, es ist alles okay», sagt sie, aber ich lenke den Wagen an den Straßenrand. Die Sonne fällt jetzt schwer und voller Blutenstaub durch die Blätter, und vom Sumpf klingt das heisere Quaken der Frösche herüber. Direkt hinter der glänzenden Motorhaube des Saabs würgt und blubbert ein algenbedeckter Nebenfluß des Nezpique. «Ich schwöre, ich komme los von den Dingern», sagt Antoinette, als wir schließlich stehen. «Aber nicht so. Das ist verdammt noch mal zu hart.» Dann faßt sie unter ihren Sitz und zieht eine kleine Tasche heraus, in der sich eine Aspirinflasche voller gelber Pillen befindet. Sie müht sich mit dem kindersicheren Verschluß ab und kriegt ihn nicht auf. 330
«Bitte», sagt sie. Es ist fast ein Wimmern. «Schon gut», erwidere ich. «Gib her.» Ich öffne die Flasche für sie und sehe zu, wie sie zwei Pillen herausklopft, die Hand an den Mund führt und schluckt. Nach ungefähr einer Minute läßt das Zittern langsam nach, und sie lehnt sich zurück und starrt zwischen den Blättern hindurch in den blauen Himmel. Schließlich, ihr Gesicht ist entspannt und träge, dreht sie sich zu mir um. «Sieh mich nicht so an, Ned», sagt sie. «Mir geht’s nicht sooo schlecht. Schau mal ins Handschuhfach. Ich habe sorgfältig Buch geführt.» «Buch geführt?» Ich wühle im Handschuhfach herum und ziehe hinter einer Ersatzbirne für den Blinker, Landkarten und anderem Krimskrams einen kleinen Terminkalender hervor. In dem Kalender ist jeder Tag mit einer Reihe roter X markiert. «Fang an bei April und spring rüber zum August», fordert sie mich auf. Die X, im April noch sechs und sieben am Tag, verringern sich im August auf zwei oder drei. «Diese kleinen X sind die Pillen», sagt sie. «Ich versuche, diese Sache nach und nach in den Griff zu kriegen. Ich will mich nicht auf irgendeine klinische Entziehungskur verlassen und dann ein Jahr später einen Rückfall haben. Und ich will auch kein Prozac. Das ist etwas, das ich selbst schaffen muß. Ich sorge dafür, daß ich clean werde und dann clean bleibe.» Ich denke über diesen Plan nach. «Warum nimmst du sie überhaupt?» frage ich leise. «Ach, die üblichen Gründe», meint sie und macht eine unbestimmte Handbewegung. «Weil in meinem Leben nicht genug passiert. Die Tage sind lang, ziehen sich hin. All diese vielen Minuten.» 331
«Vielleicht solltest du heiraten», sage ich. «Kinder. Ich höre, sie hätten die Gabe, einen von anderen Sachen abzulenken.» «Ha!» sagt sie, aber dann ist sie wieder ernst. «Da ist niemand. Niemand, der dafür in Frage käme.» «Na, komm schon», sage ich. «Kein einziger akzeptabler Mann?» Ganz in der Nähe hört man nun ein knackendes Geräusch. Ich blicke auf und sehe einen Specht, der in den uns am nächsten stehenden Baum ein Loch hämmert. Dann hält er inne, blinzelt mich mit seinen leuchtenden, runden Vogelaugen an und ist eine Sekunde später verschwunden, ein rotblauer Blitz im Grün der Vegetation. «Natürlich scharwenzeln wie immer jede Menge Männer um mich herum», sagt sie, «von denen einige sogar ganz nett anzusehen sind, aber es gibt niemand, mit dem ich reden könnte. Ich lebe jetzt seit acht Monaten abstinent, wenn du die Wahrheit wissen willst. Und du weißt ja, wie schwer mir das fällt.» Sie nimmt ihre Brille ab und sieht mich an, und ihre Augen sind heute dunkelgrau, und auf ihrem Gesicht liegt Sonnenlicht. Ich spüre, wie etwas in mir zerbricht. «Ach, zum Teufel», sage ich und ziehe sie an mich. Ihre Lippen sind rauh, und ihr Mund schmeckt sauer, aber eine Sekunde später sind ihre Brüste in meinen Händen, und als ich ihren Rock hochschiebe, stelle ich fest, daß ihre Schenkel naß sind. «Ja», haucht sie. «Bitte, ja.» Aber es ist unbequem über dem Schalthebel, also setzt sie sich breitbeinig auf meine Hüften und läßt sich auf mich herunter, die Knie in das Leder des Beifahrersitzes gepreßt, die Arme um meinen Hals, und ihre Brüste und ihr Haar riechen nach Zigarettenrauch und leicht parfümiert, und da ist der Geruch ihrer Lust, der mir plötzlich wieder überdeutlich in 332
Erinnerung ist, scharf und vertraut. Es ist nur allzu schnell vorbei, aber ich bin bald wieder da, und wir klettern auf den Rücksitz, mühen uns aus unseren Kleidern und gehen es auf die altmodische Weise an, sie unter mir, fest und warm, während die heiße Sonne, die durch die Blätter scheint, auf meinem Rücken ein Muster aus Licht und Schatten zeichnet, und all die Jahre dazwischen, die langen, melancholischen Jahre, schmelzen dahin wie ein böser Traum.
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m der guten alten Zeiten willen nehmen wir ein Zimmer im Bienville House im French Quarter. Wir lieben uns unter gestärkten Laken, während Geschäftsleute und Kongreßteilnehmer sich unten in der Lobby versammeln. Die Geräusche der Bars und Clubs entlang der Bourbon Street dringen zu uns herauf, und der Fluß glänzt dumpf und schwer hinter den niedrigen Dächern der Häuser. Ich schlafe mit ihr, und dann schlafe ich wieder mit ihr, und dann vögle ich sie, weil sie mich darum bittet und es etwas anderes ist, und anschließend liegen wir naß vom Schweiß da, lassen uns im Wind der Klimaanlage abkühlen, zwei Körper verheddert in den Bettlaken und der Vergangenheit. Es ist ein wenig seltsam, jetzt mit ihr zu schlafen. Als wir jung waren, hatte Sex etwas Unschuldiges, war aber auch ein wenig unbeholfen. Jetzt ist die Unschuld einem Allzuviel an Erfahrung gewichen. Ihr Körper bewegt sich gekonnt unter meinen Fingern; sie legt sich genau in den richtigen Winkel; sie bittet mich, auf den richtigen Augenblick zu warten. Vielleicht wird das, was an Unschuld verlorengegangen ist, durch Lust wettgemacht. Ist es schlechter, besser? Ich kann es nicht sagen. Wir sind nicht mehr dieselben. Als wir noch jung waren, war es nicht möglich, nur zu vögeln. Es hätte uns unsere jungen Herzen gebrochen. Jetzt ist es schwer, es nicht zu tun. Antoinette redet zuerst nicht, weil ihr Mund anderweitig beschäftigt ist und dann fürs Rauchen gebraucht wird, eine Zigarette nach der anderen, während sie den Aschenbecher auf der leichten Rundung ihres Bauches balanciert. Aber schließlich, nach zwei Tagen, ist die Lust erschöpft, und 334
sie hat keine Zigaretten mehr, und der Abend dämmert, und der Himmel über der Stadt ist rötlich, und sie ist jetzt gezwungen zu sprechen. Und dann ist das erste, was sie auf meine Fragen sagt, während ihr Haar in einem schwarzen, duftenden Wirrwarr auf dem Kissen liegt und die letzte Zigarette ausgedrückt ist: «Ich will im Augenblick eigentlich nicht reden, okay, Schatz? Warum lassen wir es nicht eine Weile auf sich beruhen? Nicht denken. Einfach nur eine Weile Zusammensein.» Ich runzele die Stirn, wälze mich auf dem Laken herum und trommele mit den Fingern auf die Matratze. Dann sage ich, es sei okay, wir müssen jetzt nicht reden, und lehne mich gegen sie, aber sie seufzt und sagt: «Na schön. Was willst du wissen?» «Nichts», sage ich. «Alles.» Sie wippt nervös mit dem Fuß. «Ich brauche eine Zigarette», sagt sie. «Laß den Zimmerservice kommen.» Sie denkt darüber nach und schluckt schließlich eine der gelben Pillen, die erste heute, und dabei ist es fast sieben Uhr abends. «Ich werde langsam besser», sagt sie, während ihr Körper die Pille aufnimmt und ein träger, mir mittlerweile vertrauter Blick in ihre Augen tritt. «Selbst eine Pille ist noch eine zuviel», sage ich. Sie ignoriert mich. «Ich sage dir, was wir jetzt machen», meint sie. «Was denn?» «Wir bestellen uns einen Drink aufs Zimmer.» «Nein.» «Nur einen ganz kleinen.» «Nein.» Ihre Lippen verziehen sich zu einem Schmollmund, dann 335
leuchtet ihr Gesicht plötzlich auf. «Okay, laß uns vögeln.» Ich bin nicht sicher, ob überhaupt noch irgend etwas in mir ist, aber sie läßt nicht locker, und ich lege meine Hand auf ihre Brust und spüre, wie die Brustwarze sich verhärtet, und es folgt die entsprechende Reaktion, und eine halbe Stunde später haben wir’s hinter uns und kleben wieder einmal aneinander. «Es ist schön, hier mit dir zusammenzusein», sagt sie und bedeckt meine Hand mit ihrer. «Verdammt, es ist nach acht Monaten schön, überhaupt mit irgend jemandem zusammenzusein.» «Na toll.» «Entschuldige. So habe ich das nicht gemeint.» Sie schweigt eine Weile. Am Himmel macht sich jetzt ein winziger Hauch von Röte breit, während der Tag sich im Fluß ertränkt wie ein Selbstmörder, der von der Huey Long Bridge springt. «Da du es schon wissen willst, die Dinge sind schon sehr lange nicht mehr gut für mich gelaufen», sagt sie leise, als draußen vorm Fenster nichts mehr übrig ist als die grüne Dunkelheit über der Stadt. «Wie meinst du das?» Ich kann ihre Augen nicht sehen. Sie zuckt mit den Schultern. «Ich habe Dothan geliebt, denke ich, obwohl das alles so weit weg zu sein scheint. Ich war so jung. Zu jung. Und ich war verrückt nach dir. Du warst erst der zweite Mann, mit dem ich geschlafen habe. Du glaubst es vielleicht nicht, aber ich habe mir tatsächlich die Augen ausgeweint, als du gegangen bist.» «Ich glaube es.» «Ja, du bist einfach aufgestanden und über den Jackson Square gegangen. Hast dich nicht mal umgesehen.» 336
«Hm.» Ich krümme mich innerlich bei der Erinnerung daran. «Also, nachdem du gegangen bist, war da wieder Dothan. Dann wurde ich ihn schließlich los, und da waren all die anderen. An die Hälfte ihrer Namen kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur Sex. Nicht mehr als das. Vor einer Weile habe ich dann diesen Typ kennengelernt, Victor. Er ist irgendwo in Caracas oder so geboren. Hat mit Geld um sich geworfen, als wär's Konfetti. Er hat Koks verkauft, unter anderem, hatte eine große Villa draußen am See, eine Yacht und jede Menge heruntergekommener Freunde. Ich weiß nicht, wie ich in diese Bande hineingeraten bin.» «Wahrscheinlich die Drogen.» «Vielleicht… Ich habe die ganze Zeit gekokst und immer Geld aus der Ladenkasse genommen. Dann, im letzten September, gab Victor diese wilde Party in seinem Haus. Es war wie in den Siebzigern, mit kleinen Silberschüsselchen voller Kokain auf den Tischen und Leuten, die im ganzen Haus verteilt miteinander schliefen, direkt vor den Augen aller. Ich war zu stoned und voll von Koks, um mir was draus zu machen. Verstehst du, da vögelte dieses Pärchen auf dem Sofa keinen Meter von mir entfernt, und ich war einfach… ich weiß nicht… nicht da.» «Hm.» «Aber Victor, der war plötzlich total drauf und schleppte mich die Treppe rauf, und wir waren gerade im Bett zugange, da fliegt die Tür auf und drei Cops in Kampfausrüstung stehen vor uns, Waffen im Anschlag. Also, Victor ist buchstäblich, na ja, mittendrin. Es war wie eine Szene aus einem schlechten Actionfilm. Sie zogen ihn von mir runter und haben ihn immer wieder 337
geschlagen, bis er blutete. Dann haben sie ihm, nackt wie er war, Handschellen angelegt und ihn auf den Boden geworfen. Und mir haben sie nicht erlaubt, aus dem Bett zu steigen oder auch nur die Decke hochzuziehen. Sie sind überall rumgelaufen, haben rüde Bemerkungen gemacht, und ich lag da und versuchte mich mit meinen Händen zu bedecken. Es war schrecklich. Schließlich haben sie angefangen, mich zu fragen, ob ich eine Prostituierte wäre, weil sich rausstellte, daß die meisten Frauen unten bekannte Nutten waren. Ich habe immer wieder verneint, dann habe ich angefangen zu weinen, und schließlich durfte ich die Decke um mich herumwickeln; dann haben sie mich verhaftet und in die Stadt gebracht. Und da saß ich nun in diesem Drahtkäfig auf dem dritten Revier, mitten unter Nutten und Junkies, und die Cops wollten mich nicht gehen lassen, weil sie versuchten, mir Prostitution und Drogenbesitz anzuhängen.» Antoinette schweigt eine Weile. Mein Ohr an ihren Rücken gepreßt, höre ich ihr Herz leise schlagen. Ich versuche sie zu mir umzudrehen, aber sie läßt es nicht zu und schließlich muß ich sie drängen fortzufahren. Ihre Stimme verändert sich, während sie weiterspricht, sinkt zu einem leisen, traurigen Flüstern herab. «Ich war siebenundzwanzig Stunden da drin. Sie haben mir nicht erlaubt, einen Anwalt anzurufen, bis sie mit dem Papierkram fertig waren. Aber das war ganz okay, denn ich wollte nicht, daß Papa davon erfährt - er ist jetzt so krank -, und alle meine Anwälte sind auch Papas Anwälte. Ich habe da drin bei diesen Frauen gesessen, dem absoluten Abschaum, und nachgedacht. Schließlich holte einer von Victors Mafia-Anwälten mich raus, und vor dem Haus stand eine Limousine, und es gab Blumen und eine Flasche teuren Champagner, und Victor hat sich immer wieder entschuldigt, aber ich hatte einfach genug. Ich ging 338
nach Hause und habe mich von Kopf bis Fuß abgeschrubbt. Dann habe ich Tante Taties Mantilla aus einer Truhe ausgegraben, meinen Kopf damit verhüllt und den Rosenkranz genommen, den ich zu meiner Erstkommunion geschenkt bekommen habe, und bin runter zum St. Roche gegangen. Ich bin auf die Knie gefallen und habe den Heiligen gebeten, Gott für mich um Vergebung zu bitten, denn ich war nicht gut genug, nicht rein genug, um mich selbst an Gott zu wenden, und ich hatte das Gefühl, ich hatte damals wirklich das Gefühl, er habe sein Gesicht voller Abscheu von mir gewandt, und ich habe mich so geschämt für die Dinge, die ich getan hatte. Dann habe ich vor dem Heiligen in der Dunkelheit der Kapelle ein Gelübde abgelegt. Zuerst, habe ich geschworen, würde ich aufhören, Kokain zu nehmen, und ich war damals ziemlich tief drin in dem Zeug, was auch der Grund ist, warum ich jetzt die gelben Pillen nehme. Und zweitens, habe ich geschworen, würde ich aufhören, auf diese Weise Sex zu haben, als würde es keine Rolle spielen, mit wem ich Sex hatte. Ich habe versprochen, mit niemandem mehr zu schlafen, bis ich jemanden treffen würde, der mir wichtig ist.» Sie hört abrupt auf zu reden und liegt steif in meinen Armen. Ich warte darauf, daß sie fortfährt, aber sie tut es nicht. «Und weiter?» frage ich einen Herzschlag später. «Was denkst du?» fragt sie schroff zurück. «Du bist mir wichtig. Du warst mir immer wichtig. Wir sind gute Freunde, stimmt’s?» Dann steht sie auf, ohne mich anzusehen, und verschwindet im kleinen Badezimmer. Kurz darauf höre ich das Badewasser erst einlaufen und dann, nach einer halben Stunde, wieder auslaufen. Zehn Minuten später kommt sie heraus, riecht nach Seife und Talkumpuder, ist, 339
abgesehen von einem Handtuch um ihren Kopf, nackt, beugt sich über mich und küßt mich, dreht das Licht ab und kommt ins Bett. Nach fünf Minuten ist sie eingeschlafen, mitsamt ihrem feuchten Turban auf dem Kissen. Läßt mich allein mit meinen Gedanken in dem halbdunklen Hotelzimmer, dessen Decke jetzt vom Widerschein der Lichter aus dem French Quarter beleuchtet ist wie von Sonnenstrahlen.
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A
m nächsten Morgen ziehen wir aus dem Hotel aus und trennen uns für den Tag. Antoinette geht nach Hause in den Faubourg Marigny und von dort zu ihrem Laden in der Treme Street, und ich widme mich an diesem Nachmittag den Nachforschungen, die diese Reise steuerlich absetzbar für mich machen werden. Das Kloster der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz befindet sich in einem alten Stadthaus an der Chartres Street, einen halben Häuserblock von der alten Ursulinenschule entfernt. Der Orden der Barmherzigen Schwestern ist sehr streng. Den Frauen ist es nicht gestattet, Fleisch zu essen oder das Klostergebäude zu verlassen, es sei denn, um Kranke oder Sterbende zu pflegen. Es ist ihnen während der ersten beiden Jahre ihres Noviziats nicht gestattet zu sprechen, und zehn Tage im Monat sollen sie fasten. Sie sind verpflichtet, sich allen Besitzes zu entledigen und all ihre Freunde und ihre Familie aufzugeben. Ist dies geschafft, bezahlt der Orden ihnen eine Ausbildung an der besten Krankenschwesternschule im Lande, und viele der Schwestern lassen sich zu Ärztinnen weiterbilden. Ihre einzige Mission ist die Fürsorge für die Schwerkranken und Geistesgestörten. Ansteckende Krankheiten sind eine besondere Spezialität des Ordens, vor allem Lepra, ein Erbe aus dem Mittelalter. Es waren die Gelbfieberepidemien, die den Orden nach New Orleans geführt haben, denn bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hinein wütete das gelbe Fieber alle paar Jahre in der Stadt und raffte Tausende dahin. Das Gebäude, in dem das Kloster untergebracht ist, wurde den 341
Schwestern von einem wohlhabenden Baumwollexporteur vermacht, um den sie sich während einer der schrecklichen Epidemien des Jahres 1825 kümmerten. Heute dient das Kloster als Ruhesitz für alte Nonnen und gleichzeitig als Hauptverwaltung des Ordens in den Vereinten Staaten. Ausgerüstet mit einem Empfehlungsschreiben von Pater Rose an die Mutter Oberin spreche ich um Punkt zwölf Uhr am Portal des Klosters vor. Als ich meine Nase gegen die Gitterstäbe presse, ertönt irgendwo in dem kühlen Inneren des Hauses eine Glocke. Eine Eidechse huscht den Außenputz hinauf. Im Hof sehe ich eine Reihe hoher, schattenspendender Bäume und große, mit Blumen gefüllte Vasen. Die alten Häuser des Vieux Carré zeigen sich von der Straße aus nicht von ihrer besten Seite; statt dessen schwelgen sie im Innern in geheimem Luxus. In diesem Augenblick kommt eine junge Frau um die Ecke und dann über den ungleichmäßig gepflasterten Weg auf mich zu: blaue Augen, ein hübsches offenes Gesicht, das Haar kurz wie bei einem Jungen. Sie trägt Jeans und ein schäbiges, mit Farbe bespritztes T-Shirt. Ich muß an gewisse Mädchen denken, irische Katholikinnen, die ich auf der Loyola kennengelernt habe: keck und kess und niedlich, aber qualvoll unerreichbar. Sie hatten immer irgendwo anders einen Freund und hielten eine schwesterliche Distanz. «Entschuldigen Sie meine Aufmachung. Ich bin gerade beim Anstreichen», sagt die Frau und bückt sich, um sich an dem schweren Riegel zu schaffen zu machen. Als das Tor aufschwingt, streckt sie mir eine Hand entgegen. «Sie sind Mr. Conti?» «Ja.» «Schwester Gregory.» 342
«Die Mutter Oberin?» «Ich fürchte, ja», sagt sie mit einem Lachen. Ich versuche, mir die Überraschung nicht ansehen zu lassen. Eine Nonne. Natürlich. Der Boyfriend irgendwo anders war Jesus Christus persönlich. «Ich habe heute morgen mit Pater Rose telefoniert», sagt sie. «Sie schreiben die Geschichte seiner Gemeinde? Wunderbar. Aber wie ich ihm schon sagte, haben wir hier nicht viele Unterlagen. Sie können sich natürlich trotzdem gerne umschauen.» Sie bedeutet mir, ihr zu folgen - mit der schnellen Ellbogen-Handgelenk-Bewegung einer Tennisspielerin-, und wir gehen durch den Torweg. Im Hof genießen etwa ein Dutzend sehr alter Nonnen den Sonnenschein. Sie tragen die schwarze Tracht einer strengeren Zeit und die klobigen schwarzen Nonnenschuhe, die immer aussehen wie orthopädisches Schuhwerk für plattfüßige Kinder. Woher sie bloß immer diese häßlichen Schuhe haben? Einige der Nonnen liegen, die Haut ganz wächsern, in Liegestühlen und schlafen mit offenem Mund. Drei Nonnen beschäftigen sich auf dem schmalen Rasen mit einer Partie Crocket; zwei weitere spielen an einem runden Tisch im Schatten der Eiche eine Runde Stud Poker mit Knöpfen als Chips. Eine von ihnen, ihr Gesicht verschrumpelt wie ein alter Apfel, raucht mit kurzen, grunzenden Zügen eine Zigarette. «Ich versuche die Mädchen dazu zu bewegen, etwas lässigere Kleidung zu tragen», flüstert Schwester Gregory mir zu. «Sie sind jetzt pensioniert, und für sie gelten nicht mehr die strengen Regeln. Aber die meisten tragen den Schleier seit über sechzig Jahren, und nach so langer Zeit können sie sich gar nicht mehr vorstellen, etwas anderes zu tragen.» Wir kommen an den pokerspielenden Nonnen vorbei, 343
und Schwester Gregory bleibt stehen, um sich eine Zigarette zu borgen. Es sind französische Zigaretten, Gauloises Bleu, aus einem über und über mit Zollmarken bedeckten Päckchen. «Schwester Jerome ist hundertundeins», sagt Schwester Gregory in genau demselben Ton, mit dem man sagen könnte: Junior ist zwei! Die Nonne blinzelt eine Sekunde lang mißbilligend zu uns auf und wendet sich dann wieder ihren Karten zu, die sie so gekonnt mischt wie ein Kartengeber in einem Kasino in Atlantic City. «Ich borge mir nur deshalb Zigaretten von Schwester Jerome, damit sie weniger raucht», sagt Schwester Gregory, als wir außer Hörweite sind. «Man könnte natürlich sagen, was spielt das mit hundertundeins noch für eine Rolle?» Sie zündet die Zigarette an und bläst eine verstohlene Rauchwolke die alte Fassade hinauf, bevor sie sie im Kies auf dem Gehweg wieder ausdrückt. Die nordamerikanischen Archive der Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz bestehen aus fünfundzwanzig in Leder gebundenen Pergamentbänden, die bis in das Jahr 1817 zurückreichen, dem Jahr, an dem sie von Italien in die Neue Welt kamen. Auf jeder Seite stehen das Eintrittsdatum, der Klostername, das Geburtsdatum und der Geburtsort der Novizin, gefolgt von einer kurzen handschriftlichen Stellungnahme der Novizin. Darunter stehen das Todesdatum und eine stereotype Frage auf Lateinisch. Das ist alles. Ich blättere das erste Buch durch, dessen Seiten von Stockflecken übersät sind. «Ich hatte auf mehr gehofft», sage ich. «Briefe, Dokumente und dergleichen mehr.» Schwester Gregory setzt sich auf den schweren Bibliothekstisch, die Arme 344
unter den Brüsten verschränkt, und wippt mit den Beinen. «Das ist alles, was wir haben», sagt sie. «Alle Unterlagen administrativer Art werden am Ende des Jahres routinemäßig vernichtet. Persönliche Korrespondenz ist nicht gestattet. Wer in unseren Orden eintreten will, muß sich von seiner Familie lossagen und sich von der Welt fernhalten. Ich fürchte, wir halten hier nicht viel von Geschichte, Mr. Conti. Geschichte ist etwas für die Eitlen; am Ende wird die Hand Gottes doch alles wegwischen. Diese eine Seite ist alles, was man jeder von uns zugesteht. Wir dürfen nicht einmal unseren Geburtsnamen aufschreiben, nur den Klosternamen, den wir für unser neues Leben wählen und der der Name eines Mannes sein muß. Wenn wir sterben, werden wir nach einer weiteren Ordensregel in einem anonymen Grab auf dem Armenfriedhof beigesetzt. Kein Stein, an dem getrauert werden kann. Nur eines der zahllosen Opfer jener Epidemie namens Leben.» Sie lächelt, aber die Wirkung ist schauerlich. So grimmige Feststellungen aus einem so reizenden Gesicht. Als sie mich mit dem Buch allein läßt, brauche ich nicht lange, um die Seite zu finden, nach der ich suche, datiert vom 30. November 1840: Novizin, geboren am 2. Mai 1816 in New Orleans, Louisiana, gestorben Brooklyn, New York, am 11. Oktober 1917. Die kurze Eintragung in einer jugendlichen, eleganten Handschrift ist in sehr korrektem Französisch verfaßt und ziemlich einfach zu übersetzen: Ich habe für mein Leben mit den Schwestern hier den Namen Januarius gewählt, nach dem Märtyrer von Benevento, dessen Blut sich angeblich achtzehn Mal im Jahr in der Kathedrale in Neapel verflüssigt. Dem Leben der Heiligen zufolge wurde diese arme Seele im 345
Amphitheater von Pozzuoli den Bären vorgeworfen und danach enthauptet. Die ungeheure Gewalttätigkeit seines Schicksals fasziniert mich. Ich sehne mich nach einem solchen Ende, aber Gott hielt einen ähnlichen Tod für den Mann bereit, den ich liebte und verloren habe. Die Schwestern hier haben mich gebeten, in diesem Buch darzulegen, warum ich den Schleier ihres Ordens nehmen will. Und sie haben mich gebeten, nichts zu schreiben als die Wahrheit. Also schön. Ich begrabe mich auf diese entsetzliche Weise, nicht weil ich Gott liebe, sondern weil ich es nicht ertragen kann, mein Gesicht im Spiegel zu sehen - nach der Rolle, die ich in gewissen tragischen Ereignissen gespielt habe. Ich habe aus Schwäche gehandelt, aus verwundetem Stolz und Eifersucht. Der Mann, den ich liebte, ist jetzt tot, und am Ende liebte er eine andere. Vielleicht werde ich lernen, Gott auf die Weise zu lieben, wie die freundlichen Schwestern ihn lieben. Ich weiß es nicht. Ich habe versucht, den Ursulinen beizutreten, aber sie wollten mich nicht haben, ebensowenig wie die Karmeliterinnen. Die Schwestern hier nehmen mich auch nur deshalb als Novizin an, weil zu viele von ihnen jedes Jahr vom Gelbfieber dahingerafft werden und sie es sich nicht leisten können, wählerisch zu sein. Zum Schluß möchte ich noch sagen, daß ich nicht ohne Mitgift war und daß es mir auch nicht an Heiratsanträgen mangelte, und daß ich als schön galt. Ich bin die Tochter einer stolzen Familie, und wie meine schöne, traurige Cousine nährte ich meinen Stolz, wie ich meinen Groll nährte. Aber das alles wird mit der Zeit vergessen sein. Jetzt ist es meine einzige Aufgabe, die Regeln des Ordens zu befolgen und mich leiden zu lassen, wie andere leiden. Das ist etwas, das ich kann. Es ist leicht, Regeln zu befolgen und von Brot und Wasser zu leben. Ich fürchte 346
den Tod nicht. Das Leben ist das Schlimme. Adieu. Kein vielversprechender Anfang für eine Heilige. Ich kopiere diese seltsame Erklärung in mein Notizbuch und blättere den Rest des Bandes durch, aber da ist nichts mehr von Interesse für mich.
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I
ch treffe Antoinette um vier Uhr in Tite Poulette’s Oyster Bar. Wir stehen Schulter an Schulter mit Touristen und Einheimischen an der grauen Theke, denn Poulette’s ist so eine Art Wahrzeichen der Stadt und eines der wenigen Lokale, die von beiden Gruppen besucht werden. Ich höre den breiten Akzent vom oberen Teil des Flusses, den Akzent der Farmer und Düngemittelverkäufer, die für einen Tag in der Stadt sind, um Geschäfte zu erledigen; die flachen Vokale von Kongreßteilnehmern aus dem Mittleren Westen, das zustimmende «eh» eines Pärchens aus Winnipeg. Mit diesen Stimmen vergleiche ich die von Antoinette, sanft, beinahe scheu in meinem Ohr. Ihr Akzent ist der Akzent der besseren Viertel von New Orleans, kultiviert, städtisch, ohne das Näseln, aber trotzdem südlich. «Du kannst unmöglich gehen, ohne ein paar Austern geschlürft zu haben», versucht sie mich zu überreden. «Na, komm schon.» Ich habe ein Dixie getrunken und ihr dabei zugesehen, wie sie ein halbes Dutzend dieser großen, glänzenden Golfaustern verputzt hat, und ich habe diesen Augenblick gefürchtet. Man muß in Stimmung sein für Austern. Ich war schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in Stimmung dafür. «Ich habe einen natürlichen Argwohn gegenüber Nahrungsmitteln, die man nicht kauen soll», erkläre ich ihr, aber sie schüttelt herrisch den Kopf. In New Orleans keine Austern zu mögen bedeutet Verrat. «Sei nicht so ein verfluchter Yankee», sagt sie und wirft dem Austernverkäufer hinter der grauen Theke ein 348
Lächeln zu. «Lagniappe», sagt sie und zeigt in meine Richtung. Der Mann erwidert ihr Lächeln, erkennt sie als seinesgleichen, nimmt eine Auster aus der Schale und legt sie vor mich hin. Lagniappe ist ein kreolisches Wort Ungewisser Etymologie und meint ungefähr «eine kostenlose kleine Aufmerksamkeit». Ich schaue resigniert auf dieses graue, schwabbelige Stückchen Lagniappe hinunter, während Antoinette es mit ihrer dreizackigen Austerngabel aufspießt, in der scharfen Soße und dem Meerrettichmix herumwirbelt und mir hinhält, eine Hand unter mein Kinn gelegt wie eine Frau, die ein Baby füttert. «Okay», sagt sie. «Mach schon auf.» Die Auster zittert vor mir in der Luft. Das kanadische Pärchen direkt zu unserer Rechten findet meinen Widerwillen amüsant; der Austernverkäufer sieht mit einem Zwinkern in den Augen zu. Ich habe keine Wahl, als den Mund aufzumachen und zu schlucken. Der würzige Geschmack des Meerrettichs kann einen Hauch von Grün nicht überdecken, als das Ding wie ein Haufen Schleim meine Kehle hinunterläuft. Und als es weg ist, habe ich noch einen Rest Sand im Mund. Ich greife nach meinem Bier und nehme ein paar Schluck davon, um den widerlichen Fischgeschmack loszuwerden und um mich nicht zu übergeben. «Dein kleiner Junge sieht so aus, als täte ihm das Bäuchlein weh», sagt der Austernverkäufer zu Antoinette und legt seinen großen Gummihandschuh auf die Theke. «Ist das Essen hier unten wohl nicht gewöhnt.» Aus seinem Mund haben die Worte das und hier zwei Silben: da-has und hi-ah. «Teufel, jetzt brauchen wir noch ein Dutzend», sagt Antoinette. Der Austernverkäufer quittiert diese Feststellung mit einem breiten Grinsen und zeigt uns eine Reihe von Zahnlücken, bevor er sich daran macht, zwölf Austern von beachtlicher Größe aus der Wanne zu fischen. 349
«Ich glaube, diese letzte war schlecht», sage ich, als ich wieder zu Atem komme. «Sandig. Heißt es nicht, daß sandige Austern…» «Altweibergeschichten», sagt Antoinette. «Würdest du nicht auch gelegentlich ein bißchen sandig, wenn du dein ganzes Leben im Schlamm verbringen müßtest?» Als das Dutzend kommt, esse ich noch zwei, gerade genug, um mein Gesicht zu wahren; dann trete ich mit meinem Bier einen Schritt zurück. «Nun, das ist mein Dinner», sagt sie, als sie wieder einmal eines der Dinger an ihre Lippen hebt. «Aber was ist mit dir? Willst du dir noch was anderes besorgen?» «Ich habe eigentlich gar keinen Hunger», sage ich, und das stimmt. Das Flugzeug hebt in drei kurzen Stunden ab, zwischen uns ist nichts klar, und ich habe nicht den Mut zu sprechen. Es sieht so aus, als würde ich für noch einmal zehn Jahre ins Exil davonfliegen. «Laß uns jetzt über dich sprechen, Schätzchen.» Antoinette scheint meine Erregung zu spüren und hält nach fünf Austern inne. «Ich habe die ganze Zeit nur über mich gesprochen. Du bringst mich immer dazu, über mich zu reden. Zehn Jahre bringe ich kein Wort über die Lippen, dann tauchst du auf, und ich rede mir den Mund fusselig. Also, was läuft da in New York?» Vielleicht fragt sie nur aus Höflichkeit. Nicht, weil es ihr nicht wichtig wäre, sondern weil sie es vorzieht, in der unmittelbaren Gegenwart zu leben. Der Rest - die Vergangenheit, die Zukunft - sind vage Schemen, halb verborgen wie die Wurzeln einer Mangrove unter den schwarzen Wassern des Bay ou. Ich habe auf diesen Augenblick gehofft, aber nun habe ich nicht viel zu sagen. Ich nehme an, ich warte immer noch darauf, daß mein Leben endlich losgeht. Es ist 350
schrecklich, so etwas mit Zweiunddreißig zugeben zu müssen. Statt dessen erzähle ich ihr also von dem Geist. Sie schluckt die letzte Auster und hört schweigend zu. Dann bezahlt sie die Rechnung, nimmt meinen Arm und führt mich hinaus auf die Straße. Ich kann nicht herausfinden, was sie denkt; sie hat ihre italienische Sonnenbrille heruntergelassen wie ein Visier. Als ich mit meiner Geschichte zu Ende bin, schweigt sie, und mir bleibt nichts anderes übrig als zu sagen: «Nun?» Sie wirft den Kopf in den Nacken. «Ich weiß nicht.» «Du glaubst nicht an Geister?» «Kann ich nicht sagen. Hab noch nie einen Geist gesehen.» «Du glaubst, ich bin verrückt?» «Laß mich noch mal zusammenfassen. Dein Leben in New York, zumindest in letzter Zeit; Selbstmord, Raubüberfälle und Geister. Weißt du, was ich glaube, Schätzchen? Ich glaube, du solltest diese Stadt so schnell wie möglich verlassen.» «Okay. Und wo gehe ich hin?» Sie zögert. Mein Herz steht für einen Augenblick still. «Irgendwo anders hin», ist alles, was sie zu sagen bereit ist. «Und jetzt komm.» Dann greift sie von neuem nach meinem Arm und zieht mich durch die Menschenmengen die Bourbon Street hinunter Richtung Esplanade. Mitten in dem Häuserblock zwischen der Dauphine und der Burgundy Street steht ein halb zerfallener, rosaverputzter Ziegelbau ganz allein auf einem schmalen Grundstück. Es ist ein unscheinbares Bauwerk, umgeben von eindrucksvollen Häusern, die besser zu dieser breiten Straße passen, dem früheren Prachtboulevard der Kreolen, aber in jeder anderen amerikanischen Stadt wäre es eine 351
Sehenswürdigkeit. Seine Balkone und Schmiedeeisenarbeiten ordnen es der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu. Ein unkrautüberwucherter Torweg führt in einen nicht minder verwilderten Garten, der von einer großen Eiche überschattet wird. Einen Augenblick lang stehen wir Arm in Arm auf dem Bürgersteig und blicken hinauf. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Glasscherben glitzern im Licht des Nachmittags. Antoinette hat einen seltsamen, erwartungsvollen Ausdruck auf dem Gesicht. Sie sucht die Fassade ab, als hoffe sie auf irgendeinen Hinweis. «Wonach suchen wir?» frage ich. «Siehst du die grünen Fensterläden?» fragt sie eifrig. «Es hat eine Zeit gegeben, da war Grün die einzige Farbe für die Fensterläden der kreolischen Häuser im Vieux Carré. Alle hatten grüne Fensterläden. Wenn man keine hatte, war man déclassé - oder ein Amerikaner.» Wir quetschen uns durch das Tor, das verrostet und halb offen über den grasbewachsenen Pflastersteinen hängt, und gehen nach hinten in den Garten. Hier stehen zwei geschwärzte Bronzevasen, auf denen klassische Szenen zu bewundern sind, und ein rostiger Springbrunnen. Ein paar Stufen führen hinauf zu einer großen Backsteinterrasse, die mit Abfall und kaputten Haushaltsgeräten übersät ist. «Es ist traurig, wie schnell ein Haus verfällt, wenn niemand darin wohnt», sagt Antoinette. «Es steht erst seit ein paar Jahren leer, aber wenn man es sich so ansieht, könnte man meinen, es sei schon seit Jahrzehnten so. Was ist schon ein Haus, in dem niemand lebt? Die Menschen sind der Leim und die Nägel und das Holz, die die alten Gebäude zusammenhalten.» Sie lehnt einen Gartenstuhl neben der Terrassentür an die Ziegelmauer, steigt hinauf und zieht einen 352
altersschwarzen Schlüssel aus einer Einbuchtung über dem Sturz. Zuerst gibt das Schloß nicht nach, aber dann läßt sich der alte Mechanismus doch drehen, und Antoinette stößt die Tür auf. Im Innern erwarten uns hohe leere Räume mit spinnwebenüberzogenen Gipsrosetten, die wie Augen von der Decke starren. Das Oberlicht über der Haustür beleuchtet eine gewundene Treppe, die von der Eingangshalle in die dämmerigen oberen Stockwerke führt. Staub häuft sich in den Ecken. Die Luft ist stickig, und ich fühle mich, als hätten wir ein ägyptisches Grabmal betreten. Auf dem Kaminsims im vorderen Salon steht eine Uhr, die schon lange nicht mehr tickt. Antoinette führt mich an der Hand durchs Erdgeschoß; es ist eine schweigsame Besichtigung. Ich habe sie noch nie so ernst erlebt. Nach oben können wir nicht, weil einige der Treppenstufen verfault sind, und so landen wir wieder im Salon; gelbe Lichtstrahlen fallen durch die Ritzen zwischen den Brettern zur Esplanade hin. «Tja, hier gibt’s noch viel Arbeit», sage ich und bohre meinen Absatz in ein Loch im Fußboden. «Natürlich», sagt sie ungeduldig, «aber darum geht es nicht. Es geht vielmehr um die Tatsache, daß es jetzt mein Haus ist. Meins.» Sie vollführt eine seltsame kleine Pirouette und läßt sich dann mit einer anmutigen Bewegung auf einem niedrigen Tisch am anderen Ende des Zimmers nieder. Ich finde, was mir als mein natürlicher Platz am anderen Ende des Raumes erscheint, und stütze Arm und Ellbogen auf dem Kaminsims ab, als käme ich gerade von einem harten Tag an der Baumwollbörse zurück. «Ich liebe dieses Haus», sagt Antoinette mit unerwarteter Heftigkeit. «Meine Großtante Tatie hat es mir in ihrem Testament hinterlassen, als sie vor drei Jahren starb, denn sie wußte, daß ich es liebe. Sie war eine 353
sehr alte Lady, ist hundert Jahre alt geworden - ist das nicht unglaublich? Geboren wurde sie in dem großen Zimmer im ersten Stock, und sie wäre dort auch gestorben, nur daß sie eines Tages hinfiel und sich die Hüfte brach und man sie hinaus nach Métairie brachte, in eine Art Konföderierten-Altersheim für vornehme Damen, das arme Ding. Und von dort ist sie nicht mehr zurückgekehrt; niemand tut das.» «Wie alt ist das Haus?» frage ich. «Das Haus wurde in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts erbaut, von einem Vorfahren von Mama, als die Esplanade eine der elegantesten Straßen von New Orleans war. Bis auf das Land direkt um die Fischerhütten herum, das früher ebenfalls zur Plantage gehörte, ist dies der älteste Besitz, der noch in den Händen der Familie ist. Es war ihr Stadthaus. Meistens lebten sie natürlich draußen auf der Plantage, aber während der Wintermonate kamen sie hierher. Die Oper, die Bälle, die Rennen. Ja, ich weiß, jetzt ist es eine Ruine. Die elektrischen Leitungen sind schlecht, die Fußböden von Termiten zerfressen, die Rohre leck. Ich habe vor einer Weile angefangen, ein paar Dinge reparieren zu lassen, aber es ist sehr teuer, und als ich dann bis über die Ohren im Koks steckte, ging mir das Geld aus. Aber weißt du, manchmal denke ich, daß dieses Haus der eigentliche Grund ist, warum ich das Zeug schließlich losgeworden bin. Das einzige, was mich aufrecht hielt. Weil ich hierher gehöre, weil…» Plötzlich kann ich meine Augen nicht mehr von ihr abwenden. Sie trägt ein geblümtes, ärmelloses Strandkleid, das ihr nur bis knapp über die Knie reicht, und ein Hauch des gelben Lichtes vom Fenster fällt auf ihr Haar und auf die Wand hinter ihr wie ein Heiligenschein. Sie sieht wunderschön aus, aber es ist mehr als das. Da ist etwas in ihrer Stimme, das in den vergangenen Tagen 354
gefehlt hat, etwas Unwiderstehliches. Hoffnung. «… weil es mein Haus ist, Ned! Mein Haus. Generationen meiner Familie haben hier gelebt. Erinnerst du dich an dieses Gemälde von der Dame in dem weißen Kleid, das du vor Jahren im Museum im Cabildo gesehen hast. Dieses Gemälde, von dem du meintest, es sähe mir ähnlich? Bei unserer allerersten Begegnung hast du die Ähnlichkeit gesehen, und ich war beeindruckt. Das ist es, was ich damals vor allem an dir mochte. Du hattest mich nie zuvor gesehen, aber du schienst genau zu wissen, woher ich kam. Tja, ich vermute, daß diese Dame in eben diesem Haus lebte, denn das Gemälde wurde zusammengerollt auf dem Dachboden gefunden. Gut, das Haus ist jetzt eine Baracke, aber, bei Gott, es könnte wieder wunderschön werden. Fünf Schlafzimmer, Oberlichter, Wendeltreppe, Garten - und der Staub meiner Familie in den Wänden. Was ist das Wort, nach dem ich suche, ein Wort, das von dir stammen könnte…? Kontinuität! Manchmal träume ich davon, daß alles repariert und frisch gestrichen ist, und auf den Stufen liegt ein Teppich, und die Böden sind frisch abgezogen, und es gibt keinen Dothan in meiner Vergangenheit und keine gelben Pillen und kein Kokain, und ich bin ruhig und klar, und die Welt ist ruhig und klar, und mein Leben besteht aus Gottesdiensten am Sonntag in der Kathedrale St. Louis und aus Sommern unten an der Hütte und aus Kindern, fünf Schlafzimmer voller Kinder…» Diesen letzten Teil spricht sie kaum aus, es ist ein Flüstern, ein geheimer Atem, und ohne zu wissen wie, stehe ich plötzlich vor ihr, und meine Hände liegen auf ihren Oberschenkeln, und sie lehnt sich zurück und zieht ihr Kleid hoch. Dann spüre ich ihre Beine um mich herum, den Absatz eines Schuhs in mein Kreuz gedrückt, und ich bin in ihr, und sie lacht und beißt mir ins Ohr und sagt: 355
«Ja, o ja. Diese Austern, es sind die Austern…» Und dann wölbt sie sich mir entgegen, während unwillkürliche Muskelzuckungen sie überkommen und das alte Haus vom Klang unserer Liebe erfüllt ist und von der Leidenschaft, zum ersten Mal seit - wer weiß? - seit hundert langen und trübseligen Jahren.
