John Grogan
Marley & ich Unser Leben mit dem frechsten Hund der Welt
Deutsch von Gabriele Zigldrum
GOLDMANN
In Eri...
53 downloads
596 Views
3MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
John Grogan
Marley & ich Unser Leben mit dem frechsten Hund der Welt
Deutsch von Gabriele Zigldrum
GOLDMANN
In Erinnerung an meinen Vater, Richard Frank Grogan, dessen einfühlsamer Geist jede Seite dieses Buches prägt.
VORWORT
Der perfekte Hund
I
m Sommer 1967, als ich zehn Jahre alt war, gab mein Vater endlich meinem anhaltenden Betteln nach und erlaubte mir einen eigenen H u n d . W i r fuhren alle zusammen in u n serer Familienkutsche tief ins ländliche Michigan, zu einem Hof, der von einer resoluten Frau und ihrer uralten M u t t e r betrieben wurde. D e r H o f warf n u r ein einziges Produkt ab H u n d e . H u n d e von jeder erdenklichen Größe, F o r m , Alter und Temperament. Sie alle hatten nur zwei Dinge gemeinsam: Alle waren Mischlinge, deren Abstammung niemand mehr nachvollziehen konnte, und alle suchten ein gutes Z u hause. W i r waren auf einer Art Gnadenhof für H u n d e . » N i m m dir Zeit, mein Junge«, sagte mein Vater. » D e i n e Entscheidung heute wird dich viele Jahre lang begleiten.« M i r war schnell klar, dass die älteren H u n d e ein Fall für die Nächstenliebe anderer Leute waren. Ich rannte sofort zum Welpenzwinger. »Ich würde einen n e h m e n , der nicht zu ängstlich ist«, riet mein Vater. »Rüttel am Gitterzaun und schau, welcher Welpe keine Angst hat.«
Ich fasste in den Zaun und zerrte daran, sodass er laut schepperte. Ein Dutzend Welpen sprang erschrocken zurück und landete in einem jaulenden Fellhaufen aufeinander. N u r einer blieb sitzen. Er hatte goldfarbenes Fell mit einem weißen Fleck auf der Brust, und er verteidigte das Gatter furchtlos mit lautem Gebell. D a n n sprang er auf und leckte 7
aufgeregt durch das Gitter hindurch an meinen Fingern. Es war Liebe auf den ersten Blick. W i r brachten ihn in einem Pappkarton nach Hause und nannten ihn Shaun. Er war ein vorbildlicher H u n d . O h n e M ü h e befolgte er jeden Befehl, den ich ihm beibrachte, und benahm sich immer tadellos. Ich konnte eine Brotrinde auf den Boden werfen, und er rührte sie nicht an, ehe ich ihm das K o m m a n d o dazu gab. Er kam, wenn ich ihn rief, und blieb sitzen, wenn ich es ihm sagte. Ich konnte ihn nachts alleine hinauslassen und sicher sein, dass er von selbst zurückk o m m e n würde, wenn er sein Geschäft gemacht hatte. W i r konnten ihn mehrere Stunden lang alleine zu Hause lassen und uns darauf verlassen, dass er nicht irgendwo hinmachen oder sonst etwas anstellen würde. Aber natürlich ließen wir ihn trotzdem nicht oft alleine. Er rannte neben Autos her, ohne sie zu verfolgen, und ich konnte ohne Leine mit ihm spazieren gehen. M a n c h m a l tauchte er bis zum Grund unseres kleinen Sees u n d kam mit einem riesigen Stein im Maul wieder an die Wasseroberfläche, sodass er beinahe eine Maulsperre hatte. Er liebte Autofahren über alles und saß auf Familienausflügen immer brav neben mir auf dem Rücksitz. Dabei schaute er stundenlang nur aus dem Fenster und betrachtete die vorbeiziehende Landschaft. U n d was vielleicht am besten war, ich brachte ihm bei, mich auf meinem Fahrrad wie auf einem Hundeschlitten durch unser Viertel zu ziehen, was meine Freunde vor Neid erblassen ließ. Er ist kein einziges Mal durchgegangen. Er war dabei, als ich meine erste (und letzte) Zigarette rauchte u n d als ich das erste Mal ein Mädchen küsste. U n d er saß neben mir auf dem Beifahrersitz, als ich heimlich das Auto meines großen Bruders n a h m und meine erste Spritztour machte. Shaun war temperamentvoll, aber zugleich besonnen, 8
leidenschaftlich und doch ausgeglichen. Er besaß sogar die Diskretion, sich für sein Geschäft in die Büsche zurückzuziehen, sodass nur noch sein Kopf hervorschaute. D a n k dieser Reinlichkeit konnte man immer barfuß über unseren Rasen laufen. W e n n uns am Wochenende Verwandte besuchten, fuhren sie mit der festen Absicht wieder nach Hause, sich auch einen H u n d anzuschaffen, so sehr hatte Shaun - oder Saint Shaun, wie ich ihn schließlich nannte - sie beeindruckt. Natürlich war das mit dem Heiligsein n u r ein W t z , aber wir glaubten doch beinahe daran. M i t seinem unbekannten Stammbaum war er einer der unzähligen unerwünschten H u n d e Amerikas. U n d doch wurde er durch eine gütige Vorsehung zu einem heiß geliebten H u n d . Er trat in mein Leben und ich in seines - und er schenkte mir damit eine Kindheit, wie sie jedes Kind verdient hätte. Diese Liebesgeschichte dauerte vierzehn Jahre, u n d als er starb, war ich nicht m e h r der kleine Junge, der ihn an einem Sommertag mit nach Hause gebracht hatte. Ich war erwachsen geworden, hatte einen Collegeabschluss und meinen ersten festen J o b , weit weg von zu Hause. Als ich von zu Hause auszog, hatte ich Saint Shaun dort gelassen. D o r t gehörte er hin. Meine Eltern, beide inzwischen Rentner, riefen an, um mir die traurige Nachricht mitzuteilen. Später erzählte mir meine Mutter: »In fünfzig Jahren E h e habe ich deinen Vater nur zweimal weinen sehen. Das erste Mal, als wir M a r y Ann verloren haben« - meine Schwester, die tot zur Welt kam -, »und das zweite Mal an dem Tag, als Shaun starb.« Saint Shaun war der Heilige meiner Kindheit. Er war der perfekte H u n d . Zumindest wird er das in meiner E r i n n e rung immer bleiben. U n d Shaun setzte die Maßstäbe, nach denen ich später alle H u n d e beurteilen würde.
EINS
Mit Welpe zu dritt
W
ir waren jung. W i r waren verliebt. W i r genossen die erste wunderbare Zeit der Ehe, wenn m a n glaubt, dass im Leben alles möglich ist. Die Welt gehörte uns. U n d so kam es, dass meine Frau und ich an einem J a n u arabend im J a h r 1991 nach füinfzehnmonatiger E h e hastig zusammen zu Abend aßen und dann losfuhren, um auf eine viel versprechende Anzeige in der Palm Beach Post zu antworten. Ich weiß nicht genau, warum wir das taten. Ein paar W o chen zuvor war ich kurz nach Sonnenaufgang aufgewacht und hatte gemerkt, dass Jenny nicht neben mir lag. Ich war aufgestanden und hatte sie auf der überdachten Veranda u n seres kleinen Bungalows gefunden, wo sie im Bademantel an unserem Glastisch saß und sich mit einem Stift in der H a n d über eine Zeitung beugte.
An der Szene war nichts Ungewöhnliches. Die Palm Beach Post war unsere Lokalzeitung und außerdem zur Hälfte für unser Familieneinkommen verantwortlich. W i r arbeiteten beide als Journalisten. Jenny schrieb Kolumnen für die Palm Beach Post, und ich arbeitete als Reporter für das lokale K o n kurrenzblatt, den Sun-Sentinel von Südflorida, der seine Büros eine Stunde südlich in F o r t Lauderdale hatte. Jeden Morgen warfen wir als Erstes einen Blick in die Zeitungen, um zu sehen, wie unsere Artikel platziert worden waren u n d 11
wie sie sich gegen die Konkurrenz ausnahmen. M i t Hingabe kreisten wir ein, unterstrichen und schnitten aus. An diesem M o r g e n jedoch steckte Jenny ihre Nase in die Kleinanzeigen. Als ich näher herantrat, sah ich, dass sie fieberhaft etwas unter der Rubrik »Haustiere - H u n d e « einkreiste. » O h « , sagte ich mit meiner Frischgebackener-Ehemann-und-daher-sehr-sanft-und-freundlich-Stimme. »Gibt es da etwas, was ich wissen sollte?« Sie antwortete nicht. »Jen-Jen?« » D i e Pflanze«, sagte sie endlich mit einem Hauch von Verzweiflung in der Stimme. » D i e Pflanze?«, fragte ich. » D i e blöde Pflanze«, präzisierte sie. »Die, die wir umgebracht haben.« Die 7w'rumgebrachthaben? Ich wollte nicht darauf herumreiten, aber fürs Protokoll: Es handelte sich um eine Pflanze, die ich gekauft und die sie um die Ecke gebracht hatte. Ich hatte sie eines Abends damit überrascht, eine schöne, große Dieffenbachie mit cremefarbenem Muster auf den grünen Blättern. » G i b t es einen besonderen Anlass?«, hatte sie gefragt. Aber es gab keinen. Ich hatte sie ihr einfach nur geschenkt, um ihr zu sagen: »Verdammt, ist es nicht fantastisch, verheiratet zu sein?« Sie hatte sich über meine Geste und die Pflanze gefreut und sich bedankt, indem sie mir die Arme um den Hals legte und mich küsste. U n d dann hatte sie sofort damit angefangen, mein Geschenk mit erstaunlicher Kaltblütigkeit zu töten. Natürlich nicht absichtlich; eher hat sie das arme Ding zu Tode gepflegt. J e n n y hat nicht gerade einen grünen Daumen. Sie ging davon aus, dass alle Lebewesen Wasser brauchen, und vergaß dabei, dass sie auch Luft benötigen. Also goss sie die Dieffenbachie täglich reichlich. 12
»Pass auf, dass du sie nicht ertränkst!«, riet ich ihr. »Okay«, antwortete sie und füllte eine weitere G i e ß kanne. Je kränker die Pflanze aussah, desto m e h r goss sie sie, bis sie schließlich in eine Art geschmolzenen Klumpen zerfloss. Ich betrachtete ihre Uberreste im Blumentopf auf dem F e n s terbrett und dachte: Mann, jemand, der an böse Vorzeichen glaubt, hätte hier jede Menge Material. Da saß sie also und vollbrachte den unglaublichen logischen Schritt von einer toten Pflanze im Blumentopf zu den Haustieranzeigen. Bring eine Pflanze um und kauf dir einen Welpen. Klar, das war logisch. Ich sah mir die Zeitung, die vor ihr lag, genauer an u n d entdeckte die Anzeige, die ihr besonderes Interesse geweckt hatte. Sie hatte drei dicke rote Kreuze daneben gemalt. D e r Text lautete: »Reinrassige Labradorwelpen, hellbraun. N u r in gute Hände.« »Also«, fing ich an, »kannst du mir diese Labrador-Pflanzen-Geschichte noch mal erklären?« »Weißt du«, sagte sie und sah auf, »ich habe mich so bemüht, und was ist passiert? Ich kann noch nicht einmal eine dämliche Topfpflanze am Leben erhalten. Ich meine, was muss man da schon tun? Du brauchst das verdammte D i n g doch nur zu gießen!« Dann kam sie auf den Punkt: » W e n n ich schon keine Topfpflanze versorgen kann, wie soll ich dann jemals ein Baby versorgen können?« Sie sah mich an, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Die Babysache, wie ich es nannte, war schon ein fester Bestandteil von Jennys Leben geworden und wurde von Tag zu Tag schlimmer. Als wir uns das erste Mal bei einer kleinen Zeitung in Michigan begegnet waren, war sie erst ein paar Monate vom College weg und das Erwachsensein schien noch eine ferne, unbestimmte G r ö ß e . Für uns beide war es 13
der erste feste J o b nach der Schule gewesen. W i r aßen jede M e n g e Pizza, tranken viel Bier und verschwendeten keinen Gedanken an die Möglichkeit, dass unsere Jugend eines Tages vorbei sein könnte und wir einmal etwas anderes als junge, alleinstehende, unmäßige Pizza- und Bierkonsumenten sein würden. Aber die J a h r e vergingen. W i r hatten gerade angefangen, miteinander auszugehen, als verschiedene Jobangebote - und ein einjähriges Fortbildungsprogramm in meinem Fall - uns in unterschiedliche Richtungen im östlichen Teil von Amerika zogen. Zuerst waren wir n u r eine Stunde Fahrzeit voneinander entfernt. D a n n waren es drei Stunden. D a n n acht u n d am E n d e vierundzwanzig. Als wir schließlich beide in Südflorida landeten und das Ganze amdich wurde, war J e n n y fast dreißig. Ihre Freundinnen hatten Babys. Ihr Körper sandte ihr seltsame Signale. Die einst auf ewig offen stehende T ü r der Fortpflanzung schien sich langsam zu schließen. Ich lehnte mich von hinten über sie, umarmte sie und drückte ihr einen Kuss aufs Haar. »Schon in Ordnung«, sagte ich. Aber ich musste zugeben, dass ihre Bedenken nicht ganz aus der Luft gegriffen waren. Keiner von uns hatte jemals wirklich für etwas sorgen müssen. Klar, wir waren beide mit Haustieren aufgewachsen, doch die zählten nicht wirklich. W i r hatten ja immer gewusst, dass sich unsere Eltern um sie k ü m m e r n würden. W i r wollten beide eines Tages Kinder, aber war einer von uns dieser Aufgabe wirklich gewachsen? Kinder waren so ... so ... unheimlich. Sie waren hilflos und verletzlich und sahen aus, als würden sie sofort zerbrechen, wenn m a n sie fallen ließ. D a n n hellte sich Jennys M i e n e plötzlich auf. »Ich dachte, ein H u n d wäre vielleicht gut zum Ü b e n « , sagte sie.
14
Als wir in der Dunkelheit in Richtung N o r d w e s t e n zur Stadt hinausfuhren, wo die Vororte von West Palm Beach in ausgedehnte Ländereien übergehen, dachte ich noch einmal über unseren Entschluss nach, einen H u n d anzuschaffen. Es war eine riesige Verantwortung, besonders für zwei Menschen mit Vollzeitjob. U n d doch wussten wir, worauf wir uns einließen. W i r waren beide mit H u n d e n aufgewachsen und hatten sie unendlich geliebt. Ich hatte Saint Shaun gehabt, und Jenny Saint Winnie, den von der ganzen Familie heiß geliebten English Setter. Unsere schönsten Kindheitserinnerungen waren mit diesen H u n d e n verbunden. W i r waren mit ihnen auf Berge gestiegen, geschwommen, hatten mit ihnen gespielt und wegen ihnen Arger bekommen. W e n n J e n ny den H u n d wirklich nur gewollt hätte, um ihre elterlichen Fähigkeiten zu trainieren, hätte ich versucht, es ihr auszureden und ihr stattdessen einen Goldfisch anzudrehen. Aber genauso wie wir beide Kinder wollten, so wussten wir auch beide, dass unsere Familie nur mit einem H u n d komplett sein würde. Als wir miteinander ausgegangen waren, lange bevor der Gedanke an Kinder aufgetaucht war, verbrachten wir Stunden damit, über unsere Haustiere zu diskutieren, wie sehr wir sie vermissten und wie sehr wir uns wünschten, eines Tages - wenn wir ein eigenes H a u s hatten und Ruhe in unser Leben eingekehrt war - wieder einen H u n d zu haben. Jetzt war es so weit. W i r wohnten zusammen an einem Ort, den wir so schnell nicht wieder verlassen wollten, und wir konnten ein Haus unser Eigen nennen. Es war ein perfektes kleines Häuschen auf einem kleinen, eingezäunten Grundstück, das genau die richtige G r ö ß e für einen H u n d hatte. U n d die U m g e b u n g war ebenfalls genau richtig, ein unkonventionelles, städtisches Wohngebiet eineinhalb Blocks vom Intracoastal Waterway entfernt, einem Binnen15
Wasserweg, der von N e w Jersey bis Texas verläuft und unser Viertel, West Palm Beach, von der edlen Wohngegend in Palm Beach trennte. Am Fuße unserer Straße, der Churchill Road, lag ein lang gestreckter Park mit asphaltierten Wegen, der sich über Kilometer am Ufer entlang erstreckte. Ein idealer O r t zum Joggen, Radfahren und Inlineskaten. Und natürlich vor allem, um mit einem H u n d spazieren zu gehen. Das H a u s stammte aus den Fünfzigerjahren und hatte einen gewissen C h a r m e - mit Kamin, grob verputzten W ä n den, großen Fenstern und Flügeltüren, die auf unseren Lieblingsplatz hinausführten, die überdachte Veranda hinter dem H a u s . D e r Garten war eine kleine tropische Oase, mit Palmen, Bromelien, Avocadobäumen und Buntnesseln in grellen Farben. Das Grundstück wurde von einem ausladenden M a n g o b a u m beherrscht, der jeden Sommer seine schweren Früchte mit lautem Plumpsen auf die Erde fallen ließ. Das klang grotesk, als würden Leichen vom Dach geworfen. W i r lagen dann immer im Bett und lauschten. Plumps. Plumps. Plumps. W i r hatten diesen Bungalow mit zwei Schlafzimmern und einem Bad ein paar M o n a t e nach unserer Rückkehr aus den Flitterwochen gekauft u n d uns sofort darangemacht, ihn herzurichten. Die Vorbesitzer, ein pensionierter Postangestellter und seine Frau, hatten die Farbe G r ü n geliebt. Die Verzierungen außen am H a u s waren grün. Die W ä n d e im Haus waren grün. Die Vorhänge waren grün. Die Fensterläden waren grün. Die Haustür war grün. D e r Teppich, den sie gerade erst angeschafft hatten, um das Haus besser verkaufen zu können, war grün. N i c h t ein freundliches Apfelgrün oder ein kühles Smaragdgrün oder gar ein mutiges Limonengrün, sondern ein ungesundes Erbsensuppengrün mit einem Hauch von Khaki. Das Haus hatte die Atmosphäre einer Militärbaracke. 16
An unserem ersten Abend dort rissen wir jeden Z e n t i m e ter des neuen grünen Teppichs heraus und schleiften ihn auf den Gehsteig hinaus. U n t e r dem Teppich entdeckten wir makellose Eichendielen, die, soweit wir das beurteilen konnten, noch nie eine Schuhsohle gesehen hatten. W i r polierten sie, bis sie glänzten. D a n n gingen wir einkaufen und gaben einen halben Monatslohn für einen handgewebten persischen Teppich aus, den wir im W o h n z i m m e r vor dem Kamin ausrollten. Im Laufe der M o n a t e strichen wir jede grüne Oberfläche und tauschten jedes grüne Accessoire aus. Das H a u s des Postbeamten wurde langsam zu unserem. Als wir mit allem fertig waren, war es natürlich n u r logisch, dass wir uns einen großen, vierbeinigen Mitbewohner mit scharfen Krallen, großen Zähnen und äußerst begrenzten Englischkenntnissen ins H a u s holten, damit er es wieder auseinandernehmen konnte. »Langsam, Dingo, sonst fahren wir noch dran vorbei!«, schimpfte Jenny. »Es muss hier ganz in der N ä h e sein.« W i r fuhren in tiefschwarzer N a c h t durch eine Landschaft, die einmal ein M o o r gewesen und nach dem Zweiten Weltkrieg trockengelegt worden war, um sie zuerst als Ackerland u n d später als Baugrund für Landliebhaber zu nutzen. W i e Jenny vorausgesagt hatte, erfassten unsere Scheinwerfer bald einen Briefkasten mit der Adresse, nach der wir suchten. Ich bog in einen Schotterweg ein, der in einen großen, eingezäunten H o f mündete. Vor dem H a u s stand ein Brunnen und dahinter war eine kleine Scheune zu sehen. An der T ü r begrüßte uns eine Frau mittleren Alters namens Lori. N e b e n ihr stand ein großer, friedlicher hellbrauner Labrador. »Das ist Lily, die stolze M a m a « , sagte Lori, nachdem wir uns vorgestellt hatten. W i r sahen, dass Lilys Bauch fünf 17
W o c h e n nach der G e b u r t noch angeschwollen war und ihre Zitzen deutlich heraustraten. W i r knieten uns beide hin und sie begrüßte uns freundlich. Sie war genau das, was wir uns unter einem Labrador vorstellten - gutmütig, liebenswert, sanft und atemberaubend schön. » W o ist der Vater?«, fragte ich. » O h « , sagte die Frau und zögerte den Bruchteil einer Sekunde lang, »Sammy Boy? Er ist irgendwo draußen unterwegs.« D a n n fügte sie schnell hinzu: »Sicher wollen Sie jetzt unbedingt die Welpen sehen?« Sie führte uns durch die Küche in einen Raum, der in eine Art Säuglingsstation umfunktioniert worden war. D e r Boden war mit Zeitungen ausgelegt und in einer Ecke stand eine niedrige Schachtel mit alten Handtüchern. Doch all das n a h m e n wir n u r am Rande wahr. Kein Wunder, wo doch vor uns n e u n kleine gelbe Welpen übereinander stolperten, während sie sich fiepend drängten, um diese fremden Leute zu begutachten. J e n n y schnappte nach Luft. »Meine Güte«, sagte sie. »Ich glaube, ich habe in meinem ganzen Leben noch nie etwas so Reizendes gesehen.« W i r setzten uns auf den Boden und ließen die Welpen auf uns herumklettern, während Lily freundlich dazwischen herumlief, mit dem Schwanz wedelte und jeden ihrer Sprösslinge mit der Schnauze anstupste, um zu sehen, ob auch alles in O r d n u n g war. Ich hatte mit J e n n y ausgemacht, dass wir uns die Welpen nur ansehen, ein paar Fragen stellen und dann noch einmal darüber nachdenken würden, ob wir uns auch wirklich einen H u n d anschaffen wollten. »Das ist die erste Anzeige, auf die wir uns melden«, hatte ich gesagt, »lass uns nichts überstürzen.« Aber nach dreißig Sekunden war mir klar, dass ich die Schlacht verloren hatte. Es stand außer Zweifel, dass vor Morgengrauen einer dieser Welpen uns gehören würde. 18
Lori war keine professionelle Hundezüchterin. W i r hatten keine Ahnung davon, wie m a n es anging, einen reinrassigen H u n d zu kaufen. D o c h wir hatten genug gelesen, um zu wissen, dass man sich von den so genannten Welpenfabriken fernhalten sollte, diesen kommerziellen Hundezuchten, die reinrassige H u n d e ausstießen wie eine Autofirma ihre Fließbandware. Im Gegensatz zu serienmäßig produzierten Autos können serienmäßig produzierte Rassehundwelpen nämlich ernste Erbschäden aufweisen, von Hüftverformungen bis zu früher Erblindung, als Folge von fortgesetzter Inzucht. Lori dagegen betrieb die H u n d e z u c h t als Hobby, eher aus Liebe zu dieser Rasse als aus Profitgier. Sie besaß n u r eine H ü n d i n und einen Rüden. Die beiden stammten von verschiedenen Linien ab, was Lori anhand der Stammbäume nachweisen konnte. Dies war Lilys zweiter und voraussichtlich letzter Wurf, ehe sie sich in den wohlverdienten R u h e stand eines Haustiers auf dem Land zurückziehen würde. Mit beiden Eltern vor O r t konnte der Käufer die Abstamm u n g direkt nachvollziehen - auch wenn der Vater in u n serem Fall irgendwo draußen unterwegs u n d damit nicht greifbar war. D e r W u r f bestand aus fünf Weibchen, die bis auf eines alle bereits vergeben waren, und vier M ä n n c h e n . Lori verlangte 400 Dollar für das letzte Weibchen und 375 Dollar für die Rüden. Einer der Rüden schien besonders verliebt in uns zu sein. Er war der Verspielteste von allen, rannte auf uns zu, purzelte auf unseren Schoß u n d kletterte an unseren Pullovern bis zum Gesicht hinauf, um uns abzuschlabbern. Er nagte mit erstaunlich scharfen Babyzähnen an unseren Fingern und tapste in schiefen Kreisen auf riesigen, lohfarbenen Pfoten um uns herum, die für den Rest seines Körpers viel zu groß waren. » D e n da können Sie für 350 Dollar haben«, sagte Lori. 19
J e n n y ist eine fanatische Schnäppchenjägerin und bringt andauernd irgendwelche Sachen nach Hause, die wir weder brauchen noch haben wollen, nur weil sie zu günstig waren, um daran vorbeizugehen. »Ich weiß, dass du nicht Golf spielst«, sagte sie eines Tages, als sie ein Set gebrauchter Golfschläger aus dem Auto zog. »Aber du glaubst gar nicht, wie günstig ich die bekommen habe!« Jetzt sah ich, wie ihre Augen zu leuchten anfingen. » O h , Liebling«, säuselte sie, »der kleine Kerl ist ein Sonderangebot!« Ich muss zugeben, dass er verdammt niedlich war. U n d verspielt. N o c h ehe ich wusste, was er vorhatte, hatte er bereits die Hälfte meines Uhrarmbandes verspeist. » W i r müssen eine M u t p r o b e machen«, sagte ich. Ich hatte J e n n y die Geschichte schon oft erzählt, wie wir Saint Shaun ausgesucht hatten, als ich noch ein Junge war und mein Vater mir geraten hatte, eine plötzliche Bewegung oder L ä r m zu machen, um die scheuen Welpen von den mutigen zu unterscheiden. W i e wir also da inmitten des Welpenhaufens saßen, warf sie mir einen entnervten Blick zu, den sie immer für alte Grogan-Familiengeschichten parat hat. » I m Ernst!«, sagte ich. »Es funktioniert!« Ich stand auf, wandte mich von den Welpen ab und drehte mich dann abrupt wieder um, wobei ich einen plötzlichen, übertriebenen Schritt auf sie zu machte. Ich stampfte mit dem Fuß auf und rief: »Hey!« Keiner der Welpen schien besonders beeindruckt von den Anstrengungen dieses seltsamen Fremden. D o c h n u r einer warf sich nach vorne, um diesem vermeintlichen Angriff mutig die Stirn zu bieten. Es war das Sonderangebot. Er jagte auf mich zu, warf sich gegen meine Knöchel und stürzte sich auf meine Schnürsenkel, als wären sie gefährliche Feinde, die in die Flucht geschlagen werden müssten. »Ich glaube, das ist Schicksal«, sagte Jenny. 20
»Meinst du?« Ich hob ihn mit einer H a n d hoch u n d sah ihm ins Gesicht. Er blickte mich mit herzerweichenden braunen Augen an und knabberte dann an meiner Nase. Ich ließ ihn in Jennys Arm plumpsen, wo er das Gleiche mit ihr tat. »Sieht aus, als würde er uns mögen«, sagte ich. Und so nahm das Schicksal seinen Lauf. W i r stellten Lori einen Scheck über 350 Dollar aus, und sie meinte, wir könnten in drei Wochen wiederkommen und unser Sonderangebot mitnehmen. Er wäre dann acht W o c h e n alt und entwöhnt. W i r dankten ihr, streichelten Lily noch einmal u n d verabschiedeten uns. Als wir zum Auto gingen, legte ich Jenny den A r m um die Schultern und zog sie an mich. »Unglaublich, oder?«, sagte ich zu ihr. » W i r haben tatsächlich unseren H u n d ! « »Ich kann es kaum erwarten, ihn nach Hause zu holen«, meinte Jenny. Gerade, als wir das Auto erreichten, hörten wir ein G e räusch. Es kam vom Wald her. Irgendetwas brach durchs Gehölz - und schnaufte dabei sehr laut. Es klang wie aus einem Horrorstreifen. U n d es kam näher. W i r erstarrten und versuchten, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das Geräusch wurde lauter. D a n n plötzlich brach das D i n g wie ein Blitz auf die Lichtung hinaus und stürzte auf uns zu. Ein hellbraunes Etwas. Ein sehr großes hellbraunes Etwas. Es galoppierte ohne anzuhalten an uns vorbei, ja, sogar scheinbar ohne uns zu bemerken, und wir sahen, dass es ein großer Labrador war. Aber er hatte nichts mit der süßen Lily gemein, mit der wir gerade im H a u s geschmust hatten. D i e ses Tier war tropfhass und bis zum Bauch voller Schlamm und Zweige. Die Z u n g e hing ihm wild an einer Seite aus dem Maul, und Schaum flog von seinen Lefzen, als er an uns vorbeiraste. Einen Augenblick lang sah ich den seltsamen, leicht verrückten und doch irgendwie fröhlichen Ausdruck 21
in seinen Augen. Es war, als ob dieses T i e r gerade einen Geist gesehen hätte - und sich vor Begeisterung gar nicht fassen könnte. D a n n verschwand es mit dem Getöse einer durchgehenden Büffelherde hinter dem H a u s . Jenny stieß einen kleinen Schrei aus. »Ich glaube, wir haben gerade den Papa kennen gelernt«, sagte ich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch.
ZWEI
Adel verpflichtet
U
nsere erste Amtshandlung als frischgebackene H u n d e besitzer war ein Streit. Er begann auf der Heimfahrt von der Hundezüchterin und flackerte die ganze folgende Woche immer wieder auf. W i r konnten uns nicht einigen, wie wir unser Sonderangebot taufen sollten. J e n n y lehnte meine Vorschläge kategorisch ab, und ich die ihren. Eines Morgens, bevor wir zur Arbeit gingen, eskalierte der Streit. »Chelsea?«, sagte ich. »Das ist ein grauenhafter M ä d chenname. Jeder Rüde würde eher sterben als Chelsea zu heißen!« »Als ob er das mitbekommen würde«, konterte Jenny. » H u n t e r « , schlug ich vor. » H u n t e r ist perfekt.« »Hunter? Du machst Witze, oder? Was ist los mit dir, bist du auf einem Macho-Trip? Viel zu maskulin. Im Übrigen warst du noch nie in deinem Leben auf der Jagd.« »Er ist ein M ä n n c h e n « , entgegnete ich schäumend vor Wut. » U n d er soll maskulin sein. Mach daraus jetzt keine von deinen feministischen Grundsatzfragen!« Das Ganze drohte zu kippen. U n d ich hatte gerade den Fehdehandschuh geworfen. Als J e n n y zum Gegenschlag ausholte, versuchte ich schnell, meinen Favoriten noch einmal ins Spiel zu bringen. »Was ist falsch an Louie?« »Nichts, wenn du auf einer Tankstelle arbeitest«, schleuderte Jenny mir entgegen. 23
»Hey, jetzt mach mal halblang, das war der N a m e meines Großvaters! W i r sollten ihn wohl nach deinem Großvater nennen, oder? G u t e r H u n d , Bill!« W ä h r e n d wir uns so stritten, wanderte Jenny gedankenlos zur Stereoanlage und drückte die Play-Taste. Das war eine ihrer fiesen Kriegsstrategien. W e n n du zu verlieren drohst, dann lass deinen Gegner einfach auf dem Trockenen sitzen. Aus den Lautsprechern tönte Bob Marley, und das hatte sofort eine beruhigende W i r k u n g auf uns beide. W i r hatten den jamaikanischen Sänger erst entdeckt, als wir von Michigan nach Südflorida gezogen waren. In der Weißbrotidylle des O b e r e n Mittelwestens hatten wir eine strenge Bob-Seger-und-John-Cougar-Mellencamp-Diät genossen. Aber hier in Südflorida, diesem pulsierenden Schmelztiegel, war Bob Marleys Musik auch noch ein Jahrzehnt nach seinem Tod überall zu hören. W i r hörten sie im Autoradio, wenn wir den Biscayne Boulevard hinunterfuhren. W i r hörten sie, wenn wir in Little Havanna Kaffee tranken und in den düsteren Etablissements der Einwandererviertel westlich von F o r t Lauderdale gegrilltes H ü h n c h e n aßen. W i r hatten sie gehört, als wir zum ersten Mal Muscheln auf dem Bahamian G o o m b a y Festival in Miami gegessen und als wir in Key West Kunst aus Haiti gekauft hatten. Je m e h r wir entdeckten, desto mehr verliebten wir uns, in Südflorida und ineinander. U n d im Hintergrund war immer Bob Marley zu hören. Er sang, wenn wir uns am Strand sonnten, als wir die scheußlichen grünen W ä n d e in unserem Haus strichen, als wir im Morgengrauen von den Schreien wilder Papageien aufwachten und uns im ersten Sonnenlicht, das durch den brasilianischen Pfefferbaum vor unserem Fenster fiel, liebten. W i r verliebten uns in seine Musik, um ihrer selbst willen u n d weil sie für den M o m e n t in unserem Leben 24
stand, in dem wir zusammengefunden hatten. Bob Marley war der Soundtrack unseres neuen, gemeinsamen Lebens an diesem seltsamen, exotischen, zügellosen Ort, der sich so sehr von allen anderen Orten unterschied, wo wir bisher gewohnt hatten. U n d jetzt schallte unser Lieblingslied aus den Lautsprechern. Es war unser Lieblingslied, weil es so furchtbar schön war und weil es so deutlich zu uns sprach. Marleys Stimme füllte den Raum aus und wiederholte immer wieder: »Is this love that I'm feeling?« U n d im selben M o m e n t , genau gleichzeitig, so als hätten wir das wochenlang geübt, schrien wir beide: »Marley!« »Das ist es!«, rief ich. »Das ist unser N a m e ! « J e n n y lächelte, ein gutes Zeichen. Ich probierte es sofort aus. »Marley, hierher!«, befahl ich. »Marley, bleib! G u t e r H u n d , M a r ley!« »Hey, ich glaube, das funktioniert«, sagte ich dann. Jenny stimmte mir zu. Unser Streit war beigelegt. W i r hatten einen N a m e n für unseren Welpen. Am nächsten Abend kam ich nach dem Abendessen ins Schlafzimmer, wo Jenny gerade ein Buch las, und sagte: »Ich finde, wir müssen seinen N a m e n ein wenig aufpeppen.« »Wovon redest du eigentlich?«, fragte sie. » E r hat uns doch beiden gefallen.« Ich hatte die Anmeldeformulare vom American Kennel Club gelesen. Als reinrassiger Labrador mit ordentlich eingetragenen Eltern konnte Marley ebenfalls in die AKC-Liste eingetragen werden. Das war zwar nur dann notwendig, wenn man mit seinem H u n d auf Hundeschauen gehen oder züchten wollte, in diesem Fall gab es kein wichtigeres D o k u ment. Für ein Haustier hingegen war es überflüssig. Aber ich hatte große Pläne mit unserem Marley. Dies 25
war das erste Mal, dass ich mit so etwas wie adeliger Abstamm u n g in Berührung kam. Das gilt auch für meine eigene Familie. W i e Saint Shaun, der H u n d meiner Kindheit, war auch ich ein Individuum ungewisser und uninteressanter Abstammung. In meinem Stammbaum rinden sich mehr Nationen als in der Europäischen U n i o n . D u r c h diesen H u n d hatte ich es auf einmal mit Adel zu tun, und ich würde diese Gelegenheit nicht ungenützt verstreichen lassen. Ich gebe zu, ich war ein wenig größenwahnsinnig. » N e h m e n wir einmal an, wir wollen ihn bei Wettbewerben starten lassen«, erklärte ich. »Hast du schon mal von einem C h a m p i o n h u n d mit nur einem N a m e n gehört? Sie haben immer lange Titel, so was wie Sir Dartworth of Chesterham.« » U n d sein Herrchen, Graf Größenwahn von West Palm Beach«, erwiderte Jenny trocken. »Ich meine es ernst!«, entgegnete ich. » W i r könnten ihn Züchtern als Beschäler zur Verfügung stellen. Hast du eine Ahnung, wie viel die Leute für gute Zuchtrüden zahlen? Aber dann braucht er einen tollen N a m e n . « »Lass dich nicht aufhalten, Liebling«, sagte Jenny und wandte sich wieder ihrem Buch zu. N a c h d e m ich eine N a c h t lang darüber gegrübelt hatte, fing ich sie am nächsten M o r g e n neben dem Waschbecken im Badezimmer ab und sagte: »Mir ist der perfekte N a m e eingefallen.« Sie sah mich skeptisch an. »Schieß los!« »Okay, bist du bereit? H i e r k o m m t er.« U n d dann ließ ich mir jeden einzelnen N a m e n auf der Zunge zergehen: » G r o gan's ... Majestic ... Marley ... of... Churchill.« M a n n , dachte ich, das klingt wirklich königlich. » M a n n « , sagte Jenny, »das klingt echt blöd.« Es war mir egal. Ich war derjenige, der sich um den Pa26
pierkram kümmerte, und ich hatte den N a m e n bereits eingetragen. M i t Tinte. J e n n y konnte feixen, so lange sie wollte; wenn Grogan's Majestic Marley of Churchill in ein paar Jahren reihenweise Ehrentitel auf der Westminster-KennelClub-Hundeshow abräumen und ich ihn ruhmvoll vor einem ehrfürchtigen internationalen Fernsehpublikum durch den Ring traben lassen würde, dann würden wir ja sehen, wer zuletzt lachte. »Komm, mein edler Graf G r o g a n « , sagte Jenny. »Lass uns frühstücken.«
DREI
Heimwärts
W
ährend wir die Tage zählten, bis wir Marley nach Hause holen konnten, begann ich mit reichlich Verspätung, Fachliteratur über Labradors zu wälzen. Ich sage mit reichlich Verspätung, weil einem in jedem Buch, das ich las, derselbe eindringliche Rat gegeben wurde: Bevor man sich einen H u n d kauft, sollte man sich eingehend über die Rasse informieren, damit man auch weiß, worauf man sich einlässt. D u m m gelaufen. Jemand, der in einer kleinen W o h n u n g wohnt, sollte sich zum Beispiel keinen Bernhardiner anschaffen. Eine Familie mit kleinen Kindern sollte vielleicht die manchmal unberechenbaren C h o w - C h o w s meiden. Ein Faulpelz, der einen Schoßhund für gemeinsame faule Stunden vor dem Fernseher sucht, wird mit einem Bordercollie wahrscheinlich wahnsinnig, denn der braucht Arbeit und Bewegung, um glücklich zu sein.
Betreten musste ich zugeben, dass Jenny und ich uns so gut wie gar nicht informiert hatten, bevor wir uns für einen Labrador entschieden hatten. Ein einziges Kriterium war für unsere Entscheidung für diese Rasse ausschlaggebend gewesen: die Ausstrahlung. Oft hatten wir Labradors mit ihren Besitzern auf dem Radweg am Ufer bewundert - große, tapsige, verspielte Burschen, die eine Lebensfreude versprühten, wie m a n sie auf dieser Welt nicht oft zu sehen bekommt. N o c h 28
peinlicher war die Tatsache, dass unsere Entscheidung nicht von der Bibel aller Hunderassen, The Complète Dog Book, veröffentlicht vom American Kennel Club, u n d auch nicht von irgendeinem anderen empfehlenswerten W e r k beeinflusst worden war. Unsere Inspirationsquelle war ein ganz anderer Hundeklassiker gewesen: The Far Side von Gary Larson. W i r waren große Fans dieses Comics. Darin taten und sagten kluge, weltgewandte Labradors die unglaublichsten Dinge. Ja, sie konnten reden! Großartig, oder? Labradors waren ungeheuer unterhaltsame T i e r e - zumindest bei G a r y Larson. U n d wer konnte nicht ein bisschen m e h r Spaß im Leben gebrauchen? W i r konnten nicht widerstehen. Als ich jetzt ernsthaftere Literatur zum T h e m a Labradors durcharbeitete, war ich erleichtert, zu erfahren, dass unsere Wahl, wie willkürlich sie auch gewesen war, nicht vollkommen abwegig zu sein schien. Die Bücher waren voll des L o bes über das liebenswerte, ausgeglichene Wesen des Labradors, seine Kinderliebe, seinen Sanftmut und seinen Eifer. Wegen ihrer Intelligenz und Ausdauer wurden diese H u n d e oft im Rettungsdienst und als Blindenhunde eingesetzt. All das klang viel versprechend für einen H u n d , der in einen Haushalt kommen sollte, in dem es früher oder später wahrscheinlich auch Kinder geben würde. Ein Buch schwärmte: » D e r Labrador ist bekannt für seine Klugheit, seine Menschenliebe, Geschicklichkeit und endlose Ausdauer bei jedweder Aufgabe.« Ein anderes Buch pries die große Treue dieser Rasse. All diese Qualitäten hatten den Labrador von einem reinen Jagdhund, der wegen seines Geschicks beim Aufstöbern von abgeschossenen Fasanen und Enten in eiskalten Gewässern vor allem bei der Vogeljagd eingesetzt wurde, zum beliebtesten Haustier Amerikas gemacht. Erst vor einem J a h r hatte der Labrador den Cockerspaniel vom Spitzenplatz der vom American Kennel 29
Club aufgestellten Liste der beliebtesten Hunderassen verdrängt. Keine andere Rasse ist seitdem an den Labrador herangekommen. 2004 stand er mit 146692 registrierten H u n d e n zum fünfzehnten Mal hintereinander auf Platz eins dieser Liste. Weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz lag der Golden Retriever mit 52 550 Exemplaren, und den dritten Platz hielt der Deutsche Schäferhund mit 46046 Exemplaren. G a n z zufällig waren wir also auf eine Rasse gestoßen, von der Amerika gar nicht genug bekommen konnte. U n d all diese glücklichen Hundebesitzer konnten sich doch u n m ö g lich irren, oder? W i r hatten uns für einen sicheren Gewinner entschieden. U n d doch waren die Bücher voll von ominösen Warnhinweisen. Labradors waren als Arbeitshunde gezüchtet worden und hatten meistens unerschöpfliche Energie. Sie waren sehr gesellig u n d sollten nicht zu lange allein gelassen werden. Sie konnten stur und schwer erziehbar sein. Sie brauchten täglich reichlich Auslauf, sonst konnten sie zerstörerische Züge entwickeln. M a n c h e Exemplare waren sehr leicht erregbar und auch für erfahrene Hundebesitzer schwer unter Kontrolle zu halten. Sie genossen eine scheinbar unendliche Welpenphase, die bis zu drei Jahre oder sogar noch länger dauern konnte. Diese lange, überschäumende Jugendzeit erforderte vom Besitzer zusätzliche Geduld. Sie waren kräftig, und man hatte sie über die Jahrhunderte hinweg auf Schmerzunempfindlichkeit gezüchtet, eine Qualität, die ihnen zugutekommt, wenn sie den Fischern im Nordatlantik helfen und in das eisige Wasser tauchen. In ein e m normalen Haushalt jedoch konnte genau diese Eigenschaft aus einem Labrador einen Elefanten im Porzellanladen machen. Diese großen, starken, breitschultrigen Tiere waren sich ihrer eigenen Stärke nicht immer bewusst. Später 30
erzählte mir eine Labradorbesitzerin einmal, sie hätte ihren Rüden an das Gartentor neben der Garage gebunden, damit er dabei sein konnte, wenn sie das Auto in der Einfahrt wusch. Das T i e r entdeckte ein Eichhörnchen u n d machte einen Satz nach vorne, wobei es den großen Eisenrahmen glatt aus der Wand riss. U n d dann las ich einen Satz, der mir Angst machte. » D i e Eltern sind mit die besten Indikatoren für das Temperament, das ihr Welpe einmal entwickeln wird. Ein erstaunlich großer Teil des Benehmens ist erblich bedingt.« Ich hatte wieder dieses schäumende, vor Dreck strotzende U n g e t ü m vor Augen, das an jenem Abend aus dem Wald gerast gekommen war, als wir unseren Welpen aussuchten. Großer Gott, dachte ich. Das Buch empfahl wärmstens, unbedingt darauf zu bestehen, beide Eltern zu besichtigen. Ich erinnerte mich wieder an das kaum merkliche Z ö g e r n der Züchterin, als ich nach dem Vater der Welpen fragte. Oh ... er ist irgendwo draußen unterwegs. U n d wie sie dann schnell das T h e m a gewechselt hatte. Das alles ergab auf einmal einen Sinn. Ein belesener Käufer hätte darauf bestanden, den Vater zu sehen. Und was hätte er zu sehen bekommen? Einen wahnsinnigen Derwisch, der blindlings durch die N a c h t raste, als ob D ä monen ihm am Schwanz hingen. Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Marley das G e m ü t seiner M u t t e r geerbt hatte. Abgesehen von individuellem Erbgut haben alle reinrassigen Labradors gewisse vorhersagbare Charaktereigenschaften gemeinsam. D e r American Kennel Club setzt die Standards, welche Qualitäten ein Labrador besitzen sollte. Vom Körperbau her sind sie stämmig und muskulös, mit kurzem, dichtem, wetterfestem Fell. Das Fell kann schwarz oder schokoladenbraun sein oder eine Vielzahl von Goldtönen aufweisen, von hellbeige bis zu einem dunklen Fuchsrot. Eines 31
der Hauptmerkmale des Labradors ist sein dicker, kräftiger Schwanz, der dem eines Otters ähnelt und einen Kaffeetisch mit einem einzigen schnellen Wedeln abräumen kann. Der Kopf ist groß und breit, mit kräftigen Kiefern und hoch angesetzten Schlappohren. Die meisten Labradors haben ein Stockmaß von sechzig Zentimetern vom Boden bis zu den Schultern, und ein durchschnittlich gebautes Männchen wiegt ungefähr dreißig bis fünfunddreißig Kilo, obwohl manche Exemplare wesentlich schwerer sein können. Aber Aussehen allein ist laut dem AKC bei einem Labrador nicht alles. In den Standards des Clubs heißt es: »Das wahre Labrador-Temperament ist genauso ein Merkmal dieser Rasse wie der so genannte Otterschwanz. Idealerweise ist der Labrador freundlich, von offenem, lenkbarem Wesen, er will gefallen und ist weder gegen Menschen noch gegen andere T i e r e aggressiv. D e r Labrador ist sehr liebenswert. Seine sanfte Art, seine Klugheit und seine Anpassungsfähigkeit machen ihn zu einem idealen H u n d . « Ein idealer H u n d ! Ein größeres L o b konnte man wohl kaum aussprechen. Je m e h r ich las, umso wohler fühlte ich mich mit unserer Entscheidung. N i c h t einmal die Warnungen konnten mich besonders schrecken. Jenny und ich würden uns mit Begeisterung auf unseren neuen H u n d einlassen und ihn mit Aufmerksamkeit und Liebe überschütten. W i r waren beide fest entschlossen, ihn zu Gehorsam und Anstand zu erziehen, egal, wie viel Zeit das in Anspruch n e h m e n würde. W i r gingen beide sehr gerne spazieren und waren beinahe jeden Abend nach der Arbeit, und auch oft morgens, unten am Wasser. Es war nur nahe liegend, unseren neuen H u n d auf unsere ausgedehnten Spaziergänge mitzunehmen. W i r würden den kleinen Racker schon müde kriegen. Jennys Büro war nicht weit von unserem Bungalow entfernt, und sie kam jeden Mittag zum Essen nach Hause. 32
Dann könnte sie ihm im Garten hinter dem H a u s Bälle werfen, damit er noch mehr von seiner ungezügelten Energie verbrennen konnte, vor der uns alle warnten. Eine Woche bevor wir unseren H u n d nach Hause holen sollten, rief Jennys Schwester Susan aus Boston an. Sie, ihr Mann und die zwei Kinder planten in der folgenden W o c h e , nach Disneyland zu fahren. Ob J e n n y nicht auch m i t k o m men und ein paar Tage mit ihnen verbringen wollte? Als vernarrte Tante, die jede Gelegenheit wahrnahm, ihre N i c h t e und ihren Neffen zu sehen, wollte J e n n y unbedingt fahren. Doch sie war hin- und hergerissen. » D a n n bin ich nicht hier, wenn der kleine Marley nach Hause k o m m t « , sagte sie. » D u fahrst«, entschied ich. »Ich hole den H u n d ab und gewöhne ihn hier ein. W i r erwarten dich dann hier, wenn du zurückkommst.« Ich versuchte gleichgültig zu klingen, aber in W a h r h e i t war ich überglücklich bei dem Gedanken, den kleinen W e l pen ein paar Tage ganz für mich alleine zu haben, um eine starke Beziehung unter M ä n n e r n aufzubauen. Natürlich war er unser gemeinsames Projekt, er gehörte uns beiden. Aber ich war der Meinung, dass ein H u n d unmöglich zwei H e r ren dienen konnte, und wenn es nur ein Alphatier in unserem Haushalt geben konnte, dann wollte ich das sein. Diese drei Tage würden mir einen Riesenvorsprung geben. Eine Woche später brach J e n n y nach Orlando auf - eine Fahrt von dreieinhalb Stunden. An diesem Abend, einem Freitag, fuhr ich nach der Arbeit zum H o f der Züchterin, um unser neues Familienmitglied abzuholen. Als Lori mir unseren H u n d herausbrachte, schnappte ich unwillkürlich nach Luft. D e r kleine, wuschelige Welpe, den wir vor drei Wochen ausgesucht hatten, hatte seine G r ö ß e m e h r als verdoppelt. Er kam auf mich zugestürzt und rannte mit dem 33
Kopf voran gegen meine Knöchel, ließ sich dann zu einem Fellhaufen zusammenfallen und rollte auf den Rücken, die Pfoten in die H ö h e , eine Geste, von der ich nur hoffen konnte, dass sie Unterwerfung bedeutete. Lori muss meinen Schock gespürt haben. » E r ist ganz schön gewachsen, nicht wahr?«, sagte sie fröhlich. »Sie sollten mal sehen, wie er das Welpenfutter wegputzt!« Ich beugte mich hinunter, kraulte ihm den Bauch und sagte: » K o m m s t du mit nach Hause, Marley?« Es war das erste Mal, dass ich seinen N a m e n benutzte, und es fühlte sich richtig an. Im Auto baute ich ihm auf dem Beifahrersitz ein gemüdiches N e s t aus Badehandtüchern und setzte ihn hinein. Aber ich war kaum aus der Einfahrt gebogen, als er anfing, sich aus den H a n d t ü c h e r n herauszugraben. Er robbte auf dem Bauch über den Sitz auf mich zu und winselte dabei. Auf der Mittelkonsole traf Marley auf das erste der unendlich vielen Hindernisse, denen er im Laufe seines Lebens begegnen würde: Er saß fest, die Hinterbeine hingen auf der Beifahrerseite herunter und die Vorderpfoten auf der Fahrerseite. Dazwischen lag er bäuchlings auf der Handbremse. Seine kleinen Beine strampelten in alle Richtungen durch die Luft. Er schaukelte u n d wackelte und zappelte, doch er saß fest wie ein gestrandeter Tanker. Ich griff hinüber und streichelte ihm über den Rücken, was ihn nur noch mehr zum Zappeln animierte. M i t den Hinterpfoten versuchte er verzweifelt, H a l t auf dem mit Teppich überzogenen Buckel zwischen den Sitzen zu finden. Langsam arbeitete er sich mit den H i n terpfoten hinauf, sein Hinterteil stieg höher und höher, der Schwanz wedelte wild hin und her, bis schließlich das Gesetz der Schwerkraft eingriff. Er purzelte mit dem Kopf voran auf der anderen Seite der Konsole hinunter, landete auf dem Boden zu meinen Füßen und drehte sich auf das Hinterteil. 34
Von dort aus war es nur noch ein kurzer, einfacher Krabbelweg auf meinen Schoß. Himmel, war er glücklich - nahezu verzweifelt glücklich. Er japste vor Freude, während er den Kopf in meinen M a gen bohrte und an den Knöpfen meines H e m d s herumkaute. Sein Schwanz schlug auf das Lenkrad wie die Nadel eines Metronoms. Ich fand schnell heraus, dass ich die Frequenz seines Schwanzwedeins erhöhen konnte, indem ich ihn berührte. W e n n ich beide H ä n d e am Lenkrad hatte, schlug der Schwanz regelmäßig dreimal pro Sekunde auf. Flap, Aap, Aap. Legte ich auch nur einen Finger auf seinen Kopf, wurde aus diesem Walzer ein Bossa nova. Flap, flap, flap, flap, flap, flap! Zwei Finger, und es wurde ein M a m b o : Flap, flapflap, flap, flapflap! U n d wenn ich ihm meine ganze H a n d auf den Kopf legte und ihn zwischen den O h r e n kraulte, explodierte das Schlagen in ein maschinengewehrartiges flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap, flap! »Wow, du hast es aber im Blut!«, sagte ich zu ihm. » D u bist wirklich ein Reggae-Hund.« Als wir zu Hause ankamen, führte ich ihn hinein und löste seine Leine. Er fing sofort an herumzuschnüffeln u n d hörte erst auf, als er jeden Winkel erkundet hatte. D a n n setzte er sich auf die Hinterbeine und sah mich mit schief gelegtem Kopf an, als wollte er sagen: Nicht schlecht hier, aber wo sind meine Geschwister? Die Realität seines neuen Lebens ging ihm erst auf, als es Zeit zum Schlafengehen war. Bevor ich ihn abgeholt hatte, hatte ich ihm einen Schlafplatz in der kleinen Garage h e r g e richtet, die an das H a u s grenzte. W i r parkten nie darin, sondern nutzten sie als Abstellkammer und Waschraum. Waschmaschine und Trockner standen hier, und unser Bügelbrett. 35
D e r Raum war trocken und gemütlich und hatte eine Hintertür, die in den umzäunten Garten hinausführte. M i t seinem Betonboden und -wänden war er so gut wie unzerstörbar. »Marley«, sagte ich fröhlich, als ich ihn hineinführte, »das ist dein Zimmer.« Ich hatte Kauspielzeug verstreut und den Boden in der Mitte des Raumes mit alten Zeitungen ausgelegt. Außerdem standen eine Schüssel mit Wasser und ein Körbchen aus ein e m Karton mit einem alten Bettlaken darin bereit. » U n d hier wirst du schlafen«, sagte ich und setzte ihn in das Körbchen. Er war eine solche U m g e b u n g gewohnt, hatte sein Lager aber immer mit seinen Geschwistern geteilt. Jetzt schritt er sein Körbchen ab und sah mich verloren an. Ich startete den ersten Versuch, trat ins H a u s zurück und schloss die Tür. D a n n blieb ich stehen und lauschte. Zuerst nichts. D a n n ein leises, kaum hörbares Winseln. U n d dann ein herzzerreißendes Heulen. Es klang, als würde m a n ihn foltern. Ich öffnete die Tür, und sobald er mich sah, war er ruhig. Ich ging hinein und kraulte ihn eine Weile, dann ließ ich ihn wieder allein. Auf der anderen Seite der T ü r begann ich zu zählen. Eins, zwei, drei ... er schaffte es sieben Sekunden, dann fing das Gejaule wieder an. W i r wiederholten diesen Vorgang ein paar Mal, immer mit demselben Ergebnis. Ich war müde und beschloss, dass er sich in den Schlaf jaulen musste. Also ließ ich ihm das Garagenlicht an, schloss die Tür, ging in den hinteren Teil des Hauses und kroch ins Bett. Die Betonmauern filterten sein bemitleidenswertes H e u l e n nur geringfügig. Ich lag da und versuchte ihn zu ignorieren und dachte die ganze Zeit, dass er gleich aufgeben und einschlafen würde. Das Geheul ging weiter. Auch als ich mir das Kopfkissen über den Kopf zog, konnte ich ihn noch hören. Ich dachte daran, dass er zum ersten Mal in seinem 36
Leben allein war, in fremder U m g e b u n g , ohne den H a u c h eines hundeähnlichen Duftes um ihn herum. Er vermisste seine Mutter und seine Geschwister. D e r arme kleine Kerl. W i e würde mir das gefallen? Ich hielt es noch eine weitere halbe Stunde lang aus, dann stand ich auf und ging zu ihm. Sobald er mich sah, hellte sich sein Gesicht auf und er schlug mit dem Schwanz gegen das Körbchen. Es war, als wollte er sagen: Komm schon, spring auch rein, hier ist genug Platz! Stattdessen h o b ich ihn mitsamt dem Körbchen hoch und trug ihn ins Schlafzimmer, wo ich es direkt neben unser Bett auf den Boden stellte. Ich legte mich auf den äußersten Rand der Matratze und ließ einen Arm in das Körbchen hängen. U n d so, mit meiner H a n d auf seiner Flanke, sodass ich spürte, wie sich sein Brustkorb hob und senkte, schliefen wir schließlich beide ein.
VIER
Mr Wiggles
D
ie folgenden drei Tage widmete ich mich mit größter Begeisterung unserem Welpen. Ich legte mich zu ihm auf den Boden und ließ ihn auf mir herumklettern. Ich raufte mit ihm. W i r spielten Tauziehen mit einem alten H a n d tuch - u n d ich war verwundert, wie stark er schon war. Er folgte mir überall hin - und versuchte alles anzuknabbern, was in Reichweite seiner Zähne kam. Er brauchte genau einen Tag, um das Beste an seinem neuen Zuhause herauszufinden: Toilettenpapier. Er verschwand in der Toilette und kam fünf Sekunden später wieder herausgeschossen, das E n d e der Rolle zwischen den Zähnen, sodass sich das Papier hinter ihm aufrollte, während er durchs H a u s tobte. Es sah aus, als hätten wir für Halloween dekoriert.