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uf dem Weg nach Moisant Field stecken wir eine qualvolle Stunde lang in einem Verkehrsstau fest. Ein umgestürzter Wohnwagen, zwei plattgefahrene Limousinen, Blut und Glas auf dem Asphalt, ein halbes Dutzend Streifenwagen; die Glückseligkeit, die wir bei unserer Verschmelzung in dem alten Haus gefunden haben, verliert sich irgendwo in der Hitze und den Kohlenmonoxydgasen des Airline Highways. Ich bin nervös, denn ich bin immer nervös, wenn ich reise. Antoinette ist entnervt, weil sie von Natur aus reizbar und ungeduldig ist. Sie schüttelt meine Hand von ihrem Knie ab, holt unter ihrem Sitzplatz die Aspirinflasche hervor und klopft eine gelbe Pille heraus, dann eine zweite. «Antoinette…» «Verdammt noch mal, sag’s nicht!» Und wir reden nicht mehr, bis sie den Saab in das Parkverbot vor dem Terminal lenkt und sich zu mir umdreht, die Augen bereits umnebelt von dem Zeug. Da ist so viel, was ich ihr sagen möchte, aber Panik wallt in mir auf, läßt die richtigen Worte verschwimmen, und es ist nicht mehr genug Zeit. Mein Flugzeug hebt in fünf Minuten ab. Ich habe einen Horror davor, Flugzeuge zu verpassen. Sie umarmt mich, gibt mir einen schnellen Kuß mit geschlossenem Mund und löst sich von mir, als bedauere sie die Exzesse der vergangenen vier Tage. Ihr Enthusiasmus ist verflogen, ihr Gesicht in dem fluoreszierenden Licht des Terminals von fahler Blässe. «Okay», sagt sie. «Gute Reise.» «Wir können uns d… doch so nicht trennen», stottere 357
ich. «Ich muß dir erklären… Jeden Tag während der letzten zehn Jahre habe ich an dich gedacht, jeden Tag hab ich gewünscht…» Aber sie legt mir eine Hand auf den Mund. Ich kann den Lautsprecher hören, der den Abflug meines Flugzeugs ankündigt. Sie läßt die Hände langsam sinken und faltet sie in ihrem Schoß. Der Himmel liegt grüngolden über der Stadt. «Ich muß eine Weile darüber nachdenken», sagt sie leise. «Wir hatten Spaß. Laß uns die ganze Sache nicht verderben, indem wir sie zerreden.» Ihre Stimme ist jetzt sanfter, aber ihr Ton fleht mich an, nicht die falschen Fragen zu stellen, auf nichts zu beharren. Meine Schultern sacken zusammen. Ich ergebe mich. «Ich ruf dich an», sagt sie, als ich aus dem Wagen steige. «Gut», sage ich. «Danke für alles.» Dann schultere ich meine Tasche und wende mich dem Terminal zu, und ich höre, wie sie den Saab hochjagt, die Rampe runterdonnert, und das Geräusch wird leiser, ein einziger wimmernder Ton, verloren in der Stimme des Verkehrs. Ich bin der letzte Passagier, der an Bord geht. Als das Flugzeug abhebt und Kurs auf die dunklen Wasser des Lake Pontchartrain nimmt, ziehe ich den Fenstervorhang herunter, um die Stadt, die unter mir fortgleitet, nicht mehr sehen zu müssen. Schon bald ist New Orleans unter dem dunklen Bauch des Flugzeugs verschwunden, und es gibt nur noch New York, das sich wie eine monströse schwarze Blume am Horizont entfaltet.
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TEIL V MADELEINES GEIST
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ch habe Fieber. Deshalb habe ich mir gestern im Drugstore an der Second Avenue für fünfzehn Dollar ein Digitalthermometer gekauft. Das Fieber schwankt um achtunddreißig Grad, obwohl es auch schon auf neununddreißig gestiegen beziehungsweise auf siebenunddreißig gefallen ist. Mein neues Thermometer, ein beiges Plastikinstrument in einer durchsichtigen Plastikschutzhülle, piept und zeigt auf einem winzigen grünen Feld die genaue Körpertemperatur an, nachdem man es kaum eine Minute im Mund hatte. Ich weiß, daß es nicht genauer ist als die gewöhnlichen Quecksilberthermometer, aber seine präzise Digitalanzeige und die durchsichtige Plastikhülle haben doch etwas sehr Tröstliches. Alle fünfzehn Minuten oder so bin ich in der Lage, meine Temperatur zu messen ohne die Unbequemlichkeit des Wartens und ohne die Augen anzustrengen, um die winzig kleinen, ins Glas geritzten Ziffern zu lesen. Irgendwie gibt einem das Digitalthermometer, das so professionell wirkt, das Gefühl, nicht gar so allein zu sein. Ungefähr eine Woche nach meiner Rückkehr aus New Orleans fing dieses Fieber an. Es ist nicht schlimm genug, um nicht zur Arbeit zu gehen, aber es scheint meine Anstrengungen in der Krypta zusätzlich zu lähmen. Ich habe alles Interesse an dem Haufen brauner Dokumente, Urkunden und Briefe vergangener Jahrzehnte verloren gerade zu dem Zeitpunkt, an dem ich meine Anstrengungen eigentlich verdoppeln müßte. Pater Roses Stichtag nähert sich mit Riesenschritten, und ich habe noch nichts ausgegraben, was ihm in Rom helfen könnte. 360
Am Abend wird das Fieber schlimmer; ich liege der Länge nach ausgestreckt auf dem Sofa, der Fernseher läuft im Hintergrund, und eine kalte Kompresse klebt auf meinen Augen. Am Morgen wache ich zitternd auf, und meine Decke ist schweißdurchnäßt. Antoinette hat nicht angerufen. Sie wird nicht anrufen. Ich muß dieser Tatsache ins Auge sehen.
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ie fiebrigen Nachmittage ziehen sich an diesen letzten Tagen des August immer mehr in die Länge. Selbst in der Krypta, in der es für gewöhnlich kalt und klamm ist, herrscht eine Hitze wie in einem Ofen. Die brüchigen Dokumente zerfallen unter meiner Berührung. Draußen auf dem Kirchhof stehen die Grabsteine steif und weiß in der Sonne, der schwarze Obelisk wirft einen noch schwärzeren Schatten auf die Kirchmauer, wie ein anklagender Finger. Der Geist ist taktvoll und wahrt Distanz, vielleicht weil ich krank bin. Ich frage mich, ob Geister von spirituellen Krankheiten heimgesucht werden; gibt es auf der anderen Seite Phantommikroben, übernatürliche Viren? Ich habe einmal in einer Wissenschaftssendung auf PBS das Bild eines zehntausendfach vergrößerten Virus gesehen. Es war eine prachtvolle Angelegenheit, eine spiralförmige Schneeflocke aus geisterhaftem Weiß, die im menschlichen Äther, in der Dunkelheit zwischen den Zellen unseres Körpers dahintreibt. Rust meint, ich hätte mir eine Grippe eingefangen, irgendwo da unten im Süden. Sommergrippen seien am allerschlimmsten, sagt er, vor allem Augustgrippen, denn das sind Grippen außerhalb der Grippesaison; die Medien ignorieren sie, und man hat nicht viele Leute, die das Elend mit einem teilen. Wir sitzen in der Horseshoe Bar bei einem Bier, während er mir seine Theorie erläutert. Ich trinke drei Bier und bin dann zu erschöpft, um mich noch zu bewegen, fühle mich leicht wie eine Feder; Schüttelfrost und Fieber laufen wie elektrischer Strom mein Rückgrat auf und ab. 362
Die Expedition in die Horseshoe Bar war unklug, das weiß ich jetzt, aber ich war seit fünf Tagen eingesperrt und dachte, ich könnte es riskieren. Rust sieht besorgt aus. Sein Gesicht ist halb verborgen in der Dunkelheit. Die andere Hälfte wird von unheimlichen Rot- und Blautönen erleuchtet, die von den Neonschildern in den Fenstern stammen. Die Horseshoe Bar ist eine schäbige Lower-East-Side-Spelunke. Rust mag dieses Lokal. Die Leute kommen hierher, um sich in Rauch und Dunkelheit zu verstecken. Eine der Neonreklamen für Bier preist mit dem Slogan «Das Land des himmelblauen Wassers» Hamm’s an. Diesen Ort würde ich gerne finden, wo immer er auch ist, und mir in einem kühlen Strom dort mein Bett machen. Ich würde schlafen, würde langsam durch einen hohlen Schilfhalm Luft holen, während das himmelblaue Wasser mein Fieber fortspült. Plötzlich überschwemmen mich Ekel und Übelkeit in einer einzigen riesigen Welle. «Warum bist du hier, Rust?» frage ich. In meiner Stimme liegt eine gereizte Schärfe. Er blinzelt durch die Düsternis zu mir herüber und wartet geduldig auf eine Erklärung. «Diese Schäbigkeit, dieses miese Leben», sage ich und hebe meine bleiche Hand. «Diese Stadt. Das ist kein Ort für anständige menschliche Wesen. Hast du gestern abend die Nachrichten gesehen? Gestern morgen wurde eine junge Frau in der Linie 4 zwischen der Vierzehnten und der Grand Central überfallen. Sie lief um Hilfe schreiend durch die Waggons, hinter ihr ein Wahnsinniger mit einer Axt, den sie letztes Jahr aus Bellevue entlassen haben, weil ihnen die Mittel fehlten, um ihn eingebunkert zu halten…» «Ich hab’s», sagt Rust. «Keiner hat ihr geholfen, stimmt’s?» 363
«Falsch. Die Morgenpendler in ihren feinen Anzügen und eleganten Kostümen haben den Angreifer mit ihren Aktentaschen zu Tode geprügelt. Nicht, weil es ihnen um die Frau ging, die er angegriffen hat, sondern weil es sie ankotzte, zu spät zur Arbeit zu kommen. Das hat einer sogar gesagt.» «Und das stört dich?» «Was glaubst du?» «Ich glaube, es stört dich nicht so sehr, wie du es gerne hättest», sagt Rust leise. «Ich erzähle dir, warum ich hier bin, Ned. Wie es in dem Lied so schön heißt, ich liebe New York. Ich habe für den Rest meines Lebens genug von weitem, offenem Land und sauberer Luft und dem sogenannten Anstand draußen im Westen, und ich kann dir sagen, die Leute sind überall ziemlich beschissen. Aber du…» Der Rest seiner Worte geht im allgemeinen Getöse unter, im Verkehr auf der Avenue A, im unablässigen, schädeldröhnenden Trommeln der Eingeborenen im Tompkins Square Park. Als ich wieder etwas mitkriege, sind wir draußen auf dem Gehsteig, und Rust hält ein Taxi an. Er verfrachtet mich auf den Rücksitz und reicht dem beturbanten Fahrer eine Zwanzig-Dollar-Note. «Molasses Hill, Brooklyn», sagt Rust und gibt dem Fahrer eine Wegbeschreibung. Der Mann zögert. Das übliche: Er will nicht nach Brooklyn fahren, aber es ist zu spät. Ich bin drin, und das Geld hat seinen Besitzer gewechselt. «Rust?» sage ich, als er die Tür schließt und wieder auf den Gehsteig tritt. «Du bist in der Bar ohnmächtig geworden», sagt er. «Fahr nach Hause und sieh zu, daß du etwas Schlaf kriegst.» Dann sehe ich sein Gesicht davongleiten, ein weißes Flackern hinter der Scheibe, während das Taxi seine Fahrt durch den Park aufnimmt. 364
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ie nächsten drei Tage liege ich im Bett. Meinem Digitalthermometer nach hat mein Fieber sich bei neununddreißig Komma zwei eingependelt. Mein Zimmer ist kaum größer als ein Sarg, gerade mal zwei Meter lang und breit, genug für eine einzige Matratze und ein Bücherregal voller sorgfältig gefalteter Kleider. Die Decke ist aus Blech und mit kunstvollen Blumenmustern bedruckt, die um 1880 so beliebt waren. Es war früher der begehbare Kleiderschrank der Wohnung, aber alles, was eine Tür und ein Fenster hat, geht in New York als Zimmer durch. Ich blicke hinauf in das Gewirr aus Blättern und verfolge mit einem zitternden Finger verschlungene Windungen. Ich versuche zu schlafen, bin aber den größten Teil der Zeit gefangen zwischen einer unbehaglichen Erschöpfung und kribbelnder Apathie. Es scheint, als sei etwas Schreckliches im Gange. Mein Urin verdunkelt das Wasser in der Toilette, und am Abend des dritten Tages werde ich von einer beharrlichen Übelkeit heimgesucht, die sich wie ein leises Erdbeben in meinem Magen bemerkbar macht. Schon bald finde ich das Bett nicht mehr bequem. Ich lege Molesworths alten Schlafsack in die Mitte des Wohnzimmers, und wenn ich genau richtig auf der roten Flanelldecke liege, geht die Übelkeit für ein paar Minuten weg. Am Morgen des vierten Tages beginne ich mich zu übergeben. Ich habe nicht viel im Magen, nur eine Schüssel Nudeln und ein paar abgestandene Salzstangen, aber ich übergebe mich solange, bis ich Galle erbreche. Schließlich geht mir auf, daß ich etwas anderes als eine Grippe haben könnte. Ich rufe einen Arzt in Manhattan an, 365
bei dem ich einmal wegen eines Furunkels gewesen bin, aber er ist im Urlaub, und ich habe die Urlaubsvertretung der Sprechstundenhilfe an der Strippe. Ich frage sie, ob sie mir jemanden für einen sofortigen Termin empfehlen könne. «Machen Sie Witze?» fragt die Urlaubsvertretung. «Im Moment besteht sogar für die Ambulanzen eine zweitägige Wartezeit. Die ganze Stadt ist krank.» «Was hat sie denn?» «Das übliche», sagt sie. «Alle Krankheiten, für die das Fleisch empfänglich ist.» Sie rät mir, in die Notaufnahme irgendeines Krankenhauses zu gehen, aber ich habe keine Krankenversicherung, und mir fehlen auch die fünfhundert Dollar, die für solch einen Besuch notwendig sind. «Dann haben Sie schlechte Karten», sagt die Urlaubsvertretung und wirft mich aus der Leitung. Nach diesem Anruf übergebe ich mich wieder, und als meine Kräfte zurückkehren, rufe ich eine Ex-Freundin an, die mittlerweile Krankenschwester geworden ist. Ihr Name ist Clara, und sie lebt in Los Angeles, wo sie im Mother of Angels Hospital bei chirurgischen Eingriffen assistiert. Während der ersten drei Monate unserer Bekanntschaft vor einigen Jahren war sie eine enthusiastische Tanzstudentin an der Columbia University gewesen. Dann blieb die Unterstützung von ihren Eltern aus, und sie ging ab, um sich über ihre Ziele klar zu werden, und bewarb sich später an einer Krankenschwesternschule. Ich habe sie in einer schwierigen Zeit ihres Lebens erwischt, als sie begann, die Nutzlosigkeit ihrer künstlerischen Ambitionen einzusehen. Ich erwische sie immer in einer schwierigen Zeit: auf dem Weg nach unten. Wenn sie wieder hochkommen, scheinen sie mich zu verlieren, einen Anker, der im Dreck 366
steckengeblieben ist. Während der ganzen Zeit, die ich sie kannte, hatte sie keine eigene Wohnung, sondern arbeitete als ApartmentSitterin für Leute, die nicht in der Stadt waren. All ihre Besitztümer paßten in einen einzigen kleinen Koffer. Die Fensterläden hatten wir schon am Nachmittag zugezogen und es auf fremden Futons getrieben, inmitten von Familienfotos, die von der Kommode auf uns herunterlächelten. Wir hatten fremder Leute Badezimmer benutzt, hatten ihre Schubladen durchstöbert, um Hinweise zu finden auf ein unbekanntes Leben. Es war eine deprimierende Phase für sie, obwohl ich mich ganz wohl fühlte. Sie rasierte sich sechs Monate lang die Achselhöhlen nicht und badete auch nicht besonders oft. Ich hatte nichts gegen ihren Geruch, der von einer gewissen würzigen Strenge war. Dann, als sie an der Krankenschwesternschule aufgenommen wurde, wusch sie sich gründlich, und die Affäre war vorbei. Wir trennten uns als Freunde. Sie ist jetzt mit einem Arzt verlobt und gestattet mir, sie in medizinischen Dingen um Rat zu fragen, wann immer ich krank bin. Es ist drei Uhr nachmittags in Los Angeles, aber sie ist zu Hause und geht ans Telefon. «Clara?» frage ich. «Was ist diesmal los?» sagt Clara. Ich nenne ihr die Symptome, wobei ich unbeabsichtigt einige der wichtigsten auslasse, wie man es immer tut, wenn man mit einer medizinischen Autorität redet. «Ich bin kein Arzt, weißt du», sagt sie. «Ich bumse nur mit einem.» «Ja», sage ich. «Warum bittest du ihn nicht ans Telefon.» «Er ist nicht da. Er ist zur Arbeit gegangen. Wir machen 367
beide Nachtschicht.» «Sind die Fensterläden geschlossen?» Sie kichert. Für die schiere Lust geht doch nichts über eine Krankenschwester oder eine Tänzerin, denn beide Berufe verfügen über ein gewisses intimes Verständnis der Funktionsweise des Körpers. «Du hast also Schüttelfrost und Fieber, richtig?» «Ja.» «Und jetzt auch Übelkeit?» «Ja.» «Und du fühlst dich durch und durch mies?» «Ja.» «Hört sich für mich nach Grippe an. Hier kursiert übrigens schon den ganzen Monat eine ziemlich unheimliche Grippe. Aus irgendeinem asiatischen Land. Wenn sie hier ist, habt ihr sie bestimmt auch. Du weißt schon, dieser Inzest New York - L. A.» Sie kichert wieder. «Also, sieh zu, daß du genug Flüssigkeit aufnimmst. Leute, die an der Grippe sterben, haben nicht genug getrunken.» «Sterben?» «Genau, Schätzchen. Es sterben immer noch Leute daran, genauso wie 1919, weil dem Körper soviel Flüssigkeit entzogen wird, daß er nicht mehr damit fertig werden kann. Also sieh zu, daß du viel trinkst, und iß ein paar Kräcker…» «Ja, ja…» «Und tu was gegen die Symptome. Hol dir ein paar rezeptfreie Medikamente. Mylanta, Tylenol, du weißt schon. Tu was gegen die Symptome, und gib deinem Körper ein bißchen Zeit, sich zu erholen. Okay?» 368
Dann folgt eine Pause und schließlich ein Seufzer. «Weißt du, Schätzchen, ich mache mir Sorgen um dich. Manchmal sieht es so aus, als könntest du nicht für dich sorgen.» «Ich bin krank, Clara», sage ich. «Jeder wird von Zeit zu Zeit mal krank. Selbst die Erfolgreichen und Unabhängigen.» «Ich gebe nur meiner Sorge Ausdruck, geh mir also nicht gleich an den Kragen.» «Okay, Clara. Tut mir leid. Und danke.» Sie seufzt noch einmal und hängt den Hörer ein, und in den Minuten danach fühle ich mich noch schlimmer. Es macht immer etwas melancholisch, mit alten Freundinnen zu sprechen. Das ganz andere Leben, das man nicht gelebt hat und für das es jetzt zu spät ist. Vielleicht ist das der Sinn der Unendlichkeit. All diese Möglichkeiten.
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4
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m nächsten Morgen schleppe ich mich aus der Wohnung und mühe mich zur F hinunter. Es ist wie ein Fußmarsch in einem Traum. Obwohl ich all meine Kraft aufbiete, scheine ich kaum von der Stelle zu kommen. Mehrmals zwingt mich die Übelkeit, stehenzubleiben und in den Rinnstein zu erbrechen. Schließlich steige ich in den Zug, der ins East Village fährt, und gehe in mein Lieblingsdrugstore auf der Second Avenue. Ich humple an einer verwirrenden Ansammlung von Nasensprays vorbei, setze vorsichtig einen Fuß vor den anderen, als mir eine attraktive Frau in einem konservativen blauen Kostüm auf dem Gang entgegenkommt. Ich will ihr aus dem Weg gehen, aber sie bleibt stehen und legt mir eine Hand auf die Schulter. «Ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst schrecklich aus», sagt sie. Ich brauche volle zehn Sekunden, bis ich das Gesicht erkenne. «Jillian?» sage ich. Sie lächelt töricht. In ihrer anderen Hand liegt ein Schwangerschaftstest. Unsere Blicke fallen gleichzeitig darauf. Die unheimlichsten Möglichkeiten blitzen in mir auf. Es gibt doch diese Geschichte über das lesbische Pärchen, den Bruder und eine Tortenspritze. Dann tut Jillian das Unerwartete. Sie errötet. «Hm, na ja, die Dinge ändern sich», sagt sie mit Blick auf den Schwangerschaftstest. «So schnell?» frage ich. Seit Chase’ Beerdigung sind kaum mehr als sechs Wochen vergangen. «Ich glaube, wir sollten uns einen Augenblick 370
unterhalten.» Sie nimmt meinen Arm und hilft mir hinüber zu einer Reihe von fünf Stühlen, wo die alten Leute auf die Erledigung ihrer Aufträge warten. Ein verschrumpelter Achtzigjähriger tattert, auf seinen Spazierstock gestützt, auf dem vorletztem Stuhl der Reihe vor sich hin. «Ich wollte dir sagen, daß ich mich ziemlich mies gefühlt habe wegen meines Verhaltens bei der Beerdigung», erklärt mir Jillian, während wir uns hinsetzen. «Ich habe versucht, dich anzurufen, aber ich hatte deine Telefonnummer nicht. Ich war ziemlich hysterisch, nachdem Chase… starb. Bin regelrecht ausgenippt. Es schien, als sei ich auf demselben Weg, Endstation Manhattan Bridge, wenn ich so weiterlebte wie zuvor. Die arme Chase, sie…» Jillian schluckt, und es fällt ihr sichtbar schwer fortzufahren. Ich gebe ihr einen Augenblick Zeit, um sich zu fassen, und lehne mich zurück, um sie mir genauer anzusehen. Alle Spuren der Magersucht sind verschwunden. Sie ist so rundlich und gepflegt wie eine deutsche Hausfrau, und die zusätzlichen Pfunde stehen ihr nicht schlecht. Ich stelle ein paar Fragen über ihr neues Leben. Sie hat einen Job in der PR-Firma ihrer Familie angenommen, einer der fünf größten an der Madison Avenue. Sie lernt das Gewerbe von der Pike auf, als Management Trainee, und sie erfährt viel darüber, wie die Öffentlichkeit mit Hilfe sorgfältig eingesetzter Bilder manipuliert werden kann. Sie findet das alles sehr interessant. «Das hätte ich gleich nach dem College tun sollen», sagt sie und wendet den Blick ab. «Schade, daß ich all diese verrückten Jahre verschwendet habe. Ich war unglücklich, immer von der einen oder anderen Sache abhängig - vom 371
Heroin, vom Essen oder Nicht-Essen, von Fremden, die ich vor der Kamera und für Geld gebumst habe, oder von sonst irgendwelchen Dingen. Und nichts von alledem hat mich glücklich gemacht. Aber jetzt, weißt du, bin ich wohl endlich auf dem richtigen Weg.» «Bist du mit jemandem zusammen?» frage ich mit einem Anflug von Bedauern in der Stimme. Sie errötet noch einmal und lacht hinter vorgehaltener Hand, als schäme sie sich dafür, wie eine alte Dame mit schlechten Zähnen. «Ja, mit Harold», sagt sie. «Er ist ein alter Freund der Familie, fast Fünfzig, aber, verdammt, der Bursche bringt im Bett wirklich was.» «Was macht er?» «Er ist Anwalt in der Wall Street. Fusionen und Akquisitionen, solche Sachen.» Ein Anwalt? Trotz meines wegen der Krankheit geschwächten Zustands bin ich entsetzt. «Was ist mit Inge?» bringe ich gerade noch heraus. Jillian zuckt mit den Schultern. «Wir sind immer noch Freundinnen. Sie geht bald zurück nach Deutschland.» «Wie nimmt sie das alles denn auf?» «Inge war immer bi, weißt du. Sie hat nicht so sehr mich geliebt wie diesen großen Penis, den ich mir umgeschnallt habe, wenn wir miteinander schliefen. Na ja, sie hatte jedenfalls immer einen Freund - so einen ungeschlachten Proleten, der als Steiger in einem Kohlenbergwerk an der Ruhr arbeitet. Jetzt geht sie zu ihm zurück.» «Und du bist plötzlich hetero?» Ich schnippe mit den Fingern. «Einfach so?» Jillian denkt eine Sekunde lang nach. «Man könnte sagen, daß ich augenblicklich auf den Penis abfahre.» Daraufhin dreht der Achtzigjährige sich auf seinem Stuhl 372
herum und wirft ihr durch seine Bifokalbrille ein lüsternes Grinsen zu. «Oder der Penis fährt in dich, Süße», sagt er und macht eine obszöne Geste mit dem Daumen. Jillian runzelt die Stirn. «Komm», sagt sie und hilft mir durch die Gänge wie einem Invaliden, während ich meine Einkäufe erledige und meinen Korb mit preiswerten rezeptfreien Medikamenten fülle. Eine Viertelstunde später, am Straßenrand an der Ecke Second Avenue und Third Street, schütteln wir uns die Hände, und ich stehe einen Augenblick da und weiß nicht, was ich sagen soll. Ihre Hand ist feucht wie ein Schwamm. Die Stadt ist heiß und unerträglich heute. Alles ist von einem dünnen Schmutzfilm überzogen. Die faden, fleckigen Fassaden der Mietshäuser zeigen der Third Street ihre zerfurchten Gesichter. Auf dem Gehsteig einen halben Block weiter sehe ich einen Mann, der keine Beine hat, auf einem Brett mit Rädern sitzen und betteln. Binnen einer Sekunde flitzt er über die Straße davon und verschwindet in einer Bar. «Ich habe diese Kreatur da schon mal gesehen», sagt Jillian träge, während sie ihm mit ihren blauen Augen folgt. «Er klappert während der Rush-hour die U-Bahn ab. Er ist toll auf diesem Brett, kommt wirklich rum. Als ich vor einer Weile eine der West-Side-Linien benutzte, spürte ich eine Berührung in der Kniekehle, und ich drehte mich um und sah nach, und da hockte er, grinste mir unter den Rock. Ich wußte nicht, ob ich nach ihm treten, schreien oder ihm einen Dollar geben sollte. Ich gab ihm einen Dollar.» Es entsteht ein neuerliches langes Schweigen, aber es sieht nicht so aus, als wäre unser Gespräch schon vorbei. Sie hat noch etwas anderes zu sagen und ringt um Worte. Ein oder zwei Mal öffnet sie den Mund, schüttelt dann aber den Kopf. Ich stehe in der Hitze vor ihr, von neuem 373
Mut erfüllt durch ihre Unsicherheit. «Ich gehe jetzt zu einem Therapeuten», sagt Jillian schließlich, «wie jeder andere dreißigjährige Single in dieser Stadt.» Sie meidet meinen Blick. «Aber das wird nicht lange dauern. Ich bin schon ganz okay. Es war deine Séance. Ich hatte diese Sache mit meinem Vater am Strand niemals irgend jemandem gegenüber erwähnt.» Sie sieht mich jetzt direkt an, und ihre Augen leuchten wie blaue Steine. «Ich hatte es nicht einmal mir selbst gegenüber zugegeben. Vor einem Monat habe ich ihn dann mit der ganzen Sache konfrontiert, und er hat geweint und alles zugegeben. Es hat sich herausgestellt, daß er selbst als Kind mißbraucht wurde, und jetzt ist er in einem Programm für Leute mit solchen Problemen. Es ist immer dieselbe Geschichte, denke ich. Aber in der Nacht, in der deine Séance stattfand, hat irgend etwas klick gemacht, wie ein Zug, der an einen Waggon ankuppelt, der seit zwanzig Jahren auf einem Abstellgleis gestanden hat. Ich hörte ein Kratzen wie von verrostetem Metall, und dann ein lautes Klirren - ich hörte dieses Geräusch buchstäblich in meinem Kopf-, und alles war plötzlich wieder da. Da war etwas, ein seltsamer Druck in diesem Raum. Ich glaube nicht an Geister, aber…» Sie beißt sich auf die Lippen und zuckt mit den Schultern, streckt dann die Hand aus, um sie auf meine Stirn zu legen. «Verdammt», sagt sie. «Du solltest besser nach Hause fahren und dich ins Bett legen.» Ihre Stimme klingt laut und blechern. In ihren blauen Augen sehe ich die allzu grünen Rasen ihrer elterlichen Villa. Irgendwie war mir die andere Jillian beinahe lieber, die lasterhafte Magersüchtige, die ihre Ablehnung der Mittelklassenmoral trug wie eine Narbe. Jetzt schaut sie auf ihre Uhr, eine neue Damen-Rolex, und macht einen Schritt zu auf den Straßenrand. 374
«Viel Glück», sage ich. «Stimmt», sagt sie. «Ich muß zurück zur Arbeit.» Dann winkt sie ein Taxi herbei und verschwindet aus meinem Leben.
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irenen gellen durch die Nacht. Mein Digitalthermometer zeigt neununddreißig Komma sieben. Ich liege lang hingestreckt und nackt auf dem Schlafsack und hechle in der Hitze wie ein Hund. Von den Sozialbauten hört man das Rattern von automatischen Waffen. Ich hab’s mit einem kalten Bad versucht, habe mich aber in der Badewanne übergeben. Die rezeptfreien Medikamente tragen wenig dazu bei, meine Leiden zu lindern. Mit einiger Mühe bin ich in der Lage, den Kopf zum Fernseher umzudrehen. In den Nachrichten zeigen sie einen Hummer von fünfundsiebzig Pfund, der sich in der Hafenbucht von Boston in den Netzen verfangen hat. Das Ding ist ein Monster, schwarz wie Kohle, seine perlrunden, außerirdischen Augen sind milchig und blind von fast hundert Wintern auf dem Meeresgrund. Genug Hummerfleisch für hundert Leute, witzelt der Nachrichtensprecher munter, obwohl der Hummerfischer vorhat, seinen Fang in einem eigens erbauten Bassin in einem vielbesuchten Fischrestaurant auszustellen. Einen Augenblick lang konzentriert sich die Kamera auf das Geschöpf, dessen Fühler und Klauen sich mit der ruckartigen Irrealität von Camera bewegen, der riesigen, feuerspeienden Schildkröte aus japanischen Filmen. Was ist das für eine seltsame helle Welt? scheint der Hummer zu fragen. Wer sind meine grausamen Peiniger? Und wo sind all die Fische geblieben? Das Digitalthermometer steht jetzt bei vierzig. Ich glaube, bei mir setzen Halluzinationen ein. Die Wände sind mit einem seltsamen weißen Schweiß bedeckt; die 376
Möbel wabern wie Wackelpudding. Mein Urin in der Toilette ist schwarz. Ich will meine Mutter anrufen, um ihr zu erzählen, daß ich krank bin, aber sie ist vor drei Jahren gestorben. Ich will meinen Vater anrufen, um ihn um einen Rat für mein Leben zu bitten, aber auch er ist tot. Mit meinen Schwestern habe ich seit Jahren nicht mehr geredet. Wir haben uns als Familie nie sehr nahegestanden. Meine älteste Schwester ist mit einem UBoot-Offizier von der Marine verheiratet und lebt in Kalifornien. Die andere ist nach zwei Fehlgeburten und drei Scheidungen in einen Ashram in Iowa gezogen. Erst jetzt wird mir klar, daß ich eine Waise bin, und ich fange an zu weinen. Es liegt natürlich am Fieber, aber ich weine, bis die Nachrichten vorbei sind und ich mich hochquälen muß, um mich zu übergeben, ins Waschbecken im Badezimmer. Draußen vorm Badezimmerfenster brennt Manhattan wie ein Alptraum, und hinter der Skyline sehe ich eine neue Dunkelheit, die sich über die Welt legt. Als ich aus dem Badezimmer komme, stolpere ich über einen seltsamen Stuhl, der schräg vor der Tür steht. Er erinnert an den Stil früherer Quäkerstühle, stammt offensichtlich aus derselben Epoche und hat einen kompliziert geflochtenen Sitz. Ich besitze keinen solchen Stuhl. Ich hatte noch nie so einen Stuhl in meiner Wohnung. Und gerade in diesem Augenblick hüllen sich die Rückenlehne, der Sitz und die Armstützen in einen kaum wahrnehmbaren Schimmer blauer, statischer Elektrizität. Ich umkreise den Stuhl voller Argwohn und gehe auf den Schlafsack in der Mitte des Raumes zu, aber auch der ist verschwunden, und an seiner Stelle liegt jetzt eine Art Tierfellteppich, den ich ebenfalls noch nie zuvor gesehen habe. Dann bemerke ich, daß der Fernseher verschwunden ist, und das Sofa und das Bücherregal sind zusammen mit 377
dem Rest meiner Bücher ebenfalls verschwunden, ersetzt durch unbekannte schwere Möbelstücke: eine niedrige, roßhaargepolsterte Bank und eine bauchige Kommode, deren Schubladen offenstehen und überquellen von hauchzarten Schals und Petticoats. Im Kamin, wo sonst die Gasheizung mehr schlecht als recht ihren Dienst tut, glimmen auf einem eisernen Gitter einige Kohlen. Zu beiden Seiten des geschnitzten Kaminsimses tropfen kunstvolle Kandelaber, in denen ein halbes Dutzend flackernder Kerzen steht. Die ganze Wohnung riecht nach Talg und Rauch. Meine Panik wird vom Fieber gedämpft. Mit offenem Mund glotze ich in meiner Wohnung herum, die jetzt irgendwie gar nicht mehr meine Wohnung ist. Lange Brokatvorhänge hängen geöffnet an den Fenstern. An Stelle der in Flutlicht getauchten Fassade des Elektrizitätswerks ist eine ozeanschwarze Dunkelheit getreten. Ich erkenne die verschwommene Kreuzschraffur der Masten und Rahen von Segelschiffen unten am Fluß. Die Luft ist still und wäßrig. Nur einige wenige erleuchtete Fenster sprenkeln Manhattan am anderen Ufer. Dann höre ich ein Rascheln wie das Geräusch dicker Röcke, die zu Boden fallen, und ich drehe mich um und sehe einen Spalt gelben Lichtes aus Molesworths Zimmer fallen, dessen Tür einen Spalt breit offensteht. «Nein», sage ich laut. «Ich bin krank. Das kann nur das Fieber sein.» Und um mir selbst Mut zu machen, messe ich mit dem Digitalthermometer, das ich noch immer in der Hand halte, meine Temperatur. Das Ding fängt nach einer Minute an, fröhlich zu piepen und zeigt vierzig Komma vier auf dem winzigen Schirm. «Verdammt», sage ich zu der unvertrauten Luft um mich herum, «morgen gehe ich in die Notaufnahme. Zum Teufel mit den fünfhundert Dollar.» Dann bewege ich mich 378
entschlossen auf die Tür zu meinem Schlafzimmer zu, die weiter weg zu liegen scheint, als sie eigentlich sollte, aber als ich dort ankomme, bin ich erleichtert, alles so vorzufinden, wie ich es verlassen habe. Ich trete ins Zimmer, lege den Riegel vor und lehne mich mit dem Rücken an die Tür. Das Schlafzimmerfenster gibt wie gewöhnlich den Blick auf das Elektrizitätswerk frei. Blaue Funken springen zwischen den Transformatoren hin und her, und Manhattan funkelt auf der anderen Seite des Flusses grell wie eine Jazzband aus Licht. «Man weiß erst, wie sehr man etwas vermißt, wenn es verschwunden ist», sage ich zu meinen Fotos und Postern, die mir von der Wand entgegenlächeln. Nach einer Sekunde öffne ich die Tür einen Spaltbreit, und draußen in der Wohnung ist alles zur Normalität zurückgekehrt: Meine Sachen sind wieder da, wo sie hingehören, und aus dem Fenster plärrt eine Mitternachtstalkshow. Es ist erstaunlich, was Fieber anrichten kann. Dann schließe ich die Tür, schalte das Licht aus, falle erschöpft auf die Matratze und entgleite schon bald in namenlose, schattenhafte Träume.
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n den dunklen Stunden des Morgens wache ich schweißgebadet auf und höre sogleich leises Kratzen. Ich weigere mich, die Augen zu öffnen, aber da ist dieser seltsame, unkrautartige Geruch einer fremden Zigarette und eine Stimme, die ganz sanft meinen Namen ruft. Ich spüre jetzt weder das Fieber noch die Übelkeit, und eine seltsame Ruhe hat sich in mir breitgemacht. Die Stimme, die nach mir ruft, verblaßt zu einem Flüstern und wird wieder lauter. «Ned, Ne-hed…» In einer Ecke meines verdunkelten Raumes mache ich ein phosphoreszierendes Funkeln aus, im Zentrum dieses Funkeins eine menschliche Gestalt. «So, das ist schon besser», sagt die Gestalt, als ich die Augen öffne, und nach und nach erkenne ich Haare und ein Gesicht. Schließlich sehe ich eine junge Frau in der Ecke hocken, mit dem Rücken zur Wand. Sie ist barfüßig, trägt ein tief ausgeschnittenes Strandkleid und einen niedlichen Hut, halb Baseballmütze, halb Käppi mit goldenen Quasten, die keck vom Rand herunterbaumeln. Einen Ellbogen hat sie aufs Knie gestützt. Der Rauch ihrer Zigarette steigt in kunstvollen Phantasmen menschlicher Gesichter zur Decke auf, von denen einige lächeln, andere lachen, wie die Theatermasken für Komödien und Tragödien. Sie ist bezaubernd, ganz Ellbogen und Knie, ein Wildfang, eine Kindfrau. Ich erkenne die Wölbung ihrer Brüste, als sie sich vorbeugt, um einen Krümel Tabak von ihrer Zunge zu pusten. Ihr Gesicht ist zelluloidglatt und herzförmig wie das Gesicht eines Filmstars aus den Zwanzigern. Als sie die Zigarette 380
weglegt, spielt ein winziges Lächeln um ihre Lippen. «Hallo Ned», sagt sie sanft. «Wer bist du?» frage ich, ohne zu spüren, daß meine Lippen sich bewegen. «Ich bin ein Bote.» «Ein Bote von wem?» Sie zuckt mit den Schultern, drückt dann ihre Zigarette auf meinem Fenstersims aus und erhebt sich, wie eine Marionette sich erhebt, ohne jede sichtbare Anstrengung, wie an Fäden, die von irgendwo anders aus bewegt werden. Als sie aufgestanden ist, schwebt sie gute dreißig Zentimeter über dem Boden. «Wir müssen gehen», sagt sie. «Wir haben nicht viel Zeit.» «Ich gehe nirgendwo hin», sage ich. «Schon gar nicht mit jemandem, der durch die Luft fliegt.» Durch einen Spalt im Vorhang kann ich einen schwachen, fluoreszierenden Stern ausmachen, und ich weiß, das ist eines der Lichter des Elektrizitätswerks. Ich konzentriere mich auf dieses Licht, und ein wenig von dem Schmerz und dem Fieber kehrt in meinen Körper zurück, und ich höre ein leises Summen, das der Verkehr auf dem Brooklyn-Queens-Expressway sein könnte, der überfüllt ist mit viel zu schnell fahrenden Autos, die dem dunklen Herzen Amerikas zuströmen. «Tu das nicht.» Ich höre ihre Stimme jetzt nur noch ganz schwach, und das Leuchten, das ihren Körper umgibt, scheint schwächer zu werden. «Bitte. Du wirst deine ganze Kraft brauchen, um mir zu folgen.» Dann spüre ich einen plötzlichen Windstoß, und im nächsten Augenblick schwingt die Schlafzimmertür lautlos auf, und da draußen liegt im Kerzenlicht die andere 381
Wohnung, zu der weitere Details hinzugefügt worden sind. An der Wand ein goldgerahmtes Gemälde von einem Herrenhaus aus den Südstaaten in naivem Stil gemalt. Über dem Kamin eine Petit-point-Stickerei eines Wappens, das eine Palme zeigt und Mondsicheln. Selbst aus dieser Entfernung und in dem schummrigen Licht sehe ich, daß im Raum Chaos herrscht. Überall liegen Kleider herum, und der Boden ist übersät mit Flaschen aus blauem Glas und Tellern mit Speiseresten. In einer Ecke des Zimmers stapeln sich Hutschachteln wild übereinander. Die Erscheinung schwebt in der Tür. «Komm jetzt.» Ich versuche, die Augen zusammenzupressen, stelle aber fest, daß sie zu einem lidlosen Starren gefroren sind. Sie schwenkt mit einer ungeduldigen Geste, die ich erkenne, ihre Zigarette. «Ich kenne dich», sage ich. «Du bist Chase. Du siehst jetzt aber hübsch aus.» «Dieser Name klingt vertraut», sagt sie, «aber ich erinnere mich nicht daran.» «Bist du Chase?» «Ich weiß nicht.» «Wer bist du dann?» Sie ist für einen Augenblick verwirrt und sinkt langsam zu Boden. «Bitte mich nicht, mich zu erinnern», sagt sie. «Ich habe das irdische Leiden vergessen. So wie jetzt habe ich immer ausgesehen, solange ich lebte. Komisch, daß niemand mich so wahrnehmen konnte. Aber die Lebenden sind ja so blind.» Aber für einen Moment zeigt sich über ihrem vollkommenem Gesicht ein anderes: zerstört, vertraut, halb zerfressen von der Knochendeformierung, ungleichmäßig wie ein Picasso. «Ist der Tod noch mehr als das, Chase?» frage ich. 382
«Oder schwebst du einfach nur die ganze Zeit so rum?» «Ich weiß nicht.» «Bin ich tot?» «Nein. Aber nah dran. Das ist der Grund, warum wir so miteinander reden können.» «Werde ich bald sterben?» «Ich weiß nicht.» «Wo sind wir?» «In deiner Wohnung natürlich.» «Chase…» «Halt. Du mußt mit mir kommen. Sie wollen, daß ich ihr helfe, bevor ich weitergehe.» «Wem sollst du helfen?» «Der, die hier weilt. Sie hat dich viele Male um Hilfe gebeten. In deinen Träumen, auf den geheimen Wegen. Aber du hast dich geweigert, ihr zuzuhören. Sie haben mich geschickt, um dir zu helfen, ihr zuzuhören, um dir für eine Weile über die Schwelle zu helfen.» «Wozu braucht sie mich?» «Sie hat Jahre darauf gewartet, daß du endlich kommst. Sie kann nur mit jemandem von zu Hause reden. Ihr zwei seid im Schicksals-Gewebe miteinander verknüpft.» «In was für einem Gewebe?» «Du stellst zu viele Fragen. Komm…» Und in ihrer Stimme liegt etwas Warmes, weckt eine Erinnerung, die den Ausschlag gibt. Ich stehe auf. Sie streckt mir die Hand hin, und das ihren Körper umflackernde Leuchten erschöpft sich, um sich in ihrer Hand zu sammeln. Schon bald ist das das einzige, das übrig geblieben ist, eine leuchtende Hand in der 383
Dunkelheit. Ich halte mich daran fest und spüre ein glückliches Losgelöstsein, als ich mich von dem Körper im Bett losreiße. Mein Körper liegt noch immer dort ausgestreckt auf der fleckigen Matratze, die Augen halb geöffnet, der Atem ein schwaches Stöhnen, die Lippen schwarz von getrockneter Galle. Ein grauenhafter Anblick, aber ich empfinde nichts als Erleichterung und ein klein wenig Mitleid für die menschliche Schwäche. Die leuchtende Hand von Chase oder der jungen Frau, die Chase war, führt mich ins Wohnzimmer. Jetzt höre ich aus Molesworths Zimmer die tiefe, sinnliche Stimme einer Frau, die ein französisches Lied singt, und Gitarrengeklimper. Durch die halb geöffnete Tür sehe ich ein großes Himmelbett und einen ovalen, auf dem Boden stehenden Spiegel. Die singende Frau ist nicht zu sehen, steht irgendwo links von der Tür, aber ihre Stimme und der vibrierende Klang der Gitarre umgibt eine absolute schwarze Stille, die Stille des Todes. «Denk daran, sie ist sehr verwirrt.» Chase’ Stimme kommt von irgendwo dicht an meinem Ohr. «Sie weiß nicht, ob es heute ist oder gestern. Sie erinnert sich nicht an ihren eigenen Tod oder an die Jahre, die dazwischenliegen.» Dann erlischt die leuchtende Hand, und ich stehe allein in dem gelben Licht, und die Frau im Zimmer hört auf zu singen und sagt: «Vient’ens… Ich bin jetzt bereit, Monsieur.» Die letzten ein oder zwei Meter scheinen mich eine Anstrengung zu kosten, die ich nicht verstehe. Schließlich bin ich im Schlafzimmer, das allen Seins entleert ist. Hier herrscht der schwere Geruch von Talgkerzen und der vertraute Duft von Sex. Neben dem großen Bett, in einer 384
Ecke, sitzt die Frau auf einem niedrigen Hocker vor einem Toilettentisch, der mit sorglos entkorkten Parfumflaschen und Puderdosen übersät ist. Zu beiden Seiten des Spiegels stehen Kerzenständer aus Bronze in Form von Greifen, das Wachs sickert langsam zwischen ihren Klauen zu Boden. Die Frau trägt ein dünnes Hemd, das über ihren Brüsten geöffnet ist. Auf ihrem Schoß liegt eine kleine spanische Gitarre. Jetzt beugt sie sich nach vorn, und ihre Finger zupfen eine schnelle spanische Melodie voller dramatischer Akkorde. Ihr dickes schwarzes Haar verhüllt ihr Gesicht. Ich stehe eine Weile nur höflich da und lausche ihrem Spiel. Sie zögert bei einer schwierigen Stelle, sucht sich langsam die richtigen Akkorde zusammen und fährt dann fort. Noch bevor sie wieder zu sprechen beginnt, stelle ich fest, daß ich mich nicht in dem Spiegel ihres Toilettentisches widerspiegele; der Platz, an dem ich stehe, ist leer. Hier bin ich der Geist. Endlich wirft sie sich das Haar über eine Schulter zurück und blickt auf. Ihre Augen sind umwölkt, ihre Haut schneeweiß, aber dieses schöne Gesicht würde ich überall wiedererkennen. «Antoinette», sage ich. Sie lächelt, und zwischen ihren Zähnen, die niemals die Wunder der Kieferorthopädie erfahren haben, klaffen schmale, unvertraute Lücken. «Sie können mich gern so nennen, wenn Sie wollen», sagt sie. Sie redet weniger mit mir als durch mich hindurch. «Einige der Seeleute von den Schiffen sprechen mich gern mit den Namen ihrer Frauen oder ihrer Liebsten an, die ja in irgendwelchen fernen Häfen auf sie warten. Es gibt ihnen das Gefühl, nicht bei einer Hure zu liegen. Letzte Woche hat mir einer ein Häubchen und ein Kattunkleid mitgebracht, das ich tragen sollte, während wir zusammenlagen, damit ich ihn an seine Frau erinnerte. 385
Er hat mich in Gold bezahlt, also trug ich das Häubchen und das Kleid, aber ich hasse Kattun.» Die Ähnlichkeit mit Antoinette ist bemerkenswert dieselben Augen und Wangenknochen, dasselbe Haar, dieselben Gesten -, aber jetzt erkenne ich auch Unterschiede, am Kinn und am Mund. «Es tut mir leid», bringe ich schließlich heraus. «Sie sehen jemandem, den ich kenne, sehr ähnlich.» «Ihrer Frau?» «Nein.» «Ihrer Geliebten?» Ich schweige. Sie runzelt die Stirn und klimpert noch ein wenig auf der Gitarre herum. Als sie wieder aufsieht, liegt in ihren Augen ein Ausdruck des Erschreckens. Abrupt legt sie die Gitarre weg und geht durchs Zimmer zum Fenster, wo nichts ist außer einer brodelnden Schwärze. Die Dielenbretter knarren unter ihren nackten Füßen. «Diese Nacht», sagt sie, und in ihrer Stimme liegt eine entsetzliche Verzweiflung, «immer diese selbe Nacht. Keine Sterne, und der Mond verborgen hinter Wolken, und nicht ein einziges Licht. Ich bin so weit weg von zu Hause, Monsieur.» Dann fährt sie zu mir herum, und sie ist wütend. «Sie kommen zu spät! Mein Mädchen Mimine sagte acht Uhr, und ich habe eine andere Verabredung Ihretwegen abgesagt. Jetzt ist es nach Mitternacht! Ich habe, wie von Ihnen gewünscht, ein Abendessen vorbereiten lassen, aber das ist jetzt schon lange kalt.» Sie macht einen Schritt nach vorn, stockt, ringt die Hände, die weißen Finger verschlingen sich ineinander wie Schlangen. «Bitte, Sie müssen mir verzeihen, ich bin nicht ich selbst. Es ist nur so, daß ich mich manchmal so entsetzlich verloren fühle…» 386
«Machen Sie sich deswegen keine Gedanken», sage ich. Sie holt Luft und hat sich in einer Sekunde gefaßt. «Mimine hat mir erzählt, daß Sie von zu Hause kommen. Das hätte sie mir nicht zu sagen brauchen. Ich sehe an der Art, wie Sie sich halten, daß Sie ein kreolischer Gentleman sind, ein Mann meines eigenen Volkes. Bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht, setzen wir uns hin und unterhalten uns eine Weile, bevor wir zusammenliegen? S’il vous plaît, parlons notre propre langue.» Sie spricht auf französisch weiter, und ich antworte genauso. «Gerte. C’est juste…» Aber es spielt keine Rolle; die Sprache, die wir benutzen, hat keine wirklichen Worte. «Natürlich bin ich nur eine Hure», sagt sie, «und niemand bezahlt eine Hure fürs Reden. Ich bin für gewöhnlich stark und grausam - viele der Männer mögen es so -, aber heute nacht bin ich schwach, und wenn Sie eine Weile mit mir reden, gehöre ich Ihnen danach mit Leib und Seele.» Sie kommt zu mir herüber, faßt mich am Arm und führt mich zum Bett. Ihre Berührung ist nicht kühl und federleicht, wie man es bei einem Geist erwarten könnte, sondern warm und kräftig. Sie legt mich zwischen die Laken und holt einen Schal vom Toilettentisch. «Es gibt einen alten Grundsatz, wonach Kleider den Herrn ausmachen, aber das gilt nicht für Sie, Monsieur», sagt sie, während sie mir den Schal um die Schultern wickelt. Dann hebt sie die Decke für einen Augenblick hoch, und wir beide schauen hinunter auf die Erektion, die gegen meinen Bauch drängt. Erst jetzt fällt mir wieder ein, daß ich nackt bin. Mit gespielt schüchternem Lächeln streckt sie die Hand aus und umfaßt mich mit einer Kraft, die ich bis in meine Eingeweide spüre. «Trotzdem - es wird um so schöner sein, wenn Sie Ihren Kampfhahn für 387
den Augenblick bezähmen und mich anhören.» Sie ist eifrig wie ein Kind. Sie verschwindet in dem dunkleren Nebenzimmer und kehrt mit einer bauchigen Flasche und zwei kleinen Kristallgläsern zurück. Dann schiebt sie sich mit der Hüfte auf die Matratze und zieht die Beine nach auf dieselbe Weise, wie ich Antoinette in ein Bett habe steigen sehen. Sie stellt die Gläser auf ein flaches Kissen zwischen uns, schenkt den roten Wein aus der Flasche ein, reicht mir ein Glas und füllt dann ihr eigenes. Das Zeug ist stark und süß und brennt wie Feuer. Sie zieht ihr Hemd zurecht, um ihre Brüste noch vollständiger zu entblößen, und lehnt sich dann gegen die geschnitzte Fußleiste, wobei sie mit einem Finger über eine ihrer Brustwarzen streicht. «Ich betrinke mich gern», sagt sie. «Ein Hurentrost. Aber nur mit gutem Wein, damit man sich am Morgen nicht so scheußlich fühlt.» Sie nimmt einen gierigen Schluck. «Das ist ein guter Madeira, finden Sie nicht auch?» Ich nicke. «Der Kapitän eines Handelsschiffs, der manchmal zu mir kommt, um bei mir zu liegen, bringt mir jedesmal ein paar Flaschen als Geschenk mit, wenn sein Schiff aus Spanien kommt. Mein Vater hat sehr gern Madeira getrunken. Er hat sich immer ganze Kisten von dem Zeug von New Orleans flußabwärts bringen lassen. Kannten Sie meinen Vater?» «Ich glaube nicht.» «Mein Vater war sehr beliebt. Die Leute haben ihn respektiert, flußauf und flußab, von Natchez bis Pointe à La Hache. Er war eine dieser Ausnahmeerscheinungen, ein zugleich ehrlicher und erfolgreicher Mann. Aber er setzte zu großes Vertrauen in das angeborene Gute im 388
Menschen. Und er verlobte seine Tochter mit einem Ungeheuer, und jetzt ist seine Tochter eine Hure.» Wir trinken eine Weile schweigend weiter. Sie füllt unsere Gläser mehrmals nach. Langsam bin ich betrunken. Die Wände des Zimmers sind in einem lasziven Rosa gestrichen. Abgesehen von dem Toilettentisch und dem Bett gibt es keine weiteren Möbel. Über dem Kopfbrett hängt ein kleines, ovales Porträt eines arroganten und irgendwie vertrauten olivhäutigen Mannes in Uniform, der mit feindseligen schwarzen Augen auf uns herabstarrt. Auf einer Schärpe quer über seiner Brust stecken irgendwelche Orden; zwei Duellpistolen liegen neben ihm. Schon bald ist die Madeiraflasche geleert, und es bleibt nur der Bodensatz, körnig und bitter wie Kaffeemehl. Der Geist wartet, die Augen so lichtlos wie Steine. «Erzählen Sie», sage ich schließlich. «Was möchten Sie gern wissen?» «Alles.»
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Madeleines Geschichte
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ein Name ist Madeleine Hippolyte Félicité de Prasères de la Roca. Ich wurde auf einer Plantage namens Belle Azur im Plaquemines-Delta in Louisiana geboren. Wenige Jahre zuvor hatte General Jackson die Engländer bei Chalmette besiegt und Pakenham als Leiche nach Hause geschickt - verstaut in einem Faß voller Rum, aus dem seine Soldaten, so will es die Legende, während der Überfahrt nach England ahnungslostranken. Man sagt, unter den Schwingen des amerikanischen Adlers seien wir alle gleich, und ich habe im Haus des Gouverneurs ein entsprechendes Gemälde gesehen, aber daran glaube ich nicht. Voller Stolz möchte ich betonen, daß das königliche Blut beider Nationen - Frankreichs und Spaniens - in meinen Adern fließt, und daß ich etwas Besseres bin als die meisten. Seltsame Worte aus dem Mund einer Hure, aber auch meine Geschichte ist seltsam, seltsam und traurig. Meine Mutter, Emmeline Françoise d’Aurevilley, wurde in Frankreich geboren, in einem alten Château in der Normandie, und während des Terrors der Revolution kam sie mit ihrer Familie nach Louisiana. Meinen Vater lernte sie auf einem Ball auf der alten Marigny-Plantage kennen, in der zweiten Maiwoche, fünf Jahre, bevor Amerika Louisiana den Franzosen abkaufte. Um sieben Uhr abends tanzten sie zu einer altmodischen Gavotte à la polonaise und wurden am folgenden Nachmittag auf dem Rasen getraut, während die Sonne über dem Fluß sich rot färbte. Alle Gäste haben geweint, als meine Eltern vor dem Priester niederknieten, denn sie waren beide so schön und so jung - und Sie kennen ja die offene Art, mit der die 390
Menschen meines Volkes dem Glück begegnen und der Traurigkeit. Mein Vater war groß und kräftig und hatte rötliches Haar. Meine Mutter war gleichermaßen hell und dunkel, mit dicken schwarzen Zöpfen und grauen Augen, die ich, wie Sie sehen, geerbt habe. Mandeville höchstpersönlich stellte ihnen sein Schlafzimmer als Hochzeitsgemach zur Verfügung und gab ihnen tausend spanische Golddublonen als Hochzeitsgeschenk. Und der spanische Gouverneur, Señor Salcedo, der ebenfalls anwesend war, befreite die Jungvermählten auf ein Jahr von der Steuer. Unglücklicherweise habe ich keine klare Erinnerung an meine Mutter, nur verschwommene Eindrücke, ganz ähnlich den Träumen eines sehr kleinen Kindes. Als ich kaum zwei Jahre alt war, starb sie am Gelbfieber. Das einzige Bild von ihr, das noch existiert, ist eine kleine, auf Porzellan gemalte Kamee, die der berühmte Miniaturist Mazzini während ihrer Hochzeitsreise in Europa angefertigt hat. Das ist der einzige etwas wertvollere Gegenstand, den ich von Belle Azur mitgenommen habe, als ich in den Norden ging. Ich habe die Miniatur hier unter einem losen Dielenbrett versteckt, und manchmal, wenn der letzte Mann abends mein Bett verlassen hat, hole ich sie hervor. Wenn ich dann das sanfte Gesicht meiner Mutter betrachte, denke ich, mein Leben hätte vielleicht eine andere Wendung genommen, hätte sie länger gelebt und den strengen Ansichten meines Vaters Milde verliehen. Wenn sie jetzt auf mich herabblickt - falls uns wirklich von der Schwärze des Todes aus ein Blick auf das Leben gewährt wird-, sieht sie eine Hure und nicht die tugendhafte Tochter, die der Welt zu schenken sie gehofft hatte. Dieser Umstand allein schon bekümmert mich. Und alles andere habe ich mir selbst zuzuschreiben; ich habe es 391
über mich gebracht durch Eifersucht, Leidenschaft und Stolz. Aber ich war nicht immer eine Hure. Meine Geschichte ist zunächst die Geschichte von zwei kleinen Mädchen, von mir und meiner Cousine Albane d’Aurevilley. Als Kind lebte ich in dem großen Haus auf Belle Azur - wie das Paradies scheint es mir jetzt -, umgeben von Feldern, Sumpf und Fluß, von den grünen Gaben des PlaqueminesDeltas. Als ich zehn Jahre alt war, kam Albane aus der Stadt zu uns, um bei uns zu leben, da ihr Vater und ihre Mutter, meines Vaters Cousine ersten Grades, am Fieber gestorben waren. Eine furchtbare Epidemie wütete in jenem Sommer in New Orleans, und die Straßen waren voll von Karren, auf denen sich die Leichen stapelten. Ich hörte die Haussklaven darüber reden, und einige meinten, es sei ein Fluch Gottes, mit dem dieser die Stadt für ihre Verderbtheit strafen wolle. Vielleicht ist das die Wahrheit, denn die Stadt ist in der Tat verdorben. Ich erinnere mich gut an jenen Sommer, wegen Albane und wegen Papas unerwartet früher Heimkehr aus Paris Anfang Juni. Er war viele Monate auf Reisen gewesen. Überhaupt hielt er sich zu dieser Zeit nur selten auf Belle Azur auf, und ich war, obwohl ich es damals noch nicht wußte, ein sehr einsames Kind. Natürlich hatte ich jede Menge Leute um mich herum, das stimmt. Es hielten sich immer irgendwelche unverheiratete Tanten und sitzengebliebene Cousinen im Haus auf, die Zuneigung heuchelten, aber in Wirklichkeit scherte es sie nicht im mindesten, wie es mir ging; und dann waren da natürlich noch die Haussklaven. Zetie, die hellhäutige Mulattin, die mich nach dem Tod 392
meiner Mutter versorgte, brachte mir einiges an echtem Gefühl entgegen, aber die Fesseln der Sklaverei scharfen wohl kaum die geeignete Grundlage für bedingungslose Liebe. Manchmal, wenn niemand zusah, konnte sie sogar sehr grausam sein. Sie schlug mich, wo es keine Spuren hinterließ, und stahl mir die hübschen Dinge, die ich besaß - wertlose Kinkerlitzchen und kleine Reste von Spitze -, und gab sie ihren eigenen Kindern, die mit den anderen Sklaven indem Quartier hinterm Haus lebten. Einmal fragte ich meinen Vater, warum er so oft fortginge, und er erwiderte, daß das Leben an einem Platz, an dem er mit meiner Mutter so glücklich gewesen war, einen zu großen Kummer für ihn bedeutete. Aber er nahm mich nie mit, wenn er auf Reisen ging, und ich vermute, daß es nicht das Haus oder die Plantage waren, die ihn traurig machten, sondern mein Äußeres, denn ich sehe meiner Mutter sehr ähnlich. Wir sind uns alle sehr ähnlich, wir Frauen der d’Aurevilley-Linie. Wir sind gleichzeitig hell und dunkel, was sehr ungewöhnlich ist. So war es seit den Tagen der Marie de France, und so wird es bleiben, solange es Frauen gibt, die schön sind, und Männer, die ihnen nachjagen. Aber diesmal brachte Papa mir, vielleicht weil er sich ein wenig schuldig fühlte, viele schöne Dinge aus Paris mit: bemalte Fächer und Kleider, einen mechanischen Vogel, der sang, wenn man ihn mit einem silbernen Schlüsselchen aufzog, und eine herrliche Puppe mit Porzellangesicht, die er bei Joquelin erstanden hatte, dem berühmten Spielzeugmacher aus dem Faubourg St. Germain. Zu dieser Puppe gehörte eine ganze Schachtel passender Kleider, lauter Satin und Rüschen nach der neuesten Mode, und ihr Haar war schwarz, wie meines. Ich nannte sie Emmeline, nach meiner Mutter, und nahm sie überallhin mit. Es mag lächerlich scheinen, jetzt, als 393
erwachsene Frau, von einer Kinderpuppe zu reden, aber das Schicksal dieser Puppe ist ein Schlüssel zu dem, was sich später ereignete. An dem Tag, an dem Albane zu uns kam, nahm mein Vater mir die Puppe weg und gab sie ihr. Noch keine Stunde, nachdem sie ihren Fuß zum ersten Mal in unser Haus gesetzt hatte, sah Albane Emmeline in meinen Armen, begehrte sie und brauchte Papa lediglich mit dieser leisen, geheimnisvollen Stimme, die ihr eigen war, zu fragen, ob sie die Puppe haben könne. Ohne einen Gedanken an meine Gefühle zu verschwenden, willigte er ein, denn ich hatte ja, wie er später sagte, so viele Spielsachen, und die arme kleine Albane hatte nichts. Aber er wußte nicht, daß ich die Puppe sehr liebte und alle meine Spielsachen hergegeben hätte, wenn ich nur sie hätte behalten dürfen. Ich erinnere mich noch immer an das seltsame Licht an dem Nachmittag, als Albane zu uns kam. Der Himmel wölbte sich purpurn über dem Fluß, und Regen peitschte gegen die Fensterläden, ein angemessen dramatischer Auftritt für das Geschöpf, das zu dem bösen Geist meines jungen Lebens wurde. Sie war reizlos, bläßlich und bestand nur aus Haut und Knochen. Das Trauerkleid aus billigem schwarzem Tüll hing schlaff und naß an ihrer kantigen Gestalt herab und tropfte Tintenflecke auf den Gobelinteppich in der Eingangshalle. Ich stand auf der gebohnerten Treppe und hielt mich an meiner Puppe fest, während Papa sie unten in die Arme schloß. Ich werde niemals den Blick vergessen, mit dem sie mich über seine Schulter hinweg ansah - gerissen, besitzergreifend und schlau. Ich zitterte, als ich sie sah, und brachte es nicht fertig, diesen Augen standzuhalten, die von einem seltsamen, unversöhnlichen Blauton waren und schon damals eine beispiellose Überredungsgabe verrieten. 394
Binnen eines Monats ließ Papa Albane in das große Zimmer einziehen, das durch eine Tür mit dem meinen verbunden und früher mein Spielzimmer gewesen war. Ergab ihr die Hälfte meiner Kleider und ließ sie von Zetie umarbeiten. Außerdem machte er ihr das extravagante Geschenk einer Leibsklavin, eines jungen Negermädchens ihres eigenen Alters, und schenkte ihr seine unverfälschte Zuneigung. In den traurigen Jahren, die nun folgten, schien Papa diese elende kleine Waise immer lieber zu gewinnen. Er nahm sie zweimal zu Vorstellungen der französischen Oper in New Orleans mit. Ich war nur ein einziges Mal mit ihm in der Stadt, und das auch nur, um mir in einer Marktbude auf dem Place d’Armes ein erbärmliches Marionettenspiel anzusehen. Als wir älter wurden, holte er mehr zu Albanes Nutzen als zu meinem einen pedantischen jungen Mann aus der Stadt ins Haus, der uns in Latein, Mathematik und Musik unterweisen sollte. Die Musik war das einzige Fach, in dem ich mich hervortat. Bis zum heutigen Tag kann ich jedes Saiteninstrument spielen, und ich spiele auch Klavier und kann einigermaßen gut singen. Aber Papa hatte nie ein Lob für meinen Gesang, während er voll des Lobes war für Albanes Rechenaufgaben und ihre weitschweifigen lateinischen Aufsätze, für gewöhnlich moralische Traktate voller geheuchelter Frömmigkeit. Papa war ein großer Büchernarr. Er achtete Wissen mehr als Geld, eine Einstellung, die sich nur der leisten kann, der bereits genügend Geld hat. Zwei Räume im ersten Stock waren für seine Bibliothek reserviert, und allein in einem davon standen viertausend 395
Bände fein säuberlich nebeneinander in Wandregalen. Eines Tages, als ich nichts anderes zu tun hatte, habe ich sie gezählt. In diesem Raum befanden sich überdies ein langer Tisch aus dunklem Holz, eine Karte von Louisiana und ein Globus, der alle Länder und Kontinente der Welt zeigte. Stundenlang konnte Papa dort sitzen, die Fensterläden zugezogen, um die Hitze draußen zu halten, während er mehrere Bücher gleichzeitig offen vor sich auf dem Tisch liegen hatte, die er las und mit seinen Kommentaren versah. Er liebte Molière, Racine, den Dichter Andrea Chénier, der während der Revolution enthauptet worden war, die philosophischen Werke von Pascal und Rousseau und natürlich den zeitgenössischen Schriftsteller Chateaubriand, den er einmal in Paris kennengelernt hatte, obwohl er sich oft darüber beklagte, daß letzterer sich in seinen Büchern René und La Nouvele Átala arge dichterische Freiheiten genommen und sie mit Lügen über die Indianer im allgemeinen und die in Louisiana beheimateten Stämme im besonderen gespickt habe. Wenn irgend etwas, das er las, ihn übermäßig erregte, riß er die Fensterläden auf, trat hinaus auf die Galerie und deklamierte mit lauter Stimme für jeden, der unten vorbeiging, irgendwelche Textstellen. Die Sklaven hielten ihn für verrückt. Er befahl ihnen oft, stehenzubleiben und ihm zu lauschen, manchmal stundenlang und bei großer Hitze. Er trug immer ein paar gelber Slippers und eine gelbe Weste, wenn er las, und dazu einen runden Türkenhut mit Quaste, den er seinen Lesehut nannte. Selbst jetzt noch kann ich ihn vor mir dort auf der Galerie stehen sehen, wie er, ein Buch in der einen Hand und mit der anderen wild gestikulierend, lauthals Reden von Racine wiedergibt. Manchmal, wenn er an einer seiner Lieblingsstellen angelangt war, schloß er das Buch und 396
rezitierte aus dem Gedächtnis. Die Sklaven waren der Meinung, daß er alles erfunden hatte, daß er die Bücher selbst schrieb und die Worte, die er sprach, seiner eigenen Phantasie entstammten. Das fromme, spitzgesichtige kleine Biest Albane wuchs schon bald zu einem selbstgefälligen und frommen spitzgesichtigen jungen Mädchen heran. Von Anfang an hatte sie etwas ganz Seltsames an sich, etwas, das einem das Gefühl gab, daß sie einen auch dann noch ansah, wenn sie einem den Rücken zukehrte. Einige der Haussklaven, die während der furchtbaren Aufstände in St. Domingue von dort aus zu uns gekommen waren, kannten sich in der Voodoo-Religion aus und glaubten, Albane habe das grisgris, den bösen Blick. Das ist jene Macht, die Hexen eigen ist, die Macht, mit der sie unmittelbar auf die Dinge in ihrer Nähe Einfluß nehmen: um Milch, frisch von der Kuh, noch im Kübel gerinnen zu lassen, um das Baby im Mutterleib herumzudrehen, so daß es tot und mit um den Hals geschlungener Nabelschnur zur Welt kommt. In Papas Familie hatte es tatsächlich übernatürliche Kräfte gegeben, die in weiblicher Linie vererbt wurden. In der Bibliothek stand ein altes Buch aus Frankreich, das in lateinischer Sprache geschrieben war und die Geschichte mehrerer Frauen unserer Familie aus den Tagen der großen Hexe La Voisine erzählte und von dem Skandal in Versailles, als sie versuchten, Ludwig XIV. höchstselbst zu vergiften. Eine von ihnen, eine gewisse Marianne de Vaubran, wurde in der Bastille gefoltert und hingerichtet, zwei Tage nachdem La Voisine aufs Schafott gestiegen war. Unsere Sklaven hatten schließlich große Angst vor Albane. Wann immer sie vorbeiging, drehten sie sich zur Wand und bekreuzigten sich. Papa erfuhr davon und ließ 397
sie dafür auspeitschen. Er war eigentlich kein Freund der Peitsche und bis zu diesem Zeitpunkt bekannt für seine Freundlichkeit, aber dieses Verhalten verletzte seinen Stolz und seine närrische Liebe zu dem Mädchen. Ich würde gerne sagen, daß die Neger auf Belle Azur Albane wegen der Peitschenhiebe, die sie ihnen eintrug, haßten, aber Haß ist nicht ganz das richtige Wort für die Reaktion, die sie hervorrief. Jemanden, den man haßt, betet man nicht an. Auf die Sklaven muß man immer gut achtgeben; das ist eine der Bedingungen, an die man sich bei dieser seltsamen Institution zwangsläufig halten muß. Um einen Mann unten zu halten, muß man wissen, was er denkt, was er als nächstes tun wird. Wie fatal die Konsequenzen waren, wenn man den Negern gegenüber zu lasch war, sahen wir immer wieder auf anderen Plantagen flußaufund flußabwärts. Man hörte Berichte über Giftmorde und Rebellionen, und über Sklaven, die sich mit einem Messer zwischen den Zähnen durch die Nacht schlichen. Eine unserer Köchinnen, ein verdrossenes, hellhäutiges Mädchen mit Stammeszeichen auf dem Gesicht, ließ nicht lange nach Albanes Ankunft einen Korb voller giftiger Schlangen im Haus frei. Die Sache hatte nichts mit uns zu tun, sondern war Teil einer komplizierten Vendetta unter den Haussklaven. Die Köchin hatte Monate damit zugebracht, die Schlangen draußen im Bayou zu fangen, und sie hatte sie mit Milch aus ihrer eigenen Brust gefüttert, denn sie hatte vor kurzem ein Kind zur Welt gebracht, das gestorben war. Als sich herausstellte, daß die Köchin für diese Sache verantwortlich war, wurde sie nicht ausgepeitscht, denn Peitschenstriemen auf dem Rücken hätten ihren Wert gemindert. Statt dessen wurde sie eingesperrt, mit Süßigkeiten und Maisbrei gemästet 398
und dann auf den Markt in New Orleans gebracht. Die Schlangen waren wie kleine helle Farbbänder, und ihr Biß war tödlich. Wir fanden sie während der nächsten Monate an den seltsamsten Orten: zusammengerollt in Schuhen, fröhlich schwimmend im frisch eingelassenen Badewasser, in Hüten, die verkehrt herum gelegen hatten, auf Eßtellern, in den Speisen, die zum Abendessen serviert wurden, im Bettzeug. Jeden Abend mußten wir erst die Laken ausschütteln, bevor wir schlafen gehen konnten. Schließlich holte Papa einen Schlangenfänger aus dem Bayou. Es war ein alter, halb erblindeter Neger, der sich vor einigen Jahren von dem Herren der Fleury-Plantage freigekauft hatte. Der Mann trug Stammesnarben im Gesicht, genau wie die Köchin. Er legte in den Ecken eines jeden Zimmers kleine Bissen von rohem, in Sirup getauchtem Fleisch aus und stellte kleine Schälchen mit süßer Sahne in die Korridore. Außerdem sang er in seiner seltsamen Sprache bestimmte Zauberformeln und schlich auf Zehenspitzen herum wie ein Schatten. Eines Morgens sah ich sieben Schlangen an der Sahne in einem seiner Schälchen nippen, während der Schlangenfänger sich von hinten leise wie eine Katze anschlich. Als er die Schlangen in seinem Leinensack hatte, fragte ich ihn, was er nun mit ihnen machen würde. Er lächelte, und ich sah gelbe, nadelspitz gefeilte Zahne. «Wenn man ihnen das Gift aus den Köpfen quetscht, geben sie ein sehr mächtiges magisches Gumbo ab, Mademoiselle», sagte er. «Gut gegen Fieber und gegen Gicht.» Am Ende wurden Sechsundsechzig Schlangen aus dem Haus entfernt, und der Mann wurde mit Gold entlohnt. Dann ging er, und man nahm allgemein an, daß die Schlangen mit ihm verschwunden seien, aber später erwischte Zetie Albane dabei, wie sie mit dreien der Tiere spielte. Das seltsame Kind hatte sie als Schoßtiere 399
gehalten, mit toten Fliegen gefüttert und in einem Korb voller Gras untergebracht. Eines Nachmittags fand Zetie die Schlangen im Schlaf zusammengerollt im Haar des Kindes. Als man ihr die Schlangen wegnahm, weinte Albane eine ganze Nacht und einen Tag lang. Nach diesem Zwischenfall begannen die Sklaven, meine Cousine als Voodoo-Göttin zu verehren. Ich beziehe mich jetzt auf einen ganz bestimmten Abend im August, als Papa sich wegen irgendwelcher Geschäfte in Mobile aufhielt und ich vierzehn Jahre alt war. Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, daß man mit vierzehn in unserem Teil der Welt nicht mehr als Kind gilt. In eben diesem Alter waren alle Bringier-Mädchen verheiratet und zu Herrinnen ihrer eigenen großen Besitztümer flußaufwärts geworden, und es ist keineswegs ungewöhnlich für eine kreolische Frau jedweden Alters, bei der Verwaltung der Plantage mitzuwirken. Ich hatte selbst bereits manchmal die Arbeit der Sklaven auf den Feldern überwacht und aufgepaßt, daß die Aufseher sie nicht entweder bis zur Erschöpfung arbeiten ließen oder über Gebühr schonten, denn die Aufseher sind eine gerissene, unzuverlässige Bande. Ich habe auch aufgepaßt, wenn Zuckerrohr und Indigo auf die Schiffe verladen wurden, und dafür gesorgt, daß die richtigen Quittungen den Besitzer wechselten, denn an dieser Stelle kann man durch gefälschte oder unkorrekte Frachtrechnungen Tausende von Dollar verlieren. Wie Sie wissen, ist der August für die Neger ein Monat größter Ruhelosigkeit, die Zeit vieler mitternächtlicher und geheimer Riten zu Ehren ihrer verschiedenen Voodoo-Gottheiten. Deshalb schlief ich unter dem Moskitonetz und mit zum Balkon hin geöffneten Fenstern, 400
um jedes seltsame Geräusch auf dem Hof sofort zu hören. Denn auf anderen Plantagen, wo die Sklaven nicht so sorgfältig bewacht wurden, hörte man in dieser schrecklichen Jahreszeit immer wieder von Menschenopfern, von Sklavenkindern, die aufgeschlitzt wurden, um die wilde Voodoo-Göttin zu beschwichtigen. Am nächsten Morgen hieß es dann, sie seien verschwunden oder bei irgendeinem Unfall ums Leben gekommen. Vergessen Sie nicht, der Verlust eines einzelnen Sklaven ist ein großer materieller Verlust. In dieser Nacht schien ein unsteter Mond auf den Hof. Die immergrünen Eichen raschelten und wisperten in dem heißen Wind, der vom Sumpf aufstieg. Schließlich rissen mich die Hitze und der Klang eines leisen Singsangs, der aus dem undurchdringlichen Unterholz hinter den Sklavenquartieren zu kommen schien, aus meinem unruhigen Schlummer. Ich lauschte eine Weile, zog mir den Knabenanzug über, den ich auf den Feldern benutzte, holte zwei geladene Pistolen aus dem Waffenschrank im Zimmer meines Vaters und ging hinaus in die Dunkelheit. Sie werden vielleicht über meine Darstellung dieses Zwischenfalls lachen, aber lassen Sie sich gesagt sein, daß kein Prasères, gleichgültig ob Mann, Frau oder Kind, jemals Angst vor seinen Sklaven hatte. Also lenkte ich meine Schritte zu einer weiten Lichtung im Dschungel. An manchen Sonntagen ist es den Sklaven gestattet, dort draußen zu tanzen, frei von Fußeisen und Fesseln, so wie sie auf dem Congo Square in New Orleans tanzen. In jener Nacht fand ich sie alle versammelt, ungefähr hundertfünfzig Neger, die sich im Mondlicht krümmten und wanden, ihre ganze Aufmerksamkeit auf meine Cousine Albane gerichtet. Dieses bösartige Mädchen stand in ihrem Nachthemd auf einem Holztisch am Ende der Lichtung, die Arme ausgestreckt wie eine 401
antike Göttin und zu ihren Füßen ein Dutzend zusammengeringelter Schlangen. Die Aufseher lungerten im Hintergrund herum; sie waren sehr betrunken und genossen das Schauspiel. Ich ging zu ihnen hin und befahl ihnen, dieser obszönen Zeremonie Einhalt zu gebieten. «Später, Mademoiselle», sagten sie, und ihre Zungen waren vom Alkohol schwer. «Zu gefährlich jetzt.» Ich ließ sie wutentbrannt stehen, nahm die Pistolen aus meinem Gürtel und machte mich selbst daran, Albane von dem Tisch herunterzuholen. Einer der Sklaven, ein großer Feldarbeiter, versuchte mich aufzuhalten, und ich durchschoß ihm die Lungen, eine Verletzung, von der er sich nicht mehr erholte. Albane fing an zu schreien, und die Schlangen zu ihren Füßen glitten davon in die Dunkelheit. Dann zerrte ich sie durchs Unterholz und hinauf in ihr Zimmer. Dort angekommen, wurde sie frech. «Ich bin die Göttin Nokomu. Wenn du mich anfaßt, verwandele ich dich in eine Schnecke.» Dies und ähnlicher Unsinn kamen ihr nun über die Lippen. «Sich mit den Sklaven einzulassen ist gottlos, und ich befehle dir, damit aufzuhören», schrie ich. Da verzerrte sich ihr Gesicht plötzlich und wurde ganz häßlich, und sie erzählte mir, daß sie tun könne, was ihr gefalle, denn jetzt hätte sie das gleiche Recht wie ich, als Herrin des Hauses bezeichnet zu werden. «Als ich das letzte Mal mit deinem Papa in New Orleans die Oper besucht habe», sagte sie, «hat er mich in die Royal Street mitgenommen, in das Büro von Monsieur Levallier, dem Rechtsanwalt. Ich habe zugesehen, wie Monsieur Levallier ein Dokument aufgesetzt hat, das dein Papa und zwei Zeugen unterzeichnet haben. Auf dem Papier steht, daß nach dem Tod deines Vaters dieses ganze Anwesen zwischen dir und mir zu gleichen Teilen 402
aufgeteilt wird.» Und dann lachte sie, und der Klang ihres Lachens hallte unheimlich durchs Zimmer. Aber als ich diese unglaubliche Lüge über ihre Lippen kommen hörte, packte mich ein Wahnsinn, den ich nicht benennen kann, und plötzlich hatte ich von irgendwoher eine Pferdepeitsche und peitschte sie aus, wie ich einen Sklaven auspeitschen würde, der mich bestohlen hat oder dreist geworden ist. Ich jagte sie mit der Peitsche die Galerie entlang, bis ihr das Nachthemd in Fetzen vom Körper hing und ihr Rücken und ihre Arme mit gewaltigen roten Striemen bedeckt waren. Weder ihr Schreien noch ihre Tränen noch ihr mitleiderregendes Flehen konnten mich aufhalten. Auch nicht ihre Macht, Milch gerinnen zu lassen oder Schlangen zu verzaubern oder mir das Herz meines Vaters zu stehlen. Als meine Arme müde waren und ich sie nicht mehr auspeitschen konnte, rief ich die Haussklaven, die am Fuß der Treppe gekauert hatten, und sagte: «So, da habt ihr eure Göttin. Nehmt sie und schmiert etwas Fett auf ihre Wunden.» Dann ging ich auf mein Zimmer und schloß mich ein und schlief oder schlief nicht, bis Papa einige Tage später aus Mobile zurückkehrte. Gestatten Sie mir, für einen Augenblick in meiner Erzählung innezuhalten, um Ihnen den Schauplatz jener dramatischen Ereignisse zu beschreiben, von denen ich Ihnen berichtet habe. Ich meine den Ort, den ich liebe wie keinen anderen auf der Welt, die Plantage Belle Azur am Mississippi. Sie liegt in einer weiten Biegung des Flusses inmitten von dreitausend Hektar guten, schwarzerdigen Schwemmlands, das Ludwig XV. von Frankreich meinem Vorfahren Antoine Raoul de L’Isle de Praseres übereignet 403