Jede halbe Stunde ließ ich ihn in den Garten hinaus. W e n n ihm mal ein Unglück im H a u s passierte, schimpfte ich ihn aus. W e n n er draußen pinkelte, legte ich meine Wange an seine u n d lobte ihn überschwänglich. U n d wenn er einen Haufen in den Garten gesetzt hatte, führte ich mich auf, als hätte er für mich sechs Richtige im L o t t o gewonnen. Als J e n n y nach Hause kam, warf sie sich ebenfalls mit Begeisterung auf ihn. Es war erstaunlich. Im Laufe der Tage entdeckte ich an meiner Frau eine sanfte, fürsorgliche Seite, die ich bisher nicht gekannt hatte. Sie trug ihn auf dem Arm, streichelte ihn, sie spielte mit ihm, sie war immer um ihn 38
herum. Sie kämmte auf der Suche nach Flöhen und Zecken jedes Haar seines Fells einzeln durch. U n d jede N a c h t stand sie alle paar Stunden auf, um ihn hinauszulassen. Es war ihr Verdienst, dass er schon nach wenigen Wochen stubenrein wurde. Hauptsächlich futterte sie ihn. W i r folgten genau den Anweisungen auf der Futtertüte und gaben Marley drei große Schüsseln Welpenfutter pro Tag. Er schlang alles bis zum letzten Krümel in wenigen Sekunden hinunter. Was wir hineinfüllten, musste natürlich auch wieder heraus, und so glich unser Garten bald einem Minenfeld. W i r mussten bei jedem Schritt auf der H u t sein. Marleys Appetit war groß, aber seine Haufen waren riesig, und sie sahen nicht viel anders aus als das, was er gefressen hatte. Verdaute er das Z e u g überhaupt? Offensichtlich schon. Marley wuchs beängstigend schnell. W i e eine dieser faszinierenden Dschungelpflanzen, die ein Haus in wenigen Stunden überwuchern können, breitete er sich exponentiell in alle Richtungen aus. Jeden Tag war er ein bisschen länger, dicker, größer und schwerer. Als ich ihn abgeholt hatte, hatte er neuneinhalb Kilo gewogen, nach wenigen Wochen brachte er schon zweiundzwanzig auf die Waage. Sein süßer kleiner Welpenkopf, der auf unserer Heimfahrt damals so gut in meine H a n d gepasst hatte, hatte rasend schnell die G r ö ß e und F o r m eines Amboss angenommen. Seine Pfoten waren enorm, seine Flanken bereits gut bemuskelt und seine Brust beinahe so breit wie ein Bulldozer. U n d wie die Bücher es vorausgesagt hatten, wurde sein dünner Welpenschwanz bald so dick und kräftig wie der eines Otters. Was war das für eine Rute. Jeder Gegenstand in unserem Haus, der sich auf Kniehöhe oder darunter befand, wurde von Marleys wild wedelnder Waffe niedergemäht. Er räumte Kaffeetische ab, verteilte Zeitungen über den Boden, 39
stieß gerahmte Fotos von Regalen, schleuderte Bierflaschen und Weingläser durch die Gegend. Er schaffte sogar eine Scheibe in der Fenstertür. Allmählich wanderten alle Gegenstände, die er nicht hinunterwarf, auf eine höhere Ebene, wo sie vor ihm sicher waren. W e n n uns Freunde mit kleinen Kindern besuchten, wunderten sie sich: »Euer Haus ist ja schon babysicher!« Marley wedelte eigentlich nicht mit dem Schwanz. Er wedelte mit seinem ganzen Körper. Die Bewegung fing vorne an den Schultern an und pflanzte sich dann nach hinten fort. Er schien keine Knochen zu haben, sein Körper war ein einziger elastischer Muskel. J e n n y fing an, ihn Mr W g g l e s zu nennen. Am allermeisten wedelte er, wenn er etwas im Maul hatte. Es war immer dasselbe Spiel: Er packte den nächstliegenden Gegenstand, einen Schuh, ein Kissen oder einen Stift - ganz egal - und rannte damit davon. Eine kleine Stimme in sein e m Kopf schien ihm zuzuflüstern: »Los! Schnapp es dir! Sabber es voll! Lauf!« M a n c h e Gegenstände waren klein genug, um sie ganz ins Maul zu nehmen, und das machte ihm besonders großen Spaß - er schien dann zu denken, er hätte uns übers O h r gehauen. Aber Marley war ein miserabler Pokerspieler. W e n n er etwas ausgefressen hatte, konnte er seine Freude nicht verbergen. Lebhaft war er immer, in solchen M o m e n t e n jedoch explodierte er förmlich in einem wahnsinnigen Anfall von Bewegungsdrang, als hätte ihn etwas gebissen. Sein Körper bebte, sein Kopf wackelte hin und her, und sein ganzes H i n terteil wiegte sich in einer Art spastischem Tanz. W i r nannten das den Marley-Mambo. »Okay, was ist es diesmal?«, fragte ich ihn dann immer, und wenn ich dann auf ihn zukam, wich er aus, wedelte mit tänzelnden Hüften durchs Z i m m e r und warf den Kopf wie 40
ein wieherndes Fohlen. Er war so überglücklich über seine verbotene Beute, dass er sich kaum halten konnte. W e n n ich ihn endlich in eine Ecke getrieben hatte u n d ihm das Maul öffinete, verließ ich das Feld nie mit leeren H ä n d e n . Irgendetwas hatte er immer aus dem Müll gezogen oder auf dem Boden gefunden oder, als er größer wurde, direkt v o m Esstisch geklaut. Papiertaschentücher, Kassenzettel, W e i n korken, Lesezeichen, Schachfiguren, Schraubverschlüsse unser H u n d war wie ein Wertstoffhof. Eines Tages drückte ich seine Kiefer auseinander, spähte hinein und fand meinen Gehaltszettel an seinem G a u m e n kleben. Schon nach wenigen W o c h e n konnten wir uns nicht m e h r daran erinnern, wie das Leben ohne unseren neuen M i t bewohner ausgesehen hatte. W i r hatten schnell zu einer Routine gefunden. Jeden M o r g e n nahm ich ihn noch vor der ersten Tasse Kaffee auf einen kleinen Spaziergang mit hinunter zum Wasser. Zwischen Frühstück u n d Duschen durchstreifte ich unseren Garten mit einer Schaufel u n d vergrub seine Tretminen im Sand am hinteren E n d e des Grundstücks. Jenny ging vor n e u n U h r zur Arbeit, ich verließ das Haus selten vor zehn, nachdem ich Marley mit einer Schüssel frischem Wasser und einem Berg Spielzeuge in die Garage gesperrt und ihm mein obligatorisches »Sei ein braver Junge, Marley« mit auf den W e g gegeben hatte. Um halb eins kam Jenny in ihrer Mittagspause nach H a u se, fütterte Marley und warf ihm im Garten seinen Ball, bis er müde war. Am Anfang fuhr sie sogar nachmittags noch einmal kurz nach Hause, um ihn hinauszulassen. N a c h dem Abendessen machten wir meistens zusammen einen Spaziergang ans Wasser, wo wir am Strand hin und her wanderten, während die Yachten von Palm Beach im Sonnenuntergang vorbeizogen. 41
Wandern ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Marley wanderte ungefähr so wie eine Lokomotive auf der Flucht. Er rannte voraus, zerrte wie wild an der Leine und hustete sich dabei die Seele aus dem Leib. W i r zogen ihn zurück, er zog uns vorwärts. W i r zerrten, er zerrte und hustete dabei wie ein Kettenraucher, weil ihm das Halsband die Luft abschnürte. Er sprang nach links und rechts, zu jedem Briefkasten und jedem Busch, schnüffelte, hechelte und markierte ununterbrochen, wobei er meistens mehr sich selbst traf als das angepeilte Ziel. Er lief im Kreis und war auf einmal hinter uns, sodass sich die Leine um unsere Knöchel wickelte, um dann wieder nach vorne zu springen und uns dabei fast umzureißen. W e n n uns jemand mit einem anderen H u n d entgegenkam, warf sich Marley den beiden fröhlich entgegen und stellte sich, sobald die Leine gespannt war, auf die Hinterbeine. Er wollte unbedingt Freundschaft schließen. » D e r sprüht ja vor Lebensfreude«, fasste ein Hundebesitzer es einmal treffend zusammen. Marley war immer noch klein genug, dass wir dieses Leinentauziehen gewinnen konnten, doch mit jeder Woche änderte sich das Machtverhältnis. Er wurde immer größer und stärker. Es war klar, dass er uns irgendwann kräftemäßig überlegen sein würde. W i r wussten, dass wir ihn an die Kandare n e h m e n und ihm beibringen mussten, ordentlich bei Fuß zu gehen, wenn er uns nicht eines Tages zu einem unrühmlichen E n d e unter die Räder eines vorbeifahrenden Autos schleifen sollte. Freunde von uns, selbst erfahrene Hundebesitzer, rieten uns, das mit der Erziehung nicht zu überstürzen. »Es ist noch zu früh«, sagte einer. »Genießt seine Welpenzeit, solange es geht. Sie ist schnell genug vorbei, und dann könnt ihr immer noch mit der Erziehung Ernst machen.« Genau das taten wir auch, was nicht heißt, dass wir ihm 42
vollkommen seinen Willen ließen. W i r setzten durchaus Grenzen und versuchten sie auch konsequent einzufordern. Betten und Möbel waren tabu. Aus der Toilette trinken, M e n schen im Schritt herumschnüffeln und Stuhlbeine ankauen waren strafbare Taten, obwohl sie eine Standpauke wert zu sein schienen. Nein wurde zu unserem Lieblingswort. W i r brachten ihm die üblichen K o m m a n d o s bei - Hierher, Bleib, Sitz, Platz -, wenn auch mit begrenztem Erfolg. Marley war jung und ungestüm und legte die Aufmerksamkeit einer Z i m merpflanze und die Unbeständigkeit von Nitroglyzerin an den Tag. Er war so leicht erregbar, dass der kleinste Anlass ihn in Fahrt bringen konnte, so als hätte er einen dreifachen Espresso getrunken. Erst Jahre später wurde es uns klar, aber er zeigte genau jene Verhaltensmerkmale, die später bei schwer erziehbaren Kindern definiert wurden. Unser Welpe war ein klassischer Fall von A D H S / A D S , einer »Aufmerksamkeitsdefizitstörung mit Hyperaktivität«. U n d doch, trotz all seines jugendlichen Ü b e r m u t s , spielte Marley eine wichtige Rolle in unserem Haushalt und in u n serer Beziehung. Durch seine völlige Hilflosigkeit gab er Jenny das Gefühl, der Aufgabe, andere Lebewesen zu versorgen, gewachsen zu sein. Er war n u n schon mehrere W o c h e n in ihrer Obhut, und sie hatte ihn noch nicht zur Strecke gebracht. Ganz im Gegenteil, er entwickelte sich prächtig. W i r scherzten schon, dass wir vielleicht aufhören sollten, ihn zu füttern, um sein Wachstum zu bremsen u n d seinen Energielevel niedrig zu halten. Jennys Verwandlung von kaltblütiger Pflanzenmörderin zur liebevollen H u n d e m a m a verblüffte mich zunehmend. Ich glaube, sie war selbst erstaunt. Sie war ein Naturtalent. Eines Tages begann Marley auf einmal heftig zu würgen. Ehe ich noch wirklich begriffen hatte, was eigentlich los war, war Jenny bereits aufgesprungen. Sie stürzte sich auf ihn u n d 43
zwang seine Kiefer mit einer H a n d auseinander. M i t der anderen griff sie tief in seinen Rachen hinein und brachte eine große, vollgesabberte Zellophankugel zu Tage. Einfach so. Marley hustete noch einmal, schlug mit dem Schwanz gegen die W a n d und sah zu ihr auf, als wollte er fragen: Können wir das noch mal machen? Je wohler wir uns mit unserem neuen Familienmitglied fühlten, desto wohler fühlten wir uns auch beim T h e m a Nachwuchs. Wenige Wochen nachdem wir Marley geholt hatten, setzten wir alle Verhütungsmethoden ab. Das bedeutete nicht, dass wir uns dafür entschieden hatten, schwanger zu werden. Für zwei Leute, die ihr Leben der Unentschlossenheit geweiht hatten, wäre das zu viel verlangt gewesen. W i r gingen die Frage indirekt an, indem wir uns dafür entschieden, nicht m e h r zu verhüten. Das war nicht ganz logisch, das war uns klar, aber irgendwie fühlten wir uns beide besser damit. Kein Druck. Ü b e r h a u p t kein Druck. W i r legten es nicht darauf an, ein Baby zu bekommen, wir ließen den Dingen einfach nur ihren Lauf. Que serd, serd und so. Ehrlich gesagt hatten wir furchtbare Angst. W i r waren mit m e h r e r e n Pärchen befreundet, die monate- und jahrelang erfolglos versucht hatten, Nachwuchs zu bekommen, u n d ihre bemitleidenswerte Verzweiflung nach und nach öffentlich zur Schau trugen. Bei Dinnerpartys redeten sie zwanghaft von Arztbesuchen, Spermienzählen und genau berechneten Menstruationszyklen, meistens zum großen U n behagen der übrigen Anwesenden. Ich meine, was soll man denn dazu sagen? »Ich finde, deine Spermienzahl klingt sehr vielversprechend!«? Es war beinahe unerträglich. W i r hatten schreckliche Angst, so zu werden wie sie. J e n n y hatte vor unserer Heirat ernste Probleme mit E n d o metriose gehabt und sich einem laparoskopischen Eingriff 44
unterziehen müssen, bei dem Narbengewebe von ihren Eileitern entfernt wurde. All das ließ nichts Gutes über ihre Fruchtbarkeit vermuten. N o c h beunruhigender war ein kleines Geheimnis aus unserer Vergangenheit. In den ersten blinden, leidenschaftlichen Tagen unserer Beziehung, als das Verlangen alles, was mit einem klaren Verstand zu tun hatte, ausgeschaltet hatte, hatten wir jegliche Vorsicht zusammen mit unseren Kleidern in die Ecke geworfen u n d hemmungslosen Sex gehabt, ohne auch n u r einen Gedanken an Verhütung zu verschwenden. N i c h t nur einmal, sondern oft. Das war unglaublich d u m m gewesen, und wenn m a n nun nach einigen Jahren darauf zurückblickte, dann sollten wir eigentlich vor Dankbarkeit den Boden küssen, dass wir einer ungewollten Schwangerschaft entgangen waren. Stattdessen dachten wir beide: Was stimmt nicht mit uns? Kein normales Paar hätte ohne Folgen so hemmungslos ungeschützten Sex haben können. W i r waren beide davon überzeugt, dass das nicht einfach werden würde. D a h e r schwiegen wir, als unsere Freunde uns ihren Kinderwunsch eröffneten. J e n n y verstaute einfach ihre Pillenpackung im Arzneischrank u n d dachte nicht mehr daran. W e n n sie schwanger würde, fantastisch. W e n n nicht, nun, wir hatten uns ja schließlich sowieso nicht aktiv darum bemüht, oder? Der Winter in West Palm Beach ist eine wunderbare Jahreszeit, mit kalten Nächten und warmen, trockenen, sonnigen Tagen. Nach dem unerträglich langen, betäubend heißen Sommer, den man zum Großteil in klimatisierten Räumen verbrachte oder wo man vom Schatten eines Baumes in den des nächsten flüchtete, um der prallen Sonne zu entgehen, konnten wir das subtropische Klima im W i n t e r voll genießen. W i r aßen jede Mahlzeit auf unserer Veranda, pressten jeden Morgen Orangen aus dem eigenen Garten aus, legten einen 45
kleinen Kräutergarten an, setzten ein paar Tomatenpflanzen am Haus, pflückten riesige Hibiskusblüten und ließen sie in Wasserschüsseln auf dem Esstisch schwimmen. Nachts schliefen wir bei offenem Fenster, während der Duft der Blumen hereinströmte. An einem wunderschönen Tag Ende M ä r z lud Jenny eine Arbeitskollegin mit ihrem Basset Buddy zu einem H u n d e treffen ein. Buddy war ein ehemaliger Tierheimbewohner und hatte das traurigste Gesicht, das ich je gesehen habe. W i r ließen die beiden H u n d e in den Garten, und sie rasten sofort los. D e r alte Buddy wusste allerdings offensichtlich nicht so recht, was er mit diesem hyperaktiven hellbraunen Jungspund anfangen sollte, der im Kreis um ihn herumtobte. D o c h er nahm es gelassen, und die zwei spielten über eine Stunde zusammen, bevor sie beide erschöpft unter dem M a n g o b a u m niedersanken. Ein paar Tage später fing Marley auf einmal an sich zu kratzen und wollte gar nicht m e h r aufhören. W i r hatten schon Angst, dass er sich blutig kratzen würde. Jenny kniete sich hin u n d begann mit einer ihrer Routineuntersuchungen. Sie arbeitete sich mit den Fingern durch sein Fell, wobei sie jedes H a a r einzeln umdrehte, um die H a u t darunter zu sehen. Schon nach wenigen Sekunden rief sie: »Verdammt! Schau dir das an!« Ich schielte ihr über die Schulter auf die Stelle, wo sie Marleys Fell auseinandergekämmt hatte, und sah gerade noch einen schwarzen Punkt, der sich schnell in Sicherheit zu bringen versuchte. W i r legten Marley flach auf den Boden u n d prüften jeden Millimeter seines Fells. Marley war ganz aus dem Häuschen ob dieser außerordentlichen Zuwend u n g und hechelte glücklich. Sein Schwanz schlug auf den Boden. W i r fanden sie überall. Flöhe! Ganze Schwärme. Sie waren zwischen seinen Z e h e n und in seinem Nackenfell, sogar in seinen Schlappohren. Auch wenn sie langsam genug 46
gewesen wären, dass man sie hätte fangen können, was nicht der Fall war, es waren viel zu viele. W i r hatten schon von den legendären Floh- und Zeckenplagen in Florida gehört. Es gab nie Frost, und so konnten Insektenpopulationen im warmen, feuchten Klima ungehindert gedeihen. H i e r gab es sogar in den Villen der Millionäre am Strand Küchenschaben. J e n n y war außer sich. Ihr Welpe wimmelte nur so von Ungeziefer! Natürlich beschuldigten wir sofort Buddy, ohne es beweisen zu können. J e n n y hatte außerdem die Wahnvorstellung, dass nicht n u r unser H u n d , sondern unser ganzes H a u s von der Plage befallen war. Sie schnappte sich ihre Autoschlüssel und rannte aus der Tür. Eine halbe Stunde später kam sie mit einer T ü t e zurück, in der genug Chemikalien waren, um unser eigenes Forschungslabor für Umweltschäden aufzumachen. Flohbäder und Flohpuder und Flohsprays und Flohschaum und Flohgels. Sie hatte ein Gift für den Rasen gekauft, zu dessen Einsatz ihr der Verkäufer geraten hatte, wenn wir des U n g e ziefers jemals H e r r werden wollten. Außerdem hatte J e n n y noch einen speziellen Kamm gekauft, um die Eier der T i e r chen auszubürsten. Ich griff in die T ü t e und holte den Kassenbon heraus. » U m Gottes willen, Liebling«, rief ich aus, »dafür hätten wir uns ein Sprühflugzeug kaufen können!« Das war meiner Frau egal. Sie war auf Angriff programmiert - diesmal um ihre Liebsten zu schützen -, u n d sie meinte es ernst. M i t aller M a c h t warf sie sich in den Kampf. Sie schrubbte Marley in der Badewanne mit einer Spezialseife ab. D a n n mischte sie die Spülung zusammen, die, wie mir auffiel, die gleichen Inhaltsstoffe hatte wie das Rasengift, und übergoss ihn damit, bis jeder Zentimeter von ihm eingeweicht war. W ä h r e n d er in der Garage trocknete und dabei roch wie ein kleines Chemielabor, bearbeitete J e n n y alles wie verrückt mit dem Staubsauger - Fußboden, W ä n d e , 47
Teppiche, Vorhänge, Sofapolster. U n d dann sprayte sie. U n d während sie das H a u s von innen mit Flohkiller tränkte, tat ich dasselbe von außen. »Glaubst du, wir haben die kleinen Drecksäcke fertig gemacht?«, fragte ich, als wir endlich fertig waren. »Ich glaube schon«, antwortete sie. U n s e r groß angelegter Angriff auf die Flohpopulation in der Churchill Road 345 war ein Riesenerfolg. W i r untersuchten Marley täglich, suchten zwischen seinen Zehen, unter seinen O h r e n , dem Schwanz, auf seinem Bauch und überall sonst, wo wir hinkamen. N i r g e n d w o fanden wir auch nur die Spur eines Flohs. W i r untersuchten die Teppiche, die Sofas, die Vorhangsäume, das Gras - nichts. W i r hatten den Feind vernichtend geschlagen.
FÜNF
Der Teststreifen
W
enige Wochen später lagen wir gerade im Bett und lasen, als Jenny auf einmal ihr Buch zuklappte und sagte: »Wahrscheinlich hat es gar nichts zu bedeuten.« »Was hat nichts zu bedeuten?«, fragte ich abwesend, o h n e von meinem Buch aufzuschauen. »Meine Periode ist zu spät.« Damit hatte sie meine Aufmerksamkeit. » D e i n e Periode? Wirklich?« Ich wandte mich zu ihr um. »Das passiert schon mal. Aber sie ist jetzt schon eine W o che überfällig. U n d ich fühle mich auch komisch.« »Komisch? W i e komisch?« »So als hätte ich eine kleine Magenverstimmung oder so was. Ich habe neulich zum Abendessen einen Schluck Wein getrunken, und ich dachte, ich müsste mich gleich übergeben.«
»Das sieht dir gar nicht ähnlich.« »Wenn ich nur an Alkohol denke, wird mir schon schlecht.« Ich hatte nicht vor, das zur Sprache zu bringen, aber sie war in letzter Zeit auch ziemlich schlecht gelaunt gewesen. »Glaubst du - « , fing ich an. »Ich weiß nicht. Du?« »Woher sollte ich das denn wissen?« 49
»Ich wollte eigentlich gar nichts sagen«, meinte Jenny. » N u r für den Fall - weißt du, ich will es nicht beschreien.« In diesem Augenblick merkte ich erst, wie wichtig das T h e m a für sie war - und für mich auch. Das Elternsein hatte sich an uns herangeschlichen, wir waren bereit für ein Baby. Lange lagen wir so nebeneinander, ohne etwas zu sagen, und starrten vor uns hin. » W i r werden nie einschlafen«, sagte ich schließlich. »Diese Ungewissheit bringt mich noch u m « , gab sie zu. »Los, zieh dich an«, forderte ich sie auf, »wir fahren los und kaufen einen Schwangerschaftstest.« W i r zogen schnell Shorts und T-Shirt an und öffneten die Haustür. Marley rannte uns voraus, außer sich vor Freude bei der Aussicht auf eine nächtliche Autofahrt. Als er unseren kleinen Toyota erreicht hatte, stellte er sich auf die H i n terbeine, sprang auf und ab und warf sich herum, dass ihm der Sabber n u r so von den Lefzen spritzte. Er hechelte laut u n d war ganz aus dem Häuschen in Erwartung des großen M o m e n t s , wo ich die H i n t e r t ü r öffnen würde. » M a n könnte meinen, er wäre der Vater, so wie er sich aufführt!«, sagte ich. Als ich die H i n t e r t ü r öffnete, sprang er mit einem Riesensatz hinein, sodass er auf dem Sitz daneben landete und mit dem Kopf hörbar gegen die Heckscheibe schlug, offenbar aber o h n e sich wehzutun. Die Apotheke hatte bis Mitternacht geöffnet und ich blieb mit Marley im Auto sitzen, während Jenny hineinrannte. M a n c h e Dinge sollten M ä n n e r einfach nicht kaufen, und ein Schwangerschaftsschnelltest steht auf dieser Liste ganz weit oben. D e r H u n d lief unruhig auf dem Rücksitz hin und her u n d jaulte, die Augen fest auf den Eingang der Apotheke gerichtet. W i e immer, wenn er aufgeregt war, und das war 50
im Wachzustand bei ihm eigentlich grundsätzlich der Fall, hechelte er und sabberte dabei gewaltig. »Mann, nun beruhige dich mal«, sagte ich zu ihm. »Was glaubst du denn, was sie tut? D u r c h die H i n t e r t ü r verschwinden?« Er antwortete, indem er sich schüttelte und dabei einen Sabber- und Haarregen auf mich niedergehen ließ. W i r kannten diese Gewohnheit von ihm inzwischen u n d hatten deshalb immer ein altes Badehandtuch für den Notfall auf dem Beifahrersitz. Damit wischte ich mich und das Auto ab. »Bleib locker«, sagte ich. »Ich bin ziemlich sicher, dass sie zurückkommt.« Fünf Minuten später kam Jenny mit einer kleinen T ü t e in der H a n d aus der Apotheke. Als wir vom Parkplatz fuhren, quetschte Marley seine Schultern zwischen den Rückenlehnen unserer Sitze hindurch und balancierte mit den Vorderpfoten auf der Mittelkonsole, die Nase am Rückspiegel. Bei jeder Kurve landete er mit dem Bauch auf der H a n d b r e m s e . U n d jedes Mal rappelte er sich wieder auf und n a h m völlig unbeeindruckt und noch fröhlicher als vorher seine Position wieder ein. Wenig später waren wir in unserem Badezimmer u n d packten das Päckchen für $ 8,99 neben dem Waschbecken aus. Ich las die Gebrauchsanweisung laut vor. »Okay«, sagte ich. » H i e r steht, dass der Test zu n e u n u n d neunzig Prozent zuverlässig ist. Als Erstes musst du in diesen Becher pinkeln.« Dann musste man einen schmalen Teststreifen aus Plastik in den Urin halten und diesen dann in eine Phiole mit einer Lösung tauchen, die mitgeliefert war. »Jetzt müssen wir fünf M i n u t e n warten«, sagte ich. » D a n n tauchen wir ihn fünfzehn M i n u t e n in die andere L ö sung. W e n n er dann blau wird, bist du offiziell schwanger, Baby!« 51
W i r stoppten die ersten fünf Minuten. D a n n tauchte Jenny den Streifen in die zweite Lösung und sagte: »Ich kann nicht daneben stehen und zuschauen.« W i r gingen also ins Wohnzimmer, unterhielten uns über banale Dinge und taten so, als würden wir nur warten, bis der Teekessel zu pfeifen anfangen würde. »Schönes Wetter heute«, witzelte ich. Aber mein H e r z schlug wild und ich fühlte eine nervöse Angst aus dem M a g e n aufsteigen. W e n n der Test positiv war, wow, dann würde sich unser Leben für immer verändern. W e n n er negativ war, würde Jenny am Boden zerstört sein. Langsam ging mir auf, dass es mir genauso gehen würde. Eine Ewigkeit später piepte die Stoppuhr. »Also los«, sagte ich. »Egal, wie es ausgeht, du weißt, dass ich dich liebe.« Ich ging ins Bad und fischte den Teststreifen aus der Phiole. Kein Zweifel, er war blau. So blau wie der tiefste Ozean. Ein tiefes, kräftiges Marineblau. Ein Blau, das mit keiner anderen Farbe zu verwechseln war. »Herzlichen Glückwunsch, Liebling«, sagte ich. »O mein G o t t « , war alles, was sie herausbrachte, dann warf sie sich in meine Arme. Als wir so eng umschlungen vor dem Waschbecken standen, die Augen geschlossen, fühlte ich auf einmal eine Bewegung an meinen Füßen. Ich sah hinunter, und da war Marley, schwänzelnd und mit dem Kopf wackelnd; sein Schwanz schlug so fest gegen die Badezimmertür, dass ich schon Angst hatte, er würde Dellen hineinmachen. Als ich mich hinunterbeugte, um ihn zu streicheln, wich er aus. O h oh. Da war er, der Marley-Mambo. Das konnte nur eines bedeuten. »Was hast du diesmal?«, fragte ich und rannte hinter ihm her. Er raste ins W o h n z i m m e r und entkam mir nur knapp. Als ich ihn schließlich in die Ecke getrieben hatte und sein 52
Maul öffnete, sah ich zuerst gar nichts. D a n n entdeckte ich etwas ganz hinten auf seiner Zunge, am Rande des Abgrunds. Es war schmal und lang und flach. U n d so blau wie der tiefste Ozean. Ich griff hinein und zog unseren positiven Teststreifen heraus. »Tut mir leid, dass ich dich enttäuschen muss, mein Freund«, sagte ich. »Aber das hier k o m m t ins Fotoalbum.« Jenny und ich fingen an zu lachen. W i r lachten eine ganze Weile. Es machte uns großen Spaß, uns zu überlegen, was wohl in seinem großen, breiten Kopf vor sich ging. Hmm, wenn ich das Beweisstück zerstöre, dann vergessen sie diese ganze unglückliche Geschichte vielleicht, und ich muss mein Zuhause nicht mit irgendeinem Eindringling teilen. Dann packte Jenny Marley bei den Vorderpfoten, zog ihn auf die Hinterbeine hoch und tanzte mit ihm durch das Z i m mer. » D u wirst Onkel!«, sang sie. Marley antwortete in der für ihn typischen Weise: Er leckte ihr mit seiner großen, nassen Zunge über den M u n d . Am nächsten Tag rief mich J e n n y in der Arbeit an. Sie war gerade beim Arzt gewesen, und dieser hatte das Testergebnis offiziell bestätigt. » E r sagt, es ist alles in Ordnung!«, sprudelte sie hervor. Am Vorabend hatten wir die Tage im Kalender zurückgerechnet, um den Zeitpunkt der Empfängnis nachzuvollziehen. Sie machte sich Sorgen, dass sie vielleicht bei unserer hysterischen Flohsprühaktion vor ein paar W o c h e n schon schwanger gewesen war. Sich all diesen Giften auszusetzen, war doch sicher schädlich, oder? Sie fragte ihren Arzt danach und er meinte, dass das wahrscheinlich kein Problem sei. Benützen Sie die Mittel einfach nicht mehr, riet er ihr. Er gab ihr ein Rezept für ein Vitaminpräparat für Schwangere und sagte, sie solle in drei W o c h e n zu einem Ultraschalltermin wiederkommen. D a n n würden wir das erste Mal einen flüch53
tigen Blick auf den kleinen Fötus werfen können, der in J e n nys Bauch heranwuchs. » W i r sollen eine Videokassette mitbringen«, sagte Jenny. » D a m i t wir eine Kopie davon für die Nachwelt aufheben können.« Ich vermerkte den Termin in meinem Kalender.
SECHS
Herzensangelegenheiten
E
inheimische werden Ihnen erzählen, dass es in Südflorida vier Jahreszeiten gibt. Die Unterschiede wären nur fein, geben sie zu, aber es gibt dennoch vier verschiedene Jahreszeiten. Glauben Sie das nicht. Es gibt nur zwei - die warme, trockene Jahreszeit und die heiße, feuchte. Ungefähr um diese Zeit, als über N a c h t die tropische Hitze wiederkam, wachten wir eines Morgens auf und entdeckten, dass unser Welpe kein Welpe m e h r war. So schnell, wie sich der Winter in einen heißen Sommer verwandelt hatte, war aus Marley ein schlaksiger junger H u n d geworden. N a c h fünf Monaten füllte sein Körper nun die vielen Falten seines vormals viel zu großen hellbraunen Fells aus. Seine riesigen Pfoten wirkten nicht mehr so überdimensioniert. Seine spitzen Babyzähne waren imponierenden H a u e r n gewichen, die ein Frisbee - oder einen nagelneuen Lederschuh - mit ein paar schnellen Bissen zerstören konnten. Das T i m b r e seines Bellens hatte sich in ein einschüchterndes D r ö h n e n verwandelt. W e n n er auf den Hinterbeinen stand und wie ein russischer Zirkusbär herumtapste, was er oft tat, konnte er mir seine Vorderpfoten auf die Schultern legen und mir in die Augen sehen. Als der Tierarzt ihn zum ersten Mal sah, stieß er einen leisen Pfiff aus und sagte: » D a haben Sie sich aber einen Riesenkerl ausgesucht.« W i e Recht er hatte. Marley war zu 55
einem hübschen H u n d geworden, und ich fühlte mich bemüßigt, J e n n y freundlich darauf hinzuweisen, dass mein hochtrabender N a m e für ihn gar nicht so abwegig war. Grogan's Majestic Marley of Churchill, der übrigens in der Churchill Road residierte, war in der Tat majestätisch. Jedenfalls dann, wenn er gerade nicht versuchte, seinen Schwanz zu fangen. Manchmal, wenn er sich auch den letzten Rest nervöser Energie aus dem Leib gerannt hatte, lag er gerne auf dem persischen Teppich im W o h n z i m m e r und sonnte sich in den Sonnenstrahlen, die durch die Jalousien fielen. M i t erhoben e m Kopf, schimmernder Nase und gekreuzten Vorderpfoten erinnerte er uns dann an eine ägyptische Sphinx. W i r waren nicht die Einzigen, die die Verwandlung bemerkten. An der Art, wie Fremde ihm aus dem Weg gingen und zurückwichen, wenn er auf sie zukam, merkten wir, dass sie ihn nicht länger als harmlosen Welpen ansahen. In ihren Augen musste m a n sich n u n vor ihm fürchten. Unsere Haustür hatte auf Augenhöhe ein kleines längliches Fenster. Marley liebte Besuch, und jedes Mal, wenn es an der T ü r klingelte, schoss er durchs Haus, machte in der Diele eine Vollbremsung, schlitterte über den Holzboden, schleuderte dabei die kleinen Dielenteppiche durch die Luft, und kam erst mit einem lauten Aufprall gegen die T ü r zum Stehen. D a n n stellte er sich auf die Hinterbeine, bellte laut, u n d sein großer Kopf füllte das ganze Türfenster aus, sodass er demjenigen, der vor der T ü r stand, direkt in die Augen sah. Für Marley, der sich als unser Begrüßungspersonal ansah, war das ein fröhliches Ritual. Für Vertreter, Postboten und alle anderen, die ihn nicht kannten, jedoch war es, als wäre Cujo direkt aus dem Stephen-King-Roman gesprungen, u n d nun stand n u r noch eine Holztür zwischen ihnen und der erbarmungslosen Bestie. Viele Fremde traten überstürzt den Rückzug auf die Einfahrt an, wenn sie Marleys 56
kläffende Fratze im Fenster sahen, und warteten dort, bis einer von uns zur T ü r kam. Das war eigentlich gar nicht so schlecht. Stadtplaner würden unser Viertel wahrscheinlich eine Wohngegend im U m b r u c h nennen. Es war in den 1940er und 1950er Jahren entstanden, und zuerst hatten hier vor allem Pensionäre und Leute gewohnt, die den W i n t e r im Süden der USA verbringen wollten. Als die ursprünglichen Hausbesitzer starben, zog eine bunte Mischung von Rentnern und Arbeiterfamilien hierher und gaben dem Viertel einen neuen Charakter. Als wir einzogen, veränderte es sich gerade wieder, diesmal kamen vor allem Homosexuelle, Künstler und junge Selbstständige, die von der Lage nahe am Wasser und der schrägen Deko-Style-Architektur angezogen wurden. Unser Wohnblock diente als Puffer zwischen dem wenig einladenden South Dixie Highway und den noblen Villen unten am Wasser. D e r Dixie Highway war die frühere US 1, die an Floridas östlicher Küste entlangführte und als H a u p t verbindungsstrecke nach Miami diente, bevor die Interstate gebaut wurde. Sie war fünfspurig, zwei Spuren in jede Richtung, mit einem gemeinsamen Mittelstreifen, und gesäumt von leicht heruntergekommenen, unansehnlichen Supermärkten, Tankstellen, Obstständen, Poststationen, Schnellrestaurants und zwielichtigen Motels aus einer längst vergangenen Zeit. An der Kreuzung von Dixie Highway und Churchill Road gab es einen Schnapsladen, einen R u n d - u m - d i e - U h r Supermarkt, einen Importshop mit dicken Gittern vor den Fenstern und eine Wäscherei, in der die ganze N a c h t über Leute waren und oft braune T ü t e n mit leeren Flaschen hinterließen. Unser H a u s stand in der Mitte dieses Blocks, acht Türen von jener Kreuzung entfernt. 57
Das Viertel schien uns ungefährlich, doch man erzählte sich auch so manche Geschichte. Gegenstände, die man im Garten stehen ließ, verschwanden, und einmal stahl jemand während einer längeren Kälteperiode unser Brennholz, das ich an der Hauswand aufgestapelt hatte. Eines Sonntags frühstückten wir in unserem Lieblingscafe und saßen dabei an unserem üblichen Tisch am Fenster, als Jenny auf ein Einschussloch in der Fensterscheibe deutete, auf Kopfhöhe, und trocken bemerkte: »Das war letztes Mal noch nicht da.« Als ich eines M o r g e n s zur Arbeit fahren wollte und aus unserer Einfahrt bog, sah ich einen M a n n im Rinnstein liegen, Gesicht und H ä n d e voller Blut. Ich parkte das Auto und rannte zu ihm, weil ich dachte, er sei angefahren worden. D o c h als ich neben ihm niederkniete, stieg mir der Gestank von Alkohol und U r i n in die Nase, und als er anfing zu reden, war mir klar, dass er betrunken war. Ich rief den N o t arzt und wartete auf ihn, doch als die Sanitäter da waren, verweigerte der M a n n sich jeder Behandlung. Während die Arzte und ich ungläubig zusahen, rappelte er sich auf und wankte zum Schnapsladen. U n d dann der Abend, als ein ziemlich verzweifelter M a n n an meiner T ü r klingelte und erzählte, er wolle Freunde in der N ä h e besuchen und ihm sei das Benzin ausgegangen. Ob ich ihm fünf Dollar leihen könnte? Er würde sie mir gleich am nächsten M o r g e n zurückzahlen. Na klar, Kumpel, dachte ich. Als ich ihm stattdessen anbot, für ihn die Polizei zu rufen, murmelte er eine lahme Ausrede und verschwand. Am beunruhigendsten war, was wir über das Haus schräg gegenüber hörten. N u r wenige M o n a t e vor unserem Einzug war dort ein M o r d passiert. U n d nicht irgendein Raubmord, sondern eine scheußlich grausame Geschichte mit einer invaliden W i t w e und einer Kettensäge. Die Sache war durch 58
alle Zeitungen gegangen, und noch ehe wir einzogen, waren uns alle Einzelheiten bekannt gewesen - alle Einzelheiten, bis auf den O r t des Geschehens. U n d jetzt lebten wir also schräg gegenüber vom Tatort. Das Opfer war eine pensionierte Lehrerin namens Ruth Ann Nedermier gewesen. Sie hatte allein in dem H a u s gewohnt und gehörte noch zur ursprünglichen Generation der hier Ansässigen. N a c h einer Hüftoperation hatte sie eine Krankenschwester angestellt, eine fatale Entscheidung, wie sich herausstellte. W i e die Polizei später beweisen konnte, hatte die Schwester der alten D a m e Schecks gestohlen u n d ihre Unterschrift gefälscht. Die alte D a m e war gebrechlich, aber geistig noch fit gewesen, und sie hatte die Krankenschwester auf die fehlenden Schecks und die unerklärlichen Abbuchungen auf ihrem Konto angesprochen. Die Schwester geriet in Panik u n d erschlug die alte D a m e , dann rief sie ihren Freund an, der mit einer Kettensäge anrückte und ihr half, die Leiche in der Badewanne zu zerstückeln. Z u s a m m e n packten sie dann die Leichenteile in einen großen Koffer, spülten das Blut der Frau aus der Badewanne und fuhren davon. Mehrere Tage lang blieb das Verschwinden von M r s Nedermier ein Rätsel, wie uns unsere N a c h b a r n später erzählten. Das Geheimnis konnte erst gelüftet werden, als ein M a n n bei der Polizei anrief und von einem furchtbaren G e stank in seiner Garage berichtete. Die Beamten entdeckten daraufhin den Koffer und seinen grausigen Inhalt. Als die Polizei ihn fragte, wie der Koffer in seine Garage gekommen war, sagte er den Beamten die Wahrheit: Seine Tochter hatte ihn gefragt, ob sie ihn bei ihm unterstellen könnte. Obwohl der grausame M o r d an M r s N e d e r m i e r das Spektakulärste war, was je in unserem Viertel passiert war, hatte niemand uns gegenüber auch n u r ein W o r t davon erwähnt, 59
als wir uns anschickten, unser H a u s zu kaufen. Weder der Makler noch der Vorbesitzer, weder der N o t a r noch der Gutachter. In unserer ersten Woche im neuen Haus kamen die N a c h b a r n mit Keksen und einem Schmorbraten vorbei u n d erzählten uns alles. Als wir an diesem Abend in unserem Bett lagen, konnten wir gar nicht anders, als daran zu denken, dass n u r wenige hundert M e t e r von unserem Schlafzimmerfenster entfernt eine wehrlose W i t w e in Stücke gesägt worden war. Es war ein Unglück, sagten wir uns, etwas, das uns niemals passieren konnte. Trotzdem konnten wir nicht an dem H a u s vorbeigehen oder auch n u r aus unserem Fenster schauen, ohne daran zu denken, was dort geschehen war. Irgendwie vermittelte es uns eine gewisse Sicherheit, Marley bei uns zu haben und zu sehen, wie viel Respekt die Leute vor ihm hatten. Er war ein großer, liebenswerter Tollpatsch von einem H u n d , dessen Verteidigungsstrategie gegen alle Eindringlinge sicher darin bestanden hätte, sie zu Tode zu lecken. D o c h das brauchten die Herumtreiber und Räuber da draußen ja nicht zu wissen. Für sie war er groß, er war stark und er war auf unberechenbare Weise fast verrückt. U n d das gefiel uns. Die Schwangerschaft bekam J e n n y gut. Sie fing an, in der M o r g e n d ä m m e r u n g aufzustehen und mit Marley spazieren zu gehen. Sie kochte vollwertige, gesunde Mahlzeiten aus frischem Gemüse und Obst. Außerdem schwor sie Koffein, Diätlimonade und natürlich jeder Art von Alkohol ab. Sie erlaubte mir noch nicht einmal, einen Teelöffel Kochsherry in den Topf zu rühren. W r hatten uns fest vorgenommen, die Schwangerschaft so lange geheim zu halten, bis wir sicher sein konnten, dass der Fötus lebensfähig und außer Gefahr einer Fehlgeburt war, aber keiner von uns hielt das durch. W i r waren so aus 60
dem Häuschen, dass wir uns einer Vertrauensperson nach der anderen anvertrauten und jedem Stillschweigen auferlegten, bis unser Geheimnis gar kein Geheimnis m e h r war. Zuerst erzählten wir es unseren Eltern, dann unseren G e schwistern, danach unseren engsten Freunden, schließlich unseren Arbeitskollegen und Nachbarn. N a c h zehn W o c h e n wurde Jennys Bauch ganz allmählich runder. Es war tatsächlich wahr, wir bekamen ein Baby! W a r u m sollten wir unsere Freude nicht mit der ganzen Welt teilen? Als die nächste Ultraschalluntersuchung anstand, hätten wir es genauso gut auf eine Litfaßsäule schreiben können: J o h n und J e n n y bekommen Nachwuchs. An diesem Tag nahm ich mir vormittags frei und brachte, wie der Arzt es empfohlen hatte, eine Videokassette mit, um die ersten unscharfen Bilder von unserem Baby festzuhalten. D e r Termin sollte zur Hälfte Vorsorge und zur anderen Hälfte ein Informationsgespräch sein. Eine H e b a m m e würde all unsere Fragen beantworten, Jennys Bauchumfang messen, den Herzschlag des Babys abhören und uns natürlich auch ein paar Bilder von ihm zeigen. Schrecklich aufgeregt standen wir um n e u n U h r in der Praxis. Die H e b a m m e , eine freundliche ältere D a m e mit britischem Akzent, führte uns in ein kleines Sprechzimmer und fragte ohne Umschweife: » W ü r d e n Sie gerne den H e r z schlag Ihres Babys hören?« Aber natürlich. W i r lauschten gespannt, als sie mit einer Art M i k r o p h o n über Jennys Bauch strich. W i r saßen ganz still da, mit eingefrorenem Lächeln, und bemühten uns, den schwachen Herzschlag zu hören, doch aus dem Lautsprecher kam nur ein Rauschen. Die H e b a m m e erklärte uns, dass das nichts U n g e w ö h n l i ches war. »Es hängt davon ab, wie das Baby liegt. Manchmal kann man nichts hören. Vielleicht ist es auch noch ein bisschen zu früh.« Sie bot uns an, gleich mit dem Ultraschall 61
weiterzumachen. » D a n n schauen wir uns Ihr Baby doch mal an!«, meinte sie fröhlich. »Unser erster Blick auf Baby Grogie«, sagte Jenny und sah mich strahlend an. Die H e b a m m e führte uns in einen anderen Raum und bat Jenny, sich auf eine Liege mit einem M o n i t o r daneben zu legen. »Ich habe eine Videokassette dabei«, sagte ich und wedelte damit vor ihr herum. »Lassen Sie die erst noch mal beiseite«, meinte sie, während sie Jennys T-Shirt hochschob und begann, mit einem Gerät, das aussah wie ein kleiner Hockeyschläger, über ihren Bauch zu fahren. W i r starrten auf den Monitor, sahen aber nur eine graue, unscharfe Fläche. » H m , mit diesem Gerät kann m a n nichts erkennen«, sagte sie in vollkommen neutralem Ton. » W i r versuchen es mit einem vaginalen Ultraschall. Da sehen Sie viel mehr.« Sie verließ den Raum u n d kehrte wenig später mit einer anderen H e b a m m e zurück, einer großen Blondine mit lackierten Fingernägeln. Sie hieß Essie und bat Jenny, ihre H o sen auszuziehen, dann führte sie eine latexbezogene Sonde in ihre Vagina ein. Die H e b a m m e hatte Recht: Die Auflösung war wesentlich besser als vorher. Sie zoomte auf etwas, was wie ein kleines Säckchen in der Mitte der grauen Fläche aussah, und vergrößerte es mit einem Mausklick. Dann vergrößerte sie es n o c h einmal. U n d noch einmal. Aber statt schärfere K o n t u r e n zu bekommen, sah das Säckchen eher wie eine leere, formlose Socke aus. Wo waren die kleinen Arme und Beine, von denen die Bücher über Schwangerschaft in der zehnten W o c h e schrieben? Wo war der kleine Kopf? Wo das schlagende Herz? Jenny brannte immer noch vor N e u g i e r und reckte den Kopf zur Seite zum Bildschirm hin. Sie fragte die Schwestern mit einem nervösen Lachen: »Ist da irgendwas drin?« 62
Ich blickte auf, sah Essies Miene und wusste, dass wir die Antwort nicht hören wollten. Plötzlich wusste ich, warum sie nichts gesagt hatte, während sie das Bild vergrößert hatte. Sie antwortete Jenny in sachlichem Ton: » N i c h t das, was man nach zehn W o c h e n erwarten würde.« Ich legte J e n n y meine H a n d aufs Knie. W i r starrten beide weiter auf das Gebilde auf dem Bildschirm, als ob wir es so zum L e b e n erwecken könnten. »Jenny, ich glaube, wir haben hier ein Problem«, sagte Essie. »Ich hole Dr. Sherman.« Während wir schweigend warteten, begriff ich, was Leute mit den Schmetterlingen meinen, die sie kurz vor einer O h n macht zu spüren behaupten. M i r rauschte das Blut in den Ohren. Wenn ich mich nicht hinsetze, kippe ich um, dachte ich. W i e peinlich wäre das denn? M e i n e starke Frau, die die N e u igkeit stoisch erträgt, und ihr M a n n liegt ohnmächtig am Boden, während die Schwestern versuchen, ihn mit Riechsalz wiederzubeleben. Ich hockte mich auf den Rand der Liege, hielt Jennys H a n d und streichelte ihr den Nacken. In ihren Augen standen Tränen, aber sie weinte nicht. Doktor Sherman, ein großer, ansehnlicher M a n n mit r u p pigem, aber leutseligem Auftreten, bestätigte uns, dass der Fötus tot war. » W i r würden sonst zweifellos einen H e r z schlag sehen«, sagte er. D a n n erklärte er uns ruhig, was wir Schönaus den Büchern wussten. Dass eine von sechs Schwangerschaften mit einer Fehlgeburt endet. Dass die N a t u r auf diese Weise schwache, zurückgebliebene und schwer missgebildete Föten aussortiert. Offensichtlich erinnerte er sich an Jennys Sorge wegen der Flohsprays, denn er versicherte uns, dass wir nichts dafür konnten. Er strich J e n n y über die Wange und beugte sich zu ihr, als wollte er ihr einen Kuss geben. »Es tut mir leid«, sagte er. »Sie können es in ein paar Monaten wieder versuchen.« 63
W i r saßen beide schweigend da. Die leere Videokassette lag auf der Liege neben uns, und ihr Anblick war mit einem Mal unerträglich, ein grausames Zeugnis unseres blinden, naiven Optimismus. Ich wollte sie wegwerfen. Ich wollte sie verstecken. Ich fragte den Arzt: » W i e geht es jetzt weiter?« » W i r müssen die Plazenta entfernen«, antwortete er. »Vor ein paar Jahren hätten Sie gar nichts von einer Fehlgeburt gemerkt, bis Sie Blutungen bekommen hätten.« Er bot uns an, das W o c h e n e n d e abzuwarten und erst am M o n t a g wiederzukommen und die Prozedur vornehmen zu lassen - eine Abtreibung, also die Entfernung des Fötus und der Plazenta. Aber J e n n y wollte es schnell hinter sich bringen, u n d ich stimmte ihr zu. »Je eher, desto besser«, sagte sie. »Einverstanden«, sagte Dr. Sherman. Er gab Jenny etwas, um ihren M u t t e r m u n d zu weiten, und ging aus dem Zimmer. W i r hörten, wie er in ein anderes Sprechzimmer ging u n d dort mit fröhlichem Geplänkel eine werdende Mutter begrüßte. Als wir allein waren, fielen Jenny und ich uns verzweifelt in die Arme und verharrten so, bis wir ein leises Klopfen an der T ü r hörten. Es war eine ältere Frau, die wir noch nie gesehen hatten. Sie hatte ein Bündel Papiere in der H a n d . »Es tut mir leid, Liebes«, sagte sie zu Jenny. »Es tut mir so leid.« U n d dann gab sie ihr die Einverständniserklärung, auf der die Risiken eines solchen Eingriffs aufgelistet waren, u n d zeigte ihr, wo sie unterschreiben musste. Als Dr. Sherman zurückkam, war er ganz geschäftlich. Er spritzte J e n n y zuerst Valium und dann Demerol; die P r o zedur danach war schnell vorüber, aber strapaziös. Er war bereits fertig, noch ehe die Medikamente ihre volle Wirkung entfaltet hatten. Als es vorbei war, lag Jenny beinahe 64
bewusstlos da, die Beruhigungsmittel setzten sie außer G e fecht. »Passen Sie auf, dass sie nicht aufhört zu a t m e n « , sagte der Doktor und ging aus d e m Zimmer. Ich konnte es nicht fassen. W a r es nicht eigentlich seine Aufgabe, aufzupassen, dass sie nicht aufhörte zu atmen? Auf d e m F o r m u lar, das sie unterschrieben hatte, stand nichts von »der P a tient könnte aufgrund einer Uberdosis Beruhigungsmittel aufhören zu atmen«. Ich tat wie mir geheißen und redete laut mit Jenny, rieb ihren Arm, strich ihr leicht über die Wange und sagte Dinge wie »Hey, Jenny! W i e heiße ich?« Sie lag da wie tot. Nach einigen Minuten steckte Essie ihren Kopf zur T ü r herein, um nach uns zu sehen. Sie sah Jennys aschfahles Gesicht und war sofort wieder verschwunden. Einen Augenblick später kam sie wieder hereingeeilt, einen nassen Waschlappen und Riechsalz in der H a n d , das sie J e n n y u n ter die Nase hielt. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe Jenny sich rührte, und auch dann war es nur eine schwache Bewegung. Ich redete weiter mit lauter Stimme auf sie ein und befahl ihr, tief zu atmen, damit ich es auf meiner H a n d spüren konnte. Ihre H a u t war immer noch aschfahl, und ich fühlte ihren Puls bei sechzig Schlägen pro M i n u t e . Nervös wischte ich ihr mit dem nassen Waschlappen über die Stirn, die Wangen und den Hals. Schließlich kam sie zu sich, war aber noch völlig benommen. » D u hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Sie sah mich mit leerem Blick an, als müsse sie sich erst vergegenwärtigen, womit sie mir einen Schrecken eingejagt haben könnte. D a n n wurden ihre Augen wieder glasig. Eine halbe Stunde später half ihr die Schwester beim Anziehen, und ich führte sie aus der Praxis, wobei m a n mir folgende Anweisungen mitgab: Zwei W o c h e n lang kein Voll65
bad, nicht schwimmen, keine Vaginalspülungen, keine Tampons, kein Sex. Im Auto blieb J e n n y bei ihrem eisernen Schweigen, drückte sich gegen die Beifahrertür und starrte aus dem Fenster. Ihre Augen waren rot, doch sie weinte nicht. Erfolglos suchte ich nach tröstenden W o r t e n . Was konnte ich auch sagen? Wr hatten unser Baby verloren. Sicher, ich konnte ihr sagen, dass wir es wieder versuchen könnten. Ich konnte ihr sagen, dass viele Pärchen dasselbe durchmachten. Aber sie würde es nicht hören wollen, und ich wollte es nicht sagen. Irgendwann würden wir mit Abstand auf das Ganze zurückblicken können. Aber nicht jetzt. Ich fuhr eine landschaftlich schönere Strecke nach Hause, am Strand von West Palm Beach entlang. Die Sonne wanderte über das Wasser, die Palmen wiegten sich sanft unter einem wolkenlosen H i m m e l . Es war ein Tag zum Fröhlichsein, aber nicht für uns. Schweigend fuhren wir nach Hause. Als wir daheim ankamen, half ich Jenny ins Haus, bettete sie auf die Couch und ging dann in die Garage, wo Marley wie immer unsere Rückkehr mit atemloser Ungeduld erwartete. Sobald er mich sah, tauchte er nach seinem riesigen Rohlederknochen und stolzierte damit durch den Raum. Sein ganzer Körper bebte und sein Schwanz schlug gegen die Waschmaschine wie ein Knüppel auf eine Trommel. Er wollte unbedingt, dass ich versuchte, ihm den Knochen abzujagen. » H e u t e nicht, Kumpel«, sagte ich und ließ ihn zur H i n tertür in den Garten hinaus. Er machte sein Geschäft unter dem Mispelbaum und kam ins H a u s zurückgerast, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Wasserschüssel, spritzte alles um ihn h e r u m voll und sauste dann den Flur hinunter, um J e n n y zu suchen. Ich brauchte nur ein paar Sekunden, um 66
die Hintertür abzuschließen, das verschüttete Wasser aufzuwischen und ihm ins W o h n z i m m e r zu folgen. Als ich um die Ecke kam, blieb ich abrupt stehen. Ich hätte einen Monatslohn darauf verwettet, dass eine solche Szene niemals möglich wäre. Unser wilder, ungestümer H u n d stand mit den Schultern zwischen Jennys Knien, sein großer, schwerer Kopf ruhte auf ihrem Schoß. Sein Schwanz hing zwischen seinen Beinen herunter. Es war das erste Mal, dass er nicht wedelte, wenn er einen von uns berührte. Er sah zu ihr auf und winselte leise. Sie streichelte ein paar Mal seinen Kopf, verbarg dann unvermittelt ihr Gesicht in seinem dicken Nackenfell und fing an zu schluchzen. Ein heftiges, haltloses Schluchzen aus tiefster Seele. Sie verharrten lange so. Marley stand still wie eine Statue, und Jenny umarmte ihn wie eine übergroße P u p p e . Ich stand abseits und fühlte mich wie ein ungebetener Z u schauer einer sehr privaten Szene. Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte. U n d dann, ohne aufzusehen, hob sie einen Arm in meine Richtung, und ich setzte mich neben sie aufs Sofa und schlang die Arme um sie. Da saßen wir drei, in stiller, gemeinsamer Trauer.
SIEBEN
Hund und Herrchen
A
m nächsten M o r g e n , einem Sonntag, wachte ich bei Sonnenaufgang auf und merkte, dass Jenny neben mir leise weinte. Sie hatte mir den Rücken zugedreht. Marley war auch schon wach, sein Kopf ruhte auf der Matratze, und wieder trauerte er mit seinem Frauchen. Ich stand auf und kochte Kaffee, presste frischen Orangensaft aus, holte die Zeitung herein und machte Toast. Als J e n n y wenig später im Bademantel in die Küche kam, waren ihre Augen trocken und sie schenkte mir ein tapferes Lächeln, wie um zu sagen, dass es ihr besser ginge. N a c h dem Frühstück beschlossen wir, mit Marley zum Schwimmen an den Strand hinunterzugehen. Von unserem Viertel aus versperrten ein großer Wellenbrecher aus Beton und viele Steinblöcke den W e g zum Wasser, aber sechs Blocks weiter südlich verliefen die Wellenbrecher weiter oben und ließen einen kleinen weißen Strand frei, wo Treibholz herumlag - ein perfekter Hundespielplatz. Als wir den Strand erreichten, wedelte ich mit einem Stöckchen vor Marleys Nase h e r u m und ließ ihn von der Leine. Er starrte den Ast an, als hielte ich einen saftigen Knochen in der Hand; er ließ ihn nicht aus den Augen. » H o l den Stock!«, rief ich und warf das H o l z so weit ich konnte ins Wasser. Marley sprang mit einem spektakulären Satz über die Betonmauer, galoppierte den Strand hinunter und sprang ins kalte Wasser, dass es nur 68
so spritzte. Genau dazu sind Labradors geboren. Es ist in ihren Genen angelegt und steht in ihrer Jobbeschreibung. Niemand weiß genau, woher der Labrador eigentlich stammt, aber so viel ist bekannt: Er stammt nicht aus L a b rador. Diese muskulösen, kurzhaarigen H u n d e , die das Wasser so sehr lieben, wurden das erste Mal im 17. J a h r h u n d e r t ein paar H u n d e r t Meilen südlich von Labrador gesichtet, in Neufundland. Frühe Geschichtsschreiber berichten, dass die Fischer dort die H u n d e auf ihren Booten mit hinaus aufs Meer nahmen, wo sie ihnen beibrachten, Leinen und N e t z e einzuholen und Fische von den Angelhaken zu bergen. Das dicke, ölige Fell der H u n d e machte sie unempfindlich gegen das eisige Wasser, und ihre Schwimmkünste machten sie zusammen mit ihrer grenzenlosen Ausdauer und der Fähigkeit, Fische vorsichtig im Maul zu tragen, ohne das Fleisch zu beschädigen, zu einem idealen Arbeitshund unter den harten Bedingungen im Nordatlantik. Wie diese H u n d e nach Neufundland kamen, darüber streiten sich die Geister. Sie stammen nicht ursprünglich von der Insel, und es gibt keine Belege, dass die Eskimos, die als Erste dieses Gebiet besiedelten, H u n d e mitbrachten. Am glaubwürdigsten ist die Version, dass die ältesten Vorfahren der Retriever von Fischern aus Europa und England nach Neufundland mitgebracht wurden. Viele von ihnen heuerten ab, ließen sich an der Küste nieder und gründeten Familien. Von da an hat sich der Labrador wohl zufällig und willkürlich weiter vermehrt. Er hat wahrscheinlich die gleichen Vorfahren wie der größere, langhaarigere Neufundländer. Wie auch immer es dazu kam, diese erstaunlich begabten H u n d e wurden bald von den Jägern auf der Insel für ihre Zwecke eingesetzt und dienten als Jagdhunde bei der Vogeljagd. 1662 wanderte ein M a n n namens W. E. Cormack aus St. John, Neufundland, über die Insel und bemerkte die 69
große Zahl der einheimischen H u n d e , die seiner Meinung nach »bewundernswert gut zu Jagdhunden erzogen und auch ... auf andere Weise nützlich sind«. Schließlich wurde der Englische Landadel auf die H u n d e aufmerksam, und im frühen 19. J a h r h u n d e r t importierten sie die H u n d e als Jagdhunde für die Jagd auf Fasane, M o o r - und Rebhühner nach England. L a u t dem Labrador Retriever Club, einer nationalen Laienorganisation, die 1931 gegründet wurde und sich der Bewahrung der Reinheit dieser Rasse verschrieben hat, kam der N a m e Labrador irgendwann in den 18 3 Oer Jahren versehentlich auf, als der offenbar geographisch wenig gebildete Dritte Earl von Malmesbury einen Brief an den Sechsten D u k e von Buccleuch schrieb und darin mit seinen erstklassigen Retrievern prahlte. » W i r nennen meine H u n d e immer Labradors«, schrieb er. Von da an blieb dieser N a m e . D e r gute Earl vermerkte, dass er stets alle Anstrengungen unternahm, um »die Rasse von Anfang an so rein wie möglich« zu erhalten. Andere jedoch n a h m e n es mit dem Stammbaum nicht so genau und kreuzten Labradors mit anderen Retrievern, in der Hoffnung, dass sich ihre hervorragenden Eigenschaften weitervererben würden. Die G e n e der Labradors erwiesen sich als unbezwingbar, und die Labrador-Retriever-Linie blieb einzigartig und wurde am 7. Juli 1903 vom Kennel Club von England als eigene Rasse anerkannt. B.W. Ziessow, ein enthusiastischer, langjähriger Züchter, schrieb für den Labrador Retriever Club: »Die amerikanischen Sportler übernahmen die Rasse von England und entwickelten und trainierten mit der Zeit einen H u n d , der optimal für den Jagdsport in diesem Land geeignet war. Heute wie damals wird jeder Labrador gerne in Minnesota ins eiskalte Wasser springen, um einen abgeschossenen Vogel herauszuholen; und er wird den ganzen Tag in der Hitze des 70
Südwestens Tauben jagen - als D a n k für seine gute Arbeit genügt ihm eine Streicheleinheit.« Das also war Marleys stolzes Erbe, und er schien zumindest einen Teil davon mitbekommen zu haben. Er war ein Meister im Beuteaufspüren. N u r die Sache mit dem Zurückbringen der Beute hatte er nicht ganz verstanden. Er schien zu denken: Wenn du deinen Stock unbedingt -wiederhaben willst, dann kannst DU ja danach tauchen. Mit seiner Beute zwischen den Z ä h n e n kam er an den Strand zurück. »Bring's her!«, schrie ich und klatschte in die Hände. » K o m m schon, Junge, bring es mir!« Er kam angetänzelt, sein ganzer Körper bebte vor Aufregung, und dann schüttelte er sich und ließ Wasser und Sand auf mich niederregnen. Zu meiner Überraschung ließ er danach den Stock vor meine Füße fallen. Wow!, dachte ich. Nicht schlecht! Ich sah zu Jenny zurück, die auf einer Bank unter einer australischen Pinie saß, und zeigte ihr den nach oben gereckten Daumen. Doch als ich mich bückte, um den Stock aufzuheben, war Marley schon zur Stelle. Er tauchte ab, packte den Stock und raste dann wild Haken schlagend den Strand hinunter. D a n n warf er sich herum, prallte beinahe mit mir zusammen und forderte mich auf, ihn zu verfolgen. Ich rannte ein paar Schritte in seine Richtung, doch es war klar, dass er mir an Schnelligkeit und Beweglichkeit weit überlegen war. » D u bist ein Labrador«, brüllte ich ihm nach. » D i r liegt das Apportieren im Blut!« Aber im Gegensatz zu meinem H u n d hatte ich ein weiter entwickeltes Gehirn, das zumindest ein klein wenig m e h r hermachte als meine Muskelkraft. Ich griff nach einem zweiten Stock und machte ein Riesentheater darum, hob ihn über den Kopf und warf ihn von einer H a n d in die andere und ließ ihn hin und her schwingen. U n d ich konnte sehen, wie Marleys Entschlossenheit langsam nachließ. Plötzlich hatte 71
der Stock in seinem Maul, der vor wenigen Augenblicken noch sein größter Schatz gewesen war, seinen Reiz verloren. M e i n Stock dagegen zog ihn magisch an. Er schlich näher und näher, bis er n u r noch wenige M e t e r von mir entfernt war. »Tja, d u m m das, nicht wahr, Marley?« Ich kicherte, als ich ihm den Stock vor die Augen hielt und er anfing zu schielen, um ihn im Blick zu behalten. Ich konnte sehen, wie die kleinen grauen Zellen in seinem Kopf arbeiteten und er krampfhaft überlegte, wie er den neuen Stock erhaschen könnte, ohne den alten loszulassen. Seine Oberlippe zitterte, als er die Chancen abzuschätzen versuchte, mit einem H a p s beide Stöcke zu packen. Ich griff schnell mit meiner freien H a n d nach dem Stock in seinem Maul und zog. Er zog knurrend zurück. Ich hielt ihm den zweiten Stock gegen die Nasenlöcher. » D u weißt, dass du nicht widerstehen kannst«, flüsterte ich. U n d tatsächlich, die Versuchung war zu groß. Ich spürte, wie sein Griff sich lockerte. U n d dann handelte er. Er öffnete das Maul und versuchte, den zweiten Stock zu fassen, ohne den ersten loszulassen. Blitzschnell zog ich beide Stöcke weg und hielt sie über meinen Kopf. Er sprang in die Luft, bellte und wirbelte herum, offensichtlich verstört darüber, dass sein so klug ersonnener Plan nicht aufgegangen war. »Siehst du, deswegen bin ich das H e r r c h e n und du der H u n d « , erklärte ich ihm. Als Reaktion schüttelte er sich und schleuderte mir noch m e h r Sand und Wasser ins Gesicht. Ich warf einen der Stöcke ins Wasser und er rannte wild bellend hinterher. Als er zurückkam, schien er gerüstet. Diesmal war er vorsichtiger u n d weigerte sich, auch nur in meine N ä h e zu k o m m e n . Er blieb ein paar M e t e r vor mir stehen, seinen Stock im Maul und den Blick fest auf meinen Stock, das neue und zugleich alte Objekt seiner Begierde, gerichtet. Ich hielt den Stock hoch über meinen Kopf. U n d wieder sah 72
ich seine grauen Zellen arbeiten. Er dachte: Diesmal warte ich so lange hier, bis er ihn wirft. Und dann hat er keinen Stock mehr und ich zwei. » D u denkst, ich bin blöd, nicht wahr, H u n d ? « , sagte ich zu ihm. Ich holte aus und warf den Stock mit einem lauten Ächzen so weit ich konnte. Klar, Marley rannte hinterher, sprang mit seinem Stock im Maul ins Wasser - das D u m m e war nur, dass ich meinen Stock nicht losgelassen hatte. Aber merkte Marley das? Nein, er schwamm halb bis Palm Beach, ehe ihm auffiel, dass ich den Stock immer n o c h in der H a n d hatte. » D u bist gemein!«, schimpfte J e n n y von ihrer Bank aus, und als ich zu ihr zurückblickte, sah ich, dass sie lachte. Als Marley schließlich wieder an Land kam, ließ er sich vollkommen erschöpft in den Sand fallen, war aber immer noch wild entschlossen, seinen Stock nicht herzugeben. Ich zeigte ihm meinen Stock, erzählte ihm wieder, wie viel toller dieser im Gegensatz zu seinem war, u n d befahl: »Lass los!« Wieder holte ich aus, als ob ich werfen wollte, u n d der dumme H u n d sprang auf die Beine und rannte zurück zum Wasser. »Lass los!«, wiederholte ich, als er zurückkam. W i r spielten dieses Spielchen noch ein paar Mal, aber schließlich ließ er ihn tatsächlich fallen. U n d im selben M o m e n t , als sein Stock den Boden berührte, warf ich meinen für ihn in die Luft. W i r wiederholten das immer wieder, und jedes Mal schien ihm das Prinzip ein wenig klarer zu werden. Langsam sickerte die Lektion in seinen dicken Schädel ein. W e n n er mir den Stock zurückbrachte, würde ich immer wieder einen neuen für ihn werfen. »Das ist wie ein Geschäftsabschluss«, erklärte ich ihm. » D u musst etwas hergeben, um etwas zu bekommen.« Er sprang an mir hoch und gab mir einen dicken Schmatz mit seinem sandigen H u n d e m a u l , was ich als Zustimmung wertete. Als Jenny und ich nach Hause gingen, zog Marley zum ers73
ten Mal nicht an der Leine. Er war erschöpft. Ich war sehr stolz auf unseren Lernerfolg. Wochenlang hatten Jenny und ich schon versucht, ihm ein paar grundlegende soziale Verhaltensregeln beizubringen, doch er hatte nur sehr kleine Fortschritte gemacht. Es war, als würden wir einem wilden H e n g s t beibringen wollen, aus einer Tasse Tee zu trinken. Manchmal kam ich mir vor wie Anne Sullivan, und Marley war H e l e n Keller. Insgeheim dachte ich an Saint Shaun zurück und wie schnell ich, damals selbst noch ein Junge von zehn Jahren, ihm alles hatte beibringen können, was notwendig war, um aus ihm einen tollen H u n d zu machen. Ich fragte mich, was ich diesmal falsch machte. Aber unser kleines Apportierspiel war so etwas wie ein Hoffnungsschimmer. »Weißt du«, sagte ich zu Jenny, »ich glaube wirklich, langsam kapiert er es.« Sie sah auf ihn hinunter, wie er neben uns hertrottete. Er war klitschnass, sein Fell war voll Sand und an seinen Lefzen hing Schaum. Sein hart erkämpfter Stock klemmte immer noch zwischen seinen Kiefern. » D a wäre ich mir nicht so sicher«, sagte sie. Am nächsten M o r g e n wachte ich wieder bei Tagesanbruch davon auf, dass J e n n y leise neben mir weinte. »Hey«, sagte ich und schlang meinen Arm um sie. Sie drückte ihr Gesicht gegen meine Brust und ich fühlte, wie ihre Tränen mein TShirt durchnässten. »Alles okay«, sagte sie, »es ist nur - du weißt schon.« Ich wusste es. Ich versuchte, den tapferen Soldaten zu spielen, aber ich spürte es auch, dieses dumpfe Gefühl von Verlust und Versagen. Es war seltsam. N o c h vor zwei Tagen waren wir vor N e u g i e r auf unser Baby beinahe geplatzt. Und jetzt war es, als hätte es diese Schwangerschaft nie gegeben. Als wäre das alles n u r ein Traum gewesen, aus dem zu erwa74
chen uns schwerfiel. Später nahm ich Marley mit zum E i n kaufen. W i r fuhren zum Supermarkt, u n d J e n n y brauchte ein paar Sachen aus der Apotheke. Auf dem Rückweg hielt ich an einem Blumenladen und kaufte einen riesigen F r ü h lingsblumenstrauß samt Vase, in der Hoffnung, er würde Jenny aufheitern. D a m i t die Vase nicht umkippte, gurtete ich sie auf dem Rücksitz neben Marley an. Als wir an einer Zoohandlung vorbeikamen, dachte ich spontan, dass Marley auch eine kleine Aufheiterung gebrauchen könnte. I m m e r hin hatte er unserer untröstlichen J e n n y besser Trost spenden können als ich. »Sei ein guter J u n g e « , sagte ich. »Ich bin gleich zurück.« Ich eilte in das Geschäft und kaufte schnell einen riesigen Kauknochen für ihn. Zu Hause kam uns J e n n y vor dem H a u s entgegen, u n d Marley sprang aus dem Auto, um sie zu begrüßen. » W i r haben eine kleine Überraschung für dich«, sagte ich. D o c h als ich die Blumen vom Rücksitz holen wollte, war die Ü b e r r a schung auf meiner Seite. Ich hatte einen Frühlingsstrauß mit weißen Gänseblümchen, gelben Chrysanthemen, verschiedenfarbigen Lilien und leuchtend roten Nelken gekauft. Jetzt waren die Nelken verschwunden. Ich sah genauer hin und entdeckte die geköpften Stiele, die vor wenigen M i n u ten noch Blüten getragen hatten. Sonst fehlte d e m Strauß nichts. Ich starrte Marley an, der wild herumtanzte. » K o m m hierher!«, schrie ich, und als ich ihn endlich erwischte und ihm das Maul aufstemmte, fand ich den Beweis seiner Schuld. Tief in seinem Rachen, zu einer formlosen Masse zerkaut, die an Kautabak erinnerte, steckte eine einzige rote Nelke. Die anderen waren offenbar schon in seinen Schlund gewandert. Ich hätte ihn umbringen können. Ich sah J e n n y an. Tränen strömten über ihr Gesicht. Aber diesmal lachte sie Tränen. Sie hätte sich nicht m e h r gefreut, wenn ich eigens ein kleines Orchester für eine abendliche 75
Serenade eingeflogen hätte. M i r blieb nichts anderes übrig, als in ihr Lachen einzustimmen. »Dieser H u n d ! « , murmelte ich. »Ich hab mir ohnehin noch nie viel aus Nelken gemacht«, sagte sie. Marley war so glücklich, uns wieder lachen zu sehen, dass er sich auf die Hinterbeine stellte und einen Freudentanz aufführte. Als ich am nächsten M o r g e n aufwachte, flutete Sonnenlicht durch die Aste des brasilianischen Pfefferbaums auf unser Bett. Ich warf einen Blick auf die U h r ; es war fast acht. Dann sah ich hinüber zu meiner Frau, die friedlich schlief. Ihre Brust h o b und senkte sich in langsamen, tiefen Atemzügen. Ich küsste sie aufs Haar, legte ihr einen Arm um die Taille und schloss wieder die Augen.