hat, und zwar für einen ritterlichen Dienst an der französischen Krone, über den nichts Genaueres bekannt ist. Seine geheime Tat ist in Dunkelheit versunken, in jener Zeit aus Gründen der Staatsräson nicht schriftlich festgehalten, obwohl man annehmen kann, daß sie etwas mit dem Schutz der Würde des Königs persönlich zu tun hatte. Das Haus selbst ist sehr groß, erbaut aus von Sklaven behauenen Steinen und Zypressenholz aus dem Sumpf. Die Backsteinmauern des Erdgeschosses sind so dick, daß ich in ihren Öffnungen als Kind mit ausgestreckten Armen kaum von innen nach außen reichte. Diese Mauern bergen eine dunkle, kühle Höhle von Bögen und Türen, angefüllt mit Weinfässern, zusammengerollten Seilen und anderem Krimskrams; in dieser Höhle habe ich an heißen Sommertagen oft gespielt. Die beiden oberen Stockwerke sind aus Zypressenholz errichtet worden. Zwei hufeisenförmige Treppen führen vom Erdgeschoß in die erste Galerie, die sich in französischer Manier um das ganze Haus herumzieht, während man die zweite Galerie darüber über eine freistehende Treppe aus gebogenem Zypressenholz direkt von der Eingangshalle aus erreicht. Diese Besonderheiten und die zweite Galerie, die einzigartig in ganz Louisiana ist, haben uns von der Quelle des Flusses bis zur Mündung berühmt gemacht. Meine Mutter ließ seinerzeit über die ganze Länge der Galerie hin viele Pflanzen aufstellen. Das war früher ihr Lieblingsplatz, an dem sie mich, als ich noch ein Baby war, in den Armen hielt. Die Pflanzen stehen heute noch dort, Farne und Bananenbäume und blühende Büsche in großen Übertöpfen. Sie verleihen unserer oberen Galerie das Flair der berühmten hängenden Gärten, die ein babylonischer König einst für seine Mätresse erbauen ließ und die zu den sieben Weltwundern zählten. 404
Sie haben doch sicher das Herrenhaus von Jean Noël Destrehan gesehen, einem Freund Bonapartes, der, so erzählt man, die kaiserliche Badewanne geschenkt bekommen haben soll. Wie auch immer, Destrehan Manor gilt als ein Bau von auffallender Schönheit und Eleganz. Ich habe gehört, daß seit meiner überstürzten Abreise die Tochter der Familie einen Schotten geheiratet hat und daß es zu Umbauten kam, daß der Vorderfassade des Hauses griechische Säulen hinzugefügt wurden. Das ist schade. Destrehan ist ursprünglich im französischen Stil erbaut worden, ohne die pompösen Abscheulichkeiten, wie sie die amerikanischen Pflanzer bevorzugen. Belle Azur hat Ähnlichkeit mit dem ursprünglichen Destrehan, ist aber viel schöner und auch größer. Die Familie Prasères war früher bekannt für ihre Zeugungskraft. Mein Urgroßvater Etienne Charles Marie de Prasères zeugte zweiundzwanzig Kinder mit zwei Ehefrauen. Zwölf der Kinder überlebten die ersten Jahre und hatten in Belle Azur bis zu ihrer Verheiratung ein freundliches Zuhause. Das große Haus war für eine solche Kinderschar gedacht. Heute können wir schon von Glück sagen, wenn eine Familie acht Kinder hervorbringt. Vielleicht stimmt es, daß unsere Vorfahren bessere und stärkere Menschen waren als wir, aber ich glaube es nicht. Der wirkliche Grund ist sehr einfach: Man muß zunächst einmal eine glückliche Ehe führen, um eine solche Anzahl von Kindern zur Welt zu bringen. Und glückliche Ehen sind aus dem einen oder anderen Grund in diesen schwierigen Zeiten selten geworden. Hören Sie zu, jetzt kommt ein kluges Wort aus dem Mund einer Hure: Es gibt kein besseres Aphrodisiakum als das Glück. Selbst jetzt noch, in diesem heruntergekommenen, selbstgewählten Exil, sehe ich Belle Azur bis ins letzte 405
Detail vor mir. Wenn man im Frühling auf der oberen Galerie steht, kann man kurz vor der Morgendämmerung das blühende Land riechen, bevor die Sonne sich heiß über die Felder erhebt, die sich bis hinunter zum Fluß erstrecken. In dem spärlichen Licht einer winterlichen Abenddämmerung erstrahlen die blauen Mauern des Hauses wie das reumütige Blau des Himmels nach einem Sturm. Im Sommer ist der Horizont Richtung Golf ein einziger lilafarbener Hitzeschimmer, und die Luft ist schwer und still. Und dann die Schiffe - Segler und Dampfer -, die Tag und Nacht flußabwärts und flußaufwärts kommen und gehen, deren Sirenen zu uns herüberklingen, während wir auf der großen Galerie im ersten Stock die Lichter für eine Party entzünden. Und das Grau der Morgendämmerung im Herbst, Papas Jagdkumpane warten ungeduldig am Fuß der Treppe, ihre Pferde scharren im Kies der Einfahrt, ihr Atem erhebt sich in weißen Wolken in die Luft. Und immer die grünen Ränder des Bayous und der Ring der Vögel, die sich über dem Sumpf erheben. Belle Azur ist mein wunderschöner blauer Stern über dem Fluß, jeder muß irgendwo hingehören. Ich gehöre dorthin. Ich liebe seinen Wald und seine Felder und seine Mauern. Vielleicht besteht am Ende das wahre Glück des Lebens darin, zu wissen, wo man hingehört, und dort bleiben zu können. Die Umstände, ein widriges Schicksal und die Notwendigkeit, Rache zu nehmen, haben mich vor viel zu vielen Jahren von meinem Zuhause weggeführt. Aber ich habe geheime Pläne geschmiedet. Auf die eine oder andere Weise werden Zielstrebigkeit und Hartnäckigkeit mich wieder zurückbringen. Am Nachmittag des fünften Tages, nachdem ich Albane auf der Galerie ausgepeitscht hatte, hörte ich Papas 406
Tilbury in die Einfahrt rollen. Eine Stunde verging. Dann kam er die Treppe herauf und ging in das Zimmer von diesem kleinen Biest, wo er gerade lange genug blieb, um ihre Wunden zu untersuchen, die inzwischen nur noch harmlose, rosafarbene Striemen waren. Dann ging er ein zweites Mal fort. Er kam nicht zu mir, sprach nicht einmal durch die Tür hindurch mit mir, nicht ein einziges Wort. Während der Abenddämmerung ging ich hinaus auf die Galerie und sah ihn wegfahren. Das war der Augenblick, in dem ich zum ersten Mal Angst hatte, daß mir etwas Furchtbares widerfahren würde. Zwei Wochen später kehrte Papa zurück, und diesmal kam er herauf in mein Zimmer, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, seine Reisekleidung abzulegen. Wie ich befürchtete, ließ er mich nicht zu Wort kommen. Als ich versuchte, ihm mein Verhalten zu erklären, schlug er mir mit dem Handrücken auf den Mund. Dann erklärte er mir, ich besäße einen bösartigen und gehässigen Charakter, der für den Tod eines fünfhundert Dollar teuren Feldsklaven verantwortlich sei, und daß ich ein unschuldiges Waisenkind so geschlagen hätte, daß sein Leben noch immer in Gefahr sei. Er machte einen so gequälten Eindruck, daß ich zitterte, weil ich ihn unglücklich gemacht hatte und weil ich nicht bestraft werden wollte. Dann ließ er sich auf einen Hocker sinken, legte den Kopf in die Hände und begann zu weinen. Das jagte mir noch mehr Angst ein als seine Worte. «Ich habe mich lange Zeit nicht um dich gekümmert», sagte er schließlich. «Ich dachte, es sei deine Cousine, die Fürsorge brauchte, und nicht du, Madeleine. Dich habe ich immer als die Starke gesehen. Selbst als du noch klein warst und der Tod dir deine Mutter genommen hat, warst du stark und hast nicht geweint. Ich hätte wieder heiraten 407
oder dich zu den Ursulinen in die Klosterschule schicken sollen. Vielleicht hätten die Nonnen dein heißes Temperament kühlen können. Jetzt ist es dafür zu spät.» Dann versiegten seine Tränen, und er stand auf und ging zur Tür. Aber bevor er auf den Flur hinaustrat, drehte er sich noch einmal um, und in seiner Stimme schwang große Traurigkeit mit. «Ich habe dich Don André de la Roca versprochen, einem wohlhabenden Gentleman aus New Orleans», sagte er. «Die Dokumente sind ausgehandelt und unterschrieben, deine Mitgift bestimmt. Ich mag vielleicht eines Tages Grund haben, diese Entscheidung zu bedauern, aber jetzt ist es zu spät. Du wirst im September heiraten, eine Woche nach deinem fünfzehnten Geburtstag.» Am Tag meiner Hochzeit fegte ein plötzlicher Hagelschauer über den Place d’Armes, und dieses Unwetter paßte bestens zu der Stimmung des Ereignisses. Die hühnereigroßen Eisbrocken hüpften auf den Pflastersteinen und ließen die überraschten Bürger auf den überdachten Gehsteigen Zuflucht suchen. Der Hagel schlug Hunde auf der Straße bewußtlos, Seemöwen fielen überm Fluß vom Himmel, und eine schwarze Wolke wie der Rauch von einem schrecklichen Feuer erblühte über dem Cabildo. Die Kathedrale St. Louis war fast leer, wie bei der Beerdigung eines kleineren Beamten. Ich erinnere mich an eine runzlige alte Dame mit gelbem Gesicht, die in der ersten Reihe saß: die Duenna meines Ehemannes. Sie war seit seiner frühen Jugend in St. Domingue bei ihm gewesen, hatte gemischtes Blut und war vollkommen wahnsinnig. Wir knieten nieder, und der Priester murmelte auf lateinisch vor sich hin. Mein Kleid war wunderschön, bestickt mit winzigen Süßwasserperlen und durchwirkt mit Silberfäden, die selbst in dem dumpfen Licht noch 408
leuchteten, aber niemand nahm Notiz von meinem Kleid. Immer wieder warf ich meinem Ehemann aus den Augenwinkeln heraus verstohlene Blicke zu. Es war das erste Mal, daß ich ihn sah, und meine Eindrücke bestätigten meine schlimmsten Befürchtungen. Er war alt, hatte ein verkniffenes Gesicht und grausame Augen, aber vor allem war er alt. Mein Herz wurde klein und still und verkümmerte, während der Priester die letzten Worte sprach. Später, in meinem neuen Haus auf der Esplanade, kamen nur fünfzehn Leute zur Hochzeitsfeier, alles Geschäftsfreunde meines Ehemannes. Mein Vater nahm nicht an dem Fest teil, angeblich wegen eines Gichtanfalls, obwohl er sich bester Gesundheit erfreute. Die verrückte Duenna kroch über den Fußboden, als suche sie nach etwas. Die Leute traten über sie hinweg, ignorierten sie, wie man einen Hund ignorieren würde. Mein Mann sprach kein Wort mit mir, schaute kaum in meine Richtung. Ich fand schließlich den Weg nach oben ins Hochzeitsgemach und weinte in die bestickte Bettdecke, während die Männer unten Alkohol tranken und Zigarren rauchten, deren Qualm durch den Fußboden heraufstieg. Das Ganze erinnerte mehr an den Verkauf einer preisgekrönten Stute als an eine Hochzeit. Nach ein paar Stunden brachen die Gäste auf, um anderswo weiterzutrinken, und mein Ehemann kam ins Zimmer, ohne auch nur anzuklopfen. Mit eisiger Kälte befahl er mir, meine Kleider auszuziehen und mich aufs Bett zu legen. Ich war zu verängstigt, um ihm nicht zu gehorchen. Als ich nackt und zitternd dalag, verlangte er, daß ich meine Hände auf meine Brüste legte, um sie zu kneten und die Brustwarzen zwischen den Fingern zu drehen. Dann ließ er seine Hose zu Boden fallen, starrte auf meine Hände und streichelte sich, bis er hart genug 409
war, um in mich einzudringen. Als er soweit war, begann er vor und zurück zu stoßen, ohne sich auch nur im geringsten um meine Schmerzensschreie zu scheren; auf seinem Gesicht stand nichts als Abscheu. Nachdem er fertig war, verließ er sofort das Zimmer. Ich war erst fünfzehn, vergessen Sie das nicht, noch Jungfrau und vollkommen unschuldig in diesen Dingen. Don André kam am nächsten Abend wieder und am Abend darauf und blieb immer nur lange genug, um den Akt zu vollziehen. Er nahm diese ehelichen Rechte so lange in Anspruch, wie es notwendig war, um mich zu schwängern. Danach bekam ich ihn nicht mehr zu sehen, bis zu jenem Tag zwei Wochen vor der Geburt meines ersten Mädchens, als er mitten am Nachmittag auftauchte und mich zu einem Gespräch in den vorderen Salon befahl. Die Jalousien waren heruntergelassen, um die Hitze draußen zu halten. Ich trug ein schwarzes Kleid, als sei ich in Trauer. Der Raum war voller Schatten. Zwei kleine Tassen Kaffee wurden hereingebracht. Er fragte mich, wie ich zurechtkäme. Ich war zu erschrocken, um diesem Mann, meinem Peiniger, eine Antwort geben zu können. «Gestatte mir ein ehrliches Wort», sagte er. «Ich habe dieser Ehe aus zwei Gründen zugestimmt. Erstens wegen deiner Familie und deiner Vorfahren, zu denen auch Rodrigo del Bivar, El Cid, der große spanische Ritter, gehört. Zweitens bin ich ein Mann von großem Reichtum, besitze aber nur wenig Land, und dein Vater ist ein Mann mit großem Landbesitz, der aber ansonsten nur über geringe Mittel verfügt. Unsere Vereinigung hat auf diese Weise Geld mit Grundbesitz zusammengebracht, was genauso eine solide Basis für eine gute Ehe ist wie jede andere auch. Verletze ich deine Gefühle? Nein? Gut, dann werde ich mich jetzt ein wenig feinfühliger ausdrücken. 410
Du mußt natürlich begreifen, daß ich dich nicht liebe und mich für deinen Körper als Gegenstand der Lust nicht interessiere, obwohl ich keinen Groll gegen dich hege. Außerdem ist es für eine aristokratische weiße Frau sowieso ungehörig, auf diesem Gebiet Genuß zu finden. Es ist ein Kompliment für deine Familie, daß ich mir mein Vergnügen anderswo suche. Von jetzt an werde ich dich einmal im Monat in deinem Schlafzimmer aufsuchen, und ich möchte dich ersuchen, keinerlei Gefühle mit dem Zeugungsakt zu verbinden…» Es war der Wunsch meines Mannes, daß ich ihm Söhne gebären sollte, die den illustren Namen de la Roca fortsetzten, der, wie er mich informierte, zu den ehrenwertesten in ganz Spanien zählte. Er sagte, der Stammbaum seiner Familie reiche weit genug zurück, um den Mitgliedern zu gestatten, ihrem König mit bedecktem Haupt entgegenzutreten. Abgesehen von meinen einfachen Fortpflanzungspflichten könne ich tun und lassen, was ich wolle, solange ich ein Benehmen an den Tag legte, das der Ehefrau eines spanischen Granden geziemte. Ich dürfe mir weder in der Öffentlichkeit noch privat Vertraulichkeiten mit den Dienern gestatten; ich dürfe keine Freundschaften mit Mitgliedern des anderen Geschlechts pflegen; meine Tugend müsse makellos sein, untadelig. Er werde all diese Dinge nur ein einziges Mal erwähnen. Die Ehre seiner Familie, die ihm so kostbar sei wie Blut oder Luft, hinge von meiner strikten Einhaltung der gesellschaftlichen Regeln ab. Dann empfahl er sich, so höflich man es sich nur wünschen konnte, und kehrte erst zurück, als mein kleines Mädchen drei Monate alt und ich bereit war, aufs neue vergewaltigt zu werden. Ehre! Tugend! Es dauert nicht lange, bis ein wohlbehütetes Mädchen die Natur des Bösen in der Welt 411
begreift. Zyniker sagen, das Böse sei banal und bestehe meistens im Unterlassen irgendwelcher Dinge, so wie bei Pontius Pilatus, der Christus den Juden auslieferte. Ich behaupte, das Böse ist eine aktive Kraft, deren Hauptbestandteil ein unerschütterlicher Glaube an den eigenen Wert und an die eigene Einzigartigkeit ist. Denken Sie nur an Satan, der mit seinen düsteren Engeln aus dem Himmel verstoßen wurde. Was war seine Sünde? Stolz. Daß mein Mann, Don André de la Roca, ein gefühlloses und hochmütiges Monster ist, ist in New Orleans stadtbekannt. Zweifellos haben Sie von den vielen Grausamkeiten gehört, die sich mit seinem Namen verbinden. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß alles, was Sie gehört haben, der Wahrheit entspricht. Lassen Sie mich ein Beispiel nennen. Viele Jahre vor meiner Geburt und vor dem Sklavenaufstand in seiner Heimat St. Domingue war Don André ein sehr reicher junger Mann und besaß dort große Ländereien. Aber er hat die Sklaven auf seinem Besitz so mißhandelt, daß sie eines Tages verzweifelt genug waren, um einen der Aufseher zu entführen. Sie töteten den Mann nicht, sondern verlangten von ihm lediglich, Don André ein paar einfache Bitten zu überbringen. Sie baten um mehr Essen, um für die harte Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern besser bei Kräften zu sein, und sie baten um die Erlaubnis, am Sonntag für eine kurze Zeit von ihren Fußketten befreit zu werden, wie es auf den umliegenden Ländereien Sitte war. Mein Mann antwortete auf diese einfachen Bitten, indem er die Sklaven, die den Aufseher entführt hatten, zu Tode peitschen ließ. Dann, um für die übrigen ein Exempel zu 412
statuieren, wählte er aus den Reihen der Feldarbeiter zehn Männer willkürlich aus und kreuzigte sie entlang der Straße, die zu seinem Besitz führte. Die Esplanade, heutzutage die vornehme Straße der Kreolen in New Orleans, war in jenen ersten Tagen meines Aufenthalts dort nichts als ein sumpfiger Pfad am Stadtrand. Ich war eine derjenigen, die der großen Allee zu ihrem Ruf als eleganter Wohngegend verhalfen. Wie Sie sich vielleicht denken können, wurde ich - ganz allein auf mich gestellt in einer Stadt, die so zügellos und vergnügungssüchtig ist wie die unsere - schon bald tonangebend, bekannt für meine Abendunterhaltungen und meinen extravaganten Lebensstil. Die Bedingungen des Ehekontraktes statteten mich mit einem beträchtlichen privaten Einkommen aus, zu dem die Erträge einiger Besitztümer gehörten, einschließlich der Stadt Cœur de France, die auf einem Stück Land gebaut war, das meiner Familie gehörte. Mein Mann stand zu seinem Wort und ließ mich mein Leben leben, solange kein Skandal mit meinem Namen in Verbindung gebracht wurde. Wie angekündigt, suchte er einmal im Monat mein Schlafzimmer auf und verschwand dann wieder durch die Hintertür, als hätte er etwas Schändliches getan. Schon bald fand ich heraus, daß seine Interessen den dunkleren Vierteln der Stadt galten - ich meine, einem ganz bestimmten kleinen, aber gut eingerichteten Haus in der Nähe der Stadtmauern. Wie viele adlige Gentlemen - und ich benutze diesen Ausdruck mit Verachtung - hielt mein Mann sich eine Mätresse, und zwar eine Quadroon, das heißt eine Viertelnegerin. Er hatte mehrere Kinder mit der Frau, die ich ein oder zwei Mal in der Stadt zu sehen bekommen 413
habe. Sie war ein gewöhnlich aussehendes Geschöpf mit einer Vorliebe für grellgelbe Seidenkleider, und in ihren Haaren steckten immer Federn und bunte Perlen. Don André hatte sie auf einem der Bälle in dem einschlägigen Haus auf der Chartres Street kennengelernt, wo die hübschen hellhäutigen Quadroon-Mädchen sich wer weiß wie bemalen, um die Aufmerksamkeit wohlhabender weißer Männer zu erregen. Es ist eine abstoßende Einrichtung, die zu einem abstoßenden Doppelleben führt und am Ende nichts als Kummer für aile Beteiligten bringt, zumindest für jeden, der ein Herz hat. Und wenn es eines gibt, was ich auf der Welt nicht ertragen kann, dann ist es ein Leben voller Lügen. Sei ein Schurke, wenn du willst, aber sei zumindest ein ehrlicher Schurke. Sie heben die Augenbrauen, Monsieur; ich mag eine Hure sein, aber trotzdem kenne ich den Unterschied zwischen richtig und falsch. Es stimmt, viele Männer versuchten mich nach meiner Hochzeit zu ihrer Geliebten zu machen, und es ist nicht so ungewöhnlich, sich in New Orleans einen Liebhaber zu nehmen, aber ich habe alle abgewiesen. Irgend etwas, ein perverses Gefühl von Ehre, ließ mich von allen Angeboten solcher Zuneigung Abstand nehmen. Aus einem perversen Sinn von Stolz heraus wollte ich meinem Mann und meinem Vater zeigen, was für eine ehrenwerte Frau ich doch sein konnte. Auf diese Weise blieb mein Herz einsam und leer - bis zu meinem dreiundzwanzigsten Lebensjahr. Oft schleppt sich unser Leben einfach nur so dahin, jeder Tag wie der vorherige. Dann, in einem einzigen Augenblick, ändert sich alles. So wares jedenfalls bei mir. Im August, einen Monat vor meinem vierundzwanzigsten 414
Geburtstag, erhielt ich die Nachricht, daß Papa bei einem Jagdunfall im Bayou in der Nähe von Belle Azur zu Tode gekommen war. Die Sklaven trugen ihn auf einer Bahre aus Zuckerrohr und Rietgras von den Sümpfen zum Haus hinauf, und auf der Plantage wurden viele Tränen vergossen. Er war seinen Sklaven immer ein gerechter Herr gewesen, hatte sich nie unnötig grausam und auch nicht als Freund der Peitsche gezeigt. Und obwohl ich es da noch nicht wußte, änderte dieses Ereignis alles für mich; ich wurde aus meinem Stolz und meiner Apathie herausgerissen und in ein neues Leben hineingestoßen. Der Sitte entsprechend reisten Don André und ich in einer schwarz verhängten Barkasse flußabwärts zum Begräbnis. Ich sah zu, wie Papa in der Krypta neben meiner verstorbenen Mutter beigesetzt wurde, und vergoß ein paar Tränen um die Welt, die hätte sein können, und um meinen Papa, der trotz seiner übereilten Urteile kein schlechter Mensch gewesen war. Am nächsten Morgen ließ ich einen Tisch und ein paar Stühle auf die obere Galerie bringen, und die Trauergesellschaft versammelte sich dort zur Verlesung des Testaments. Außer mir anwesend waren der Anwalt, Monsieur Levallier, mein Mann, verschiedene Verwandte und schließlich meine Cousine Albane d’Aurevilley. Sie war jetzt ein dünnes Mädchen von neunzehn Jahren und, wie ich bemerkte, nicht ohne eine gewisse farblose und kurzlebige Schönheit. Ihr feines, strohfarbenes Haar betonte ihre seltsamen blauen Augen. Ihr größter Vorzug aber war die Blässe ihrer Haut. Unter der durchscheinenden Porzellanoberfläche ihres Gesichtes konnte man selbst aus einiger Entfernung das sanfte Geäst der Adern sehen. Ich hatte Albane seit dem Vorfall mit der Pferdepeitsche vor beinahe acht Jahren nicht mehr gesehen, und während 415
der Testamentsverlesung beobachtete ich sie hinter vorgehaltenem Fächer. Sie trug schwarz wie bei unserer ersten Begegnung und saß mit geradem Rücken da, die Augen niedergeschlagen, und ihre bleichen Lippen zitterten. Denn aus den Einzelheiten des Testaments wurde ersichtlich, daß die Gefühle meines Papas ihr gegenüber sich während der Jahre meiner Abwesenheit abgekühlt hatten. Statt der Hälfte seines Besitzes hinterließ er ihr nur eine bescheidene Summe als Mitgift und ein paar Morgen Land, die an die Lagune angrenzten, wo er seine Fischerhütte und das Sommerhaus stehen hatte. Aber nicht einmal über diese kleinen Vermächtnisse konnte sie frei verfügen. Er bat darum, daß ich zunächst meine Cousine als Mündel akzeptierte und dafür sorgte, daß sie ordentlich verheiratet wurde. Erst dann würden die Bedingungen des Testaments rechtskräftig. Später empfing ich Albane in Papas Bibliothek. Geduldig saß ich auf Papas Stuhl, während sie auf die Knie fiel, wohleinstudierte Tränen vergoß, mich um Verzeihung für vergangene Kränkungen bat und sich meiner Fürsorge anempfahl. «Wenn es irgendwelche Mißstimmigkeiten zwischen uns gibt», flehte sie mich an, «laß sie uns zu diesem traurigen Zeitpunkt vergessen. Laß uns als Schwestern zusammenkommen, in Erinnerung an den Mann, der uns beide so sehr geliebt hat.» Dann bückte sie sich, nahm meinen Fuß und legte ihn in ihren Nacken. Das war eine Geste, wie sie einer Maria Magdalena würdig gewesen wäre! Gegen besseres Wissen ließ ich mich von ihrer hübschen Rede und ihrer biblischen Geste rühren. Ich nahm sie in die Arme, sagte ihr, die Vergangenheit sei wahrhaftig vergessen, und wir wären nun Freundinnen. Ich würde die Wünsche meines Vaters ehren. Am Ende einer geziemenden Trauerzeit würden wir dafür sorgen, daß sie einen Bräutigam fand. 416
Im folgenden September zog ich hinunter nach Belle Azur, während mein Mann mit seiner Mätresse in New Orleans blieb. Und ich stürzte mich mit einigem Eifer in die notwendigen Arrangements. Die vielen Räume des alten Hauses wurden geöffnet und neu möbliert. Ich ließ sogar das französische Kamingitter in der Eingangshalle neu vergolden, auf dem das Wappen der Familie Prasères prangt. Dann plante ich eine ausgiebige Saison von Unterhaltungen, deren Höhepunkt ein großer Ball direkt vor Weihnachten sein sollte. Ich nahm Kontakt zu meinen Freunden in New Orleans auf und kündigte an, daß ich meine Cousine Albane d’Aurevilley in die Gesellschaft einführen würde. Außerdem ließ ich so diskret wie nur möglich durchsickern, daß die Mitgift und die Besitztümer des armen Mädchens im Falle einer passenden Heirat aus meiner eigenen Tasche reichliche Ergänzung finden würden. Die Feste, die ich gab, wurden in den beiden Zeitungen von New Orleans angekündigt, sowohl im L’Abeille wie auch in der Louisiana Gazette. Meine Bälle erregten großes Aufsehen, und mein Mann sah sich zu seinem Unwillen gezwungen, New Orleans zu verlassen und für eine Zeit nach Belle Azur zu kommen. Er stand mit seinem pompösen spanischen Gehabe wie ein Feldherr neben mir in der Uniform eines Königs, der keine Macht mehr in seiner Provinz hatte, und ließ sich für ein oder zwei altmodische Gavotten sogar dazu herab, sich unter die Tänzer zu mischen. Jede Feier dauerte eine ganze Woche und bot verschiedene Vergnügungen, zu denen auch ein Karnevalsmaskenball gehörte und eine Art historischer Tragödie aus der Feder des jungen Dramatikers Victor Hugo, die vor kurzem an der Comedie Française in Paris aufgeführt worden war. Die Junggesellen kamen von weit 417
her angereist, aus so fernen Städten wie Mobile und Natchez. Alle Schlafzimmer des großen Hauses waren besetzt, und manchmal schlief ein halbes Dutzend Leute in einem Zimmer, während andere in Hängematten auf den Galerien nächtigten. Ich gab ein Vermögen aus, das zum großen Teil vom Bankkonto meines Mannes in New Orleans stammte. Musiker und Schauspieler und zusätzliche Köche wohnten in Zelten im Garten. Wir ließen Madame Lecoute, die Friseuse aus der Royal Street, kommen, um Albanes Haar zu richten, und die Ballkleider des Mädchens wurden bei Mademoiselle Annabelle Loury bestellt, der bekannten Modistin, die Verbindung hatte zu den elegantesten Schneiderinnen des europäischen Kontinents. Trotzdem blieb die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte, schwierig. Albane war weder von Natur aus geistreich noch besonders geschickt, wenn es darum ging, Konversation zu machen. Ihre bleichen Reize fanden nur bei einem ganz bestimmten Männertyp Gefallen, den sie verständlicherweise als schwächlich verachtete. Sie bekam vier Heiratsanträge von Junggesellen dieses weibischen Typs, alles Männer, die über respektable Mittel verfügten, aber dennoch fand sie an jedem von ihnen etwas auszusetzen: Sie waren zu dick oder zu mager, hatten pockennarbige Gesichter oder verloren ihr Haar, oder sie sprachen mit ärgerlichem Lispeln oder überhaupt nicht. Traurigerweise wollten die jungen Männer, die sie wegen ihrer körperlichen Vorzüge bewunderte, nichts mit ihr zu tun haben. Albane wirkte trübsinnig, und wenn sie einen mit ihren seltsamen blauen Augen ansah, lief es einem kalt über den Rücken. Man mußte an Priester denken und an Leichentücher und ähnlich unangenehme Dinge, nicht an die Freuden des Ehebettes. Irgend etwas stimmte nicht mit diesem Mädchen; vielleicht hatte sie immer noch den gris-gris, wie die Haussklaven früher 418
behauptet hatten. Esteban de Vasconcellos kam kurz vor Weihnachten zum letzten und größten Fest der Saison nach Belle Azur. Er kam in der Abenddämmerung - allein, ohne Kammerdiener oder Burschen, und mit der Postkutsche aus New Orleans. Bei sich trug er nur einen kleinen Koffer und ein Empfehlungsschreiben meines Mannes, der - so sagte er - aus geschäftlichen Gründen in der Stadt bleiben müsse. Die meisten Gäste waren schon am vorhergehenden Samstag angekommen, und das Haus war voll. Esteban war ein nicht vorhergesehener Zuwachs der Gesellschaft. Der Boden war jetzt morgens gefroren, und es war zu kalt, um auf den Galerien oder in einem Zelt im Garten zu schlafen. In letzter Minute fand Zetie einen Platz für ihn unter den Dachsparren im rückwärtigen Teil der oberen Galerie, der eigentlich für die Haussklaven reserviert ist, eine Ironie, die mir später nicht entgehen sollte. Aber Esteban beklagte sich nicht. An diesem Abend kam er vor dem Dinner zu mir in den Salon, stellte sich vor und beugte sich nach europäischer Manier über meine Hand. Er bedankte sich für meine Gastfreundschaft und machte mir Komplimente wegen des weiten Blickes über den Fluß, den man von dem kleinen Fenster in seinem Zimmer habe. «Es ist wirklich schade», sagte er, «daß ein solcher Anblick an Sklaven verschwendet wird.» Ich war bezaubert. Seine Hand war weich, aber nicht schlaff, so wie man sich die Hand eines Geigers oder Chirurgen vorstellt. Er war etwa so alt wie ich, und seine Haut war von einem dunklen Oliv. Seine Koteletten waren lang und dick, ein wunderbarer Rahmen für sein Gesicht, wie bei den Holzschnitten von Chateaubriand, die ich in einem von 419
Papas Büchern gesehen hatte. Sein Haar schien eine einzige schwarze Locke zu sein, und seine Augen waren von einem durchscheinenden Grün. Er war einfach schön. Später schien mir diese körperliche Schönheit vor seinen Geistesgaben zu verblassen. Denn er sprach fünf Sprachen, spielte Gitarre und Mandoline, konnte wunderbar singen und über Molière und Mathematik mit derselben Leichtigkeit diskutieren wie über die jüngsten Fortschritte bei der Raffinerie von Rohrzucker. Die Herzen der Frauen flogen ihm zu; die Männer begegneten ihm mit Argwohn, denn der Vergleich fiel nicht zu ihren Gunsten aus. Sie werden sicher mit mir übereinstimmen, daß die jungen Männer von heute seicht und oberflächlich sind, nur Interesse an Pferden, Glücksspielen und Liebesaffären haben. Nicht so Esteban. Seine Seele war voller Tiefe, und er besaß eine unleugbare Inbrunst für die Dinge, an die er glaubte. Er war aus New Orleans gebürtig, entstammte einer Familie, die ursprünglich aus St. Domingue kam, war aber in Madrid und Paris erzogen worden. Für alle Anwesenden stand fest, daß wir es mit einem wahren Gentleman zu tun hatten, obwohl niemand sagen konnte, ob er in Gesellschaft schon einmal von seiner Familie gehört hatte. Albane selbst, die bisher in Gegenwart junger Männer, die sie interessant fand, schweigsam und verschlossen gewesen war, verstrickte Esteban beinahe augenblicklich in ein Gespräch und fand irgendwie eine Möglichkeit, beim Dinner an jenem ersten Abend neben ihm zu sitzen. Er verhalf selbst unattraktiven Frauen dazu, sich in seiner Gegenwart sicher zu fühlen. Er war ein amüsanter Gesellschafter, der gern scherzte, dessen Bemerkungen, wiewohl witzig und geistreich, jedoch nie zu scharf waren. Albane errötete beinahe bei allem, was er sagte, und schien in seiner Gegenwart von Gefühlen geradezu 420
überwältigt zu werden. Aber für mich war dieses Dinner eine Qual. Ich war von einem seltsamen, schwindelerregenden Strudel erfaßt worden, und wann immer ich in Albanes Richtung blickte, die sich mit Esteban unterhielt, verspürte ich einen kleinen Stich in der Herzgegend. Schon früh an diesem Abend entschuldigte ich mich bei den anderen und ließ Albane und Esteban, die am Piano ein Duett sangen, allein, um mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Dort las ich noch einmal den vage formulierten Brief, mit dem mein Mann Esteban ausgestattet hatte. «Dies ist ein Empfehlungsschreiben für Don Esteban Ramón de Vasconcellos», schrieb er, «den Sohn eines Jugendfreundes von St. Domingue. Signor de Vasconcellos ist sehr gebildet und mit einer der ältesten Familien Spaniens verwandt, verfügt jedoch leider nur über ein bescheidenes Vermögen. Ich empfehle ihn dir als passende Verbindung für dein Mündel Albane und bitte dich, dafür zu sorgen, daß sie häufig zusammenkommen. Don André de la Roca.» Ohne zu wissen warum, war mir der Gedanke an eine Hochzeit zutiefst zuwider. Dieser schöne und vornehme junge Mann verschwendet an Albane, die so ein fahles Geschöpf war! Ich warf mich auf mein Bett und weinte bitterlich. Dann, am Morgen, weckte mich der Klang von Gelächter auf der Galerie, und als ich mein Gesicht im Spiegel sah, wußte ich, daß ich mich in Esteban verliebt hatte. Es war so, als falle man einer schrecklichen Krankheit zum Opfer. Zuerst konnte ich kaum atmen. Dann lockerte ich mein Korsett und übergab mich in mein Wasserbecken. Mein Herz - unberührt seit dem Tod meiner Mutter, einer Frau, an die ich mich nicht einmal erinnern konnte - füllte sich jetzt mit Wildheit und Feuer. 421
Dennoch, mein Sinn für Ehre und Familienstolz stärkte meine Entschlossenheit, diesen neuen, schmerzlichen Gefühlen zu widerstehen. Während der folgenden Tage erfüllte ich den Wunsch meines Mannes und sorgte dafür, daß Esteban und Albane ständig zusammenwaren. Ich litt. Mein Leiden war etwas Erhabenes, das einzige, das mir mein leeres Leben erträglich machte. Dann, am Ende der dritten Woche seines Aufenthalts bei uns, suchte Albane mich auf, um mich von dem Offensichtlichen in Kenntnis zu setzen. Sie hatte sich zutiefst in Esteban verliebt. «Ich liebe diesen Mann mehr, als ich Gott liebe oder mein eigenes Seelenheil», sagte sie. «Er hat meine Zuneigung eifrig erwidert, wenn auch noch nicht mit gleicher Begeisterung, aber die wird gewiß noch kommen, wenn wir mehr Zeit miteinander verbringen. Und dein Einverständnis vorausgesetzt, liebe Cousine, hoffen wir, im Frühling heiraten zu können.» Ich schwieg zu dieser Enthüllung, als dächte ich aufmerksam darüber nach. Das Mädchen zitterte eindeutig vor Angst bei dem Gedanken, ich könne ihr meine Erlaubnis verweigern. Als ich schließlich zustimmte, schlang sie mir die Arme um den Hals und drückte mich gefühlvoll an sich. «Du warst so freundlich zu mir», sagte sie. «Du bist nun schließlich doch noch die Schwester für mich geworden, die ich nie gehabt habe.» Dann bedeckte sie meine Wangen und Hände mit Küssen und lachte und weinte vor Freude. Aber jeder Kuß, jede Träne machte mein Herz hart gegen sie. Warum sollte dieses elende Waisenkind, das mir schon meinen Vater gestohlen hatte, mir jetzt auch noch den einzigen Mann stehlen, den ich jemals lieben würde? 422
Der Gedanke an ihr Glück, das so unverdient war, schien mir schrecklicher zu sein als der Tod selbst. Ich bekenne mich zu dieser Grausamkeit und diesem Egoismus und kann mich nur entschuldigen, indem ich sage, daß meinem Herzen die Liebe allzu lange verweigert worden war. Etwas später am selben Abend zog ich mein verführerischstes Kleid an, tupfte mir einen Hauch Verbene hinter die Ohren und zwischen die Brüste und ging zu Esteban. Ich wußte nicht, was ich tun würde, bis ich ihn auf der Galerie sah, wo er vor der Tür seines neuen Zimmers im ersten Stock eine letzte Zigarette rauchte. Die meisten anderen Gäste waren kurz nach Weihnachten abgefahren. Nur Esteban und einige wenige andere hatten zugestimmt, bis Neujahr zu bleiben. Er war ein wenig erschrocken, mich zu einer solchen Stunde zu sehen, und versuchte sich zu entschuldigen, daß er sich schon zum Schlafengehen bereit gemacht habe und seinen Morgenmantel trage. Aber ich legte meine Hand auf seinen Arm und wollte ihn nicht gehen lassen. Ich fragte ihn, ob er mein Mündel Albane liebe. Er lächelte und zuckte ergeben mit den Schultern, als füge er sich in ein Schicksal. «Mir ist durch mein Mündel ein Heiratsantrag übermittelt worden», fuhr ich fort. «Aber es gehört doch eigentlich zum guten Ton, in solchen Angelegenheiten zuerst mit dem Vormund zu sprechen. Ich bin Albanes Vormund, und ich habe bisher nichts von Ihnen gehört bezüglich Ihrer Absichten.» Esteban entschuldigte sich; die ganze Sache sei ein wenig übereilt geschehen. Und er gab mir zu verstehen, daß er mir am Morgen seine Aufwartung machen wolle, um, wie es sich gehöre, um Albanes Hand anzuhalten. «Ich bin durchaus bereit, mir Ihr Anliegen hier und jetzt 423
anzuhören», sagte ich. «Und falls es zu einem Antrag kommt, werde ich der Mitgift meines Mündels noch zusätzliche zehntausend Yankie-Dollar in Gold hinzufügen.» Dann trat ich einen Schritt zurück, um den Ausdruck auf seinem hübschen Gesicht in dem dämmerigen Mondlicht sehen zu können. Wenn er überrascht war, so zeigte er es nicht. Er brachte mit einem kleinen Nicken seinen Dank zum Ausdruck, als sei er auf einen solchen Akt der Großzügigkeit bereits vorbereitet gewesen. Ich wartete eine ganze Minute, aber er sagte kein Wort. Es war nichts zu hören als das klagende Plätschern der Raddampfer vom Fluß, der Ruf der Seetaucher vom Bayou und das schnelle Geräusch meines eigenen Atems. Dann griff ich abermals nach seinem Arm, und diesmal war meine Hand eine Klaue. «Ich hielt Sie für einen Gentleman», zischte ich, «und nahm an, Ihre Zuneigung sei zu kostbar, um für eine so schäbige Summe wie zehntausend Dollar verkauft zu werden. Sie haben sich in dieser Angelegenheit als ein ganz mieser Mitgiftjäger erwiesen, der die Zuneigung eines armen Mädchens zu Gold macht. Aber wenn Sie es wagen, in dieser niederträchtigen Weise fortzufahren, Monsieur, werde ich Ihnen in Ihrer Hochzeitsnacht mit eigenen Händen die Kehle aufschlitzen.» Ich gab ihm keine Zeit, sich gegen meine heftige Anschuldigung zu wehren. Statt dessen beugte ich mich vor, preßte mich mit meinem Körper an ihn und küßte ihn mit solchem Verlangen und solcher Leidenschaft auf den Mund, daß wir sofort ins Schlafzimmer gingen und uns aufs Bett legten. Nachdem wir uns einander einmal geschenkt hatten, schlossen wir die Fensterläden vor der Nacht und blieben als Mann und Frau im Bett. Während dieser dunklen Stunden wiederholte Esteban wieder und wieder jenen Akt, der für mich bis dahin unter dem 424
massigen Leib meines Ehemannes ohne Bedeutung oder Vergnügen gewesen war. Wollen wir es dabei bewenden lassen zu sagen, daß ich Esteban mit meinem Herzen und meinem Körper liebte und daß meine Liebe erwidert wurde. Als es dämmerte und ich noch einmal seine Liebe erfahren hatte, bedeckte ich meine Blöße mit Estebans Morgenmantel und ging hinunter in Albanes Zimmer. Sie schlief noch und träumte vielleicht von den Wonnen des Ehelebens; auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck von Frieden und Glück, wie ich ihn dort noch nie gesehen hatte. Ich wartete still an ihrem Bett, bis sie, aufgeschreckt durch meine Gegenwart, jäh erwachte. Da teilte ich ihr mit, daß ich meine Zustimmung vom Vorabend noch einmal überdacht hätte. «Als dein Vormund», sagte ich, «muß ich dir eine Ehe mit einem so mittellosen Mann wie Esteban de Vasconcellos verbieten. Du solltest statt dessen besser einen der anderen, reicheren Bewerber akzeptieren.» Die arme Albane wurde bei meinen Worten sehr blaß. Sie weinte nicht und gab keinen Laut von sich. Dann nahm sie meinen aufgelösten Zustand wahr sowie den Männermorgenrock, den ich trug. Und mit leiser, gepreßter Stimme sagte sie: «Ich weiß, was du getan hast. Du tust mir das an, weil ich einst als Waise in dein Haus kam. Ich stand allein auf der Welt und bat um Liebe, und dein Vater hat sie mir gegeben. Das hast du mir nie verziehen. Deine Seele ist schwarz. Du wirst für deine Sünden in der Dunkelheit ewiger Nacht bezahlen.» Dann wandte sie sich von mir ab und drückte ihr Gesicht ins Kissen. Ein kurzes Frösteln überlief mich, und ich mußte wieder an das gris-gris denken, aber ich verließ das Zimmer und traf unverzüglich Vorkehrungen, um zusammen mit 425
Esteban von Belle Azur wegzukommen. Ich schickte die letzten Gäste fort, bei denen ich mich damit entschuldigte, daß ich auf einem Familienbesitz in St. Francisville nach dem Rechten sehen müsse. Esteban sagte mir vor den Haussklaven Lebewohl, stieg in die Postkutsche nach New Orleans, ließ sich dann jedoch wenige Meilen flußaufwärts wieder absetzen. Und an jenem Abend trafen wir uns zur Dämmerstunde in Papas alter Jagdhütte im Bayou, einem primitiven, verschachtelten Bau aus Zypressenholz mit Blick über die Lagune der Prasères. Verborgen vor der äußeren Welt, im Herzen des Urwalds, wo uns nur die wilden Vögel Gesellschaft leisteten, lebten wir zwei Monate lang wie Mann und Frau zusammen und vollzogen den ehelichen Akt geschlagene sechs oder sieben Mal am Tag. Er jagte und fischte. Ich tauschte kleine Schmuckstücke aus meinem Besitz bei den Einwohnern von Cœur de France gegen Maismehl, Sirup und Eier ein. Wir waren wie Adam und Eva vor dem Sündenfall, umgeben von den großzügigen Gaben des Gartens, einander vermählt vor den Augen Gottes. Aber unser Arrangement war blind, unbeholfen. Wir hätten sofort in irgendein anderes Land fliehen sollen, nach Kuba oder Venezuela. In unseren Herzen wußten wir, daß das Unglück jederzeit über uns kommen konnte. Aber unsere Hingabe füreinander war zu groß, als daß wir an solche Dinge hätten denken können. Stolz, Gewissen, Vorsicht all das haben wir über Bord geworfen um unserer urgewaltigen Liebe willen. Der Himmel brannte klar und blau an jenem Nachmittag, als sie uns fanden. Ich stand bis zur Taille in der Lagune und wusch wie eine gute Hausfrau unsere Kleider mit einem Klumpen Seife. Esteban lag schlafend in der Hängematte, die zwischen zwei Balken auf der Veranda 426