ACHT
Die Machtprobe
A
ls Marley knapp sechs M o n a t e alt war, meldeten wir ihn in einer Hundeschule an. Das war m e h r als notwendig. Trotz seiner Fortschritte mit dem Stock an jenem Tag am Strand erwies er sich als äußerst schwieriger Schüler, schwer von Begriff, wild, leicht abzulenken, ein Opfer seiner unerschöpflichen Energie. Allmählich begannen wir zu ahnen, dass er nicht wie andere H u n d e war. M e i n Vater fasste es treffend zusammen, als Marley versuchte, sein Knie zu begatten: »Dieser H u n d hat eine Schraube locker.« W i r brauchten professionelle Hilfe. Unser Tierarzt empfahl uns einen H u n d e - C l u b im Ort, der jeden Dienstagabend auf dem Parkplatz hinter dem Zeughaus einen Gehorsamkeits-Grundkurs anbot. Er wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern des Clubs abgehalten, engagierte Amateure, die zweifelsohne ihren eigenen H u n den bereits die höheren Weihen guten Benehmens beigebracht hatten. D e r Kurs dauerte acht Stunden und kostete fünfzig Dollar, für unsere Begriffe eine lächerliche Summe, wenn man daran dachte, dass Marley den W e r t von fünfzig Dollar in Form von einem Paar Schuhe innerhalb von dreißig Sekunden vernichten konnte. U n d der Kurs versprach, dass wir nach der Abschlussprüfung mit Lassie der Zweiten nach Hause gehen würden. Bei der Anmeldung trafen wir die Dame, die unseren Kurs leiten würde. Sie war eine stren77
ge, ernsthafte Hundetrainerin, die die M e i n u n g vertrat, dass es keine unerziehbaren H u n d e gab, sondern nur inkonsequente, unfähige Besitzer. Die erste Stunde schien ihren Standpunkt zu untermauern. N o c h ehe wir aus dem Auto gestiegen waren, entdeckte Marley die anderen H u n d e , die mit ihren Besitzern über den Asphalt liefen. Eine Party! Er sprang über uns hinweg aus dem Auto, und weg war er, die Leine hinter sich herziehend. D a n n schoss er von einem H u n d zum nächsten, beschnüffelte sie an allen unziemlichen Stellen, markierte und schleuderte große Sabberflocken durch die Luft. Für Marley war das Ganze ein Fest der Düfte - so viele Geschlechtsteile, so wenig Zeit und er nutzte die Gunst der Stunde, wobei er sich immer genau außerhalb meiner Reichweite hielt, während ich hinter ihm herjagte. I m m e r wenn ich ihn beinahe erwischt hatte, machte er wieder einen Satz nach vorne. Schließlich kam ich nahe genug heran, um mit einem gigantischen Sprung mit beiden Füßen auf seiner Leine zu landen. Das brachte ihn so ruckartig zum Stehen, dass ich im ersten M o m e n t dachte, ich hätte ihm das Genick gebrochen. Er wurde umgerissen, landete auf dem Hinterteil, warf sich h e r u m und sah mich völlig entgeistert an. Inzwischen starrte uns die Hundetrainerin mit einem Blick an, der vernichtender nicht hätte sein können, wenn ich mir die Kleider v o m Leib gerissen hätte u n d nackt über den Parkplatz getanzt wäre. »Bitte begeben Sie sich auf Ihren Platz«, sagte sie förmlich, und als sie sah, wie Jenny und ich gemeinsam versuchten, Marley an seinen Platz zu zerren, fügte sie hinzu: »Sie müssen sich entscheiden, wer von Ihnen beiden die Funktion des Trainers übernimmt.« Ich setzte zu der Erklär u n g an, dass wir beide teilnehmen wollten, damit wir beide zu H a u s e mit ihm üben konnten, aber sie unterbrach mich. »Ein H u n d kann nur einem H e r r n gehorchen«, sagte sie 78
bestimmt. Ich wollte protestieren, doch sie brachte mich mit einem strengen Blick zum Schweigen - wahrscheinlich schüchterte sie damit auch die H u n d e ein -, und ich zog wie ein begossener Pudel mit eingezogenem Schwanz vom Feld und überließ Trainerin Jenny das K o m m a n d o . Wahrscheinlich war das ein Fehler. Marley war inzwischen beträchtlich stärker als Jenny, und das wusste er. Miss D o minatrix hatte gerade zu ihrer Einfuhrungsrede angesetzt, in der sie erklärte, wie wichtig es sei, gegenüber Haustieren eine Führungsposition einzunehmen, da beschloss Marley, dass der Pudel auf der anderen Seite der Klasse einen n ä h e ren Blick wert war. M i t Jenny an der Leine stürzte er los. Alle anderen H u n d e saßen brav neben ihren H e r r c h e n und Frauchen, hielten gebührend Abstand voneinander und warteten auf weitere Befehle. Jenny kämpfte verzweifelt um festen Halt unter den Füßen, um Marley zu stoppen, doch er galoppierte unbeeindruckt weiter und zog sie, versessen aufs Pudelschnüffeln, quer über den Parkplatz. M e i n e Frau hatte erstaunliche Ähnlichkeit mit einer Wasserskiläuferin, die von einem M o t o r b o o t gezogen wird. Alle starrten sie an. Einige kicherten. Ich hielt mir die Augen zu. Marley war kein Freund von langwierigen Höflichkeiten. Er rannte die Pudeldame um und klemmte sofort seine Nase zwischen ihre Beine. Das war wohl die Art und Weise, wie ein H u n d fragt: » H i , bist du öfter hier?« Nachdem Marley den Pudel ausführlich untersucht hatte, gelang es Jenny endlich, ihn an seinen Platz zurückzuziehen. Miss Dominatrix gab mit ruhiger Stimme bekannt: »Dies, meine D a m e n und H e r r e n , ist ein hervorragendes Beispiel für einen H u n d , dem man gestattet hat, zu denken, er sei das Alphatier seines Rudels. Im M o m e n t hat er das Sagen.« Wie um das zu bestätigen, begann Marley wie wild seinen Schwanz zu jagen, drehte sich dabei um die eigene Achse, 79
schnappte in die Luft und wickelte die Leine so um Jennys Knöchel, bis sie sich nicht m e h r rühren konnte. Ich litt mit Jenny u n d war trotzdem froh, dass ich nicht an ihrer Stelle war. Die Trainerin begann mit den Lektionen »Sitz!« und »Platz!«. J e n n y befahl Marley mit strenger Stimme: »Sitz!« U n d Marley sprang auf und legte ihr die Pfoten auf die Schultern. Sie drückte sein Hinterteil auf den Boden, und er rollte sich herum, damit sie ihn am Bauch kraulen konnte. Sie versuchte ihn an seinen Platz zu ziehen, und er schnappte sich die Leine mit den Z ä h n e n und schüttelte den Kopf wild hin u n d her, als würde er mit einer Python kämpfen. Ich konnte es nicht mit ansehen. Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich, wie J e n n y bäuchlings auf dem Boden lag. Marley stand über ihr und hechelte fröhlich. Später erklärte sie mir, sie hätte ihm zeigen wollen, wie man das K o m m a n d o »Platz« korrekt ausführt. Als die Stunde zu E n d e war und J e n n y mit Marley zu m i r kam, fing Miss Dominatrix uns ab. »Sie müssen dieses T i e r wirklich u n t e r Kontrolle bringen«, sagte sie spöttisch. Oh, vielen Dank für diesen wertvollen Rat. Und dabei hatten wir uns eigentlich nur angemeldet, damit die anderen Teilnehmer etwas zu lachen haben! Keiner von uns sagte ein Wort. W i r gingen n u r niedergeschlagen zu unserem Auto und fuhren schweigend nach Hause. N u r Marleys lautes Hecheln war zu hören, als er versuchte, sich von der Aufregung sein e r ersten Erfahrung m i t einer Hundeschule zu erholen. Schließlich sagte ich: »Eines ist sicher: Er geht gern zur Schule.« Eine W o c h e später waren Marley und ich wieder dort, diesmal ohne Jenny. Als ich angedeutet hatte, dass ich wahrscheinlich noch am ehesten Marleys Vorstellung von einem 80
Alphatier entsprach, hatte sie ihren vorläufigen Titel als Frauchen und Befehlshaberin mit Freuden aufgegeben und geschworen, sich nie wieder in der Öffentlichkeit blicken zu lassen. Bevor wir das H a u s verließen, schubste ich Marley auf den Rücken, stellte mich über ihn und knurrte mit meiner einschüchterndsten Stimme: »Ich bin der Boss! Du bist nicht der Boss! Ich bin der Boss! Verstanden, Alphahund?« Er schlug mit dem Schwanz auf den Boden und versuchte, meine Handgelenke anzuknabbern. Diesmal stand der Befehl »Bei F u ß « auf d e m Plan, eine Lektion, die mir besonders wichtig war. Ich war es leid, auf jedem Spaziergang bei jedem Schritt mit Marley zu k ä m p fen. Er hatte Jenny schon einmal zu Boden gerissen, als er einer Katze hinterherjagen wollte, dabei hatte sie sich die Knie aufgeschlagen. Es war höchste Zeit, dass er lernte, anständig an unserer Seite zu laufen. Ich zerrte ihn an allen anderen H u n d e n vorbei an unseren Platz. Miss Dominatrix gab jedem von uns eine kurze Kette mit je einem Ring an beiden Enden. Das wären spezielle Halsbänder, erklärte sie uns, mit denen wir unsere H u n d e dazu bringen würden, brav bei Fuß zu gehen. Das Halsband war genial einfach konstruiert. W e n n sich der H u n d gut b e n a h m und an der Seite seines Herrchens blieb, sodass die Leine Spiel hatte, dann hing ihm die Kette einfach nur locker um den Hals. W e n n er jedoch einen Satz nach vorne machte oder zur Seite zerrte, dann zog sich die Kette wie eine Schlinge zu und brachte den H u n d so dazu, zu gehorchen. Unsere Trainerin versprach, dass die H u n d e schnell lernen würden, dass ihnen bei Ungehorsam die Luft knapp wurde. Nicht ganz fair, aber eine tolle Erfindung, dachte ich. Ich wollte die Kette über Marleys Kopf ziehen, aber er war schneller und schnappte mit den Zähnen danach. Ich zwang ihm die Kiefer auseinander, um das Halsband heraus81
zuziehen. W i e d e r schnappte er danach. Alle anderen H u n d e hatten bereits ihre Halsbänder um; alle warteten. Ich packte Marleys Schnauze mit einer H a n d und versuchte mit der anderen, ihm die Kette überzuwerfen. Er sprang wieder zurück und wand sich, um sein Maul wieder frei zu bekommen und diese geheimnisvolle silberne Schlange erneut anzugreifen. Endlich schaffte ich es, ihm die Kette über den Kopf zu ziehen. Er ließ sich zu Boden fallen, schnappte wild um sich, streckte die Pfoten in die Luft und warf den Kopf hin und her, bis es ihm wieder gelang, die Kette zwischen die Zähne zu bekommen. Ich sah die Trainerin an. » E r mag die Kette«, sagte ich. W i e befohlen ließ ich Marley aufstehen und nahm ihm die Kette aus dem Maul. D a n n drückte ich ihm wie befohlen das Hinterteil auf den Boden und stellte mich neben ihn, mein linkes Bein an seiner rechte Schulter. W e n n die Trainerin bis drei gezählt hatte, sollte ich den Befehl »Marley, bei Fuß!« geben und einen Schritt mit dem linken - auf gar keinen Fall mit dem rechten - Fuß machen. W e n n er vom Kurs abwich, würden ihn kleine Korrekturen - in Form von einem festen, kurzen Ziehen an der Leine - wieder in die richtige Position bringen. Miss Dominatrix gab das Kommando: »Eins ... zwei ...« Marley zitterte vor Erregung. Das glänzende fremde D i n g um seinen Hals brachte ihn auf H o c h t o u r e n »... drei!« »Marley, bei Fuß!«, befahl ich. Sobald ich den ersten Schritt machte, startete er durch wie ein Kampfflugzeug vom Flugzeugträger. Ich zog ihn fest an der Leine zurück, und er gab ein furchtbares, hustendes Japsen von sich, als sich die Kette um seinen Hals enger zog. Er sprang kurz zurück, doch sobald sich die Kette wieder lockerte, hatte er das W ü r g e n schon wieder vergessen. D e r winzige Teil seines G e hirns, der dafür zuständig war, aus Erfahrung zu lernen, hat82
te mit dieser Episode längst abgeschlossen. W i e d e r sprang er nach vorne. Ich zog an der Leine, und er japste wieder. So arbeiteten wir uns langsam über den ganzen Parkplatz vor; Marley zerrte nach vorne, ich zerrte ihn zurück, jedes Mal ein wenig heftiger. Er hustete und hechelte, ich ächzte u n d schwitzte. »Halten Sie den H u n d zurück!«, rief die Trainerin. Ich versuchte es mit aller Kraft, aber die Botschaft kam einfach nicht bei Marley an, und ich hatte Angst, er würde sich strangulieren, ehe er das Prinzip verstanden hatte. Inzwischen liefen die anderen H u n d e schon brav an der Seite ihrer H e r r chen und Frauchen und reagierten bereits auf feine Hilfen, genau wie die Trainerin es vorausgesagt hatte. »Verdammt noch mal, Marley!«, zischte ich. »Unsere Familienehre steht auf dem Spiel!« Die Trainerin befahl den Teilnehmern, sich in einer Reihe aufzustellen und es noch einmal zu versuchen. U n d wieder taumelte Marley wie betrunken über den Parkplatz, die Augen weit aufgerissen und nach Luft ringend. Am anderen Ende des Parkplatzes nannte uns die Trainerin ein gutes Beispiel dafür, wie man es nicht machen sollte. » K o m m e n Sie«, sagte sie ungeduldig. »Ich zeige es Ihnen.« Ich gab ihr die Leine, und sie zerrte Marley erfolgreich in die Startposition. Als sie ihm den Befehl zum Hinsetzen gab, zog sie fest am Halsband. Tatsächlich sank er auf seine Hinterbeine und sah konzentriert zu ihr auf. Verdammt! M i t einem Ruck an der Leine setzte sich Miss Dominatrix in Bewegung. Doch fast augenblicklich jagte Marley los, als würde er den führenden Schlitten in einem H u n d e r e n n e n ziehen. Die Trainerin nahm ihn hart zurück und brachte ihn damit aus dem Gleichgewicht; er stolperte, keuchte u n d machte dann einen weiteren Satz nach vorne. Es sah aus, als würde er ihr den Arm ausreißen. Eigentlich hätte es mir pein83
lieh sein sollen, aber irgendwie empfand ich eine gewisse G e n u g t u u n g . Sie hatte kein bisschen m e h r Erfolg als ich. M e i n e Klassenkameraden kicherten, und ich strahlte vor perversem Stolz. Schaut her, mein Hund benimmt sich bei jedem so daneben, nicht nur bei mir! Jetzt, wo nicht ich, sondern jemand anders sich lächerlich machte, musste ich zugeben, dass die Szene ziemlich witzig war. Als die beiden endlich das andere Ende des Parkplatzes erreicht hatten und zu uns zurückgetaumelt kamen, kochte Miss Dominatrix verständlicherweise vor W u t . Marley war außer sich vor Freude. Die Trainerin zog wütend an der Leine und Marley, mit Schaum vor dem Maul, sprang noch wilder vorwärts; ganz offensichtlich machte ihm dieses neue Tauziehen-Spiel Spaß, zu dem ihn diese fremde D a m e aufforderte. Als er mich sah, trat er aufs Gaspedal. Mit ein e m beinahe übernatürlichen Adrenalinstoß warf er sich in meine Richtung und zwang Miss Dominatrix so zu einem ordentlichen Spurt, wenn sie nicht den Boden unter den Füßen verlieren wollte. Marley hielt erst an, als er sich voller Begeisterung auf mich warf. Miss Dominatrix sah mich mit einem vernichtenden Blick an. Es war klar, dass ich eine G r e n z e überschritten hatte und dass es kein Zurück mehr gab. Marley hatte alles, was sie über H u n d e und Disziplin gesagt hatte, lächerlich gemacht; er hatte sie in aller Öffentlichkeit blamiert. Sie gab mir die Leine zurück und wandte sich wieder an die übrigen Teilnehmer, als hätte diese unglückliche kleine Episode niemals stattgefunden: »Okay, Leute, auf d r e i . . . « Als die Stunde vorbei war, bat sie mich, noch einen M o m e n t zu bleiben. Ich wartete mit Marley, während sie geduldig Fragen von anderen Teilnehmern beantwortete. Als der letzte gegangen war, wandte sie sich an mich und sagte in erstaunlich versöhnlichem Ton: »Ich glaube, Ihr H u n d 84
ist noch ein bisschen zu jung für strukturierten Gehorsamsunterricht.« »Ja, er ist wirklich nicht einfach, nicht wahr?«, sagte ich und fühlte mich wie ihr Bündnispartner; jetzt, wo wir dieselbe peinliche Erfahrung gemacht hatten. » E r ist einfach noch nicht so weit«, sagte sie. » E r muss erst noch ein wenig erwachsen werden.« Langsam ahnte ich, was sie mir damit sagen wollte. »Wollen Sie etwa sagen ...« » E r stört die anderen H u n d e . « »... dass Sie ...« » E r ist einfach zu leicht erregbar.« »... uns aus dem Kurs werfen?« »Sie können in sechs bis acht M o n a t e n gerne wiederkommen.« »Sie werfen uns also raus?« »Ich zahle Ihnen gerne Ihre Kursgebühren zurück.« »Sie werfen uns raus.« »Ja«, sagte sie endlich. »Ich werfe Sie raus.« Als ob er sie verstanden hätte, hob Marley das Bein u n d verfehlte den Schuh seiner geliebten Trainerin n u r um wenige Zentimeter. Manchmal muss man erst wütend werden, ehe m a n etwas ernsthaft angeht. Miss Dominatrix hatte mich wütend gemacht. Ich besaß einen wunderschönen, reinrassigen L a b rador, ein stolzes Exemplar jener Rasse, die b e r ü h m t war für ihre Fähigkeit, Blinde zu führen, Katastrophenopfer zu retten, mit Jägern zu arbeiten und Fische aus schäumenden Wellen zu fangen, und all das mit Gelassenheit und Klugheit. W i e konnte sie es wagen, ihn nach nur zwei U n t e r richtsstunden aus dem Kurs zu werfen? Auch wenn er etwas lebhafter war, er meinte es doch nur gut. Ich würde dieser 85
unerträglichen, aufgeblasenen Person beweisen, dass G r o gan's Majestic Marley of Churchill kein Versager war. W i r würden uns in Westminster wiedersehen. Schon am nächsten M o r g e n n a h m ich Marley mit in unseren Garten. » N i e m a n d schmeißt die Grogan-Jungs aus dem Kurs!«, erklärte ich ihm. »Unerziehbar? W i r werden ja sehen, wer hier unerziehbar ist. H a b ich Recht?« Er sprang auf und ab. » W i r schaffen das, Marley, oder?« Er wedelte mit dem Schwanz. »Ich kann dich nicht hören. Schaffen wir das?« Er bellte. »Das klingt schon besser. An die Arbeit!« W i r fingen mit dem K o m m a n d o »Sitz!« an. Ich hatte das seit seinem frühen Welpenalter mit ihm geübt, und er war schon ganz gut darin. Ich baute mich vor ihm auf und starrte ihn an, wie n u r Alphatiere es tun, dann befahl ich ihm mit ruhiger, aber fester Stimme, sich hinzusetzen. Er setzte sich hin. Ich lobte ihn. W i r wiederholten diese Ü b u n g einige Male. D a n n gingen wir zu dem Befehl »Platz!« über. Auch das hatte ich schon mit ihm geübt. Er starrte mich aufmerksam an, reckte in freudiger Erwartung meines Befehls den Kopf vor. Ich h o b langsam die H a n d und behielt sie oben, während er auf den Befehl wartete. D a n n deutete ich in einer scharfen Bewegung auf den Boden, schnippte gleichzeitig mit den Fingern und sagte: »Platz!« Marley fiel in sich zusammen und landete mit einem Plumps auf dem Boden. Er hätte sich vermutlich nicht vehementer auf den Boden geworfen, wenn hinter ihm eine Granate hochgegangen wäre. Jenny, die mit ihrem Kaffee auf der Veranda saß, hatte uns zugesehen und rief: »Bravo!« N a c h d e m wir auch diese Ü b u n g ein paar Mal wiederholt hatten, beschloss ich, die nächste Herausforderung anzugehen: auf K o m m a n d o herkommen. Das war schwierig für Marley. Das Problem war nicht das K o m m e n . Er konnte einfach nicht auf seinem Platz warten, bis wir ihn riefen. Unser 86
konzentrationsschwacher H u n d war so ängstlich darauf bedacht, nicht von unserer Seite zu weichen, dass er nicht still sitzen konnte, wenn wir uns von ihm entfernten. Ich befahl ihm, sich vor mich hinzusetzen, und sah ihm in die Augen. Als wir uns so anstarrten, hob ich meine Handfläche und hielt sie vor mich wie ein Schülerlotse seine Kelle. »Bleib!«, sagte ich und machte einen Schritt zurück. Er erstarrte, sah mich ängstlich an und wartete auf das kleinste Zeichen, dass er mir folgen durfte. Als ich vier Schritte gegangen war, hielt er es nicht länger aus. Er sprang los und stürzte sich auf mich. Ich ermahnte ihn und versuchte es noch einmal. U n d noch einmal und noch einmal. Jedes Mal ließ er mich ein wenig weiter fortgehen, ehe er losstürzte. Schließlich stand ich ungefähr zehn M e t e r von ihm entfernt, die H a n d vor mir ausgestreckt. Ich wartete. Er saß wie angewachsen auf seinem Platz und bebte vor Erwartung am ganzen Körper. Ich konnte sehen, wie seine Nervosität wuchs, er glich einem Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Aber er hielt durch. Ich zählte bis zehn. Er rührte sich nicht. Sein Blick war starr auf mich gerichtet, seine Muskeln angespannt. Okay, genug der Quälerei, dachte ich. Ich ließ meine H a n d fallen und rief: »Marley, hierher!« Als er nach vorne schoss, ging ich in die H o c k e und klatschte in die H ä n d e , um ihn anzufeuern. Ich dachte, er würde einfach nur wie wild durch den Garten jagen, doch er kam direkt auf mich zu. Perfekt!, dachte ich. » N a los, J u n ge!«, rief ich. » K o m m her!« U n d er kam. Er raste direkt auf mich zu. »Langsam, Junge!«, rief ich. Er raste weiter auf mich zu. »Langsam!« Er hatte wieder diesen leeren, verrückten Ausdruck im Gesicht, und in dem Augenblick vor dem Zusammenprall wurde mir klar, dass der Lotse die Brücke verlassen hatte. Er glich einer Büffelherde. Ich hatte gerade noch Zeit für einen letzten Befehl. »Stopp!«, brüllte ich. 87
B U M ! Er r a m m t e mich mit unverminderter Geschwindigkeit und warf mich zu Boden. Ich schlug hart auf. Als ich meine Augen ein paar Sekunden später wieder öffnete, stand er über mir, Brust an Brust, und leckte mir wild das Gesicht ab. Wie war ich, Boss?, schien er zu fragen. Eigentlich hatte er n u r genau meine Anweisung befolgt. Schließlich hatte ich nichts davon gesagt, dass er stehen bleiben sollte, wenn er bei mir ankam. »Auftrag ausgeführt«, stöhnte ich. J e n n y hatte uns vom Küchenfenster aus beobachtet und rief: »Ich muss los. W e n n ihr zwei da draußen fertig seid, vergiss nicht, die Fenster zuzumachen. Es soll heute Nachmittag regnen.« Ich gab meinem Rugby-Hund einen kleinen Imbiss, dann duschte ich u n d ging zur Arbeit. Als ich am Abend nach Hause kam, wartete Jenny an der H a u s t ü r auf mich, u n d ich konnte sehen, dass sie sauer war. »Schau mal in die Garage«, sagte sie. Als ich die T ü r öffnete, sah ich zuerst Marley, der zerknirscht auf dem Boden lag. Ich bemerkte auf den ersten Blick, dass etwas mit seiner Schnauze und seinen Pfoten nicht stimmte. Sie waren dunkelbraun, voll angetrocknetem Blut. D a n n sah ich mich weiter um, und mir stockte der Atem. Die Garage - unser unzerstörbarer Bunker - war ein einziges Chaos. D e r Teppich war zerfetzt, die Farbe von den Betonwänden gekratzt und das Bügelbrett umgeworfen, sein Bezug hing in Fetzen herunter. Auch die Tür, in der ich n u n stand, hatte es übel erwischt, sie sah aus, als hätte man sie mit einem Häcksler bearbeitet. Im Umkreis von zwei M e tern lagen Holzsplitter auf dem Boden. Marley hatte sich durch die halbe T ü r gefressen, am unteren Ende klaffte ein Loch. An der W a n d klebte Blut, wo Marley sich Schnauze und Pfoten wund gerieben hatte. »Verdammt«, murmelte 88
ich, mehr erschrocken als ärgerlich. Unwillkürlich musste ich an die arme M r s N e d e r m i e r und den Kettensägenmord gegenüber denken. Ich hatte das Gefühl, mitten am Tatort zu stehen. H i n t e r mir hörte ich Jennys Stimme. »Als ich heute Mittag zum Essen nach Hause kam, war noch alles in O r d nung«, sagte sie. »Aber es hat schon nach Regen ausgesehen.« N a c h d e m sie wieder in die Arbeit gefahren war, war ein furchtbares Gewitter mit Regen, Blitz u n d Donner, der einem durch Mark und Bein ging, losgebrochen. Als sie ein paar Stunden später nach Hause gekommen war, hatte sie Marley inmitten dieses Massakers gefunden, das er bei seinem verzweifelten Fluchtversuch veranstaltet hatte. Er war vollkommen panisch gewesen, mit Schaum vor dem Maul. Sein Anblick war so herzergreifend gewesen, dass sie es nicht über sich gebracht hatte, mit ihm zu schimpfen. Außerdem war der Vorfall ja bereits vorbei gewesen; er hätte keine Ahnung gehabt, wofür sie ihn bestrafte. Trotzdem war sie so erschüttert über die Zerstörung unseres neuen H a u ses, an dem wir so hart gearbeitet hatten, dass sie nicht fähig gewesen war, sich um Marley zu k ü m m e r n oder aufzuräumen. »Warte nur, bis H e r r c h e n nach Hause kommt!«, hatte sie ihm gedroht und die T ü r zugeschlagen. Beim Abendessen versuchten wir, den Vorfall nüchtern zu betrachten. Was war passiert? W i r konnten es uns n u r so erklären: Marley, allein und schrecklich verängstigt wegen des Gewitters, hatte beschlossen, dass seine größte Ü b e r l e benschance darin lag, sich durch die T ü r ins H a u s zu graben. Wahrscheinlich hörte er dabei auf irgendeinen uralten Instinkt, den er von seinem U r a h n , dem Wolf, geerbt hatte. Er hatte dieses Ziel mit verzweifeltem Eifer und solcher Effizienz verfolgt, wie ich es ohne die Zuhilfenahme von schweren Maschinen nie für möglich gehalten hätte. 89
N a c h dem Abwasch gingen J e n n y und ich wieder zu Marley in die Garage. Er war wieder ganz der Alte, schnappte sich ein Spielzeug und sprang um uns herum, um uns zum Tauziehen zu animieren. Ich hielt ihn fest, während Jenny ihm mit einem Schwamm das Blut aus dem Fell wusch. D a n n sah er schwanzwedelnd zu, wie wir das von ihm verursachte Chaos aufräumten. W i r warfen die Teppichfetzen und den kaputten Bügelbrettbezug weg, kehrten die Reste unserer T ü r zusammen, wischten das Blut von den Wänden und stellten eine Einkaufsliste für den Baumarkt zusamm e n - im Laufe von Marleys Leben würde ich noch viele solche Listen schreiben. Marley war außer sich vor Glück, dass wir bei ihm waren und ihm bei seinen Umbaumaßnahmen zur H a n d gingen. » D u brauchst dich gar nicht so darüber zu freuen!«, schimpfte ich und brachte ihn für die N a c h t ins H a u s .
NEUN
Der Stoff, aus dem die Männchen sind
J
eder H u n d braucht einen guten Tierarzt, einen gut ausgebildeten Fachmann, der ihn gesund und kräftig erhält und gegen Krankheiten schützt. Auch jeder frischgebackene Hundebesitzer braucht so jemanden, vor allem wegen der guten Ratschläge, Rückversicherungen und unentgeltlichen Beratung, mit der Tierärzte den größten Teil ihrer Zeit verbringen. W i r brauchten mehrere Anläufe, um den richtigen Tierarzt zu finden. Einer war so beschäftigt, dass wir immer nur seinen jungen Assistenten zu Gesicht bekamen, ein anderer war so alt, dass ich dachte, er könne keinen Chihuahua mehr von einer Katze unterscheiden. Ein dritter fühlte sich offensichtlich nur wohlhabenden D a m e n aus Palm Beach mit ihren handtaschengroßen Schoßhündchen verpflichtet. U n d dann stolperten wir über den Tierarzt unserer Träume. Sein N a m e war Jay Butan - alle nannten ihn Dr. Jay -, und er war jung, intelligent, auf der H ö h e der Zeit und überaus freundlich. Dr. Jay konnte H u n d e verstehen wie gute Mechaniker ihre Autos - nämlich intuitiv. Er liebte T i e r e , hatte aber gleichzeitig eine gesunde Einstellung dazu, welchen Stellenwert sie im Leben eines Menschen einnehmen sollten. In diesen ersten M o n a t e n hatten wir praktisch eine Standleitung zu ihm und fragten ihn wegen jeder Kleinigkeit. Als Marley raue, schuppige Stellen an den Ellbogen bekam, hatte ich Angst, er könnte an einer seltenen und si91
cherlich ansteckenden Hautkrankheit leiden. Keine Sorge, sagte Dr. Jay, das seien nur Schwielen vom Liegen auf dem Boden. Eines Tages gähnte Marley mit weit aufgesperrtem Maul, und ich entdeckte eine eigenartige, dunkelrote Verfärbung hinten auf seiner Zunge. Oh Gott!, dachte ich. Er hat Krebs! Zungenkrebs! Keine Sorge, sagte Dr. Jay, das sei bloß ein Muttermal. An diesem N a c h m i t t a g standen Jenny und ich mit Marley im Behandlungszimmer und diskutierten über Marleys zun e h m e n d e neurotische Gewitterangst. W i r hatten gehofft, die Verwüstungsaktion in der Garage sei eine einmalige Sache gewesen, aber wie sich herausstellen sollte, war es nur der Anfang einer lebenslangen Phobie. Obwohl Labradors doch eigentlich den Ruf genossen, hervorragende Jagdhunde zu sein, erschrak unser H u n d bei jedem Geräusch, das lauter war als ein knallender Sektkorken, zu Tode. Feuerwerkskörper, Fehlzündungen und Schüsse jagten ihm schreckliche Angst ein. D o n n e r war das Allerschlimmste. Schon die ersten Anzeichen eines nahenden Gewitters führten bei Marley zur Kernschmelze. W e n n wir zu Hause waren, drängte er sich haidos zitternd und sabbernd an uns und sah sich mit zurückgelegten O h r e n und eingezogenem Schwanz nervös u m . W a r er allein, schlug seine Angst in Zerstörungswut um, und er machte alles platt, was zwischen ihm und der vermeintlichen Rettung lag. Eines Tages kam Jenny nach Hause, als sich draußen ein Gewitter zusammenbraute, und fand Marley mit vor Angst geweiteten Augen auf der Waschmaschine stehend vor, wo er nervös herumtänzelte. W i e er dort hinaufgekommen war und was er sich davon versprochen hatte, fanden wir nie heraus. Menschen spielten schließlich auch manchmal verrückt, warum sollte es bei H u n d e n anders sein? Dr. Jay drückte mir ein Gläschen mit gelben Tabletten 92
in die H a n d und sagte: » D i e können Sie bedenkenlos anwenden.« Es handelte sich um ein Beruhigungsmittel, das, wie er sich ausdrückte, »Marley die größte Angst n e h m e n würde«. Die Strategie dabei war, dass Marley mithilfe des Beruhigungsmittels ruhiger mit einem Gewitter fertig werden und so einsehen könnte, dass es sich dabei nur um h a r m losen Krach handelte. Angst vor D o n n e r war nichts U n g e wöhnliches für einen H u n d , versicherte er uns, vor allem in Florida, wo in den heißen Sommermonaten beinahe jeden Nachmittag dicke Gewitterwolken über die Halbinsel rollten. Marley beschnüffelte das Glas in meiner H a n d , offensichtlich konnte er es kaum erwarten, seine Drogenkarriere zu beginnen. Dr. Jay kraulte Marleys Hals und druckste h e r u m , als wollte er noch etwas Wichtiges sagen. » U n d Sie sollten langsam ernsthaft darüber nachdenken, ihn kastrieren zu lassen«, meinte er schließlich. »Kastrieren lassen?«, wiederholte ich ungläubig. »Sie meinen . . . « I c h sah auf Marleys imponierende H o d e n hinunter, die zwischen seinen Hinterbeinen hin und her schwangen. Sie waren beinahe grotesk groß. Dr. Jay sah ebenfalls hinunter und nickte. Ich muss wohl geseufzt haben, vielleicht habe ich mir sogar selbst an die entsprechende Stelle gegriffen, denn er fügte hinzu: »Es ist ganz schmerzlos, und er wird danach wesentlich entspannter sein.« Dr. Jay wusste, was für eine Herausforderung Marley für uns darstellte. Er war so etwas wie unser Kummerkasten. Er wusste von der katastrophalen Episode in der H u n d e s c h u le, von Marleys d u m m e n Streichen, seiner Zerstörungswut, seiner Hyperaktivität. U n d in letzter Zeit hatte Marley mit seinen sieben M o n a t e n angefangen, alles zu bespringen, was sich bewegte, einschließlich unserer Gäste. »Das wird einfach nur diese ganze nervöse sexuelle Energie beseitigen 93
und einen glücklicheren, ruhigeren H u n d aus ihm machen«, sagte er. Er versprach, dass der Eingriff Marleys sonnige Ausgelassenheit nicht dämpfen würde. » G r o ß e r Gott, ich weiß nicht . . . « , antwortete ich. »Das ist so ... so endgültig.« J e n n y dagegen hatte keinerlei solche Einwände. »Dann schneiden wir die Dinger eben ab!«, sagte sie nur. »Aber dann können wir nicht m e h r mit ihm züchten«, warf ich ein. »Wollen wir denn seine Linie nicht fortführen?« Ich hatte die beeindruckenden Zuchtprämien vor Augen. W i e d e r schien Dr. Jay sich seine W o r t e genau zu überlegen. »Ich glaube, Sie sollten das realistisch sehen«, sagte er. »Marley ist ein toller Familienhund, aber ich bezweifle, dass er die nötigen Kriterien für einen Zuchtrüden erfüllen würde.« Er versuchte, so diplomatisch wie möglich zu sein, aber sein Gesichtsausdruck verriet ihn. Auf seiner Stirn stand in großen Lettern: Guter Mann, um der kommenden Generationen willen müssen wir diesen genetischen Fehlgriff unter allen Umständen isolieren! Ich sagte, wir würden es uns überlegen, dann gingen wir mit unserem neuen Drogenvorrat nach Hause. W ä h r e n d wir also erwogen, Marleys Männlichkeit wegzuoperieren, zeigte J e n n y auf einmal ungewöhnlich großes Interesse an meiner. Dr. Sherman hatte seine Zustimmung zu einem erneuten Schwangerschaftsversuch gegeben. U n d n u n verfolgte sie dieses Ziel mit der Entschlossenheit eines Olympiateilnehmers. Die Zeiten, als wir einfach nur die Pille weggelassen und den Dingen ihren Lauf gelassen hatten, waren vorbei. Im Kampf um die Befruchtung ging J e n n y n u n in die Offensive. U n d dazu brauchte sie mich als Verbündeten, der den Munitionsnachschub sicherte. W i e 94
die meisten M ä n n c h e n hatte ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr jeden wachen M o m e n t darauf verwendet, das andere Geschlecht davon zu überzeugen, dass ich ein geeigneter Geschlechtspartner war. Endlich hatte ich jemanden gefunden, der dem zustimmte. Ich hätte begeistert sein sollen. Z u m ersten Mal in meinem Leben begehrte mich eine Frau m e h r als ich sie. D e r Traum jedes Mannes. Kein Betteln mehr, keine Schmeicheleien. Ich war begehrt wie ein bewährter Zuchtrüde. Ich hätte außer mir sein sollen. Aber plötzlich artete das Ganze in Arbeit aus, noch dazu in anstrengende Arbeit. Jenny wollte keine fröhliche, ausgelassene N u m m e r von mir, sie wollte ein Baby. U n d das hieß, dass ich Leistung bringen musste. Das war kein Spaß mehr. Die schönste aller Nebensachen wurde über N a c h t zu einer klinischen Zwangssituation einschließlich Temperaturmessung, Menstruationskalender und Eisprunglisten. Ich hatte das Gefühl, in Diensten der Q u e e n zu stehen. Das Ganze war ungefähr so erhebend wie der Besuch bei einem Steuerberater. J e n n y war gewöhnt, dass ich auf die kleinste Aufforderung ihrerseits freudig reagierte, und sie dachte, dass das immer noch der Fall war. Ich war zum Beispiel gerade dabei, den Abfallzerkleinerer zu reparieren, und sie kam mit ihrem Kalender in der H a n d herein und sagte: »Ich hatte meine letzte Periode am Siebzehnten, was bedeutet ...« - sie zählte von diesem D a t u m an vorwärts -, »dass wir es J E T Z T versuchen müssen.« Die Grogans konnten noch nie gut unter Druck arbeiten, und ich war dabei keine Ausnahme. Es war nur eine Frage der Zeit, bis mir die ultimative D e m ü t i g u n g widerfuhr: Ich konnte nicht. U n d als das einmal geschehen war, war das Spiel gelaufen. Mein Selbstvertrauen war dahin, meine Nerven lagen bloß. Ich wusste: W e n n es einmal passiert war, dann konnte es immer wieder passieren. M e i n Versagen wur95
de zu einem Selbstläufer. Je m e h r ich mich bemühte, meinen ehelichen Pflichten nachzukommen, desto weniger konnte ich mich entspannen. Ich vermied jede Art von körperlicher Zuwendung, damit J e n n y nicht auf falsche Gedanken kam. Ich entwickelte Todesangst vor dem M o m e n t , wo meine Frau mich bitten würde, ihr die Kleider vom Leib zu reißen u n d mit ihr zu schlafen. So weit war es gekommen. Ich fing schon an mir vorzustellen, dass ein Leben in der zölibatären Abgeschiedenheit eines abgelegenen Klosters vielleicht gar kein so schlechter Zukunftsentwurf war. Aber J e n n y gab nicht so leicht auf. Sie war der Jäger, ich war die Beute. Als ich eines M o r g e n s in meiner Zeitungsredaktion saß, die n u r zehn M i n u t e n von zu Hause entfernt war, rief J e n n y mich von der Arbeit aus an. Ob ich mich zu H a u s e mit ihr zum Mittagessen treffen wollte? Du meinst, ganz alleine? Ohne Aufpasser? » W i r könnten uns auch irgendwo in einem netten Restaurant treffen«, entgegnete ich. Ein sehr gut besuchtes Restaurant. Am besten mit ein paar Kollegen. U n d beiden Schwiegermüttern. »Ach, k o m m schon«, schmollte sie. »Das wird lustig!« D a n n senkte sie ihre Stimme zu einem Flüstern. » H e u t e ist ein ... guter Tag. Ich glaube, ich ... habe einen Eisprung.« Eine jähe Welle der Angst überrollte mich. O Gott, nein. Nicht das E- Wort! D e r Druck war wieder da. Es war Zeit, sich zu beweisen oder ruhmlos unterzugehen. Sieg oder Niederlage, im wahrsten Sinne des Wortes. Bitte, zwing mich nicht dazu, wollte ich ins Telefon flehen. Stattdessen sagte ich so cool wie möglich: »Natürlich. Ist halb eins okay?« Als ich die H a u s t ü r öffnete, war Marley wie immer zur Stelle, um mich zu begrüßen. J e n n y dagegen war nirgends zu sehen. Ich rief nach ihr. »Ich bin im Bad«, antwortete sie. 96
»Bin gleich da!« Also sah ich die Post durch, um die Zeit totzuschlagen. Ich war in Weltuntergangsstimmung. U n g e fähr so mussten sich Menschen fühlen, wenn sie auf eine niederschmetternde Diagnose warteten. »Hallo, Schatz«, sagte da eine Stimme hinter mir, und als ich mich umdrehte, stand Jenny in einem H a u c h aus Seide vor mir. D u r c h das Top, das an zwei unglaublich dünnen Trägern von ihren Schultern hing, konnte ich ihren flachen Bauch sehen. Ihre Beine hatten noch nie länger gewirkt. » W i e sehe ich aus?«, fragte sie und stemmte kokett die H ä n d e in die Hüften. Sie sah u n glaublich aus. In Sachen Nachtwäsche war J e n n y sonst ein großer Fan von Sleepshirts, u n d ich war mir sicher, dass sie sich in diesem verführerischen Outfit albern vorkam. D o c h es hatte den gewünschten Effekt. Sie huschte ins Schlafzimmer, mit mir im Schlepptau. Einen M o m e n t später lagen wir uns auch schon in den Armen. Ich schloss die Augen und konnte fühlen, wie sich mein alter, verloren geglaubter Freund meldete. D e r Zauber kehrte zurück. Du schaffst das, John. Ich versuchte, mir die schmutzigsten Dinge vorzustellen. Diesmal klappt es! M e i n e Finger fummelten an den dünnen Trägerchen herum. Spiel mit, John. Kein Druck. Jetzt konnte ich ihren Atem feucht und warm auf meinem Gesicht fühlen. Mmmmh, sexy. Aber was war das? Irgendetwas roch komisch. Ihr Atem. Irgendwie vertraut und fremd zugleich, nicht unangenehm, aber auch nicht besonders verlockend. Ich kannte diesen Geruch, aber ich konnte ihn nicht einordnen. Ich zögerte. Was tust du da, du Idiot? Vergiss diesen Geruch. Konzentrier dich, Mann! Konzentrier dich! Aber dieser Geruch - ich bekam ihn einfach nicht aus dem Kopf. Du lässt dich ablenken, John. Tu das nicht. Was war das nur? Bleib bei der Sache! M e i n e N e u gier war stärker. Lass es, Junge, lass es! Ich schnupperte. E t was zu essen, ja, das war es. Cracker? N e i n . Chips waren es 97
auch nicht. Auch kein Thunfisch. Ich war nah dran. H u n d e kuchen?! Das war es! Ihr Atem roch nach Hundekuchen. Aber warum? Ich überlegte, ich hörte tatsächlich eine kleine Stimme in meinem Kopf, die fragte: Warum hat Jenny Hundekuchen gegessen? U n d gleichzeitig fühlte ich ihre Lippen auf meinem Hals ... W i e konnte sie meinen Hals küssen und mir gleichzeitig ins Gesicht atmen? Das ging doch gar ... 0 ... mein ... Gott! Ich öffnete die Augen. Da, wenige Zentimeter von mein e m Gesicht entfernt, ragte Marleys riesiger Kopf auf. Sein Kinn ruhte auf der Matratze und er hechelte mit seiner Sabberschnauze in die Laken. Seine Augen waren halb geschlossen, und er sah viel zu verliebt aus. »Böser H u n d ! « , schrie ich und fuhr auf dem Bett zurück. »Nein! N e i n ! Raus mit dir!«, befahl ich ihm schrill. »Los! Ab mit dir!« D o c h es war zu spät. D e r Zauber war verflogen. Das Kloster war wieder da. Wegtreten, Soldat. Am nächsten M o r g e n vereinbarte ich einen Termin, um Marley kastrieren zu lassen. Ich sagte mir, wenn ich schon für den Rest meines Lebens keinen Sex mehr haben würde, dann sollte es ihm nicht besser ergehen. Dr. Jay sagte, wir könnten Marley in der Praxis abgeben, bevor wir zur Arbeit fuhren, und ihn danach auf dem H e i m w e g wieder abholen. Eine W o c h e später war es so weit. Als J e n n y und ich zum G e h e n bereit waren, sprang Marley fröhlich herum, weil er spürte, dass ein Ausflug bevorstand. Für Marley war jeder Ausflug schön, es spielte keine Rolle, wohin wir gingen oder wie lange wir blieben. D e n Müll raustragen? Toll! Um die Ecke zum Supermarkt, um Milch zu kaufen? Ich bin dabei! Ich fühlte, wie sich mein schlechtes Gewissen regte. D e r arme Kerl hatte keine Ahnung, was ihn 98
erwartete. Er vertraute uns blind, und wir planten heimlich, ihn entmannen zu lassen! Konnte es einen gemeineren Verrat geben? » K o m m her!«, sagte ich zu ihm und warf ihn spielerisch zu Boden, wo ich ihm fest den Bauch kraulte. »Es wird nicht schlimm, keine Sorge. Sex wird völlig überbewertet.« Aber nicht einmal ich, der ich in den letzten W o c h e n so schlechte Erfahrungen gemacht hatte, konnte das wirklich glauben. W e m log ich etwas vor? Sex war toll. Sex war unglaublich. W i r würden den armen H u n d um das größte Vergnügen bringen, das das Leben zu bieten hat. D e r arme Kerl. Ich fühlte mich furchtbar. Und ich fühlte mich noch viel schlechter, als ich nach ihm pfiff und er aus der T ü r galoppiert kam und ins Auto sprang, voller Vertrauen, dass ich ihm nichts Böses wollte. Er war aufgedreht und bereit, jedes Abenteuer mitzumachen, zu dem ich ihn mitnehmen würde. J e n n y fuhr, ich saß auf d e m Beifahrersitz. W i e immer balancierte Marley mit den Vorderpfoten auf der Mittelkonsole; seine Schnauze berührte den Rückspiegel. Jedes Mal, wenn J e n n y bremste, krachte er gegen die Windschutzscheibe, doch das war Marley egal. Er durfte bei seinen beiden besten Freunden vorne im Auto mitfahren. Gab es etwas Schöneres im Leben? Ich kurbelte mein Fenster herunter, und Marley lehnte sich zu mir herüber und versuchte, etwas von den Gerüchen draußen zu erhaschen. Bald hatte er sich ganz auf meinen Schoß geschoben und seine Nase so fest in den schmalen Fensterspalt geklemmt, dass er bei jedem Atemzug schnarchte. Warum auch nicht?, dachte ich. Dies war seine letzte Autofahrt als voll ausgerüstetes Mitglied des männlichen Geschlechts, da war ein wenig frische Luft das Mindeste, was ich i h m gewähren konnte. Ich kurbelte das Fenster weit genug h e r u n ter, dass er die Schnauze hinausstrecken konnte. Er genoss 99
den W i n d um die Nase sichtlich, und ich kurbelte das Fenster noch ein wenig weiter herunter, sodass er den ganzen Kopf hinausstrecken konnte. Seine O h r e n flogen im Fahrtwind und seine Z u n g e hing ihm weit aus dem Maul, als sei er von all den Gerüchen der Stadt ganz berauscht. Mein Gott, war er glücklich. Als wir den Dixie Highway hinunterfuhren, sagte ich Jenny, wie elend mir bei dem Gedanken zumute war, was wir mit ihm vorhatten. Sie wollte gerade etwas zweifelsfrei höchst Herablassendes zu meinen Bedenken sagen, als ich bemerkte, dass Marley beide Vorderpfoten auf den Rand des halb offenen Fensters gestellt hatte. Zunächst sah ich ihm n u r neugierig zu, ohne größere Bedenken zu haben. Im nächsten M o m e n t hing er schon bis zu den Schultern aus dem Fenster. Es fehlten nur noch Fliegerbrille und Schal, dann hätte er ausgesehen wie ein Weltkriegspilot. »John, er macht mich nervös«, sagte Jenny. »Keine Sorge«, gab ich zurück, »er will nur ein wenig frische Luft -« In diesem M o m e n t schob er seine Vorderbeine aus dem Fenster, bis seine Achselhöhlen auf dem Fensterrand ruhten. »John, halt ihn fest! H a l t ihn fest!« D o c h ehe ich irgendetwas tun konnte, war Marley dabei, von meinem Schoß aus dem offenen Fenster unseres Autos zu klettern, und das bei voller Fahrt. Sein Hinterteil hing in der Luft, mit den Hinterpfoten suchte er verzweifelt nach Halt. D a n n passierte es. Als sein Körper an mir vorbeirutschte, griff ich nach ihm und erwischte ihn gerade noch mit der linken H a n d am Schwanz. J e n n y trat mitten im starken Verkehr auf die Bremse; Marley hing n u n ganz aus dem Fenster des fahrenden Autos. Ich hielt ihn mit eisernem Griff am Schwanz fest, saß aber so verdreht auf dem Beifahrer100
sitz, dass ich nicht mit der anderen H a n d nach ihm greifen konnte. Marley trabte wie ein Irrer mit den Vorderpfoten auf dem Gehsteig neben dem Auto her. Jenny blieb schließlich auf der Abbiegerspur stehen. H i n ter uns stauten sich die Autos und hupten. » U n d jetzt?«, schrie ich. Ich steckte in der Klemme. Ich konnte ihn ja nicht einfach wieder durch das Fenster hereinziehen. Ich konnte auch die T ü r nicht öffnen oder auch nur meinen anderen Arm bewegen. U n d ich wagte es auch nicht, ihn loszulassen, denn dann wäre er sicher einem der Autofahrer, die n u n wütend hinter uns ausschwenkten, vor die Kühlerhaube gelaufen. Ich klammerte mich an Marleys Schwanz, als ginge es um mein Leben, das Gesicht an das Fenster gepresst, n u r wenige Zentimeter von seinem wild hin und her schwingenden Hodensack entfernt. Jenny schaltete den Warnblinker ein und rannte um das Auto herum auf meine Seite, wo sie ihn packte u n d so lange am Halsband festhielt, bis ich ausgestiegen war und ihr half, ihn wieder ins Auto zu manövrieren. Unser kleines D r a m a hatte sich direkt vor einer Autowerkstatt abgespielt, und als Jenny den M o t o r wieder anließ, sah ich, dass alle M e c h a n i ker herausgekommen waren, um dem Schauspiel zuzusehen. Sie lachten so sehr, dass ich dachte, sie würden sich in die Hosen machen. »Danke, Jungs!«, rief ich. »Schön, dass wir euch den Morgen versüßen konnten!« Als wir bei der Klinik ankamen, führte ich Marley an der kurzen Leine hinein, nur für den Fall, dass er wieder auf irgendwelche D u m m h e i t e n kam. Meine Schuldgefühle waren wie weggeblasen, mein Entschluss stand fest. »Diesmal kommst du mir nicht davon, Eunuch!«, erklärte ich ihm. Er zerrte wild an der Leine, um all die Gerüche der anderen Tiere aufzunehmen. Im W a r t e r a u m versetzte er ein paar Katzen in Todesangst und warf ein Gestell mit Informations101
broschüren u m . Ich übergab ihn Dr. Jays Assistenten und sagte: »Tun Sie es.« Als ich Marley an diesem Abend abholte, war er ein anderer H u n d . Er war noch schwach von der Operation und bewegte sich sehr vorsichtig. Seine Augen waren blutunterlaufen und glasig von der Narkose, und er war immer noch b e n o m m e n . U n d wo vorher so stolz seine Kronjuwelen gebaumelt hatten, war j e t z t . . . nichts. N u r eine kleine, verschrumpelte Hautfalte. Die unverwüstliche Marley-Linie war damit offiziell und unwiderruflich zu Ende.
ZEHN
Ein irischer Segen
U
nser Leben wurde immer m e h r von Arbeit bestimmt. Die Arbeit bei der Zeitung. Die Arbeit am H a u s . Im Garten. Selbst unsere Bemühungen, schwanger zu werden, arteten in Arbeit aus. U n d dann noch der Vollzeitjob, Marley zu erziehen. In vielem war er wie ein Kind, und er beanspruchte die gleiche Aufmerksamkeit und Zeit wie ein Kind. So bekamen wir eine A h n u n g davon, was für eine Verantwortung uns erwartete, sollten wir jemals eine Familie haben. Aber nur bis zu einem gewissen Grad. D e n n wenn wir auch nicht viel vom Elternsein verstanden, so wussten wir doch, dass wir unsere Kinder nicht einfach mit einer Schüssel W a s ser in die Garage sperren konnten, wenn wir morgens aus dem Haus mussten.
W i r waren noch nicht einmal zwei Jahre verheiratet u n d fühlten doch schon die Last der Verantwortung eines erwachsenen, verheirateten Lebens. W i r mussten da raus. W i r brauchten Urlaub, nur wir zwei, weit weg von all den täglichen Verpflichtungen. Eines Abends überraschte ich J e n n y mit zwei Tickets nach Irland. W i r würden drei W o c h e n weg sein. Keine feste Reiseroute, keine Besichtigungstouren, keine Sehenswürdigkeiten. N u r ein Mietauto, eine Landkarte und ein Bed-and-Breakfast-Führer. Schon das Gefühl, die Tickets in der H a n d zu haben, n a h m uns eine Zentnerlast von den Schultern. Zuerst jedoch mussten wir uns noch um 103
ein paar Dinge kümmern, in erster Linie um Marley. Eine H u n d e p e n s i o n schied von vorneherein aus. Er war zu jung, zu verrückt, zu wild, um dreiundzwanzig Stunden am Tag in einem Zwinger eingesperrt zu sein. W i e Dr. Jay es vorausgesagt hatte, hatte die Kastration Marleys ausgelassenes W e sen nicht im Geringsten beeinflusst. Genauso wenig seine unendliche Energie oder seine Verrücktheiten. Außer dass er kein Interesse m e h r daran zeigte, leblose Gegenstände zu besteigen, war er ganz der Alte. Er war viel zu wild - und zu unberechenbar, wenn er in Panik geriet -, um ihn bei F r e u n d e n abzugeben. O d e r bei Feinden. W i r brauchten ein e n Hundesitter, der bei uns im H a u s wohnte. Natürlich konnte das nicht einfach irgendjemand sein, denn Marley stellte einiges an Herausforderungen dar. W i r brauchten jemanden, der verantwortungsvoll, verlässlich, sehr geduldig u n d stark genug war, um gute dreißig Kilo durchgehenden Labrador zu halten. W i r machten eine Liste mit den N a m e n aller Freunde, N a c h b a r n u n d Kollegen, die uns einfielen, und strichen dann einen nach dem anderen aus. Partytyp. Fällt weg. Zu zerstreut. Fällt weg. Hasst Hundesabber. Fällt auch weg. Zu schüchtern, um auf einen Dackel aufzupassen, geschweige denn auf einen Labrador. Fällt weg. Allergisch. Fällt weg. N i c h t bereit, H u n d e d r e c k wegzuräumen. Fällt weg. Schließlich stand n u r noch ein einziger N a m e auf der Liste. Kathy arbeitete in meinem Büro und war Single und ungebunden. Sie liebte T i e r e und träumte davon, eines Tages ihre W o h n u n g gegen ein H a u s mit Garten einzutauschen. Sie war sportlich und ging gerne spazieren. Zugegeben, sie war schüchtern und hatte ein sanftes Wesen, was es ihr wahrscheinlich schwer machen würde, unserem Alpha-Marley ihren Willen aufzuzwingen, ansonsten jedoch war sie perfekt. U n d das Beste war, dass sie zustimmte. 104
Ich schrieb ihr eine Liste mit Anweisungen, die nicht sorgfältiger und ausgefeilter hätte sein können, wenn wir ihr ein schwer krankes Kind anvertraut hätten. Das M a r l e y - M e m o war sechs Seiten lang und lautete folgendermaßen: F Ü T T E R N : Marley bekommt dreimal am Tag jeweils zwei Messbecher Futter. D e r Messbecher ist in der T ü t e . Bitte füttere ihn morgens, wenn du aufgestanden bist, und abends, wenn du nach Hause kommst. Die Fütterung mittags übernehmen die Nachbarn. Das bedeutet sechs Messbecher pro Tag, aber wenn er sehr hungrig wirkt, gib i h m bitte einen Messbecher mehr. D e n k daran, dass alles, was hineinkommt, auch wieder hinaus muss. Siehe » G A S S I G E H E N « weiter unten. V I T A M I N E : Marley bekommt jeden M o r g e n eine Vitamintablette. Am besten lässt du sie auf den Boden fallen und tust so, als ob er sie auf keinen Fall haben dürfe. W e n n er meint, dass es verboten ist, wird er die Tablette hinunterschlingen. W e n n das aus irgendeinem G r u n d nicht funktioniert, kannst du versuchen, die Tablette in einem H u n d e k u c h e n zu verstecken. W A S S E R : Bei heißem W e t t e r muss ihm immer genug Wasser zur Verfügung stehen. W i r wechseln das Wasser in seiner Schüssel neben dem Fressnapf einmal täglich aus und füllen es wenn nötig auf. Vorsicht: Marley liebt es, die Schnauze in die Wasserschüssel zu tauchen u n d U - B o o t zu spielen. Das gibt immer eine ziemliche Schweinerei. Er kann auch erstaunlich viel Wasser in seinen Lefzen tragen, das er dann überall verteilt, wenn er losläuft. W e n n du es nicht verhinderst, wird er seine Schnauze an deiner Kleidung und am Sofa abwischen. Ein Letztes noch: N a c h einem ordentlichen Schluck Wasser schüttelt er sich gern, sodass der Sabber an den W ä n d e n , auf Lampenschirmen etc. landet. W i r versuchen das immer abzuwischen, bevor 105
es antrocknet, denn dann bekommt man es praktisch gar nicht m e h r ab. F L Ö H E U N D Z E C K E N : W e n n du Ungeziefer an ihm entdeckst, kannst du ihn mit dem Spray einsprühen, das wir bereitgestellt haben. W i r haben auch ein Insektenspray, mit dem du gegebenenfalls den Teppich etc. bearbeiten kannst. Flöhe sind klein, schnell und schwer zu fangen, aber sie gehen unserer Erfahrung nach n u r selten auf Menschen über, mach dir also keine Sorgen. Zecken sind größer und langsam, manchmal entdecken wir eine in seinem Fell. W e n n du eine entdeckst und es dir zutraust, dann fang sie und zerdrücke sie in einem Taschentuch (eventuell brauchst du dazu sogar die Fingernägel, sie sind erstaunlich zäh), oder spüle sie ins Waschbecken oder in die Toilette (falls die Zecke sich mit Blut voll gesogen hat, ist das die beste Entsorgungsmöglichkeit). Wahrscheinlich hast du davon gehört, dass Zecken gefährliche Krankheiten mit schweren Folgeschäden auf den M e n s c h e n übertragen können, aber mehrere Tierärzte haben uns versichert, dass eine Ansteckungsgefahr hier in Florida sehr gering ist. Um sicherzugehen, solltest du dir i m m e r gründlich die H ä n d e waschen, wenn du eine Zecke entfernt hast. Willst du eine Zecke aus Marleys Fell holen, dann gib ihm am besten zur Ablenkung ein Spielzeug ins Maul. D a n n nimmst du die betroffene Stelle Fell mit der einen H a n d und benutzt die Fingernägel der anderen als Pinzette. U n d wenn Marley zu sehr stinkt und du es dir zutraust, kannst du ihn im Planschbecken im Garten baden (wir haben es extra zu diesem Zweck angeschafft), aber zieh vorher einen Badeanzug an. Du wirst sicher nass! O H R E N : Marley hat immer viel Ohrenschmalz in den O h ren. W e n n man das nicht behandelt, kann es zu Infektionen k o m m e n . Wasch ihm in unserer Abwesenheit bitte zweimal mit einem Wattebausch und der blauen Waschlösung so viel 106
Schmalz wie möglich aus den O h r e n . Das ist eine ziemlich eklige Angelegenheit, am besten trägst du deshalb alte Sachen. G A S S I G E H E N : W e n n man ihn morgens nicht hinauslässt, stellt Marley in der Garage alles Mögliche an. D a m i t du deine Ruhe hast, solltest du ihn auch abends vor dem Schlafengehen noch einmal hinauslassen, aber das ist nicht unbedingt notwendig. Wahrscheinlich musst du i h m zum Spazierengehen das Kettenhalsband anlegen, n i m m es ihm danach aber immer gleich wieder ab! Er könnte sich damit strangulieren, und wie ich Marley kenne, würde er das auch schaffen. E I N F A C H E K O M M A N D O S : Marley sollte beim Spazierengehen bei Fuß gehen. Stell dich dazu rechts neben ihn, dann gibst du das K o m m a n d o : »Marley, bei Fuß!« u n d machst einen Schritt mit dem linken Fuß. Gleichzeitig ziehst du einmal stark an der Leine. Das klappt normalerweise ganz gut (er war sogar auf der Hundeschule!). W e n n er nicht an der Leine ist, folgt er normalerweise gut auf das K o m m a n d o : »Marley, hierher!« Wichtig: W e n n du ihn rufst, solltest du aufrecht stehen, nicht hocken! G E W I T T E R : Marley verliert bei Gewittern oder starken Regengüssen manchmal ein bisschen die Nerven. Seine Beruhigungstabletten sind im Arzneischrank. G i b ihm eine halbe Stunde, bevor das Gewitter über euch ist, eine Tablette (du wirst sehen, bald bist du perfekt im Wettervorhersagen!). Es ist nicht ganz einfach, Marley eine Tablette zu verabreichen. Er frisst sie nicht wie die Vitamintabletten, selbst wenn du sie auf den Boden fallen lässt und so tust, als dürfte er sie auf keinen Fall haben. Die erfolgreichste M e t h o d e besteht darin, sich über ihn zu stellen und ihm mit einer H a n d das Maul aufzustemmen. M i t der anderen schiebst du ihm die Tablette so weit wie möglich in den Rachen. Du musst es 107
bis weit in den Rachen schaffen, sonst hustet er sie wieder heraus. D a n n streich ihm so lange über die Kehle, bis er schluckt. Wahrscheinlich musst du danach aufwischen. H A U F E N E I N S A M M E L N : Unter dem Mangobaum liegt eine kleine Schaufel, mit der ich Marleys Haufen einsammle. Ob und wie oft du das tust, bleibt dir überlassen, je nachdem, wie oft du den Garten nutzen möchtest. Pass auf, wo du hintrittst! V E R B O T E N : Die folgenden Dinge erlauben wir Marley NICHT:
- Auf Möbel springen - Möbel, Schuhe, Kissen etc. ankauen - Aus der Toilette trinken (am besten lässt man den D e ckel immer unten, aber Vorsicht: Er kann ihn mit der Schnauze hochklappen!) - D e n Garten umgraben oder irgendwelche Pflanzen ausgraben. Das macht er oft, wenn er findet, dass er zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. - Mülleimer ausleeren (wahrscheinlich musst du ihn auf den Küchentisch stellen) - Leute anspringen, Menschen oder Tiere an unfeinen Stellen beschnüffeln oder sonst wie belästigen. W i r haben auch versucht, ihm abzugewöhnen, Leute in den Arm zu kneifen, denn das k o m m t meistens ganz schlecht an, wie du dir sicher vorstellen kannst. Aber er tut es manchmal trotzdem noch. Gib ihm einfach einen Klaps aufs Hinterteil und weise ihn mit einem strengen »Nein!« zurecht. - Bei Tisch betteln - Gegen die Eingangstür oder eine der Verandatüren drücken (wie du siehst, mussten wir sie schon teilweise ersetzen)
108
Vielen Dank noch einmal, dass du das alles für uns übernimmst, Kathy. Du tust uns einen riesigen Gefallen. Ich weiß nicht, wie wir das Problem sonst gelöst hätten. Ich hoffe, du und Marley werdet gute Freunde, und du hast mit ihm genauso viel Spaß wie wir. Ich zeigte Jenny meine Aufzeichnungen und fragte sie, ob ich etwas vergessen hätte. Sie las sie sich genau durch und sagte dann: »Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Das kannst du ihr unmöglich geben.« Sie wedelte mir mit den Blättern vor der Nase herum. »Zeig ihr das, und du kannst Irland vergessen. Sie ist die Einzige, die sich bereit erklärt hat, das für uns zu tun. W e n n sie das hier liest, ist alles gelaufen. Sie wird davonrennen und erst in Key West wieder stehen bleiben.« Für den Fall, dass ich es immer noch nicht verstanden hatte, wiederholte sie: »Was hast du dir n u r dabei gedacht?« » D u meinst also, es ist zu viel?« Aber ich war schon immer ein Freund von Ehrlichkeit und zeigte Kathy meine Liste trotzdem. Kathy zuckte zwar ein paar Mal zusammen, besonders bei dem Absatz über die Zeckenentfernung, aber sie behielt alle Befürchtungen für sich. Sie sah zwar ein wenig eingeschüchtert aus, war jedoch viel zu freundlich, um ihr Angebot zurückzunehmen. » G u t e Reise!«, sagte sie. » W i r schaffen das schon.« Irland war genau so, wie wir es uns erträumt hatten. W u n derschön, ländlich, entspannend. Das W e t t e r war die meiste Zeit herrlich sonnig, was die Einheimischen zu großer Sorge wegen einer drohenden D ü r r e bewog. W i e wir es uns vorgenommen hatten, planten wir überhaupt nichts und buchten keine einzige Rundfahrt. W i r ließen uns einfach treiben, fuhren an der Küste entlang, machten halt, um 109
einzukaufen oder zu wandern oder ein Guinness zu trinken oder einfach n u r aufs M e e r hinauszuschauen. W i r hielten an, um mit Bauern zu plaudern, die gerade ihr H e u einholten, oder um uns gegenseitig mit Schafen auf der Straße zu fotografieren. W e n n wir an einer interessanten Wegkreuzung vorbeikamen, bogen wir ab. W i r konnten uns gar nicht verfahren, weil wir ja kein festes Ziel hatten. All unsere Pflichten und Verantwortungen zu Hause waren in weite Ferne gerückt. Jeden Abend suchten wir uns eine Übernachtungsmöglichkeit. Es waren immer Zimmer, die von Privadeuten angeboten wurden, freundlichen Witwen, die uns verhätschelten, uns Tee servierten, unsere Betten machten und uns die imm e r gleiche Frage zu stellen schienen: »Wollen Sie nicht bald eine Familie gründen?« U n d dann ließen sie uns in u n serem Z i m m e r allein, nicht ohne uns vorher ein wissendes, seltsam hintergründiges Lächeln zuzuwerfen, bevor sie die T ü r hinter sich schlossen. J e n n y und ich kamen allmählich zu der Überzeugung, dass es in Irland gesetzlich vorgeschrieben war, über jedes Gästebett eine lebensgroße Abbildung des Papstes oder der Jungfrau Maria zu hängen. Manchmal auch beides. Einmal fanden wir sogar einen überdimensionalen Rosenkranz über dem Kopfende. Das Irische Keuschheitsgesetz für Reisende schrieb weiterhin vor, dass alle Betten besonders laut knarzen mussten, sobald sich einer der Übernachtungsgäste auch n u r umdrehte. Die U m g e b u n g war für amouröse Abenteuer ungefähr so geeignet wie ein Kloster. W i r waren im Haus fremder Leute - sehr katholischer Leute -, mit dünnen W ä n den, einem knarzenden Bett und Heiligen- und Marienstatuen überall, und dazu noch einer neugierigen Vermieterin, die höchstwahrscheinlich im N e b e n z i m m e r ihr O h r an die W a n d drückte. Es war wirklich der letzte O r t der Welt, um 110
Sex zu haben. Was mein Verlangen nach meiner Frau natürlich ins Unermessliche steigerte. Abends löschten wir das Licht und krochen ins Bett, die Bettfedern knarzten unter uns, und sofort schob ich meine H a n d unter Jennys Shirt. »Auf gar keinen Fall!«, flüsterte sie dann. »Warum nicht?«, flüsterte ich zurück. »Bist du verrückt? M r s O'Flaherty schläft genau auf der anderen Seite dieser Wand!« » N a und?« »Das geht nicht!« »Natürlich geht das.« »Sie wird alles hören.« »Wir sind ganz leise.« »Ja, klar!« »Ich verspreche es. W i r bewegen uns nur.« »Aber zuerst musst du ein T-Shirt über den Papst hängen«, gab sie schließlich nach. » W e n n der uns die ganze Zeit anstarrt, mache ich gar nichts.« Sex hatte plötzlich so etwas ... Verbotenes. Es war, als wäre ich wieder auf der Highschool und würde mich unter den misstrauischen Augen meiner M u t t e r davonschleichen. W e n n man in dieser U m g e b u n g Sex hatte, dann ging m a n das Risiko ein, am nächsten M o r g e n am gemeinsamen F r ü h stückstisch in eine peinliche Situation zu kommen, wenn Mrs O'Flaherty mit hochgezogenen Augenbrauen Eier und gebratene Tomaten servierte und mit einem anzüglichen Lächeln fragte: » U n d , hat das Bett Ihnen zugesagt?« Irland war von Küste zu Küste eine N o - S e x - Z o n e . U n d das war für mich Anreiz genug. W i r trieben es wie die Karnickel. Dabei machte sich J e n n y ständig Sorgen um ihr großes Baby zu Hause. Alle paar Tage fütterte sie ein Telefon mit 111
einer Handvoll Münzen, um sich bei Kathy nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Ich stand dabei draußen vor der Telefonzelle und hörte Jennys Teil des Gesprächs. »Wirklich? ... Im Ernst? ... M i t t e n im Verkehr? ... Aber dir ist doch nichts passiert, oder? ... G o t t sei Dank ... Ja, ich hätte auch geschrien ... Was? Deine Schuhe? ... O nein! U n d deine Geldbörse? ... Natürlich bezahlen wir die Reparatur ... G a r nichts m e h r übrig? ... Natürlich, wir bestehen darauf, sie dir zu ersetzen ... Er hat was? ... Nasser Zement, sagst du? W i e kann denn so was passieren?« U n d so weiter und so weiter. Jeder Anruf war eine Litanei von Marleys Missetaten, eine schlimmer als die andere, viele davon überraschten sogar uns, die wir doch inzwischen leidgeprüfte Welpenbesitzer waren. Marley war der unverbesserliche Schüler u n d Kathy die unerfahrene Aushilfslehrerin. Er hatte freie Bahn. Als wir wieder zu Hause ankamen, schoss Marley aus dem Haus, um uns zu begrüßen. Kathy stand in der Tür, sie sah m ü d e und abgespannt aus. Sie hatte den leeren Blick eines erschöpften Soldaten nach einer besonders verlustreichen Schlacht. Ihre Tasche stand fertig gepackt auf der vorderen Veranda. Sie hielt ihre Autoschlüssel schon in der Hand, als könne sie es gar nicht erwarten, zu entkommen. W i r überreichten ihr unsere mitgebrachten Geschenke, dankten ihr überschwänglich und sagten, sie solle sich nur keine Gedanken wegen der kaputten T ü r e n und anderer Schäden machen. D a n n entschuldigte sie sich höflich und war fort. Soweit wir es nachvollziehen konnten, war es Kathy überhaupt nicht gelungen, Marley etwas zu befehlen oder ihn gar in den Griff zu bekommen. U n d mit jedem Sieg war er kühner geworden. Er hatte alles Bei-Fuß-Gehen vergessen und sie hingezerrt, wo er wollte. Er hatte sich geweigert, zu ihr zu kommen. Er hatte sich alles geschnappt, was ihm 112
gefiel - Schuhe, Geldbeutel, Kissen -, und es nicht wieder hergegeben. Er hatte ihr Essen vom Teller gestohlen. D e n Abfall auseinandergepflückt. Er hatte sogar versucht, ihr ihr Bett streitig zu machen. Er hatte beschlossen, dass er tun und lassen konnte, was er wollte, jetzt, wo er sturmfreie Bude hatte. U n d er würde sich von seiner sanftmütigen M i t bewohnerin nicht den Spaß verderben lassen. »Arme Kathy«, sagte Jenny. »Sie sah ziemlich geschafft aus, nicht wahr?« »Am Ende ihrer Kräfte trifft es besser.« »Wahrscheinlich sollten wir sie nicht noch einmal fragen, ob sie auf unseren H u n d aufpasst.« »Nein«, antwortete ich. »Das wäre wahrscheinlich keine gute Idee.« D a n n wandte ich mich an Marley und sagte: »Die Flitterwochen sind vorbei, Chef. Ab morgen bist du wieder im Training.« Am nächsten M o r g e n mussten wir beide wieder zur Arbeit. Aber vorher legte ich Marley das Kettenhalsband an und ging mit ihm eine Runde spazieren. Er zog sofort ab und tat nicht einmal so, als wolle er bei Fuß gehen. » W i r sind wohl ein wenig übermütig, was?«, fragte ich und riss mit aller Kraft an der Leine, sodass er das Gleichgewicht verlor. Er richtete sich wieder auf, hustete und sah mich mit einem gekränkten Gesichtsausdruck an, als wollte er sagen: Deswegen musst du nicht gleich grob werden. Kathy war es egal, wenn ich an der Leine gezogen habe. »Gewöhn dich lieber wieder daran«, sagte ich u n d ließ ihn sich hinsetzen. Ich rückte die Kette zurecht, sodass sie weit oben am Hals saß, wo sie meiner Erfahrung nach die größte Wirkung hatte. »Okay, versuchen wir es n o c h einmal«, sagte ich. Er sah mich skeptisch an. »Marley, bei Fuß!«, befahl ich und machte einen entschie113
denen Schritt mit meinem linken Fuß. Ich hielt die Leine so kurz, dass meine linke H a n d an der Kette lag. Er zerrte, und ich riss ihn scharf zurück, sodass sich das Halsband fester zuzog. »Eine arme Frau so auszunützen«, murmelte ich. »Du solltest dich schämen.« Gegen Ende unseres Spaziergangs hielt ich die Leine so fest in der H a n d , dass meine Knöchel weiß hervortraten, aber ich hatte ihn endlich so weit, dass er keinen Unsinn m e h r machte. Das war kein Spiel, sondern vielmehr eine Lektion fürs Leben darüber, was für Folgen manche Handlungen haben konnten. W e n n er losrasen wollte, blieb ihm die Luft weg. Jedes Mal, ohne Ausnahme. W e n n er aber mitmachte und an meiner Seite blieb, ließ ich locker und das Halsband hing lose um seinen Hals. Ziehen, gewürgt werden; bei Fuß gehen, atmen. Das konnte sogar Marley verstehen. W i r wiederholten diese Ü b u n g immer wieder, als wir den Fahrradweg auf und ab gingen. Langsam schien ihm zu dämmern, dass ich der H e r r und er der H u n d war, und so sollte es auch bleiben. Als wir wieder in unsere Einfahrt bogen, trabte mein widerspenstiger H u n d brav neben mir her, nicht perfekt, aber annehmbar. Z u m ersten Mal in seinem Leben ging er wirklich bei Fuß, oder zumindest etwas Ahnliches. »O ja«, sang ich fröhlich, »der Boss ist wieder da.« Ein paar Tage später rief mich Jenny im Büro an. Sie war gerade bei Dr. Sherman gewesen. »Irischer Segen«, sagte sie. »Nächster Versuch.«
ELF
Man ist, was man frisst
D
iese Schwangerschaft war anders. W i r hatten einiges aus unserer Fehlgeburt gelernt, und diesmal wollten wir nicht wieder dieselben Fehler machen. Vor allem hielten wir die Schwangerschaft diesmal besser geheim als jedes Staatsgeheimnis. Außer Jennys Ärzten u n d den Arzthelferinnen wusste niemand davon, nicht einmal unsere Eltern. W e n n Freunde zu Besuch waren, trank J e n n y Grapefruitsaft aus einem Weinglas, um keinen Verdacht zu erregen. D u r c h diese Geheimhaltung blieb natürlich auch unsere Vorfreude gedämpft, auch wenn wir unter uns waren. W i r begannen unsere Sätze mit Einschränkungen wie: » W e n n alles gut g e h t . . . « und »Angenommen, alles geht gut . . . « E s war, als könnten wir einen Fluch über die Schwangerschaft bringen, bloß indem wir darüber jubelten. W i r wollten unsere Freude beherrschen, damit sie nicht ins Gegenteil umschlagen und uns zerschmettern konnte. W i r schlossen alle chemischen Reinigungsmittel und Insektensprays weg. Das würde uns diesmal nicht wieder passieren. Jenny wurde eine überzeugte Anhängerin der natürlichen Putzkraft von Essig, womit sie sogar Marleys angetrockneten Speichel von den W ä n d e n bekam. W i r fanden heraus, dass wir Marley und sein Körbchen mit Borsäure, einem weißen Pulver, das für Insekten tödlich, für Menschen jedoch harmlos war, flohfrei halten konnten. U n d wenn er 115
wirklich einmal eine gründliche Flohbehandlung brauchte, dann würden wir das Profis überlassen. J e n n y stand jeden M o r g e n in aller Frühe auf und ging mit Marley eine Runde am Wasser spazieren. W e n n sie zurückkamen, wachte ich gerade erst auf. Sie dufteten dann nach salziger Meerluft. Meine Frau war die Gesundheit in Person - mir einer Ausnahme: Ihr war ständig übel. Doch sie beschwerte sich nicht; sie begrüßte vielmehr jeden neuen Anfall von Übelkeit mit freudigem Einverständnis, denn er war ein Zeichen dafür, dass das zerbrechliche kleine Experim e n t in ihr friedlich seinen Lauf nahm. U n d das tat es. Diesmal nahm Essie meine Videokassette und zeichnete die ersten blassen, verschwommenen Bilder von unserem Baby auf. W i r konnten das kleine H e r z schlagen sehen, die vier K a m m e r n pulsierten. W i r konnten die Umrisse des kleinen Kopfes erkennen und alle vier Gliedmaßen sehen. Dr. Sherman steckte den Kopf durch die T ü r des Sprechzimmers, um zu verkünden, dass alles in O r d n u n g war. D a n n sah er Jenny an und sagte mit seiner tiefen Stimme: » W a r u m weinen Sie denn, Kind? Sie sollten sich freuen.« Essie gab ihm einen leichten Schlag mit dem Clipboard und schimpfte: » N u n lassen Sie sie mal in Ruhe«, dann sah sie J e n n y an und verdrehte die Augen, als wollte sie sagen: »Männer! Sie haben einfach keine Ahnung!« Hinsichtlich des U m g a n g s mit schwangeren Ehefrauen hatte ich tatsächlich keine Ahnung. Ich ließ Jenny ihre Ruhe, litt mit ihr, wenn ihr schlecht war oder sie Schmerzen hatte, und versuchte, meine Mimik im Griff zu behalten, wenn sie darauf bestand, mir laut aus ihrem Buch mit dem Titel Was Sie bei einer Schwangerschaft erwartet vorzulesen. Als ihr Bauch dicker wurde, machte ich ihr Komplimente zu ihrer Figur und sagte Dinge wie: » D u siehst toll aus, wirklich. W i e ein schlanker, kleiner Ladendieb, der gerade einen Basket116
ball unter sein T-Shirt geschoben hat.« Ich tat mein Bestes, ihr immer absurder und irrationaler werdendes Benehmen auszuhalten. Bald hatte ich Freundschaft mit dem N a c h t schichtpersonal des Supermarktes geschlossen, weil ich zu jeder Tages- und Nachtzeit vorbeikam, um Eiscreme, Apfel, Sellerie oder Kaugummi in Geschmacksrichtungen, von denen ich noch nie etwas gehört hatte, zu kaufen. »Sind Sie sicher, dass das Nelke ist?«, fragte ich den Verkäufer an der Kasse zum Beispiel. »Sie besteht auf Nelkenkaugummis.« Eines Abends, als Jenny ungefähr im fünften M o n a t war, bildete sie sich auf einmal ein, dass wir unbedingt Babysocken brauchten. Na klar, stimmte ich zu, und wir würden uns eine ganze Batterie von Babysocken zulegen, bevor das Baby kam. Aber sie meinte nicht, dass wir sie irgendwann später brauchten. Sie meinte, dass wir sie sofort brauchten. »Wir haben überhaupt nichts, was wir dem Baby über die Füße ziehen können, wenn wir aus dem Krankenhaus nach Hause kommen!«, sagte sie mit zitternder Stimme. Wen interessierte es schon, dass es bis zum errechneten Termin noch vier M o n a t e waren? U n d dass die A u ß e n t e m p e ratur bis dahin frostige fünfunddreißig Grad erreicht haben würde? Jeder noch so unerfahrene werdende Vater wusste, dass die Babys von Kopf bis Fuß in ein Tuch gewickelt wurden, ehe sie aus der Wochenstation entlassen wurden. D o c h wen interessierte das? »Liebling, k o m m schon, sei doch vernünftig«, versuchte ich es. »Es ist Sonntagabend, wo soll ich denn jetzt Babysocken herbekommen?« »Wir brauchen Socken!«, wiederholte sie. »Wir haben doch noch wochenlang Zeit, Socken zu kaufen!«, gab ich zurück. »Sogar Monate!« »Ich sehe immer diese winzig kleinen Z e h e n vor mir«, schniefte sie. 117
Es hatte keinen Sinn, ich setzte mich ins Auto und irrte schimpfend herum, bis ich einen großen Supermarkt fand, der offen hatte. Ich wählte ein Sockenpaket in fröhlichen Farben, so lächerlich klein, dass sie aussahen wie Daumenwärmer. Als ich nach Hause kam und sie vor Jenny aus der T ü t e leerte, war sie endlich zufrieden. Endlich hatten wir Socken. U n d G o t t sei D a n k hatten wir gerade noch die letzten Exemplare aufgetrieben, ehe der nationale Sockennotstand ausgerufen wurde, was jeden M o m e n t ohne Vorwarnung geschehen konnte. Die zerbrechlichen kleinen Zehen unseres Babys waren n u n sicher. W i r konnten ins Bett gehen und beruhigt schlafen. W ä h r e n d die Schwangerschaft voranschritt, machte auch Marleys Training Fortschritte. Ich arbeitete jeden Tag mit ihm und unterhielt unsere Freunde damit, dass ich »Platz!« rief u n d Marley sich auf den Boden fallen ließ, alle viere von sich gestreckt. Er kam verlässlich auf K o m m a n d o (außer irgendetwas lenkte seine Aufmerksamkeit ab, etwas wie ein anderer H u n d , eine Katze, ein Eichhörnchen, ein Schmetterling, der Postbote oder ein fliegender Löwenzahnsamen). Er setzte sich auf K o m m a n d o hin (außer er verspürte den starken Drang, zu stehen) und lief verlässlich bei Fuß (außer er sah etwas so Verführerisches, dass er bereit war, sich dafür zu strangulieren - andere H u n d e , Katzen, Eichhörnchen etc. s. o.). Er machte Fortschritte, aber deswegen verwandelte er sich keineswegs in einen ruhigen, wohl erzogenen H u n d . W e n n ich mich über ihn stellte und ihm strenge Befehle gab, gehorchte er, manchmal sogar ganz eifrig. Aber im Grunde war und blieb er einfach unverbesserlich. Er entwickelte einen unstillbaren Appetit auf Mangos, die massenweise in unserem Garten hinter dem Haus auf den Boden fielen. Sie wogen reichlich ein Pfund und waren so 118
süß, dass einem die Z ä h n e wehtaten. Marley streckte sich mit Vorliebe im Gras aus, nahm eine M a n g o zwischen seine Vorderpfoten und löste minutiös jedes G r a m m Fruchtfleisch von der Schale ab. Er lutschte darauf herum wie auf einem Hustenbonbon, und wenn er die Schale wieder ausspuckte, war sie so blank, als hätte man sie in eine Säure getaucht. Manchmal verbrachte er Stunden da draußen, versunken in seinem Mangoparadies. W i e bei jedem anderen, der zu viel Obst isst, hatte Marleys übermäßiger M a n g o k o n s u m Auswirkungen auf seine Verdauung. Bald war unser Garten mit großen, auffällig gefärbten Hundehaufen übersät. Einen Vorteil hatte das: M a n musste schon wirklich blind sein, um aus Versehen hineinzutreten. W ä h r e n d der Mangoernte waren sie weithin sichtbar, wie orangefarbene Verkehrskegel. Natürlich fraß er auch andere Dinge. U n d die fanden ebenso ihren W e g hinaus. Jeden M o r g e n , wenn ich seine Haufen aufsammelte, sah ich das Ergebnis. H i e r ein kleiner Plastikspielzeugsoldat, dort ein G u m m i b a n d . In einem H a u fen fand ich den zerbissenen Verschluss einer Limonadenflasche. In einem anderen die zerkauten Uberreste eines Kugelschreibers. »Hier ist also mein K a m m gelandet!«, rief ich eines Morgens aus. Er fraß Handtücher, Badeschwämme, Socken, gebrauchte Taschentücher. Besonders gerne mochte er Geschirrspüllappen. W e n n die am anderen E n d e wieder herauskamen, sahen sie auf den orangefarbenen Haufen aus wie kleine blaue Fahnen. Nicht alles war so leicht zu verdauen. Marley kotzte wie ein Bulimiekranker. Oft hörten wir aus dem N e b e n z i m mer ein herzhaftes Gaaaaargl, und wenn wir dann hineingestürmt kamen, fanden wir wieder irgendeinen Gegenstand, inmitten eines Haufens halb verdauter M a n g o und H u n d e 119
futter. Umsichtigerweise kotzte Marley niemals auf die Dielen oder auf das Linoleum in der Küche, wenn er es verhindern konnte. Er zielte immer auf den Perserteppich. J e n n y und ich hatten den verwegenen Gedanken, dass es doch schön wäre, einen H u n d zu haben, den man für kurze Zeit auch mal alleine zu Hause lassen könnte, ohne dass er das ganze H a u s auseinander nahm. W i r waren es allmählich leid, Marley jedes Mal in die Garage zu sperren, wenn wir weggingen, und wie J e n n y es so schön ausdrückte: »Wozu hat man einen H u n d , wenn er nicht einmal an die T ü r komm e n kann, um einen beim H e i m k o m m e n zu begrüßen?« Es war klar, dass wir ihn niemals alleine zu Hause lassen durften, wenn ein Gewitter im Anzug war. Selbst unter Hundedrogen erwies er sich noch als äußerst ausdauernd, wenn es darum ging, sich bei Gefahr energisch nach China durchzugraben. Bei schönem Wetter jedoch wollten wir ihn nicht jedes Mal in die Garage sperren müssen, wenn wir kurz mal das Haus verließen. W i r fingen zunächst damit an, ihn kurz allein zu lassen, wenn wir zum Einkaufen fuhren oder bei den Nachbarn vorbeischauten. Manchmal war er guter Dinge und wir fanden das H a u s bei unserer Rückkehr unbeschadet vor. An solchen Tagen konnten wir sehen, wie er sich seine schwarze H u n deschnauze an der Scheibe hinter den kleinen Jalousien im W o h n z i m m e r platt drückte, während er nach uns Ausschau hielt. An anderen Tagen lief es nicht so gut. W i r sahen schon von weitem, dass etwas nicht in O r d n u n g war, weil Marley uns nicht am Fenster erwartete, sondern sich irgendwo versteckte. Als J e n n y im sechsten M o n a t schwanger war, kamen wir eines Tages nach Hause und fanden Marley unter dem Bett - was bei seiner G r ö ß e nicht einfach war. Er sah so 120
schuldbewusst aus, als hätte er gerade den Postboten u m g e bracht. Aus jeder Pore strömte uns Schuldbewusstsein entgegen. Das Haus sah in O r d n u n g aus, aber wir wussten, dass er ein dunkles Geheimnis hatte, also gingen wir auf der Suche nach den Spuren seiner Missetat von Z i m m e r zu Zimmer. Dann sah ich, dass der Schutzüberzug einer der Boxen unserer Stereoanlage fehlte. W i r suchten überall danach. Er war spurlos verschwunden. Marley wäre vielleicht ungeschoren davongekommen, hätte ich nicht am nächsten M o r g e n in einem seiner Hundehaufen untrügliche Beweise gefunden. N o c h tagelang fand ich Reste des Überzugs im Garten. Als wir das nächste Mal außer H a u s waren, entfernte Marley sorgfältig das Lautsprechergehäuse. D e r Lautsprecher war nicht umgeworfen oder anderweitig beschädigt, es fehlte nur das Gehäuse, als hätte jemand es mit einer Rasierklinge weggeschnitten. Schließlich n a h m er sich auch den zweiten Lautsprecher vor. Ein anderes Mal kamen wir nach Hause und stellten fest, dass unser ehemals vierbeiniger H o cker nun dreibeinig war. D o c h nirgends war auch n u r ein Span des fehlenden Beins zu finden. W i r hätten schwören können, dass es in Südflorida niemals schneit, eines Tages jedoch öffneten wir die T ü r zum Wohnzimmer und fanden einen wahren Schneesturm vor. Überall flogen weiße Federn herum. D u r c h das Gestöber hindurch konnten wir Marley entdecken, der mitten in einer Feder-Wehe vor dem Kamin stand und wild ein riesiges Kissen schüttelte, als hätte er gerade einen Strauß erlegt. Meistens versuchten wir, den Schaden gelassen zu n e h men. Im Leben eines jeden Hundebesitzers gibt es früher oder später den Verlust des einen oder anderen geliebten Erbstückes zu beklagen. N u r ein einziges Mal war ich kurz davor, ihn aufzuschlitzen, um mir wiederzuholen, was mir gehörte. 121
Ich hatte J e n n y zum Geburtstag eine achtzehnkarätige Goldkette geschenkt, feingliedrig, mit einem zarten Verschluss. Sie hatte sie sofort angelegt. N u r wenige Stunden später griff sie sich entsetzt an den Hals und rief: »Meine Kette! Sie ist weg!« D e r Verschluss musste aufgegangen sein, vielleicht hatte sie ihn auch nicht richtig geschlossen. »Keine Panik!«, sagte ich zu ihr. » W i r haben das Haus nicht verlassen. Sie muss hier irgendwo sein.« U n d wir durchkämmten das Haus, Z i m m e r um Zimmer. Während wir suchten, fiel mir auf, dass Marley wilder war als sonst. Ich richtete mich auf und sah ihn an. Er krümmte sich wie ein Tausendfüßler. Als er merkte, dass ich ihn fixierte, versuchte er mir auszuweichen. 0 nein!, dachte ich - der Marley-Mambo! Das konnte nur eines bedeuten. »Was hängt ihm da aus dem Maul?«, fragte Jenny mit wachsender Panik in der Stimme. Etwas Dünnes, Feingliedriges. U n d golden. » O h , verdammt!«, sagte ich. »Keine plötzlichen Bewegungen!«, befahl sie im Flüsterton. W i r erstarrten an O r t und Stelle. »Okay, Junge, alles in O r d n u n g « , schmeichelte ich ihm. Ich klang wie ein Versicherungsvertreter. »Wir sind gar nicht böse auf dich. K o m m einfach her. W i r wollen nur die Kette zurück.« Instinktiv versuchten Jenny und ich, ihn mit vorsichtigen Bewegungen von zwei Seiten einzukreisen. W i r benahmen uns, als wäre er komplett vermint und eine falsche Bewegung könnte ihn zur Explosion bringen. »Braver Marley«, sagte J e n n y in ihrem freundlichsten Ton, »braver H u n d . Lass einfach die Kette fallen, dann ist alles in Ordnung.« Marley sah uns misstrauisch an und warf den Kopf hin und her. W i r hatten ihn in die Ecke getrieben, doch er wusste, dass er etwas hatte, was wir haben wollten. Ich konnte sehen, wie er seine Chancen abwog, gleichsam eine Lösegeldforde122
rung entwarf. Liefert mir zweihundert unregistrierte Hundekuchen in einer unauffälligen Papiertüte, sonst seht ihr eure kostbare kleine Kette nie wieder! »Marley, gib das her«, flüsterte ich und machte einen kleinen Schritt auf ihn zu. Sein ganzer Körper wackelte hin u n d her. Ich schlich mich Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Beinahe unmerklich schob sich Jenny von der Seite dichter an ihn heran. W i r waren schon nah genug, um ihn zu berühren. Dann sahen wir uns an und wussten; ohne es zu sagen, was zu tun war. W i r hatten das P r o g r a m m zur W i e d e r b e schaffung entwendeten Eigentums schon oft genug durchgespielt. Sie würde sich von hinten auf ihn werfen und ihn an den Hinterbeinen festhalten, damit er nicht e n t k o m m e n konnte. Ich würde mich auf seinen Kopf stürzen, ihm die Kiefer aufstemmen und die W a r e retten. M i t ein bisschen Glück war alles in wenigen Sekunden vorbei. Das war unser Plan, und Marley ahnte es. W i r waren n u r noch einen halben M e t e r von ihm entfernt. Ich nickte J e n n y zu und formte mit den Lippen die Worte: »Auf drei!« D o c h noch ehe wir uns auf ihn stürzen konnten, warf er den Kopf zurück und schluckte hörbar. Das Ende der Goldkette, das ihm noch aus dem Maul gehangen hatte, war verschwunden. » E r frisst sie auf!«, schrie Jenny. W i r warfen uns auf ihn, Jenny auf seine Hinterbeine und ich auf seinen Kopf. Ich sperrte ihm den Kiefer auf und schob meine H a n d weit in seinen Rachen. Ich suchte jede Hautfalte ab, erfolglos. » Z u spät«, sagte ich. » E r hat sie runtergeschluckt.« Jenny fing an, ihm fest auf den Rücken zu klopfen und zu schreien: »Spuck sie aus, verdammt noch mal!« Aber es war zwecklos. Sie bekam nicht m e h r aus ihm heraus als einen zufriedenen Rülpser. Marley mochte zwar diese Runde gewonnen haben, aber wir wussten, dass es n u r eine Frage der Zeit war, bis wir zu 123
unserem Recht k o m m e n würden. D e r Lauf der N a t u r war auf unserer Seite. Früher oder später musste alles wieder herauskommen. So eklig der Gedanke auch war: Irgendwann würde ich in seinen Haufen fündig werden. W ä r e es eine silberne oder eine vergoldete Kette gewesen, irgendetwas, das nicht ganz so wertvoll war, dann hätte ich mich wohl nicht dazu durchringen können. Aber diese Kette war aus purem Gold gewesen und hatte mich ein kleines Vermögen gekostet. Eklig oder nicht, ich würde die Kette suchen. U n d so bereitete ich Marley sein liebstes Abführmittel zu - eine riesige Schüssel mit überreifen, in Scheiben geschnittenen Mangos - und wartete ab. Drei Tage lang blieb ich ihm dicht auf den Fersen, wenn ich ihn hinausließ, imm e r mit einer einsatzbereiten Schaufel. Anstatt seine H a u fen über den Zaun zu werfen, lud ich jeden einzelnen auf einem großen Brett im Gras ab, rührte mit einem Ast darin h e r u m und spritzte ihn mit einem Gartenschlauch ab, sodass allmählich alle Verdauungsreste im Gras landeten und nur die fremden Objekte übrig blieben. Ich kam mir vor wie ein Goldgräber, der an einer Rinne arbeitete und einen beachtlichen F u n d von heruntergeschluckten Abfällen machte, von Schnürsenkeln bis zu Gitarrenplektren. Aber keine Goldkette. Wo zum Teufel war sie? H ä t t e sie nicht inzwischen schon herauskommen müssen? Ich fragte mich allmählich, ob ich sie übersehen und versehentlich ins Gras gespült hatte, wo sie für immer verschollen bleiben würde. Aber wie hätte ich eine zwanzigkarätige Goldkette übersehen sollen? J e n n y verfolgte meine Suchaktion von der Terrasse aus mit gespanntem Interesse. »Hey, Goldgräber, schon Glück gehabt?«, rief sie laut. Am vierten Tag schließlich zahlte sich meine Ausdauer aus. Ich rührte gerade in Marleys letztem Haufen und murmelte mein obligatorisches »Ich kann nicht glauben, was 124
ich hier tue«, spülte die stinkende Masse weg und suchte nach einer Spur der Kette. Nichts. Ich wollte schon aufgeben, als ich etwas Seltsames entdeckte: einen kleinen braunen Klumpen, etwa so groß wie eine weiße Bohne. Er war kaum groß genug, um darin den verschwundenen Schatz zu vermuten, dennoch schien er irgendwie nicht in diesen H a u fen zu gehören. Ich hielt ihn mit meinem Ast, den ich offiziell »Shit-Stick« getauft hatte, fest und richtete den Strahl des Gartenschlauchs darauf. Als das Wasser den K l u m p e n sauber gewaschen hatte, erkannte ich den Schimmer von etwas außerordentlich Glänzendem und Funkelndem. H e u reka! Ich war auf Gold gestoßen. Die Kette war zu einem u n kenntlichen Haufen zusammengepresst, viel kleiner, als ich es jemals für möglich gehalten hatte. Es war, als hätte eine fremde außerirdische Macht, vielleicht ein schwarzes Loch, die Kette in eine geheimnisvolle Zeit-Raum-Dimension gesogen, ehe sie sie wieder ausgespuckt hatte. U n d irgendwie stimmte das ja auch. D e r Wasserstrahl wusch Schicht um Schicht Dreck ab, und allmählich gewann der Goldklumpen seine ursprüngliche F o r m zurück, die Kette schien vollkommen unbeschadet. So gut wie neu. Nein, besser als neu. Ich trug sie ins H a u s und zeigte sie Jenny. Sie war außer sich vor Freude, trotz des zweifelhaften Abenteuers, das das Schmuckstück hinter sich hatte. W i r wunderten uns beide, wie unglaublich die Kette glänzte, viel auffälliger als bei ihrem Abgang. Marleys Magensäure hatte eine erstaunliche Wirkung gezeigt. Es war das glänzendste Gold, das ich je gesehen hatte. » M a n n « , rief ich aus und pfiff anerkennend. »Wir sollten eine Schmucksäuberungs-Firma eröffnen!« »Wir könnten ein Mordsgeschäft mit den alten W i t w e n in Palm Beach machen!«, stimmte J e n n y mir zu. »Ja, Ladys«, verkündete ich in meiner überzeugendsten Vertreterstimme, »unser Geheimpatent finden Sie in kei125
n e m Fachhandel! Die eingetragene Marley-Methode wird Ihren geschätzten Schmuckstücken eine Brillanz verleihen, die Sie niemals für möglich gehalten hätten!« » D a steckt Potential drin, G r o g a n « , sagte Jenny und ging ins H a u s , um ihr wiedergefundenes Geburtstagsgeschenk zu desinfizieren. Sie trug diese Kette jahrelang, und jedes Mal, wenn mein Blick darauf fiel, kam die Erinnerung an meine kurze, extrem erfolgreiche Goldgräberkarriere wieder hoch. Ich und mein treuer Shit-Stick hatten dort gesucht, wo noch kein Mensch zuvor gesucht hatte. U n d wo gewiss auch nie wieder jemand suchen würde.
ZWÖLF
Das Notbett
M
an bekommt schließlich nicht jeden Tag sein erstes Kind, darum n a h m e n wir die Gelegenheit sofort wahr, als uns das St. Mary's Hospital von Palm Beach das Angebot machte, gegen Aufpreis ein luxuriöses Gebärzimmer zu mieten. Die Räume glichen teuren Hotelzimmern, groß, hell und mit Holzmöbeln ausgestattet, an den W ä n d e n Blumentapeten, passende Vorhänge, eine große Badewanne und für Papa eine gemütliche Schlafcouch. Statt des üblichen Krankenhausessens konnten die »Gäste« zwischen verschiedenen Gourmetgerichten wählen. M a n konnte sogar eine Flasche Champagner bestellen, aber die mussten die Väter dann meistens alleine austrinken, da m a n den stillenden M ü t t e r n nahelegte, nicht m e h r als einen Schluck zum Anstoßen auf das große Ereignis zu trinken.
»Mann, das ist ja wie in den Ferien!«, rief ich aus und ließ mich auf die Couch fallen, als wir ein paar W o c h e n vor J e n nys errechnetem Termin eine Besichtigungstour machten. Die Suiten waren auf Yuppies zugeschnitten und stellten für das Krankenhaus eine wichtige zusätzliche E i n n a h m e quelle dar. Paare mit Geld erkauften sich hier einen Standard, der über die üblichen Leistungen der Krankenkassen in der Geburtshilfe hinausging. Das war natürlich ein L u xus, aber warum nicht? Als Jennys großer Tag schließlich da war und wir mit unse127
rer gepackten Tasche im Krankenhaus ankamen, sagte man uns, dass es da ein kleines Problem gäbe. »Ein Problem?«, fragte ich. » H e u t e muss ein guter Tag zum Kinderkriegen sein«, erklärte die D a m e am Empfang fröhlich. »Alle Gebärsuiten sind bereits belegt.« Belegt? Dies war der wichtigste Tag in unserem Leben. Was war mit dem bequemen Sofa und dem romantischen D i n n e r mit Champagner? » M o m e n t mal«, beschwerte ich mich. » W i r haben schon vor W o c h e n reserviert!« »Tut mir leid«, erwiderte die Dame, sichdich ohne besonderes Mitgefühl. » W i r haben es leider nicht in der Hand, wann bei den Frauen die W e h e n einsetzen.« Da hatte sie allerdings Recht. Sie konnte ja niemanden zur Eile antreiben. Sie schickte uns auf ein anderes Stockwerk, wo m a n uns ein normales Krankenzimmer zuwies. Doch als wir auf der Geburtsstation ankamen, hatte die Schwester dort noch eine schlechte Nachricht für uns. »Können Sie sich vorstellen, dass kein einziges Z i m m e r mehr frei ist?« N e i n , das konnten wir nicht. Jenny schien das Ganze locker zu nehmen, aber ich reagierte langsam etwas gereizt. »Was schlagen Sie vor, den Parkplatz?«, fragte ich. Die Schwester lächelte mich gelassen an, offensichdich war sie solche Sprüche von nervösen werdenden Vätern gewohnt. Sie sagte nur: »Keine Sorge. W i r finden schon einen Platz für Sie.« N a c h m e h r e r e n Telefonaten schickte sie uns einen langen G a n g hinunter. W i r gingen durch zahlreiche Glastüren und standen schließlich wieder in einer Geburtsstation, ganz ähnlich der, die wir gerade verlassen hatten, aber mit einem offensichtlichen Unterschied - die Patienten hier waren eindeutig alles andere als die reichen Yuppiepaare, die wir im Geburtsvorbereitungskurs getroffen hatten. W i r hörten, wie die Schwestern Spanisch mit den Frauen sprachen. 128
Im Gang vor den Z i m m e r n warteten dunkelhäutige M ä n ner und spielten nervös mit ihren Strohhüten. Palm Beach County ist als Spielwiese für die Reichen bekannt, weit weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass es dort auch riesige Farmen gibt, die sich über die trockengelegten Sümpfe der Everglades westlich der Stadt erstrecken. Tausende von eingewanderten Arbeitern, die meisten aus Mexiko u n d M i t telamerika, pilgern jedes J a h r zur Erntezeit nach Südflorida, um dort Paprika, Tomaten, Salat und Sellerie zu ernten u n d damit den Wintervorrat an Gemüse für die Ostküste zu sichern. Offenbar hatten wir herausgefunden, wo die Gastarbeiter ihre Babys bekamen. I m m e r wieder durchschnitt der qualvolle Schrei einer Frau die Luft, gefolgt von furchtbarem Stöhnen und lauten »Mi madre!«-Ruien. Es war wie im Horrorkabinett. J e n n y war weiß wie die Wand. Die Schwester führte uns in eine kleine Kammer, in der ein Bett, ein Stuhl und eine Reihe elektronischer M o n i t o r e standen. D a n n reichte sie J e n n y ein H e m d . »Na, dann kann es ja losgehen!«, rief Dr. Sherman fröhlich, als er ein paar M i n u t e n später hereinstürmte. »Lassen Sie sich von der kargen Einrichtung hier nicht abschrecken«, sagte er. Diese Station verfüge über eine hervorragende m e dizinische Ausstattung, und die Schwestern wären bestens ausgebildet. Da arme Frauen meist nicht die Möglichkeit hatten, zu Vorsorgeuntersuchungen zu gehen, hatten sie oft Risikoschwangerschaften. W i r wären also in den besten Händen, versicherte Dr. Sherman, als er Jennys Fruchtblase sprengte. D a n n verschwand er wieder so schnell, wie er gekommen war. Tatsächlich stellten wir fest, dass wir gut aufgehoben waren, als der Vormittag voranschritt und J e n n y sich durch schreckliche W e h e n kämpfte. Die Schwestern waren erfahrene H e b a m m e n , die eine Atmosphäre von Vertrauen und 129
W ä r m e verbreiteten. Sie wachten aufmerksam über Jenny, überprüften den Herzschlag des Babys und gaben ihr Anweisungen. Ich stand hilflos daneben und versuchte irgendwie von N u t z e n zu sein, aber es war sinnlos. Irgendwann knurrte mich Jenny mit zusammengebissenen Zähnen an: » W e n n du mich noch ein einziges Mal fragst, wie es mir geht, REISSE I C H D I R D E N K O P F AB!« Ich muss verletzt ausgesehen haben, denn eine der Schwestern kam auf meine Seite des Bettes, drückte mir mitfühlend die Schulter und sagte: »Willkommen bei der Geburt, Dad. Das gehört alles dazu.« Ich schlich mich aus dem Z i m m e r und gesellte mich zu den anderen wartenden M ä n n e r n auf dem Gang. Jeder lehnte an der W a n d neben der entsprechenden Tür, während unsere Frauen schrien und stöhnten. Ich kam mir ein wenig lächerlich vor in meinem Poloshirt, den Khakishorts und den Segelschuhen, aber die Farmarbeiter schienen meinen Aufzug nicht zu bemerken. Bald lächelten und nickten wir uns wissend zu. Sie konnten kein Englisch und ich konnte kein Spanisch, doch das spielte keine Rolle. W i r saßen im selben Boot. O d e r beinahe. An diesem Tag lernte ich, dass Schmerzmittel in Amerika ein Luxus und keine Notwendigkeit sind. F ü r diejenigen, die es sich leisten konnten oder deren Krankenkasse es bezahlte, wie das bei unserer der Fall war, bot das Krankenhaus Peridualanästhesien an, bei denen das Schmerzmittel direkt ins Rückenmark gespritzt wird. N a c h dem J e n n y ungefähr vier Stunden in den W e h e n gelegen hatte, kam ein Anästhesist, setzte ihr eine lange Nadel an der Wirbelsäule und schloss eine Infusion an. N a c h wenigen M i n u t e n war J e n n y von der Taille abwärts taub und konnte sich entspannen und ausruhen. Die mexikanischen Frauen nebenan hatten nicht so viel Glück. Sie mussten das Gan130
ze wie früher bis zum Ende durchstehen, und ihre Schreie durchschnitten die Luft. Die Stunden vergingen. J e n n y presste, u n d ich feuerte sie an. Als es dunkel wurde, trat ich mit einem winzigen, verschnürten Paket in den G a n g hinaus. Ich hob meinen n e u g e borenen Sohn über den Kopf, damit meine neuen Freunde ihn sehen konnten, und rief: »Es el nino!« Die anderen Väter lachten fröhlich und reckten in international verständlicher Geste ihre D a u m e n nach oben. Anders als bei unserem hitzigen Streit um den N a m e n für unseren H u n d waren wir uns schnell einig, wie wir unseren ersten Sohn n e n n e n wollten. Als erster Spross der aus dem irischen C o u n t y L i m e rick nach Amerika eingewanderten Familie G r o g a n würde er Patrick heißen. Eine H e b a m m e kam in unsere K a m m e r und verkündete, jetzt wäre eine Geburtssuite frei. Es war unsinnig, jetzt noch das Z i m m e r zu wechseln, aber sie half Jenny in einen Rollstuhl, legte ihr unseren Sohn in den A r m und rauschte mit uns davon. Das G o u r m e t - D i n n e r wurde seinem N a m e n nicht gerecht. In den Wochen vor dem Geburtstermin hatten J e n n y und ich lange strategische Diskussionen darüber geführt, wie wir Marley am besten auf die Ankunft unseres neuen Familienmitglieds vorbereiten könnten. D e n n zweifelsohne würde unser Kind ihm seinen Ehrenplatz in unserer Familie streitig machen. W i r wollten ihm das schonend beibringen. W i r hatten Geschichten über H u n d e gehört, die schrecklich eifersüchtig auf den Familiennachwuchs reagiert und sich u n möglich b e n o m m e n hatten - die U n t a t e n reichten von dem Markieren wertvoller Gegenstände über das Umwerfen von Babybadewannen bis hin zu regelrechten Angriffen -, und schließlich im Tierheim gelandet waren. Als wir das leer stehende Schlafzimmer in ein Kinderzimmer verwandelten, 131
ließen wir Marley sämtliche Ausstattung gründlich beschnüffeln, einschließlich der Wiege, dem Kinderbett und verschiedenen anderen Utensilien zur Babypflege. Er schnüffelte u n d sabberte und schleckte so lange, bis seine Neugier gestillt war. In den sechsunddreißig Stunden, die Jenny sich nach der G e b u r t im Krankenhaus erholte, fuhr ich regelmäßig nach Hause zu Marley, ausgerüstet mit Leintüchern und allem anderen, das den Geruch unseres Babys an sich trug. Einmal brachte ich sogar eine winzige gebrauchte W i n del mit nach Hause, an der Marley so begeistert schnüffelte, dass ich schon Angst hatte, er würde sie durch die Nasenlöcher aufsaugen und teure medizinische Hilfe brauchen. Als ich schließlich M u t t e r und Kind mit nach Hause brachte, ließ sich Marley nicht weiter stören. Jenny stellte den schlafenden Patrick in seinem Autositz in die Mitte unseres Bettes und folgte mir dann zu Marley in die Garage, um ihn zu begrüßen. W i r feierten ein überschwängliches Wiedersehen. Als Marley nicht mehr verrückt und wild vor Freude, sondern nur noch verzweifelt glücklich war, nahmen wir ihn mit ins Haus. W i r hatten vor, einfach zur Tagesordn u n g überzugehen und ihm das Baby gar nicht ausdrücklich zu zeigen. W i r würden immer in seiner N ä h e bleiben und ihn die Anwesenheit des Neuankömmlings allmählich selbst entdecken lassen. Marley folgte Jenny ins Schlafzimmer und-vergrub seine Nase tief in ihrer Tasche, während sie auspackte. Er hatte ganz offensichdich keine Ahnung, dass da ein lebendiges Wesen auf unserem Bett saß. D a n n bewegte sich Patrick und stieß einen leisen, vogelartigen Ton aus. Marleys Ohren schössen nach vorne und er erstarrte. Was war das? Patrick fiepte noch einmal, u n d Marley hob eine Pfote in die Luft, wie ein Jagdhund auf Vogeljagd. Mein Gott, er stand auf unser Baby an wie ein Jagdhund auf seine Beute! In diesem M o 132
ment kam mir das Federkissen in den Sinn, das er so wild geschüttelt hatte. Er war doch wohl nicht so beschränkt, unser Baby mit einem Fasan zu verwechseln? U n d dann sprang er. Es war kein »Töte den F e i n d e Sprung, keine gebleckten Zähne, kein Knurren. Aber es war auch kein »Hallo, Kleiner, willkommen daheim!«-Sprung. Er prallte so hart mit der Brust gegen die Matratze, dass das ganze Bett über den Boden rutschte. Patrick war inzwischen hellwach und machte große Augen. Marley prallte zurück und sprang wieder vor, diesmal berührte er mit der Schnauze beinahe die Zehen unseres Babys. J e n n y stürzte auf das Baby zu, ich stürzte auf den H u n d zu und zog ihn mit beiden Händen am Nackenfell zurück. Marley war außer sich u n d zerrte verzweifelt, um an dieses kleine Geschöpf heranzukommen, das sich da klammheimlich eingeschlichen hatte. Er stellte sich auf die Hinterbeine und ich zog ihn am H a l s band zurück. Ich kam mir vor wie L o n e Ranger mit Silver. » N a « , sagte ich, »das hat ja toll geklappt.« Jenny befreite Patrick aus dem Autositz, und ich klemmte Marley zwischen meine Knie und hielt ihn mit beiden H ä n den fest. Sogar Jenny konnte erkennen, dass Marley es nicht böse meinte. Er hechelte mit seinem typischen trotteligen Grinsen, seine Augen leuchteten und er wedelte mit dem Schwanz. W ä h r e n d ich ihn festhielt, kam sie langsam näher und ließ ihn zuerst die Zehen unseres Babys beschnüffeln, dann die Füße, schließlich die Oberschenkel. Das arme Kind war gerade mal eineinhalb Tage alt und wurde schon von einem Staubsauger attackiert. Als Marley an die Windel kam, schien er einen anderen Bewusstseinszustand zu erreichen, eine Art Pampers-Nirwana. Er war im Paradies angekommen. Der H u n d war vollkommen euphorisch. »Eine falsche Bewegung, Marley, und dein letztes Stündlein hat geschlagen«, warnte Jenny, und das meinte sie ernst. 133
W e n n er auch n u r das kleinste Anzeichen von Aggressivität gegenüber dem Baby gezeigt hätte, wäre es um ihn geschehen gewesen. D o c h er tat nichts dergleichen. W i r begriffen bald, dass unser Problem nicht darin bestand, Marley davon abzuhalten, unserem Baby etwas zu Leide zu tun. Unser Problem lag darin, ihn vom Windeleimer fernzuhalten. Die Zeit verging, und nach einigen M o n a t e n war klar, dass Marley in Patrick seinen neuen besten Freund gefunden hatte. Eines Abends, als ich das Licht im H a u s löschen und ins Bett gehen wollte, konnte ich Marley nirgends finden. Schließlich kam ich auf die Idee, im Kinderzimmer zu suchen. Da lag er, am Boden ausgestreckt neben Patricks W i e ge. Die beiden schnarchten seligum die Wette. W e n n Patrick in der N ä h e war, verwandelte sich unser wilder, ungestümer H u n d in ein sanftes L a m m . Er schien verstanden zu haben, dass es sich hier um ein zerbrechliches, schutzloses kleines Menschenkind handelte. Er bewegte sich in Patricks N ä h e ganz vorsichtig, leckte ihm zart das Gesicht und die Ohren. Als Patrick anfing zu krabbeln, lag Marley regungslos auf dem Boden u n d ließ den Kleinen auf sich herumklettern, an seinen O h r e n ziehen, ihm in die Augen drücken und ihm kleine Fäuste voll Fell ausreißen. Es schien ihn alles nicht zu stören, er lag da wie eine Statue. Er war ein freundlicher Riese neben Patrick, und er akzeptierte seine Zurückstufung in der Familienhierarchie mit gutmütiger Resignation. N i c h t alle waren damit einverstanden, dass wir unserem H u n d so blind vertrauten. M a n c h e sahen in ihm nur ein wildes, unberechenbares und starkes T i e r - inzwischen hatte er ungefähr fünfundvierzig Kilo erreicht - und waren der Meinung, dass wir uns verantwortungslos verhielten, wenn wir i h m unser schutzloses Kind anvertrauten. Meine Mutter war die Sprecherin dieser Fraktion und ließ uns keine Minute lang im Unklaren über ihre Meinung. Es tat ihr weh, wenn 134
sie sah, dass Marley ihren Enkelsohn ableckte. »Wisst ihr eigentlich, wo diese Zunge schon überall war?«, fragte sie mit sarkastischem U n t e r t o n . Sie warnte uns eindringlich davor, einen H u n d und ein Baby jemals alleine in einem Z i m m e r zu lassen. D e r angeborene Jagdtrieb könne ohne Vorwarnung wieder durchbrechen. W e n n es nach ihr ginge, dann hätten wir für alle Zeiten eine Betonmauer zwischen Marley und Patrick errichten müssen. Eines Tages, als sie aus Michigan zu Besuch bei uns war, hörte ich plötzlich ihren Schrei aus dem Wohnzimmer. »John, schnell!«, schrie sie. » D e r H u n d beißt das Baby!« Ich stürzte halb angezogen aus dem Schlafzimmer u n d fand Patrick fröhlich in seiner Schaukel sitzend, Marley lag u n ter ihm auf dem Boden. Tatsächlich schnappte der H u n d nach dem Baby, aber nicht so, wie meine panische M u t t e r es befürchtete. Marley hatte sich direkt in Patricks Flugbahn positioniert, den Kopf auf der H ö h e , wo das in eine Stoffbahn verpackte Hinterteil unseres Babys bei jedem Schwung vorbeikam, ehe es wieder in die entgegengesetzte Pachtung schwang. Jedes Mal, wenn Patricks W i n d e l p o in erreichbare N ä h e kam, schnappte Marley spielerisch danach und schubste ihn damit an. Patrick quietschte vor Vergnügen. »Ach, M o m , keine Angst«, sagte ich. »Marley hat n u r eine Schwäche für Patricks Windeln.« Jenny und ich entwickelten bald eine Routine. Nachts stand sie alle paar Stunden auf, um ihn zu stillen, und ich übernahm die 6-Uhr-Mahlzeit, damit sie länger schlafen konnte. N o c h im Halbschlaf n a h m ich ihn dann aus seiner Wiege, wickelte ihn und machte ihm sein Fläschchen warm. D a n n kam die Belohnung: Ich setzte mich mit ihm auf die Veranda, und er nuckelte an der Flasche, den kleinen, warmen Körper an meinen Bauch geschmiegt. Manchmal ließ ich 135
mein Gesicht auf seinen Kopf sinken und schlummerte ein, während er genüsslich weitertrank. Manchmal hörte ich auch Radio und sah zu, wie der H i m m e l in der Morgendämm e r u n g allmählich von Dunkelrot in Pink und schließlich in Blau überging. W e n n Patrick satt war und ich einen ordentlichen Rülpser aus ihm herausbekommen hatte, zog ich uns beide an, pfiff nach Marley und wir machten einen Morgenspaziergang zum Wasser hinunter. W i r leisteten uns einen Sportkinderwagen mit drei breiten Reifen, mit dem m a n beinahe überall fahren konnte, auch über Sand und Randsteine. W i r drei müssen jeden M o r g e n ein Bild für die G ö t t e r abgegeben haben. Marley allen voran wie ein Schlittenhund, ich am Steuer, wie ich um unser Leben bremste, und in der Mitte Patrick, der fröhlich mit den Armen winkte wie ein Verkehrspolizist. W e n n wir nach Hause kamen, war J e n n y schon auf und hatte Kaffee gekocht. W i r setzten Patrick in seinen Hochstuhl und schütteten ein paar Cheerios vor ihm auf das Tablett, die sich Marley im nächsten unbewachten Augenblick schnappte. Einem. Baby das Essen zu klauen, dachten wir, wie tief kann dieser Hund noch sinken? Patrick jedoch schien dieses Spielchen ungeheuren Spaß zu machen, und sehr bald hatte er herausgefunden, wie er die Cheerios vom Tablett schubsen musste, sodass er zusehen konnte, wie Marley aufsprang und sie am Boden zerkaute. Er fand auch heraus, dass er die Cheerios nur auf seinen Schoß fallen lassen musste, damit Marley seinen Kopf unter dem Tablett durchschob und ihm auf der Suche nach den Leckereien in den Bauch schnoberte, was Patrick in Lachsalven ausbrechen ließ. W i r fanden, dass das Elternsein gut zu uns passte. W i r gewöhnten uns an den Tagesablauf, freuten uns über kleine Dinge und fanden uns zähneknirschend mit dem einen oder anderen Rückschlag ab. U n s war klar, dass auch die schlech136
ten Tage bald zu lieben Erinnerungen werden würden. W i r hatten alles, was wir uns n u r wünschen konnten. W i r hatten unser wundervolles Baby. W i r hatten unseren tollpatschigen Hund. W i r hatten unser kleines H a u s am Wasser. U n d natürlich hatten wir einander. In diesem N o v e m b e r beförderte mich mein Verlag zum Kolumnisten, eine begehrte Stellung. So bekam ich dreimal wöchentlich die Möglichkeit, mich auf Seite eins über ein beliebiges T h e m a auszulassen. Das Leben war schön. Als Patrick neun M o n a t e alt war, brachte Jenny das T h e m a auf, wann wir über ein zweites Baby nachdenken wollten. »Puh, ich weiß nicht«, antwortete ich. W i r hatten i m m e r mehrere Kinder gewollt, aber über den Zeitplan hatte ich noch nicht konkret nachgedacht. All das gleich noch einmal durchmachen? Darüber mussten wir genau nachdenken. » W i r könnten ja einfach wieder die Verhütung weglassen und abwarten, was passiert«, schlug ich vor. »Ah«, erwiderte Jenny, »die gute alte >Que serd, serd<-Familienplanung.« »Hey, mach dich nicht darüber lustig«, sagte ich. »Es hat funktioniert.« U n d das taten wir dann auch. W i r hatten gedacht, es würde gut passen, wenn Jenny irgendwann innerhalb des nächsten Jahres schwanger werden würde. J e n n y rechnete es mir genau vor. »Sagen wir, es dauert sechs Monate, bis ich wieder schwanger bin, und dann neun M o n a t e Lieferzeit. D a n n wären die beiden genau zwei Jahre auseinander.« Das klang gut. Zwei Jahre war eine lange Zeit. Beinahe eine Ewigkeit. Zwei Jahre war eigentlich gar nicht m e h r real. Jetzt, wo ich mich der männlichen Pflicht der Besamung gewachsen gezeigt hatte, war jeder Druck weg. Keine Sorgen, kein Stress. Es würde kommen, wie es kam. Eine Woche später war J e n n y wieder schwanger.