befestigt war, eins von Papas Büchern offen auf seinem Bauch - Montesquieus Esprit des Lois. Ich hatte meinen entzückenden Geliebten die halbe Nacht mit meinen Wünschen wachgehalten, wie ich es übrigens jede Nacht tat, und er gönnte sich eine wohlverdiente Siesta. Da hörte ich ein Krachen durch den Bayou und das Bellen von Hunden, die Rufe von Männern. Ich ließ die Kleider im Wasser zurück und rannte durchs Unterholz den Hang hinauf, zur Hütte hinüber, in meinen Ohren das Rauschen meines eigenen Blutes. Die Jagdgesellschaft bestand aus sechs Männern: meinem Ehemann, drei riesigen Negern von den Feldern und zwei weißen Männern, die ich nicht kannte. Ein Dutzend Bluthunde knurrten und sprangen nervös im Garten herum, die Schwänze gesenkt, wie Hunde es zu tun pflegen, wenn sie wissen, daß etwas in der Luft liegt. Esteban kniete zitternd vor Don André. Ich war zu weit weg, um zu verstehen, was er sagte. Mein Mann machte eine ungeduldige Geste, und ich sah voller Entsetzen zu, wie einer der Neger Esteban in einer Sekunde seine Pranken um den Hals legte und ihm in der nächsten Sekunde das Rückgrat brach, wie ein Kind einen Zweig vom Baum brechen würde. Ich hörte das widerwärtige krachende Geräusch und sah die Augen meines Liebsten aus den Höhlen treten und dunkel werden. Ich begann zu schreien und schrie, bis ich ohnmächtig zu Boden stürzte. Einige Augenblicke später, wiederbelebt durch einen Schluck Brandy, fand ich mich auf der Veranda der Jagdhütte wieder, und meine Arme wurden mir von einem der großen Neger hinterm Rücken festgehalten. Don André musterte mich mit ausdrucksloser Miene. Als er feststellte, daß ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, nickte er dem Neger, der Esteban getötet hatte, sanft zu. Dieser holte daraufhin ein schweres gebogenes Messer 427
hervor, schnitt Estebans Körper bis zur Mitte hin auf, so wie man ein Kalb aufschneidet, das man rösten will, und griff hinein. Eine Sekunde später zog er etwas heraus, ein tropfendes rotes Organ, das, wie ich sehen konnte, das Herz meines Liebsten war. Und das war der Augenblick, in dem ich ihn bat, mich zu töten, damit ich meinem geliebten Esteban folgen konnte. Aber mein Mann sah mich nur mit einem müden Lächeln an, das um so entsetzlicher war, wenn man die Umstände bedachte. «Du bist meine Frau», sagte er, «und du wirst meine Frau bleiben. Das ist die viel raffiniertere Folter.» Dann befahl er dem Neger, Estebans Herz den Hunden vorzuwerfen, damit sie es vor meinen Augen verschlingen konnten. Daraufhin flehte ich ihn auf mitleiderregendste Weise an, mir zu gestatten, das Herz selbst zu essen. Wenn ich sein Herz essen könnte, dachte ich, könnte ich Estebans Liebe für immer in mir bewahren. Selbst Don André war von diesem Ansinnen überrascht und zögerte einen Augenblick. «Wenn du den verräterischen Bastard so sehr geliebt hast», sagte er schließlich, «dann kämpfe mit den Hunden um ihn.» Der Neger warf Estebans Herz den Hunden vor, die anderen ließen mich los, und ich kämpfte mit den Hunden um das Herz. Aber diese Tiere haben scharfe Zähne; ich habe mir viele Bisse und Kratzer eingefangen, und es ist mir nur gelungen, einen einzigen Bissen von dem Herzen meines Liebsten zu bekommen, noch immer körperwarm. Es schmeckte nach seiner Liebe, nach Salz und Leben, wie die Flüssigkeit seines Samens. Aber einer der Hunde entriß das kostbare Organ meinem Griff und trottete in den Wald hinüber, um sich fern der anderen darüber herzumachen, während ich, überwältigt von den Qualen meines Martyriums, das Bewußtsein verlor. 428
Ich lag viele Tage lang krank danieder, gefangen in einem Fieber zwischen sinnlichen Träumen von meinem toten Geliebten und grauenvollen Visionen von geronnenem Blut und zerfetzten Organen. Als ich aus diesem Wahnsinn erwachte, stand Don André mit gefalteten Händen an meinem Bett. Neben ihm meine Cousine Albane in Trauerkleidung, die ihr immer so gut zu stehen schien. Sie sah bleicher als gewöhnlich aus, und ihre dunkelumrandeten Augen waren auf den Boden geheftet. Hilflos und schwach, wie ich war, verfluchte ich meinen Mann und setzte ihn davon in Kenntnis, daß ich Anwälte engagieren würde, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. «Es sei denn, du tötest mich jetzt, solange du noch dazu fähig bist», sagte ich. «Andernfalls werde ich dafür sorgen, daß du verhaftet und in Eisen vor Gericht gezerrt wirst, wo man dich für den Mord an meinem Geliebten Esteban verurteilen wird.» Er hörte sich meine Drohungen geduldig an, und ich konnte an seinem Gesicht sehen, daß seine Rache noch nicht vollständig war. Schließlich informierte er mich mit kaltem Lächeln, daß der Viertelsklave namens Esteban de Vasconcellos vollkommen legal beseitigt worden sei, und zwar in Anwesenheit des Sheriffs von Plaquemines und seines offiziellen Stellvertreters. Das Verbrechen, das ihm vorgeworfen wurde, war die Vergewaltigung einer weißen Frau. Wie jeder weiß, ist die Strafe für dieses Verbrechen der Tod. Ich sah von Albanes weißem Gesicht zu den schwarzen Augen meines Mannes hinüber, den Augen eines gefühllosen Tieres, das versehentlich mit Verstand ausgestattet worden war. Und ich sah, daß seine Behauptung der Wahrheit entsprach. Dann fuhr er fort, mir zu berichten, daß der Viertelsklave namens Esteban de 429
Vasconcellos überdies sein eigener Sohn war, geboren auf St. Domingue, Sproß einer jugendlichen Verbindung mit einer Mulattensklavin. «Ja, der Junge sah aus wie ein Weißer und besaß eine gute Auffassungsgabe», sagte er, «aber er war trotzdem ein Neger und ein Sklave nach den Gesetzen der Vereinigten Staaten und somit den Gesetzen des Code Noire unterworfen. Vor langer Zeit habe ich seiner Mutter versprochen, den Jungen nach Europa zu schicken, wo er eine ordentliche Ausbildung bekommen sollte. Das war ein schrecklicher Fehler, wie mir erst jetzt klargeworden ist. Es ist immer ein Fehler, einen Neger über seinen Stand hinaus zu bilden. Nun, dafür trage ich die Verantwortung. Alles andere ist die Schuld deiner niedrigen Hurengelüste. Hättest du dieser Ehe zwischen deinem Mündel und meinem Sohn zugestimmt, hätte niemand davon erfahren. Der Sklave Esteban wagte es, die Frau seines eigenen Vaters zu besudeln, und hat, indem er das tat, die kostbare Ehre der de la Roca besudelt. Und dafür hat er mit seinem Leben bezahlt.» Dann hielt Don André für eine Weile inne, damit ich diese schrecklichen Neuigkeiten in ihrer ganzen Tragweite aufnehmen konnte. Aber wenn er darauf wartete, daß ich Bedauern oder Entsetzen darüber zeigte, daß der Mann, den ich liebte, ein Neger und Sklave war, dann wartete er vergeblich. Denn in diesem Augenblick fielen alle Vorstellungen, die ich bezüglich des Unterschiedes zwischen Negern und Weißen gehabt hatte, zwischen Sklaven und Freien, von mir ab. Esteban war ein Sklave, und ich hatte ihn geliebt, und ich liebte ihn noch immer. Don André war weiß und ein Ungeheuer und ein Mörder, und ich haßte ihn aus tiefstem Herzen. Als Don André sah, daß seine Enthüllungen mir keine Reaktion entlockten, schoß er einen letzten Pfeil ab. 430
«Du solltest wissen, daß es deine eigene liebe Cousine war, die mich von deinem perfiden Ehebruch unterrichtet hat», sagte er. «Sobald sie euren Aufenthaltsort ausfindig gemacht hatte, schickte sie nach mir. Aber jetzt scheint das arme Mädchen über den Ausgang ihrer Bemühungen nicht recht glücklich zu sein. Schade. Erlaubt mir, euch beide allein zu lassen, um den Tod eines toten Negersklaven zu beklagen.» Dann verbeugte er sich mit unendlicher Verachtung und verließ das Zimmer. Nachdem er fort war, versuchte Albane, mit mir zu sprechen. Sie flehte um Vergebung und verlieh ihren Gefühlen mit großer Heftigkeit Ausdruck, aber ich kann Ihnen nicht erzählen, was sie gesagt hat. Ich wandte mein Gesicht zur Wand und hörte kein einziges Wort davon. Und endlich verfiel auch sie in Schweigen und ließ mich mit meinem Kummer allein. In den Monaten meiner Genesung saß ich, von Kissen gestützt, in einem Sessel auf der oberen Galerie von Belle Azur, sah zu, wie das Licht über dem Fluß sich veränderte, und schmiedete Pläne für meine Rache. Der Gedanke an diese Rache war das einzige, was mich davon abhielt, mir das Leben zu nehmen. Da das Gesetz meinem Mann nichts anhaben konnte, mußte ich diejenige sein, die ihm den Dolch ins Herz trieb. Ich stellte mir diese Szene immer wieder vor: Bewaffnet mit einem Messer oder einer Pistole, lauerte ich ihm in seinem Kaffeehaus an der Bourbon Street auf und machte seinem Leben mit einer einzigen blutigen Explosion ein Ende. Aber ich kam zu dem Schluß, daß ein solcher Mordanschlag nicht die richtige Rache war. Er würde kaum leiden, und in seinem Alter hatte er ohnehin keine 431
große Angst mehr vor dem Tod. Nach und nach fand ich durch die Korrespondenz mit einigen wenigen Freunden in der Stadt heraus, daß Don André einen beinahe tödlichen Anfall von Cholera erfunden hatte, um meine fortgesetzte Abwesenheit in der Gesellschaft zu erklären. Meine Affäre mit Esteban und die darauf folgenden Ereignisse waren in New Orleans nicht bekannt, da mein Mann und seine Helfershelfer alles vertuscht hatten. Dieses Detail entblößte die Schwäche meines Mannes, gab mir die Waffe in die Hand. Die Stelle, an der man ihn verwunden mußte, war sein Stolz. Ich mußte Schande bringen über seinen kostbaren Familiennamen, mußte ihn ein für allemal in den Schmutz ziehen. Und nachdem er erst ausgiebig und gründlich durch den Schmutz gezogen war, sollte ganz Louisiana von meinen Taten erfahren. Eine Affäre konnte man einer Frau vielleicht vergeben, vielleicht auch zwei, aber Tausende? Nur eine solche Demütigung war es, von der Don André sich niemals erholen würde. Das also ist der Grund, warum ich eine Hure geworden bin, die gewöhnliche Prostituierte, mit der Sie heute nacht das Bett teilen werden. Bedenken Sie, daß ich nur deshalb eine Hure bin, weil ich allein es so gewollt habe. Nicht die Not hat mich zu diesem schmutzigen Geschäft getrieben; ich bin eine Hure aus Bosheit, um an dem einzigen Menschen in ganz Louisiana Rache zu nehmen, dessen Stolz größer ist als mein eigener, an diesem Ungeheuer der Arroganz, meinem Ehemann Don André Villejo de la Roca. Es ist sein Porträt, das Sie hier sehen, sein Bild, das von der Wand über meinem Hurenbett auf uns herunterstarrt. Er hat wie ein argusäugiger Dämon über die schwitzenden Rücken zahlloser Männer gewacht. Hat Wache gehalten, während ich für sie die Beine geöffnet und ihre Lust in meinen Körper aufgenommen habe. In 432
meinen Körper, der die Waffe ist, die ich benutzen werde, um ihn im Herzen zu treffen, denn nur dort ist es möglich, ihm eine tödliche Wunde zuzufügen. Als es mir wieder gut genug ging, verließ ich irgendwann mitten in der Nacht Belle Azur und fuhr nach Norden, um an einen Ort zu gelangen, der außerhalb der Reichweite meines Mannes lag. Wie Sie wissen, ist er in Louisiana zu mächtig, als daß mir in dieser Provinz eine ungehinderte Karriere als Metze möglich wäre. Ich blieb für eine Weile in Savannah, in Charleston, in Baltimore und Philadelphia, aber in jeder Stadt bekam ich Nachricht, daß die Handlanger meines Mannes mir auf der Spur waren und Order hatten, meinem Leben ein Ende zu machen. Schließlich, vor vier Jahren, kam ich nach New York City und ging von dort über den Fluß nach Brooklyn, bis ich in diese schäbige Gegend in der Nähe des Hafens gelangte. Hier, glaube ich, bin ich ihm endgültig entkommen. Ich hängte meine Karte an die Tür, wie es bei den Huren Mode ist, und richtete mich in diesen schmutzigen Räumen häuslich ein. Bei den Seeleuten bin ich berühmt für mein Äußeres - ich sehe besser aus als die gewöhnliche Prostituierte - und für meine Bereitwilligkeit, mit jedem zu schlafen. Neger oder Weißer, Mann oder Junge, ich behandle sie alle gleich. Ich nehme sie auf in meinen Körper, in die Wunde, die meine Liebe ist. Aber Sie sind der erste Mann von zu Hause, den ich seit vielen, langen Jahren getroffen habe, einer von meinen eigenen Leuten. Das ist der Grund, warum ich Ihnen heute nacht meine Geschichte erzählt habe. Sie sind sehr geduldig mit mir gewesen, waren so freundlich zuzuhören. Außerdem sind Sie ein Gentleman und haben, glaube ich, Verständnis für mein Gelöbnis. Denn nach all meinem Leiden ist etwas ganz furchtbar schiefgegangen. Meine 433
Pläne sind durchkreuzt worden, und ich denke, Sie wissen, wer dafür verantwortlich ist. Monsieur, bitte, ich brauche Ihre Hilfe… bitte… Sie müssen mir helfen…
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S
tunden sind vergangen oder Tage. Vor den Fenstern von Molesworths Zimmer müßte eigentlich der Morgen dämmern, aber noch immer liegt dort dieselbe undurchdringliche Schwärze, noch immer dieselbe Nacht, endlos weit. Manchmal liege ich nackt und allein, blind vom Fieber, bäuchlings ausgestreckt auf meinem schmutzigen Laken, und das Digitalthermometer piept unter meiner Zunge Alarm. Manchmal bin ich mit einer Prostituierten namens Madeleine zusammen in einem seilgefederten Himmelbett, in einem Raum, der große Ähnlichkeit hat mit Molesworths Zimmer, in einem Haus, das wie mein eigenes ist, in einer Stadt, die nicht das Brooklyn von heute ist, sondern das Brooklyn einer schrecklichen, verlorenen Dunkelheit. Jetzt bittet sie mich, ihr zu helfen. Sie weint, zerrt an ihren Haaren. Ihre Klagen füllen meine Ohren; sie sind laut und haben mehr als ein Jahrhundert überdauert. Jetzt kann ich in dem schwachen Licht der Talgkerzen Tränen glitzern sehen, kann sie von ihren Wangen auf ihre nackten Brüste fallen sehen. Jetzt ist sie nackt, und auf ihrer Schulter nehme ich eine Ansammlung blauer Abdrücke wahr, die von den Zähnen eines Hundes stammen könnten. Und wenn ich mich gegen das Kopfbrett des Bettes presse, kann ich das Porträt des olivhäutigen Mannes sehen, der mit seinen grausamen schwarzen Augen auf uns herunterblickt, und ich kann den scharfen menschlichen Geruch des Bettzeugs riechen und den strengeren Duft, der zwischen ihren Beinen liegt, wenn sie auf Händen und 435
Knien auf mich zukriecht und die Strohmatratze an ihren Seilen knarrt. Sie kennt kein Ende in ihrem Flehen, das jetzt in Stößen kommt, und ihre Augen sind mit Tränen gefüllt, aber sie ist bereit für mich, denn sie ist eine Hure, und ich bin so hart wie noch nie. Schon bald spüre ich ihren Mund auf meinem, ihre Lippen feucht von Tränen, geweint in der Dunkelheit zwischen den Welten, und wenn ich die Wände meines Zimmers sehe und das Elektrizitätswerk vor dem Fenster knistern höre und das Digitalthermometer warnend piept, dann immer nur für einen kurzen Augenblick. All das ist verschwunden, wenn sie sich endlich über mich legt und wir uns zusammenfügen wie die Teile eines Puzzles. Wenn ich den Druck ihrer Brüste spüre und die vertraute Feuchtigkeit. Wenn meine Hände sich in ihrem dicken schwarzen Haar verfangen, während sie beginnt, sich auf und ab und in sanften Stößen zu bewegen. Wenn ich den traurigen, leidenschaftlichen Klang ihrer Stimme höre, die mir Beschwörungen ins Ohr murmelt. Wenn ich den Klang ihrer Stimme höre, die zu einem Wispern wird, das zu einem Echo wird, das zum Wind wird - wild zuerst, dann schwächer, schwächer -, der zu einem toten Blatt wird, das durch die tote Luft fällt, das zu einem bleichen Rauch wird, der zu einem Atemzug wird, der zu einem letzten toten Seufzer wird und dann schließlich zum Nichts. Zum Garnichts.
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TEIL VI EIN WUNDER
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I
ch höre ein leises, zischendes Geräusch und, ein wenig weiter entfernt, das Donnern von Wellen an einem Strand. Daneben nehme ich ein gelegentliches mechanisches Piepsen wahr, viel lauter als das Digitalpiepsen meines Thermometers. Man zerrt an mir, und ich fühle mich, als läge ich auf einem Nadelkissen. Meine Handgelenke sind an etwas gefesselt, das ich nicht erkennen kann, denn meine Augen sind mit einer tintenblauen Membran überzogen. Es ist so, als blicke man vom Grund eines Aquariums in ein dunkles Zimmer. Ich liege auf dem roten und gelben Kies und kann kaum die Luftblasen und die kleinen Bröckchen Fischfutter sehen, die zur Oberfläche emportreiben. Wasser füllt meine Lungen. Das allerdings scheint ganz in Ordnung zu sein; mir ist Wasser lieber als Luft. Nach einer Weile - ich kann nicht sagen, wieviel Zeit vergangen ist - bricht das Blau langsam auf, und mehr und mehr Licht dringt zu mir, und schließlich öffne ich die Augen, um eine makellos weiße Wand zu sehen, die mit einer hervorragenden, originalgroßen Reproduktion von Raffaels Madonna mit Kind geschmückt ist. Zu meiner Linken gibt ein kleines Fenster mit Aluminiumrahmen den Blick auf einen grauen und leeren Himmel voller schwerer, tiefhängender Wolken frei. Eine lange, durchsichtige Röhre führt von einer Vene in meinem Arm zu einem Plastiksack mit einer klaren Flüssigkeit, der über mir hängt. Das zischende Geräusch kommt von einem wichtig aussehenden medizinischen Apparat, der auf einem Bildschirm von der Größe eines kleinen Fernsehers eine Kurve und eine schwankende 438
Reihe von Ziffern anzeigt. Eine dicke, geriffelte Plastikröhre läuft von diesem Apparat quer über das Bett in meinen Mund und meine Kehle hinunter, was scheußlich weh tut. Meine Handgelenke sind mit gelben Krankenhausarmreifen an das Chromgitter meines Bettes befestigt. Das Zimmer ist still bis auf das Geräusch des Meeres und das quälende Zischen des Apparats. Dann höre ich eine weibliche Stimme zu meiner Rechten. Sanft und voller Harmonie vibriert sie in der Luft wie eine Stimmgabel. «Stört Sie das? Hier…» Die Röhre wird aus meiner Kehle entfernt, meine Hände werden befreit, und der Sack mit der Flüssigkeit wird vom Haken genommen. Eine Sekunde lang habe ich vergessen, wie man atmet, aber dann hole ich japsend Luft, und meine Lungen sind wieder voller Sauerstoff. «Gut so. So ist es richtig. Atmen Sie.» Ich drehe mich zu der Stimme um. Sie gehört einer jungen Nonne in den Gewändern eines mir unbekannten Ordens, himmelblau und schneeweiß. Ein goldenes Kruzifix hängt an einer schweren goldenen Kette von ihrem Hals, wie sie von den Bürgermeistern in französischen Provinzstädten getragen werden. Diese Nonne ist sehr schön, hat strahlend blaue Augen, zarte Gesichtszüge und eine Haut wie Porzellan. Unter ihrer glatten Oberfläche sieht man das zarte Netzwerk von Adern. Ich schweige. Sie hat etwas an sich, eine Helligkeit, eine Makellosigkeit, die ungeheuer verwirrend ist. Sie lächelt, und ich kann nicht umhin, ihr Lächeln zu erwidern. «Hallo», krächze ich. «Wer sind Sie?» «Sie haben eine schwere Zeit hinter sich», sagt sie. «Sie waren weit weg. Wir mußten uns ganz schön anstrengen, 439
um Sie zurückzuholen.» «Bin ich im Krankenhaus?» «Ja.» «In einem katholischen Krankenhaus?» «Ja.» «Wie bin ich hierhergekommen?» «Schhhht. Später haben Sie genügend Zeit für Fragen. Jetzt möchte ich wissen, wie Sie sich fühlen?» Ich muß einen Augenblick darüber nachdenken, um festzustellen, daß ich mich ziemlich mies fühle. Eine qualvolle Mattigkeit lahmt meinen Körper. «Nicht übermäßig gut», sage ich schließlich. Die Nonne nickt und beugt sich über mich. Ihr Atem riecht nach wilden Blumen. Eine Sekunde später spüre ich ihre kühlen Hände auf meiner Brust, unter meinem Krankenhauskittel, auf meinem Hals. «Liegen Sie ganz still», sagt sie, «und lassen Sie Ihre Gedanken ein wenig schweifen.» Ich sinke tiefer in mein Kissen. Einen Augenblick später hat sie meinen Kittel hochgezogen, und ihre Hände liegen auf meinem Bauch. Mein Gesicht ist seitlich abgewandt, meine Augen ruhen auf der Raffael-Madonna. Maria sieht auf diesem Bild süß und ein wenig verwirrt aus, wie es wohl jede Jungfrau tun würde, die gerade ein Kind zur Welt gebracht hat. «Ah, hier ist es.» Die Hände der Nonne verharren an einer Stelle in der Mitte meiner rechten Seite. «Von hier kommen die Schmerzen, hab ich recht?» Als sie zudrückt, keuche ich. «Ja», stoße ich hervor. «Da bin ich ziemlich empfindlich.» «Ihre Leber», erwidert die Nonne. «Sie haben dieses 440
Organ während der letzten fünfzehn Jahre mißbraucht. Ausschweifende Lebensführung, Lethargie und Exzesse. Das sind Todsünden. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, welche. Und Sie gefährden Ihre unsterbliche Seele.» «Meine unsterbliche Seele?» Ich hefte meinen Blick für einen Moment auf diese blauen Augen, die wie die Flamme im Herzen eines Feuers sind. «Glauben Sie an die unsterbliche Seele?» Ich schweige. «Sie existiert», sagt sie ruhig. «Ich habe Ihre durch die Dunkelheit wandern sehen, ein jämmerlicher Lumpen und ganz schwach. Fast genauso krank wie Ihr Körper.» «Warten Sie mal…» «Schhhht. Hören Sie mir zu. Eines hat Sie gerettet.» «Was?» «Raten Sie mal.» Ich denke kurz nach. Ihre Hände drücken kühl auf meinen Bauch und formen zwischen Daumen und Zeigefingern ein Dreieck. Es fühlt sich an, als hätte sie meine Leber in der Hand, jahrelang ertränkt in Fett und Alkohol und Verzweiflung, eingelegt in Bedauern, und sie wringt sie nun aus, knetet die Gifte des Lebens weg. «Nun, es waren wahrscheinlich die Vitamine», sage ich. «Ich habe immer darauf geachtet, welche zu nehmen, ganz gewissenhaft, jeden Tag. Zweimal E, zweimal C und eine Multivitamintablette.» Ihr Lachen, das nun ertönt, ist hell wie eine Silberglocke. «Ich rede jetzt nicht von Ihrem Körper. Ich rede von Ihrer Seele. Wissen Sie, was die gerettet hat?» «Nein.» «Die Liebe.» 441
Plötzlich sehe ich ein Bild von Antoinette vor mir, so lebendig, als wäre sie in diesem Zimmer. Ich weiß, daß sie krank und traurig ist wie ich und daß sie es allein nicht schaffen wird. «Antoinette.» Das Wort ist kaum mehr als ein Flüstern. «Aber seien Sie vorsichtig», sagt die Nonne, und ein scharfer, warnender Ton liegt in ihrer Stimme. «Mißverstehen Sie nicht die Absichten des Schöpfers. Ordnung ist eine göttliche Gabe. Es gibt Regeln. Nur der Teufel und seine Legionen leben in Anarchie. Die Liebe muß durch das Sakrament der Ehe geheiligt werden. Die Liebe muß zuerst eine Liebe des Geistes sein und erst dann eine Liebe des Leibes. Denken Sie daran, der Körper wird dahinschwinden und der Erde müde werden, während der Geist, wenn er nur geziemend genährt wird mit Liebe, sich frei und leuchtend zu Gott erheben wird.» Mit diesen Worten hebt sie die Hände, als wolle sie mir den Weg zeigen, und einen Moment lang sind ihre Hände zwei weiße Tauben in der Luft. Dann läßt sie die Hände sinken und beugt sich herunter, um mich auf die Stirn zu küssen. Die Berührung ihrer Lippen fühlt sich an wie die Blütenblätter einer Rose. Von der Stelle, auf die ihre Hände gedrückt haben, breitet sich jetzt eine seltsame Wärme durch meinen Körper aus. «Schließen Sie jetzt die Augen», sagt die Nonne. Ich schließe meine Augen. «Und schlafen Sie.» Ich schlafe.
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ls ich wieder erwache, ist der Tag jenseits des Aluminiumfensters sonnig und hell, und das Meeresrauschen ist überwältigend. Aus irgendeinem Grund haben sie die hervorragende Reproduktion von Raffaels Madonna abgenommen und ein billiges Stilleben aufgehängt, in einem Rahmen, der an die Wand geschraubt ist. Ein Arzt und eine Krankenschwester stehen über meinem Bett, auf ihren Gesichtern ein Ausdruck von Überraschung - nein, Schock. Die Krankenschwester, eine grobknochige Frau mit blondgefärbtem Haar, trägt einen weißen Krankenhauskittel und eine weiße Polyesterhose, und ihre Füße stecken in den dicken weißen Schuhen mit quietschenden Sohlen, wie sie die Krankenschwestern auf der ganzen Welt bevorzugen. Der Arzt trägt seinen Krankenhauskittel über einem wildgeblümten Sporthemd und Khakihosen. Er ist ein gutaussehender Mann mit feingemeißelten Zügen, wie ein Arzt aus einer Seifenoper, und ähnelt David Copperfield. Das kleine schwarze Schild auf seiner Brust lautet: Dr. Morris Abrahamson. «Wo ist der Raffael hin?» frage ich. Der Arzt scheint zu überrascht zu sein, um zu antworten. «Sie haben die Raffael-Madonna abgenommen», sage ich, «und dieses Ding da aufgehängt.» Ich zeige auf das Stilleben an der Wand. «Wie bitte?» sagt Dr. Abrahamson schließlich. «Noch vor kurzer Zeit hat da ein Raffael an der Wand gehangen…» Aber ich kann an seinem Gesicht sehen, daß ich besser nicht fortfahren sollte. Dieser Mann hat andere Dinge im Kopf. 443
«Mr. Conti», sagt er, «wer hat Sie von der Herz-LungenMaschine abgenommen?» Ich werfe einen Blick auf die beeindruckende Maschine mit dem Fernsehbildschirm, die jetzt schweigt. «Und wer hat Sie vom Glukosetropf getrennt und Ihnen den Atemschlauch aus dem Mund genommen? Und wer hat Ihre Arme losgemacht?» Er zeigt auf meine Handgelenke, die ich dankbar hin und her drehe. «Die Nonne», sage ich. Dr. Abrahamson und die Krankenschwester tauschen einen erschrockenen Blick. «Was für eine Nonne?» fragt Dr. Abrahamson. «Die Nonne, die vorhin hier war», erwidere ich geduldig. Wieder tauschen der Arzt und die Krankenschwester einen Blick. Die Krankenschwester tritt nun zögernd einen Schritt näher. «Hier arbeiten keine Nonnen, Sir», sagt sie. «Ist das nicht ein katholisches Krankenhaus?» «Nun ja, dem Namen nach schon», sagt sie. «Aber in Wirklichkeit ist es genau wie die anderen Krankenhäuser auch. Wir haben Ärzte hier und ausgebildete Krankenschwestern. Nonnen gehören der Vergangenheit an.» «Diese nicht», sage ich und kreuze die Arme vor der Brust. «Wir haben hier keine Nonnen, Sir», sagt sie jetzt ein wenig ärgerlich. «Ich sollte es wohl wissen. Ich bin verantwortlich für das Pflegepersonal. Wenn eine Nonne irgendwie in das Krankenhaus eingedrungen sein sollte und sich daranmacht, unsere Patienten zu behandeln, müssen wir das wissen.» Daraufhin dreht Dr. Abrahamson sich zu der 444
Krankenschwester um. «Schon gut, Ms. Kelley. Ich werde die Sache jetzt in die Hand nehmen.» Die Krankenschwester errötet, zögert und dreht sich dann auf ihren quietschenden Sohlen um, um das Zimmer zu verlassen. Als sie gegangen ist, kratzt sich der Arzt am Kinn, wie er es bei den Ärzten im Fernsehen gesehen hat, und geht, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, zum Fenster. Dort bleibt er eine Weile stehen, denkt über die Dinge nach und starrt hinunter auf den Strand, den ich noch nicht zu Gesicht bekommen habe. Einem Impuls gehorchend, steige ich aus dem Bett, trete hinter ihn und sehe ihm über die Schulter. Der Linoleumfußboden ist kalt unter meinen nackten Füßen. Mir ist ein wenig schwindelig vom langen Liegen, aber ansonsten fühle ich mich gut und ziemlich munter. Direkt unter uns liegt eine breite, schmutzige Strandpromenade, die mit Papierschnitzeln und dem üblichen Prolo-Strandmüll à la Jersey übersät ist. Rowdies auf gestohlenen Mountainbikes und tätowierte Muskelprotze scharwenzeln um Bikiniflittchen mit hochhackigen Sandalen und wüsten Frisuren herum, und daneben, wie gewohnt, die verwirrten Achtzigjährigen, die nicht glauben können, daß sich der Strand seit den berauschenden Tagen ihrer Jugend in den zwanziger Jahren zum Schlechten verändert hat. Jenseits der Strandpromenade verschwindet der Sand, bedeckt von einer grauen Schicht Autoabgasen, langsam ins Meer. Ein Schleppnetzfischer gleitet am Horizont entlang. Näher zum Strand hin erkennt man das Profil einer Müllschote mit ihrem niedrigen Rumpf. Von irgendwoher kommt der leicht ranzige Geruch gebratenen Fleisches. «Sieht aus wie Far Rockaway», sage ich. Dr. Abrahamson springt einen ganzen Meter nach links und fährt erschrocken herum. Dabei stößt er sich den Kopf 445
am Rahmen des Stillebens. «Verdammt! Zurück ins Bett!» schreit er fast. Ich zucke mit den Schultern und gehe zurück ins Bett, wo ich mich fühle wie ein ungehorsames Kind. Ich zapple herum und trommle mit den Fingern den Rhythmus von «Dixie» auf das Chromgitter. «Wissen Sie, ich bin ganz schön hungrig», sage ich. «Wie wär’s mit einem Cheeseburger?» Dr. Abrahamson hat einige Schwierigkeiten, seine ärztliche Fassung wiederzugewinnen. Schließlich kommt er zu mir herüber und setzt sich feierlich auf die Bettkante. «Wenn überhaupt irgend etwas, dann klare Flüssigkeiten», sagt er. «Danach sehen wir weiter. Aber ich glaube, Sie sollten sich noch eine Weile an Glukose halten, bis wir genauer wissen, wie es Ihnen eigentlich geht. Die Krankenschwester holt einen neuen Beutel.» «Na kommen Sie, Doktor», sage ich. «Eine Pizza mit Artischockenherzen, Basilikum und Garnelen. Ein Omelett mit Shitakepilzen und Ziegenkäse. Sushi - Amaebi, diese buttrigen rohen Shrimps, und dann diese fritierten Dinger in der Schale. Weichschalige Muscheln nach Thai-Art mit Minze und Ingwer. Ein T-bone-Steaks. Biskuit Tortoni.» Der Doktor lächelt dünn. «Mr. Conti», beginnt er in einem geschäftsmäßigen Tonfall, «Sie wurden vor drei Tagen mit einer Temperatur von einundvierzig Komma eins in dieses Krankenhaus eingeliefert, und Ihre Haut war so gelb wie eine Sonnenblume. Wir haben Sie untersucht und herausgefunden, daß Ihre Leber auf die Größe einer Aubergine angeschwollen war. Bei Ihrem Fieber mußte Ihr Körper buchstäblich von innen nach außen verbrennen. Wir haben eine Blutprobe entnommen und festgestellt, daß Ihre Leberwerte viel zu hoch waren. Der Bilirubinwert bei einem gesunden Menschen liegt etwa bei fünfzig, ihrer lag 446
bei sechstausendsiebenhundert. Angesichts dieser Symptome habe ich bei Ihnen einen der schlimmsten Fälle von Hepatitis diagnostiziert, den ich je gesehen habe.» «Hepatitis?» «Ja. Ob A oder B oder C oder irgendeine andere Art, das wissen wir noch nicht. Die Untersuchungsergebnisse liegen noch nicht vor. Aber das war bisher auch unerheblich, da Ihr Körper langsam dichtmachte. Sie haben in Ihren eigenen Säften gekocht, Mr. Conti. Kein menschliches Wesen kann mit einer Temperatur von einundvierzig Komma eins lange überleben. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?» Ich nicke verwirrt. «Ich schätze, ich war ziemlich krank?» «Krank?» Ganz plötzlich bröckelt Dr. Abrahamsons ärztliche Attitüde vom Kinn nach oben hin ab, und er beginnt zu lachen. Er legt die Hände vor das Gesicht und lacht, bis seine Ohren rot sind. Dann ist er plötzlich wieder ernst. «Wir hatten Sie nur an der Herz-Lungen-Maschine, um noch Ihre nächsten Verwandten ermitteln zu können. Um es einmal laienhaft auszudrücken, Mr. Conti, Sie waren tot.»
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eptember. Das Meer ist heute sehr aufgewühlt. Der Himmel azurblau, am Horizont eine leicht bräunliche Smogschicht. Eine steife Brise bläst den Schmutz der Stadt hinaus aufs offene Meer, wo ihn die Dünung verschlingen wird. Herbst liegt in der Luft. Die Stühle der Rettungsschwimmer sind leer. Zwei seltsame Geschöpfe in Windjacken haben sich in den Dünen zum Mittagessen niedergelassen. Hinter uns ragt das St.-Luke-Hospital für Geriatrie über der Strandpromenade auf, der erste einer langen Reihe zwanzigstöckiger Türme - billige Eigentumswohnungen, Unterkünfte für einkommensschwache Familien, Altenheime -, die wie Grabsteine am Strand aufgepflanzt sind. Rust besucht mich. Er tritt mit seinen abgestoßenen Cowboystiefeln gegen das angerostete Metallgeländer der Strandpromenade, dreht sich dann plötzlich um und lehnt sich zurück. Ich sehe das geflickte Einschußloch in seinem linken Stiefel. Er hat den Jackenkragen hochgeschlagen, der Wind bläst sein Haar zu einer Pompadourfrisur auf, und er sieht aus wie ein gealterter James Dean, der den Unfall mit seinem Sportwagen und den Aufruhr der Jugend überlebt hat, um Weisheit zu erlangen. Ich sitze zwei Meter weiter weg auf der Betonbank und esse ein Stück Napfkuchen mit Puderzucker. Seit ich krank war, bin ich sehr hungrig und habe nicht aufgehört zu essen. Im Krankenhaus kriege ich nicht genug, nur Wackelpudding und ein bißchen gekochtes Huhn zum Abendessen, also schleiche ich mich raus und schwelge in Gebratenem. Sie machen immer noch Untersuchungen mit mir und mühen sich ab, irgend etwas zu finden. Dr. Abrahamson 448
kann sich nicht mit der Tatsache abfinden, daß ich noch lebe. Seine gegenwärtige Theorie ist, daß ich mir eine ungewöhnliche Art von Hepatitis zugezogen habe, die sehr schnell akut wird und dann verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn alle Tests abgeschlossen sind, hat er vor, für das New England Journal of Medicine einen Artikel über meinen Fall zu verfassen. Rust blinzelt hinauf zu dem häßlichen Backsteinmonolith des St.-Luke-Hospitals, dessen Fassade von einem fünf Stockwerke hohen Neonkreuz geziert wird. Seine Stahlstützen fangen das Licht auf, blitzende Leuchtsignale in der Nachmittagssonne. Dieses Krankenhaus war das einzige, das mich ohne Krankenversicherung aufnehmen wollte. Pater Rose hat einen Bekannten im Vorstand und hat die ganze Sache arrangiert, obwohl ich bestimmt der einzige Patient hier unter fünfundsiebzig bin. «Der Kollege Priester kam zu mir, um nach dir zu sehen», sagt Rust jetzt. «War dein Glück. Er meinte, du wärst die ganze Woche nicht zur Arbeit gekommen. Ich sagte: ›Lassen Sie uns die Tür aufbrechen.‹ Ansonsten hätten wir dich nicht gefunden, bis du zu stinken angefangen hättest.» Die letzten Krümel des Napfkuchens bleiben mir in der Kehle stecken. Die Vorstellung von mir als verfaulendem Leichnam ist nicht gut für die Verdauung. «Tschuldige», sagt Rust. «Aber bist du sicher, daß es in Ordnung ist, wenn du diesen Kram in dich reinstopfst? Was sagen die Leute im Krankenhaus dazu?» «Zum Teufel mit den Leuten im Krankenhaus», sage ich. «Mir geht’s prima. Ich hänge da nur noch rum, um Dr. Abrahamson einen Gefallen zu tun. Und um genau zu sein, habe ich immer noch Hunger.» 449
Wir gehen wieder die Strandpromenade hinauf, Richtung Rockaway Boulevard. Das ist die Hauptstraße, eine Aneinanderreihung baufälliger Bars und Rentnerhotels, in der Mitte geteilt durch einen Streifen verdorrten Grases. Es ist schwer, sich eine Zeit vorzustellen, als in Far Rockaway die Restaurants noch gutes Essen servierten und die Hotels, gerade erst gebaut, voller sauberer Zimmer und guter Laune waren. Schwer, sich vorzustellen, daß es jemals etwas anderes war als das, was es heute ist - ein schmutziges Strandkaff, eine Endstation, der ferne Vorort, an dem die Vororte enden, zugrunde gegangen an Malocherlangeweile und endlosen Nebenstraßen sandgestrahlter Einheitshäuschen. Es gibt nichts Melancholischeres als einen Prolostrand am Ende der Saison. Selbst Rust spürt es. Er schaudert und reibt die Hände aneinander, während ich einen Chili-Hot-dog mit einer Extraportion Zwiebeln niedermache - am letzten Stand gekauft, der auf der Strandpromenade noch offen ist. Dann folge ich ihm die Straße hinauf in eine irische Bar, deren Markenzeichen eine unregelmäßig blinkende Neonharfe ist. Im Innern hängen Bilder von längst toten Boxern an den Wänden, und die Jukebox ist voller sentimentaler irischer Schnulzen. Durch eine Pendeltür gelangt man in die Eingangshalle eines billigen Hotels für alte Männer. Als Rust sein Guinness von der Theke holt, sehe ich mich dort um: staubige Sofas, ein Gummibaum, ein alter Empfangstisch aus dunklem Holz, ein vergilbtes Foto von Myrna Loy an der Wand. Es könnte das Set eines in den Vierzigern angesiedelten Detektivfilms sein. Als ich mich zu ihm an den Tisch setze, hat Rust sein Pint schon halb erledigt. Das Zeug ist gut, kommt unpasteurisiert direkt aus Irland und hinterläßt bei jedem Schluck die verräterischen Ringe an den Seiten des Glases. 450
«Du warst ein grauenhafter Anblick, Ned», sagt er und wischt sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund. «Als der Priester und ich bei dir reinstürzten, hörten wir diese seltsamen keuchenden Geräusche aus deinem Schlafzimmer. Und da lagst du, halb von der Matratze runtergerollt - heiß wie ein Schürhaken, total nackt und mit hoch aufgerichtetem Schwanz -, und hast gestöhnt und dich gewunden, als schöbest du die Nummer deines Lebens.» Ich picke verlegen ein paar Fusseln vom Ärmel meines Sweaters. «Ich hatte über einundvierzig Grad Fieber; das jedenfalls hat Dr. Abrahamson gesagt», murmele ich. «Also haben wir dich ins Badezimmer gezerrt und dich in eine Badewanne mit kaltem Wasser und Eiswürfeln gesetzt. Das hat wahrscheinlich deinen Arsch gerettet.» «Nein», sage ich. «Das war’s keineswegs.» «Na schön, was war’s dann?» «Ein Wunder.» Er setzt das leere Guinnessglas entschlossen auf den Tisch und enthält sich eines Kommentars. Wie alle anderen glaubt er, daß ich noch immer krank sei, daß das Fieber meinen Verstand getrübt habe. «Okay, wie du meinst.» Er schiebt seinen Stuhl vom Tisch weg und zieht seine Jacke an. «Aber jetzt müssen wir dich erst mal wieder ins Krankenhaus zurückschaffen, bevor der Arzt merkt, daß du abgehauen bist.» Rust glaubt nicht an Wunder. Genausowenig wie an Gott. Und obwohl er die Existenz von Geistern nicht leugnet, glaubt er doch, daß sie ein natürliches Phänomen darstellen, eine Art fotografischer Abdruck vergangener traumatischer Ereignisse auf dem Magnetfeld, etwas, das die Wissenschaft irgendwann meßbar machen wird. Eines Nachts, über allzu vielen Bieren im Horseshoe, hörte ich 451
einmal die Geschichte seiner frühen Desillusionierung. Ein paar Leute werden blöd, einige gewalttätig, wenn sie zuviel trinken; Rust wird ernst, philosophisch. «Ich war noch ein Junge», erzählte er mir, «damals in Carswell, Nevada, 1956. Mein ältester Bruder, Cyrus, lag mit Leukämie im Krankenhaus; die Atomversuche, die sie damals in der Wüste machten, waren schuld daran. Es war eines von diesen altmodischen Krankenhäusern, du weißt schon, ziemlich primitiv. Irgendwann langweilte es mich, dem Jungen beim Sterben zuzusehen, was keineswegs schnell ging wie in den Filmen, und ich schlenderte davon, während meine Eltern mit dem Arzt sprachen. Na ja, ich landete unten im Leichenschauhaus, gerade rechtzeitig, um zuzusehen, wie ein Faß voller Föten in den Müll gekippt wird. Das war’s für mich. Wie konnte Gott still dabeisitzen und zusehen, wie ein Faß voller Föten in den Müll gekippt wurde? War das Leben ungefähr so viel wert wie eine verfaulte alte Orangenschale und eine Handvoll Kaffeesatz? Die ganze Sache machte keinen Sinn. Da plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wußte ich, daß es überhaupt keinen Gott gibt. Nur eine gewaltige Leere, angefüllt mit den Ängsten der Menschen.» Ich kann nicht mit ihm streiten, weil ich noch nicht so weit bin, die Konsequenzen des Glaubens selbst zu überblicken. Heißt das, ich muß demnächst an Sonn- und Feiertagen zur Kirche gehen, mit den alten Damen die Kommunion empfangen und zur Beichte niederknien, muß aufhören, Schimpfwörter als beiläufige Interpunktion für meine Sätze zu benutzen, und darf mich nur noch zum Zwecke der Fortpflanzung sexuell betätigen? Und am schlimmsten von allem - werde ich meinen Zynismus über Bord werfen und eine positive Einstellung pflegen müssen? Die Menschen leben in der Dunkelheit, weil sie es so wollen, erklärt uns Dante, weil sie ihre Sünden 452
lieben. Bisher war das Unglück mein steter Begleiter. Sollte es Männern und Frauen vielleicht doch bestimmt sein, auf Erden glücklich zu werden? Es scheint undenkbar.