DREIZEHN
Ein Schrei in der Nacht
M
it der neuen Schwangerschaft kehrten auch Jennys seltsame nächtliche Gelüste zurück. Einmal war es Malzbier, dann wieder eine Grapefruit. Einmal fragte sie kurz vor Mitternacht: » H a b e n wir Snickers im Haus?« Es schien wieder Zeit für eine nächtliche Einkaufstour zu sein. Ich pfiff nach Marley, leinte ihn an und ging los. Auf dem Parkplatz trafen wir eine junge Frau mit hochtoupiertem, blondem Haar, roten Lippen und den höchsten Absätzen, die ich je gesehen hatte. » O h , ist der niedlich!«, gurrte sie. »Hallo, H ü n d c h e n . W i e heißt du denn?« Marley war natürlich überglücklich, eine neue Freundin gefunden zu haben, u n d ich hielt ihn ganz kurz, damit er nicht auf ihren roten Minirock u n d ihr weißes Tanktop sabbern konnte. » D u möchtest mir ein Küsschen geben, nicht wahr, Hündchen?«, sagte sie und formte mit ihren Lippen einen Kussmund.
W ä h r e n d wir so plauderten, fragte ich mich, was eine so attraktive Frau um diese Zeit auf einem Parkplatz am Dixie Highway machte. Sie schien kein Auto zu haben. Genauso wenig schien sie auf dem W e g in den Supermarkt oder gerade herausgekommen zu sein. Sie war einfach da, eine Parkplatzfee, die freundlich Fremde und ihre H u n d e begrüßte, wenn diese vorbeikamen. W a r u m war sie so überaus freundlich? Schöne Frauen waren niemals überaus freundlich, zumindest nicht zu fremden M ä n n e r n , die sie um Mitter138
nacht auf einem Parkplatz trafen. Ein Auto rollte heran u n d ein älterer M a n n kurbelte das Fenster herunter. »Bist du Heather?«, fragte er. Sie warf mir ein amüsiertes Lächeln zu, als wollte sie sagen: Irgendwie muss schließlich jeder seine Miete bezahlen. »Ich muss los«, sagte sie u n d sprang in das Auto. »Tschüs, Hündchen!« »Verlieb dich nicht zu sehr in sie, Marley!«, warnte ich meinen H u n d . » D u kannst sie dir nicht leisten.« Ein paar Wochen später, an einem Sonntagmorgen, ging ich mit Marley wieder zu diesem Supermarkt, um eine Zeitung zu kaufen, und wieder kam jemand auf uns zu, diesmal zwei junge Frauen, fast noch Teenager. Sie wirkten m ü d e und nervös. Anders als die Frau von neulich waren die beiden nicht besonders hübsch und hatten auch keine Anstrengungen unternommen, sich herauszuputzen. Sie sahen aus, als brauchten sie dringend Stoff. »Harold?«, sprach mich eine der beiden an. » N e i n « , antwortete ich, aber insgeheim dachte ich mir: Glaubst du wirklich, dass irgendein Mann hier für eine schnelle Nummer auftauchen und dabei seinen Labrador mitbringen würde? Für wie wahnsinnig hielten mich die beiden? Als ich eine Zeitung aus dem Zeitungsständer vor dem Supermarkt zog, bog ein Auto auf den Parkplatz - Harold, wie ich annahm -, und die M ä d c h e n fuhren mit ihm davon. Ich war nicht der Einzige, der das Aufblühen des Straßenstrichs am Dixie Highway beobachtete. Als meine ältere Schwester einmal zu Besuch war und nachmittags einen Spaziergang machte, sittsam gekleidet wie eine N o n n e , wurde sie zweimal von Freiern angesprochen, die in ihren Autos vorbeikamen. Ein andermal besuchte uns ein Freund und erzählte, dass ihm auf dem W e g zu uns eine Frau ihre Brüste gezeigt hatte, als er vorbeifuhr. Wobei ihn das natürlich nicht sonderlich gestört hatte. 139
N a c h d e m die Anwohner sich beschwert hatten, versprachen die zuständigen Behörden, die N a m e n der überführten Freier zu veröffentlichen. Die Polizei schickte UndercoverBeamtinnen los, die an den entsprechenden Plätzen auf mögliche Kunden warteten. Die verkleideten Polizistinnen waren absolut reizlos - stellen Sie sich J. Edgar Hoover in Frauenkleidung vor -, doch das hielt die M ä n n e r nicht davon ab, sie anzusprechen. Eine Festnahme fand direkt vor unserem H a u s statt - mit einem Fernsehteam im Schlepptau. M i t den N u t t e n und ihren Freiern hätten wir uns vielleicht noch abgefunden, aber die kriminellen Aktivitäten gingen noch weiter. U n s e r Viertel schien immer weiter abzurutschen. Als wir eines Tages einen Spaziergang am Meer machten, wurde J e n n y plötzlich schrecklich übel, und sie beschloss, alleine umzukehren, während ich mit Patrick und Marley weiterging. In einer Seitenstraße hörte sie, wie hinter ihr ein Auto bremste. Zuerst dachte sie, dass es ein N a c h b a r wäre, der sie begrüßen wollte, oder jemand, der nach d e m W e g fragen wollte. D o c h als sie sich umdrehte und in den W a g e n sah, saß der Fahrer vollkommen entblößt darin und masturbierte. N a c h d e m Jenny ihm deutlich zu verstehen gegeben hatte, was sie davon hielt, fuhr er rückwärts die Straße hinunter, um sein Nummernschild zu verbergen. Als Patrick ein knappes J a h r alt war, geschah wieder ein M o r d in unserer Nachbarschaft. W i e M r s Nedermier war auch dieses Opfer eine alte, alleinstehende Dame. Ihr gehörte das erste Haus, wenn man vom Dixie Highway in die Churchill Road abbog, direkt hinter der Tag und N a c h t geöffneten Wäscherei. Ich kannte sie, denn sie hatte mir imm e r zugewinkt, wenn ich vorbeikam. Anders als bei dem M o r d an M r s N e d e r m i e r konnten wir uns diesmal nicht 140
einreden, dass es eine interne Geschichte gewesen war. Das Opfer war zufällig ausgewählt worden, u n d der T ä t e r war ein Fremder, der sich in ihr H a u s geschlichen hatte, während sie an einem Samstagnachmittag im G a r t e n ihre W ä sche aufhängte. Als sie zurückkam, fesselte er ihr die H ä n d e mit einem Telefonkabel und legte sie unter eine Matratze, dann durchsuchte er das ganze H a u s nach Geld. Er floh mit seiner Beute, während unsere gebrechliche Nachbarin langsam unter dem Gewicht der Matratze erstickte. Die Polizei verhaftete bald darauf einen Autofahrer, der in der N ä h e der Wäscherei gesehen worden war; als sie seine Taschen leerten, stellte sich heraus, dass er ganze sechzehn Dollar und etwas Kleingeld erbeutet hatte. D e r Preis für ein M e n schenleben. Die steigende Kriminalität um uns h e r u m ließ uns Marleys unübersehbare Anwesenheit in unserem H a u s noch m e h r schätzen. Was spielt es schon für eine Rolle, dass er ein überzeugter Pazifist war und seine aggressivste Angriffsweise eine Schlabberattacke war? W e n interessierte es, dass seine unmittelbare Reaktion auf jeden F r e m d e n darin bestand, einen Tennisball zu holen, in der Hoffnung, einen neuen Spielgefährten gefunden zu haben? Die Eindringlinge mussten das ja nicht erfahren. W e n n ein Fremder klingelte, sperrten wir Marley nicht m e h r weg, ehe wir öffneten. W i r versicherten ihnen auch nicht mehr, dass er absolut harmlos war. Stattdessen ließen wir nun subtile W a r n u n g e n fallen, etwas wie »In letzter Zeit ist er so unberechenbar geworden« oder »Ich weiß nicht, wie lange die T ü r noch halten wird, wenn er immer dagegen springt«. W i r hatten ein Baby, und ein zweites war unterwegs. W i r waren nicht mehr so unbeschwert, wenn es um das T h e m a Sicherheit ging. Jenny und ich rätselten oft darüber, ob und was Marley wohl tun würde, wenn jemand unser Baby oder 141
uns angreifen würde. Ich war der Meinung, dass er nur wild werden u n d laut kläffen würde. J e n n y setzte mehr Vertrauen in ihn. Sie war überzeugt, dass Marleys unbedingte Loyalität uns und vor allem seinem neuen Cheerios-Spender Patrick gegenüber in einer Krisensituation in einen scharfen Beschützerinstinkt umschlagen würde, der ganz tief in ihm schlummerte. »Niemals«, widersprach ich. » E r würde dem Eindringling die Schnauze zwischen die Beine stecken und sich freuen.« Auf jeden Fall waren wir uns aber einig, dass er den L e u t e n einen Heidenrespekt einflößte. Das war uns n u r recht. Von seiner Anwesenheit hing es ab, ob wir uns in unser e m eigenen H a u s angreifbar oder sicher fühlten. U n d auch w e n n wir weiterhin über seine Qualitäten als Wachhund diskutierten, schliefen wir beruhigt, weil wir ihn bei uns hatten. U n d dann machte er unserer Diskussion eines Abends ein für alle Mal ein E n d e . Es war Oktober und das W e t t e r war noch immer unverändert. Die N a c h t war stickig und wir hatten die Klimaanlage an und die Fenster geschlossen. N a c h den 11 -Uhr-Nachrichten ließ ich Marley noch einmal hinaus, sah nach Patrick in seinem Bettchen, machte das Licht aus und kroch zu Jenny ins Bett, die bereits fest schlief. Marley ließ sich wie immer neben meinem Bett auf den Boden fallen und stieß einen übertriebenen Seufzer aus. Ich dämmerte gerade ein, als ich ein Geräusch hörte - e i n e n schrillen, anhaltenden, durchdringenden Ton. Ich war sofort hellwach, und Marley auch. Er stand wie versteinert neben meinem Bett in der Dunkelheit, die O h r e n gespitzt. Da war es wieder, man konnte es durch die geschlossenen Fenster hören, es übertönte das Summen der Klimaanlage. Ein Schrei. D e r Schrei einer Frau, laut und ganz eindeutig. Im ersten M o m e n t dachte ich an herumalbernde Teenager auf der Straße, so etwas kam schließlich öfter vor. D o c h das war kein fröhlicher » H ö r auf, mich zu 142
kitzeln«-Schrei. Es lag Verzweiflung darin, wirkliches E n t setzen, und mir wurde klar, dass da jemand in furchtbaren Schwierigkeiten steckte. » K o m m mit, Junge«, flüsterte ich und schlüpfte aus dem Bett. »Geh nicht da raus«, kam es von J e n n y neben mir aus der Dunkelheit. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie wach war und es auch gehört hatte. »Ruf die Polizei«, sagte ich. »Ich passe schon auf.« Ich hielt Marley an seinem Kettenhalsband fest und schlich in Boxershorts auf die vordere Veranda hinaus, gerade noch rechtzeitig, um eine Gestalt zu sehen, die die Straße zum Ufer hinunterrannte. Da war er wieder, der Schrei, er kam aus der entgegengesetzten Richtung. H i e r draußen, wo keine Fensterscheiben und W ä n d e sie dämpften, war die Stimme der Frau erstaunlich deutlich und durchdringend. Ich hatte so etwas bisher nur in Horrorfilmen gehört. Auf anderen Veranden ging das Licht an. Die beiden jungen Männer, die gegenüber von uns wohnten, stürzten in U n t e r hosen aus der Haustür und rannten auf die Schreie zu. Ich folgte ihnen vorsichtig in einigem Abstand, Marley dicht an meiner Seite. Ich sah, wie sie einige Häuser weiter durch einen Vorgarten liefen und wenige Sekunden später wieder zurückgerannt kamen. »Gehen Sie zu dem Mädchen!«, schrie einer der beiden und deutete hinter sich. »Sie ist verletzt!« »Wir verfolgen ihn!«, schrie der andere, und die beiden rannten barfuß die Straße hinunter in die Richtung, in die die Gestalt geflohen war. Unsere Nachbarin Barry, eine furchtlose, alleinstehende Frau, die einen heruntergekommenen Bungalow neben dem H a u s von M r s N e d e r m i e r gekauft und wieder hergerichtet hatte, sprang in ihr Auto u n d schloss sich der Jagd an. 143
Ich ließ Marleys Halsband los und rannte in die Richtung, aus der die Schreie kamen. Drei T ü r e n weiter fand ich meine siebzehnjährige Nachbarin, die alleine in ihrer Auffahrt stand. Sie krümmte sich zusammen und japste schluchzend nach Luft. Dabei hielt sie sich die Rippen, und ich sah, wie sich unter ihren H ä n d e n ein Blutfleck auf ihrer Bluse ausbreitete. Sie war ein schlankes, hübsches Mädchen mit dunkelblonden Haaren, die ihr über die Schultern fielen. Sie lebte mit ihrer geschiedenen M u t t e r zusammen, ein e r netten Frau, die als Nachtschwester arbeitete. Ich hatte mich ein paar Mal mit der M u t t e r unterhalten, kannte die Tochter aber n u r vom Sehen. Ich wusste nicht einmal ihren Namen. » E r hat gesagt, er ersticht mich, wenn ich schreie«, schluchzte sie; die W o r t e kamen stockend, gepresst und in panischer H a s t heraus. »Aber ich habe geschrien. Ich habe geschrien und er hat zugestochen!« Als würde ich ihr sonst nicht glauben, schob sie ihre Bluse hoch und zeigte mir die W u n d e , wo das Messer in ihren Brustkorb eingedrungen war. »Ich habe in meinem Auto gesessen und Radio gehört. Er kam aus dem Nichts!« Ich legte ihr die H a n d auf den Arm, um sie zu beruhigen, und als ich das tat, sah ich, wie ihre Knie einknickten. Sie fiel mir in die Arme, ihre Beine klappten unter ihr zusammen. Ich ließ sie sachte zu Boden gleiten, setzte mich neben sie und wiegte sie in den Armen. Sie sprach jetzt leiser, ruhiger, und sie versuchte mit aller Kraft, die Augen offen zu halten. » E r hat gesagt, ich soll nicht schreien«, wiederholte sie immer wieder. » E r hat mir den M u n d zugehalten u n d gesagt, ich soll nicht schreien.« » D u hast genau das Richtige getan«, versuchte ich sie zu beruhigen. » D u hast ihn verjagt.« M i r kam der Gedanke, dass sie möglicherweise unter Schock stand, und ich hatte keine Ahnung, was man in ei144
nem solchen Fall tun musste. Wo bleibt denn der Krankenwagen? Ich tröstete sie auf die einzige Art, wie ich es vermochte, so, wie ich mein eigenes Kind getröstet hätte; m e h r konnte ich nicht tun. Ich strich ihr übers Haar, hielt ihr meine H a n d an die Wange und wischte ihr die Tränen ab. Als sie schwächer wurde, drängte ich sie durchzuhalten und versicherte ihr, Hilfe sei unterwegs. »Alles wird gut«, sagte ich, dabei wusste ich nicht einmal, ob ich das selbst glauben konnte. Ihr Gesicht war aschfahl. So saßen wir alleine auf dem Gehsteig, u n d es kam mir wie Stunden vor, dabei waren es gerade mal drei Minuten, wie es später im Polizeibericht hieß. N u r allmählich kam mir der Gedanke, was wohl mit Marley passiert war. Als ich aufsah, stand er da, nur drei M e t e r von uns entfernt, und sah auf die Straße. Er hatte eine lauernde, entschiedene Körperhaltung eingenommen, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Er war bereit zum Angriff. Ich sah, wie angespannt seine N a c k e n muskeln waren, seine Kiefer waren zusammengebissen, das Fell zwischen seinen Schultern war gesträubt. Er war vollkommen auf die Straße konzentriert und schien jederzeit sprungbereit zu sein. In diesem M o m e n t wurde mir klar, dass Jenny Recht gehabt hatte. W e n n der bewaffnete A n greifer zurückkam, dann musste er zuerst an m e i n e m H u n d vorbei. In diesem Augenblick wusste ich - und ich wusste es mit absoluter Gewissheit -, dass Marley ihn eher töten würde, als ihn an uns heranzulassen. M i t dem M ä d c h e n in den Armen, von dem ich nicht wusste, ob es vielleicht sterben würde, war ich ohnehin schon den Tränen nahe. D o c h der Anblick von Marley, wie er in so untypischer Weise über uns wachte, so majestätisch und zornig, trieb mir die T r ä n e n in die Augen. D e r beste Freund des Menschen? Verdammt, ja, das war er. »Ich passe auf dich auf«, sagte ich zu dem Mädchen, aber 145
was ich eigentlich sagen wollte, was ich hätte sagen sollen, war, dass wir auf sie aufpassten, Marley und ich. »Die Polizei wird gleich hier sein. H a l t durch, bitte, halt durch!« Bevor ihr die Augen zufielen, flüsterte sie: »Ich heiße Lisa.« »Ich bin J o h n « , sagte ich. Es schien lächerlich, sich in dieser Situation vorzustellen, als ob wir uns auf einer Gartenparty begegnet wären. Fast musste ich über die Absurdität der Situation lachen. Stattdessen strich ich ihr eine Haarsträhne zurück und sagte: » D u bist jetzt in Sicherheit, Lisa.« W i e der Erzengel persönlich, vom H i m m e l geschickt, tauchte plötzlich ein Polizeibeamter auf. Ich pfiff nach Marley und rief: »Ist gut, Junge, er ist in Ordnung.« Es war, als hätte ich mit diesem Pfiff einen Bann gebrochen. Da war er wieder, mein tollpatschiger, gutmütiger Freund, der im Kreis herumlief, hechelte und herumschnüffelte. Was für ein uralter Instinkt da auch immer aus den Tiefen seines U n terbewusstseins aufgetaucht war, er war wieder in die Flasche zurückgekrochen. Auf einmal waren überall Polizisten, u n d wenig später kam auch ein Krankenwagen mit Trage und sterilen Mullkompressen. Ich stand auf, erzählte der Polizei alles, was ich wusste, und ging nach Hause. Marley sprang vor mir her. Jenny kam mir an der Haustür entgegen, und zusammen verfolgten wir das Drama, das sich auf der Straße vor unserem Fenster abspielte. Unsere Straße sah aus wie der D r e h o r t eines Fernsehkrimis. Rotes Blinklicht fiel durch die Fenster. Ü b e r der ganzen Szene kreiste ein P o lizeihubschrauber u n d erleuchtete die Gärten und Straßen mit seinem Scheinwerfer. Polizisten sperrten die Straße ab und durchkämmten das Viertel zu Fuß. Doch vergeblich: Es wurde nie ein Verdächtiger gefasst oder ein Motiv ermittelt. M e i n e beiden Nachbarn, die den T ä t e r verfolgt hatten, sag146
ten mir später, dass sie keine Spur m e h r von ihm gefunden hätten. Jenny und ich gingen schließlich wieder ins Bett, wo wir noch lange wach lagen. » D u wärst stolz auf Marley gewesen«, sagte ich zu ihr. »Es war seltsam. Irgendwie schien er zu spüren, wie ernst das Ganze war. Er wusste es einfach. Er hat die Gefahr gespürt und war auf einmal ein ganz anderer H u n d . « »Das habe ich dir ja gleich gesagt«, meinte sie. U n d das stimmte. Während der Hubschrauber über uns die Luft vibrieren ließ, drehte sich J e n n y auf die Seite und murmelte schläfrig: »Wieder mal nichts los in diesem Viertel.« Ich streckte die Hand nach Marley aus, der neben meinem Bett lag. »Das hast du gut gemacht, alter J u n g e « , flüsterte ich u n d kraulte ihm den Kopf. » D u hast dir dein Futter verdient.« U n d mit der H a n d auf seinem Rücken schlief ich ein. Es ist bezeichnend für die Gleichgültigkeit, die m a n in Südflorida jeder Art von Kriminalität entgegenbringt, dass dieser Vorfall mit genau sechs Sätzen in der Zeitung erwähnt wurde. Immerhin war ein junges M ä d c h e n in ihrem eigenen Auto direkt vor dem elterlichen H a u s niedergestochen worden. Doch in der Sonntagszeitung wurde das Verbrechen unter der Rubrik »Verschiedenes« auf Seite 3 b kurz abgehandelt. Die Überschrift lautete: » M a n n greift M ä d c h e n an«. In dem Artikel stand nichts über mich oder Marley oder meine Nachbarn, die dem Verbrecher halbnackt hinterhergerannt waren. Sie erwähnten auch Barry nicht, die ihn mit ihrem Auto verfolgt hatte. O d e r all die N a c h b a r n in der Straße, die ihre Verandabeleuchtung angeknipst u n d den Notruf gewählt hatten. Südflorida war so sehr an Verbrechen gewöhnt, dass unser kleines D r a m a n u r eine unbedeu147
tende Geschichte war. Keine Toten, keine Geiseln, nichts Auffegendes. Das Messer hatte Lisas Lunge verletzt, und sie musste fünf Tage im Krankenhaus bleiben und sich danach mehrere W o c h e n zu Hause erholen. Ihre M u t t e r hielt die Nachbarn über Lisas gesundheitliche Fortschritte auf dem Laufenden, Lisa selbst blieb jedoch im H a u s und ließ sich nicht blicken. Ich fragte mich, was für psychische Spuren der Angriff bei ihr hinterlassen hatte. W ü r d e sie jemals wieder ohne Angst das H a u s verlassen können? Unser Leben hatte sich gerade mal drei M i n u t e n lang gekreuzt, aber ich fühlte mich ihr verbunden, als wäre ich ihr großer Bruder. Ich wollte ihre Privatsphäre nicht stören, trotzdem wollte ich sie gerne sehen und mich vergewissern, dass sie wieder gesund wurde. Als ich schließlich eines Samstags in unserer Auffahrt die Autos wusch, sprang Marley neben mir plötzlich auf, und als ich aufsah, stand sie da. Sie war noch hübscher, als ich sie in E r i n n e r u n g hatte. Gebräunt, kräftig, athletisch - sie sah wieder ganz gesund aus. Sie lächelte und fragte: »Erinnern Sie sich noch an mich?« »Mal sehen«, sagte ich und tat, als wäre ich verwirrt. »Irgendwie kommst du mir bekannt vor. Warst du nicht die, die auf dem Tom-Petty-Konzert vor mir gestanden hat und sich nicht hinsetzen wollte?« Sie lachte, und ich fragte: » W i e geht's dir, Lisa?« » M i r geht's gut«, antwortete sie. »Es ist beinahe wieder alles normal.« » D u siehst blendend aus«, versicherte ich ihr. »Viel besser als das letzte Mal, als wir uns begegnet sind.« »Tja, stimmt«, sagte sie und schlug die Augen nieder. »Was für eine N a c h t . « »Ja, was für eine N a c h t « , wiederholte ich. M e h r gab es dazu nicht zu sagen. Sie erzählte mir vom 148
Krankenhaus, den Ärzten, dem Detective, der sie befragt hatte, den unzähligen Obstkörben, der Langeweile, als sie zu Hause gesessen und sich erholt hatte. D o c h den Uberfall selbst erwähnte sie mit keinem Wort, und ich tat es auch nicht. Manche Sachen muss man auf sich beruhen lassen. Lisa blieb lange an diesem Nachmittag. Sie begleitete mich durch den Garten und half mir bei kleineren Arbeiten, sie spielte mit Marley und wir redeten über belanglose D i n ge. Ich merkte, dass sie etwas sagen wollte, es aber nicht über sich brachte. Sie war siebzehn; ich erwartete nicht von ihr, dass sie die richtigen W o r t e fand. Unsere Lebenswege harten sich ohne Plan oder Vorwarnung überschnitten, zwei F r e m de, die durch eine Explosion unerklärlicher Gewalt aufeinandergeworfen worden waren. Für die üblichen Höflichkeiten zwischen Nachbarn war keine Zeit gewesen, keine Zeit, um eine Beziehung herzustellen. Innerhalb eines Augenblicks hatten wir uns zusammen in einer Krisensituation wiedergefunden, ein Vater in Boxershorts und ein junges M ä d c h e n in blutdurchtränkter Bluse, die sich aneinander und an die Hoffnung klammerten. Zwischen uns herrschte jetzt so etwas wie Vertrautheit. U n d zugleich eine gewisse U n b e h o l fenheit, ein leichtes Gefühl der Peinlichkeit, denn wir waren einander in einem Zustand völliger Blöße begegnet. Jedes W o r t war überflüssig. Ich wusste, dass sie mir dankbar war, dass ich ihr damals beigestanden hatte, ich wusste, dass sie meine Bemühungen, sie zu trösten, zu schätzen wusste, wie unbeholfen sie auch gewesen waren. Sie hatte gefühlt, dass ich mir wirklich Sorgen um sie machte und auf ihrer Seite war. In dieser N a c h t auf dem Gehsteig hatten wir etwas geteilt - einen dieser kurzen M o m e n t e der Klarheit, die sofort wieder vorbei sind und doch alle anderen M o m e n t e eines Lebens prägen. Keiner von uns würde das je vergessen. »Ich freue mich, dass du vorbeigeschaut hast«, sagte ich. 149
»Ich mich auch«, antwortete Lisa. Als sie ging, hatte ich ein gutes Gefühl. Sie war stark. Sie war hart im N e h m e n . Sie würde nach vorne blicken. U n d Jahre später sah ich mich bestätigt: Sie hatte sich eine Karriere als Fernsehmoderatorin aufgebaut und ihren W e g gemacht.
VIERZEHN
Eine verfrühte Ankunft
J
ohn.« W i e durch einen N e b e l drang eine Stimme in meinen Traum. »John! John, wach auf.« Es war Jenny, sie schüttelte mich. »John, ich glaube, das Baby k o m m t . «
Ich stützte mich auf die Ellbogen und rieb mir die Augen. Jenny lag auf der Seite und hatte die Knie hochgezogen. »Das Baby macht was?« »Ich habe starke W e h e n « , sagte sie. »Ich habe die Zeit gestoppt. W i r müssen Dr. Sherman anrufen.« Ich war nun hellwach. Das Baby kam? Ich freute mich schrecklich auf die G e b u r t unseres zweiten Kindes - wieder ein Junge, wie wir inzwischen durch die Ultraschalluntersuchung wussten. Aber das T i m i n g war falsch, furchtbar falsch. Jenny war erst in der einundzwanzigsten Woche, gerade mal die Hälfte der üblichen vierzig W o c h e n einer Schwangerschaft. In den Büchern, die sie zum T h e m a Schwangerschaft gekauft hatte, waren Fotos, die Föten im Mutterleib in ihrer Entwicklung zeigten. Erst vor einigen Tagen hatten wir das Buch hervorgeholt, hatten uns die F o tos von einem einundzwanzig W o c h e n alten Fötus angesehen und uns gefragt, wie es unserem kleinen Freund wohl gehen mochte. Mit einundzwanzig W o c h e n passt ein Fötus in eine Handfläche. Er wiegt nicht einmal ein Pfund. Seine Augen sind noch geschlossen, die Finger sind zerbrechliche kleine Stummel, und seine Lunge ist noch nicht weit genug 151
entwickelt, um den Sauerstoff in der Luft zu verarbeiten. M i t einundzwanzig W o c h e n ist ein Kind kaum lebensfähig. Seine Überlebenschancen außerhalb des Mutterleibes sind gering, und die Chancen, keine ernsten, lebenslangen gesundheitlichen Schäden davonzutragen, sind noch kleiner. Es hat seine G r ü n d e , warum die N a t u r es so eingerichtet hat, dass Babys normalerweise neun Monate im Mutterleib bleiben. M i t einundzwanzig W o c h e n stehen ihre Chancen verdammt schlecht. »Wahrscheinlich ist es nichts«, sagte ich. Aber mein H e r z raste, als ich den N o t r u f der Geburtsstation im Krankenhaus anrief und auf den Anrufbeantworter sprach. Zwei Minuten später rief Dr. Sherman zurück. Er klang müde. »Vielleicht sind es n u r Blähungen«, sagte er. »Aber wir sehen lieber nach.« Er befahl mir, J e n n y sofort ins Krankenhaus zu bringen. Ich rannte durchs Haus, warf einige Sachen zum Übernachten für sie in eine Tasche, bereitete Babyflaschen vor und griff nach der W c k e l t a s c h e . Jenny rief ihre Freundin und Kollegin Sandy an, die selbst gerade M u t t e r geworden war u n d n u r ein paar Häuser weiter wohnte, und fragte, ob wir Patrick bei ihr abgeben dürften. Inzwischen war auch Marley aufgewacht und streckte sich gähnend. Eine nächtliche Spritztour! »Tut mir leid, Marley«, sagte ich zu ihm, als ich ihn in die Garage brachte und sein bitter enttäuschtes Gesicht sah. » D u musst die Festung bewachen.« Ich hob Patrick aus seinem Bettchen, setzte ihn, ohne ihn zu wecken, in seinen Autositz, und schon waren wir unterwegs. Auf der Geburtsstation des St.-Mary-Krankenhauses gingen die H e b a m m e n schnell ans Werk. Sie zogen Jenny ein H e m d an u n d schlossen sie an ein Messgerät an, das ihre W e h e n und den Herzschlag des Babys anzeigte. Kein Zweifel, die W e h e n kamen alle sechs Minuten. Das waren ganz sicher keine Blähungen. »Ihr Baby möchte rauskommen«, 152
sagte eine der H e b a m m e n . » W i r werden alles tun, um das zu einem so frühen Zeitpunkt zu verhindern.« Telefonisch gab Dr. Sherman die Anweisung, den M u t termund zu überprüfen. Eine H e b a m m e fühlte mit einem behandschuhten Finger nach: D e r M u t t e r m u n d war einen Zentimeter geöffnet. Sogar ich wusste, dass das nicht gut war. M i t zehn Zentimetern ist er vollständig offen, und die Mutter beginnt bei einer normal verlaufenden G e b u r t zu pressen. M i t jeder schmerzhaften W e h e brachte Jennys Körper sie einen Schritt näher an den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab. Dr. Sherman ordnete eine Infusion und eine Injektion mit einem W e h e n h e m m e r an. Die W e h e n ebbten daraufhin ab, doch zwei Stunden später waren sie mit unverminderter Heftigkeit wieder da, sodass weitere W e h e n h e m m e r notwendig waren. Die nächsten zwölf Tage blieb J e n n y im Krankenhaus, unter der genauen Beobachtung von zahlreichen Spezialisten und Monitoren. Ich n a h m Urlaub und spielte alleinerziehenden Vater für Patrick. Ich tat mein Bestes, um alles im Griff zu behalten - die Wäsche, die Vorräte, die Mahlzeiten, die Rechnungen, den Haushalt, den Garten. Oh ja, und da war ja noch ein weiteres Mitglied unserer Familie. Statt wie bisher die zweite Geige hinter Patrick zu spielen, flog der arme Marley jäh aus dem Orchester. D o c h auch als ich ihn nicht weiter beachtete, hielt er seinen Teil unserer Beziehung aufrecht und ließ mich nicht aus den Augen. Er folgte mir treu durch das Haus, wenn ich mit Patrick auf dem A r m herumtorkelte, Wäsche aufhängte oder eine Mahlzeit zubereitete. W e n n ich in die Küche ging, um ein paar schmutzige Teller in die Spülmaschine zu stellen, kam er mir nach, drehte sich fünfmal im Kreis, um den perfekten Platz zum Hinlegen zu finden, und ließ sich dann auf den Boden fallen. W e n n er sich gerade bequem eingerichtet hatte, schoss ich 153
aus der Küche und in den Waschkeller, um die Wäsche aus der Maschine in den Trockner zu verfrachten. Er kam mir nach, drehte sich im Kreis, kratzte so lange mit der Pfote an den Teppichen, bis sie zu seiner Befriedigung ausgerichtet waren, und ließ sich dann fallen, nur um zu sehen, wie ich ins W o h n z i m m e r eilte, um die Zeitung zu holen. So ging das den ganzen Tag. W e n n er Glück hatte, hielt ich kurz in meinem Wahnsinn inne, um ihn zu streicheln. Eines Abends, als Patrick endlich eingeschlafen war, fiel ich erschöpft auf die Couch. Marley tapste zu mir herüber und legte mir sein Tauzieh-Spielzeug auf den Schoß, dann sah er mich mit seinen großen braunen Augen an. »Oh, Marley«, sagte ich, »ich kann nicht mehr.« Er schob seine Schnauze unter das Spielzeug, warf es in die Luft und wartete, dass ich danach greifen würde und er es mir wieder wegschnappen konnte. »Tut mir leid, alter Freund«, sagte ich. » H e u t e nicht.« Er zog eine Augenbraue hoch und legte den Kopf schief. Plötzlich lag seine schöne tägliche Routine in T r ü m m e r n . Sein Frauchen war auf unerklärliche Weise verschwunden, sein H e r r c h e n war schlecht drauf, und nichts war m e h r wie früher. Er jaulte kurz auf und ich konnte sehen, wie er versuchte, das alles zu verstehen. Warum hat John keine Lust mehr, mit mir zu spielen? Was ist aus den Morgenspaziergängen geworden? Warum gibt es keine Raufereien mehr auf dem Boden? Und wo ist eigentlich Jenny? Sie ist doch nicht mit diesem. Dalmatiner aus der Nachbarschaft durchgebrannt, oder? D o c h es gab auch Lichtblicke für Marley. D e n n zu seiner großen Freude fand ich schnell wieder zu meinem vorehelichen, sprich schlampigen Lebensstil zurück. Kraft meines Amtes als einziger Erwachsener im H a u s hob ich die Vero r d n u n g zur F ü h r u n g eines verheirateten Hausstandes auf und führte wieder die einst aufgegebenen Junggesellenregeln ein. Solange J e n n y im Krankenhaus war, wurden die T154
Shirts zweimal oder sogar dreimal angezogen, n u r auffällige Flecken wurden zwischen den Waschgängen notdürftig beseitigt. Milch durfte direkt aus dem Milchkarton getrunken werden und die Klobrillen blieben hochgeklappt, außer m a n musste sich mal draufsetzen. Sehr zu Marleys Freude ließ ich die Badezimmertür Tag und N a c h t offen. W i r Jungs waren ja schließlich unter uns. Das gab Marley die Möglichkeit, mir ungewohnt nahe zu sein. Von diesem P u n k t aus war es nur ein logischer Schritt, ihn direkt aus dem Wasserhahn der Badewanne trinken zu lassen. J e n n y wäre entrüstet gewesen, doch in meinen Augen war das immer n o c h besser, als ihn aus der Toilette trinken zu lassen. Jetzt, wo die Offene-Klodeckel-Verordnung galt, musste ich Marley schließlich eine sinnvolle Alternative zu diesem attraktiven Porzellanbecken bieten, das ihn ja geradezu dazu einlud, mit der Schnauze darin U-Boot zu spielen. Ich ging dazu über, den Wasserhahn der Badewanne immer ein kleines bisschen laufen zu lassen, wenn ich auf der Toilette war, damit Marley kaltes, frisches Wasser schlabbern konnte. D e r H u n d hätte sich über eine exakte Nachbildung eines isländischen Wasserfalls nicht m e h r freuen können. Er schob seinen Kopf quer unter den Wasserhahn und schlabberte drauflos. Sein Schwanz schlug wild gegen das Waschbecken hinter ihm. Ich kam zu der Überzeugung, dass er in einem früheren Leben ein Kamel gewesen sein musste, denn sein Durst war unstillbar. Schon nach wenigen Tagen wurde mir klar, dass ich ein Badewannenmonster erschaffen hatte: Bald ging Marley auch alleine ins Badezimmer, o h n e dass ich dort stand, und starrte unglücklich auf den Wasserhahn. Er schleckte jeden Tropfen ab u n d schnoberte so lange mit seiner Schnauze am H a h n , bis ich es nicht länger aushielt u n d ihn aufdrehte. Plötzlich schien das Wasser in seiner Schüssel nicht mehr gut genug für meinen H u n d zu sein. 155
D e r nächste Schritt auf unserem W e g in die Barbarei kam, als ich duschte. Marley entdeckte, dass er seinen Kopf nur hinter den Duschvorhang schieben musste und statt dem Getröpfel aus dem Wasserhahn einen ganzen Wasserfall vorfand. Ich seifte mich gerade ein, und plötzlich tauchte sein haariger Kopf auf und er fing an, in den Duschstrahl zu prusten. »Erzähl das bloß nicht Frauchen!«, warnte ich ihn. Ich versuchte J e n n y einzureden, dass ich zu Hause alles problemlos unter Kontrolle hatte. »Uns geht es prima«, erzählte ich ihr, und dann wandte ich mich an Patrick und fügte hinzu: » N i c h t wahr, Kumpel?« Darauf erwiderte er sein übliches »Dada!«, und dann deutete er auf den Ventilator über Jennys Bett und rief: »Uffft!« Doch sie wusste es besser. Als ich eines Tages zu unserem täglichen Besuch mit Patrick bei ihr auftauchte, starrte sie uns ungläubig an und fragte: »Was in aller Welt hast du denn mit ihm gemacht?« »Was meinst du?«, fragte ich zurück. »Es geht ihm prima. Stimmt doch, oder?« »Dada! Uffft!« »Aber wie sieht er denn aus?«, erwiderte sie. »Wie in aller Welt...« Erst da fiel es mir auf. Irgendetwas stimmte nicht mit sein e m Strampelanzug. Seine dicken Schenkelchen steckten in den kurzen Ärmeln. D e r Stoff schnürte ihm das Blut ab. D e r Kragen hing ihm zwischen den Beinen herum. Sein Kopf ragte aus dem offenen Hosenschritt heraus, und seine Arme waren irgendwo in den viel zu langen Hosenbeinen verschwunden. Es war ein Bild für Götter. » D u Spinner«, sagte sie. » D u hast ihm das Ding verkehrt h e r u m angezogen.« »Das ist deine Sicht der Dinge«, erwiderte ich. Aber es war gelaufen. Jenny hängte sich von ihrem Krankenbett aus ans Telefon, und ein paar Tage später stand 156
meine liebe Tante Anita mit ihrem Koffer vor der Tür, eine pensionierte Krankenschwester, die als junges M ä d c h e n von Irland nach Amerika gekommen war und n u n auf der anderen Seite des Kontinents lebte. Sie machte sich fröhlich ans Werk und stellte die alte O r d n u n g wieder her. Die J u n g g e sellenregeln waren damit Geschichte. Als die Arzte Jenny schließlich nach Hause entließen, geschah das nur unter den strengsten Auflagen. W e n n sie ein gesundes Baby zur Welt bringen wollte, musste sie im Bett bleiben und sich so ruhig wie möglich verhalten. Sie durfte sich n u r bewegen, um auf die Toilette zu gehen. Kein Kochen, keine Windeln wechseln, keine Post hereinholen, nichts heben, was schwerer war als eine Zahnbürste - einschließlich ihres Babys, eine Einschränkung, die sie fast wahnsinnig machte. Absolute Bettruhe, keine Kompromisse. Jennys Arzte hatten die ersten W e h e n erfolgreich bekämpft, und ihr Ziel war es, diesen Zustand für die nächsten zwölf W o c h e n zu halten. Dann würde das Baby fünfunddreißig W o c h e n alt sein, immer noch ein Winzling, aber vollständig entwickelt und bereit, der Welt hier draußen auf eigene Faust zu begegnen. Das bedeutete aber, dass wir Jenny vollkommen ruhig stellen mussten. Tante Anita, G o t t segne sie, zog endgültig bei uns ein. Marley war entzückt, eine neue Spielkameradin zu haben. Ziemlich bald hatte er auch Tante Anita so weit, dass sie ihm den Wasserhahn der Badewanne aufdrehte. Eine Arztin kam zu uns nach Hause und setzte J e n n y einen Katheter am Oberschenkel, den sie mit einer kleinen Pumpe an Jennys Bein verband. Von dort aus floss ununterbrochen eine bestimmte Dosis W e h e n h e m m e r in Jennys Blutkreislauf. Als ob das noch nicht genug gewesen wäre, schloss sie Jenny an ein Überwachungsgerät an, das aussah wie ein Folterwerkzeug - eine übergroße Saugglocke, die 157
an eine Reihe von Kabeln angeschlossen war, die wiederum an einem Telefon endeten. Die Saugglocke war mit einem elastischen G u r t an Jennys Bauch befestigt und zeichnete den Herzschlag des Babys und jede W e h e auf. Die Daten wurden dreimal täglich an eine Krankenschwester gesendet, die auf kleinste Unregelmäßigkeiten achtete. Ich lief in die nächste Buchhandlung u n d kam mit einem kleinen Vermögen in F o r m von Lesematerial zurück, was Jenny bereits in den ersten drei Tagen verschlungen hatte. Sie versuchte bei Laune zu bleiben, aber die Langeweile, das Nichtstun, die ständige Unsicherheit über die Gesundheit ihres ungeboren e n Kindes wirkten zusammen und machten sie fertig. Das Schlimmste war, dass sie M u t t e r eines fünfzehn Monate alten Sohnes war, den sie nicht hochheben durfte; sie durfte nicht zu ihm laufen, ihn nicht füttern, wenn er H u n g e r hatte, ihn nicht baden, wenn er schmutzig war, oder ihn trösten und küssen, wenn er traurig war. Ich setzte ihn immer zu ihr aufs Bett, wo er sie an den H a a r e n zog und ihr die Finger in den M u n d steckte. D a n n deutete er auf den Ventilator über ihrem Bett u n d rief: »Mama, uffft!« Das brachte sie zum Lächeln, doch sie war nicht m e h r die Alte. Sie drehte in ihrer erzwungenen Bewegungslosigkeit langsam durch. Ihr treuer Begleiter in dieser Zeit war natürlich Marley. Er richtete sich häuslich neben ihrem Bett ein, brachte eine große Auswahl an Spielzeugen und Kauknochen mit, nur für den Fall, dass J e n n y es sich doch noch anders überlegen und aus dem Bett springen würde, um mit ihm eine Runde Tauziehen zu spielen und herumzutoben. D o r t hielt er Wache, Tag und Nacht. Ich kam von der Arbeit nach Hause u n d traf Tante Anita in der Küche beim Abendessenkochen an, Patrick in seiner W i p p e neben ihr. D a n n ging ich ins Schlafzimmer und fand Marley neben dem Bett, das Kinn auf die Matratze gestützt, schwanzwedelnd und die Schnau158
ze gegen Jennys Hals gedrückt, während sie las oder schlummerte oder nur an die Decke starrte. Ihr Arm ruhte auf seinem Rücken. Ich strich jeden Tag im Kalender aus, um ihr zu zeigen, dass die Zeit verging, aber für sie war es n u r ein Beweis, wie langsam jede Minute, jede Stunde verging. M a n che Leute verbringen ihr Leben gerne in fauler Zurückgezogenheit; Jenny gehört nicht dazu. Sie kann nicht stillsitzen, muss immer etwas zu tun haben, und die aufgezwungene Tatenlosigkeit machte sie jeden Tag trübsinniger. Sie war wie ein Segler bei Flaute, der mit wachsender Verzweiflung auf den leisesten Windhauch wartet, der die Segel füllt, um die Reise fortzusetzen. Ich versuchte ihr M u t zu machen und sagte Dinge wie: »In einem Jahr denken wir an das hier zurück und lachen darüber«, aber ich spürte, wie sich ein Teil von ihr von mir entfernte. An manchen Tagen war ihr Blick ganz abwesend. Als Jenny noch einen vollen M o n a t Bettruhe vor sich hatte, packte Tante Anita ihre Koffer und verabschiedete sich. Sie war so lange geblieben, wie sie konnte, hatte ihren Aufenthalt sogar ein paar Mal verlängert, aber sie hatte einen E h e mann zu Hause, der, wie sie n u r halb scherzhaft beteuerte, höchstwahrscheinlich vor dem Fernseher verwahrloste. W i r waren wieder auf uns alleine gestellt. Ich tat mein Bestes, um uns über Wasser zu halten, stand bei Tagesanbruch auf, um Patrick zu baden und anzuziehen, fütterte ihn dann mit Hafergrütze und pürierten Karotten und nahm ihn zusammen mit Marley auf einen kurzen Spaziergang mit. D a n n brachte ich ihn zu Sandy, ging zur Arbeit und holte ihn abends wieder ab. In der Mittagspause kam ich nach Hause, um Jenny etwas zu essen zu machen und ihr die Post zu bringen - für sie war das das Highlight des Tages -, warf ein paar Mal einen Stock für Marley und räum159
te notdürftig das H a u s auf, dem man die Vernachlässigung langsam ansah. D e r Rasen blieb ungemäht, die Wäsche blieb liegen und die Fliegentür der hinteren Veranda blieb kaputt, nachdem Marley sie auf der Jagd nach einem Eichhörnchen in einer comicreifen Szene eingerannt hatte. Wochenlang schlug die kaputte T ü r im W i n d hin und her und wurde so zu einer richtigen Hundetür, durch die Marley in meiner Abwesenheit nach Belieben ein und aus gehen konnte, wenn er mit der ans Bett gefesselten J e n n y alleine zu Hause war. »Ich repariere die T ü r « , versprach ich Jenny. »Es steht schon auf meiner Liste.« Aber ich konnte die Bestürzung in ihren Augen lesen. Es kostete sie äußerste Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen und ihr Zuhause wieder in Form zu bringen. Abends, wenn Patrick eingeschlafen war, fuhr ich in den Supermarkt zum Einkaufen, manchmal erst um Mitternacht. W i r lebten von Take-away-Pizza, Cheerios und jeder M e n ge N u d e l n . Das Tagebuch, das ich jahrelang treu geführt hatte, blieb stumm. Ich hatte einfach keine Zeit und noch weniger Kraft. D e r letzte Eintrag lautete kurz: »Im M o m e n t steht uns das Wasser bis zum Hals.« Als J e n n y endlich die fünfunddreißigste Woche erreicht hatte, kam die Arztin zu uns und sagte: »Herzlichen Glückwunsch, Mädchen, Sie haben es geschafft. Sie sind wieder frei.« Sie entfernte die Infusionspumpe und den Katheter, n a h m den M o n i t o r ab und ging dann die schriftlichen Anweisungen von Dr. Sherman durch. Jenny durfte wieder zu ihrem früheren Lebensstil zurückkehren. Keine Einschränkungen. Keine Medikamente mehr. W i r durften sogar wieder Sex haben. Das Baby war n u n voll lebensfähig. Die W e hen würden ganz natürlich einsetzen. »Machen Sie sich eine schöne Zeit«, sagte die Ärztin. »Sie haben es verdient.« J e n n y warf Patrick in die Luft, tobte mit Marley durch den G a r t e n und warf sich auf den Haushalt. An diesem 160
Abend feierten wir in einem indischen Restaurant und gingen anschließend ins Theater. Am nächsten Tag setzten wir unsere kleine Party beim Griechen fort. D o c h noch ehe das Gyros unseren Tisch erreicht hatte, hatte J e n n y schon heftigste Wehen. Sie hatten bereits am Abend vorher angefangen, als Jenny Currylamm gegessen hatte, doch sie hatte sie ignoriert. Sie wollte sich ihren hart verdienten Abend in der Stadt nicht von ein paar W e h e n verderben lassen. Jetzt wurde sie von den Schmerzen beinahe überwältigt. W i r rasten nach Hause, wo Sandy schon auf Abruf bereit war, Patrick zu übernehmen und ein Auge auf Marley zu haben. J e n n y wartete im Auto und kämpfte sich mit kurzen, flachen Atemzügen durch die Wehen, während ich ihre Krankenhaustasche holte. Als wir am Krankenhaus ankamen und ein Z i m m e r zugewiesen bekamen, war Jennys M u t t e r m u n d bereits sieben Zentimeter weit geöffnet. N i c h t einmal eine Stunde später hielt ich unseren kleinen Sohn in den Armen. J e n n y zählte seine Finger und Zehen. Seine Augen waren offen und hellwach, er hatte rote Bäckchen. »Sie haben es geschafft«, verkündete Dr. Sherman. » E r ist perfekt.« C o n o r Richard Grogan, fünfeinhalb Pfund, wurde am 10. Oktober 1993 geboren. Vor Glück verschwendete ich keinen Gedanken daran, dass uns für diese G e b u r t tatsächlich eine der Luxussuiten zur Verfugung gestanden hätte, wir aber überhaupt keine Zeit gehabt hatten, sie zu genießen. Ein paar Minuten eher, und J e n n y hätte unseren Sohn auf dem Parkplatz der Texaco-Tankstelle bekommen. Ich hatte noch nicht einmal Zeit gehabt, mich auf der bequemen Vatercouch auszustrecken. W i r hatten gewaltige Anstrengungen u n t e r n o m m e n , um Conor heil auf diese Welt zu bringen. Daher wunderte es uns nicht, dass die G e b u r t unseres Sohnes großen Trubel 161
auslöste - aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass sich die Lokalpresse dafür interessieren würde. Vor unserem Krankenhauszimmerfenster drängten sich Fernsehteams mit Satellitenschüsseln auf ihren Autos. Ich sah, wie sich die Journalisten vor ihren Kameras postierten. »Hey, Liebling«, sagte ich, »die Paparazzi haben dich entdeckt.« Eine Säuglingsschwester, die sich gerade um unser Baby kümmerte, meinte: »Ja, es ist kaum zu glauben, aber ein paar Z i m m e r weiter ist Donald T r u m p . « »Donald Trump?«, fragte Jenny. »Ich wusste gar nicht, dass der schwanger war.« D e r Immobilientycoon hatte ein paar Jahre zuvor einen gewaltigen Medienrummel ausgelöst, als er in ein riesiges H a u s in Palm Beach gezogen war, das vorher Marjorie Merriweather Post gehört hatte, der großen Kunstsammlerin. Das Grundstück hieß Mar-a-Lago, was so viel wie »vom M e e r zum See« bedeutet. U n d wie der N a m e schon sagt, erstreckte sich das Grundstück über siebzehn Hektar vom Atlantik bis zum Intracoastal Waterway, einschließlich eines 9-Loch-Golfplatzes. Vom unteren Ende unserer Straße aus konnten wir über das Wasser blicken und die maurisch inspirierten T ü r m c h e n des Hauses mit den achtundfünfzig Schlafzimmern sehen, die über die Palmen ragten. Die Trumps und die Grogans waren praktisch Nachbarn. Ich schaltete den Fernseher an und erfuhr, dass der große Donald u n d seine Freundin Maria Maples stolze Eltern eines Mädchens geworden waren, passenderweise nannten sie es Tiffany. Sie war n u r wenige Stunden jünger als Conor. » W i r müssen sie mal zum Spielen einladen«, sagte Jenny. Von unserem Fenster aus beobachteten wir, wie die Fernsehteams sich vor dem Eingang postierten, um die Trumps zu filmen, wenn sie das Krankenhaus mit ihrem Baby verließen. Maria lächelte zurückhaltend, als sie ihr Baby vor 162
die Kamera hielt; Donald winkte und zwinkerte keck mit den Augen. »Ich fühle mich großartig!«, verkündete er vor laufender Kamera. D a n n fuhren sie in einer Limousine mit Chauffeur davon. Als wir am nächsten M o r g e n das Krankenhaus verließen, schob eine reizende ältere D a m e , die ehrenamtlich im Krankenhaus arbeitete, J e n n y mit C o n o r durch die Eingangshalle und durch die automatischen Schiebetüren in den Sonnenschein hinaus. Keine Kamerateams, keine Funkwagen, kein O-Ton, keine Liveschaltung. N u r wir und unsere Begleiterin. Mich fragte niemand, aber ich fühlte mich auch großartig. Donald war nicht der Einzige, der vor Stolz über seinen Nachwuchs beinahe platzte. Die ältere D a m e wartete bei J e n ny und dem Baby, bis ich mit dem Auto vorfuhr. Bevor ich meinen kleinen Sohn in seinen Autositz setzte, h o b ich ihn in die Luft, damit die ganze Welt ihn sehen konnte - wenn uns jemand beobachtet hätte -, und sagte: » C o n o r Grogan, du bist genauso etwas Besonderes wie Tiffany T r u m p , dass du mir das nie vergisst!«
FÜNFZEHN
Das Wochenbett-Ultimatum
W
as n u n kam, hätte eigentlich die schönste Zeit unseres Lebens sein sollen, und in vieler Hinsicht war es auch so. W i r hatten n u n zwei Söhne, ein Kleinkind und ein Neugeborenes, gerade mal siebzehn Monate auseinander. Sie waren unser Ein und Alles. D e n n o c h blieb etwas von der Dunkelheit, die J e n n y während ihrer erzwungenen Bettruhe ergriffen hatte. Manchmal ging es ihr wochenlang gut und sie war glücklich über die Herausforderung, für zwei kleine Grogans verantwortlich zu sein, die in jeder Hinsicht von ihr abhängig waren. D a n n wieder, ohne jede Vorwarnung, war sie plötzlich niedergeschlagen und schlecht gelaunt, wie in einen blauen N e b e l eingehüllt, der sich manchmal tagelang nicht verzog. W i r waren beide erschöpft von den vielen schlaflosen N ä c h t e n . Patrick meldete sich immer noch mindestens einmal pro Nacht, und C o n o r wachte wesentlich öfter auf und weinte, weil er gestillt oder gewickelt werden wollte. Selten konnten wir länger als zwei Stunden am Stück schlafen. In manchen N ä c h t e n schlichen wir wie Zombies schweigend und mit glasigen Augen aneinander vorbei, J e n n y zu einem Baby und ich zu dem anderen. W i r waren um Mitternacht auf und um zwei Uhr, dann wieder um halb vier und um fünf Uhr. W e n n die Sonne aufging und einen neuen Tag und damit auch Hoffnung und bleierne M ü digkeit brachte, liefen wir wieder in unserem Hamsterrad. 164
Von unten kam dann Patricks süße Stimme, fröhlich und hellwach: »Mama! Dada! Uffft!«, und wir wussten, dass es mit dem Schlaf für diesen Tag vorbei war, ob wir wollten oder nicht. Ich kochte stärkeren Kaffee, kam in zerknitterten H e m d e n und Krawatten mit Babybreiflecken zur Arbeit. Eines Morgens ertappte ich die junge, attraktive Redaktionsassistentin dabei, wie sie mich anstarrte. Ich lächelte ihr geschmeichelt zu. Hey, ich mag inzwischen zweifacher Vater sein, aber die Frauen werfen immer noch ein Auge auf mich. D a n n fragte sie: »Wissen Sie, dass Sie ein Abziehbildchen im H a a r haben?« Zu allem Uberfluss machte uns unser kleines Baby große Sorgen. C o n o r hatte ohnehin Untergewicht und konnte keine Mahlzeit bei sich behalten. J e n n y war wild entschlossen, ihn zu einem robusten Kerlchen heranzufüttern, u n d er schien genau das Gegenteil zu wollen. Sie bot ihm ihre Brust an und er saugte hungrig daran. D a n n spuckte er mit einem gewaltigen W ü r g e n alles wieder aus. Sie stillte ihn wieder, er trank wieder gierig - und wenig später kam uns wieder alles entgegen. Erbrechen im Schwall wurde zu einem stündlichen Ritual bei uns. Jedes Mal wiederholte sich dieses Spielchen, und jedes Mal wurde J e n n y wütender. Die Arzte diagnostizierten Reflux und schickten uns zu einem Spezialisten, der unseren kleinen J u n g e n betäubte und ihm eine Magensonde einführte. C o n o r überstand diese Phase schließlich und n a h m normal zu, aber vier lange M o n a t e waren wir außer uns vor Sorge um ihn. J e n n y war ein Ausbund von Angst, Stress und Frust, dazu kam noch der Schlafmangel, weil sie ihn praktisch ununterbrochen stillte und dann hilflos zusehen musste, wie er ihr die Milch wieder entgegenspuckte. »Ich fühle mich so unfähig«, klagte sie. »Eine M u t ter sollte ihrem Baby alles geben können, was es braucht.« Sie war vollkommen am Ende. Die lächerlichste Kleinigkeit 165
- eine offene Schranktür oder Krümel auf dem Tisch - brachte sie zum Explodieren. Das G u t e daran war, dass J e n n y ihren Frust niemals an ein e m der Babys ausließ. Vielmehr kümmerte sie sich mit beinahe zwanghafter Sorgfalt und Geduld um die beiden. Sie gab ihnen alles, was sie hatte. Dafür ließ sie ihren Groll und ihre schlechte Laune an mir und vor allem an Marley aus. Sie hatte überhaupt keine Geduld mehr mit ihm. Er stand ganz oben auf ihrer Abschussliste und konnte ihr einfach nichts recht machen. Jeder kleine Ausrutscher - und davon gab es nach wie vor viele - brachte Jenny einem Ausbruch näher. D o c h Marley blieb ungeachtet all dessen bei seinen Verrücktheiten, d u m m e n Streichen und seiner ungezügelten Wildheit. Ich kaufte einen blühenden Strauch und pflanzte ihn zu E h r e n von C o n o r s G e b u r t ein, und Marley grub ihn n o c h am selben Tag mitsamt Wurzeln aus und machte Kleinholz aus ihm. Ich reparierte endlich die Verandatür, und Marley, der inzwischen so an seine H u n d e t ü r gewöhnt war, rannte sie bei nächster Gelegenheit wieder ein. Eines Tages entwischte er uns, und als er schließlich zurückkam, hatte er einen Damenslip im Maul - ich wollte es gar nicht genauer wissen. T r o t z der verschriebenen Beruhigungsmittel, die Jenny i h m i m m e r öfter verpasste - wohl m e h r um sich selbst zu beruhigen als ihn -, wurde Marleys Angst vor Gewitter jeden Tag schlimmer. Inzwischen versetzte ihn schon der kleinste Regenschauer in Panik. W e n n wir zu Hause waren, drängte er sich n u r an uns und sabberte nervös unsere Kleidung voll. W a r e n wir nicht zu Hause, versuchte er nach wie vor sich in Sicherheit zu bringen, indem er sich durch Türen, Putz und Linoleum grub. Je m e h r ich reparierte, umso mehr machte er kaputt. Ich kam nicht m e h r hinterher. Ich hätte wütend werden müssen, aber J e n n y war wütend genug für uns bei166