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iese Betrachtungen sind für Dr. Abrahamson viel zu metaphysisch. Er kommt zweimal am Tag in mein Zimmer, um mir Blut abzunehmen, ein paar Fragen zu stellen und eine kühle wissenschaftliche Bemerkung auf den Block zu schreiben, der in seinem Klemmbord steckt. Aber heute nachmittag hat der Doktor seine Hände hinterm Rücken, seinen Klemmblock unterm Arm und einen nachdenklichen Ausdruck in seinen Augen, als versuche er, irgendeiner großen Sache auf den Grund zu kommen. «Und wie geht es uns heute?» fragt er. «Uns geht es gut», sage ich. «Wie gestern und heute morgen.» «O ja, ich habe ganz vergessen…» Seine Stimme verliert sich. Es ist mir gelungen, das Aluminiumfenster zu öffnen, und ich sitze in einer leichten Meeresbrise auf dem Bett und lese Eugène Sues The Wandering Jew, das ich mir aus der Krankenhausbibliothek geliehen habe. Es ist ein unhandlicher Band von etwa zweitausendfünfhundert Seiten, den ein Mann geschrieben hat, der während des 19. Jahrhunderts für eine Weile der beliebteste Schriftsteller der Welt war. Dr. Abrahamson lehnt sich ans Fensterbrett und nimmt mir damit Licht und Luft. «Was lesen Sie da?» erkundigt er sich geistesabwesend. «The Wandering Jew», sage ich. «Ja, genauso habe ich mich während der letzten Tage auch gefühlt», sagt er. «Ich bin durch dieses Krankenhaus gewandert, habe Ihren Blutproben nachgejagt und 454
versucht rauszufinden, was zum Teufel eigentlich mit Ihnen los war.» «Das Buch ist nicht das, wofür Sie es halten», sage ich. «Es ist eine lächerliche Romanze aus dem 19. Jahrhundert, in der die Liebenden getrennt werden und dann die Welt in entgegengesetzter Richtung umkreisen, nur um sich auf der Beringstraße einen kurzen Blick zuwerfen zu können…» Aber er hört mir nicht zu. «Ich kriege es einfach nicht raus», sagt er. «Die Nonne», sage ich und lege das Buch beiseite. Er winkt ab. «Eine Halluzination, verursacht vom Fieber.» «Und der Apparat und die Röhren und die Armbänder?» «Eine der Krankenschwestern muß Sie für tot gehalten und Sie von den Apparaten abgemacht haben. Jetzt hat sie einfach Angst, sich dazu zu bekennen.» «Na, kommen Sie schon, Doktor. Das wäre ja wohl ziemlich fahrlässig gewesen. Hört sich für mich nach einem Fall für Schadensersatz an. Kunstfehler.» Er zuckt bei diesen Worten zusammen. «War bloß ein Witz», sage ich. «Dann ist da noch etwas.» Er fährt fort. «Wir können den Stamm Ihres Virus nicht bestimmen, dazu sind erfolgreiche Tests nötig, und die haben wir nicht. Ihr Blut war seinerzeit schwarz von dem Zeug; jetzt ist es…» «Perfekt?» «… normal. Sie waren vor kurzem unten im Süden, habe ich recht?» «New Orleans.» «Ich werde mal Kontakt mit den Gesundheitsämtern da unten aufnehmen. Vielleicht können die uns helfen, den 455
Stamm zu identifizieren. New Orleans ist ein Hafen. Es könnte von überall herkommen. Ein neuer Stamm oder eine Mutation. Hepatitis M, Hepatitis Z!» Die Aussicht darauf erregt ihn. «Haben Sie irgendwelches verseuchtes Wasser auf Ihrer Reise getrunken?» Ich zucke mit den Schultern. «Oder rohe Schalentiere gegessen?» Ich habe plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. «Schalentiere?» «Ja. Sie wissen schon, Austern, Venusmuscheln, Miesmuscheln und so weiter.» «Ja. Ein Austernbuffet.» Einen Augenblick lang wirkt er enttäuscht. «Okay, das würde erklären, wo Sie sich den Virus gefangen haben, aber mich treibt die Frage um, wie Sie wieder gesund geworden sind.» Dann verläßt er plötzlich, noch immer nachdenklich und die Hände hinterm Rücken, mein Zimmer. Am nächsten Tag werde ich entlassen. Dr. Abrahamson begleitet mich die Treppe hinunter und geht mit mir bis zum Parkplatz des Krankenhauses, wo Rust mit seinem neuen Lieferwagen auf mich wartet, den er gebraucht von einem Künstlerfreund gekauft hat, der gerade von Austin/Texas nach Williamsburg gezogen ist. Der Wagen ist ein verbeulter 1959er Ford F-100, staubrot und immer noch mit den texanischen Lastwagenkennzeichen versehen. Dr. Abrahamson ist kein Spielverderber. Ich habe die medizinische Wissenschaft in Erstaunen versetzt, aber trotzdem schüttelt er mir die Hand. «Danke für Ihre Geduld, Mr. Conti», sagt er, «und viel 456
Glück.» Als ich schon halb den Parkplatz hinunter bin, ruft er mich noch für einen Augenblick zurück. Diese Sache ist schwierig für ihn. Er blickt zu dem Neonkreuz an der Fassade hinauf, schaut hinüber zum Ozean und richtet seinen Blick dann wieder auf mich. «Ned», sagt er, «ich bin ein Mann der Wissenschaft, ich habe auf der Columbia studiert und als einer der besten meines Jahrgangs in geriatrischer Medizin abgeschlossen. Ich bin ein Skeptiker, ein nicht praktizierender, reformierter Jude, und ich glaube nicht an Wunder. Aber ertragen Sie mich mit Geduld.» «Okay.» «Diese Nonne, trug sie ein weißblaues Gewand, und war ihre Haut sehr, sehr weiß?» «Ja», sage ich überrascht. «Es ist nämlich so, daß einige der älteren Patienten berichtet haben, sie in der gleichen Nacht ebenfalls gesehen zu haben. Eine Frau im sechsten Stock, Mrs. Castafiori, sagt, eine Nonne sei in ihrem Zimmer gewesen und habe ihr aus dem Bett geholfen. Die Sache ist nur die, die Frau ist dreiundneunzig, wurde intravenös ernährt und hat seit sechs Monaten keinen Schritt getan, weil ihr Hüftgelenk sich zersetzt. Jetzt läuft sie aus eigener Kraft die Terrasse rauf und runter und nimmt feste Nahrung zu sich. Sagt, sie will lange genug leben, um die Geburt ihres Urenkels mitzukriegen, und ihre Enkelin ist nicht mal schwanger. Wie finden Sie das?» «Ich weiß nicht», sage ich und zucke mit den Schultern. Es ist beinahe zu lächerlich. «Wer ist diese Nonne - die Jungfrau Maria oder so etwas? Die, wenn ich das hinzufügen darf, ein nettes jüdisches Mädchen war.» 457
«Ich bin mir nicht sicher», sage ich. «Ich glaube, eine Heilige.» «Welche?» «Sie ist neu», sage ich. «Eine Unbekannte.» «Es gibt neue Heilige?» «Ja. Kommen dauernd welche dazu.» Wir schütteln uns noch einmal die Hände, und ich steige in den Lieferwagen. Rust nickt, und wir fahren zurück in die Stadt, der Strandhimmel ist ausgebleicht und rätselhaft, mit Dunst überhaucht.
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ir schlängeln uns den Belt Parkway hinauf, und die Sonne versinkt rot hinter dem einschüchternden Profil von Manhattan. Rust schweigt eine Weile. Dann zieht er eine Sonnenbrille aus einer Nische unter dem Armaturenbrett, als wäre sie immer dort gewesen. Diese Geste ist wie ein ganzes Gespräch. Der Lieferwagen riecht nach Benzin und Bremsflüssigkeit und altem Auto, ist sehr laut und vibriert, aber gerade in diesem Augenblick gibt es keinen Ort auf der Welt, wo ich lieber sein möchte. Ich lasse mich glücklich in die rissigen alten Kunststoffsitze sinken, während wir über die Kosciusko Bridge rattern und plötzlich Brooklyn direkt vor uns aufragt. «Weißt du, ich habe über ein paar der Dinge, die du gesagt hast, nachgedacht», sagt Rust und bricht damit das laute Schweigen. «Ja?» «Ich meine nicht diesen Blödsinn über die Nonne. Ich meine, was du davon gesagt hast, wegzugehen, weg von New York.» Ich warte darauf, daß er fortfährt, aber ich kann alles schon durch die Windschutzscheibe vor mir sehen: Präriestürme, die im Frühling über grünen Spitzkuppen wüten, rotgoldenes Canonland, lange, ununterbrochene Reihen von Zaunpfosten, ein riesiger, gewölbter Himmel und das Land, das sich bis zum Horizont erstreckt in einer Luft, die wahrhaftig so frisch und rein ist wie der Atem eines Kindes. «Ich habe neulich einen Brief aus Wyoming bekommen. 459
Mein kleiner Bruder ist ins Gefängnis gekommen. Sie haben ihm fünfundzwanzig Jahre gegeben. Wahrscheinlich ist er bei guter Führung in fünf Jahren wieder draußen, aber wer weiß?» «Heiliger Bimbam», sage ich. «Was ist passiert?» «Der Bastard hat sich den Bauch voll Whisky gekippt, ist nach Cheyenne gefahren und hat in einer Bar einen Indianer umgelegt.» «Tut mir leid, das zu hören.» «Na ja, mein jüngerer Bruder - Mitch - ist ein Arschloch. Er ist ein Unruhestifter und ein ekelhafter Trinker. Und wenn er nüchtern ist, ist er noch schlimmer. Verwandelt sich in einen glattzüngigen Hurensohn. War jetzt sechs Mal verheiratet.» Die Geschichte kommt so nach und nach raus. Es sieht so aus, als hätten Rust und sein Bruder sich vor Jahren wegen des schönsten Mädchens in Wyoming, Ella Slater, gestritten, die 1967 bei einem Schönheitswettbewerb in Cheyenne zur Miss Wyoming gekürt wurde. Das Ganze artete jedenfalls in einen Konkurrenzkampf aus und endete in einem alkoholisierten Faustkampf, in dessen Verlauf Mitch eine Waffe zog und Rust in den Knöchel schoß. Rust hebt für eine Sekunde seinen Fuß vom Gas und zeigt mir das geflickte Loch in seinem Stiefel. Wir werden langsamer; eine weiße Limousine hinter uns hupt wild. «Hab jetzt einen Metallpin im Knöchel», sagt er. «Der Kerl hätte mir fast den Fuß weggepustet. Aber Ella hat den Bastard trotzdem geheiratet. Ich trug damals genau diese Stiefel. Behalte sie nur, um die Sache nicht zu vergessen. Die Dinger sind jetzt hundert Mal neu besohlt worden, und jedesmal, wenn ich sie anziehe, denke ich an diese Frau. Ihre Ehe mit Mitch hat kaum ein Jahr gehalten. Er hat sie zusammengeschlagen oder so was in der Art, und Ella war 460
nicht die Frau, die sich das gefallen ließ. Sie ist nach Texas gegangen und hat einen Ölmann geheiratet. Die Sache mit Mitch ist, daß er die Damen immer zum Lachen bringen konnte. Hatte immer einen Scherz auf den Lippen, hat immer irgendeine Masche abgezogen. Ich bin ehrlich, weißt du, aber ich bin ein ziemlich düsterer Kerl. Den Damen ist Lachen jederzeit wichtiger als Charakter.» «Du warst also verliebt?» sage ich. Dieses Gefühl scheint universell zu sein. Er zuckt mit den Schultern. «Ich war jung. Sie hatte blondes Haar. Trug es wie ein Indianermädchen - ein dicker Zopf, der ihr bis zur Taille reichte. Na ja, ich habe jedenfalls Wyoming verlassen, sonst hätte ich am Ende den Bastard noch umgebracht. Aber jetzt…» «Gehst du zurück.» «Wir haben immer noch zweitausenddreihundert Hektar westlich von Douglas in Converse County. Gerste und Zuckerrüben. Gehört uns beiden zu gleichen Teilen, aber ich habe das ganze verdammte Ding ihm überlassen, als ich wegging. Wenn ich nicht zurückgehe und mich um die Dinge dort kümmere, geht alles in Konkursverwaltung. Ich dachte, ich könnte mich noch mal als Farmer versuchen.» «Wie lang ist es her?» «Verdammt. Fünfundzwanzig Jahre. Länger.» «Klingt riskant.» «Das Leben ist riskant, Partner. An dem Tag, an dem man geboren wird, rechnen sie schon deine Chancen aus.» «Könnte stimmen.» «Verdammt, wie du schon sagtest, wie lange kann man in denselben verfluchten Bars an der East Side rumhängen, sich dieselben verfluchten Songs aus der 461
Jukebox anhören, dieselbe verfluchte Küchenschabe über denselben verfluchten Tisch kriechen sehen? Diese Stadt wird immer schmutziger und gefährlicher, und ich werde älter, und schon bald bin ich eine von den verlorenen Seelen. Das ist kein Land für alte Männer. Sieh dich doch um, du findest sie zu Tausenden. Einsame alte Männer, die U-Bahn fahren, die am Ende der Theke auf einem Hocker sitzen und sich an demselben fünfzig Jahre alten Bier festhalten, denselben Größenwahn im Kopf. Ich bin jetzt seit fünfzehn Jahren hier, Ned. Habe vier Bücher geschrieben. Habe mir immer gesagt, daß Glück und Ruhm auf der Straße liegen. Scheiße. Zeit aufzugeben. Zeit heimzugehen.» «Du hast Glück», sage ich leise. «Du hast ein Heim, in das du heimgehen kannst.» Er grunzt. Dann ist er still.
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ls das letzte Licht immer schwächer wird, verlassen wir den Brooklyn Queens Expressway. Es ist erst September, aber die Dämmerung kommt schon sehr schnell. Die violettfarbene Hitze am Abendhimmel ist verschwunden, ersetzt durch ein weicheres, dauerhaftes Blau, und die Stadt ist wie ein Ofen, der langsam auskühlt. In diesem Teil des Landes folgt auf extrem heiße Sommer oft Frost. Lange Winter voller Eis und Schnee, Kälterekorde. Der September gibt den New Yorkern Zeit, über bevorstehende Katastrophen nachzudenken. Als wir die Porthsmouth Street erreicht haben, steige ich langsam die Treppe hinauf, öffne die Tür zu meiner Wohnung und stehe eine Sekunde lang im Flur, um die Atmosphäre auf mich wirken zu lassen. Vor mir liegt absolutes Chaos: umgestoßene Möbel, der Schlafsack immer noch mitten auf dem Boden, Flecken von Erbrochenem auf dem rosafarbenen Badezimmerteppich. Und erst jetzt, da ich wieder zu Hause bin, in der ersten Düsternis des Abends, denke ich über den Geist nach, über Madeleine. Ihre Geschichte ist jetzt verschwommen wie die Einzelheiten eines Alptraums, aber ich brauche keine Einzelheiten, um die Wahrheit zu erkennen. Sie ist in dieser Wohnung gestorben, im selben Jahr, in dem Schwester Januarius von New Orleans nach Brooklyn kam. Sie ist hier auf grauenhafte Weise gestorben, ohne zuvor Rache genommen zu haben. Dann, eine direkte Konsequenz aus dieser schrecklichen Erkenntnis, weiß ich plötzlich, was ich tun muß. Ich wasche mich so schnell wie möglich, gehe die Treppe hinunter, borge mir Rusts Wagen und fahre hinüber zur 463
Kathedrale auf der Jay Street. Die Fenster des Pfarrhauses sind dunkel. Ich parke auf der Concord Street und gehe um die Ecke, um zu klingeln, und ich klingele so lange, bis die Haushälterin das kleine Schiebefensterchen vor dem Guckloch zurückzieht und mich mit ihrem gewohnten Mißtrauen beäugt. Es sieht so aus, als hätte Pater Rose sich ein paar Tage freigenommen, um Golf zu spielen. «Er wird rechtzeitig zur Messe am Sonntag wieder da sein», sagt die Haushälterin. «Wenn nicht, wird der Bischof ihn einen Kopf kürzer machen.» Ich kriege langsam das Gefühl, daß sie Pater Rose’ Golfspiel nicht billigt, und das sage ich ihr. «Was der gute Pater in seiner Freizeit tut, ist seine Sache», sagt sie. «Aber ich habe erlebt, daß er den Gottesdienst an Feiertagen abgekürzt hat, damit er ein Turnier im Fernsehen sehen konnte. Eines Tages wird der Mann noch mal über seine Leidenschaft stolpern.» Sie will das Guckloch gerade schließen, als ich ihr sage, daß ich in die Krypta müsse. «Um meine Arbeit zu beenden», erkläre ich. «Ich war krank, wissen Sie, und am fünfzehnten September muß ich mit meinen Forschungen fertig sein.» Die Haushälterin sieht mich argwöhnisch durch ihre dicken Brillengläser an. Schließlich zieht sie die Nase kraus. «Sie führen etwas im Schilde», sagt sie. Ich setze mein bestes Lächeln auf. «Nur meine Arbeit, ehrlich.» Die Krypta ist dunkel, das Gewölbe davor wie immer erfüllt von dem roten Lichtschein elektrischer Votivkerzen, deren Leuchten zu Ehren der Toten erkauft ist mit den Vierteldollars der Lebenden. Die Haushälterin 464
schließt das Eisentor auf und tritt neben mir ein. Drei Kisten mit noch nicht sortierten Dokumenten stehen nebeneinander an der Wand; den übrigen Platz nehmen säuberlich aufgestapelte Unterlagen ein, beschriftet und in chronologischer Ordnung aufgereiht. «Achtundzwanzig Kisten mit vermoderndem Papierkram seit Juni katalogisiert, nicht schlecht», sage ich, halb zu mir selbst. «Und auch nicht gut, wenn Sie nicht gefunden haben, wonach der Pater sucht», erwidert die Haushälterin spitz. «Vielleicht ist es nicht hier», sage ich. «Vielleicht haben Sie nicht gründlich genug gesucht, junger Mann», erwidert sie. «Vielen Dank. Ich komme bei Ihnen vorbei, damit Sie abschließen können, wenn ich fertig bin.» «Sehen Sie zu, daß es nicht zu spät wird. In meinem Alter braucht man, im Gegensatz zu dem, was allgemein behauptet wird, mehr Schlaf und nicht weniger.» Als sie gegangen ist, ziehe ich die drei noch nicht sortierten Kisten in die Mitte des Raumes. Dann gehe ich in die Hocke und konzentriere mich. Ich sehe sie genau vor mir, die in der Dunkelheit der Kisten begrabenen Blätter, bekritzelt mit den einzelnen Buchstaben des Alphabets, das Ganze ein einziger, riesiger Code, ein Labyrinth von Papier und Worten. «He, heilige Januarius von Brooklyn!» sage ich. «Danke, daß du mich im Krankenhaus gerettet hast. Aber ich habe noch eine andere Bitte. Ich weiß, daß hier irgend etwas ist. Ein Schnipsel, den ich übersehen habe. Bitte zeig mir, wo er ist. Verstehst du, das Ganze ist mehr in deinem Interesse als in meinem.» Ich presse die Augen zusammen und warte. Nichts. Kein 465
Muckser von der anderen Seite. Schon bald schläft mir ein Fuß ein, und ich komme mir ziemlich dämlich vor. Aber gerade als ich mich geschlagen geben will, spüre ich im Nacken einen leisen Luftzug. Ich drehe mich langsam um und stelle fest, daß einer der säuberlich aufgestapelten Stöße von Briefen - der zweite von hinten, erste Reihe, linke Seite - in der kühlen Luft zu flattern und zu rascheln beginnt. Eine Sekunde später schweben die Blätter durchs Zimmer - eins nach dem anderen dreht sich in einer trägen, stetigen Brise, die von überall und nirgends kommt, herum. Die anderen Stapel bewegen sich nicht, kein bißchen. Ich habe mich während der letzten sechs Monate meines Lebens so an geisterhafte Geschehnisse, Wunder und ähnliche Dinge gewöhnt, daß ich angesichts dieses Phänomens nur das allerleiseste Frösteln verspüre. Mehr noch, ich stehe auf und sehe zu, wie die Blätter durch die Luft treiben, und beginne zu verstehen, warum Gott dem Zeitalter der Wunder ein Ende gemacht hat. Wir Sterbliche haben nur wenig Geduld mit solchen Dingen: Brotlaibe und Fische, die sich vervielfachen, Tote, die auferstehen, Wurzeln, die sich in Schlangen verwandeln. Für uns muß das Leben schwer sein, sonst nehmen wir das Wunderbare für selbstverständlich. Schließlich legt sich der Wind, und in der Krypta kehrt Totenstille ein. Zu meinen Füßen flattert noch eine einzige Manuskriptseite, sepiafarben, vor dem dunklen Stein. Ich bücke mich und hebe sie auf. Es ist eine Seite aus einem verschwundenen Band der Gemeindeaufzeichnungen, geschrieben mit verblaßter blauer Tinte irgendwann um die Jahrhundertwende. Ein Blick darauf in dem dämmerigen Licht zeigt mir, daß es sich um einen nüchternen Bericht über den Tod von Schwester Januarius handelt, geschrieben von Pater 466
McCarthy, der von 1880 bis 1925 Pfarrer von St. Basil war. Die geheime Bestattung und der frischerblühte Kultus werden natürlich mit keinem Wort erwähnt. «Schwester Januarius, eine alte und fromme Nonne, die lange im Dienst der Gemeinde gestanden hat, ist am 11. Oktober 1917 im Schlaf gestorben», schrieb Pater McCarthy. «Da sie wußte, daß der Tod nahe war, und in Übereinstimmung mit den Regeln ihres Ordens, hat Schwester Januarius Anweisung gegeben, daß sie in einer schlichten Kiefernkiste in einem ungekennzeichneten Armengrab beerdigt werden wolle, in ihrer Nonnentracht und zusammen mit der Bibel, die sie zu Lebzeiten für ihre Andachten benutzt hat…» Nichts Ungewöhnliches. Ganz gewiß nichts, was Pater Rose’ Fall in Rom weiterbringen könnte. Kein einziger Hinweis, kein Hoffnungsschimmer. Dann halte ich inne und lese das Blatt noch einmal. Die Stille in der Krypta tropft wie Wasser.
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m nächsten Nachmittag finde ich die Haushälterin im Keller des Pfarrhauses, vertieft in eine Folge von The Guiding Light. Mit der ganzen Hingabe ihres Wesens verfolgt sie die schwülstige Handlung der Seifenoper. Soweit ich sehen kann, laufen im Augenblick zwei Handlungsfäden parallel zueinander. Ein übermütiger junger Mann mit einem Alkoholproblem hat den Mercedes seiner Eltern zu Schrott gefahren und traut sich nicht, es ihnen zu beichten. In der Zwischenzeit sind ein gutaussehender älterer Mann mit Bart und eine schöne junge Frau, die einander anscheinend nicht ausstehen können, zusammen auf einer einsamen Insel gestrandet, wo sich, wie es scheint, demnächst sexuelle Verwicklungen anbahnen. Eine Ausgabe des Soap Opera Digest liegt offen auf dem Couchtisch, darin sind einige Passagen mit roter Tinte unterstrichen. Als ich versuche zu sprechen, bemerkt die Haushälterin nicht einmal meine Anwesenheit. Aber während der Unterbrechung für die Werbespots dreht sie sich ärgerlich zu mir um. «Das ist meine Freizeit», sagt sie. «Nicht einmal der Priester persönlich würde mich stören, wenn ich The Guiding Light sehe! Was zum Teufel wollen Sie?» «Ihre Hilfe», sage ich so ernst wie möglich. Sie wirft mir einen seltsamen Blick zu und will gerade antworten, als die Soap Opera weitergeht, und es ist, als wäre ich aus dem Zimmer verschwunden. Während der nächsten Werbeunterbrechung nutze ich ihre Schwäche aus und erkundige mich nach den Charakteren und der Handlung. Sie weiß, daß das ein Trick ist, aber wie jeder wahre Fanatiker kann sie der Versuchung nicht 468
widerstehen, mir die Sache zu erklären. Die Handlung ist vertrackt, so kompliziert wie die Berechnungen in einem Physiklehrbuch für Fortgeschrittene. Ich verstehe nichts, heuchle aber Interesse. Schließlich ist die Sendung vorbei, und die Haushälterin klickt den Fernseher mit der automatischen Fernbedienung aus. «Nun?» fragt sie. Ich räuspere mich und versuche so amtlich wie möglich zu klingen. «Ich nehme an, Sie sind verantwortlich für die Reinigung des Pfarrhauses und der Kirche?» «Ich und ein paar andere», sagt sie wachsam. «Ich habe eine Truppe mexikanischer Mädchen, die jeden Mittwoch kommt. Es gibt hier viel zu tun, wissen Sie.» «Natürlich. Und was ist mit der Krypta? Säubern Sie auch die Krypta?» Die Haushälterin zögert. Dann sagt sie: «Die wird jede zweite Woche ausgefegt. Sie wären überrascht, wieviel Staub sich dort unten ansammelt. Aber wenn Sie andeuten wollen, daß einer von uns irgendwie Ihre kostbaren Papierstapel durcheinandergebracht hat…» Ich schüttele den Kopf. «Das geheime Gewölbe», flüstere ich beinahe. «Ich muß da hinein. Haben Sie den Schlüssel?» Es stellt sich heraus, daß die Haushälterin - Helga, wie ich sie jetzt nennen soll - eine strenge Lutheranerin ist, die wenig Respekt aufbringt für irgendwelchen katholischen Aberglauben. «Wenn Sie mich fragen, das verschrumpelte alte Ding hätte vor achtzig Jahren begraben werden sollen, direkt nach ihrem Tod», sagt sie, als wir in den gefliesten Korridor treten, der zu dem Gewölbe führt. «Es ist 469
unanständig, eine menschliche Leiche wie einen ausgestopften Vogel aufzubewahren. Und diese Wachsaugen. Uhhh. Ich kriege jedesmal eine Gänsehaut, wenn ich die sehe.» Wir stehen vor der Tür, und sie findet den richtigen Schlüssel an ihrem Schlüsselring und drückt sie auf. Es folgt ein Quietschen und dann dieser starke Geruch von Moder und alten Knochen, aber die Haushälterin scheint das nicht zu beeindrucken. Sie knipst den. Wandschalter an, und die Weihnachtsbeleuchtung an der Decke flackert auf, wodurch der Raum seine billige, kitschige Atmosphäre erhält. Der mumifizierte Leichnam von Schwester Januarius liegt still und zusammengefallen in seinem Glassarg in der Mitte des Raumes. Die Haushälterin schüttelt angesichts dieser schauerlichen Reliquie den Kopf und stöpselt ein Verlängerungskabel in eine Steckdose in der Ecke. Binnen einer Sekunde werden wir von einem harten, grünen Leuchten eingehüllt. «Ohne diese Dinger sieht man hier überhaupt nichts», sagt sie und zeigt auf die Leuchtröhren, die in einer Nische verborgen sind. «Aber Sie kennen ja Pater Rose, er bevorzugt stimmungsvolle Beleuchtung. Hilft ihm, sich einzubilden, er hätte hier unten etwas anderes als einen Haufen alter Knochen.» Dann geht sie hinüber zum Sarg, läßt ihre Finger über die Oberfläche gleiten und hat eine dicke Staubschicht auf den Fingerkuppen. «Wo kommt das Zeug her, haben Sie sich darüber schon mal Gedanken gemacht? Ich benutze ›Staubfrei‹ und ›Formula 409‹, außerdem ist die Tür immer verriegelt, es gibt keine Fenster hier und trotzdem…» Sie fuchtelt mir mit ihrem Finger vor der Nase herum. «Entropie», sage ich. «Winzige Partikel von allem. Staub ist der sichtbare Beweis dafür, daß die Welt an sich zerfällt.» 470
Eine Sekunde lang sind ihre Augen auf der anderen Seite der Brillengläser ohne Ausdruck. Dann schüttelt sie den Kopf. «Sie sind genauso verrückt wie der Priester», sagt sie. Der Deckel des Sarges wird an beiden Seiten von acht kunstvollen Bronzehaltern gesichert, die ihrerseits von Flügelschrauben zusammengehalten werden. Die Haushälterin zieht einen Schraubenschlüssel aus dem Bund ihrer schlichten orthopädischen Strümpfe und beugt sich über den ersten Bronzehalter. Dann fällt ihr Blick auf das Spinnennetz zwischen den klobigen schwarzen Schuhen der Nonne, und sie klopft ärgerlich mit einem Knöchel auf das Glas. Die Spinne hängt friedlich in ihrem Netz und hat noch keine Ahnung von der Katastrophe, die ihr bevorsteht. «Ich gehe alle zwei Monate mit dem Staubsauger hier rein», sagt die Haushälterin mehr zu der Spinne als zu mir. «Und trotzdem gibt es immer noch Insekten hier. Wie kommen die hier rein? Ich sag Ihnen, wie! Leichen ziehen alle möglichen Arten von Ungeziefer an. Je früher die Toten unter der Erde sind, um so besser!» Ich habe es geschafft, die Haushälterin davon zu überzeugen, daß Schwester Januarius’ Leiche als Ergebnis meiner Nachforschungen schon bald in ein Grab im Kirchhof gelegt werden wird. Das kommt der Frau gut zupaß. Wir alle haben unsere kleinen Ärgernisse, die geringfügigen Irritationen, die, wenn man sie zusammenfügt, sich irgendwie gegen uns verschwören, uns das Leben zu verbittern. Die Beseitigung von nur einer einzigen dieser Widrigkeiten kann es so aussehen lassen, als würde die Welt ein klein wenig besser werden. Die Haushälterin fühlt sich verantwortlich für Schwester Januarius’ Mumie, daher erlaubt sie mir nicht, dem Sarkophag in die Nähe zu kommen, während sie sich an 471
den Schrauben zu schaffen macht. Sie bittet mich, ans andere Ende des Raumes zu gehen, unter die Weihnachtslichter. Fünfzehn Minuten vergehen, bevor sie mich zu sich bittet, damit ich ihr bei dem schweren Glasdeckel helfe. Mit einiger Mühe schieben wir ihn, begleitet von dem zähneknirschenden Kratzen von Glas auf Glas und dem überraschenden Duft von wilden Blumen, halb beiseite. «Ich habe einen dieser Luftverbesserer da reingelegt», erklärt die Haushälterin. «Sie hätten das alte Mädchen mal vorher riechen sollen.» «Wohin haben Sie ihn gesteckt?» erkundige ich mich. «Fragen Sie nicht. So, was wollen Sie jetzt von hier haben?» Ich versuche, der verschrumpelten braunen Haut und dem schauerlichem Gebiß keine Aufmerksamkeit zu schenken. «Die alte Bibel», sage ich mit krächzender Stimme. «Da…» Die Haushälterin nickt und streckt die Hand aus, um das Spinnengewebe wegzuwischen und das Buch herauszuangeln. Wir schieben den Deckel wieder zurück, und während sie sich abermals mit dem Schraubenschlüssel ans Werk macht, trete ich zurück, um meinen Schatz zu begutachten. Es ist eine schwere Douai-Reims-Übersetzung des Neuen Testaments, gedruckt in Paris in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gebunden in schwarzes Saffianleder und mit brüchigem Goldschnitt. Der Inneneinband ist marmoriert; der heilige Text ist aus Platzgründen dreispaltig gesetzt. Und wie ich vermutet habe, ist es eine Studienbibel, gedruckt auf schweres Schreibpapier, und mehr als die Hälfte der Seiten sind leer, um Platz für private Notizen und Kommentare zu bieten. Ein flüchtiger 472
Blick zeigt, daß diese Seiten von oben bis unten mit einer winzigen, femininen Handschrift bedeckt sind - lange Passagen von Geschriebenem, die nur in unregelmäßigen Abständen durch die Einfügung weniger Leerzeilen und eines Datums unterbrochen sind. Es gibt viele solcher Daten, und sie umfassen eine Zeitspanne von etwa vierzig Jahren. Es ist eigentlich keine Abfolge tagtäglicher Eintragungen, aber trotzdem ein Tagebuch. Das Tagebuch einer Heiligen. Ich spüre das Gewicht und die Gewalt dieses Buches in meiner Hand. Vorsichtig puste ich eine dünne Staubschicht von den Buchdeckeln und lächle.
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amstag. Der Tag ist hell und klar und wunderschön und typisch für den Monat September. Die Luft am Morgen ist ein bißchen kühl, gerade richtig für eine leichte Jacke. Der Jetstream zieht hohe, gleichmütige Kondensstreifen hinter sich her. Die Waggons des LongIsland-Zugs riechen staubig und alt. Ich steige in Flatbush zu und steige in Jamaica in Queens wieder aus, um auf dem Bahnsteig auf den Anschlußzug zu warten, zusammen mit vielen anderen: Müttern und Kindern mit Schirmen und Picknickkoffern, Pensionären mit Golfmützen, attraktiven jungen Jüdinnen, deren Haar ein Gewirr von Locken ist und die sich hinter Sonnenbrillen und Büchern verstecken. Jetzt, während ich auf den Betonstufen im Schatten sitze, habe ich ein verschwommenes und tröstliches Gefühl von déjà vu. Das ist eine dieser großen Wiederholungen bürgerlichen Lebens. Für einen Tag aus der Stadt rauszukommen, aufs Land, der Zug fährt in die Endstation ein, die Dünen nah und von schmerzhaftem Weiß, geformt aus Licht. Ich sehe mich um und betrachte die Gesichter, NewYork-Gesichter, hart und gelb und ausgelaugt von dem Leben in der Stadt. Sie hatten diesen Sommer nicht viel Zeit wegzukommen, frische Luft zu atmen. Der harte Konkurrenzkampf hat sie in den Büros, in den Geschäften, in der U-Bahn eingepfercht. Sie wirken wie Figuren von Maupassant, tragisch und ironisch zugleich. Früher einmal war ich einer von ihnen. Gestern noch. Aber heute bin ich anders, und ich habe das Gefühl, als würde diese Andersartigkeit leuchten wie ein Stern. In meiner Schultertasche, gut gepolstert zwischen einem 474
neuen Taschenbuch über den Mississippi-Bubble-Skandal von 1720 und einer zwei Monate alten Ausgabe der Voice liegt der Schlüssel zu meinem Leben: das Tagebuch einer Heiligen. Ich möchte Fremde umarmen, möchte vom Dach des Zuges meine Entdeckung herausschreien. Ich kann meinen Jubel kaum im Zaum halten. Plötzlich kommt vom Meer her frischer Wind auf. Ich fülle meine Lungen mit der sauberen Luft. Der Zug rattert um die Kurve und verlangsamt dann seine Geschwindigkeit. Die Fahrgäste stellen sich entlang des Bahnsteigs auf. Ich zögere, drängle mich dann in die erste Reihe vor Bilde ich mir das ein oder treten die Leute beiseite, um mir Platz zu machen? Und die attraktive junge Jüdin mit dem goldbraunen Wuschelkopf, läßt sie ihren - Camus sinken, um mir über die dunklen Gläser ihrer Sonnenbrille einen anerkennenden Blick zuzuwerfen?
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er kleine Bahnhof in East Hampton ist mit einem großen Transparent geschmückt, das die Rushwick Country Club Long Island Pro-Am ankündigt. Den Rushwick Country Club gibt es noch nicht lange, und das Clubgelände wurde erst vor zwei Jahren auf dem Grundstück einer aus der Zeit um die Jahrhundertwende stammenden Villa angelegt, die früher einer der ältesten New Yorker Familien gehörte, den van Rushwicks. Der letzte Erbe starb von Wahnsinn umnachtet Ende der achtziger Jahre. Nach einem langen Gerichtsstreit wurden Grundstück und Haus an einen Golfenthusiasten verkauft einen Grundstücksmakler, der achtzehn Löcher aus dem Anwesen herausholte und die modernste Golfeinrichtung im ganzen Land errichtete, voller überflüssiger Spielereien wie digitalen Ballwaschanlagen und elektronischen Zählkarten. Ich steige in den Pendelbus zum Turniergelände, zusammen mit einer kleinen Gruppe von Golffanatikern älteren Männern und Frauen, die grünbeschirmte Mützen und übertriebene Golfkleidung tragen. Sie wirken ziemlich aufgeregt und halten Händchen wie Teenager. Wir rollen zwanzig Minuten lang durch die grüne Landschaft und nähern uns dem Van-Rushwick-Besitz durch eine Eichenallee, die mich an die Plantagen von Louisiana erinnert. Ein großes Eisentor, grüner Rasen bis zum Horizont und irgendwo das Geräusch von begeistertem Applaus. Als wir aussteigen, ist es so, als träten wir vom Bus aus direkt ins Paradies. Wir nähern uns voller Ehrfurcht dem Kartenschalter und bezahlen ohne mit der Wimper zu 476
zucken die fünfunddreißig Dollar Eintrittsgebühr. Das scheint ein vernünftiger Preis zu sein an einem so wunderschönen Tag, in einem so grünen und kostbaren Park. Dann folge ich der Menge um den Steinkoloß des alten Wohnsitzes herum, dessen dunkle Seiten mit Baugerüsten bedeckt sind. «Das Haus wird in ein Luxushotel für Golfer umgebaut», höre ich eine der älteren Damen sagen, «mit Fernsehübertragungen direkt von den Grüns und einem unterirdischen Parkplatz, damit die Wirkung nicht verdorben wird.» Wir passieren ein zweites Drehkreuz, wo ein mürrischer junger Mann mit einem Walkie-talkie und einem Rushwick-CC-Polohemd meine Tasche durchsucht. «Wonach suchen Sie?» frage ich, während er mit einem mürrischen Gesichtsausdruck meine Bücher betatscht. «Automatische Waffen, Sprengstoffe, alkoholische Getränke. In dieser Reihenfolge», sagt er. «Hatten Sie hier draußen Probleme?» «Man kann nie wissen, Sir», sagt er und sieht mich aus schmal gewordenen Augen an. «Es gibt überall Irre.» Dann zieht er Schwester Januarius’ Bibel aus der Tasche. «Seien Sie vorsichtig damit», sage ich. «Was ist das?» sagt er. «Eine Bibel.» «Sie sind nicht einer von diesen wiedergeborenen Christenspinnern, nein? Die können nämlich gefährlich sein. Wir hatten einen hier, der am siebten Loch zu predigen angefangen hat, und der Golfer hat seinen Putt verfehlt. Das war echt beschissen.» «Keine Sorge», sage ich. «Ich bin Katholik. Wir sind ziemlich ruhige Leute.» Er sieht mich finster an, blättert die Bibel durch und gibt 477
sie mir zurück. «So ein Buch könnte man auch als Waffe benutzen. Gibt es keine kleineren Ausgaben?» Ich zucke mit den Schultern. Er zögert, läßt mich aber durch. Während der nächsten zwei Stunden laufe ich über den Platz, benommen von der prächtigen Landschaft. Unterwegs sehe ich mehrere Birdies, zwei Eagles und drei Bogeys. Auf den Grüns stützen sich die Profis auf ihre Putter, wie in ein Gebet versunken, während die Caddies sich in respektvoller Entfernung halten. Es ist nicht so sehr das Spiel selbst, die primitive sexuelle Dynamik von Ball und Loch und Schläger, das mich in seinen Bann schlägt, eher die ganze wunderschöne Szenerie: Juwelenhaft funkelnde Grüns, Bäume, die sich in der Wiese wiegen, die Wärme der untergehenden Sonne und die Zuschauer, schweigend und respektvoll wie die Menschenmenge bei einer Krönungsfeier. Als ich Pater Rose entdecke, klemmt er gerade im DogLeg des dreizehnten Lochs fest und versucht, sich seinen Weg aus dem Rough freizuschlagen. Er hat sich für heute seiner jesuitischen Einfachheit entledigt. Vom Priester ist nichts mehr zu sehen. Er trägt ein modisches Golfensemble im Stil der zwanziger Jahre, mit Kniehosen aus Tweed, gelbkarierten Socken, zweifarbigen Straßenschuhen, einem Stricksweater und einer Tweedmütze. Er studiert eine ganze Weile die Position des Balles, bedeutet seinem Caddy, daß er ein Eisen-9 haben will, und schlägt den Ball in eine Gruppe von Weiden fünfundsiebzig Meter weiter westlich. Er flucht, wird rot im Gesicht. Ich kann ihn fast vor mir sehen, wie er den Schläger über einem Knie zerbricht. Auf der großen Anzeigetafel rangiert er als Hundertundzehnter in einem Teilnehmerfeld von hundertundzwölf. Ich warte, bis er drei Schläge später wieder auf dem 478
Grün ist und seinen Double-Bogey anstarrt - der Putt ist ein so gut wie unmöglicher Zwölf-Meter-Schuß. Ich reiße eine Seite aus meinem Notizbuch und schreibe: «Pater Rose, es könnte Ihrem Spiel vielleicht nützlich sein zu wissen, daß Brooklyn seine Heilige hat, mit ein oder zwei Wundern als Dreingabe - Ned C.» und schicke es durch einen Mann vom Platzpersonal zu ihm hinüber. In der Zwischenzeit bückt sich der berühmte armenische Golfspieler Pulan Lazikian, der zusammen mit Pater Rose spielt, nach seinem Markierstift und legt seinen Ball für einen Sechseinhalb-Meter-Schlag zurecht. Mit zusammengekniffenen Augen fixiert er das Loch eine Sekunde lang und puttet dann mit der ruhigen Selbstsicherheit eines Profis. Der weiße Ball beschreibt einen sanften Bogen auf dem Gras, sieht bis auf den letzten halben Meter ganz gut aus, springt dann aber nach links weg. Das Publikum läßt ein enttäuschtes Murmeln hören. Lazikian hat sich gerade um den Punktgleichstand mit dem Führenden und damit um eine halbe Million Dollar gebracht. Pater Rose entfernt sich von diesem Drama, um meine Notiz zu lesen. Dann runzelt er die Stirn, zieht einen Bleistift aus der Tasche, kritzelt eine Antwort auf die Rückseite und schickt sie zu mir zurück. «Im Augenblick bin ich kein Priester, sondern Golfer», steht auf dem Zettel. «Und als Golfer mißbillige ich die Störung meines Spiels. Mit dem Priester können Sie heute nachmittag nach dem Turnier auf der Terrasse des Clubhauses reden.» Und danach wirkt er nervös, bringt aber Augenblicke später den unmöglichen Putt mit einem einzigen verblüffenden Schlag zustande.