de. Stattdessen fing ich an, ihn zu decken. W e n n ich einen zerkauten Schuh, ein Buch oder Kissen fand, versteckte ich das Beweisstück, ehe sie es finden konnte. W e n n er durch unser kleines, feines Zuhause tobte, unser Elefant im Porzellanladen, räumte ich hinter ihm auf, legte verrutschte Teppiche wieder an ihren Platz, rückte Tischchen gerade und wischte den Sabber ab, den er an die W ä n d e schleuderte. Ich fegte in Windeseile die Holzsplitter in der G a rage zusammen, als Marley wieder einmal die T ü r zerlegt hatte. Ich blieb abends lange auf, flickte und schmirgelte, und wenn J e n n y aufwachte, war das Schlimmste schon behoben. » U m Gottes willen, Marley, bist du lebensmüde?«, fragte ich ihn eines Abends, als er schwanzwedelnd neben mir stand und mir die O h r e n ableckte, während ich auf dem Boden kniete und seine letzte Schandtat vertuschte. » D u musst damit aufhören!« In diese hochexplosive Stimmung kam ich eines Tages nach Hause. Als ich die Haustür öffnete, schlug J e n n y gerade mit den Fäusten auf Marley ein. Sie war vollkommen außer sich, heulte und drosch auf seinen Rücken, seine Schultern und seinen Hals ein, als wäre er eine Trommel. »Warum?«, schrie sie ihn an, »warum machst du das? W a r u m machst du alles kaputt?« In diesem M o m e n t sah ich die Bescherung. Ein Sofakissen war aufgerissen, der Stoff zerfetzt und die Füllung herausgerissen. Marley stand mit gesenktem Kopf breitbeinig da, als stemme er sich gegen einen Sturm. Er machte keine Anstalten zu fliehen oder den Schlägen auszuweichen; er stand nur da und n a h m alles hin, ohne zu winseln oder sich zu beklagen. »Hey, hey, hey!«, schrie ich und packte sie an den H a n d gelenken. » K o m m schon, hör auf!« Sie schluchzte und rang nach Luft. » H ö r auf!«, wiederholte ich. Ich trat zwischen 167
sie und Marley und schob mein Gesicht genau vor ihres. Es war, als würde mich eine Fremde anstarren. Ich erkannte den Ausdruck in ihren Augen nicht wieder. »Schaff ihn hier raus«, sagte sie mit leiser, drohender Stimme. »Schaff ihn hier weg. Sofort.« »Okay, ich gehe mit ihm raus, aber du wirst dich jetzt beruhigen!«, sagte ich. »Schaff ihn raus und sorg dafür, dass er wegbleibt«, sagte sie mit bebender Stimme. Ich öffnete die Haustür und er stürzte hinaus. Als ich mich noch einmal umdrehte, um seine Leine vom Tisch zu nehmen, sagte Jenny: »Ich meine es ernst. Ich will, dass er verschwindet. Ich will ihn hier nicht m e h r haben.« »Ach, k o m m schon«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Das meinst du doch nicht ernst.« »O doch. Ich habe genug von diesem H u n d . Entweder findest du ein neues Zuhause für ihn, oder ich tue es.« Das konnte nicht ihr Ernst sein. Sie liebte diesen H u n d . Sie vergötterte ihn, trotz der langen Liste seiner Untaten. Sie war wütend und bis zum Äußersten gestresst. Sie würde es sich schon anders überlegen. Im M o m e n t war es wohl das Beste, ihr Zeit zu geben, damit sie sich abregen konnte. Ich ging ohne ein weiteres W o r t zur T ü r hinaus. Im Vorgarten rannte Marley herum, sprang auf u n d ab und schnappte in die Luft, als wollte er mir seine Leine aus der H a n d reißen. Er war wieder ganz der alte W r r k o p f , trotz der Abreibung, die er gerade bekommen hatte. Ich wusste, dass J e n n y ihm nicht wehgetan hatte. Ehrlich gesagt musste er bei unseren Raufereien wesentlich härtere Schläge von mir einstecken. U n d er raufte sehr gerne mit mir, konnte meistens gar nicht genug davon bekommen. Unempfindlichkeit gegen Schmerzen war ein Merkmal seiner Rasse, diese H u n d e waren unverwüsdiche Muskelmaschinen. Als ich einmal in unserer Auffahrt 168
das Auto wusch, sprang er Kopf voran in den E i m e r mit Seifenwasser und galoppierte dann blind mit dem E i m e r über dem Kopf durch die Vorgärten. Er hielt erst an, als er mit vollem Tempo gegen eine Betonwand krachte. Das schien ihn nicht weiter zu stören. Aber wenn m a n ihm im Z o r n mit der flachen H a n d eins aufs Hinterteil gab oder ihn auch n u r in strengem Ton ansprach, dann reagierte er tief getroffen. Auch wenn er sich meistens wie ein grober Tollpatsch benahm, so hatte er doch einen äußerst sensiblen Kern. J e n n y hatte ihm nicht körperlich wehgetan, nicht im Geringsten, aber sie hatte - zumindest für den M o m e n t - seine Gefühle verletzt. Jenny bedeutete ihm alles, sie war seine beste F r e u n din auf der ganzen Welt, und auf einmal hatte sie sich gegen ihn gewendet. Sie war sein Frauchen und er ihr treuer G e fährte. W e n n sie einen G r u n d sah, ihn zu schlagen, dann ertrug er es stoisch. Selbst für einen H u n d war er nicht besonders schlau, aber er war absolut treu. Jetzt war es an mir, den Schaden zu beheben und die Dinge wieder ins L o t zu bringen. Als wir draußen auf der Straße waren, n a h m ich ihn an die Leine und befahl ihm: »Sitz!« Er setzte sich hin. Ich rückte ihm sein Halsband zurecht und streichelte ihm kurz über den Kopf, bevor wir losgingen. Er warf den Kopf hoch und sah mich an, die Z u n g e hing ihm weit aus dem Maul. Er schien über den Zwischenfall mit J e n n y hinweg zu sein, u n d nun hoffte ich dasselbe von ihr. »Was soll ich nur mit dir machen, du Riesendummkopf?«, fragte ich ihn. Er sprang an mir hoch, als hätte er auf Sprungfedern gesessen, u n d fuhr mir mit seiner Zunge über das Gesicht. Marley und ich gingen an diesem Abend sehr lange spazieren, und als ich schließlich die H a u s t ü r öffnete, war er vollkommen erschöpft und schien bereit, lautlos in einer Ecke zu Boden zu sinken. J e n n y fütterte Patrick gerade ein Baby169
gläschen, während sie C o n o r auf ihrem Schoß wiegte. Sie schien sich beruhigt zu haben und wieder sie selbst zu sein. Ich machte Marley von der Leine los, und er stürzte sich auf seine Wasserschüssel und schlabberte fröhlich drauflos, wobei er das Wasser rund um seine Schüssel auf dem Boden verteilte. Ich wischte es auf und warf einen vorsichtigen Blick in Jennys Richtung, aber sie schien ungerührt. Vielleicht war der schreckliche Augenblick ja vorbei. Vielleicht hatte sie es sich noch einmal überlegt. Vielleicht kam sie sich wegen ihres Ausbruchs vorhin auch blöd vor und suchte nun nach W o r t e n für eine Entschuldigung. Als ich an ihr vorbeiging, Marley dicht hinter mir, sagte sie mit ruhiger Stimme und ohne mich anzusehen: »Ich meine es ernst. Ich will, dass er verschwindet.« In den folgenden Tagen wiederholte sie dieses Ultimatum oft genug, dass ich es nicht m e h r für eine leere D r o h u n g hielt. Sie ließ nicht länger n u r Dampf ab, und dieses T h e ma würde sich nicht von selbst erledigen. Ich fühlte mich schrecklich. W i e pathetisch das jetzt auch klingen mag, aber für mich war Marley inzwischen so etwas wie mein männlicher Seelenverwandter, mein engster Verbündeter, mein Freund geworden. Er war der ungezogene, wilde, unnachgiebige, politisch unkorrekte Freigeist, der ich immer hatte sein wollen, wenn ich n u r den M u t dazu gehabt hätte, und ich hatte meine Freude an seinem ungezügelten Temperament. Egal, wie kompliziert das Leben auch war, er erinnerte mich immer wieder an die simplen Freuden des Alltags. Egal, was für Anforderungen man an mich stellte, er zeigte mir immer wieder, dass es sich manchmal lohnte, ungehorsam zu sein. In einer Welt voller Chefs war er sein eigener Herr. Der Gedanke, ihn wegzugeben, riss mir die Seele entzwei. Aber ich hatte n u n die Verantwortung für zwei Kinder zu tragen 170
und eine Ehefrau, die wir dringend brauchten. Ich hatte eine schreckliche Wahl zu treffen: W e n n unser Familienfrieden davon abhing, dass Marley abgeschafft wurde, wie konnte ich Jennys Wunsch dann ignorieren? Ich fing an, meine Fühler auszustrecken und diskret unter Freunden und Kollegen nachzufragen, ob jemand vielleicht Interesse an einem liebenswerten, lebhaften, zwei J a h r e alten Labrador hätte. U b e r U m w e g e erfuhr ich von einem Nachbarn, der erklärter H u n d e n a r r war und es nicht fertigbrachte, einen H u n d in N o t im Stich zu lassen. D o c h sogar er lehnte ab. Marleys Ruf war ihm leider vorausgeeilt. Jeden M o r g e n las ich die Anzeigen in der Zeitung durch, als würde ich auf ein W u n d e r hoffen wie etwa: »Suche sehr wilden, völlig unberechenbaren Labrador mit möglichst vielen Phobien. Zerstörerische Qualitäten sind ein Plus. Zahle gut.« Stattdessen fand ich einen wachsenden M a r k t für junge H u n d e , die aus irgendeinem G r u n d weggegeben werden sollten. Meist waren es reinrassige Tiere, für die ihre Besitzer erst wenige M o n a t e zuvor viel Geld ausgegeben hatten. N u n wurden sie für einen Spottpreis angeboten, oder sogar umsonst. Beunruhigend viele dieser ungewollten H u n d e waren Labradorrüden. Solche Anzeigen fanden sich beinahe jeden Tag in der Zeitung, sie klangen herzerweichend und lächerlich zugleich. Für mich als Betroffener und Kenner der Szene war es offensichtlich, dass die wahren G r ü n d e für das Weggeben der H u n d e verschleiert werden sollten. Die Anzeigen waren voller fröhlicher Euphemismen für Verhaltensweisen, die ich nur zu gut kannte: »Lebhaft ... liebt Menschen ... braucht einen großen Garten ... braucht viel Bewegung ... ausdauernd ... temperamentvoll ... kräftig ... ganz eigene Persönlichkeit.« Es kam alles auf dasselbe heraus: ein H u n d , dem 171
seine Besitzer nicht m e h r gewachsen waren. Ein H u n d , der zur Last geworden war. Ein H u n d , den seine Menschen aufgegeben hatten. Ein Teil von mir lachte wissend; die Anzeigen waren komisch in ihrer Verlogenheit. W e n n ich etwas von »mutiger Beschützer« las, wusste ich, dass das in Wahrheit »gefürchteter Beißer« hieß. »Beständiger Begleiter« bedeutete »hat Angst, allein gelassen zu werden« und »guter Wachhund« hieß nichts anderes als »wilder Kläffer«. U n d wenn ich die Uberschrift »Tolles Angebot« las, dann wusste ich, dass sich dahinter n u r die verzweifelte Frage verbarg: »Wie viel muss ich dir bezahlen, damit du mir dieses Vieh endlich vom Hals schaffst?« Ein anderer Teil von mir war schrecklich traurig. Ich war kein Mensch, der einfach aufgab. U n d ich glaubte nicht, dass J e n n y so einfach aufgeben wollte. W i r gehörten nicht zu den Menschen, die ihre Probleme einfach in der Anzeigenspalte der Lokalzeitung ablieferten. Marley war zweifelsfrei eine Herausforderung. Er hatte nichts mit den ruhigen H u n d e n gemein, mit denen wir beide aufgewachsen waren. Er hatte eine ganze M e n g e schlechte Angewohnheiten. Schuldig im Sinne der Anklage. Er hatte auch nicht m e h r viel von dem kleinen tollpatschigen Welpen, den wir vor zwei Jahren mit nach Hause gebracht hatten. Aber auf seine eigene verschrobene Weise gab er sein Bestes. Ein Teil unserer Aufgabe als seine Besitzer war es, ihn nach unseren Bedürfnissen zu formen, aber andererseits war es auch unsere Pflicht, ihn so zu akzeptieren, wie er war. U n d nicht nur das, wir hätten ihn eigentlich um seiner ungebändigten H u n deseele willen lieben müssen. W i r hatten damals ein lebendiges, atmendes Wesen mit nach Hause genommen und kein modisches Accessoire, das man in die Ecke stellen konnte. Er war n u n mal unser H u n d . Er gehörte zur Familie, und bei all seinen Launen hatte er uns unsere Zuneigung doch 172
hundertfach zurückgegeben. Eine Liebe wie die seine war für kein Geld der Welt zu kaufen. Ich war nicht bereit, ihn wegzugeben. Ich bemühte mich zwar weiterhin halbherzig um einen neuen Platz für ihn, gleichzeitig fing ich aber ernsthaft an mit ihm zu arbeiten. M e i n e höchstpersönliche Mission Impossible bestand darin, den guten Ruf dieses H u n d e s wiederherzustellen und J e n n y zu beweisen, dass er es wert war. Gestörte N a c h t r u h e hin oder her, ich stand von nun an bei Tagesanbruch auf, packte Patrick in den Kinderwagen und ging mit ihm und Marley zum Wasser hinunter, wo ich mit Marley seine Lektionen durchging. Sitz. Platz. Bei Fuß. I m m e r wieder. M e i n e Anstrengungen hatten etwas Verzweifeltes, und Marley schien das zu spüren. H i e r ging es um mehr, das hier war wirklich ernst. Falls ihm das nicht ganz klar war, sagte ich es ihm oft genug mit unmissverständlichen Worten: » D a s ist kein Spiel, Marley. Es geht um alles. Los jetzt.« U n d dann übten wir alles noch einmal und Patrick half uns, indem er in die H ä n d e klatschte und seinem großen hellbraunen Freund zurief: »Mallie, Fuuuth!« Als ich Marley schließlich wieder bei der Hundeschule anmeldete, war er nicht m e h r der junge Tunichtgut, mit dem ich damals dort aufgetaucht war. Ja, er war i m m e r noch furchtbar wild, aber inzwischen wusste er, dass ich der H e r r war und er zu folgen hatte. Diesmal zerrte er nicht blindlings zu den anderen H u n d e n hin (oder zumindest nur ganz selten), er u n t e r n a h m keine unerlaubten Entdeckungstouren über den Platz und schnüffelte auch an keinen fremden Genitalien herum. Acht W o c h e n lang arbeiteten wir mit kurzer Leine an Befehlen, und er war mit Freude - oder vielmehr mit überschäumendem Eifer - bei der Sache. In der letzten Stunde rief uns die Trainerin, eine entspannte 173
Frau und damit das genaue Gegenteil von Miss Dominatrix, nach vorne. »Okay«, sagte sie. »Zeigt mal, was ihr gelernt habt.« Ich befahl Marley, sich hinzusetzen, und er ließ sich sofort auf sein Hinterteil fallen. D a n n rückte ich sein Halsband zurecht und forderte ihn mit einem kurzen Rucken an der Leine dazu auf, bei Fuß zu gehen. W i r marschierten über den Platz und zurück, Marley dicht an meiner Seite, sodass er mit seiner Schulter mein Hosenbein berührte. Er benahm sich mustergültig. D a n n forderte ich ihn wieder zum Sitzen auf, stellte mich vor ihn und deutete mit meinem Finger direkt auf seine Stirn. »Bleib!«, befahl ich mit ruhiger Stimme u n d ließ mit der anderen H a n d die Leine fallen. D a n n ging ich einige Schritte zurück. Seine großen braunen Augen waren auf mich gerichtet und warteten auf das kleinste Zeichen von mir, das ihn erlösen würde. Aber er blieb sitzen. Ich ging einmal um ihn herum. Er zitterte vor Erregung und versuchte, seinen Kopf ganz h e r u m zu drehen, wie Linda Blair, um mich im Auge zu behalten, aber er rührte sich nicht vom Fleck. Als ich wieder direkt vor ihm stand, schnippte ich nur so zum Spaß mit den Fingern und rief: »Volle Deckung!« Er warf sich zu Boden, als erstürme er gerade Iwo Jima. Die Lehrerin musste lachen, ein gutes Zeichen. D a n n drehte ich mich um und entfernte mich etwa zehn Meter, dabei fühlte ich seine Augen im Nacken. Aber noch immer blieb er an O r t und Stelle. Als ich mich schließlich zu ihm umdrehte, zitterte er heftig. D e r Vulkan stand kurz vor dem Ausbruch. D a n n stellte ich mich breitbeinig hin und rief: »Marley ...«, ich ließ seinen N a m e n ein paar Sekunden in der Luft hängen, » . . . hierher!« Er ging ab wie eine Rakete und schoss auf mich zu. Ich wappnete mich gegen den Aufprall. Im letzten M o m e n t wich ich ihm mit der Eleganz eines Stierkämpfers aus, und er preschte an mir vorbei, kam dann im 174
Kreis zu mir zurück und schubste mich von hinten mit seiner Schnauze an. » G u t e r H u n d , Marley!«, lobte ich ihn begeistert und ging in die Hocke. » G u t e r H u n d , guter H u n d , Marley!!« Er tanzte um mich herum, als hätten wir gerade zusammen den M o u n t Everest bezwungen. Am E n d e dieses Unterrichtstages überreichte die Trainerin jedem von uns eine Urkunde. Marley hatte die erste Klasse des Trainingsprogramms bestanden und dabei unter allen Teilnehmern sogar den siebten Platz belegt. W e n interessierte es schon, dass es nur acht Teilnehmer gegeben hatte und N u m m e r acht ein psychopathischer Pitbull war, der jedem menschlichen Wesen in seiner U m g e b u n g ganz offensichtlich nach dem Leben trachtete? Für mich war das Ganze ein voller Erfolg. Marley, mein unverbesserlicher, unerziehbarer, u n g e zogener H u n d , hatte bestanden. Ich war vor Stolz zu Tränen gerührt, und vielleicht hätte ich wirklich geheult, wäre Marley nicht an mir hochgesprungen und hätte p r o m p t seine Urkunde gefressen. Auf der Heimfahrt sang ich lauthals »We are the Champions«. Marley, der meine Freude und meinen Stolz spürte, leckte mir das Ohr. Ausnahmsweise war mir das ganz egal. Eine Rechnung zwischen Marley und mir war noch offen. Ich musste ihm die schlimmste seiner Unsitten abgewöhnen: Leute anzuspringen. Egal ob Freund oder Fremder, Kind oder Erwachsener, Postbote oder Gasmann, Marley begrüßte jeden auf die gleiche Art und Weise - er rannte in vollem Tempo auf den N e u a n k ö m m l i n g zu, schlitterte über den Boden, sprang an ihm hoch, legte ihm seine Pfoten auf Brust oder Schultern und leckte ihm das Gesicht ab. Als er noch ein knuddeliger Welpe war, hatten wir das niedlich gefunden, aber inzwischen war es eine lästige U n a r t ge175
worden, u n d manche Besucher erschreckte er mit seinem unerwünschten Begrüßungsritual zu Tode. Er hatte schon Kinder umgerannt, Gäste verschreckt, Blusen und T-Shirts von F r e u n d e n verdreckt u n d beinahe meine gebrechliche M u t t e r umgerissen. N i e m a n d wusste seine Liebesbeweise zu schätzen. Ich hatte bereits mit den herkömmlichen H u n deerziehungsregeln versucht, ihm das Hochspringen abzugewöhnen - o h n e Erfolg. Die Botschaft kam einfach nicht an. D a n n gab mir ein Freund, der sich mit H u n d e n auskannte, den entscheidenden T i p p : » W e n n du ihm das abgewöhnen willst, musst du ihm das nächste Mal das Knie gegen die Brust rammen.« »Ich will ihm nicht wehtun.« » D u tust ihm nicht weh. Ein paar ordendiche Knüffe mit dem Knie, und ich verspreche dir, dass er damit aufhört.« Ich musste alles auf eine Karte setzen. Marley musste sich bessern oder uns verlassen. Als ich am nächsten Abend von der Arbeit nach Hause kam, öffnete ich die Haustür und rief: »Ich bin da!« W i e immer kam Marley über die Dielen gerannt, um mich zu begrüßen. Die letzten M e t e r schlitterte er wie auf Eis auf mich zu u n d h o b mit den Vorderpfoten ab, um sie mir auf die Schultern zu legen und mir dann das Gesicht abzulecken. In dem M o m e n t , als seine Pfoten mich berührten, stieß ich ihm mit einer kurzen Bewegung mein Knie vor die Brust, genau an der weichen Stelle unterhalb des Brustkorbs. Er schnappte kurz nach Luft und glitt dann von mir herunter zu Boden. D a n n sah er mich mit einem gekränkten Ausdruck an, als versuchte er zu verstehen, was plötzlich in mich gefahren war. Er hatte mich sein ganzes Leben lang angesprungen; was sollte diese hinterhältige Attacke? Am nächsten Abend wiederholte sich die Szene. Er sprang mich an, ich hob mein Knie, und er ging hustend zu 176
Boden. Ich kam mir grausam vor, aber wenn ich ihn vor der Anzeigenseite bewahren wollte, musste ich diese Runde gewinnen. »Entschuldige, alter J u n g e « , sagte ich zu ihm u n d kniete mich hin, damit er mich doch noch ablecken konnte, »es ist nur zu deinem Besten.« Als ich am dritten Abend nach Hause kam, schoss Marley um die Ecke und kam mit üblicher Höchstgeschwindigkeit auf mich zu. Aber diesmal änderte er seine Strategie. Anstatt mich anzuspringen, behielt er alle vier Pfoten auf dem Boden und rammte mir stattdessen mit vollem T e m p o den Kopf gegen die Knie, sodass er mich beinahe umriss. Ich nahm das als Sieg. » D u kannst es, Marley, du kannst es! Guter Junge! Du hast mich nicht angesprungen!« U n d ich kniete mich hin, damit er mich ablecken konnte, o h n e einen Stoß vor die Brust zu riskieren. Ich war beeindruckt. Marley hatte sich tatsächlich überreden lassen. Dennoch war das Problem noch nicht ganz gelöst. M i c h sprang er nun zwar nicht m e h r an, alle anderen begrüßte er aber weiterhin auf genau dieselbe Weise. Dieser H u n d war schlau genug, um zu verstehen, dass n u r ich eine Gefahr darstellte und er alle anderen Menschen weiterhin ungestraft anspringen konnte. Ich musste meine Offensive ausweiten, und dazu brauchte ich die Hilfe meines guten Freundes J i m Tolpin, ein Kollege von mir. J i m war ein gelassener, belesener Typ mit Halbglatze, Brille und schlanker Figur. W e n n Marley von irgendjemandem dachte, dass er ihn ungestraft anspringen konnte, dann war es Jim. Eines Tages im Büro erklärte ich ihm meinen Plan. Er sollte nach der Arbeit bei uns vorbeikommen, an der T ü r klingeln und hereinkommen. W e n n Marley ihn dann ansprang, um ihn zu begrüßen, sollte er ihm einen sauberen Denkzettel verpassen. »Sei bloß nicht schüchtern«, sagte ich. »Mit Andeutungen bist du bei Marley an der falschen Adresse.« 177
An diesem Abend klingelte Jim an der T ü r und kam herein. Natürlich fiel Marley auf unseren Trick herein u n d kam mit fliegenden O h r e n auf ihn zugeschossen. Als Marley abhob, um ihn anzuspringen, beherzigte Jim mein e n Ratschlag. Offenbar besorgt, dass er zu schüchtern wäre, r a m m t e er Marley sein Knie mit voller W u c h t in den Solarplexus und setzte ihn so außer Gefecht. D e r Zusammenprall war im ganzen Flur zu hören. Marley stieß ein lautes Stöhnen aus u n d glotzte Jim ungläubig an, dann ging er zu Boden. » M e i n Gott, J i m « , rief ich, »hast du Kung-Fu trainiert?« » D u hast doch gesagt, er muss es spüren«, antwortete er. U n d gespürt hatte Marley es. Er stand auf, atmete tief durch und begrüßte J i m dann, wie ein braver H u n d es tun sollte - auf allen vieren. W e n n er gekonnt hätte, hätte er die weiße Flagge gehisst. Marley sprang nie wieder jemanden an, zumindest nicht, wenn ich dabei war; und es hat ihm auch nie wieder jemand das Knie in die Brust oder sonst wo hingerammt. Eines Morgens, nicht lange, nachdem Marley das Anspringen aufgegeben hatte, wachte ich auf und meine Frau war wieder da. M e i n e Jenny, die Frau, die ich liebte und die in diesem zähen blauen Nebel verschwunden war, war zu mir zurückgekehrt. So plötzlich, wie die Wochenbettdepression sie ergriffen hatte, so plötzlich war sie nun wieder vergangen. Es war, als sei ein böser Geist von Jenny gewichen. N u n war er fort. G o t t sei Dank. Sie war stark, sie war optimistisch, sie war eine gute zweifache M u t t e r und blühte dabei sogar auf. Marley stand wieder in ihrer Gunst, er hatte wieder festen Boden unter den Füßen. Mit einem Baby auf jedem Arm beugte sie sich zu ihm hinunter und küsste ihn. Sie warf Stöckchen für ihn und mischte ihm Bratensoße ins Fut178
ter. Sie tanzte mit ihm durchs Zimmer, wenn ein gutes Lied im Radio kam. An manchen Abenden, wenn er zur Ruhe gekommen war, fand ich Jenny zusammen mit ihm auf dem Boden, den Kopf auf seinem Hals. J e n n y war zurück. G o t t sei Dank, sie war wieder da.
SECHZEHN
Das Vorsprechen
M
anche Dinge sind einfach zu bizarr, um erfunden zu sein - sie müssen wahr sein. Als J e n n y mich anrief, um mir mitzuteilen, dass Marley einen Casting-Termin für einen Film hatte, wusste ich deshalb, dass sie sich das nicht ausgedacht haben konnte. Trotzdem konnte ich es nicht glauben. » E r hat was?«, fragte ich. »Einen Termin für Filmaufnahmen.« » W i e im Kino?« »Ja, wie im Kino, du Trottel«, sagte sie. »Ein Spielfilm.« »Marley? In einem Spielfilm?« So ging es noch einige Zeit hin und her, während ich versuchte, mir unseren verrückten Bügelbrett-Zerbeißer als stolzen Nachfolger von Rin T i n T i n vorzustellen, wie er über die Leinwand jagt und hilflose Kinder aus brennenden H ä u s e r n rettet. » U n s e r Marley?«, fragte ich noch einmal, nur um ganz sicherzugehen. Es stimmte wirklich. Vor einer Woche hatte Jennys Vorgesetzte von der Palm Beach Post angerufen und gesagt, eine Freundin von ihr brauchte unsere Hilfe. Die D a m e hieß Colleen McGarr, war Fotografin und hatte von einer N e w Yorker Filmgesellschaft namens Shooting Gallery den Auftrag bekommen, bei der Produktion eines Filmes mitzuarbeiten. D r e h o r t sollte Lake W o r t h sein, ein kleiner O r t südlich von 180
uns. Colleens Auftrag bestand darin, einen »typischen H a u s halt in Südflorida« zu finden und ihn von oben bis unten zu fotografieren - die Bücherregale, die Kühlschrankmagneten, sogar die Schränke, einfach alles -, damit sich der Regisseur ein Bild machen und seinen Film realistisch ausstatten konnte. »Das ganze Filmteam ist schwul«, erklärte Jennys Vorgesetzte. »Sie versuchen herauszufinden, wie verheiratete Paare mit Kindern hierzulande leben.« »Eine Art anthropologische Feldstudie«, mutmaßte Jenny. »Genau.« »Okay«, stimmte J e n n y zu. » W e n n ich vorher nicht putzen muss.« Colleen kam vorbei und fing an alles zu fotografieren, nicht nur unsere Besitztümer, sondern auch uns selbst. W i e wir uns anzogen, wie wir unser H a a r trugen, wie wir uns auf der Couch lümmelten. Sie fotografierte die Zahnbürsten auf unserem Waschbecken. Die Babys in ihren Bettchen. U n d den typischen kastrierten H u n d , den ein durchschnittliches Paar hierzulande besaß. O d e r zumindest das, was sie von ihm auf Film bannen konnte. W i e sie so treffend bemerkte, war Marley »meistens ein bisschen unscharf«. Marley war restlos begeistert, dabei zu sein. Seit die Babys da waren, war er froh um jedes bisschen Aufmerksamkeit, das er bekommen konnte. Colleen hätte ihn mit einem elektrischen Rindertreiber traktieren können - solange er ihre Aufmerksamkeit hatte, machte er begeistert mit. C o l leen, die große Haustiere liebte und sich von Sabberduschen nicht einschüchtern ließ, schenkte ihm jede M e n g e Aufmerksamkeit und kniete sich sogar auf den Boden, um mit ihm zu raufen. Als Colleen sich so durch unser H a u s fotografierte, musste ich unweigerlich an die Möglichkeiten denken, die sich da181
raus ergaben. W i r lieferten den, Filmproduzenten nicht nur unverfälschtes anthropologisches Material, sondern nahmen gleichzeitig auch an unserem ganz persönlichen Casting teil. Ich hatte gehört, dass die meisten Nebendarsteller und alle Statisten für diesen Film aus der U m g e b u n g angeheuert werden sollten. Was wäre nun, wenn der Regisseur zwischen all den Kühlschrankmagneten und Postern an der Wand ein Naturtalent entdeckte? Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert. Ich sah den Regisseur, ein Typ etwa wie Steven Spielberg, förmlich vor mir, wie er sich über einen großen Tisch beugt, auf dem H u n d e r t e von Fotos verteilt liegen. Genervt geht er sie durch und murmelt immerzu »Müll! Alles Müll! D a m i t kann ich nicht arbeiten!« U n d dann erstarrt er plötzlich beim Anblick eines Fotos. Darauf ist ein robust u n d gleichzeitig sensibel aussehender, typisch heterosexueller M a n n zu sehen, der seinen Pflichten als Familienvater nachgeht. D e r Regisseur r a m m t seinen Finger auf das Foto u n d ruft seinen Assistenten aufgeregt zu: »Bringt mir diesen M a n n ! Ich muss ihn in meinem Film haben!« W e n n sie mich schließlich ausfindig gemacht hatten, würde ich zuerst bescheiden ablehnen, mich dann aber doch bereit erklären, die Hauptrolle zu übernehmen. T h e Show must go on. Colleen bedankte sich bei uns, dass wir ihr so freizügig unser Zuhause gezeigt hatten, und ging. Sie hatte uns keinen Anlass gegeben, darauf zu hoffen, dass sie oder sonst irgendein Mitglied der Filmcrew sich noch einmal bei uns melden würde. W i r hatten unsere Aufgabe erfüllt. Doch als J e n n y mich ein paar Tage später im Büro anrief und sagte: »Ich habe gerade mit Colleen M c G a r r telefoniert, und du wirst es nicht glauben!«, da hatte ich keinen Zweifel, dass man mich entdeckt hatte. M e i n H e r z machte einen Sprung. » N u n sag schon!«, forderte ich sie auf. »Sie sagt, der Regisseur möchte mit Marley arbeiten.« 182
»Marley?« Bestimmt hatte ich mich verhört. Sie schien die Bestürzung in meiner Stimme nicht zu bemerken. »Offenbar sucht er nach einem großen, tollpatschigen, verrückten H u n d , der die Rolle des Haustiers in seinem Film übernimmt, und da ist sein Auge auf Marley gefallen.« »Verrückt?«, fragte ich. »So hat sich Colleen ausgedrückt. G r o ß , tollpatschig und verrückt.« N u n , da war er ja an der richtigen Adresse. » H a t Colleen erwähnt, ob er irgendetwas über mich gesagt hat?«, fragte ich. » N e i n « , antwortete Jenny. » W a r u m sollte er?« Colleen holte Marley am nächsten Tag ab. Bemüht, gleich zu Anfang einen guten Eindruck zu machen, raste er in vollem Tempo durch das W o h n z i m m e r auf sie zu und n a h m sich gerade noch die Zeit, das nächstbeste Kissen zu schnappen, denn schließlich weiß man nie, wann ein viel beschäftigter Filmproduzent ein kurzes Nickerchen machen möchte, und wenn es so weit war, wollte Marley vorbereitet sein. Als er die Holzdielen erreichte, schlitterte er bis zum Couchtischchen, strauchelte, krachte gegen einen Stuhl, landete auf dem Rücken, rollte sich herum, rappelte sich auf und stieß schließlich mit Colleen zusammen. Zumindest hatte er sie nicht angesprungen, sagte ich mir. »Sind Sie sicher, dass wir ihm keine Beruhigungsmittel geben sollen?«, fragte Jenny. Aber Colleen versicherte, dass der Regisseur Marley in ungezügeltem, natürlichem Z u stand sehen wollte, und schon war sie mit unserem verzweifelt glücklichen H u n d in ihrem roten Pick-up verschwunden. N a c h zwei Stunden war sie wieder da und verkündete, Marley hätte den J o b bekommen. »Ach was!«, kreischte J e n ny. »Das kann doch gar nicht sein!« Unsere H o c h s t i m m u n g wurde kein bisschen getrübt, als wir hörten, dass Marley der 183
einzige Bewerber um die Rolle gewesen war. Auch nicht, als Colleen uns eröffnete, dass Marley die einzige unbezahlte Rolle in dem Film bekommen sollte. Ich fragte sie, wie die Vorstellung gelaufen war. » M i t Marley im Auto k o m m t man sich vor wie in einem W h i r l p o o l « , sagte Colleen. » E r hat alles angeschlabbert. Als wir ankamen, war ich völlig durchnässt.« Die Filmcrew residierte im Gulfstream Hotel, einem verblichenen Touristenklotz, der seine beste Zeit schon hinter sich hatte und von dem man Aussicht auf die Intercoastal hatte. Als Colleen mit Marley dort ankam, hatte unser H u n d alle sofort damit beeindruckt, dass er aus dem W a g e n sprang und wie irre auf dem Parkplatz H a k e n schlug, als erwarte er, dass jeden M o m e n t ein Luftangriff erfolgen würde. » E r war völlig außer Rand und Band«, erzählte Colleen. »Völlig übergeschnappt.« »Ja, er ist recht leicht erregbar«, gab ich zu. Irgendwann hatte Marley einem Crewmitglied das Scheckheft aus der H a n d gerissen und war damit wild im Kreis herumgerast, offensichtlich in der Meinung, dass er sich so doch n o c h ein H o n o r a r sichern könnte. » E r ist eben geschäftstüchtig«, entschuldigte sich Jenny mit einem Lächeln, wie es nur eine stolze M u t t e r zustande bringt. Schließlich hatte sich Marley doch noch so weit beruhigt, um alle Anwesenden zu überzeugen, dass er der Rolle gewachsen war. Er musste eigendich n u r sich selbst spielen. D e r Film hieß The last Homerun, ein Baseballdrama, in dem sich der letzte W u n s c h eines alten Mannes erfüllt, als er für fünf Tage noch einmal jung ist und Baseball spielen darf. Marley sollte den aufgedrehten Familienhund des Trainers geben, der wiederum von dem pensionierten Catcher aus der Major League, G a r y Carter, gespielt wurde. 184
»Sie wollen ihn wirklich in ihrem Film dabeihaben?«, fragte ich, immer noch ungläubig. »Alle haben sich in ihn verliebt«, sagte Colleen. » E r war perfekt!« In den Tagen bis zum D r e h b e g i n n bemerkten wir eine leichte Veränderung in Marleys Benehmen. Eine seltsame Ruhe war über ihn gekommen. Es war, als hätte ihm das erfolgreiche Casting neues Selbstvertrauen gegeben. Er benahm sich beinahe majestätisch. »Vielleicht hat er n u r mal jemanden gebraucht, der an ihn glaubt«, sagte ich zu Jenny. W e n n irgendwer an ihn glaubte, dann war es unsere F e r n seh-Vorzeigemutter Jenny. Als der große Tag kam, badete sie ihn. U n d kämmte ihn. Sie schnitt ihm die Krallen u n d putzte ihm die O h r e n . Als ich am M o r g e n des ersten D r e h t a ges aus dem Schlafzimmer kam, fand ich Marley und J e n n y ineinander verknäult vor, wie sie in wildem Kampf durch das Zimmer tobten. Sie hatte ihn fest zwischen ihre Knie geklemmt und hielt ihn mit einer H a n d am Halsband fest, während er sich wild herumwarf und freizukommen versuchte. Es war, als würde in meinem W o h n z i m m e r ein Rodeo stattfinden. »Was machst du denn da?«, fragte ich. »Wonach sieht's denn aus?«, schnappte sie zurück. »Ich putze ihm die Zähne!« Tatsächlich hatte sie in der anderen H a n d eine Zahnbürste und versuchte nach Kräften, seine großen weißen H a u e r zu putzen, während Marley, schäumend und sabbernd, sich verzweifelt bemühte, die Zahnbürste zu fressen. Er sah aus wie tollwütig. »Hast du etwa Zahnpasta verwendet?«, fragte ich und schloss die nächste Frage gleich an: » U n d wie bitte schön soll er die wieder ausspucken?« » N a t r o n « , antwortete sie. 185
» G o t t sei Dank!«, rief ich. » D a n n hat er also doch keine Tollwut.« Eine Stunde später brachen wir zum Gulfstream Hotel auf, die J u n g e n in ihren Autositzen, Marley zwischen ihnen. Er hechelte mit ungewohnt frischem Atem. W i r sollten um n e u n U h r da sein, aber schon einen Block weiter blieben wir in einem Stau stecken. Weiter vorne war die Straße gesperrt u n d ein Verkehrspolizist leitete den Verkehr um. Die Lokalpresse hatte ausführlich über das Filmprojekt berichtet - es war das größte Ereignis im verschlafenen Lake Worth, seit vor fünfzehn Jahren der Film Body Heat dort gedreht worden war - und n u n hatten sich Schaulustige auf den Weg zum D r e h o r t gemacht. Die Polizei ließ niemanden durch. W i r schoben uns langsam im stockenden Verkehr vorwärts, und als wir endlich bei der Absperrung angekommen waren, lehnte ich mich aus dem Autofenster und sagte zu dem Polizisten: » W i r müssen da durch.« » N i e m a n d darf da durch«, antwortete er. »Fahren Sie bitte weiter.« » W i r gehören zum Set«, erklärte ich. Er sah uns skeptisch an, ein Pärchen in einem Minivan mit zwei Kleinkindern und einem H u n d auf dem Rücksitz. »Ich sagte, weiterfahren!«, bellte er mich an. »Unser H u n d spielt in dem Film mit«, versuchte ich es noch einmal. Plötzlich sah er mich mit einem veränderten, respektvolleren Gesichtsausdruck an. »Sie haben den H u n d dabei?« D e r H u n d stand auf seiner Liste. »Ja, wir haben den H u n d dabei. Marley.« » E r spielt sich selbst«, warf Jenny ein. D e r Polizist drehte sich um und pfiff kräftig in seine Trillerpfeife. » E r hat den H u n d dabei!«, rief er einem anderen Polizisten weiter vorne zu. »Marley den H u n d ! « 186
U n d dieser Polizist rief wiederum einem anderen Polizisten weiter vorne zu: » E r hat den H u n d ! Marley der H u n d ist hier!« »Durchlassen!«, rief ein weiterer Polizist. »Durchlassen!«, echote ein zweiter. Der erste Verkehrspolizist schob die Absperrung zur Seite und winkte uns durch. » H i e r entlang, bitte«, sagte er. Ich fühlte mich wie ein König. Als wir an ihm vorbeigefahren waren, sagte er noch einmal, als könne er es i m m e r noch nicht glauben: » E r hat den H u n d ! « Auf dem Parkplatz vor dem H o t e l stand das Filmteam schon bereit. Kabel verliefen kreuz u n d quer über den Boden, Kameras und Mikrofone waren in Position. Scheinwerfer waren an Gerüsten befestigt. Kleiderständer mit Kostümen standen herum. Im Schatten waren zwei Tische mit Snacks und Getränken für Schauspielerund Crew vorbereitet. Uberall liefen wichtig aussehende Leute mit Sonnenbrillen herum. D e r Regisseur Bob Gosse begrüßte uns und erklärte uns kurz, was in der ersten Szene passieren sollte. Es war nicht schwer. Ein Minivan fährt an den Bordstein, am Steuer sitzt Marleys Filmfrauchen, gespielt von der Schauspielerin Liza Harris. Ihre Tochter, dargestellt von einem netten Teenager namens Danielle von der örtlichen Schauspielschule, und der Sohn, auch ein junger Schauspielanwärter von gerade mal neun Jahren, sitzen zusammen mit dem H u n d der Familie, gespielt von Marley, auf der Rückbank. Die Tochter öffnet die Schiebetür und springt heraus, ihr Bruder folgt ihr mit Marley an der Leine. Sie gehen aus dem Bild. Ende der Szene. »Das ist ja einfach«, sagte ich zu dem Regisseur. »Das sollte er hinkriegen, kein Problem.« Ich zog Marley zur Seite und wartete mit ihm auf seinen Einsatz, in den Van zu steigen. 187
»Okay, Leute, alle mal herhören!«, rief Gosse da. »Der H u n d ist ziemlich bescheuert, okay? Aber wenn er nicht die ganze Szene plattmacht, dann drehen wir einfach weiter, okay?« Er erklärte mir, was er meinte: Marley war echt - ein typischer Familienhund, und man wollte, dass er sich auch genau so benahm - wie ein typischer Familienhund auf ein e m typischen Familienausflug. Keine Schauspielerei, keine Einweisung, reine Realität auf der Leinwand. »Lasst ihn einfach sein D i n g machen«, riet er den Schauspielern, »und spielt um ihn herum.« Als alle so weit waren, ließ ich Marley in den Van steigen und gab seine Leine an den Jungen weiter, der schreckliche Angst vor ihm zu haben schien. » E r tut nichts«, beruhigte ich ihn. » E r will dich höchstens ablecken. Siehst du?« U n d ich steckte meine Faust in Marleys Maul, um meine Worte zu bekräftigen. Klappe die erste: D e r Van fährt an den Bordstein. In dem M o m e n t , wo die Tochter die Schiebetür öffnet, schießt ein hellbrauner Schatten heraus, wie ein riesiger Fellball, den man mit einer Kanone abgefeuert hat. Er schießt an den Kameras vorbei und zieht eine rote Leine hinter sich her. »Cut!« Ich fing Marley auf dem Parkplatz wieder ein und zog ihn zurück. »Okay, Jungs, wir versuchen das noch mal«, verkündete Gosse. D a n n sagte er freundlich zu dem Jungen: »Der H u n d ist ziemlich wild. Versuch ihn diesmal ein bisschen fester zu halten.« Klappe die zweite: D e r Van fährt an den Bordstein. Die T ü r wird aufgeschoben. Die Tochter will gerade aussteigen, als Marley sich ins Bild drängt und hinter ihr herausspringt, diesmal mit dem J u n g e n an der Leine. Die Knöchel seiner H a n d , die die Leine umklammert, sind so weiß wie sein G e sicht. 188
»Cut!« Klappe die dritte: D e r Van fährt an den Bordstein. Die T ü r öffnet sich. Die Tochter steigt aus, der Junge steigt aus, die Leine in der H a n d . Er macht einen Schritt vom Van weg, die Leine spannt sich, wird zurück in den Van gezerrt. Kein H u n d kommt heraus. D e r J u n g e fängt an zu ziehen und zu zerren. Er stemmt sich mit ganzer Kraft gegen die Leine. O h n e Erfolg. Lange, schmerzlich leere Sekunden vergehen. Der Junge zieht eine Grimasse und schaut in die Kamera. »Cut!« Ich spähte in den Van und sah, wie sich Marley an einer absolut unmöglichen Stelle leckte. Er sah mich mit einem Blick an, der zu sagen schien: Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin? Klappe die vierte: Ich lasse Marley zu dem J u n g e n in den Van einsteigen und schließe die Tür. Bevor Gosse »Action!« ruft, unterbricht er ein paar Minuten, um sich mit seinen Assistenten zu beraten. Schließlich läuft die Szene. D e r Van fährt an den Bordstein. Die T ü r geht auf. Die Tochter steigt aus. Der Junge steigt ebenfalls aus, aber mit einem verwirrten Ausdruck im Gesicht. Er schaut direkt in die Kamera und hält die H a n d hoch. Daran baumelt die halbe Leine, ihr Ende ist abgebissen und nass gesabbert. »Cut! Cut! Cut!« D e r Junge erklärte, dass Marley angefangen hätte, auf seiner Leine herumzukauen, als sie im Van warteten, und einfach nicht aufhören wollte. Crew und Schauspieler starrten ungläubig auf die kaputte Leine, eine Mischung aus Erstaunen und Schrecken lag auf ihren Gesichtern, als wären sie gerade Zeugen einer großartigen und geheimnisvollen N a turgewalt geworden. Ich dagegen war nicht im Mindesten überrascht. Marley hatte schon m e h r Leinen und Stricke zerbissen, als ich zählen konnte; er schaffte es sogar durch 189
gummierte Stahlkabel, die laut W e r b u n g auch im Flugzeugbau verwendet wurden. Kurz nach Conors G e b u r t war Jenny mit einer neuen Errungenschaft nach Hause gekommen: ein Hundegeschirr, mit dem sie Marley an einen Autogurt schnallen konnte, sodass er während der Fahrt nicht im fahrenden Auto herumwandern konnte. N a c h neunzig Sekunden hatte er nicht n u r das schwere Geschirr, sondern auch den G u r t unseres nagelneuen Minivans durchgebissen. »Okay, machen wir eine Pause«, verkündete Gosse. Dann wandte er sich an mich und fragte in erstaunlich ruhigem Ton: » W i e schnell können Sie eine neue Leine auftreiben?« Er brauchte mir nicht zu erklären, wie teuer ihn jede verlorene M i n u t e kam, in der Schauspieler und Crew untätig herumsaßen. »Einen Kilometer von hier ist eine Tierhandlung«, sagte ich. »Ich kann in fünfzehn M i n u t e n zurück sein.« »Kaufen Sie diesmal etwas, was er nicht durchbeißen kann«, sagte er. Ich kehrte mit einer schweren Kettenleine zurück, die gut in die Ausrüstung eines Löwenbändigers gepasst hätte, und der D r e h ging weiter, eine missglückte Klappe nach der anderen. Jede Szene war schlechter als die vorangegangene. Irgendwann stieß Danielle mitten in der Szene einen verzweifelten Schrei aus und rief mit echtem Entsetzen in der Stimme: »O mein Gott! Sein D i n g ist draußen!« »Cut!« In einer anderen Szene sollte Danielle mit ihrem H a n d y telefonieren, aber Marley, der zu ihren Füßen lag, hechelte so laut, dass der Toningenieur entnervt seine Kopfhörer herunterriss und sich laut beschwerte: »Ich verstehe kein W o r t von dem, was sie sagt. Ich höre n u r schweres Atmen. H ö r t sich an wie in einem Pornostreifen.« »Cut!« 190
So verging der erste Drehtag. Marley war eine Katastrophe, da gab es nichts zu beschönigen. Ein Teil von mir war in der Defensive - Was hatten die denn erwartet? Benji zum Nulltarif? -, der andere Teil von mir war am Boden zerstört. Ich warf einen verschämten Blick zu den Schauspielern und der Crew und konnte es deutlich in ihren Gesichtern lesen: Wann verschwindet dieses Untier endlich wieder dorthin, woher es gekommen ist? Am Abend kam einer der Assistenten mit seinem Clipboard in der H a n d auf uns zu und sagte, dass die Szenenabfolge für den nächsten Tag noch nicht festgelegt sei. »Machen Sie sich nicht die M ü h e , morgen zu k o m m e n « , sagte er. » W i r rufen an, wenn wir Marley brauchen.« U n d wie um ganz sicherzugehen, dass wir auch verstanden hatten, wiederholte er: »Wenn Sie also nichts von uns hören, dann tauchen Sie bitte nicht hier auf, verstanden?« Ja, ich hatte nur zu gut verstanden. Gosse hatte seinen U n t e r g e benen geschickt, um die Drecksarbeit zu machen. Marleys Filmkarriere hatte gerade erst begonnen und war schon wieder vorbei. Ich konnte ihnen natürlich keinen Vorwurf machen. Mit Ausnahme der Szene in Die Zehn Gebote, wo Charlton Heston das Rote M e e r teilt, hatte Marley den größten logistischen Albtraum der Kinogeschichte geliefert. Er war schuld daran, dass Tausende von Dollar unnütz durch Verzögerungen und verdorbene Filmszenen vergeudet worden waren. Er hatte unzählige Kostüme vollgesabbert, den Tisch mit den Snacks abgeräumt und beinahe eine 3 0 0 0 0 Dollar-Kamera umgerannt. Sie würden die Szenen zusammenschneiden und das D r e h b u c h umschreiben, sodass M a r ley darin nicht m e h r vorkam. Es war die alte »Rufen Sie uns nicht an, wir rufen Sie an«-Leier. »Marley«, sagte ich, als wir zu Hause ankamen, »das war deine große Chance, und du hast sie vermasselt.«
191
Am nächsten M o r g e n ärgerte ich mich immer noch über unsere geplatzten Träume vom Ruhm, als das Telefon klingelte. Es war der Assistent, der uns bat, Marley so schnell wie möglich zum H o t e l zu bringen. »Sie meinen, Sie möchten, dass er zurückkommt?« » G a n z genau«, erklärte er. »Bob will ihn in der nächsten Szene haben.« Eine halbe Stunde später kam ich am Set an und konnte immer noch nicht glauben, dass sie uns noch einmal eingeladen hatten. Gosse begrüßte uns überschwänglich. Er hatte die geringe Ausbeute an Filmmaterial von gestern durchgesehen und hätte nicht zufriedener sein können. » D e r H u n d war zum Brüllen!«, rief er. »Einfach unschlagbar. Ein absolut genialer Spinner!« Ich konnte fühlen, wie ich ein paar Zentimeter wuchs, und straffte die Schultern. » W i r haben immer gewusst, dass er ein Naturtalent ist«, sagte Jenny. D e r D r e h in Lake W o r t h ging noch mehrere Tage weiter, und Marley wuchs mit seinen Aufgaben. W i r gesellten uns zu den anderen Darsteller-Eltern und Begleitern, unterhielten uns mit ihnen, machten neue Bekanntschaften und verstummten jedes Mal sofort, wenn der Bühnenassistent rief: »Fertig zum D r e h ! « Sobald das W o r t »Cut!« gefallen war, ging die Party weiter. Jenny brachte sogar die berühmten ehemaligen Baseballstars Gary Carter und Dave Winfield dazu, für jeden der J u n g e n einen Baseball zu signieren. Marley wurde langsam zum Star. Die Crew, vor allem die Frauen, k ü m m e r t e n sich rührend um ihn. Es war schrecklich heiß, und ein Crewmitglied war eigens damit beauftragt worden, Marley mit einer Schüssel und einer Flasche Wasser überallhin zu folgen, um ihm bei Bedarf einen kühlen Drink zu servieren. Alle versorgten ihn mit Snacks vom Büffet. Ich ließ ihn ein paar Stunden in der O b h u t der Crew, um im 192
Büro vorbeizuschauen, und als ich zurückkam, fand ich ihn hingegossen wie König Tut, die Pfoten in der Luft, während er sich von der ungeheuer attraktiven Visagistin den Bauch kraulen ließ. » E r ist so ein süßer Kerl!«, gurrte sie. D e r ganze Starrummel stieg allmählich auch mir zu Kopf. Ich fing an, mich mit »Marleys Besitzer« vorzustellen und Sätze fallen zu lassen wie »In seinem nächsten Film hoffen wir auf eine Rolle mit Gebell«. W ä h r e n d einer Drehpause ging ich ins Foyer des Hotels, um von dort aus zu telefonieren. Marley war nicht an der Leine und schnüffelte zwischen den Möbeln in der Hotellobby herum. Ein Portier, der mein Filmsternchen offenbar mit einem Streuner verwechselte, fing ihn ab und versuchte, ihn zu einem Seiteneingang hinauszuscheuchen. » G e h nach Hause!«, schimpfte er. »Los!« »Entschuldigen Sie«, sagte ich und hielt die Muschel mit der H a n d zu, während ich den M a n n mit meinem vernichtendsten Blick bedachte. » H a b e n Sie eine Ahnung, mit wem Sie da reden?« W i r blieben vier Tage am Set, und als man uns mitteilte, dass Marleys Szenen n u n alle im Kasten wären und er nicht mehr gebraucht würde, fühlten J e n n y u n d ich uns bereits als Teil der Shooting-Gallery-Familie. Zugegeben, die einzigen unbezahlten Mitglieder, aber immerhin. »War toll mit euch!«, rief Jenny allen in Hörweite zu, als wir Marley zum Minivan brachten. »Ich kann es kaum erwarten, den fertigen Film zu sehen!« Aber das sollte noch eine Weile dauern. Einer der P r o d u zenten sagte, dass wir nach acht M o n a t e n anrufen sollten, dann würden sie uns ein Exemplar zuschicken. Als ich also nach acht M o n a t e n dort anrief, hängte mich die Sekretärin in die Warteschleife und meinte nach ein paar Minuten: »Versuchen Sie es bitte in ein paar M o n a t e n noch einmal.« 193
Das tat ich mehrmals, wurde aber immer wieder vertröstet. Ich kam mir schon vor wie ein Stalker und konnte mir die Sekretärin vorstellen, wie sie den H ö r e r zuhielt und Gosse an seinem Schreibtisch zuflüsterte: »Wieder dieser verrückte H u n d e t y p . Was soll ich ihm diesmal sagen?« Schließlich gab ich es auf und fand mich damit ab, dass weder wir noch irgendjemand sonst den Film jemals zu sehen b e k o m m e n würden und dass das Projekt irgendwo im Mülleimer der Redaktion gelandet war, weil der Aufwand, diesen verdammten H u n d aus jeder Szene herauszuschneiden, zu groß gewesen war. Erst zwei volle Jahre später bekam ich die Gelegenheit, Marleys Schauspielkünste zu sehen. Ich war in der Videothek, als ich aus einer Laune heraus den M a n n an der Kasse fragte, ob er schon mal etwas von dem Film The Last Homerun gehört hätte. Er kannte ihn nicht nur, er hatte ihn sogar da. Zufällig war kein einziges Exemplar davon ausgeliehen. Ich erfuhr die ganze traurige Geschichte erst später. D e r Shooting Gallery war es nicht gelungen, einen Anbieter für den Film zu finden, und man hatte Marleys Filmdebüt daher dem traurigsten aller Filmschicksale überlassen: The Last Homerun war nur als Video herausgekommen. M i r war das egal. Ich raste mit meiner Kassette nach Hause und rief nach Jenny und den Jungs, damit sie sich alle um den Fernseher versammelten. Alles in allem war Marley knapp zwei Minuten im Bild, aber ich fand, dass es die besten zwei M i n u t e n des Films waren. W i r lachten! W i r weinten! W i r jubelten! »Mallie!«, schrie Conor. » W i r sind berühmt!«, schrie Patrick. Marley, der nie zu Starallüren neigte, schien unbeeindruckt. Er gähnte und kroch unter den Couchtisch. Als der Abspann lief, war er schon eingeschlafen. W i r hielten den Atem an, als die N a m e n aller zweibeinigen Darsteller über 194
den Bildschirm gelaufen waren. Eine M i n u t e lang dachte ich, dass unser H u n d nicht erwähnt werden würde. Aber dann kam es, in großen Buchstaben auf dem Bildschirm, sodass jeder es lesen konnte: »Marley der H u n d ...As himself.«
SIEBZEHN
Im Land von Bocahontas
E
inen M o n a t nach Abschluss der Dreharbeiten zu The Last Homerun verabschiedeten wir uns von Palm Beach und all den Erinnerungen, die daran hingen. Es hatte zwei weitere M o r d e in unserer unmittelbaren Nachbarschaft gegeben, aber letztendlich war es nicht das Verbrechen, sondern das Chaos, das uns aus unserem kleinen Bungalow in der Churchill Road vertrieb. M i t zwei Kindern und der damit einhergehenden Ausrüstung waren wir buchstäblich voll bis unters Dach. Das H a u s hatte den fahlen Glanz eines Toys-»R«-us-Outlets angenommen. Marley hatte inzwischen knapp fünfzig Kilo erreicht und konnte sich nicht m e h r umdrehen, ohne etwas umzuwerfen. Unser Haus hatte zwei Schlafzimmer, und wir hatten naiverweise gedacht, dass sich die J u n g e n das zweite Z i m m e r teilen könnten. Doch als sie anfingen sich gegenseitig aufzuwecken und damit unsere nächtlichen Abenteuer verdoppelten, quartierten wir Conor in einen kleinen Raum zwischen Küche und Garage aus. Offiziell war dort mein Arbeitszimmer untergebracht, wo ich Gitarre spielte und Rechnungen bezahlte. Für Außenstehende ließ sich der Zustand aber nicht schönreden: W i r hatten unser Baby im D u r c h g a n g einquartiert. Das klang schrecklich. Ein D u r c h g a n g liegt gleich neben der Garage, und eine Garage wiederum ist beinahe das Gleiche wie ein Schuppen. U n d was waren das für Eltern, die ihr Kind in einem Schup196
pen aufzogen? M i t einem Durchgang verband sich auch ein gewisses Sicherheitsrisiko: D o r t war es im Allgemeinen zugig, und mit dem W i n d konnte auch alles andere leicht Einlass finden: Schmutz, Reizstoffe, stechende Insekten, Fledermäuse, Verbrecher, Perverse. Im Durchgang bewahrte man normalerweise nur Abfalleimer und nasse Turnschuhe auf. Tatsächlich standen dort Marleys Futter- und Wasserschüsseln, auch noch, nachdem C o n o r dort eingezogen war. Nicht deshalb, weil sich dieser Platz besonders gut dafür geeignet hätte, sondern weil Marley sich inzwischen schon so daran gewöhnt hatte. Unser Gangkinderzimmer erinnerte ein wenig an einen Dickens-Roman, aber es war wirklich gar nicht so schlimm; eigentlich war es beinahe charmant. Ursprünglich war es als überdachter Ubergang zwischen H a u s und Garage gebaut worden, die Vorbesitzer hatten es dann aber vor J a h r e n abgemauert. Bevor wir den Durchgang in ein Kinderzimmer umfunktionierten, ersetzte ich die alten, undichten Jalousien mit neuen, dichten Fenstern. Ich befestigte neue Fensterläden, strich die W ä n d e und wir hängten neue Vorhänge auf. Jenny legte weiche Teppiche aus, hängte fröhliche Bilder auf und ließ bunte Mobiles von der Decke baumeln. U n d trotzdem, wie sah das Ganze aus? Unser Sohn schlief im Gang, während der H u n d jederzeit freien Zugang zum elterlichen Schlafzimmer hatte. Zudem war Jenny inzwischen wieder halbtags in ihren alten J o b bei der Post eingestiegen. Sie arbeitete meist von zu Hause aus und versuchte, J o b und Kinder unter einen H u t zu bringen. Es war vernünftig, dass wir uns etwas in der N ä h e meiner Arbeit suchten. W i r waren uns einig, dass wir umziehen mussten. Das Leben ist voller Ironie, und so kam es, dass wir nach monatelanger Suche ein H a u s in genau der Stadt in Süd197
florida fanden, über die ich mich in meinen Glossen am meisten lustig machte. Die Stadt hieß Boca Raton, das ist Spanisch und bedeutet wörtlich »Rattenmaul«. U n d was für ein Maul! Boca Raton war eine reiche republikanische Bastion, in die in letzter Zeit vor allem Leute aus N e w Jersey und N e w York gezogen waren. Das Kapital in der Stadt war also n o c h jung, und die meisten dieser Neureichen wussten nicht recht, wie sie ihr Geld stilvoll ausgeben konnten. Boca Raton war das Land der Luxusschlitten, der roten Sportwagen, pinkfarbenen Stuckhäuschen auf briefmarkengroßen Grundstücken und griechisch umsäulten Anwesen mit Türstehern davor. Die M ä n n e r trugen vorwiegend Leinenhosen und italienische Schuhe ohne Socken und verbrachten unendlich viel Zeit damit, wichtig klingende Handygespräche miteinander zu führen. Die Frauen waren so gebräunt wie ihre Lieblings-Gucci-Taschen, ihre glatte H a u t wurde von in erschreckenden Platin- und Silbertönen gefärbtem Haar betont. In der Stadt wimmelte es n u r so von Schönheitschirurgen, u n d sie hatten die größten Häuser und das strahlendste Lächeln von allen. F ü r die gut erhaltenen Frauen von Boca war ein Brustimplantat absolut unerlässlich. Die Jüngeren hatten alle ein atemberaubendes Dekollete; die Alteren hatten ein atemberaubendes Dekollete und ein geliftetes G e sicht. Gesäßformung, Nasenoperation, Bauchstraffung und gefärbte Augenbrauen rundeten das kosmetische Aufgebot ab und vermittelten den seltsamen Eindruck, dass die weiblichen Einwohner von Boca eine Armee aus anatomisch perfekten, aufblasbaren Puppen waren. W i e ich es einmal in ein e m Liedtext ausdrückte, den ich für meine Glosse schrieb: »Fettabsaugung und Silikon - das braucht die Frau in Boca Raton.« 198
In meiner Kolumne hatte ich mich über den Lebensstil in Boca lustig gemacht, angefangen von dem N a m e n des Städtchens selbst. Die Einwohner nannten ihre Stadt nie Boca Raton. Sie verwendeten einfach nur das vertrauliche W o r t »Boca«. U n d sie sprachen es auch nicht so aus, wie man es laut Lexikon aussprechen musste, nämlich mit einem langen 0 in BO-kah, sondern sie gaben ihm eher einen weichen, nasalen Klang. Eher ein BOHW-kah, so wie in: » O h , die zurechtgeschnittenen Büsche sind wundervoll hier in BOHWkah!« Damals lief gerade der Disney-Film Pocahontas, und ich begann mit einer fortlaufenden Serie, die sich an die G e schichte der Indianderprinzessin anlehnte, und nannte sie »Bocahontas«. Meine goldbehangene Protagonistin war eine geborene Vorstadtprinzessin und fuhr einen pinkfarbenen BMW. Ihre steinharten, chirurgisch vergrößerten Brüste ragten ins Lenkrad, was ihr erlaubte, freihändig zum Bräunungsstudio zu fahren und dabei gleichzeitig mit ihrem H a n d y zu telefonieren und ihre festgesprayte Frisur im Rückspiegel zurechtzuzupfen. Bocahontas wohnte in einem pastellfarbenen Designerwigwam, trainierte jeden M o r g e n im stammeseigenen Fitnessstudio - aber nur, wenn sie dort einen Parkplatz im Umkreis von fünf M e t e r n fand - und verbrachte ihre Nachmittage damit, im Pelz und mit einsatzbereiter Kreditkarte in der H a n d durch die heiligen Jagdgründe zu stolzieren, die unter dem N a m e n Einkaufszentrum bekannt waren. »Begrabt meine Kreditkarte im Mizner Park!«, verkündet Bocahontas feierlich in einer meiner K o lumnen, in Anspielung auf das schickste Einkaufszentrum der Gegend. In einer anderen Kolumne zog sie gerade ihren hirschledernen Wonderbra an und warb dafür, dass Schönheitsoperationen von der Steuer absetzbar sein sollten. Meine Darstellung war grausam. Unliebenswürdig. U n d 199
n u r ein klein wenig übertrieben. Die echten Bocahontas von Boca waren die größten Fans meiner Kolumne und versuchten immer herauszufinden, welche von ihnen mich zu meiner Hauptfigur inspiriert hatte (was ich natürlich niemals verraten werde). Ich wurde regelmäßig eingeladen, vor unterschiedlichen Vereinen und Versammlungen zu sprechen, und jedes Mal stand jemand auf und stellte dieselbe Frage: » W a r u m hassen Sie BOHW-kah so sehr?« Ich hasste Boca nicht, erklärte ich dann. Ich liebte nur die Farce. U n d nirgends auf der Welt wurde einem das in solcher Reinform geboten wie im superpinken Rattenmaul. Es war also n u r logisch, dass das Haus, in das Jenny und ich schließlich einzogen, mitten im H e r z e n dieser Boca-Farce lag, genau zwischen den Ufergrundstücken von East Boca Raton und den versnobten, alarmgesicherten Anwesen im Westen (die, wie ich den Postleitzahlen-fixierten Einwohnern dort gerne vor Augen hielt, nicht mehr zu Palm Beach gehörten). U n s e r e Nachbarschaft war eine der wenigen Mittelklassegegenden, und die Leute dort pflegten damit zu kokettieren, dass sie in jedem Fall auf der falschen Seite der Bahngleise wohnten. Tatsächlich gab es zwei Bahngleise, eines stellte die östliche G r e n z e des Viertels dar und eines die wesdiche. Nachts, wenn m a n im Bett lag, konnte man die Güterzüge auf ihrem W e g von und nach Miami hören. »Bist du verrückt?«, sagte ich zu Jenny. » W i r können doch nicht nach Boca ziehen! Die werden mich aus der Stadt jagen! Die servieren meinen Kopf auf einem Bett aus organisch angebauten Mesclun-Blattsalaten!« »Ach, Unsinn, du übertreibst schon wieder«, sagte sie. Die Sun-Sentinel, für die ich arbeitete, war die meistgelesene Zeitung in Boca Raton, weit vor dem Miami Herald, der Palm Beach Post oder der Lokalzeitung Boca Raton News. 200
Meine Artikel wurden in dieser Stadt und ihren westlichen Ausläufern viel gelesen, und da neben meiner Kolumne immer ein Foto von mir abgedruckt wurde, wurde ich regelmäßig wiedererkannt. Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich übertrieb. »Sie werden mir bei lebendigem Leibe die H a u t abziehen und meinen Leichnam dann vor Tiffany's öffentlich zur Schau stellen!« Aber wir hatten n u n schon monatelang gesucht, u n d dies war das erste Haus, das alle unsere Anforderungen erfüllte. Es passte einfach alles: G r ö ß e , Preis und Lage, strategisch günstig zwischen den beiden Büros gelegen, wo ich arbeitete. Die öffentlichen Schulen waren dort genauso gut wie anderswo in Südflorida, u n d bei aller Oberflächlichkeit gab es in Boca Raton doch wunderschöne Parkanlagen, einschließlich einiger der unberührtesten Strände der Gegend um Miami und Palm Beach. M i t größten Bedenken stimmte ich schließlich dem Kauf zu. Ich kam mir vor wie ein enttarnter Geheimagent in feindlichem Gebiet. D e r Barbar war dabei, die Grenze zu überschreiten, ein unakzeptabler BocaLästerer wollte die Boca-Gartenparty sprengen. W e r k o n n te es ihnen verdenken, dass sie mich nicht haben wollten? In der ersten Zeit schlich ich mit eingezogenem Kopf durch die Stadt und war überzeugt, dass aller Augen auf mir ruhten. Meine O h r e n glühten, wenn ich mir vorstellte, wie die Leute hinter meinem Rücken über mich lästerten. Als ich in der Kolumne von meinem U m z u g nach Boca berichtet hatte (und dabei öfters über meinen eigenen Schatten springen musste), bekam ich einige Briefe, in denen Dinge standen wie: »Erst machen Sie unsere Stadt zum Gespött und dann wollen Sie hier leben? Sie schamloser Heuchler!« U n d ich musste zugeben, dass sie irgendwie Recht hatten. Ein begeisterter Boca-Bewohner, den ich von der Arbeit her kannte, konnte es gar nicht erwarten, mich zur Rede zu 201
stellen: »So, Sie meinen also, dass das geschmacklose Boca doch nicht so schlecht ist, was?«, fragte er hämisch. »Die Parkanlagen, die Steuerklasse, die Schulen, die Strände und die Nachbarschaft sind wohl doch nicht so übel, wenn es dar u m geht, ein H a u s zu kaufen, was?« Ich konnte ihm nichts entgegensetzen. Ich stellte allerdings bald fest, dass die meisten meiner Nachbarn, die wie ich auf der falschen Seite von beiden Bahngleisen wohnten, meinen Ausfällen gegenüber den, wie einer von ihnen es nannte, »Peinlichen und Vulgären unter uns« zustimmten. Bald fühlte ich mich heimisch. U n s e r H a u s war 1970 gebaut worden und hatte vier Schlafzimmer, doppelt so viel Wohnfläche wie unser erstes Heim u n d nichts von dessen C h a r m e . Doch es ließ sich etwas daraus machen, und allmählich drückten wir ihm unseren Stempel auf. W i r rissen den Flauschteppichboden heraus und legten Eichenparkett im Wohnzimmer, überall sonst verlegten wir italienische Fliesen. W i r ersetzten die hässlichen Glasschiebetüren durch lackierte Flügeltüren, und nach und nach verwandelte ich den kargen Vorgarten in einen tropischen Urwald, der vor Ingwer, Helikonien und Kletterpflanzen n u r so strotzte. Sowohl Schmetterlinge als auch Passanten konnten sich kaum daran sattsehen. Die zwei besten Dinge an unserem neuen Haus hatten allerdings nichts mit dem H a u s selbst zu tun. Von unserem Wohnzimmerfenster aus konnte man auf eine kleine Parkanlage mit Spielplatz schauen, überdacht von großen Pinien. Die Kinder liebten diesen Ort. U n d im Garten hinter dem H a u s , gleich hinter der Terrassentür, war ein Swimmingpool in den Boden eingelassen. W i r hatten eigendich keinen Swimmingpool gewollt, aus Sorge um unsere beiden kleinen Söhne, und Jennys Vorschlag, ihn zuzuschütten, ließ unseren 202
Makler erbleichen. Am Tag unseres Einzugs zogen wir als Erstes einen hüfthohen Zaun um den Pool, der einem H o c h sicherheitstrakt alle E h r e gemacht hätte. Die Jungs - Patrick war damals gerade drei geworden, u n d C o n o r war achtzehn Monate alt - lernten das Wasser mit der Begeisterung von Delfinen lieben. D e r Park wurde zu unserem erweiterten Garten, und der Pool versüßte uns den Sommer, den wir so liebten. W i r hatten bald begriffen, dass in Florida ein Swimmingpool den entscheidenden Unterschied zwischen den Sommer ertragen und den Sommer genießen ausmacht. Keiner liebte unseren Pool m e h r als unser Seehund, der stolze N a c h k o m m e der Retriever, die im Dienste der Fischer die Ozeanwellen an den Küsten Neufundlands bezwungen hatten. W e n n das Zaungatter am Pool offen war, war Marley nicht mehr zu halten. Er n a h m schon im W o h n z i m m e r Anlauf, sprang mit einem riesigen Satz durch die Terrassentür und hob dann mit einem beherzten Sprung von der Ziegelterrasse ab, um mit einem gigantischen Bauchklatscher im Pool zu landen, der in der Luft widerhallte und das Wasser zum Überschwappen brachte. M i t Marley zu schwimmen, war ein lebensbedrohliches Abenteuer, ungefähr so, als würde man mit einem Kreuzfahrtschiff baden. Er kam immer mit vollem Tempo auf mich zugeplantscht, seine Pfoten schlugen wild auf das Wasser ein. Aber anstatt, wie erwartet, im letzten M o m e n t auszuweichen, hielt er stets genau auf mich zu und versuchte, auf mich hinaufzuklettern. W e n n er meinen Kopf erreicht hatte, drückte er ihn unter die W a s seroberfläche. »Wofür hast du mich gehalten, einen Steg?«, fragte ich ihn dann und u m a r m t e ihn, damit er wieder zu Atem kommen konnte, dabei paddelten seine Pfoten i m m e r noch auf Autopilot durch das Wasser, während er mir das Gesicht ableckte. Eines fehlte an unserem neuen Haus: ein Marley-sicherer 203
Bunker. Die Garage aus Beton in unserem alten Haus war so gut wie unzerstörbar gewesen, und sie hatte zwei Fenster gehabt, was die Temperatur auch im heißesten Sommer erträglich gehalten hatte. U n s e r H a u s in Boca hatte eine große Garage für zwei Autos, aber sie war völlig ungeeignet, um Marley oder irgendein anderes Lebewesen, das nicht bei 50 Grad Celsius überleben konnte, dort unterzubringen. Die Garage hatte keine Fenster und war brütend heiß. Außerdem waren die W ä n d e nicht aus Beton, sondern aus Trockenziegeln, die Marley problemlos pulverisieren konnte, wie er bereits bewiesen hatte. Seine Panikattacken bei Gewitter wurden immer schlimmer, trotz der Beruhigungsmittel. Als wir ihn das erste Mal alleine in unserem neuen Z u hause ließen, sperrten wir ihn zusammen mit einem Betttuch und einer großen Schüssel Wasser in die Waschküche, gleich neben der Küche. Als wir wenige Stunden später zurückkamen, hatte er die T ü r völlig zerkratzt. Der Schaden war nicht groß, aber wir hatten uns gerade für die nächsten dreißigjahre verschuldet, um dieses H a u s zu kaufen, und wir wussten, dass dieser Vorfall nichts Gutes bedeuten konnte. »Vielleicht muss er sich erst an seine neue U m g e b u n g gew ö h n e n « , schlug ich vor. »Es ist nicht die kleinste Wolke am H i m m e l « , stellte Jenny skeptisch fest. »Was passiert beim ersten Gewitter?« Als wir ihn das nächste Mal alleine ließen, bekamen wir die Antwort. Als wir ein Gewitter herannahen hörten, brachen wir unseren Ausflug ab und eilten nach Hause, doch es war bereits zu spät. J e n n y war ein paar Schritte vor mir, und als sie die T ü r zur Waschküche öffnete, blieb sie wie angewurzelt stehen und stieß ein entsetztes »O mein Gott!« aus. Sie sagte das in einem Ton, als hätte sie gerade eine Leiche entdeckt, die von der Decke baumelte. U n d noch 204
einmal: »O ... mein ... Gott!« Ich spähte über ihre Schulter hinein, und es war schlimmer, als ich erwartet hatte. Da stand Marley wild hechelnd, Pfoten und Maul blutig. Ü b e r all lag loses Fell von ihm herum, als wären ihm vor Angst die Haare ausgefallen. Er hatte größeren Schaden angerichtet als je zuvor, und das sollte etwas heißen. Eine ganze W a n d war aufgerissen und bis auf die Sockel abgetragen. Überall lagen Plastik- und Holzspäne und verbogene Nägel herum. Die elektrischen Leitungen waren freigelegt. Boden u n d Wände waren blutverschmiert. Es sah aus wie eine Szene aus einem Horrorfilm. »O mein G o t t « , sagte Jenny zum dritten Mal. »O mein G o t t « , wiederholte ich. Keiner von uns brachte etwas anderes heraus. Als wir einige Sekunden stumm dagestanden und auf die Verwüstung gestarrt hatten, sagte ich schließlich: »Okay, wir schaffen das. M a n kann das alles richten.« J e n n y warf mir einen vernichtenden Blick zu; sie kannte meine Fähigkeiten. »Ich rufe einen Handwerker an und lasse das professionell reparieren«, sagte ich. »Ich würde niemals versuchen, das hier selbst zu machen.« Ich gab Marley eine Beruhigungstablette und fürchtete insgeheim, dass dieser neuerliche zerstörerische Ausbruch von ihm bei J e n n y wieder jenen schrecklichen Zustand auslösen würde, in den sie nach C o nors Geburt verfallen war. D o c h sie schien diese Phase endgültig überwunden zu haben und n a h m das Ganze erstaunlich locker. »Ein paar H u n d e r t Dollar und alles ist so gut wie neu«, zwitscherte sie. »Das denke ich auch«, stimmte ich ihr zu. »Ich gebe ein paar Extra-Lesungen, dann haben wir das Geld wieder drin.« N a c h wenigen Augenblicken begann sich Marley zu ent205
spannen. Seine Augenlider wurden schwer und seine Augen blutunterlaufen, wie immer, wenn das Beruhigungsmittel wirkte. Er sah aus wie ein bekiffter Woodstock-Besucher. Ich hasste es, ihn so zu sehen, ich hatte es schon immer gehasst, und zögerte jedes Mal, ihn ruhig zu stellen. Aber die Tabletten halfen ihm aus seiner Panik heraus, aus dieser tödlichen Bedrohung, die nur in seinem Kopf existierte. W ä r e er ein Mensch gewesen, hätte ich ihn als hochgradig psychisch gestört bezeichnet. Er hatte Wahnvorstellungen, litt unter Verfolgungsangst und war überzeugt, dass eine dunkle, böse M a c h t vom H i m m e l k o m m e n und ihn mitnehmen würde. N u n rollte er sich auf dem kleinen Teppich vor dem Spülbecken in der Küche zusammen und stieß einen tiefen Seufzer aus. Ich kniete mich neben ihn und strich über sein blutverkrustetes Fell. » M a n n « , sagte ich zu ihm, »was machen wir bloß mit dir?« O h n e den Kopf zu heben, sah er mit seinen blutunterlaufenen, bekifften Augen zu mir auf, den traurigsten, bekümmertsten Augen, die ich je gesehen habe, u n d starrte mich nur an. Es war, als versuchte er mir etwas zu sagen, etwas Wichtiges, das er mir unbedingt erklären musste. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich weiß, dass du nichts dafür kannst.« Am nächsten Tag fuhren J e n n y und ich mit den Jungen in eine Z o o h a n d l u n g und kauften einen riesigen Hundekäfig. Es gab sie in allen denkbaren Größen, und als ich dem Verkäufer Marley beschrieb, führte er uns zu dem größten Exemplar. Er war so groß wie ein Löwenkäfig und hatte schwere Stahlgitterstäbe, die T ü r wurde mit zwei gigantischen Zylinderschlössern verschlossen, und auch der Boden war aus dickem Stahl. Das war unsere Antwort, unser eigenes, tragbares Alcatraz. C o n o r und Patrick kletterten hinein, und ich schob die Riegel vor und sperrte sie so einen M o 206
ment lang ein. »Was meint ihr?«, fragte ich. » H ä l t der unseren Superhund aus?« Conor rüttelte am Gitter wie ein langjähriger Sträfling und rief: »Fängnis!« »Mallie ist unser Gefangener!«, schrie Patrick begeistert. Zu Hause stellten wir den Zwinger neben unserer Waschmaschine auf. Das tragbare Alcatraz nahm beinahe die halbe Waschküche ein. Als es vollständig aufgestellt war, rief ich Marley. Ich warf einen Kauknochen hinein und er sprang fröhlich hinterher. D a n n schloss ich die T ü r hinter ihm u n d verriegelte sie. Er stand da und kaute an seiner Beute herum, völlig unbeeindruckt von der neuen Erfahrung, die er bald machen sollte und die man in Fachkreisen »direkte Konfrontation mit der Angst« nennt. »Das ist von jetzt an dein neues Zuhause, wenn wir nicht da sind«, sagte ich fröhlich. Marley hechelte zufrieden, ohne eine Spur von Bekümmernis im Gesicht. D a n n legte er sich hin und stieß einen Seufzer aus. »Das ist ein gutes Zeichen«, sagte ich zu Jenny. »Ganz bestimmt.« An diesem Abend beschlossen wir, unseren H u n d e h o c h sicherheitstrakt auszutesten. Diesmal war gar kein K n o chen notwendig, um Marley hineinzulocken. Ich öffnete einfach die Tür, pfiff einmal, und schon kam er, lief hinein und schlug mit dem Schwanz wedelnd gegen die Gitterstäbe. »Sei brav, Marley«, sagte ich zu ihm. Als wir die Jungs ins Auto setzten, um zum Essen zu fahren, meinte Jenny: »Weißt du was?« »Was denn?«, fragte ich. » Z u m ersten Mal, seit wir Marley haben, verlasse ich das Haus ohne ein mulmiges Gefühl im Bauch«, sagte sie. »Ich wusste bisher gar nicht, wie sehr mich das immer belastet hat«, fügte sie hinzu. »Ich weiß, was du meinst«, erwiderte ich. »Es war immer 207
eine Art Glücksspiel: Was macht unser H u n d diesmal kaputt?« »Oder: W e viel wird uns dieser Kinobesuch kosten?« »Ja, es war wie russisches Roulette.« »Ich glaube, dieser Käfig ist die beste Anschaffung, die wir je gemacht haben«, sagte sie. » W i r hätten das schon lange tun sollen«, meinte ich. »Seelenfrieden ist unbezahlbar.« W i r waren wunderschön essen und machten anschließend n o c h einen ausgedehnten Sonnenuntergangsspaziergang am Strand. Die J u n g e n sprangen in den anrollenden Wellen herum, jagten den Seemöwen nach und warfen Sand ins Wasser. J e n n y war ungewöhnlich entspannt. Allein die Gewissheit, dass Marley sicher in Alcatraz saß und weder sich noch etwas anderes gefährden konnte, wirkte wie Balsam auf ihre Seele. »Das war wirklich ein sehr schöner Abend«, sagte sie, als wir den W e g zu unserem H a u s hinaufgingen. Ich wollte gerade zustimmen, als ich aus dem Augenwinkel heraus etwas wahrnahm. Irgendetwas stimmte nicht. Ich drehte den Kopf und starrte auf das Fenster neben der Haustür. Die Jalousien waren geschlossen, wie immer, wenn wir nicht zu Hause waren. Aber im unteren Drittel des Fensters waren die Jalousiestreifen auseinandergebogen, und etwas lugte dazwischen hervor. Etwas Schwarzes. Etwas Nasses. U n d es presste sich gegen die Scheibe. »Was zum ...!«, stieß ich hervor. » W i e ... Marley?« Als ich die Haustür öffnete, kam mir unser einhündiges Begrüßungskomitee entgegen, er wedelte sich seinen W e g durch die Diele und freute sich wie verrückt, dass wir wieder da waren. W i r schwärmten im ganzen H a u s aus, um in allen Z i m m e r n und Schränken nach den Spuren von Marleys unbeaufsichtigtem Abenteuer zu suchen. Im Haus war alles in O r d n u n g , alles war unberührt. W i r näherten uns der Wasch208
küche. Die Käfigtür stand weit offen, als hätte sich ein heimlicher Komplize ins H a u s geschlichen und unseren Sträfling befreit. Ich hockte mich neben den Käfig, um mir die Sache genauer anzusehen. Die zwei Riegel waren zurückgeschoben und - ein eindeutiges Indiz - tropfnass von Speichel. »Das sieht nach Eigenarbeit aus«, sagte ich. »Irgendwie hat sich unser Houdini seinen W e g in die Freiheit geleckt.« »Ich kann es nicht fassen«, meinte Jenny. D a n n stieß sie ein sehr unfeines W o r t aus. Z u m Glück waren unsere Kinder noch außer Hörweite. W i r hatten Marley immer für ziemlich dämlich gehalten, aber er war schlau genug gewesen, um herauszufinden, wie er mit seiner langen, großen Z u n g e die Riegel langsam zurückschieben konnte. Er hatte es einmal geschafft und bewies in den nächsten Wochen, dass er diesen Trick so oft wiederholen konnte, wie er wollte. Unser Hochsicherheitstrakt war zu seinem Zweitwohnsitz geworden; manchmal fanden wir ihn bei unserer Rückkehr friedlich im Käfig schlafend vor, an anderen Tagen erwartete er uns an der Haustür. Marley war kein Freund von aufgezwungenen Regeln. W i r versuchten, die Riegel mit Kabelbindern zu fixieren. Das funktionierte eine Weile. Aber eines Abends kamen wir nach Hause, als ein Gewitter im Anzug war, und fanden eine untere Ecke der Käfigtür wie mit einem riesigen Dosenöffner zurückgebogen. Ein panischer Marley steckte in der engen Öffnung fest, halb im Käfig und halb draußen. Seine Pfoten waren wieder blutig. Ich bog das Gitter wieder zurück, so gut es ging, und wir fixierten von da an nicht nur die Riegel, sondern auch die Gitterecken. Bald mussten wir die Ecken des Käfigs verstärken, denn Marley legte weiterhin seinen ganzen Ehrgeiz in seine Ausbruchsversuche. N a c h drei Monaten sah unser glänzender Stahlkäfig, den wir für u n b e zwingbar gehalten hatten, aus, als hätte man ihn mit einer 209
Haubitze bearbeitet. Die Gitterstäbe waren verbogen, der R a h m e n auseinandergestemmt, die T ü r war ein formloses Etwas, die Seitenteile bogen sich nach außen. Ich versuchte weiterhin, ihn immer wieder zu reparieren, und er hielt Marleys heftigen Attacken weiterhin nur ungenügend stand. Er vermittelte uns nicht länger eine Illusion von Sicherheit. J e des Mal, wenn wir das H a u s verließen, und wenn es nur für eine halbe Stunde war, fragten wir uns, ob es nun so weit war u n d unser wahnsinniger Mitbewohner ausbrechen und auf einen neuen Raubzug einschließlich Couchzerfleddern, Wandabmeißeln oder Türfressen gehen würde. So viel zum T h e m a Seelenfrieden.
ACHTZEHN
Speisen unter freiem Himmel
M
arley passte genauso wenig in die Gesellschaft von Boca Raton wie ich. Boca hatte (und so ist es sicher heute noch) eine übermäßige Dichte an den kleinsten, kläffigsten und verhätscheltsten Schoßhündchen der Welt, genau der Typ H u n d , den die Bocahontas als Modeaccessoire favorisierten. Es waren wertvolle kleine Tierchen, oft mit Schleifchen im Fell und einem Spritzer Eau de Cologne am Hals. Manche hatten sogar lackierte Krallen, u n d man konnte sie an den unwahrscheinlichsten O r t e n entdecken sie glotzten einen etwa aus einer Designerhandtasche an, wenn man im Bagelshop anstand, sie schnüffelten an den Handtüchern ihrer Frauchen am Strand, sie liefen an strassbesetzten Leinen ihren Frauchen voran in edle Antiquitätenläden. Meistens sah man sie in teuren Autos durch die Stadt kreuzen, aristokratisch auf dem Schoß ihrer Besitzer hinter dem Lenkrad thronend. Sie waren genau das Gegenteil von Marley, ungefähr so, wie sich Grace Kelly gegenüber G o mer Pyle ausnimmt. Sie waren klein, verzärtelt u n d erniedrigend stilvoll. Marley war groß, klobig und schnüffelte an G e schlechtsteilen. Er wollte so schrecklich gerne in ihren Kreis aufgenommen werden, und sie wollten das auf gar keinen Fall. M i t seinem frisch verdauten Hundeschulen-Zeugnis im Gepäck war Marley auf Spaziergängen halbwegs unter Kontrolle zu halten, aber wenn er etwas Interessantes ent211
deckte, war er immer noch unberechenbar und pfiff auf das Risiko, eines Erstickungstodes zu sterben. Jedes dieser teuren H ü n d c h e n , die wir unterwegs trafen, war es ihm wert, sich zu Tode zu würgen. Jedes Mal, wenn er eines von ihnen entdeckte, stürzte er los und zog wahlweise Jenny oder mich trotz Kettenhalsband hinter sich her. U n d jedes Mal wurde Marley barsch zurechtgewiesen, nicht nur von dem kleinen Bocahündchen, sondern auch von der Besitzerin des kleinen Bocahündchens, die ihren kleinen Fifi oder Cheri oder die kleine Susie sofort auf den Arm nahm, als müsse sie das T i e r c h e n vor den scharfen Z ä h n e n eines Krokodils retten. Marley schien das nichts auszumachen. Sobald der nächste M i n i h u n d in Sicht kam, ging alles wieder von vorne los, als hätte es die letzte Abreibung nie gegeben. Ich hatte nie besonders gut damit u m g e h e n können, wenn ich einen Korb bekam, u n d bewunderte seine Ausdauer. M a n konnte in Boca wunderschön essen gehen, und in vielen Restaurants saß m a n draußen unter Palmen, deren Stämme und Palmwedel mit kleinen weißen Lichtern behangen waren. Dies war der Ort, um zu sehen und gesehen zu werden, um einen Cafe Latte zu schlürfen und wichtig in ein H a n d y zu brabbeln, während die Begleitung gelangweilt in die Luft starrt. U n d das Bocaschoßhündchen war ein wichtiges Detail in dieser Szenerie. Pärchen brachten ihre Lieblinge mit und banden die Leine an den schmiedeeisernen Tischchen fest, wo die H ü n d c h e n sich zufrieden zu Füßen ihrer Besitzer zusammenrollten oder manchmal auch neben ihnen am Tisch saßen und ihre Köpfchen gebieterisch reckten, als wären sie pikiert über die Unaufmerksamkeit der Kellner. Eines Sonntagnachmittags hatten Jenny und ich die Idee, dass es doch schön wäre, mit der ganzen Familie essen zu gehen. » W i r sind in Boca, also benehmen wir uns auch so!«, 212
sagte ich. W i r luden die Jungen und den H u n d in unseren Minivan und fuhren zum Mizner Park, dem schicken E i n kaufszentrum der Stadt. Es war einer italienischen Piazza nachempfunden, mit breiten Ladenstraßen und zahllosen Restaurants. W i r parkten und spazierten dann eine der Ladenstraßen hinauf und die andere wieder hinunter, wir sahen und wurden gesehen - und was für einen Anblick müssen wir geboten haben! Jenny hatte die J u n g e n in einen Doppelkinderwagen gepackt, der aussah wie ein Wägelchen des P u t z personals, mit all der Babyausrüstung von Apfelsaft bis zu Feuchttüchern. Ich ging neben ihr, Marley brav an meiner Seite - doch ich spürte, wie er in Erwartung des nächsten Bocahündchens bebte. Er war sogar noch wilder als sonst, ganz außer sich bei dem Gedanken, einem dieser kleinen reinrassigen Tierchen nahe zu kommen, und ich packte seine Leine fester. Seine Zunge hing heraus, und er hechelte wie eine Lokomotive. W i r entschieden uns für ein Restaurant der erschwinglichen Preisklasse und gingen dann eine Weile daneben auf und ab, bis ein Tisch am Rand frei wurde. D e r Tisch war perfekt, im Schatten, mit freiem Blick auf den Springbrunnen in der Mitte der Piazza, und zudem schwer genug, um einen leicht erregbaren 50-Kilo-Labrador zu halten. D a c h ten wir. Ich band Marleys Leine an ein Tischbein, und wir bestellten Getränke für alle, zwei Bier und zweimal Apfelsaft. »Auf einen schönen Tag mit meiner wundervollen Familie«, sagte Jenny und erhob ihr Glas. W i r stießen mit unseren Bierflaschen an und die Jungs schmetterten ihre klebrigen Saftbecher zusammen. Da passierte es. Es ging so schnell, dass wir es zuerst gar nicht mitbekamen. W i r wussten hinterher nur, dass wir im einen M o m e n t noch an einem hübschen Tischchen unter freiem H i m m e l gesessen und 213
auf einen schönen Tag angestoßen hatten und im nächsten M o m e n t genau dieser Tisch unterwegs war und sich seinen W e g durch die M e n g e der anderen Tischchen bahnte, gegen unschuldige Passanten krachte und dabei ein grauenhaftes, ohrenbetäubendes Quietschen verursachte, als er über den Betonboden schrammte. In dieser ersten Schrecksekunde, ehe wir begriffen, was für ein furchtbares Schicksal uns hier ereilt hatte, schien es beinahe so, als wäre unser Tisch besessen, als würde er vor uns unreinen und unwillkommenen Boca-Eindringlingen fliehen. Im nächsten M o m e n t war mir klar, dass nicht unser Tisch besessen war, sondern unser H u n d . Marley preschte voran, kämpfte mit jeder einzelnen Muskelfaser; seine Leine war gespannt wie eine Klaviersaite. U n d dann sah ich auch, wohin Marley mit dem Tisch im Schlepptau unterwegs war. Zwanzig M e t e r weiter auf der Ladenstraße trippelte ein Zwergpudel neben seinem Frauchen her, die Nase hoch in der Luft. Ich weiß noch, dass ich dachte: Verdammt, was findet er denn an einem Pudel? Jenny und ich saßen noch einen Augenblick lang da, unser Bier in der H a n d , die J u n g e n zwischen uns in ihrem Kinderwagen. U n s e r hübscher kleiner Sonntagsausflug war eigentlich vollkommen, bis auf die Tatsache, dass unser Tisch sich gerade seinen W e g durch die M e n g e bahnte. Im nächsten M o m e n t waren wir aufgesprungen, riefen laut nach ihm, rannten los und murmelten ununterbrochen an die Gäste um uns h e r u m gerichtete Entschuldigungen. Ich erreichte den entlaufenen Tisch als Erster, während dieser weiter über den Betonboden auf der Piazza schrammte. Ich packte ihn, stemmte die Füße in den Boden und lehnte mich mit aller Kraft zurück. Gleich darauf war Jenny neben mir und zog ebenso mit aller Kraft. Ich kam mir vor, als wären wir die H e l d e n in einem Actionfilm und würden versuchen, einen außer Kontrolle geratenen Z u g zu stoppen, bevor er aus den 214
Gleisen springen und eine Klippe hinunterkrachen würde. In all dem Durcheinander wandte J e n n y ihren Kopf um u n d rief den Jungs doch tatsächlich zu: »Sind gleich wieder da!« Gleich wieder da? Bei ihr klang das so normal, so vorhersehbar, so geplant, so als würden wir so etwas öfter machen und einfach aus einer Laune heraus, oh, warum nicht, nur so zum Spaß mit Marley auf einen kleinen Spaziergang mit Tisch gehen, nur kurz mal durch die Stadt, vielleicht ein bisschen Schaufenster anschauen, ehe wir dann zur Vorspeise wieder zurück waren. Als wir den Tisch schließlich zum Stillstand gebracht und Marley wieder an Land gezogen hatten, n u r wenige M e t e r vor dem Pudel und seinem zu Tode erschrockenen Frauchen, wandte ich mich kurz um, um nach den J u n g e n zu sehen. U n d erst da sah ich die Gesichter der anderen Restaurantgäste. Es war wie eine Szene aus einem dieser E.-F.-Hutton-Werbespots, wo eine ganze lärmende M e n g e plötzlich in Schweigen erstarrt und darauf wartet, dass eine Stimme aus dem Off einen Investment-Ratschlag flüstert. Die M ä n ner brachen mitten in ihrem Telefongespräch ab, das H a n dy noch in der H a n d . Die Frauen starrten uns mit offenem M u n d an. Die Bocas waren entsetzt. Schließlich brach C o nor das Schweigen. »Mallie weg!«, jauchzte er laut. Ein Kellner rannte herbei und half mir, den Tisch wieder an seinen Platz zu ziehen, während J e n n y Marley mit eiserner H a n d festhielt, der immer noch auf das Objekt seiner Begierde starrte. »Warten Sie, ich hole neue Gedecke«, sagte der Kellner. »Das wird nicht nötig sein«, erwiderte J e n n y lässig. »Wir möchten nur eben unsere Getränke bezahlen.« N i c h t lange nach unserem w u n d e r b a r e n Ausflug in die Restaurantszene von Boca entdeckte ich in der Bibliothek ein Buch mit dem Titel No Bad Dogs, verfasst von der b e 215
kannten britischen H u n d e t r a i n e r i n Barbara Woodhouse. W i e der T i t e l schon sagt, vertritt dieses Buch dieselbe Mein u n g , der auch Marleys erste Lehrmeisterin, Miss D o m i n a trix, angehangen hatte - dass zwischen einem unerzogenen H u n d u n d wahrer Meisterschaft lediglich ein konfuser, entscheidungsunfähiger u n d willensschwacher Besitzer steht. W o o d h o u s e behauptete, dass das P r o b l e m nicht bei den H u n d e n liege, sondern vielmehr bei den Menschen. Dieser Feststellung folgte Kapitel für Kapitel die Beschreibung der unerhörtesten Verfehlungen von H u n d e n . H u n d e , die unaufhörlich jaulten, buddelten, rauften, bissen oder alles besprangen. Es gab H u n d e , die grundsätzlich alle M ä n n e r hassten, andere, die alle Frauen hassten, H u n d e , die klauten, u n d H u n d e , die aus Eifersucht wehrlose Kinder angriffen. M a n c h e H u n d e fraßen sogar ihre eigenen Exkrem e n t e . Gott sei Dank, dachte ich, wenigstens frisst er nicht seine eigenen Exkremente! W ä h r e n d ich das Buch las, fühlte ich mich bei dem Gedanken an unseren unvollkommenen H u n d zunehmend besser. W i r waren inzwischen schon zu der festen Überzeugung gekommen, dass unser Marley tatsächlich der schlimmste H u n d der Welt war. Es war schön zu hören, was es alles für U n a r t e n gab, die Marley nicht hatte. Er hatte keine Spur von Bosheit in sich. Er bellte nicht viel. Er biss nicht. Er griff niemals andere H u n d e an, höchstens, um ihnen seine Liebe zu zeigen. Er hielt jeden für seinen besten Freund. U n d das Beste war, dass er keinen H u n d e d r e c k fraß und sich auch nicht darin wälzte. Außerdem gab es ja keine bösen H u n d e , sagte ich mir, n u r unbeholfene, unfähige Besitzer wie Jenny und mich. Es war unser Fehler, dass Marley so geworden war. D a n n kam ich zu Kapitel vierundzwanzig. »Leben mit einem mental instabilen H u n d « . W ä h r e n d ich es las, musste ich laut schlucken. Woodhouse beschrieb Marleys Verhal216
ten so einfühlsam, als hätte sie mit ihm in seinem r a m p o nierten Käfig gesessen. Sie sprach die krankhaften, absurden Verhaltensmuster an, die Zerstörungswut, wenn er allein gelassen wurde, die eingerissenen W ä n d e u n d zerkauten Teppiche. Sie beschrieb die Versuche von Besitzern solcher Ungeheuer, »einen Platz im H a u s oder Garten hundesicher zu gestalten«. Sie erwähnte sogar den Gebrauch von Beruhigungsmitteln als letztes und höchst ineffektives Mittel, diesen geisteskranken Tieren wieder zu einem normalen seelischen Zustand zu verhelfen. »Manche H u n d e sind von G e b u r t an instabil, bei anderen sind die Lebensumstände für diese Entwicklung verantwortlich, aber das Ergebnis ist immer dasselbe: Diese H u n d e sind keine Freude, sondern vielmehr eine Belastung für ihre Besitzer, sie verursachen hohe Kosten und bringen oft die ganze Familie zur Verzweiflung«, schrieb W o o d h o u s e . Ich blickte zu Marley hinunter, der zu meinen Füßen döste, u n d fragte: » K o m m t dir das irgendwie bekannt vor?« Im folgenden Kapitel mit der Uberschrift »Abnormes Verhalten bei H u n d e n « schrieb Woodhouse mit einer gewissen Resignation: »Ich kann nicht oft genug betonen, dass die E n t scheidung, mit einem anormalen H u n d zu leben, auch eine Entscheidung für ein in vielerlei Hinsicht eingeschränktes Leben ist.« Meinte sie damit etwa die Todesangst, wenn man das Haus verlässt, um schnell einen Liter Milch zu kaufen? »Auch wenn Sie Ihren anormalen H u n d lieben«, fuhr W o o d h o u s e fort, »so müssen Sie doch dafür sorgen, dass er andere L e u te nicht belästigt.« Andere Leute wie, hypothetisch gesprochen, Gäste in einem Restaurant in Boca Raton, Florida? Woodhouse hatte unseren H u n d und unsere armselige, angebundene Lebensweise genau getroffen. Alles stimmte: die unglücklichen, willensschwachen Besitzer; der mental instabile, außer Kontrolle geratene H u n d ; die endlose Liste von 217
zerstörtem Eigentum; die genervten und belästigten Fremden und Nachbarn. W i r waren ein Musterbeispiel. »Herzlichen Glückwunsch, Marley!«, sagte ich zu ihm. » D u gehst als anormal durch.« Beim Klang seines N a m e n s öffnete er die Augen, streckte sich und rollte sich auf den Rücken, die Pfoten in der Luft. Ich erwartete, dass Woodhouse eine clevere Lösung für die Besitzer eines solchen Fehlkaufes parat hatte, oder zumindest ein paar hilfreiche Tipps, die bei korrekter Ausführung auch den verrücktesten H u n d in einen gefeierten H u n deschau-Teilnehmer verwandeln würden. Doch sie schloss ihr Buch mit einer wesentlich düstereren Botschaft ab: » N u r die Besitzer von mental instabilen H u n d e n können wirklich entscheiden, wann ein H u n d gesund und wann er mental krank ist. N i e m a n d kann für einen Besitzer entscheiden, was er mit einem H u n d , der abnormes Verhalten zeigt, tut. Ich als große Hundeliebhaberin finde es barmherziger, sie einschläfern zu lassen.« Einschläfern lassen? Schluck! U n d falls das noch nicht deutlich genug war, fügte sie noch hinzu: »Wenn alle Möglichkeiten eines Trainings oder tiermedizinischer Behandlung ausgeschöpft sind u n d für den H u n d keine Hoffnung besteht, jemals ein halbwegs normales Leben zu führen, dann ist es für T i e r und Halter sicherlich besser, den H u n d einschläfern zu lassen.« Selbst eine Barbara Woodhouse, Tierliebhaberin und erfolgreiche Trainerin Tausender von H u n d e n , die von ihren Besitzern schon als hoffnungsloser Fall abgestempelt waren, zog den Schluss, dass man manchen H u n d e n einfach nicht helfen konnte. W e n n es nach ihr ginge, dann würde man sie alle auf humane Weise in die himmlische Hundeirrenanstalt schicken. »Keine Sorge, mein G r o ß e r « , sagte ich zu Marley und 218
kraulte ihm den Bauch, »in diesem H a u s wacht jeder wieder aus seinem Schlaf auf.« Er seufzte dramatisch und träumte dann weiter von liebestollen Zwergpudeln. Etwa um diese Zeit lernten wir auch, dass nicht alle Labradors gleich sind. Tatsächlich gibt es zwei verschiedene U n tergruppen dieser Rasse: die Englische und die Amerikanische. Die Englische Linie ist kleiner und stämmiger als die Amerikanische, mit kompakterem Kopf u n d einem sanften, freundlichen Wesen. Diese H u n d e werden gerne auf H u n deschauen gezeigt. Labradors, die aus der Amerikanischen Linie stammen, sind wesentlich größer u n d kräftiger, mit geschmeidigem, weniger untersetztem Körperbau. Sie sind für ihre endlose Energie und ihren M u t bekannt u n d werden vor allem zur Jagd und im Sport eingesetzt. G e n a u die Q u a litäten, die einen Amerikanischen Labrador im Gelände so unbezwingbar und überlegen machen, lassen ihn in einer Familie zur Herausforderung werden. Ihre außerordentliche Energie, so die W a r n u n g der Fachliteratur, sollte nicht u n terschätzt werden. Oder wie die Broschüre eines Züchters aus Pennsylvania es ausdrückte: » W i r werden oft gefragt, was der U n t e r schied zwischen Englischen und Amerikanischen Labradors sei. D e r Unterschied ist so groß, dass der Zuchtverein bereits über eine Aufspaltung der Rasse nachdenkt. Die U n terschiede betreffen den Körperbau genauso wie das T e m perament. W e n n Sie nach einem H u n d suchen, den Sie im Gelände einsetzen können, dann entscheiden Sie sich für einen Amerikanischen Labrador. Sie sind athletisch, groß, schlaksig und dünn, haben aber eine sehr energische, spannungsreiche Persönlichkeit, die sie nicht unbedingt zu den besten Familienhunden macht. Die Englischen Labradors 219
wiederum sind gedrungen und kleiner. Es sind sehr liebenswürdige, ruhige, ausgeglichene H u n d e . « M i r war schnell klar, aus welcher Linie Marley stammte. Allmählich ergab das alles einen Sinn. W i r hatten uns blindlings für einen Labradortyp entschieden, der am liebsten den ganzen Tag durch die Wildnis preschte. U n d damit nicht genug, unsere W a h l war zufällig auch noch auf ein mental instabiles Exemplar gefallen, das gegen jeden Trainingserfolg und jegliche Medikation oder Behandlung immun war. G e n a u die Art von abnormem Wesen, das eine erfahrene Hundetrainerin wie Barbara Woodhouse lieber tot gesehen hätte. Toll, dachte ich. Endlich wissen wir Bescheid. Kurz nachdem uns Woodhouses Buch die Augen hinsichdich Marleys Geisteszustand geöffnet hatte, bat uns ein Nachbar, für eine W o c h e seinen Kater bei uns aufzunehmen, solange er im Urlaub war. Sicher, sagten wir, bringen Sie ihn nur her. Im Vergleich zu H u n d e n waren Katzen einfach. Katzen liefen auf Autopilot, und dieser Kater war besonders schüchtern und scheu, vor allem Marley gegenüber. Er würde sich wahrscheinlich den ganzen Tag hinter der Couch verstecken und erst zum Fressen herauskommen, wenn wir schon schliefen. W i r mussten n u r seinen Fressnapf außerhalb von Marleys Reichweite aufstellen. D e r Kater würde das Katzenklo benutzen, das wir diskret in einer Ecke der überdachten Terrasse neben unserem Pool platzierten. Es war nichts dabei, wirklich. Marley war sich nicht einmal bewusst, dass eine Katze im H a u s war. Als der Kater schon ein paar Tage bei uns wohnte, wurde ich eines frühen M o r g e n s von einem lauten, hämmernden Geräusch geweckt, das unsere Matratze erzittern ließ. Es war Marley, der vor Aufregung bebend neben unserem Bett stand und mit dem Schwanz wild gegen die Matratze 220
schlug. Wapp, wapp, wapp! Ich streckte die H a n d aus, um ihn zu streicheln, aber er wich mir aus. Er tapste und tanzte neben dem Bett herum. D e r Marley-Mambo. »Okay, was ist es diesmal?«, fragte ich ihn, meine Augen immer noch geschlossen. W i e zur Antwort ließ Marley seine Beute stolz auf die Bettdecke fallen, n u r wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt. Ich war noch so müde, dass ich eine Minute brauchte, um zu realisieren, was es war. Das D i n g war klein, dunkel und von undefinierbarer Form, überzogen mit grobkörnigem, kieselartigem Sand. D a n n erreichte der Geruch meine Nasenlöcher. Ein scharfer, stechender, übler Geruch. Ich setzte mich abrupt auf, stieß dabei J e n n y an u n d weckte sie damit auf. Ich deutete auf Marleys Geschenk, das auf der Decke schimmerte. »Das ist doch wohl keine . . . « , setzte J e n n y an, mit deutlichem Ekel in der Stimme. »Doch, genau das«, sagte ich. » E r hat das Katzenklo überfallen.« Marley hätte nicht stolzer sein können, wenn er uns den Hope-Diamanten gebracht hätte. W i e Barbara Woodhouse es so weise vorausgesagt hatte, hatte unser mental instabiler, abnormer Köter seine exkrementfressende Phase erreicht.
NEUNZEHN
Der Blitz schlägt ein
N
ach C o n o r s G e b u r t dachten alle, wir würden keine weiteren Kinder m e h r bekommen - mit Ausnahme meiner erzkatholischen Eltern, die um Dutzende kleiner Grogans beteten. Die meisten aus unserem Bekanntenkreis waren Doppelverdiener mit durchschnittlich einem Kind. Zwei Kinder galten als einigermaßen extravagant, und drei Kinder waren schlicht unerhört. Vor allem nach der schwierigen Schwangerschaft mit C o n o r verstand niemand, warum wir uns diesen Wahnsinn freiwillig noch einmal antun wollten. D o c h wir hatten unsere Phase als frisch vermählte Pflanzenkiller schon lange überwunden. Es gefiel uns, Eltern zu sein. U n s e r e zwei Jungs machten uns mehr Freude, als wir es je für möglich gehalten hätten. Sie prägten jetzt unser Leben, und auch wenn ein Teil in uns die entspannten Urlaube vermisste, die faulen Samstage, an denen man Romane lesen konnte, und die romantischen Abendessen, die sich bis spät in die N a c h t ausdehnten, so hatten wir doch auch neue Freuden entdeckt - in verschüttetem Apfelsaft und kleinen Nasenabdrücken am Fenster und in der leisen Musik der nackten Füßchen, die am frühen M o r g e n den Flur heruntertapsten. Auch an schlechten Tagen gab es eigentlich immer irgendetwas, worüber man lächeln musste. Inzwischen wussten wir, was viele Eltern früher oder später einsehen müssen, nämlich dass diese wundervollen Tage der frühen Kindheit 222
- mit Windelpopos, ersten Z ä h n e n und unverständlichem Geplapper - nur ein strahlender, kurzer Blitz in der Odnis eines ansonsten ganz normalen Lebens sind. W i r verdrehten beide die Augen, als uns meine M u t t e r den altbekannten Ratschlag gab: »Freut euch an ihnen, solange ihr könnt, ehe ihr euch verseht, sind sie groß.« Jetzt, nach nur wenigen Jahren, wurde uns klar, dass sie Recht hatte. Ihr Rat war zwar tiefstes Klischee, aber wir sahen inzwischen ein, dass sehr viel Wahrheit darin lag. Die Jungs wuchsen wirklich schnell, und jede Woche endete ein weiteres kleines Kapitel, das so nie wieder nachgeholt werden konnte. In der einen Woche lutschte Patrick noch am Daumen, in der nächsten hatte er diese Angewohnheit für immer aufgegeben. In der einen Woche war C o n o r noch unser Baby in der Wiege, ein paar Tage später sprang er schon auf seinem Kinderbettchen herum, als wäre es ein Trampolin. Patrick konnte anfangs kein » L « aussprechen. W e n n sich eine Frau zu ihm hinunterbeugte und ihn anlachte, was natürlich oft der Fall war, dann stemmte er seine kleinen Fäuste in die Hüften, schürzte die Lippen und sagte: »Frau yacht, Patrick yieb!« Ich wollte das immer auf Video aufnehmen, aber eines Tages brachte er das » L « auf einmal perfekt heraus, u n d es war zu spät. Monatelang bekamen wir C o n o r nicht aus seinen Superman-Schlafanzügen heraus. Er rannte immer mit wehendem U m h a n g durch das H a u s und schrie: » D u pameen!« U n d dann war auch das vorbei, und ich hatte einen weiteren Videomoment verpasst. Kinder sind wie eine tickende Uhr, der m a n nicht entkommen kann. Sie führen einem vor, dass die Zeit unerbittlich voranschreitet und das Leben kein unendliches M e e r von Minuten, Stunden, Tagen und Jahren ist. Unsere Babys wurden schneller groß, als uns beiden lieb war, was vielleicht teilweise erklärt, warum wir ungefähr ein J a h r nach dem 223
U m z u g in unser neues H a u s in Boca die ersten Versuche für ein drittes Kind starteten. Ich sagte zu Jenny: »Hey, wir haben jetzt vier Schlafzimmer, warum also nicht?« Nach zwei Versuchen war es so weit. Keiner von uns beiden hätte zugegeben, dass wir uns ein Mädchen wünschten, aber natürlich war es so. W i r wünschten uns sogar verzweifelt ein Mädchen, entgegen unseren Beteuerungen während der Schwangerschaft, dass drei Jungs einfach toll wären. Als ein Ultraschallbild schließlich unsere Hoffnung zu bestätigen schien, legte J e n n y mir ihre Arme um die Schultern und flüsterte: »Ich bin so froh, dass ich dir vielleicht ein kleines Mädchen schenken kann.« Ich war auch schrecklich glücklich. N i c h t alle unsere Freunde teilten unsere Vorfreude. Die Standardreaktion auf die freudige Nachricht von Jennys Schwangerschaft war: »War das ein Unfall?« Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, dass eine dritte Schwangerschaft geplant gewesen sein könnte. U n d wenn es kein U n fall gewesen war, dann mussten sie unsere Zurechnungsfähigkeit ernsthaft infrage stellen. Eine Bekannte ging sogar so weit, J e n n y dafür zu kritisieren, dass sie sich noch einmal von mir hatte schwängern lassen. Sie fragte in einem Ton, als hätte J e n n y gerade ihr gesamtes H a b u n d G u t einer Sekte in Guyana überschrieben: »Was hast du dir nur dabei gedacht? !« U n s war das alles egal. Am 9. Januar 1997 machte Jenny mir ein verspätetes Weihnachtsgeschenk: ein rosiges Siebenpfundmädchen. W i r nannten sie Colleen. Erst jetzt schien unsere Familie vollständig zu sein. Im Gegensatz zu der Schwangerschaft mit Conor, die uns so viel Sorgen und Stress bereitet hatte, war dies eine perfekte Schwangerschaft wie aus dem Lehrbuch gewesen, und die Geburt im Gemeindekrankenhaus von Boca Raton eröffnete uns eine neue Welt der Patientenfürsorge. Auf unserem G a n g gab 224
es eine Sofaecke mit einem Cappuccinoautomaten, an dem man sich frei bedienen konnte - ganz im Boca-Stil. Als u n ser Baby endlich kam, war ich so von schaumigem Koffein aufgeputscht, dass ich meine H ä n d e kaum stillhalten k o n n te, um die Nabelschnur durchzuschneiden. Als Colleen eine Woche alt war, ging J e n n y das erste Mal mit ihr an die frische Luft. Es war ein kalter, schöner Tag. Die Jungen und ich waren im Vorgarten und pflanzten Blumen an. Marley hatten wir an einem Baum in der N ä h e angebunden. Er lag zufrieden im Schatten und döste vor sich hin. Jenny setzte sich neben ihn ins Gras und stellte unser schlafendes Baby in einer tragbaren W i p p e zwischen ihn und sich auf den Boden. N a c h ein paar M i n u t e n riefen die Jungen nach ihrer Mutter, damit sie sich ihr W e r k genauer ansehen sollte. Sie führten Jenny und mich von Blumenbeet zu Blumenbeet, während Colleen neben Marley im Schatten schlief. W i r kamen schließlich zu einem Beet hinter einer großen Hecke, von wo aus wir das Baby noch sehen konnten; wir selbst waren für Passanten von der Straße aus aber nicht mehr sichtbar. Als wir wieder zurückgehen wollten, hielt ich inne und bedeutete Jenny, durch die Hecke zu schauen. Auf dem G e h w e g war ein älteres Pärchen stehen geblieben und starrte mit befremdetem Gesichtsausdruck auf die Szenerie in unserem Vorgarten. Zuerst wusste ich nicht recht, was sie so fesselte. D a n n wurde mir klar: Von ihrem Standpunkt aus konnten sie n u r ein zerbrechliches, winziges Baby sehen, allein gelassen mit einem riesigen hellbraunen H u n d als Babysitter. W i r blieben eine Weile hinter der H e c k e stehen und kicherten. Marley lag da wie eine ägyptische Sphinx, mit gekreuzten Pfoten und erhobenem Kopf, und hechelte zufrieden. Alle paar Sekunden schob er die Schnauze zum Kopf 225
des Babys hinüber, um daran zu schnüffeln. Die armen älteren Herrschaften mussten den Eindruck haben, gerade Zeugen sträflicher Vernachlässigung eines Babys geworden zu sein. Kein Zweifel, die Eltern waren sicher irgendwo in einer Kneipe und hatten das Baby allein in der O b h u t des Labradors der N a c h b a r n zurückgelassen, der wahrscheinlich gleich versuchen würde, das Kleine zu säugen. Als könnte er meine Gedanken lesen, veränderte Marley prompt seine Position und legte das Kinn auf Colleens Bauch. Sein Kopf war größer als das ganze Baby. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, als wollte er sagen: Wann kommen die beiden endlich nach Hause? Es sah aus, als wollte er Colleen beschützen, und vielleicht war es tatsächlich so, obwohl ich glaube, dass er nur den Duft aus ihrer Windel genoss. J e n n y und ich standen hinter der Hecke und grinsten uns an. D e r Gedanke an Marley als Babysitterhund war einfach zu schön. Ich war schon versucht, abzuwarten und zu sehen, wie sich die Situation weiter entwickeln würde, doch dann fiel mir ein, dass die beiden vielleicht die Polizei rufen könnten. W i r waren damit davongekommen, C o n o r im Durchgang unterzubringen, aber wie sollten wir das hier erklären? (»Tja, ich weiß, wie das hier auf Sie wirken muss, Officer, aber er ist erstaunlich verantwortungsvoll ...!«) W i r traten hinter der Hecke hervor und winkten dem Paar zu - und konnten die Erleichterung auf ihren Gesichtern sehen. G o t t sei Dank, das Baby war doch nicht dem H u n d überlassen worden. »Sie scheinen Ihrem H u n d ja wirklich zu vertrauen«, sagte die Frau vorsichtig, offensichtlich war sie der Meinung, dass H u n d e wild und unberechenbar waren und niemals so nah an ein Baby herangelassen werden durften. »Bisher hat er noch keins gefressen«, gab ich zurück.