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ie riesige Terrasse des Clubhauses ist nierenförmig und mit poliertem Naturstein in verschiedenen Grautönen gepflastert. Das Clubhaus selbst, ein massiver Bungalow aus Holz, Stein und Glas, erinnert an Frank Lloyd Wrights Falling Water. In der Luft liegt der Geruch von gemähtem Gras und lehmiger Dunkelheit unter den Büschen. Die Tische sind besetzt mit Golfern und ihrem Gefolge, Männern und Frauen, die sich im ersten ruhigen Licht der Abenddämmerung bei einem Drink entspannen. Aus irgendeinem Grund sickert Mariachi-Musik durch die Lautsprecher, als hätte einer der mexikanischen Kellner das Kommando über die Stereoanlage übernommen. Das Rasseln von blechernen Hörnern, das Akkordeon, dazu der Klang lachender Männerstimmen und das Klirren von Gläsern lassen mich an eine Cantina in einer Grenzstadt denken und an den Gestank von Tequila. Als ich Pater Rose finde, ist er an einem kleinen Tisch am anderen Ende der Terrasse über einer Bloody Mary in sich zusammengesunken. Anmutige Mädchen in Schürzen bewegen sich mit ihren Tabletts voller Gläser durch die Reihen, schweigend wie Elfen. Vom Meer kommt ein kalter Wind. Pater Rose bedeutet mir, mich hinzusetzen. Dann rührt er mit einem Stück Stangensellerie in seiner Bloody Mary und meidet meinen Blick. Ich warte. «Es ist ein harter Tag gewesen», meint er nach einer Weile. «Ich muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Ich bin als Golfer nichts mehr wert.» Er ist als Hundertachter vom Grün gegangen, was heißt, daß er seine Position am späten Nachmittag ein wenig verbessert hat. 480
«Na, na, Pater», sage ich. «Ich habe da ein paar gute Schläge gesehen. Auf jeden Fall einen ganz hervorragenden Putt.» Er winkt ab. «Manchmal glaube ich, Golf ist ein schlimmeres Laster für einen Priester, als eine Geliebte zu haben oder mit den Meßdienern zu schlafen», sagt er. «Wenn man so sehr gewinnen will wie ich, dann ist das eine Sünde. Ich rede mir immer wieder ein, meine Besessenheit sei nicht so schlimm, solange ich meine Gewinne der Kirche spende. Aber das stimmt nicht. In Wirklichkeit hoffe ich, daß, wenn ich meinen Gewinn der Kirche spende, ein Wunder geschehen wird und ich einen der ersten fünf Plätze belege.» «Es ist doch ein Wunder geschehen, Pater», sage ich lächelnd. Er sieht mich aufmerksam an. «Na schön, was haben Sie für mich?» Ich lege eine dramatische Pause ein, ziehe dann Schwester Januarius’ Bibel hervor und lege sie auf den Tisch. Pater Rose erkennt das Buch auf der Stelle und ist entsetzt. «Sie haben doch nicht», er findet kaum die richtigen Worte, «den Ruheplatz entweiht, an dem…» «Bitte, Pater, hören Sie mich an.» Ich erzähle ihm von den Wundern im Krankenhaus und von dem Geist, von Madeleine de Prasères de la Roca und von Albane d’Aurevilley, davon, wie aus der einen eine Prostituierte und aus der anderen eine Nonne wurde, die den Namen des Märtyrers Januarius annahm. Das Licht über den dunklen Hügeln im Westen verblaßt. Die Nacht hält Einzug. Die anmutigen Mädchen bringen Wärmelampen und stellen sie hier und dort auf der Terrasse auf, um der Ozeanbrise ihre Kühle zu nehmen. 481
«Mr. Conti», sagt Pater Rose schließlich, «Sie müssen wissen, daß ich nicht an Geister glaube.» «Wie kann man an Heilige und Wunder glauben, aber nicht an Geister?» «Lassen Sie es mich einmal anders ausdrücken. Die Ritenkongregation in Rom, die glaubt nicht an Geister. Das ist eine ziemlich dickköpfige Truppe. ›Sie haben das alles von jemandem gehört, der es von einem Geist gehört hat?‹ werden sie zu mir sagen. ›Was für eine Art Beweis soll das sein?‹ Man wird mich unter Hohngelächter aus dem Vatikan werfen.» «Keine Angst, es steht alles hier drin, die ganze Geschichte», sage ich und tippe auf die Bibel. «Mit Tinte aus dem 19. Jahrhundert in einer Handschrift aus dem 19. Jahrhundert auf Papier aus dem 19. Jahrhundert, authentisch und verifizierbar. Die ureigene Geschichte einer Heiligen, ein wertvolles historisches Dokument. Sie hat Steine in Käse verwandelt, die Blinden sehend gemacht, die Lahmen gehend. Sie hat angefangen als ein seltsames kleines Mädchen, das über unkontrollierte spirituelle Kräfte verfügte, und Gott ist nach und nach zu ihr gekommen, in Lichtblitzen, einer künstlerischen Inspiration gleich. Sie hat sich ihren Weg zu ihm getastet, hat viele Fehler gemacht. Aber es hat einen großen, unverzeihlichen Fehler gegeben, zu einer Zeit, als sie es bereits besser wußte, ganz am Anfang ihrer Zeit in Brooklyn. Und deswegen trägt sie die Schuld daran, daß eine Seele für mehr als hundertundvierzig Jahre in meiner Wohnung gefangen saß.» Der Priester leert seine dritte Bloody Mary und knabbert lautstark an seiner Selleriestange, während ich in der Bibel die wesentlichen Passagen aufschlage und das Ganze zusammenfasse. 482
Voller Reue über ihre Rolle bei der Ermordung von Esteban de Vasconcellos nahm Albane d’Aurevilley 1842 in New Orleans den Schleier und wurde Schwester Januarius von den Barmherzigen Schwestern vom Heiligen Kreuz. Zuerst war Schwester Januarius’ Glaube schwach, und sie dachte nur an Esteban, ihre verlorene Liebe: daran, wie er sie mit ihrer Cousine Madeleine betrogen hatte, und daran, wie er wegen ihrer eigenen boshaften Rachsucht brutal zu Tode gekommen war. Aber während des strengen Noviziats verwandelte sie sich. Allmählich schwanden Verzweiflung und Selbstsucht aus Schwester Januarius’ Herz, und an ihre Stelle traten Selbstlosigkeit und religiöser Eifer. Dann, eines Nachts im Frühling während ihres zweiten Jahres als Novizin, wurde sie im Traum von der Heiligen Jungfrau Maria aufgesucht, die ihr mitteilte, daß der Heilige Benedikt und die Heilige Theresa von Ávila ihre Schutzheiligen sein würden und daß es ihre Pflicht sei, ihre besonderen Fähigkeiten zum Ruhme Gottes einzusetzen. Also betete und fastete sie, und so wurde ihr die Kraft gewährt, zu heilen und Wunder zu wirken. In der Zwischenzeit war Madeleine de Prasères de la Rocas unerklärliches Verschwinden aus der Gesellschaft das Stadtgespräch von New Orleans. Ihr Mann, Don André, ließ verlauten, seine Frau sei zu einer Kur nach Europa gefahren, um sich von einem Nervenleiden zu erholen. Aber trotzdem gab es viele Gerüchte, und Don André tötete unter den Duell-Eichen zwei junge Männer, die Spekulationen zu dieser Angelegenheit angestellt hatten. Am Abend vor Schwester Januarius’ letzten Gelübden kamen der Heilige Benedikt und die Heilige Theresa von Ávila in der Gestalt von Kolibris zu ihr und enthüllten ihr 483
den Aufenthaltsort ihrer Cousine. Madeleine schmachte fern von Gott an einem Ort namens Brooklyn, sagten sie. Gehe zu ihr und hilf ihr zu erfahren, daß Gott barmherzig ist. Ein Jahr später erhielt Schwester Januarius die Erlaubnis von ihrem Bischof, außerhalb ihrer Klostergemeinschaft in St. Basil zu dienen, einer damals neuen, aber armen Gemeinde irischer Immigranten. Geführt von den Stimmen ihrer Heiligen reiste sie nach Norden und fand Madeleine schließlich in einer schmutzigen Wohnung in einem Prostituiertenviertel in der Nähe des Hafens von Molasses Hill. Aber die arme Madeleine war in entsetzlicher Verfassung, bereits halb zerfressen von der geziemenden biblischen Krankheit - der Lepra. «Was ist die Pointe dieser gräßlichen Geschichte?» unterbricht mich Pater Rose. Er winkt die Kellnerin heran, um sich noch eine Bloody Mary zu bestellen. «Sie werden schon sehen, Pater», sage ich, senke in dem fahlen Licht der Terrasse meinen Kopf über die winzige, krakelige Handschrift und beginne zu lesen.
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11 1847 - 6. Aug. - Ich habe mein Bestes getan, um das Leiden meiner armen Cousine zu lindern, eine Aufgabe, die mir der Allmächtige gestellt hat, um meine Seele für die vor mir liegende Arbeit zu stärken. Die Ärzte kommen nicht mehr & haben aufgehört, ihre Medikamente zu schicken, denn es ist kein Geld mehr übrig & ich muß ihre Wunden selbst baden & verbinden. Der Gestank ist schrecklich. Die Glieder der armen Madeleine verrotten auf den Knochen, ihr Haar fällt aus. Sie klammert sich an ihren Haß auf ihren Mann wie ein Ertrinkender an eine Holzplanke & sie glaubt auch nicht mehr an Gott oder an die Erlösung der Seele. Ich sage ihr immer wieder, daß das Leiden ihren Glauben nicht ins Wanken bringen darf, daß selbst das Leiden ein Geschenk des allmächtigen & barmherzigen Gottes ist, so daß wir im nächsten Leben dem Paradies mit größerer Vollkommenheit entgegengehen können. Sie lacht mich aus & der Klang ihres Gelächters ist furchtbar, das Lachen des Fürsten der Verführer in der Wildnis der Hölle. Sie pflegt eine gottlose Sprache & beschimpft mich aufs Übelste - mit Blasphemien, die sie in ihrem Leben als Hure erlernt hat. So sehr ich mich auch bemühe, ich kann weder christliche Nächstenliebe noch Mitleid für sie empfinden & ich weiß, daß das eine schwerwiegende Sünde, vielleicht eine Todsünde ist; es ist unsere Pflicht, jene, die uns unrecht getan haben, zu lieben, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht. Ich habe meine Gedanken schon lange nicht mehr zu meinem teuren, geliebten Esteban schweifen lassen, aber jetzt denke ich jeden Tag an ihn & ich denke an die sieben Male, die wir uns im Fleisch vereint haben 485
zweimal im Garten, einmal in seinem Zimmer auf der oberen Galerie, einmal in meinem Ankleidezimmer auf der unteren Galerie, zweimal auf einem Sofa in der Bibliothek & einmal in Papa Prasères Tilbury an dem Nachmittag, an dem wir eine Fahrt aufs Land unternommen haben - alles, bevor Cousine Madeleine ihn verführt & mir weggenommen hat. Ja, ich weiß, daß ich meine Seele mit diesen Akten körperlicher Liebe - ja, der Unzucht - in Gefahr gebracht habe, & ich habe meine Sünden bereut, aber ich kann nicht aus meiner Haut heraus: Ich verachte Madeleine noch immer für ihren Betrug. Gestern bin ich mit Glasscherben in meinen Schuhen gelaufen, bis meine Füße blutig waren, um für meine Unfähigkeit, ihr zu vergeben, Buße zu tun. 8. Aug. - In den wenigen wachen Stunden, die sie noch hat, ist Cousine Madeleine ganz in Anspruch genommen von einer bizarren & wortreichen Korrespondenz mit Mr. Bleekman, einem Rechtsanwalt, der sein Büro jenseits des Flusses auf Manhattan Island unterhält. Seit gestern kann sie zwei Finger nicht mehr benutzen & bittet mich jetzt, den Stift an ihre Hand zu binden. Diese Korrespondenz - auf die sie mich keinen Blick werfen läßt - läßt sie in einem Korb aus dem Fenster herunter, wo eine schlampige Negerin sie entgegennimmt & mit der Fähre, die am unteren Ende der Fulton Street anlegt, nach Manhattan bringt. Die Antworten des Gentleman werden von einem jungen Angestellten übermittelt, der keinen Schritt weiter hereinkommt als bis zur untersten Treppenstufe. Ich habe mich viele Male nach dem Zweck dieses verzweifelten Hin & Hers erkundigt, aber meine Cousine lächelt lediglich auf eine ganz finstere Art & Weise & antwortet, daß sie Vorkehrungen für ihre 486
Rückreise nach Louisiana trifft. Gott erlöse sie von ihrer schmerzlichen Verblendung! Sie würde diese anstrengende Reise niemals überleben. Ich fürchte, sie hat den Verstand verloren. Wenn ich aber das wilde Flackern in ihren Augen sehe, dann denke ich, daß sie vielmehr etwas Schreckliches plant, das nach ihrem Tod stattfinden soll. 12. Aug. - Madeleine ist nun Opfer der entsetzlichsten Schmerzen, in denen ich Gottes Strafe für sie sehe. Ich biete ihr Elixiere an, um ihre Qualen zu dämpfen, aber sie weigert sich & sagt, sie ziehe es vor, bei klarem Verstand zu sein für ihre Arbeit, die noch nicht getan sei. Was für eine unglaubliche Entschlossenheit! & doch weigert sie sich, Gottes Gnade anzunehmen & ihre Sünden zu beichten. Dieser Starrsinn bekümmert mich zutiefst, denn dadurch wird sie ihre unsterbliche Seele verlieren! Ich erkläre ihr, daß man ihr das Sakrament der letzten Ölung verweigern wird, wenn es zu Ende geht & daß sie deshalb die Qualen der Hölle erleiden wird, aber diese Warnung scheint sie nicht übermäßig zu beeindrucken. Der Gestank hier wird immer schlimmer; die Luft ist angefüllt von dem Geruch nach verfaulendem Fleisch & Exkrementen. Und ich tröste mich mit den Worten des Propheten Jesaja: «Denn meine Gerechtigkeit ist nahe, mein Heil tritt hervor. Hebt eure Augen auf gen Himmel!» 15. Aug. - Zu meiner großen Schande leugnet Madeleine immer noch das Licht von Gottes Barmherzigkeit. O ihr Engel & Heiligen, gebt mir die Kraft, mit dem Fürsten der Verführer zu ringen, der ihre müde Seele in seinen Klauen hält! Ich führe viele Gespräche mit ihr über das Thema ihrer Erlösung, aber alles vergeblich. Sie macht sich lustig über mich, wenn ich an ihrem Bett knie, um für sie zu 487
beten & verhöhnt mich oft mit Schilderungen der Wonnen, die sie mit Esteban geteilt hat - obwohl ich nicht glaube, daß sie auch nur das geringste von meinen eigenen Aktivitäten in diesem Bereich ahnt & ich werde Schweigen darüber bewahren, um ihr Leiden nicht noch zu mehren. Der heilige Benedikt & die heilige Theresa von Ávila sind mir schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Gestalt von Kolibris erschienen. Ich glaube, der Gestank des bösen & reulosen Herzens meiner Cousine hat sie verjagt. 17. Aug. - Heute habe ich herausgefunden, daß Cousine Madeleine der langen Liste ihrer Sünden, zu der auch Hurerei & Unzucht zählen, auch noch Selbstmord hinzugefügt hat & wie immer zittere ich um ihre unsterbliche Seele. Sie hat mir erzählt, daß sie sich im vergangenen Jahr absichtlich an der Lepra angesteckt hat, indem sie auf einem Clipper aus China, der unter Quarantäne stand, mit den Matrosen herumgehurt hat; die Matrosen sind seither alle an dieser Seuche gestorben. Wochenlang hat Madeleine sich jeden Abend auf das Schiff geschlichen, hat sich auf den Rücken geworfen & hat gehurt & gehurt, bis sie alles Gold, das die armen Kerle besaßen, davongetragen hatte. Ungefähr einen Monat danach zeigten sich bei ihr die ersten Anzeichen von Fäulnis, die zuerst als harte rote Schwielen auf der Haut in Erscheinung treten. Mit Tränen in den Augen bat ich sie, mir ihre Motive zu offenbaren. War sie des Lebens überdrüssig geworden? «Ich habe es wegen des Geldes getan», sagte sie & drehte ihr Gesicht zur Wand & wollte nichts mehr hören, obwohl ich mein Neues Testament hervorholte & ihr aus Matthäus 8 vorlas, wo unser Herr Jesus Christus die Sündigen & Kranken heilt: «Und siehe, ein Aussätziger kam heran und fiel vor ihm nieder und 488
sprach: Herr, wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und sogleich wurde er von seinem Aussatz rein.» 20. Aug. - Meine Cousine wird von Tag zu Tag schwächer & unachtsamer & ich habe endlich ein paar Bruchstücke von ihrer Korrespondenz mit dem ehrenwerten Mr. Bleekman, Esq., von Manhattan mitbekommen & beginne die Gestalt ihres abscheulichen Planes zu verstehen. Meine Seele ist starr vor Entsetzen! Es ist zu furchtbar! Madeleine hat ihr Leben auf dem Altar der Rache geopfert & beabsichtigt, ihren Mann für den Tod meines lieben Esteban mit einer schrecklichen Strafe zu schlagen. Der Plan ist teuflisch & würde dem großen Verführer persönlich zur Ehre gereichen! Sie erwähnte eine große Summe, die sie für ihre Bemühungen beiseite gelegt hat, Gewinne aus ihrer Hurerei im Laufe dieser letzten, sündigen Jahre. Ich glaube, daß es sich um mehr als fünftausend Dollar in Gold handelt, die sie in einer Geldkassette unterm Bett aufbewahrt. Wenn ich richtig verstanden habe, geht es um folgendes: Madeleine hat bereits die Anfertigung eines seltsamen Grabmals bezahlt, eines Obelisken aus schwarzem Marmor, auf dem nur ihr Name eingraviert ist & ihr Gewerbe & zwar auf unmißverständliche Weise - HURE & hat ein Arrangement mit diesem Rechtsanwalt Bleekman getroffen, der alle weiteren wesentlichen Einzelheiten nach ihrem Tod regeln soll. Der Obelisk soll zusammen mit ihrem Leichnam per Schiff nach New Orleans zurückgebracht werden, wo die Zeitungen mit einem schillernden Bericht über ihr sündiges Leben & ihren schmutzigen Tod ausgestattet werden sollen. Sobald sie dort ist, besteht dann der nächste Schritt darin, daß auf dem Friedhof St. Louis auf der Royal Street mit großem Pomp ein Denkmal errichtet wird. In der Kathedrale soll 489
die Messe gelesen werden, während ihr Leichnam, in einen prachtvollen Sarg gebettet, mit einer großartigen Beerdigungsflottille flußabwärts zu seinem letzten Ruheplatz in der Begräbnisstätte von Belle Azur gebracht wird. Cousine Madeleine hat diese Dinge so berechnet, daß sie die größtmögliche öffentliche Wirkung haben. Sie vermutet ganz richtig, daß unsere Stadt von diesen Dingen noch lange sprechen wird, denn welcher gute Kreole würde sich eine so prunkvolle Beerdigung entgehen lassen? Und wer würde nicht den Bericht darüber in L’Abeille & Le Courier de la Louisiane lesen wollen? Auf diese Weise wird Madeleines Schicksal allgemein bekannt werden & ihre phantastische Rache wird mit einem einzigen Schlag von Erfolg gekrönt sein. Don Andrés monströser Stolz wird irreparabel verwundet sein & seine Familienehre zerstört. Ein Abkömmling der spanischen Granden verheiratet mit einer Hure! Die Leute werden von nichts anderem mehr reden! Er wird zum Gespött der Stadt werden, dieser stolze, hochmütige Spanier! Niemand wird seine Herausforderungen mehr annehmen & das allein ist für einen so leidenschaftlichen Duellanten wie Don André eine Demütigung, schlimmer als der Tod; der Lächerlichkeit preisgegeben, wird er aus der Gesellschaft verstoßen werden. Madeleines Plan ist tatsächlich genial & wird diesen aufgeblasenen, morddurstigen Mann bis ins Mark treffen. Aber mit was für einem schrecklichen Preis erkauft! Erkauft mit Sünde & mit Tod! Erkauft mit dem grausamen Leiden ihres Körpers & dem Untergang ihrer unsterblichen Seele! Ich weine um sie & meditiere über die Worte in den Klageliedern 3,22: «Die Güte des Herrn ist’s, daß wir noch nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine 490
Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.» O heiliger Benedikt & heilige Theresa, kommt zu mir! Warum habt ihr so lange geschwiegen? Gebt mir die Kraft, Madeleine zu zeigen, auf welchen Irrwegen sie wandelt! 25. Aug. - Das Gebrechen meiner Cousine hat eine plötzliche Wendung zum Schlimmeren genommen. Sie kann ihre Arme nicht mehr heben & ihre Extremitäten sind kaum mehr als brandige Stumpen. Ein Fieber tobt in ihrem Körper & sie lebt, ohne sich von der Stelle zu rühren, in ihrem eigenen Schmutz. Ich werde fast ohnmächtig von dem Gestank & muß eine in Kampfer getränkte Baumwollmaske tragen, um es auch nur einen Augenblick an ihrem Bett auszuhalten. Das Ende ist nur noch ein oder zwei Tage entfernt & noch immer kämpft sie verzweifelt um ihr Leben. Welche Entschlossenheit! Hätte sie doch nur ein gutes Ziel! Hat unser Herr am Kreuz auch so gelitten? Dieser Gedanke ist reine Blasphemie, aber es scheint, als könne Madeleines Leiden tausend Seelen aus der Hölle erlösen - obwohl es nun ausreicht, um eine Seele in ewige Verdammnis zu schicken. Der heilige Benedikt & die heilige Theresa wahren ihr heiliges Schweigen. Liegt es daran, daß sie wissen, daß in meinem Herzen keine echte Liebe für meine Cousine Madeleine ist? Gestern habe ich zwei Kolibris um einen der Feigenbäume, die längs der Gehsteige in diesem schäbigen Viertel wachsen, fliegen sehen & mein Herz jubelte - ich hielt ihnen die Hände hin, damit sie sich darauf ausruhen konnten & die zarten gefiederten Geschöpfe schwebten einen Moment lang über meinen ausgestreckten Armen, so dicht, daß ich den Lufthauch spüren konnte, den sie mit dem Schlagen ihrer winzigen 491
Flügel aufwirbelten, aber sie hatten nichts zu sagen & waren nur einfache, arme, gefiederte Geschöpfe dieser Welt. 26. Aug. - Heute sehe ich das Entsetzen in Madeleines Augen & ich muß zu meiner Schande gestehen, daß es mir eine Befriedigung verschafft, die meine Seele schmerzt. Es ist nicht das Entsetzen des Todes, das sie in der Kehle würgt. Nein, sie ist tapfer, viel tapferer als ich! Statt dessen wird sie nun von der Angst heimgesucht, daß sie sterben könnte, bevor ihre Rachepläne zur Vollendung herangereift sind & ich sage zu ihr: «Ja, der Allmächtige greift oft in die Pläne des Menschen ein, seien sie auch noch so sorgfältig geschmiedet.» Bei diesen Worten zittert sie vor Angst. Denn die Krankheit hat ihr noch eines, ein einziges zu tun gelassen - namentlich dies: Sie muß noch für all ihre komplizierten Arrangements bezahlen! Der Anwalt Bleekman hat bisher nur einen Vorschuß erhalten; sie wollte den größten Teil ihres Geldes jetzt übergeben. Aber der Tod nimmt keine Rücksicht auf Zeitpläne, schert sich nicht um sorgfältig geschmiedete Ränke & die fünftausend Dollar in Goldmünzen liegen noch immer in der Geldkassette unter ihrem Bett. Heute war sie zu schwach, um noch weitere Briefe verfassen zu können & bat mich, nach Mr. Bleekmans Boten zu schicken oder, wenn dies nicht möglich sein sollte, ihm das Geld nach ihrem Dahinscheiden auszuhändigen. Dieses sündige Ansinnen lehnte ich rundheraus ab. Ich kann nicht zulassen, daß ihre Verschwörung weiter voranschreitet. - Die Rache ist mein, spricht der Herr! Morgen werde ich Pater Collins von St. Basil bitten, ihr die Beichte abzunehmen. Vielleicht können wir ihre unsterbliche Seele noch retten. 492
27. Aug. - Meine Cousine lebt noch, obwohl sie die meiste Zeit wirr im Kopf ist vor Fieber. In seltenen Phasen der Klarsichtigkeit bittet sie mich auf eine überaus mitleiderregende Art & Weise, dem Rechtsanwalt zu zahlen, was sie ihm noch schuldet. Sie fleht mich an, wendet dann das Gesicht ab & beschimpft & beleidigt mich so übel, wie man es sich nur vorstellen kann; dann weint sie wie ein Kind. Sie gibt mir die Schuld für alles Mißgeschick in ihrem Leben. Sie erzählt mir, daß ich ihr die Liebe ihres teuren Papas gestohlen hätte von dem Tag an, an dem ich das Haus auf Belle Azur betrat, eine arme Waise, die ganz allein auf der Welt stand; sie erzählt mir, ich sei verantwortlich für den Tod von Esteban & daß ich ihr jetzt auch noch ihre rechtmäßige Rache stehle. Es ist nutzlos, ihr zu widersprechen, ihr zu sagen, daß ich, wenn ich ihr Unrecht tat, dafür gebüßt habe, ihr zu sagen, daß sie ihre unsterbliche Seele nicht meinetwegen der Verdammnis anheimgeben dürfe, aber ihr Herz will diese Worte nicht hören. Sie ergeht sich in Gottlosigkeiten, wenn ich versuche, ihr in ihren letzten Stunden Trost zu bieten & ich antworte mit einem Vers aus der Apostelgeschichte 8: «Darum tu Buße für diese Bosheit und flehe zum Herrn, ob dir das Trachten deines Herzens vergeben werden könne. Denn ich sehe, daß du voll bitterer Galle bist und verstrickt in Ungerechtigkeit.» 31. Aug. - Es ist geschehen. Madeleine ist endlich tot. Sie starb unerlöst von ihren Sünden & qualvoll in den schwarzen Stunden des Morgens & ich fürchte, daß ihre Seele die Qualen der Hölle erfahren wird. Bis zum letzten Augenblick hat sie mit mir gerungen & mich vor ihrem Tod mit weiteren Beschimpfungen & Flüchen überschüttet. Gottes Gnade ist natürlich unendlich; nur er weiß, wo die wahre Gerechtigkeit liegt & vielleicht wird er eine Möglichkeit finden, Madeleine zu guter Letzt doch 493
noch Erleuchtung zu bringen. Nachher ging ich im Garten der Kirche spazieren, unter einem brütenden Himmel & betete wieder einmal zu den Heiligen um Rat. Sie schwiegen. Da ich Madeleines nächste überlebende Angehörige bin, ist das Gold der Hure jetzt mein & ich kann damit verfahren, wie ich möchte. Ich bin überzeugt von der einfachen Wahrheit, daß es unmoralisch ist, fünftausend Dollar für die Rache einer einzigen Frau auszugeben, während die Summe dazu genutzt werden könnte, das Leiden so vieler Familien in dieser armen Gemeinde zu lindern - & mein Gewissen ist aufgewühlt & verwirrt. Gestern kam der Junge von Bleekman & bat um die erste Rate des Geldes. Ich zögerte & sagte ihm dann, er solle am nächsten Dienstag zurückkehren, um meine Antwort zu hören. Ich flehe bei den Heiligen um Führung; sie weigern sich zu sprechen. Ist dies eine Prüfung für meine eigene Seele? O mein Gott, was soll ich tun?
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as letzte Licht ist unter der schweren Masse des Festlands im Westen versunken. Es ist zu dunkel, um weiterzulesen. Ich klappe die Bibel zu, deren schwere Pergamentseiten steif vom Alter sind. «Sie können nicht einfach aufhören», protestiert Pater Rose, als ich das Buch weglege. «Was hat sie getan?» Seine Augen sind rot in dem Licht der Wärmelampen. «Wir haben hier einen ruhelosen Geist und eine Heilige, die nie heiliggesprochen wurde. Was glauben Sie, hat sie getan?» Pater Rose denkt kurz nach. Er faltet auf dem metallenen Tisch die Hände, öffnet sie wieder und faltet sie von neuem. Die mexikanische Musik treibt durch die Dunkelheit. Das Clubhaus ist erleuchtet wie ein Ozeandampfer. «Ich denke, daß Schwester Januarius zum Besten der Pfarrgemeinde gehandelt hat», sagt er schließlich. «Sie hat die Bedürftigkeit der vielen über die Launen einer einzigen gesetzt. Sie hat das richtige getan.» Ich zucke mit den Schultern. «Schwester Januarius hat Geld genommen, das ihr nicht gehörte, Geld, das durch großes Leiden erlangt worden und für einen ganz bestimmten Zweck bestimmt war. Infolgedessen ist Madeleine de Prasères auf dem Friedhof in St. Basil begraben und nicht auf Belle Azur, wo sie hingehört. Sie kennen den schwarzen Obelisk; er wirkt so fehl am Platz zwischen all den anderen, bescheideneren Grabsteinen. Sie haben das Ding mit so manchem Übungsball getroffen. Ich bin gestern hingegangen, um es mir genauer anzusehen. Das Wort Büßerin wurde dem Wort Hure in einer anderen Handschrift hinzugefügt. Schwester 495
Januarius hat es nach Madeleines Tod von jemandem einmeißeln lassen, der nicht wußte, daß der Zusatz eine Art grimmiger Scherz war. Die fünftausend Dollar wurden benutzt, um die Kirche, nachdem sie 1848 wieder einmal von einem antikatholischen Mob von Agnostikern in Brand gesteckt wurde, neu aufzubauen. Den Rest kennen Sie.» Pater Rose zögert, aber seine Mundwinkel verziehen sich stur nach unten. «Ihnen zufolge wirkt Schwester Januarius gegenwärtig Wunder», sagt er. «Sie erscheint in Krankenhäusern, erscheint Ihnen» - diese Tatsache scheint er ein wenig bedauerlich zu finden - «heilt Krankheiten, repariert Hüftgelenke. Das sind die Taten einer Frau, die Gott gesegnet hat, die Taten einer Heiligen.» «Ja, aber sie ist noch keine Heilige», sage ich. «Sie wissen besser als ich, daß diese Entscheidung in Rom getroffen werden wird. Sie hat bei Madeleine einen schlimmen Fehler gemacht, hat eine ganz und gar falsche Entscheidung getroffen. Und für mich sieht es so aus, als hätte sie lange Zeit damit verbracht, den Schaden wiedergutzumachen, den sie mit ihrem Irrtum angerichtet hat. Als ich vor Jahren in die Wohnung einzog, hatte ich das Gefühl, daß da irgend etwas war, etwas, das ich nach besten Kräften ignoriert habe. Nicht nur der Geist, sondern noch etwas anderes war da und hat gewartet. Eine leitende Hand. Jetzt weiß ich, daß es Schwester Januarius war, die geduldig darauf wartete, daß die Dinge sich zusammenfügten. Sie hat auf menschliche Handlanger gewartet, die ihr dabei helfen sollten, ihr Werk in der Welt zu vollenden, die ihr helfen sollten, das Unrecht wiedergutzumachen, das sie ihrer Cousine zu Lebzeiten zugefügt hat. Diese Handlanger sind wir beide, Pater.» «Sie machen Witze», sagt er. Ich schüttele den Kopf. 496
«Sie sprechen von einer Exhumination.» Ich schweige. «So etwas erfordert ein Dutzend verschiedener Genehmigungen und ist sehr teuer.» Ich schweige. «Aber wen schert es schon, wenn ein Skelett zur ewigen Ruhe nach Hause gebracht wird? Alle Betroffenen in dieser schrecklichen Geschichte sind tot. Mehr als hundert Jahre tot! Der Ehemann der Frau, ihre Freunde, ihre Familie…» «Madeleine de Prasères de la Rocas Nachfahren leben noch immer in Louisiana», sage ich leise. «Ich habe die Krypta von Belle Azur gesehen. Ich kenne die Familie ziemlich gut.» Pater Rose ist überrascht. «Wirklich?» «Ja. Und ich glaube, das ist auch der Grund, warum ich für diese… Arbeit auserwählt wurde. Ich denke, Sie werden mir beipflichten, daß da etwas dran ist, Pater. Eine göttliche Symmetrie. Ein Zusammenlaufen von Schicksalsfäden.» Pater Rose denkt eine Weile darüber nach. Dann leert er seinen letzten Drink. Der Himmel zeigt in der Richtung, wo New York liegt, ein leicht orangefarbenes Glühen. Der Winter naht. Dann wirft er plötzlich die Hände hoch. «Was soll ich tun?» fragt er. Ich lächele.
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as Apartment um Mitternacht ist still und leer. Die Glühbirnen der Scheinwerfer, die die Fassade des Elektrizitätswerks auf der anderen Straßenseite beleuchten, sind ausgewechselt worden, und jetzt überflutet ein milchiges Leuchten meine staubigen Zimmer. Ich sitze eine Weile in dieser hellen Dunkelheit mit einem Bier in dem orangefarbenen Naugahyde-Sessel und sehe mir im Fernsehen ein Baseballspiel ohne Ton an. Die Detroit Tigers spielen gegen die Cleveland Indians; es ist ein höchst seltsames Pokalspiel, das sich wie etwas aus dem Dschungelbuch anhört. Ich kann noch immer den dunklen Mond des Golfplatzes in meinen Kleidern riechen und die Unsicherheit des Priesters. Aber jetzt weiß ich, daß alles, was in den letzten zehn Jahren geschehen ist, mich zu dieser stillen Mitternacht geführt hat, zu eben diesem staubigen Schweigen. Ich halte den Atem an. Was jetzt? Erst als ich meinen gestreiften Pyjama anziehe und mich schlafen legen will, bemerke ich die flackernde Ziffer auf meinem Anrufbeantworter. Eine einzige Nachricht. Ich spiele sie noch dreimal ab und bereite mich dann auf eine Reise am nächsten Morgen vor.
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er Acht-Uhr-zwanzig fährt um zehn Uhr in den Bahnhof an der Philadelphia Thirtieth Street ein. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die öffentliche Toilette im Bahnhof zu benutzen, und zu meinem Unwillen stelle ich fest, daß irgendein Irrer in das Urinbecken geschissen hat. Philadelphia ist eine düstere Stadt, stumm und halb zerfallen, ihre großen Tage als erste Hauptstadt der Republik sind lange vergessen. Man hört von den grauenhaftesten Morden, die hier begangen werden - man denke nur an den Mann, der in seinem Keller ein halbes Dutzend geistig zurückgebliebener Mädchen verstümmelt und gegessen hat. Oder dieser andere, in dessen Wohnung man neun Leichen fand, begraben in hüfthohem Abfall. Einem Impuls gehorchend beschließe ich, mir vom Bahnhof aus ein Taxi zu nehmen. Das erweist sich als Fehler. Der Fahrer fährt mich über einen langen Umweg durch miese Stadtviertel von Philadelphia. Seiner Zulassung gemäß kommt er aus Ruanda und heißt Mboku Himombatu. Stammesnarben laufen quer über seine Wangen. Er weigert sich, auf Fragen zu antworten, und spielt, während wir über namenlose Straßen holpern, eine unheimliche Musik voller hölzerner Gongs und seltsamen Schweigens. Immer weiter geht die Fahrt unter der rostigen Hochbahn und vorbei an ausgebombten Häusern, die zu beiden Seiten der Straße verrotten wie faule Zähne. Ich sehe halbnackte Bengel in Müllhaufen spielen, Polizisten in Lederjacken, die ein Dutzend in Reih und Glied an einer Mauer versammelte Verdächtige verhaften. Ein Mann, der nur Boxershorts und Kampfstiefel trägt, 499
läuft über den schmutzigen Betonmittelstreifen, eine Automatik im Hosenbund. Von überallher kommt das Wimmern von Sirenen, und ich überlege, daß unsere Städte genauso fremd und gefährlich geworden sind, wie es Kabul im letzten Jahrhundert für Cavagnari war. So unbekannt wie Timbuktu für Mungo Park. Weiße Stellen auf der Landkarte, unter dem Einfluß seltsamer und wilder Stämme, wo das Leben billig ist, das Gesetz unbekannt und unerklärliche Leidenschaften den Pöbel beherrschen. Aber endlich sind wir aus der Stadt heraus, auf der Main Line, und wir kommen in eine schöne Gegend baumgesäumter Alleen, mit Saabs und Daimlern, die in den Zufahrten prächtiger, großer Häuser geparkt sind. Der Himmel über uns ist bedeckt, schwer wie Blei. Jetzt geht ein leichter Regen nieder, betupft die Windschutzscheibe mit winzigen schwarzen Perlen. Wir halten vor einem efeuüberwucherten Tor. Hohe Backsteinmauern folgen der Biegung der Straße. Die Mimosenbäume wiegen ihre Gipfel über Stacheldrahtzäunen im Wind. Der Fahrer dreht sich um. «Siebenundsechzig Dollar», sagt er. Die U-BahnHaltestelle Bryn Mayr ist nicht weiter als fünf Häuserblocks entfernt. Ich hätte dieselbe Fahrt für einen Dollar fünfundzwanzig machen können. Das sage ich ihm auch. «Sie kommen hier rüber», erklärt er. «Und großkotzig wie nur was! Ich halte Sie für einen reichen weißen Mann. Siebenundsechzig Dollar sind ein Dreck für einen reichen weißen Mann.» Ich ziehe das Futter meiner Taschen nach außen, um ihm ein paar zerknitterte Dollarnoten zu zeigen und etwas Wechselgeld. Nach einer halben Stunde Feilschen habe ich den Preis auf zwölf Dollar fünfzig plus fünfzehn Prozent Trinkgeld zurückgeschraubt. 500
Man erwartet mich am Wachhaus. Ich werde hineingesummt und gehe langsam die lange Kiesauffahrt hinauf. Ein großes Hauptgebäude in spätgregorianischem Stil mit Säulengang und Kuppeldach steht steif und korrekt inmitten der um einen quadratischen Innenhof angelegten Nebengebäude. In jenen Tagen, als angelsächsische Korrektheit als Tugend galt, war dieses Haus ein exklusives Mädchenpensionat für die Töchter der wohlhabenden Main-Line-Familien. Hier brachte man ihnen bei, wie man richtig geht und spricht, wie man sich bei ersten, zweiten und dritten Verabredungen verhält, welche Meinungen man bei Tisch äußern darf und welche nicht. Zur Abschlußfeier bekamen sie ein Porzellanservice für ihre Mitgift, auf dem das Schulwappen zu sehen war und das aus einem einzigen Wort bestehende Motto: Bescheidenheit. Auf lateinisch. All das ist für alle Zeit verschwunden. Die Schule wurde in den sechziger Jahren verkauft und hat sich seither zu einem der angesehensten und exklusivsten Sanatorien im Land entwickelt, das sich bei der Prominenz größerer Beliebtheit erfreut als die BettyFord-Klinik. Bekannte Filmstars, deren Namen nicht erwähnt werden sollen, kommen zur Behandlung hierher. Rockstars gehören zum lebenden Inventar, genauso wie gewisse europäische Prinzen, deren Familien seit den Tagen von Ludwig XV. Opfer angeborener Krankheiten sind. Das Ganze ähnelt eher einem Country Club als einem Krankenhaus - mit Privaträumen und Hausdienern , aber dennoch ist die Erfolgsrate hier sehr hoch. Zwei Monate in der Abgeschiedenheit dieser efeuberankten Mauern, analysiert und auf Diät gesetzt, und der Patient, der mit seiner Gesundheit Raubbau getrieben hat, ist wiederhergestellt. Hinter dem Hauptgebäude fällt ein fußballfeldgroßes 501
Grasoval sanft zu einem Teich mit Enten und anderen Wasservögeln ab. Eine hübsche Krankenschwester begleitet mich zu meinem Bestimmungsort; ihr Namensschildchen identifiziert sie als Ms. Langpo, obwohl ihr Hinterteil unter der steifgestärkten Uniform ironischerweise rund und gefurcht ist wie ein Pfirsich. Die Krankenschwestern hier sehen aus wie Krankenschwestern aus einem Film, bis hin zu den weißen Häubchen, den weißen Kleidern, den weißen Schuhen und den Rotkreuznadeln am Revers. Solche Vertrautheit ist wahrscheinlich tröstlich für die Patienten, von denen einige trotz des leichten Regens draußen auf Liegestühlen liegen. Ich finde Antoinette unten am Ufer des Teichs. Sie sitzt steif in einem Rollstuhl und ist in eine Decke gehüllt, obwohl die Temperatur etwa zwanzig Grad beträgt. Ein paar Enten haben sich zu ihren Füßen niedergelassen. Als ich näherkomme, ziehen sie watschelnd ab. «Antoinette?» Ihr Kopf über der riesigen Decke sieht klein und kindlich aus. Das Haar hängt ihr schlaff und trocken über die Schultern. Sie sieht kaum auf, ihr Blick ist auf das grüne Wasser des Teichs geheftet. «Ich schätze, du hast meine Nachricht bekommen», sagt sie mit einer gewissen Reserviertheit in der Stimme. «Bist du in Ordnung?» «Mir geht’s gut.» «Warum dann der Rollstuhl?» «Die Liegestühle waren alle naß, deshalb habe ich mir einen Rollstuhl geholt und mich hier heruntergerollt. Irgendwie mag ich Rollstühle. Gibt mir das Gefühl, etwas zu haben, wovon ich mich wirklich erholen muß.» 502
Aber ich bin immer noch nicht recht überzeugt, also springt sie auf, die Decke fällt von ihren Schultern herab, und sie wirbelt mit ihren Armen durch die Luft und schwingt ihre Beine wie ein Revuegirl. Sie trägt einen alten Pullover voller Löcher, der ihrem Papa gehört hat, und sie hat stark abgenommen. Sie hat dasselbe müde, ausgezehrte Aussehen, das ich bei Jillian in ihren magersüchtigen Tagen gesehen habe. Als sie sich wieder mit der Decke hingesetzt hat, sagt sie: «Siehst du? Wie war das?» Aber sie meidet nach wie vor meinen Blick. Ich gebe keine Antwort. Ich gehe auf sie zu und hocke mich neben sie in das nasse Gras. «Ich habe dir einiges zu erzählen», sage ich schließlich. «Ein paar sehr seltsame Geschichten. Laß uns mit diesen Austern anfangen, die wir gegessen haben…» «Papa ist tot», unterbricht sie mich plötzlich. Dann beißt sie sich auf die Unterlippe und zieht die Decke fester um sich. «Das tut mir sehr leid. Wann ist es passiert?» «Vor einem Monat, direkt, nachdem du weggeflogen bist. Er ist tot umgefallen, einfach so.» Sie schnippt mit den Fingern. «Er und Mama haben ferngesehen, dann ist er irgendwie aufgestanden, hat gehustet und ist schließlich bewußtlos auf die Couch gefallen. Eine Art Herzattacke. Arme Mama, sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hat auf seine Brust gehämmert, hat es mit Mund-zu-MundBeatmung versucht, nichts. Es hat fünfzehn Minuten gedauert, bis die Sanitäter da waren, und er hatte so gut wie aufgehört zu atmen. Aber dann - und das war das Allerschlimmste - haben diese Bastarde ihn zehn Tage lang wie ein Stück Fleisch am Leben gehalten. Es war schrecklich, Ned. Ich habe die ganze Zeit mit Mama im Krankenhaus gesessen. Wir haben ihn angesehen und seine Hand gehalten, aber er war nicht da. Er war 503
mausetot, Ned, nur wegen dieser schrecklichen Maschinen hat er noch geatmet.» «Ja, ich weiß, wie das ist.» «Dann kamen Jolie und Manon und haben tatsächlich angefangen, sich darüber zu streiten, wer im Testament was zugesprochen bekommen würde. Unfaßbar! Da liegt Papa vor ihnen, und alles, woran sie denken können, ist Geld. Weißt du, was ich getan habe?» Jetzt sieht sie mich an, und ihre Augen funkeln. «Was?» «Ich bin aufgestanden, ohne ein Wort zu sagen, und habe Manon in den Bauch geboxt, ich meine, richtig geboxt! Dann habe ich Jolie mit dem Handrücken ins Gesicht geschlagen, und ihre Lippe ist aufgeplatzt. Danach sind sie ziemlich schnell abgezischt, das kann ich dir sagen.» Antoinettes Übermut ist schnell wieder verschwunden. Eine Sekunde später erlischt das Leuchten in den Augen, und sie starrt wieder zum Teich hinüber. Wir schweigen eine Weile. Die Enten schwimmen auf der Oberfläche auf und ab wie Spiegelbilder ihrer selbst, wie Lockvögel. «Also, warum bist du hier?» frage ich schließlich. Sie runzelt die Stirn, windet sich in ihrem Rollstuhl, zieht die Decke fester um sich herum. «Ich habe eine Überdosis genommen», flüstert sie beinahe. «Von was?» «Von Hashs kleinen gelben Pillen. Nach der Beerdigung habe ich sie einfach wie Süßigkeiten gefuttert. Es war schrecklich. Ich konnte das Leben ohne Papa nicht ertragen. Und keiner aus der Familie wollte mit mir reden, nachdem ich Manon und Jolie im Krankenhaus eine geknallt hatte. Ich meine, sie standen unter Schock; sie dachten, ich würde verrückt oder so. Ich kann es nicht 504
erklären, aber Papa war mein Vorbild. Ich denke, ich habe mich immer an dem gemessen, was er gedacht hat, und als er tot war, habe ich mich einfach gehenlassen. Zumindest ist es das, was die Ärzte hier sagen.» «Und was sagst du?» Mein Fuß ist fest eingeschlafen, also ziehe ich meine Jacke aus, lege sie aufs Gras und setze mich neben Antoinette. «Was ich sage?» Sie zögert. «Ich glaube, einen Augenblick lang wollte ich einfach sterben.» «Also hast du versucht, Selbstmord zu begehen?» Wieder rutscht sie auf dem Rollstuhl hin und her. «Nicht direkt. Ich habe nur einfach das ganze Röhrchen mit den gelben Pillen genommen.» «Wieviele?» «Fünfzig, sechzig. Ich weiß nicht. Ich habe sie einfach immer weiter genommen, nur um zu sehen, was passieren würde. Ich habe immer mehr geschluckt, und bevor ich wußte, wie mir geschah, hatte ich sie alle genommen. Ich erinnere mich an jede Menge Licht und laute Geräusche und daran, daß ich um vier Uhr morgens durchs French Quarter gewandert bin. Dann erinnere ich mich an diese unheimliche blaue Farbe und dann an gar nichts mehr. Aufgewacht bin ich im New Orleans General Hospital, während mir der Magen ausgepumpt wurde. Die Ärzte meinten, ich hätte Glück gehabt, mit dem Gesicht nach unten in der Regenrinne ohnmächtig geworden zu sein, denn sonst wäre ich wie Jimi Hendrix an meinem eigenen Erbrochenen erstickt. Das hat mich übrigens gerettet. Ich habe die meisten Pillen wieder ausgekotzt; mein Magen konnte sie nicht schnell genug verdauen.» Jetzt hört man von jenseits der Mauer den Knall einer Fehlzündung, und die Enten erheben sich unter gewaltigem Flügelschlagen vom Teich in die Luft. Wir 505
sehen sie flatternd den Wolken entgegensteigen, dann schwenken sie herum und lassen sich wieder auf dem Teich nieder, um so friedlich wie zuvor über das Wasser zu gleiten. Im nächsten Augenblick hebt sich das schwere Grau über Philadelphia und dem Schuykill ein wenig. Ein paar helle, theatralische Sonnenstrahlen brechen hier und da durch, dann ist alles wieder grau und bleiern. «Du hättest mich anrufen sollen», sage ich. «Ich habe darauf gewartet, daß du anrufst; dann dachte ich, du würdest nie mehr anrufen. Du hättest mich in dem Augenblick anrufen sollen, in dem dein Vater starb. Er war ein guter Mann. Ich wäre zur Beerdigung runtergekommen. Verdammt. Du hättest mich anrufen sollen, bevor du all diese Pillen genommen hast, Verdammt.» «Zuerst hatte ich Angst», sagt Antoinette mit gepreßter Stimme. «Denn ich wußte nicht wirklich, was ich für dich empfand; dann habe ich mich entschieden und habe dich angerufen. Zehn, fünfzehn Mal habe ich angerufen, aber da war immer nur dein Anrufbeantworter dran. Ich habe morgens angerufen, ich habe nachts angerufen. Aber erst gestern war ich in der Lage, eine Nachricht zu hinterlassen. Ich wollte mit dir reden, um zu sehen, ob du wütend auf mich bist - dafür, daß ich dich wieder im Stich gelassen habe wie vor zehn Jahren.» Ich greife nach ihrer Hand unter der Decke und drücke sie kurz, aber sie zieht sie weg. «Nein, bitte hör mir zu. Ich habe dich angerufen, aber du warst nicht da. Dann konnte ich nicht mehr denken und habe die Pillen genommen.» «Wenn du gestorben wärst, Antoinette, mein Gott! Ich hätte…» Aber sie schüttelt den Kopf und wendet sich von mir ab; 506
die Farbe ihrer Wangen vertieft sich ein wenig. «Ich muß dir noch etwas erzählen», sagt sie schließlich. «Etwas, das ich weder den Ärzten noch den Therapeuten erzählt habe, die sie mir immer wieder in mein Zimmer schicken. Etwas über Dothan. Und ich möchte nicht, daß du etwas sagst, bevor ich fertig bin, okay?» «Okay.» «Der wirkliche Grund, warum ich Dothan das erste Mal verließ, als ich noch ein Kind war und wir zusammen in Spanish Town lebten, war der, daß ich schwanger wurde und er mich dazu brachte abzutreiben, und die Abtreibung ging schief. Wir fuhren in die Klinik in Baton Rouge, und sie haben es herausgekratzt oder was immer sie da machen, und danach - ich weiß nicht, warum, vielleicht, weil es ein schöner Tag war - fuhren wir zum Angeln an den Fluß. Angeln, ist das noch zu fassen! Also, da saßen wir in diesem Boot mitten im Mississippi, und er spießte irgendwelche Würmer auf seinen Angelhaken - sie lebten noch und zappelten, weißt du -, und ich fing an zu bluten. Ich hatte plötzlich dieses nasse Gefühl zwischen den Beinen, und ich habe hinuntergeblickt, und das ganze Vorderteil meines Kleides war rot. Es war so, als würde ich einfach auslaufen. Dothan ruderte wie der Teufel auf die Küste zu, aber das Boot füllte sich mit Blut, und ich wurde ohnmächtig. Dann warf er mich wie einen Futtersack in den Wagen und fuhr mit irrsinniger Geschwindigkeit ins Krankenhaus. Als wir in die Notaufnahme kamen, war ich totenbleich. Ich hatte die Hälfte meines Blutes verloren oder so. Hat den Wagen ruiniert - diese gestohlene Corvette, die er damals fuhr. Sie haben mir eine Transfusion gegeben und mich zusammengeflickt, und nach ein paar Tagen war ich wieder in Ordnung, aber, verdammt nochmal, ich war so nah dran. 507
Ich erzähle dir das alles, Ned, nicht, weil ich dir ein neues Kapitel meines Leidens enthüllen möchte, sondern um dir zu erklären, warum ich bin, wie ich bin. Warum es mir so ungeheuer schwerfällt, mit jemandem wirklich vertraut zu sein, warum ich einfach dicht mache, wenn wir uns näherkommen. Seit dieser Abtreibungsgeschichte war ich nicht mehr in der Lage, überhaupt noch jemandem zu vertrauen. Ich war Dothan sehr nahe, ich habe ihn geliebt, und ich wollte das Baby behalten und heiraten, aber er meinte, ich sei zu jung. Also habe ich die Abtreibung machen lassen und wäre fast gestorben, und das hat mich zerstört. Ich habe diese Geschichte niemandem erzählt, nicht einmal Papa. Es scheint, als hätte das, was geschehen ist, mein Leben zerbrochen. Papa wußte natürlich, daß etwas passiert war. Ich denke, er spürte, daß ich mich irgendwie verändert hatte, aber er wußte nie, was genau es war. Ich wußte es vielleicht selbst nicht - bis er starb.» Sie weint jetzt, die Tränen laufen ihr über die Nasenspitze und das Kinn und tropfen auf die Decke. Ich versuche sie in die Arme zu nehmen, aber sie hält mich mit einer Hand davon ab. «Also kann ich dir nichts versprechen», sagt sie. «Ich kann nicht sagen, daß alles gut wird, daß ich jemals vollkommen in Ordnung sein werde. Ich kann dir nicht versprechen, daß ich niemals wieder diese Pillen nehmen werde, daß ich nie mehr traurig sein werde und das Gefühl habe, von aller Welt abgeschottet zu sein…» Diesmal lasse ich sie nicht aussprechen. Ich habe meine Arme unter der Decke um sie gelegt und halte sie, so fest ich kann, und sie weint in meinen Hemdkragen und auf meinen Hals, und ich spüre, wie das Schluchzen sie schüttelt, und höre sie sagen: «O mein Liebster, mein Liebster», wieder und wieder, bis ich meine Lippen auf 508
ihre lege und wir uns ineinander verschlingen wie die Blätter einer einzigen Blüte, und im nächsten Augenblick und trotz des grauen, bleiernen Himmels von Pennsylvania leuchtet der Horizont im Süden, erfüllt von wildem Licht und Farben, und ich kann Louisiana im Wind riechen.
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ir steigen zu der Promenade in Brooklyn Heights auf, im der Stadt, die wir verlassen, Lebewohl zu sagen. Heute nacht stehen die Sterne an einem schwarzen Himmel, und Manhattan liegt unter uns, prächtig und windgepeitscht wie ein Schloß in einem Moor. Jetzt sind die Straßen zwischen den Wolkenkratzern von einem brillanten, künstlichen Licht überflutet. Es ist überaus angemessen. Immerhin ist es die Vorstellung von dieser Stadt, die zählt, nicht die realen Straßen. Rust nimmt seinen Hut ab und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn. Nach fast fünfzehn Jahren wird er morgen nach Wyoming heimkehren, um da weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Ich habe noch eine Woche oder so, gerade solange, wie ich brauche, um die Dinge mit Pater Rose zu klären. Es ist eine heiße Nacht, eine kleine Erinnerung an die qualvollen Tage des Sommers. Liebende säumen die Bänke entlang der Promenade, kuscheln sich in der Finsternis aneinander. Ich höre das Reißen von Baumwollunterwäsche, ein leises Stöhnen. Eiscreme schmilzt in Papierbechern. Die Stadthäuser aus dem 19. Jahrhundert ziehen sich mißbilligend in die Dunkelheit ihrer Gärten zurück. Ich beuge mich über die Brüstung, um eine Brise vom Hafen aufzufangen, bekomme statt dessen aber die Lungen voller Kohlenmonoxyd. Der Verkehr des Brooklyn Queens Expressway donnert direkt unter dem Mauervorsprung dahin, auf seinem Weg von Nirgendwo nach Nirgendwo, eine fortwährende und niemals endende Schleife aus Rücklichtern und Erschöpfung. 510
Wir schweigen eine Weile, jeder von uns denkt an seine Jahre in der Stadt, die tausend verblüffenden Einzelheiten, die Gesichter, die sich in der Menge verloren. Für uns ist New York wie ein Wrack, das im tiefen Wasser versinkt. Jetzt ist der Bug untergegangen, jetzt die Schleppwinde und das Ruderhaus; schon bald wird nur noch ein Ölfleck auf der Wasseroberfläche zu sehen sein. «Was wirst du am meisten vermissen, wenn du nicht mehr hier bist?» fragt Rust mit leiser Stimme, beinahe, als spräche er mit sich selbst. «Was ist da schon groß zu vermissen? Die Kriminalität? Die absurd hohen Preise? Ein Sixpack Genessee Cream Ale für acht Dollar? Telefonzellen, die nicht funktionieren?» Aber ich bedauere diesen Zynismus schon. «Cawalloway’s», sage ich plötzlich. «Erinnerst du dich an Cawalloway’s, Rust?» «Was ist aus dem Ding eigentlich geworden?» «Weg.» «Das war eine gute Bar, billig. Und die Frauen.» «Ja.» «Aber weißt du, ich denke, ich werde die U-Bahn vermissen», sagt er. «Man konnte nie wissen, was man in der U-Bahn noch zu sehen bekommen würde. War wie ein ewiger Karneval. Erst gestern ist eine verrückte alte Dame unterwegs gewesen, zweihundertfünfzig Pfund Fleisch in einem rosafarbenen Nachthemd und Pantoffeln an den Füßen. Hat jedem dritten Fahrgast Dollarscheine in die Hand gedrückt.» «Na schön. Das wird sich zwar ziemlich abgedroschen anhören, aber ich werde die Brooklyn Bridge vermissen», sage ich. «Ein wunderschöner Brückenbogen. Und ich werde die Spaziergänge in der Abenddämmerung durch Chinatown vermissen, all die Fische und Calamares und 511
Aale, die dort liegen und vor sich hin stinken, und dann rauf ins East Village und die schönen, hypermodernen Frauen beobachten, die aus Taxis steigen.» «Ich werde morgen abend in Cheyenne sein.» Rust schüttelt den Kopf. «Verdammt. Kann man sich nach all der Zeit kaum noch vorstellen. Und die Farm. Ich war zweiundzwanzig, als ich diesen verfluchten, staubigen Ort für immer und ewig verließ. Jetzt kehre ich zurück.» «Wir können nicht für immer so weitermachen, Rust», sage ich. Ausnahmsweise blinzelt er einmal nicht zum Horizont, sondern schaut hinunter auf die Spitzen seiner Cowboystiefel. «Ich schätze, ich kann mein Buch da unten genauso gut schreiben wie hier, wahrscheinlich sogar besser», sagt er. «Aber ich muß mich um eine Menge Land kümmern. Und mein Mistkerl von Bruder hat ein Kind. Ein kleines Mädchen, sieben Jahre alt. Die Mutter ist vor einem Jahr weggelaufen, also bin ich der gesetzliche Vormund. So wie ich das sehe, kann man sich nicht um ein kleines Mädchen kümmern, ohne eine Frau zu haben. Ich schätze, ich werde mir jetzt also eine Frau besorgen müssen.» «Hast du schon jemanden im Sinn?» Er zuckt mit den Schultern. Plötzlich spüre ich einen Anflug von Panik im Bauch. Das ist New York. Viele Menschen opfern alles, um ein Teil des brodelnden Lebens dieser Stadt sein zu dürfen ihre Würde, ihre Gesundheit, ihren Lebensstandard -, denn an gewissen Abenden kann man sich beinahe vorstellen, daß die Straßen immer noch mit Gold gepflastert sind. Wer weiß, was morgen passieren könnte oder am nächsten Tag oder im nächsten Jahr? Wenn man es nur so lange aushaken könnte. Vielleicht würde die Stadt uns dann ihre 512
Pforten öffnen, uns die Schlüssel zur Zukunft reichen. Vielleicht geben wir zu früh auf! «Kennst du diese Geschichte über Dick Whittington, Rust?» frage ich. «Hat früher für die Yankees gespielt. Shortstop, stimmt’s?» «Nein.» Ich lächele. «Es ist eine Geschichte, die ich als Kind gelesen habe. Eine Kindergeschichte. Über diesen Jungen vom Land, Dick Whittington, der sein Zuhause verläßt, um in der großen Stadt sein Glück zu suchen. In diesem Falle London.» «Und?» «Also, er ist eine Weile dort, und die Zeiten sind hart, und sein einziger Freund ist eine streunende Katze, die zu füttern er sich nicht leisten kann. Dann, eines Tages, hat er genug von dem Elend, steckt die Katze in einen Sack und beschließt, zurück aufs Land zu gehen. Er ist auf der Hauptstraße gerade ein paar Meilen aus der Stadt heraus, als die Glocken der Kirchen zu läuten beginnen und er diese Stimme aus dem Sack hört, die sagt: ›Kehr um, Dick Whittington, kehr um.‹» «Kann die Katze reden?» fragt Rust. «Na ja, Dick holt die Katze raus, und sie sagt kein Wort, also steckt er sie wieder in den Beutel und geht weiter. Dann hört er wieder diese Stimme. ›Kehr um, Dick Whittington‹, und dasselbe passiert noch einmal, insgesamt dreimal. Aber beim letzten Mal kehrt er tatsächlich um und wird schließlich Oberbürgermeister von London, so will es die Geschichte.» «Wie kommt das?» «Er verkauft die Katze für ein Vermögen an einen fremden Prinzen aus einem katzenlosen Land mit einem 513
großen Rattenproblem. Dann heiratet Dick die Tochter vom Boß, und von da an geht’s bergauf. Aber darum geht es mir nicht.» «Worum geht es dir dann?» «Na, komm schon, Rust.» Er denkt eine Weile nach. «Hörst du jetzt etwa Katzen reden, Ned?» fragt er. «Eigentlich nicht», sage ich. «Mir geht es um die Tatsache, daß Dick Whittington umkehrte und daß wir gehen.» «Ich sag dir was.» Rust schwenkt seinen Hut in Richtung Manhattan. «Das ist nicht London, und in New York ist jeder, der auf eine sprechende Katze hört, ein Narr.» Er strafft sich und setzt seinen Hut wieder auf, und sein Gesicht verliert sich im Schatten, und er dreht sich um und geht auf die Promenade zu. Ich werfe einen letzten Blick auf New York, das durch den Nebel glitzert, nehme einen letzten tiefen Zug New Yorker Luft, deren Duft süß und abgestanden zugleich ist, und einen Augenblick später drehe ich mich um, um Rust zu folgen. Schweigend und zum allerletzten Mal gehen wir beide durch den Park, unter den gotischen Bögen der Brooklyn Bridge hindurch, unter dem quietschenden Stahl der Manhattan Bridge, durch die gefährlichen Viertel und über die gepflasterten Straßen von Molasses Hill in die Dunkelheit der Lagerhäuser.
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in Trauermarsch klingt leise über den Mississippi. Das ist hier am Fluß seit hundert Jahren die erste Beerdigung in so großem Rahmen. Es scheint, als sei der ganze Landkreis auf den Beinen, um sich das Spektakel anzusehen. Die Barkasse, die Madeleines Sarg und den schwarzen Obelisken trägt, wühlt in der Mitte des Flusses das Wasser auf, gefolgt von Motorbooten voller Jazzmusiker, Journalisten, Lebensmittellieferanten und einer Nachrichtencrew vom Fernsehen. Polizeiboote von New Orleans führen die Prozession an, ihre Sirenen drehen sich lautlos und bleich im Sonnenlicht. Fischer und neugierige Touristen auf Ausflugsdampfern sind an den Sandbänken vor Anker gegangen. Zuschauer sehen von den Dächern ihrer auf dem Belle Chasse Highway geparkten Autos zu, Bierdosen in der Hand. In diesem Teil des Landes ist jeder Grund für eine Party recht. Die Barkasse mit dem Sarg schwankt in der Strömung und steuert auf das gegenüberliegende Ufer zu. Der flache Bug ist mit einem schwarzen Kranz geschmückt. Wir befinden uns in der zweiten Oktoberhälfte, aber es ist so heiß wie an einem Julitag im Norden. Antoinette erklärt mir, ich solle mich besser an die Hitze gewöhnen, man komme in Louisiana drei Viertel des Jahres vor Hitze fast um. Ich antworte ihr, daß ich mich gut daran erinnere, daß ich bereits meine nördliche Haut abstreife, Siesta halte und an den langen, heißen Nachmittagen ein kühles Bad nehme wie jeder gute Kreole. Jetzt schwitze ich in meinem neuen Leinenanzug und spähe durch meine Sonnenbrille in die grüne Ferne. Bei der nächsten Flußbiegung müßten wir eigentlich Belle 515
Azur erreichen. Das große Haus ist nicht mehr da, aber die Grabkapelle steht noch, eingeschmiegt in den sanften Hügel über dem Deich. Und Madeleines Nische, die all diese Jahre leergestanden hat, wartet darauf, die irdischen Überreste ihrer Besitzerin aufzunehmen. Antoinette und ihre Familie scheuten keine Kosten. Alles in allem belief sich die Summe, die sie zu zahlen hatten, auf über zweihunderttausend Dollar. Sie engagierten in Brooklyn eine Baumannschaft und einen Kran, um den Obelisken vom Friedhof St. Basil zu holen, ein Sonderteam aus dem Büro des Coroners, um die Leiche zu exhumieren, und Rechtsanwälte, die die Papiere für die Überführung fertigmachten. Ich steuerte die historischen Forschungsarbeiten für das Projekt kostenlos bei. Der Staat verlangte eine vollständige Genealogie, und zuerst gab es einige Schwierigkeiten, den Anspruch der Rivaudais auf die Leiche zu beweisen. Im Verlauf meiner Forschung fand ich etwas ganz Merkwürdiges heraus: Seit Madeleines Tagen hat es keine männlichen Erben mehr gegeben, keinen einzigen. Die Nachfolge ging ausschließlich über die weibliche Linie. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Sache ist biologisch gesehen extrem klein. Wenn es eine Art Fluch ist, eine Einschätzung, die Mama Rivaudais ihrer Großmutter zuschreibt, dann ist es ein Fluch, der den Männern von Louisiana lange Zeit gute Dienste getan hat. Denn dieser sonnige Teil der Welt hat Generation um Generation grauäugiger, schwarzhaariger Schönheiten gesehen, Frauen, die als eine Art zusätzlichen Bonus häufig auch über einen nachgiebigen Charakter verfügten. Es ist schwer, New York zu entkommen, selbst im Tod. Aber schließlich waren alle Papiere abgestempelt und zu den Akten gelegt, alle Gebühren bezahlt, und Madeleine 516
wurde gestattet, nach Hause zurückzukehren. Letzte Woche wurde sie via Florida Keys und über die blauen Wasser des Golfs von Mexiko auf einem Schiff voller Computerteile und Plastiksandalen nach Süden gebracht es war eigentlich nicht viel anders als eins der Postschiffe, die vor hundertfünfzig Jahren nach New Orleans fuhren. Bei Belle Azur wurde eine spezielle Anlegestelle gebaut und eine mit Muscheln gepflasterte Schotterstraße aufgeschüttet, die durch das Unterholz und den Wald den Hang hinauf zur Grabkapelle führt. Gegen Mittag steigen die Gäste, Musiker und Journalisten vom Schiff in den grünen Duft frisch geschlagenen Holzes. Ich geselle mich zu ihnen, nehme an Antoinettes Seite an der Beerdigungsprozession teil. Wir gehen Hand in Hand, begleitet von der klagenden Kadenz leiser Jazzmusik, durch die Hitze. Die Zeremonie ist kurz, dauert nur fünfzehn Minuten. Es braucht nicht lange, jemanden unter die Erde zu bringen, vor allem nicht, wenn er seit 1847 schon dort war. Anschließend hält Mama Rivaudais, von einem Stuhl aus und gestützt von ihren Töchtern, eine kurze Ansprache an die Menge. «Eines unserer Mädchen ist heimgekehrt, um hier seine Ruhe zu finden», sagt Mama, und ihre Augen glänzen durch das Seegrün ihrer Sonnenbrille voller Mitleid. «Sie war uns viele Jahre verloren. Wir fanden sie mehr oder weniger zufällig mit Hilfe eines Freundes und beschlossen, sie hierher nach Belle Azur zurückzubringen, wo sie geboren wurde und wo sie sich verliebt hat. Ihr Leben war nicht glücklich, sondern voll von ungeheuerem Leid, und seit sie im Norden in fremder Erde zur Ruhe gebettet wurde, hat sie weiter gelitten. Aber jetzt ist ihr Leiden vorbei…» Mit diesen Worten wendet Mama sich dem Sarg zu, der auf einem schwarzen Katafalk vor der 517
Tür zur Krypta steht. «Schlafe wohl, Madeleine. Du bist jetzt daheim, Liebes. Wir sehen uns am Jüngsten Tag.» Dann wird der Sarg in die Dunkelheit emporgehoben und in seiner Nische verankert. Der große Stein, der das Wappen der Prasères und die der angeheirateten adligen Familien trägt, wird über die Öffnung gerollt und für alle Zeit versiegelt, und die eisenbeschlagene Tür schließt sich über der modrigen Feuchtigkeit. Fünfzehn Minuten, nachdem der Obelisk auf einem neuen Backsteinfundament in der Nähe des Tores aufgestellt worden ist, haben die Lebensmittellieferanten das Essen aufgebaut, und der Alkohol fließt, und die Musik ist lebhafter, und es wird viel gegessen und getrunken in echter Louisiana-Manier, bis die Sonne im Westen in den Fluß sinkt. Antoinette findet mich in der Abenddämmerung, der Horizont ein dünner Streifen Zinnoberrot über den dunklen Konturen des Bayou. Sie läßt ihren Arm in meinen gleiten und küßt mich auf die Wange. «Worüber grübelst du nach?» fragt sie. Sie nimmt einen Schluck von meinem warmen Gin Tonic, zieht eine Grimasse und kippt den Rest ins Gras. «Na, komm schon», sagt sie. «Ich grüble eigentlich gar nicht», sage ich, aber ich zucke mit den Schultern. «Ich kann immer spüren, wenn etwas in dir vorgeht.» «Okay», sage ich. «Ich bin Historiker. Ich erzähle Geschichten über tote Menschen. Es ist Madeleine. Ihre Geschichte ist erzählt worden. Toll. Aber was ist mit all diesen Menschen, deren Geschichten nicht erzählt werden, die irgendwo in einem Graben enden und vergessen werden?» Antoinette schüttelt den Kopf. Sie lacht, dann wird sie 518
wieder ernst. «Du mußt für sie beten», sagt sie leise. «Selbst, wenn du ihre Gesichter nicht kennst, selbst, wenn du nie ihre Stimmen gehört hast. Du mußt für die ganze leidende Welt beten. Aber du kannst dich nicht um alle kümmern, Ned. Das weißt du doch, oder? Du kannst dich nur um deine eigene Familie kümmern. Kümmere dich zuerst um deine Familie, und die kümmert sich dann um die Welt.» «Meine Familie?» «Genau.» «Wie viele Kinder siehst du denn in dieser meiner Familie?» «Nun…» Sie lächelt in die Dunkelheit. «Ich bin jetzt zweiunddreißig. Ich würde sagen, wir fangen gleich an… hm, acht vielleicht oder zehn…» «Um Gottes willen!» «Warum nicht? Ich habe ein großes altes Haus auf der Esplanade. Warum machen wir’s nicht voll?» Dann reckt sie sich hoch, küßt mich fest auf den Mund und zieht mich ins Gebüsch, bis wir tief im Bayou sind und die Musik und der Klang menschlicher Stimmen uns nur noch als ein schwaches, weit entferntes Summen erreicht. Es ist dunkel hier, ich kann Antoinettes Gesicht kaum sehen, aber wir gehen immer weiter, bis um uns herum nur Schwärze ist und wir die Musik und die Stimmen nicht mehr hören können, bis nur noch der Klang der Wildnis uns einhüllt wie ein Rauschen im Wasser. Irgendwie findet Antoinette eine trockene Stelle neben einem Baum. «Als ich sagte, wir sollten am besten auf der Stelle anfangen, meinte ich tatsächlich auf der Stelle», sagt sie, und als ich ihren Körper in der Dunkelheit finde, habe ich das Gefühl, nach Hause zu kommen. 519
EPILOG Sechs Monate sind vergangen. Antoinette ist im sechsten Monat schwanger, und es sieht so aus, als hätte sie das Kind in der Nacht der Beerdigung empfangen - ob im Wald oder später in der Angelhütte, läßt sich schwer sagen. Wir heirateten in der Kathedrale St. Louis, als man ihr die Schwangerschaft gerade ansehen konnte. Anschließend gab es im New Orleans Yachtclub einen Empfang für Familie und Freunde. In Anbetracht der Umstände hatten wir eigentlich eine kleine Zeremonie im Sinn, aber in letzter Minute änderte Antoinette ihre Meinung, und mit Hilfe ihrer vier Schwestern verschickte sie dreihundertfünfzig Einladungen und traf alle Vorbereitungen in nur zwei Wochen. «Zum Teufel», sagte sie zu mir, «ich weiß ja nicht, wie du das siehst, aber ich werde nur ein einziges Mal heiraten.» Die Hochzeit füllte die Gesellschaftsspalten der Times Picayune mit Bildern von einer glücklichen Braut und einem verwirrten, benebelten Bräutigam. Die Zeitung schrieb freundlich, daß der Bräutigam nervös, aber entschlossen gewirkt habe, daß die Braut wunderbar und schwanger ausgesehen habe in ihrem hellblauen Kleid mit ihrem mittlerweile schon ziemlich dicken Bauch kam das jungfräuliche Weiß nicht mehr in Frage - und daß auf Ultraschallbildern schon das Geschlecht des Kindes erkennbar sei: Zum ersten Mal seit zweihundert Jahren stände in der Familie der Braut die Geburt eines Jungen bevor. Diese Eröffnung war ein Schock für mich. Ich hatte 520
mit einem dieser schönen Mädchen gerechnet, für die Antoinettes Familie berühmt ist, und insgeheim bin ich ein wenig enttäuscht. Aber wenn wir zehn Kinder kriegen, wie Antoinette sagt, ist reichlich Platz für mehrere Exemplare beider Geschlechter. Pater Rose ist aus New York hergeflogen, um beim Hochzeitsgottesdienst mitzuwirken, und sah in seinen Gewändern am Altar ausgesprochen priesterlich aus. Er hat das Golfspiel vollkommen aufgegeben, wie er mir später beim Empfang erzählte, und betreibt jetzt das Heiligen-Management als Fulltimejob. Der seltsame Fall von Schwester Januarius hat in jüngster Zeit auch eine gewisse Aufmerksamkeit seitens der Presse erhalten. Man berichtet über Wunder in Brooklyn. Krüppel laufen wieder, Blinde sehen, Krücken übersäen die Stufen der Kathedrale. Es sind sogar ein paar Jugendliche aus den Decateur-Sozialbauten erschienen, um am Altar ihre Waffen abzugeben. Wer weiß, was als nächstes kommt? Pater Rose meint, die gute Schwester befinde sich bereits auf halber Strecke zur Seligsprechung. Die Ritenkongregation in Rom stellt bereits ihre Nachforschungen an, und es ist jetzt alles nur eine Frage von Gerichtsprozessen nach kanonischem Recht. Trotzdem könnte es noch ein oder zwei Jahre dauern oder zwei Jahrhunderte. Der Heilige Stuhl ist unerforschlich in diesen Dingen, und die Frage wird verkompliziert durch die Tatsache, daß Schwester Januarius’ Kultus beinahe neunzig Jahre lang im geheimen gepflegt wurde. In der Zwischenzeit ist Pater Rose so etwas wie eine Berühmtheit geworden. Er ist in Good Morning America aufgetreten und in der Regis-Philbin-Show. Sein Bild hat zusammen mit einer skandalösen Nahaufnahme des eingefallenen, mumifizierten Kopfes von Schwester Januarius die Titelseite der New York Post geschmückt. 521
Die Schlagzeile lautete WÄCHST IN BROOKLYN EINE HEILIGE HERAN? Vielleicht war es gar nicht der Erfolg, den er die ganze Zeit über im Golfspiel gesucht hat, gestand mir Pater Rose in einer schuldbewußten Nebenbemerkung, sondern ein klein wenig Ruhm. Die Arbeiten an dem Haus auf der Esplanade schreiten in gutem Tempo voran. Antoinette hat eine ganze Armee von Zimmermännern, Elektrikern und Installateuren für die Spezialarbeiten engagiert, und letzte Woche sind wir in das große Schlafzimmer im ersten Stock gezogen, was immer noch ein bißchen wie Camping im Freien ist. Mir ist es unglaublich schwergefallen, mich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß wir reich sind, und ich habe immer noch vor, eines Tages meine Doktorarbeit zu beenden und mich an einem der einheimischen Colleges um eine Stellung als Geschichtslehrer zu bewerben. Nach so vielen Jahren, in denen ich jeden Pfennig zweimal umdrehen mußte, ist Antoinettes Geld geradezu unvorstellbar. Ich ertappe mich noch immer bei den absurdesten Sparmaßnahmen, obwohl man mir gesagt hat, daß nach Abzug der Steuern unser Anteil an Papas Vermögen sich auf etwas um die siebzehn Millionen Dollar belaufen wird. Ich sage unser Anteil, weil Antoinette sich geweigert hat, einen Ehevertrag aufzusetzen, der mir im Falle einer Scheidung oder Trennung den Zugang zu dem Zaster versperren würde. «Wenn wir untergehen, gehen wir zusammen unter», sagt sie. «Außerdem, was für eine Rolle spielen ein oder zwei Millionen mehr oder weniger?» Dieser Einschätzung muß ich mich anschließen, aber in meinem Falle ist es die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, daß ich sie barfuß und mittellos nehmen würde und ohne einen Fetzen, den sie ihr eigen nennen könnte, und all dieser neu gefundene 522
Reichtum bringt mich ein wenig in Verlegenheit. Wenn das Kind auf der Welt ist, werden wir einen Teil des Geldes den Armen geben, sage ich zu ihr, und sie faltet die Hände über ihrem Bauch und lächelt ein Lächeln, das einer Madonna würdig wäre. Eine meiner Sparmaßnahmen hat die seltsame Form von Landschaftsgärtnerei angenommen. Ich bringe den Garten hinter dem Haus auf der Esplanade wieder in Ordnung, wobei ich mich auf Erfahrungen stütze, die ich während der Sommerferien der Highschool als Landschaftsgärtner gewonnen habe. Es ist eine elende, schweißtreibende Arbeit, aber sie beruhigt mein Gewissen ein wenig. Ich habe mir einen Haufen alter Ziegelsteine von einem Abbruchgelände geholt, und ich baue gerade die Schutzmauern um die immergrüne Eiche wieder auf, als ich das knirschende Reifengeräusch eines schweren Wagens höre, der die Einfahrt heraufkommt. Es ist ein altmodischer Bentley Continental aus den Fünfzigern, zweifarbig gespritzt in glänzendem Schwarz und tiefem Burgunderrot und mit jeder Menge blankpoliertem Chrom. Als der Chauffeur um den Wagen herumgeht, um die Beifahrertür zu öffnen, sehe ich die gekreuzten Schlüssel und die Bischofsinsignien an der Tür und mache mich daran, den Schmutz von meinen Knien zu wischen. Ein älterer Mann steigt aus dem Wagen. Er trägt die rotgesäumten Röcke, den Umhang und das rote Käppchen, die die Insignien eines Kardinals der katholischen Kirche ausmachen. Ich bin sprachlos, als der Mann näherkommt. Sein schweres goldenes Kruzifix funkelt in der Sonne. Seine Schuhe sind aus Lackleder, italienisch, handgefertigt. Er ist klein und rundlich mit einem seltsamen Backenbart und einem Muttermal, das wie ein Schönheitsfleckchen auf seiner linken Wange 523
prangt. Er lächelt freundlich, als er näherkommt, aber seine Augen sind ernst und würdevoll und verbergen unbekannte Tiefen. «Entschuldigen Sie bitte, ich suche nach einem Mr. Edward Conti», sagt er in wohlüberlegtem Englisch, das seinen italienischen Akzent in der Aussprache meines Nachnamens verrät. «Ja?» «Ich bin Monsignore Antonio Ruccia, Mitglied der Ritenkongregation im Vatikan. Hätten Sie einen Augenblick Zeit für mich?» Wir setzen uns an den schmiedeeisernen Tisch unter der immergrünen Eiche. Kardinal Ruccia staubt seinen Stuhl mit einem bestickten Taschentuch vorsichtig ab, und als er sich hinsetzt, ordnet er seine Röcke vorsichtig über den Knien, aber der Mann hat nichts Frivoles an sich. Er besitzt die selbstsicheren Gesten eines Menschen, der es gewohnt ist, unangefochtene Autorität auszuüben. Jetzt zieht er einen kleinen Kassettenrecorder aus einer Falte in seiner Soutane, stellt ihn vorsichtig zwischen uns auf den Tisch und fängt an, mir Fragen über Schwester Januarius zu stellen, über die Erscheinung im Krankenhaus, über den langen und mühsamen Fortgang meiner Forschungsarbeiten während des Sommers. Als ich ihm alles gesagt habe, was ich weiß, macht er den Kassettenrecorder aus und beugt sich zu mir herüber. Sein Aftershave riecht leicht nach Gardenien, aber etwas in seinen Augen treibt mir den Schweiß auf die Stirn. «Ich bitte Sie beim Schicksal Ihrer unsterblichen Seele und bei Ihrer Liebe zur Kirche zu schwören, daß die Dinge, die Sie mir erzählt haben, die Wahrheit sind und keine Märchen oder Erfindungen Ihrerseits darstellen.» Ich bin aufgeregt und muß für einen Augenblick an 524
Galileo denken, wie er vor der Inquisition stand. «Bei meiner Ehre», flüstere ich, «es ist alles wahr.» Seine Augen werden eine Sekunde lang schmal. Dann nickt er und scheint zufrieden, und die Spannung hebt sich wie Rauch in den Nachmittag hinweg. «Sie müssen mir verzeihen, wenn ich meine Arbeit zu ernst nehme», sagt er. «Aber die Berufung einer neuen Heiligen ist eine sehr ernsthafte Angelegenheit. Wir müssen sicher sein, daß Sie die Wahrheit sagen.» Ich blinzele zustimmend, und der Kardinal schweigt einen Augenblick. Er sieht sich auf dem Hof um, kratzt sich am Kinn und lächelt. «Das wird mal ein wunderschönes Haus sein, wenn Sie es fertig haben», sagt er. «Ich mag den architektonischen Stil hier. Er ist offen, aber doch privat. Europäisch, aber nicht ganz.» «Kreolisch», sage ich. «Französisch, spanisch. Mit einem klein wenig solidem Amerika darin.» «Eine glückliche Mischung», lächelt er. «Danke», erwidere ich, denn mir fällt nichts anderes ein. Der Bursche macht mich nervös. In diesem Augenblick kommt Antoinette mit einem Limonadenkrug und zwei Gläsern in der Hand aus der Küche. Sie ist barfüßig und hat sich den Rock hochgezogen und um die Oberschenkel gebunden. Sie tapeziert den Raum neben unserem, der später als Kinderzimmer dienen soll. Ihre Arme sind mit Kleister bespritzt. Als sie den Kardinal sieht, läßt sie fast den Limonadenkrug fallen. «Oh, das habe ich nicht gewußt», sagt sie leise. «Du hast Gesellschaft.» Der Kardinal steht auf und verbeugt sich leicht. «Signora», sagt er, «ich wollte gerade gehen. Ich möchte 525
auf keinen Fall Ihren Nachmittag stören.» Aber Antoinette und ich bewegen ihn zum Bleiben. Wir trinken die Limonade aus, und als der erste rötliche Hauch von Abend den Himmel über dem Fluß überzieht, wünscht der Kardinal sich, eines unserer einheimischen alkoholischen Getränke probieren zu dürfen. «Ich habe viel von ihrem Pfefferminzjulep gehört», sagt er. «Als Kind habe ich in Italien Vom Winde verweht gesehen, und der Julep erschien mir immer als ein köstliches Getränk. Ich kann mich natürlich nicht in einem Salon sehen lassen, aber wenn Sie vielleicht die Zutaten bei der Hand hätten?» Er hebt eine italienische Augenbraue. In Antoinettes Augen tritt ein übermütiges Funkeln. «Pfefferminzjuleps sind eigentlich keine Spezialität aus New Orleans, sondern ein Plantagendrink. Aber ich erhöhe den Einsatz, Pater», sagt sie und verschwindet im Haus. Zehn Minuten später taucht sie mit zwei Sazeracs in Cocktailgläsern auf. Der Kardinal nimmt einen vorsichtigen Schluck und lächelt. «Ja», sagt er. «Sehr gut.» «Das ist Sazerac», sagt Antoinette. «Selbstgemacht. Nicht dieses Zeug, das man im Laden kaufen kann. Richtig ordentlich gemixt, wie sich das gehört. Hier, lassen Sie mich mal einen Schluck nehmen…» «Antoinette…», sage ich. «Ich sagte, einen Schluck. Sei nicht paranoid, Ned. Das wird schon nichts schaden.» Sie nimmt einen bescheidenen Schluck aus meinem Glas und gibt es mir zurück. «Nicht schlecht», sagt sie. «Aber es fehlt noch was…» «Nein», sagt der Kardinal enthusiastisch, «es ist exzellent!» Und um diese Behauptung unter Beweis zu 526
stellen, trinkt er noch zwei weitere Gläser. Als er sich schließlich zum Gehen wendet, ist er ein wenig beschwipst, seine Wangen leuchten rot im Zwielicht des Abends. Der Chauffeur sitzt schlafend im Wagen. «Ich danke Ihnen beiden für einen sehr vergnüglichen Nachmittag», sagt er. Er schüttelt mir die Hand und küßt Antoinette auf die Stirn, aber als er endgültig gehen will, flüstert sie ihm etwas ins Ohr. «Ja, natürlich», sagt er mit dem Gehabe eines Mannes, den man an etwas Wichtiges erinnert hat. Antoinette kommt zu mir und nimmt meinen Arm, und wir beide knien uns gemeinsam auf die Pflastersteine und die zu Boden gefallenen Blätter im Hof. Der Kardinal hebt die Hand, schlägt das Kreuzzeichen über uns und stimmt ein kurzes Segensgebet an. «Das Schwierigste auf dieser Welt ist, glücklich zu werden», sagt er. «Aber es gibt ein einfaches Rezept: Wir nehmen unsere Kinder an der Hand. Und gehen demütig mit unserem Gott durchs Leben. Seid glücklich, meine Kinder.» Dann ist er mit einem schwungvollen Wirbel seines Umhangs in der Abenddämmerung verschwunden. Später liegen Antoinette und ich dösend zusammen im großen Bett und reden leise über die Zukunft. Ich habe meine Hand auf ihren Bauch gelegt, aber das Baby tut uns heute abend nicht den Gefallen zu treten. «Also, was hältst du von dem Rezept des Kardinals?» fragt sie mich. «Jeder hat da seine eigene Version», sage ich. «Ein Geist hat mir einmal erklärt, das Glück bestehe darin, 527
herauszufinden, wohin man gehört, und dann dort hinzugehen.» «Hhm. Und wo gehörst du hin?» Aber ich gebe ihr keine Antwort. Und schon bald sind wir engumschlungen eingeschlafen.
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