226
Zwei Monate nach Colleens G e b u r t feierte ich meinen vierzigsten Geburtstag auf höchst unspektakuläre Weise - n ä m lich allein. D e r vierzigste soll ja ein großer W e n d e p u n k t im Leben eines Mannes sein, an dem m a n sich von seiner rastlosen Jugend verabschiedet und sich auf die berechenbaren Freuden des reiferen Alters freut. W e n n also irgendein runder Geburtstag eine große Feier wert ist, dann der vierzigste. Aber nicht für mich. W i r waren inzwischen die verantwortungsvollen Eltern von drei Kindern; J e n n y hatte wieder ein Baby an der Brust. Es gab jetzt Wichtigeres, w o rüber man sich Gedanken machen musste. Ich kam von der Arbeit nach Hause, und J e n n y war müde und abgespannt. Nachdem wir die Reste vom Vortag gegessen hatten, badete ich die beiden Jungs und brachte sie ins Bett, während J e n ny Colleen stillte. Um halb neun schliefen alle drei Kinder, und meine Frau auch. Ich machte mir ein Bier auf, setzte mich auf die Terrasse und starrte auf das schillernd blaue Wasser des erleuchteten Swimmingpools. W i e i m m e r saß Marley treu neben mir, und während ich ihn hinter den O h ren kraulte, fiel mir auf, dass er eigentlich an einem ähnlichen Wendepunkt angelangt war. W i r hatten ihn vor sechs Jahren zu uns geholt. In Hundejahren gerechnet war er also jetzt irgendwo Anfang vierzig. Er hatte stillschweigend ein mittleres Alter erreicht und benahm sich dabei doch i m m e r noch wie ein Welpe. Außer einer chronischen O h r e n t z ü n dung, die Dr. Jay immer wieder behandeln musste, war er gesund. Er zeigte keinerlei Anzeichen von Reife oder E r m ü dung. Es war mir nie eingefallen, in Marley ein Vorbild zu sehen, aber wie ich so dasaß und an meinem Bier nippte, wurde mir bewusst, dass er vielleicht das Geheimnis eines glücklichen Lebens gefunden hatte. N i e abbremsen, niemals zurückschauen, jeden Tag mit der Begeisterung eines H e r a n wachsenden erleben, voller M u t , N e u g i e r und Verspieltheit. 227
W e n n man sich einbildet, immer noch ein junger Kerl zu sein, dann ist man es vielleicht auch, egal, was der Kalender behauptet. Kein schlechter Ansatz, obwohl ich die Phase der Couchzerstörung und Waschküchenverwüstung weglassen würde. »Tja, mein großer J u n g e « , sagte ich zu ihm und drückte meine Bierflasche in einer Geste des interrassischen Zuprostens gegen seinen Hals, »heute Abend sind wir unter uns. Auf die Vierzig! Auf das gesetztere Alter. Lass uns darauf anstoßen, dass wir bis zum Ende mit den großen H u n d e n mitrennen können.« D a n n rollte auch er sich zusammen und schlief ein. Ein paar Tage später blies ich immer noch Trübsal wegen meines einsamen Geburtstags, als Jim Tolpin, mein alter Kollege, der Marley das Anspringen abgewöhnt hatte, unerwartet anrief u n d fragte, ob ich Lust hätte, am nächsten Abend, einem Samstag, mit ihm ein Bier trinken zu gehen. J i m hatte etwa um dieselbe Zeit, als wir nach Boca Raton gezogen waren, seinen J o b bei der Zeitung aufgegeben und angefangen, Jura zu studieren. W i r hatten uns seit M o n a ten nicht m e h r gesprochen. »Klar«, sagte ich, ohne auch n u r nachzudenken. J i m holte mich am nächsten Abend um sechs U h r ab und wir fuhren zu einem englischen Pub, wo wir ein Bass Ale kippten und uns die neuesten Ereignisse aus unserem L e b e n erzählten. W i r hatten großen Spaß, bis der Kellner rief: »Ist hier ein J o h n Grogan? Telefon für J o h n Grogan!« Es war Jenny, und sie klang sehr wütend und gestresst. »Das Baby schreit, die Jungs sind außer Rand und Band, und ich habe gerade meine Kontakdinse verloren!«, schluchzte sie ins Telefon. »Kannst du gleich nach Hause kommen?« »Versuch dich zu beruhigen!«, sagte ich. »Halt durch, ich bin gleich da.« Ich hängte auf. D e r Kellner warf mir einen 228
Du-armer-bemitleidenswerter-Pantoffelheld-Blick zu u n d sagte nur: »Mein Beileid, Kumpel!« » K o m m « , sagte Jim. »Ich fahr dich nach Hause.« Als wir in unsere Straße einbogen, war alles mit Autos zugeparkt. » H i e r feiert jemand eine Party«, stellte ich fest. »Ja, sieht so aus«, erwiderte Jim. »Jetzt schau dir das an!«, sagte ich, als wir zu unserem Haus kamen, »da hat sich einer doch tatsächlich in meine Einfahrt gestellt! Das ist ja wirklich das Letzte!« W i r parkten den Eindringling zu und ich forderte J i m auf, noch mit hereinzukommen. Ich ärgerte mich immer noch über den u n verschämten Kerl, der sich in meine Einfahrt gestellt hatte, als die T ü r aufging. Es war J e n n y mit Colleen auf dem Arm. Sie sah überhaupt nicht wütend aus. Tatsächlich hatte sie ein breites Grinsen im Gesicht. H i n t e r ihr stand ein Dudelsackspieler mit Kilt. Großer Gott! Was ist denn hier los?, dachte ich. Dann warf ich einen Blick hinter den Dudelsackspieler und sah, dass jemand den Zaun um den Swimmingpool abgebaut und Teelichter auf das Wasser gesetzt hatte. Auf der Terrasse drängten sich mehrere Dutzend meiner Freunde, N a c h b a r n und Kollegen. Gerade als ich begriff, dass all die Autos auf der Straße zu den vielen Menschen in meinem H a u s gehörten, riefen sie unisono: » H a p p y Birthday, Alter!« M e i n e Frau hatte meinen Geburtstag also doch nicht vergessen. Als ich meinen M u n d endlich wieder zubekam, u m a r m t e ich Jenny, gab ihr einen Kuss und flüsterte: »Das zahle ich dir heim!« Jemand öffnete auf der Suche nach einem Abfalleimer die T ü r zur Waschküche, und heraus schoss Marley. Er war in bester Partylaune. Er lief durch die M e n g e , stahl ein Mozzarellabrötchen vom Tablett, hob mit der Schnauze ein paar Miniröcke hoch und nahm dann Anlauf zum offenen Swimmingpool. Ich erwischte ihn gerade noch, als er zu seinem 229
typischen Bauchklatscher ansetzte, und zog ihn aufs sichere Land zurück. »Keine Sorge«, sagte ich zu ihm. »Ich heb dir die Reste auf.« N i c h t lange nach der Überraschungsparty - eine Party, deren Erfolg man daran ablesen kann, dass um Mitternacht die Polizei vor der T ü r stand und uns aufforderte, leiser zu sein - wurde Marley endlich in seiner schrecklichen Angst vor Gewitter bestätigt. An einem Sonntagnachmittag legte ich im Garten hinter dem H a u s ein weiteres Gemüsebeet an, als sich am H i m m e l dunkle Wolken zusammenzogen. Gartenarbeit war inzwischen ein H o b b y von mir geworden, und je besser ich darin wurde, desto m e h r wollte ich anpflanzen. Langsam eroberte ich mir den gesamten Garten. W ä h r e n d ich arbeitete, streifte Marley nervös um mich herum. Sein inneres Barometer spürte das nahende Gewitter. Ich merkte auch, dass etwas in der Luft lag, aber ich wollte mein Projekt abschließen und n a h m mir vor, so lange weiterzuarbeiten, bis ich die ersten Regentropfen spürte. W ä h r e n d ich grub, sah ich immer wieder zum H i m m e l und bemerkte im Osten über d e m M e e r eine riesige schwarze Gewitterwolke. Marley winselte leise, er bat mich, die Schaufel hinzulegen u n d hineinzugehen. »Entspann dich«, sagte ich zu ihm, »es ist noch weit weg.« Ich hatte die W o r t e kaum gesagt, als ich etwas Ungewöhnliches spürte, ein eigenartiges Prickeln in meinem Nacken. D e r H i m m e l hatte sich inzwischen seltsam grünlich verfärbt, u n d die Luft schien plötzlich stillzustehen, als ob eine himmlische M a c h t die W i n d e gepackt hätte und nun mit eisernem Griff festhielte. Merkwürdig, dachte ich und stützte mich auf meine Schaufel, um den H i m m e l zu betrachten. Da h ö r t e ich es: eine brausende, knisternde Energiewoge, wie man sie manchmal unter einem Hochspannungsmas230
ten wahrnehmen kann. Eine Art S u m m e n erfüllte die Luft um mich herum, gefolgt von einer kurzen, absoluten Stille. In diesem M o m e n t wusste ich, dass Gefahr im Verzug war, aber ich hatte keine Zeit mehr, zu reagieren. Im nächsten Augenblick war die Luft plötzlich blendend weiß, u n d dann dröhnte eine Explosion in meinen O h r e n , wie ich sie noch nie gehört hatte, bei keinem Gewitter, keinem Feuerwerk und bei keiner Sprengung. Ein Energieschwall traf mich gegen die Brust wie ein unsichtbarer Rammbock. Ich weiß nicht, wie viele Sekunden vergingen, doch als ich die Augen wieder öffnete, lag ich mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden, schmeckte Sand im M u n d und sah meine Schaufel fünf Meter entfernt liegen. Regen prasselte auf mich nieder. Marley lag auch am Boden, den Kopf zwischen den Pfoten, und als er sah, dass ich den Kopf hob, kroch er verzweifelt bäuchlings auf mich zu, wie ein Soldat, der versucht, unter einem Stacheldrahtverhau hindurchzurobben. Als er mich erreicht hatte, kletterte er auf meinen Rücken, vergrub seine Schnauze in meinem Nacken und fing an, mich wie wahnsinnig abzulecken. Ich sah kurz auf und versuchte, meine C h a n cen zu berechnen, und sah, dass der Blitz in den Strommast am Ende des Gartens eingeschlagen und über den D r a h t bis zum Haus gerast war, zehn M e t e r von der Stelle entfernt, wo ich gearbeitet hatte. D e r Stromzähler an der Hauswand war völlig hinüber. »Komm!«, schrie ich, und dann stürzten wir beide durch den prasselnden Regen auf die H i n t e r t ü r zu, während neue Blitze neben uns aufflackerten. W i r blieben erst stehen, als wir sicher im H a u s waren. Ich kniete mich tropfnass auf den Boden und versuchte zu Atem zu kommen. Marley kletterte auf mich, leckte mir das Gesicht, knabberte an meinen O h ren und verteilte überall Sabber und Hundehaare. Er war völlig außer sich vor Angst und zitterte unkontrolliert, Schaum 231
stand ihm vor dem Maul. Ich u m a r m t e ihn und versuchte ihn zu beruhigen. »Mein Gott, das war knapp!«, stammelte ich u n d merkte, dass ich ebenfalls zitterte. Marley sah mit seinen großen, ausdrucksvollen Augen zu mir auf, diesen Augen, die beinahe reden konnten. Ich wusste, was er mir sagen wollte. Ich habe seit Jahren versucht, euch zu warnen, dass dieses Etwas euch umbringen kann. Aber hat irgendwer auf mich gehört? Nehmt ihr mich nun endlich ernst? D e r H u n d hatte Recht. Vielleicht war seine Angst vor G e witter gar nicht so irrational gewesen. Vielleicht waren seine Panikattacken beim ersten entfernten Donnergrollen seine Art gewesen, uns klarzumachen, dass man die heftigen G e witter in Florida, die schlimmsten im ganzen Land, nicht mit einem Schulterzucken abtun konnte. Vielleicht waren all die zerstörten W ä n d e , zermeißelten T ü r e n und zerbissenen Teppiche seine Versuche gewesen, eine blitzdichte H ö h l e um uns h e r u m zu bauen, in der wir uns alle behaglich verkriechen konnten. U n d wie hatten wir es ihm vergolten? M i t Schelte und Beruhigungsmitteln. U n s e r H a u s lag im Dunkeln, Klimaanlage, Ventilatoren, Fernseher und andere elektrische Geräte waren tot. D e r Sicherungskasten war widerlich zusammengeschmolzen. W i r würden irgendeinen Elektriker zu einem sehr glücklichen M a n n machen. Aber immerhin war ich am Leben, und ebenso mein treuer Kumpel. Jenny und die Kinder waren im W o h n z i m m e r in Sicherheit und hatten wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen, dass der Blitz eingeschlagen hatte. W i r waren alle da und wohlauf. Alles andere war unwichtig. Ich zog Marley auf meinen Schoß, fünfundvierzig Kilo verängstigter H u n d , und gab ihm an O r t und Stelle ein Versprechen: N i e wieder würde ich seine Angst vor dieser tödlichen Naturgewalt einfach abtun.
ZWANZIG
Der Hundestrand
A
ls Kolumnenschreiber war ich immer auf der Suche nach aufregenden, ungewöhnlichen Geschichten, auf die ich mich stürzen konnte. Ich schrieb drei Artikel pro W o che. Die größte Herausforderung meines Jobs bestand also darin, immer neue, interessante T h e m e n zu finden. J e d e n Morgen scannte ich Südfloridas vier Tageszeitungen durch und strich alles an, was eine E r w ä h n u n g wert sein könnte. D a n n ging es darum, den geeigneten Einstieg in das jeweilige T h e m a zu finden. M e i n e allererste Kolumne hatte ihren Anstoß direkt in der Schlagzeile gefunden: Acht Teenager hatten sich zusammen in ein Auto gedrängt und waren bei zu hohem Tempo von der Straße abgekommen u n d in einen Kanal am Rande der Everglades gestürzt. N u r die sechzehnjährige Fahrerin, ihre Zwillingsschwester u n d ein drittes Mädchen konnten sich aus dem untergegangenen Auto retten. Es war eine Riesenstory, u n d ich wollte unbedingt darüber schreiben, doch aus welchem Blickwinkel heraus sollte ich das T h e m a beleuchten? In der Hoffnung auf einen guten Einfall fuhr ich zu dem einsam gelegenen Unfallort, u n d noch ehe ich das Auto geparkt hatte, war mir auch schon klar, wie ich es angehen würde. Die Klassenkameraden der fünf getöteten Kids hatten die Unfallstelle in eine Galerie aufgesprühter Nachrufe verwandelt. U b e r eine Strecke von einem Kilometer war der Asphalt bemalt, die Betroffenheit 233
und Erschütterung der U r h e b e r war spürbar. M i t meinem Notizbuch in der H a n d fing ich an, die W o r t e abzuschreiben. »Verschwendete J u g e n d « , stand da mit einem Pfeil, der von der Straße in die Fluten hinunter zeigte. Dann, im Zentr u m dieser allgemeinen Katharsis, fand ich, was ich suchte: eine öffendiche Entschuldigung der jungen Fahrerin, Jamie Bardol. Da stand mit großen, klobigen Lettern in kindlicher Schrift: »Ich wünschte, es hätte mich erwischt. Es tut mir leid.« Ich hatte meine Kolumne gefunden. D o c h nicht alle T h e m e n waren so düster. W e n n eine Rentnerin aus ihrer W o h n u n g verwiesen wurde, weil ihr dickes H ü n d c h e n die zugelassene Gewichtsgrenze für Haustiere überschritten hatte, schaute ich vorbei, um den schwergewichtigen Übeltäter kennen zu lernen. W e n n eine verwirrte alte D a m e ihr Auto beim Versuch einzuparken versehentlich gegen ein Schaufenster setzte, wobei glücklicherweise niemand verletzt wurde, war ich zur Stelle, um mit Zeugen zu reden. Einmal führte mich meine Arbeit in ein Migrantenwohnheim, am nächsten Tag in die Villa eines Millionärs, ein andermal war eine Kreuzung in der Stadt der O r t des Geschehens. Ich liebte diese Vielfalt, die unterschiedlichen Leute, die ich traf; und m e h r als alles andere genoss ich die große Freiheit, hinzugehen, wo ich wollte und wann ich wollte, und jedem T h e m a nachzuspüren, das mich gerade reizte. Dabei hatten meine Arbeitgeber keine Ahnung, dass meine journalistischen Recherchetouren einem geheimen Plan folgten: nämlich dem, meine Stellung als Kolumnist schamlos auszunutzen, um so viele freie »Arbeitstage« wie möglich herauszuschlagen. Ich arbeitete nach dem M o t t o : W e n n der Kolumnenschreiber Spaß hat, dann hat der Leser auch Spaß. W a r u m sollte ich mir eine todlangweilige Steuerpolitiksitzung anhören, um darüber einen Artikel zu verfassen, 234
wenn ich genauso gut beispielsweise unter freiem H i m m e l in einer Bar in Key West einen D r i n k schlürfen konnte? Irgendjemand musste ja die Schmutzarbeit machen und die Geschichte von den verlorenen Salzstreuern in Margaritaville erzählen, also konnte das genauso gut ich ü b e r n e h m e n . Mir war jeder Vorwand recht, um einen Tag lang h e r u m z u streunen, am liebsten in Shorts und T-Shirt, und verschiedene entspannende und erbauliche Dinge zu tun, von denen ich mir einredete, dass jemand sie zum W o h l e der Allgemeinheit näher untersuchen musste. Jeder J o b hat seine Berufsgeheimnisse, zu meinen gehörten das N o t i z b u c h des Reporters, ein paar Stifte und ein Badehandtuch. Ich fing an, grundsätzlich n u r noch mit Sonnenhut und Badehose im Auto zu reisen. Einmal düste ich mit einem Propellerboot durch die Everglades, ein andermal wanderte ich am Ufer des Lake Okeechobee entlang. An einem Tag fuhr ich mit dem Fahrrad die schicke State Road A I A am Atlantik hinunter, um aus erster H a n d über die grauenvolle Z u m u tung zu berichten, dass man sich als Radfahrer den W e g mit verwirrten alten D a m e n und orientierungslosen Touristen teilen musste. Ich verbrachte einen Tag beim Schnorcheln durch die gefahrenvollen Riffe von Key Largo, ein andermal verfeuerte ich gemeinsam mit einem zweimaligen Raubüberfallsopfer, das sich geschworen hatte, nie m e h r überfallen zu werden, einige Ladungen Munition auf einem Schießstand. Ich verbrachte einen gemütlichen Tag auf einem Ausflugsschiff und jammte einen Tag lang mit einer alternden Rockband. Eines Tages kletterte ich auf einen Baum u n d genoss dort für ein paar Stunden die Einsamkeit. Ein Bauunternehmer hatte vor, das Gelände platt zu walzen, um dort teure Wohnungen zu errichten, und ich war der Meinung, dass ich diesem letzten Uberrest von N a t u r in einer Betonwüste zumindest einen würdigen Abschied bereiten musste. M e i n 235
größter C o u p war es, als ich meinen Redakteuren einreden konnte, mich auf die Bahamas zu schicken, damit ich direkt vom O r t des Geschehens von dem Hurrikan berichten konnte, der sich dort zusammenbraute und Richtung Südflorida zog. D e r H u r r i k a n verzog sich aufs M e e r hinaus, ohne Schaden anzurichten, und ich verbrachte drei Tage Strandurlaub in einem Luxushotel und schlürfte unter blauem Himmel Pina Colada. Im Zuge dieser journalistischen Streifzüge beschloss ich eines Tages, Marley mit an den Strand zu nehmen. Für weite Strecken der überfüllten Küste von Südflorida galt ein Verbot für Haustiere, und das aus gutem Grund. Für Sonnenanbeter, die an ihrer Bräune arbeiteten, war ein nasser, schmutziger H u n d , der herumsprang, markierte und sich neben ihnen schüttelte, wirklich das Letzte, wonach sie sich sehnten. An beinahe jedem Strand sah man inzwischen so ein »Tiere verboten«-Schild. Aber es gab einen Platz, eine schmale, wenig bekannte Uferlinie, wo keine Schilder standen; dort gab es keine Einschränkungen und keine Verbote für vierbeinige Wasserratten. D e r Strand lag abgelegen zwischen West Palm Beach und Boca Raton und gehörte nicht m e h r zu Palm Beach. Er erstreckte sich über mehrere H u n d e r t M e t e r und lag hinter einer mit Gras bewachsenen D ü n e am Ende einer Sackgasse. Es gab dort weder Parkplatz noch Toilettenhäuschen oder Wasserwacht, n u r einen unberührten Fleck weißen Sand u n d endloses Wasser. Im Laufe der Jahre hatte sich dieses Idyll unter Hundebesitzern herumgesprochen und galt als Südfloridas letzte Zuflucht für H u n d e , die sich in die Brandung werfen und im Wasser herumtollen wollten, ohne eine Geldstrafe zu riskieren. D e r O r t hatte offiziell keinen N a m e n , inoffiziell hieß er bei allen einfach Hundestrand. Am H u n d e s t r a n d galten eigene, ungeschriebene Gesetze, 236
die sich im Laufe der Zeit in stiller Übereinkunft der H u n debesitzer herausgebildet hatten und durch Gruppenzwang und eine Art stummen moralischen Vertrag aufrechterhalten wurden. Die Hundebesitzer kontrollierten sich gegenseitig, damit kein Außenstehender auf diese Idee kam; und sie bestraften Zuwiderhandlungen mit vernichtenden Blicken und gelegentlichen Zurechtweisungen. Die Regeln waren einfach und kurz: Aggressive H u n d e mussten an der Leine bleiben, alle anderen durften frei laufen. Die Besitzer mussten Plastiktüten mitbringen und alle Spuren ihrer T i e r e beseitigen. Jeglicher Abfall, einschließlich dieser Plastiktüten, musste mitgenommen werden. Für jeden H u n d sollte sein eigener Vorrat an frischem Trinkwasser mitgebracht werden. U n d vor allem durfte auf keinen Fall das Wasser verschmutzt werden. Die Etikette verlangte von den Hundebesitzern, bei ihrer Ankunft mit den H u n d e n in den D ü n e n , weit weg vom Ufer, spazieren zu gehen, bis die T i e r e ihr Geschäft gemacht hatten. Dann konnten sie das Resultat in ihre T ü t e n packen und gefahrlos zum Wasser gehen. Ich hatte schon vom Hundestrand gehört, war aber noch nie dort gewesen. N u n hatte ich meinen Vorwand. Dieses vergessene Eckchen des entschwundenen alten Florida, in dem es noch keine Touristenhochburgen am Strand, keine gebührenpflichtigen Parkplätze und keine ü b e r h ö h t e n Grundstückspreise gab, hatte es in die Schlagzeilen geschafft. Eine der Tourismusbranche wohl gesonnene D a m e aus der Bezirksverwaltung hatte diesen unerschlossenen Landstrich ins Gespräch gebracht und zur Diskussion gestellt, warum dort nicht dieselben Regeln gelten sollten wie überall sonst am Strand. Sie machte ihr Anliegen deutlich: Sie wollte die haarigen Untiere verbannen, den öffentlichen Z u g a n g verbessern und diesen wertvollen Schatz für die Massen öffnen. 237
Ich erkannte sofort, dass mir diese Story einen perfekten Vorwand bot, einen Tag auf Verlagskosten am Strand zu verbringen. An einem strahlenden J u n i m o r g e n tauschte ich Krawatte und Aktentasche gegen Badehose und Flip-Flops und fuhr mit Marley den Intercoastal Waterway hinunter. Ich packte so viele Badetücher ins Auto, wie ich finden konnte - allein schon für die Hinfahrt. W i e immer ließ Marley die Z u n g e aus dem Maul hängen und sabberte alles voll. Ich kam mir vor, als hätte ich einen Geysir im Auto, und bedauerte, dass die Scheibenwischer nicht an der Innenseite der Scheiben angebracht waren. W i e es das Hundestrand-Protokoll vorschrieb, parkte ich mehrere Blocks entfernt, wo ich keinen Strafzettel bekommen würde, und machte mich auf den langen W e g durch eine verschlafene Wohngegend mit Bungalows aus den Sechzigerjahren. Marley lief voran. Etwa auf halbem W e g rief eine grobe Stimme: »Hey, Sie da, mit d e m H u n d ! « Ich erstarrte und erwartete einen wütenden Anwohner, der mich beschimpfen würde, dass ich mein e n verdammten H u n d von seinem Strand fernhalten sollte. D o c h die Stimme gehörte einem anderen Hundebesitzer, der mit seinem großen H u n d an der Leine auf mich zukam und mir eine Unterschriftenliste für eine Petition für den Erhalt des Hundestrandes reichte. W i r wären wahrscheinlich eine Weile so dagestanden und hätten uns unterhalten, aber so wie sich Marley u n d der andere H u n d umkreisten, war es n u r eine Frage der Zeit, bis sie a) sich im Kampf auf Leben u n d Tod aufeinanderstürzen oder b) eine Familie gründen würden. Ich zog Marley weiter und setzte meine Wanderung fort. Gerade als wir den Pfad zum Strand erreichten, hockte sich Marley in die Büsche und machte sein Geschäft. Perfekt. Zumindest dieses Problem war aus der Welt geschafft. Ich sackte den Beweis ein und sagte: »Auf zum Strand!« Als wir die D ü n e hinaufgeklettert waren, sah ich zu mei238
nem Erstaunen mehrere Hundebesitzer mit ihren H u n d e n an der Leine durch das seichte Wasser waten. Was war hier los? Ich hatte erwartet, dass die H u n d e hier frei und in u n gezügelter H a r m o n i e herumlaufen würden. »Gerade war ein Beamter vom Sheriffbüro hier«, erklärte mir ein H u n debesitzer mürrisch. » E r hat gesagt, dass von jetzt an auch hier Leinenpflicht gilt, und dass wir Strafe zahlen müssen, wenn wir unsere H u n d e frei laufen lassen.« Offenbar war ich zu spät gekommen, um die ungetrübten Freuden des Hundestrands genießen zu können. Die Behörden hatten die Zügel angezogen, offensichtlich auf D r u c k der politisch einflussreichen Anti-Hunde-Lobby. Gehorsam n a h m ich Marley an die Leine und lief wie die anderen Hundebesitzer am Strand entlang. Ich fühlte mich dabei eher wie bei der Leibesertüchtigung in einem Gefängnis als am letzten unerschlossenen Strand von Südflorida. Dann kehrte ich mit Marley zu meinem Badetuch zurück und wollte ihm gerade frisches Wasser in seine Trinkschüssel gießen, das ich extra in einem Kanister m i t g e n o m m e n hatte, als ein M a n n mit abgeschnittenen Jeans und schweren Stiefeln die D ü n e herunterkam. Auf seinem bloßen Oberkörper prangten mehrere Tattoos. Er hielt einen muskulösen, gefährlich aussehenden Pitbull-Terrier an einer schweren Kette. Pitbulls sind bekannt für ihre Aggressivität. In letzter Zeit gab es viele davon in Südflorida. Sie waren die L i e b lingshunde von Gangmitgliedern, Schlägern und anderen harten Burschen. Oft waren sie dazu abgerichtet, angriffslustig zu sein. Die Zeitungen waren voll von M e l d u n g e n über Fälle, wo ein Pitbull ohne G r u n d einen Menschen oder einen anderen H u n d angefallen hatte. Manchmal ging eine solche Auseinandersetzung für das Opfer sogar tödlich aus. Der M a n n musste mir meine Bedenken angesehen haben, denn er rief: »Keine Sorge! Killer tut nichts. Er greift nie an239
dere H u n d e an.« Ich wollte gerade erleichtert aufatmen, als er mit deutlichem Stolz hinzufügte: »Aber Sie sollten mal sehen, wie er ein Wildschwein fertigmacht! Ich sage Ihnen, so eins zerfleischt er in fünfzehn Sekunden!« Marley u n d Killer, der W l d s c h e i n zerfleischende Pitbull, zogen an ihren Leinen, stolzierten umeinander herum und versuchten sich zu beschnüffeln. Marley war noch nie in sein e m Leben in eine Beißerei verwickelt gewesen. Andererseits war er so viel größer als die meisten anderen H u n d e , dass er sich auch nicht einschüchtern ließ. Selbst wenn ein anderer H u n d feindliche Signale aussandte, verstand Marley sie nicht. Er machte n u r einen verspielten Satz nach vorne, das Hinterteil in die H ö h e gereckt, mit wedelndem Schwanz und einem dummen, fröhlichen Grinsen im Gesicht. Doch er war noch nie einem trainierten Killer begegnet, einem Wildschweintöter. Ich sah schon vor mir, wie Killer Marley ohne Vorwarnung an die Kehle sprang und nicht m e h r losließ. Killers Besitzer sah das Ganze völlig locker. »Solange man kein Wildschwein ist, leckt er einen höchstens zu Tode.« Ich erzählte ihm, dass die Polizei gerade da gewesen war und jeden anzeigen würde, der den Leinenzwang nicht beachtete. » D i e greifen jetzt wohl hart durch«, sagte ich. »So ein Quatsch!«, rief er aus und spuckte in den Sand. »Ich k o m m e schon seit Jahren mit meinen H u n d e n hierher. N i e m a n d braucht hier eine Leine! Das ist totaler Bockmist!« U n d damit löste er die schwere Kette vom Halsband des Pitbulls, und Killer galoppierte über den Sand ins Wasser. Marley stellte sich auf die Hinterbeine und sprang auf und ab. Er blickte Killer hinterher, dann sah er mich an. D a n n wieder zu Killer und wieder zu mir. Seine Pfoten tapsten ungeduldig im Sand und er stieß ein leises, lang gezogenes Jaulen aus. Ich wusste, was er mir damit sagen wollte. Ich suchte die D ü n e n mit den Augen ab: keine Polizisten in Sicht. Ich 240
sah Marley an. Bitte! Bitte! Bittebitte! Ich stelle auch nichts an. Versprochen! » N a los, lassen Sie ihn schon laufen!«, forderte mich Killers Herrchen auf. »Ein H u n d ist nicht dafür gemacht, sein Leben am Ende eines Stricks zu verbringen!« »Ach, was soll's!«, sagte ich und löste die Leine. Marley stürzte in Richtung Wasser davon und spritzte uns mit Sand voll, als er davonstob. Er warf sich genau in dem Augenblick ins Wasser, als eine Welle heranrollte, die ihn erst einmal untertauchen ließ. Einen M o m e n t später erschien sein Kopf wieder über der Wasseroberfläche, und sobald er wieder festen Boden unter den Pfoten hatte, warf er sich m i t seinem ganzen Gewicht gegen Killer den Wildschweintöter u n d riss ihn mit um. Sie gerieten zusammen unter eine Welle. Ich hielt den Atem an und fragte mich, ob Marley gerade genau die Grenze überschritten hatte, die Killer in ein m ö r d e risches, labradorschlachtendes M o n s t e r verwandeln würde. Doch als sie wieder auftauchten, wedelten beide mit d e m Schwanz und es sah aus, als grinsten sie. Killer sprang M a r ley auf den Rücken und Marley sprang auf Killers Rücken. Spielerisch schnappten sie nach der Kehle des anderen. Sie jagten sich den Strand hinunter und wieder zurück u n d ließen Wolken aus Sand aufstieben. Sie sprangen sich an, tanzten umeinander herum, rangelten miteinander und tauchten ins Wasser. Ich glaube, ich habe noch nie zuvor so ausgelassene Freude beobachtet, und auch danach nie wieder. Die anderen Hundehalter folgten unserem Beispiel, und bald liefen alle H u n d e , insgesamt ungefähr ein Duzend, frei herum. Die H u n d e kamen glänzend miteinander aus; die Besitzer hielten sich alle an die ungeschriebenen Regeln. So sollte der Hundestrand sein. Das war das wahre Florida, u n berührt und unbewacht, das Florida aus einer vergessenen, einfacheren Zeit, unbehelligt von jedem Fortschritt. 241
Es gab n u r ein kleines Problem. W ä h r e n d der Vormittag voranschritt, trank Marley immer wieder Salzwasser. Ich lief mit seiner Wasserschüssel hinter ihm her, aber er war zu abgelenkt, um zu trinken. Mehrmals führte ich ihn direkt zur Schüssel und steckte seine Nase hinein, aber er prustete das frische Wasser wieder aus, als sei es Essig. Er wollte immer n u r zurück zu seinem neuen Freund Killer und den anderen Hunden. Im flachen Wasser hielt er mitten im Spiel inne, um noch m e h r Salzwasser zu schlabbern. »Lass das, du Dummkopf!«, schrie ich ihm zu. » D i r wird noch ...« Doch noch ehe ich den Satz beenden konnte, war es schon passiert. Er bekam auf einmal einen eigenartigen Ausdruck in den Augen, dann gurgelte ein scheußliches Geräusch aus seinem M a gen hoch. Er machte einen Katzenbuckel und öffnete und schloss mehrmals das Maul, als versuchte er, etwas auszuhusten. Seine Schultern hoben sich und an seinem Bauch waren seltsame wellenartige Bewegungen zu erkennen. Ich beeilte mich, meinen Satz zu beenden: » . . . schlecht.« In dem M o m e n t , als das W o r t meine Lippen verließ, erfüllte Marley meine Prophezeiung und beging die ultimative Hundestrand-Sünde. GAAAAARG! Ich rannte ins Wasser, um ihn herauszuziehen, aber es war zu spät. Alles kam hoch. GAAAAARG! Ich konnte das Fressen von gestern Abend auf der Wasseroberfläche schwimm e n sehen, es sah erstaunlich unverarbeitet aus. Zwischen den Fleischklümpchen waberten unverdaute Maiskörner, die er von den Tellern der Kinder geklaut hatte, der Verschluss einer Milchtüte und der Kopf eines kleinen Plastiksoldaten. Die völlige Entleerung dauerte nicht länger als drei Sekunden, und sobald sein M a g e n leer war, sah er mich glücklich an. Offensichtlich ging es ihm wieder gut. Er schien zu sagen: Jetzt, wo ich das erledigt habe - wer kommt mit zu Body242
surfen? Ich sah mich nervös um, aber niemand schien etwas mitbekommen zu haben. Die anderen Hundebesitzer waren alle weiter unten am Strand mit ihren eigenen H u n d e n beschäftigt, ganz in der N ä h e half eine M u t t e r ihrem Kind dabei, eine Sandburg zu bauen, und ein paar verstreute Sonnenanbeter lagen auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Gott sei Dank!, dachte ich, als ich in Marleys Auswurfzone watete und dabei so lässig wie möglich mit dem Fuß im Wasser herumrührte, um die Uberreste zu verteilen. Das wäre vielleicht eine Blamage gewesen! Ach was, sagte ich mir, auch wenn wir gründlich gegen die erste Regel der H u n d e s t r a n d Verordnung verstoßen hatten, so war doch eigentlich nichts Schlimmes passiert. Es war doch n u r unverdautes Fressen, die Fische würden sich darüber freuen, oder? Ich fischte sogar den Milchtütenverschluss u n d den Plastiksoldaten aus dem Wasser und steckte sie in die Tasche, um keinen Abfall zu hinterlassen. »Jetzt hör mir mal zu!«, mahnte ich Marley streng, fasste seine Schnauze und zwang ihn, mich anzusehen. » H ö r auf, Salzwasser zu trinken! Jeder H u n d weiß doch, dass man das nicht darf!« Ich überlegte, ob ich ihn vom Strand wegziehen und unseren Ausflug beenden sollte, aber es schien i h m jetzt gut zu gehen. Er konnte nicht m e h r viel im M a g e n haben. Es war passiert und wir waren noch einmal unentdeckt davongekommen. Ich ließ ihn los u n d er raste den Strand h i nunter, um zu Killer aufzuschließen. W o r a n ich nicht gedacht hatte, war, dass Marleys M a g e n zwar vollständig entleert war, nicht aber seine Eingeweide. Die Sonne spiegelte sich blendend im Wasser und ich blinzelte, als ich zuschaute, wie Marley mit all den anderen H u n den fröhlich herumsprang. W ä h r e n d ich ihm so zusah, brach er plötzlich unvermittelt sein Spiel ab und begann, sich im seichten Wasser in kleinen Kreisen um sich selbst zu drehen. 243
Ich kannte dieses Kreismanöver nur zu gut. Er vollführte es jeden M o r g e n im Garten, bevor er sein Geschäft erledigte. Es war eine Art Ritual, so als ob nicht jede Stelle gleich gut dazu geeignet wäre, sein großzügiges Geschenk entgegenzun e h m e n . M a n c h m a l dauerte dieses Gekreisel über eine M i nute, während er den perfekten Platz suchte. U n d nun drehte er sich hier im seichten Wasser am Hundestrand im Kreis, in der verbotenen Zone, wo hinzumachen noch kein H u n d vor ihm gewagt hatte. D a n n ging er in Startposition. U n d diesmal hatte er Publikum. Killers H e r r c h e n und mehrere andere Hundebesitzer standen nur wenige M e t e r entfernt. Die M u t t e r mit ihrem Kind hatte sich von der Sandburg abgewendet, um das M e e r zu betrachten. Ein Pärchen kam H a n d in H a n d am Wasser entlangspaziert. » N e i n « , flüsterte ich. »Bitte, lieber Gott, nein!« »Hey!«, schrie jemand. » H o l e n Sie Ihren H u n d da raus!« »Tun Sie doch was!«, rief ein anderer. Als sie die aufgeregten Stimmen hörten, setzten sich auch die Sonnenanbeter auf, um zu sehen, was diese U n ruhe ausgelöst hatte. Ich sprintete los, um bei ihm zu sein, ehe es zu spät war. W e n n ich ihn erreichte und ihn aus seiner Hockstellung reißen konnte, bevor seine Eingeweide in Bewegung kamen, konnte ich uns vielleicht diese schreckliche Erniedrigung ersparen, zumindest so lange, bis ich ihn sicher auf eine D ü n e gezogen hatte. Als ich auf ihn zurannte, hatte ich so etwas wie eine außerkörperliche Erfahrung. W ä h r e n d ich lief, sah ich von oben auf mich hinunter. Die Zeit blieb stehen, und jeder Schritt schien eine Ewigkeit zu dauern. M e i n e Füße trafen mit einem dumpfen Geräusch auf den Sand. M e i n e Arme ruderten durch die Luft und ich verzog das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse. Aus den Augenwinkeln nahm ich meine U m g e b u n g wie in Zeitlupe 244
wahr: eine junge Frau beim Sonnenbaden, die sich mit einer H a n d ein T-Shirt vor die Brust hielt und die andere entsetzt zum M u n d hob, die Mutter, die ihr Kind packte u n d vom Wasser wegzog, die Hundebesitzer mit angeekelten M i e nen, die wütend auf Marley zeigten, Killers H e r r c h e n , der mit angeschwollenen Halsmuskeln etwas schrie. Marley war inzwischen mit dem Kreiseln fertig und bereits in Startposition. Er sah zum H i m m e l auf, als schicke er ein G e b e t nach oben. U n d über allem hörte ich meine eigene Stimme in einem seltsam kehligen, verzerrten, lang gezogenen Schrei: »Neeeeiiiiinü« Ich hatte ihn beinahe erreicht, nur noch wenige Schritte. »Marley, nein!«, schrie ich. »Nein, Marley, nein! Nein, nein, nein, nein!!« Es war zwecklos. In dem M o m e n t , als ich ihn erreichte, barst ein Schwall wässrigen Durchfalls aus ihm heraus. Alle prallten zurück, flohen auf sicheren G r u n d . Herrchen packten ihre H u n d e . Sonnenanbeter ergriffen ihre Handtücher. D a n n war es vorbei. Marley trabte aus dem Wasser in den Sand, schüttelte sich ausgiebig und sah dann fröhlich hechelnd zu mir auf. Ich zog eine Plastiktüte aus der Tasche und hielt sie hilflos hoch. Ich sah sofort, dass es keinen Sinn hatte. Die Wellen spülten herein und verteilten Marleys Hinterlassenschaften im Wasser und am Strand. »Mann«, sagte Killers H e r r c h e n in einem Ton, der mich ahnen ließ, wie sich ein Wildschwein im Augenblick vor Killers letztem, tödlichem Sprung fühlen musste. »Das war nicht cool.« Nein, das war tatsächlich nicht cool. Marley und ich hatten die heiligen Regeln des Hundestrandes verletzt. W i r hatten das Wasser verschmutzt, nicht n u r einmal, sondern zweimal, und allen den Vormittag verdorben. Es war Zeit für einen schnellen Rückzug. »Tut mir leid«, murmelte ich Killers Besitzer zu, als 245
ich Marley anleinte. » E r hat eine M e n g e Salzwasser geschluckt.« Zurück beim Auto warf ich Marley ein Handtuch über und nibbelte ihn energisch trocken. Je m e h r ich nibbelte, umso m e h r schüttelte er sich, und bald war ich voller Sand, Sabber u n d Haare. Ich wollte ihn ausschimpfen. Ich wollte ihn erwürgen. D o c h es war zu spät. Außerdem, wem wäre nicht schlecht geworden, mit literweise Salzwasser im Bauch? W i e so viele seiner Missetaten war auch diese weder bösartig n o c h beabsichtigt gewesen. Er hatte sich nicht ein e m Befehl widersetzt und er hatte mich auch nicht vorsätzlich blamieren wollen. Er musste einfach mal und war dem Ruf der N a t u r gefolgt. Klar, am falschen O r t zur falschen Zeit und vor den falschen Leuten. Ich wusste, dass er ein Opfer seiner beschränkten geistigen Fähigkeiten geworden war. Er war das einzige T i e r am ganzen Strand gewesen, das d u m m genug war, Salzwasser zu trinken. Dieser H u n d war ein Mängelexemplar. W i e konnte ich ihm das zum Vorwurf machen? » D u brauchst gar nicht so selbstzufrieden aussehen«, schimpfte ich, als ich ihn auf den Rücksitz schob. Aber genau das war er. Zufrieden. Er hätte nicht glücklicher sein können, wenn ich ihm eine eigene Karibische Insel gekauft hätte. Er wusste schließlich nicht, dass es das letzte Mal gewesen war, dass er eine Pfote in Salzwasser getaucht hatte. Seine Tage - oder besser gesagt, Stunden - als Strandurlauber waren vorbei. »Tja, Salty D o g « , sagte ich auf der H e i m fahrt zu ihm, »diesmal hast du's geschafft. W e n n H u n d e von n u n an auch am H u n d e s t r a n d verboten sind, dann wissen wir, warum.« Es dauerte zwar noch ein paar Jahre, aber letztlich ist es genau so gekommen.
EINUNDZWANZIG
Nach Norden
K
urz nach Colleens zweitem Geburtstag löste ich u n a b sichtlich eine Folge von Ereignissen aus, die schließlich dazu führten, dass wir aus Florida wegzogen. U n d ich tat es mit einem einzigen Mausklick. Ich war an diesem Tag früher mit meiner Kolumne fertig geworden und hatte noch eine halbe Stunde totzuschlagen, während ich auf meinen Redakteur wartete. Aus einer Laune heraus öffnete ich die W e b site einer Zeitschrift, die ich kurz nach unserem Hauskauf in Palm Beach abonniert hatte. Sie hieß Organic Gardening und war 1942 von dem exzentrischen J. I. Rodale gegründet worden. Später wurde sie zur Bibel der Zurück-zur-Natur-Bewegung, die in den Sechziger- und Siebzigerjahren aufkam.
Rodale war ein N e w Yorker Geschäftsmann gewesen, der sich auf elektrische Schalter spezialisiert hatte. Als seine G e sundheit schlechter wurde, suchte er nicht bei der modernen Schulmedizin Hilfe, sondern zog aus der Stadt auf einen kleinen Hof außerhalb des beschaulichen Ortes E m m a u s in Pennsylvania und begann sich mit Gartenarbeit zu beschäftigen. Er hegte ein tiefes Misstrauen gegen jede Art von Technologie und war der Meinung, dass die modernen M e t h o den, die inzwischen überall im Land in der Landwirtschaft und im Gartenbau angewandt wurden und beinahe alle mit chemischen Pestiziden und D ü n g e r arbeiteten, nicht die Retter der amerikanischen Landwirtschaft waren, wie behaup247
tet wurde. Rodale vertrat die T h e o r i e , dass die Chemikalien allmählich die E r d e und ihre Bewohner vergifteten. Also begann er, mit M e t h o d e n zu arbeiten, die die N a t u r nachahmten. Er stellte große Komposthaufen mit verrottenden Pflanzenresten auf. W e n n sie zu dickem schwarzem H u m u s geworden waren, benutzte er diesen als D ü n g e r und Blumenerde. Er bedeckte seine Gartenbeete mit einer dicken Schicht Stroh, um U n k r a u t abzuwehren und die Feuchtigkeit zu erhalten. Er pflanzte Klee und Alfalfa an und pflügte sie dann unter, um dem Boden Nährstoffe zurückzugeben. Anstatt Insektizide anzuwenden, setzte er tausende von Marienkäfern u n d andere nützliche Insekten aus, die die Schädlinge fraßen. Er war ein Sonderling, aber seine Theorien stellten sich als richtig heraus. Sein Garten blühte auf, und seine Gesundheit auch, und er trompetete seine Erfolge in seiner Zeitschrift in die Welt hinaus. Als ich anfing, Organic Gardening zu lesen, war J. I. Rodale schon lange tot, ebenso sein Sohn Robert, der das Geschäft seines Vaters, Rodale Press, zu einem millionenschweren Verlagshaus ausgebaut hatte. Die Zeitschrift war nicht besonders gut geschrieben oder redigiert. D e r Leser bekam den Eindruck, dass sie von einer G r u p p e begeisterter, aber laienhafter Anhänger von J. I.s Philosophie herausgegeben wurde, professionelle Gärtner ohne journalistische Ausbildung. Später erfuhr ich, dass genau das der Fall war. Dennoch erschienen mir seine Ansichten über organischen Gartenbau immer plausibler, besonders nach Jennys Fehlgeburt und unserem Verdacht, dass sie mit den Insektiziden zusammenhing, die wir verwendet hatten. Als Colleen geboren wurde, war unser G a r t e n bereits eine kleine biologische Oase inmitten eines vorstädtischen Meers aus chemischen D ü n ger- und Pestizidgärten. Oft blieben Passanten stehen und bewunderten die Blütenpracht, um die ich mich mit wach248
sender Begeisterung kümmerte, und sie stellten eigentlich immer dieselbe Frage: »Mit was düngen Sie denn, dass das alles so schön blüht?« W e n n ich dann antwortete: » G a r nicht«, dann sahen sie mich irritiert an, als wären sie gerade Zeugen eines unaussprechlich unkonventionellen Vorgangs im wohlgeordneten, gleichförmigen Boca Raton geworden. An jenem Nachmittag in meinem Büro klickte ich mich durch die Seiten von organicgardening.com u n d fand schließlich ein Link mit dem Titel »Karrierechancen«. Ich klickte es an, keine Ahnung, warum. Ich liebte meine Arbeit als Kolumnenschreiber, den täglichen Kontakt mit den Lesern, die völlige Freiheit der T h e m e n w a h l und des Tones, in dem ich meine Artikel schrieb. Ich liebte das Redaktionsbüro und die quirligen, geistreichen, neurotischen, idealistischen Leute, die es anzog. Ich liebte es, mich am Puls der Zeit zu fühlen. Bestimmt sehnte ich mich nicht danach, die Zeitung für irgendeine verschlafene Verlagsgesellschaft am E n d e der Welt zu verlassen. D e n n o c h scrollte ich durch die J o b a n g e bote bei Rodale, eher aus Neugier, aber plötzlich hielt ich inne. Organic Gardening, das Aushängeschild des Verlages, suchte einen neuen leitenden Redakteur. Mein Herzschlag setzte einen M o m e n t lang aus. Ich hatte oft überlegt, was ein guter Journalist aus dieser Zeitschrift machen könnte. Und nun bot sich mir eine einmalige Chance. Es war verrückt, einfach lächerlich. Eine Karriere als Redakteur von Artikeln über Blumenkohl und Kompost? W a r u m sollte ich das wollen? Am Abend erzählte ich J e n n y von dem Jobangebot u n d erwartete, dass sie mich für übergeschnappt erklärte, auch n u r darüber nachzudenken. Zu meiner Überraschung redete sie mir aber sogar zu, eine Bewerbung hinzuschicken. D i e Vorstellung, das heiße, feuchte Klima, die Verkehrsstaus u n d die hohe Kriminalität von Südflorida hinter sich zu lassen und 249
stattdessen ein einfaches Leben auf dem Land zu führen, gefiel ihr. Sie vermisste die normalen vier Jahreszeiten und die Berge. Sie vermisste fallende Blätter und Narzissen. Sie vermisste Eiszapfen und Apfelcider. Sie wollte, dass unsere Kinder und, so lächerlich das auch klang, unser H u n d das W u n d e r eines Schneesturms erlebten. »Marley ist noch nie einem Schneeball hinterhergerannt«, sagte sie und strich ihm mit ihrem bloßen Fuß über den Rücken. »Tja, das ist natürlich ein schlagendes Argument für einen Jobwechsel«, erwiderte ich. »Tu's doch einfach, um deine Neugier zu befriedigen«, meinte sie. »Wart einfach ab, was passiert. W e n n sie dir ein Angebot machen, kannst du es ja immer noch ablehnen.« Ich musste zugeben, dass ich mir insgeheim auch wünschte, wieder weiter in den N o r d e n zu ziehen. So sehr ich unsere zwölf Jahre in Florida genossen hatte, so war ich doch ein Nordlicht, das drei Dinge einfach nicht vergessen konnte: Berge, wechselnde Jahreszeiten und weites Land. Auch wenn ich Florida mit seinen milden Wintern, dem scharfen Essen und der eigenartigen Mischung von Menschen inzwischen lieben gelernt hatte, so hatte ich doch nie aufgehört, davon zu träumen, eines Tages in mein eigenes, privates Paradies zu flüchten - das sicher nicht ein briefmarkengroßes Grundstück im H e r z e n des überkandidelten Boca Raton war, sondern ein richtiges Stück G r u n d und Boden, wo ich in der E r d e herumgraben, mein eigenes Feuerholz schlagen und mit meinem H u n d durch die Wälder streifen konnte. Ich schickte eine Bewerbung ab, in der Überzeugung, dass nichts daraus werden würde. Zwei Wochen später klingelte das Telefon. Es war J. I. Rodales Enkelin, Maria Rodale. Ich hatte meinen Brief mit »Sehr geehrte Damen und H e r r e n « überschrieben und war so überrascht, dass sich die Geschäftsführerin des Verlages bei mir meldete, dass ich sie 250
gleich noch einmal nach ihrem N a m e n fragte. Maria lag die Zeitschrift, die von ihrem Großvater gegründet worden war, am Herzen, und sie war fest entschlossen, wieder an den damaligen Erfolg anzuknüpfen. Sie war überzeugt, dass sie dazu einen professionellen Journalisten brauchte und nicht einen weiteren Biogärtner; und sie wollte weiterreichende und wichtigere T h e m e n wie Umweltprobleme, Genforschung, Massentierhaltung und das aufkeimende Interesse an biologischer Landwirtschaft aufgreifen. Als ich zum Vorstellungsgespräch fuhr, war ich fest entschlossen, den harten M a n n zu spielen und mich zu zieren, aber schon als ich aus dem Flughafen kam und die erste kurvige Landstraße sah, war es um mich geschehen. U n d hinter jeder Ecke bot sich ein idyllischeres Bild: hier ein Farmhaus aus Stein, dort eine überdachte Brücke. Eisige Bäche gurgelten die Felsen hinunter, und gepflügtes Ackerland erstreckte sich wie ein goldener Teppich bis zum Horizont. N o c h dazu war Frühling, und jeder einzelne Baum im Lehigh Valley stand in voller, herrlicher Blüte. An einem einsamen Straßenschild hielt ich an und stieg aus meinem Mietwagen. So weit das Auge reichte, sah ich n u r Wälder und Wiesen. Kein Auto, keine Menschen, kein Gebäude. Vom ersten M ü n z t e lefon aus, das ich fand, rief ich J e n n y an: »Es ist einfach u n glaublich hier.« Zwei Monate später hatten die Möbelpacker unser gesamtes H a b und G u t aus dem Haus in Boca in einen gigantischen Lastwagen verladen. Ein Autolaster kam, um unser Auto u n d den Minivan abzuholen. W i r übergaben den neuen H a u s b e sitzern die Schlüssel und verbrachten unsere letzte N a c h t in Florida auf dem Fußboden bei einem N a c h b a r n . Marley lag ausgestreckt in der Mitte. » W i r zelten drinnen!«, schrie Patrick. 251
Am nächsten M o r g e n stand ich früh auf und ging mit Marley auf seinen letzten Spaziergang in Florida. Er schnüffelte, zerrte an der Leine und tänzelte, als wir um den Block gingen, und blieb an jedem Busch und an jedem Briefkasten stehen, um das Bein zu heben. Er war so wunderbar ahnungslos, was für eine gewaltige Umstellung vor ihm lag. Ich hatte ihm einen stabilen Reisekäfig aus Plastik für den Flug gekauft, und auf Anraten von Dr. Jay gab ich ihm eine doppelte Dosis Beruhigungsmittel, als wir von unserem Spaziergang zurückkamen. Als uns unser N a c h b a r zum Palm-Beach-International-Flughafen fuhr, hatte Marley blutunterlaufene Augen und war außergewöhnlich ruhig. W i r hätten ihn an eine Rakete binden können, und es hätte ihm nichts ausgemacht. In der Wartehalle gaben die Grogans ein tolles Bild ab: zwei kleine J u n g e n außer Rand und Band, die wild im Kreis herumrannten, ein hungriges Baby im Kinderwagen, zwei völlig entnervte Eltern und ein total zugedröhnter H u n d . Um das Bild abzurunden, hatten wir auch alle unsere anderen T i e r e mit: zwei Frösche, drei Goldfische, einen Einsiedlerkrebs, eine Schnecke namens Sluggy und eine Schachtel mit lebendigen Grillen, um die Frösche zu füttern. Als wir uns am Check-in anstellten, baute ich den Plastikreisekäfig zusammen. Es war der größte, den ich hatte finden können, doch als wir an der Reihe waren, warf die uniformierte D a m e einen Blick auf Marley, sah dann den Käfig an, dann wieder Marley und sagte: » W i r können diesen H u n d nicht in diesem Container mitnehmen. Er ist zu groß dafür.« »In der Tierhandlung haben sie gesagt, das wäre das M o dell für große H u n d e « , versuchte ich es. »Unsere Vorschriften besagen, dass das T i e r ohne P r o b leme stehen und sich umdrehen können muss«, erklärte sie und fügte dann skeptisch hinzu: »Also los, versuchen Sie es.« 252
Ich öffnete die T ü r und rief nach Marley, doch er war nicht bereit, freiwillig in dieses Gefängnis zu steigen. Ich schob und schubste, lockte und redete ihm gut zu, aber er rührte sich nicht von der Stelle. Wo waren n u r die H u n d e kuchen, wenn man sie brauchte? Ich durchsuchte meine Taschen nach etwas, womit ich ihn locken konnte, und fand schließlich eine Dose mit Hustenbonbons. Etwas Besseres hatte ich nicht. Ich nahm eines heraus u n d hielt es ihm vor die Nase. »Marley, möchtest du ein Bonbon? K o m m , hol's dir!« Damit warf ich es in den Käfig. Natürlich fiel er darauf herein und schlappte fröhlich hinterher. Die Dame hatte Recht, er passte nicht richtig hinein. Er musste den Kopf einziehen, um nicht oben anzustoßen; und selbst wenn er mit der Nase schon an die Rückwand stieß, ragte sein Hinterteil immer noch zur offenen Käfigtür heraus. Ich drückte seinen Schwanz hinunter u n d half ein bisschen nach, dann schloss ich die Tür. » N a , was hab ich gesagt?«, fragte ich triumphierend und hoffte, dass die Schalterbeamtin nun einverstanden wäre. » E r muss sich u m drehen können«, wiederholte sie. » D r e h dich um, Junge«, bat ich ihn und stieß einen kleinen Pfiff aus. » K o m m schon, dreh dich um.« Er sah mich über seine Schulter hinweg mit einem abwesenden Blick an, als warte er auf Anweisungen, wie er das fertigbringen sollte. M i t dem Kopf stieß er an die Käfigdecke an. W e n n er sich nicht umdrehte, würde die Fluggesellschaft ihn nicht mitnehmen. Ich sah auf meine Uhr. U n s blieben noch zwölf Minuten, um durch den Sicherheitscheck zu kommen, zum Gate zu laufen und in unser Flugzeug zu steigen. »Marley, k o m m her!«, sagte ich, leichte Verzweiflung in der Stimme. » K o m m schon!« Ich schnippte mit den Fingern, rüttelte an der Gittertür, machte schmatzende G e r ä u sche. » K o m m schon!«, flehte ich. » D r e h dich schon um!« 253
Ich wollte gerade vor ihm auf die Knie fallen, als ich ein Krachen und unmittelbar danach Patricks Stimme hörte: »Uuups!« »Die Frösche sind los!«, rief Jenny und stürzte davon. »Froggy! Croaky! K o m m t zurück!«, schrien die Jungen einstimmig. M e i n e Frau kroch nun auf allen vieren herum und turnte durch die Halle, während die Frösche ihr immer einen Sprung voraus waren. Die Leute blieben stehen und glotzten sie an. Von weitem konnte m a n die Frösche nicht sehen, n u r diese verrückte Frau mit der Wickeltasche um den Hals, die offensichtlich schon am M o r g e n zu tief ins Glas geschaut hatte. So wie sie J e n n y anstarrten, schienen sie jeden M o m e n t zu erwarten, dass sie anfing, loszujaulen. »Entschuldigen Sie mich bitte einen M o m e n t « , sagte ich so ruhig ich konnte zu der Schalterbeamtin und schloss mich J e n n y auf allen vieren an. N a c h d e m wir unseren Beitrag zur U n t e r h a l t u n g der frühen Fluggäste geleistet hatten, fingen wir Froggy und Croaky schließlich doch noch ein, kurz bevor sie durch die automatischen Glastüren in die endgültige Freiheit e n t k o m m e n konnten. Als wir zurückkamen, hörte ich ein eigenartiges Tohuwabohu aus dem Hundekäfig. D e r ganze Kasten wackelte und schlingerte, und als ich genauer hineinschaute, sah ich, dass Marley es irgendwie geschafft hatte, sich umzudrehen. »Sehen Sie?«, sagte ich zu der Schalterbeamtin. » E r kann sich umdrehen. Kein Problem.« »Okay«, sagte sie schließlich. »Wenn Sie darauf bestehen . . . « Zwei Flughafenmitarbeiter hoben den Käfig mit Marley auf einen Rollwagen und fuhren mit ihm davon. W i r anderen hetzten zu unserem Flugzeug und kamen gerade in dem M o m e n t an das Gate, als die Beamten die Schranke schließen wollten. M i r wurde klar, dass Marley allein in 254
Pennsylvania ankommen würde, wenn wir unser Flugzeug verpassten, eine grauenhafte Szenerie, an die ich nicht einmal denken wollte. »Warten Sie! W i r sind hier!«, schrie ich und schubste Colleens Kinderwagen vor mir her; J e n n y und die Jungen kamen hinter mir hergerannt. Als wir uns auf unseren Plätzen niederließen, erlaubte ich mir endlich, Luft zu holen. W i r hatten Marley eingeschifft. W i r hatten die Frösche eingefangen. W i r hatten das Flugzeug erreicht. Nächster Stopp Allentown, Pennsylvania. Jetzt konnte ich mich entspannen. Ich schaute aus dem Fenster und sah zu, wie ein kleiner Kran den Hundekäfig h o c h hob. »Schaut«, sagte ich zu den Kindern. » D a ist Marley!« Sie winkten und riefen: »Hallo, Mallie!« Als die M o t o r e n angelassen wurden und die Stewardess die Sicherheitsanweisungen erklärte, zog ich eine Zeitschrift hervor. Da sah ich, wie J e n n y im Sitz vor mir erstarrte. U n d dann hörte ich es auch. Aus den Tiefen des Flugzeugs, unter unseren Füßen, kam ein Geräusch. Gedämpft, aber unverkennbar. Es war ein herzerweichend trauervolles Geräusch, eine Art Rufen, das leise anfing und dann anschwoll. 0 mein Gott, er heult da unten. N u r fürs Protokoll: Labradors heulen nicht. Beagles heulen. Wölfe heulen. Aber Labradors heulen nicht, zumindest nicht besonders gut. Marley hatte es bisher zweimal versucht, beide Male als Antwort auf eine Polizeisirene. Er hatte den Kopf zurückgeworfen, sein M a u l zu einem 0 verformt und dann den erbärmlichsten Ton von sich gegeben, den ich je gehört hatte. Es war eher ein Gurgeln als ein Ruf der Wildnis. Aber jetzt heulte er, kein Zweifel. Die anderen Fluggäste begannen von ihren Zeitungen und Büchern aufzusehen. Eine Stewardess, die gerade Kopfkissen verteilte, hielt inne und horchte. Eine D a m e auf der anderen Seite des Ganges sah ihren M a n n an u n d sagte: » H ö r mal! H ö r s t du das? Ich glaube, das ist ein H u n d ! « J e n 255
ny starrte geradeaus. Ich starrte auf meine Zeitschrift. W e n n uns irgendjemand fragte, würden wir einfach abstreiten, dass der H u n d uns gehörte. »Mallie ist traurig!«, sagte Patrick. Nein, mein Sohn, wollte ich ihn korrigieren, irgendein fremder Hund, den wir noch nie gesehen haben und den wir nicht kennen, ist traurig. Aber ich hielt die Zeitschrift nur noch höher vor mein Gesicht und befolgte den Rat des unsterblichen Richard Milhous Nixon: glaubhaft leugnen. Die Düsenmotoren heulten, das Flugzeug rollte die Startbahn hinunter und übertönte Marleys Trauergesang. Ich stellte mir vor, wie er da u n t e n im Dunkeln saß, allein, ängsdich, verwirrt und zugedröhnt, und sich nicht einmal aufrecht hinstellen konnte. Ich stellte mir vor, wie die M o t o r e n dort unten für Marleys O h r e n klingen mussten, wahrscheinlich wie ein schreckliches Gewitter mit Blitz u n d Donner. D e r Arme. Ich wollte zwar nicht zugeben, dass er mir gehörte, aber ich wusste, dass ich mir den ganzen Flug über Sorgen um ihn machen würde. Das Flugzeug hatte gerade abgehoben, als ich wieder ein leises Krachen hörte. Diesmal war es Conor, der »Uuups!« sagte. Ich schaute hinunter und starrte dann wieder angestrengt in meine Zeitschrift. Glaubhaft leugnen. N a c h ein paar Sekunden sah ich mich verstohlen um. Als ich sicher war, dass mich niemand beobachtete, lehnte ich mich vor und flüsterte J e n n y ins Ohr: » D r e h dich nicht um, aber die Grillen sind los.«
ZWEIUNDZWANZIG
Weiße Weihnachten
V V das auf halber H ö h e an einem steilen H ü g e l gelegen war. Vielleicht war es auch ein kleiner Berg; die Anwohner schienen sich in diesem Punkt nicht ganz einig zu sein. Zu unserem Besitz gehörte auch eine Wiese, wo wilde H i m b e e ren wuchsen, ein Wald, wo ich nach Herzenslust H o l z schlagen konnte, und ein kleiner Bach mit Quelle, wo Marley und die Jungen bald begeistert im Schlamm spielten. W i r hatten einen Kamin und einen endlos großen Garten, und auf dem nächsten Hügel stand eine kleine weiße Kirche, die man im Herbst, wenn die Blätter von den Bäumen fielen, von unserem Küchenfenster aus sehen konnte. Es war wie im Film, einschließlich unseres neuen N a c h barn, einem rotbärtigen Bären von einem M a n n , der in einem zweihundert Jahre alten Farmhaus aus Stein wohnte und sonntags gerne auf der Terrasse hinter seinem H a u s saß und einfach so zum Spaß mit seinem G e w e h r in den Wald schoss, sehr zu Marleys Entsetzen. An unserem ersten Tag im neuen H e i m kam er mit einer Flasche selbst gemachtem Wildkirschlikör und einem K o r b mit den größten Blaubeeren, die ich je gesehen habe, vorbei. Er stellte sich als »Digger« vor. W i e wir aus diesem Spitznamen schlossen, verdient er seinen Lebensunterhalt als Baggerführer. W e n n wir also irgendein Loch zu graben hätten oder E r d e 257
transportiert werden müsste, dann sollten wir ihn nur rufen und er käme mit einer seiner großen Maschinen herüber. » U n d wenn Ihnen ein Reh vors Auto läuft, dann sagen Sie einfach Bescheid«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Wir zerlegen es und teilen das Fleisch auf, bevor die Polizei was merkt.« Kein Zweifel, wir waren nicht mehr in Boca. Auf unserem Grundstück gab es Stinktiere, Opossums, Waldmurmeltiere u n d wilden Efeu, der am Rande unseres Wäldchens wuchs und dort die Bäume hinaufkletterte. Allein dieser Anblick jagte mir schon einen wohligen Schauer über den Rücken. Als ich eines Morgens mit der Kaffeemaschine kämpfte und aus dem Küchenfenster sah, starrte ein prachtvoller Hirsch, ein Achtender, zurück. Ein andermal watschelte eine wilde Truthahnfamilie durch unseren Garten. Als Marley und ich eines Samstags durch den Wald den H ü g e l hinunterwanderten, trafen wir auf einen Trapper, der gerade eine Nerzfalle aufstellte. Ein Nerzjäger! Gleich hinter meinem Garten! Was hätten die Bocahontas für diesen Kontakt gegeben! Das Landleben war friedlich und schön - und gleichzeitig ein wenig einsam. Die Einwohner von Pennsylvania waren höflich, F r e m d e n gegenüber aber zurückhaltend. U n d wir waren Fremde. N a c h den Menschenmassen und Autoschlangen in Florida hätte ich mich über diese Einsamkeit freuen sollen. Stattdessen grübelte ich zumindest in den ersten M o n a t e n darüber nach, ob es richtig gewesen war, in eine Gegend zu ziehen, wo offensichtlich sonst niemand leben wollte. Marley dagegen hatte keine solchen Bedenken. Bis auf die Schüsse aus Diggers Gewehr passte ihm das Landleben ausgezeichnet. Was wollte ein H u n d , der m e h r Energie als Verstand hatte, mehr? Er raste über die Wiese, brach durch die Brombeersträucher und plantschte durch den Bach. Seine neue Lebensaufgabe war es, eines der 258
zahllosen Kaninchen zu fangen, die meinen G a r t e n als ihre persönliche Salatbar ansahen. W e n n er ein Kaninchen sah, das mein Gemüse mummelte, preschte er laut bellend mit fliegenden O h r e n und trommelnden Pfoten den H ü g e l hinunter. Er schlich sich dabei ungefähr so unauffällig an wie eine Blaskapelle und kam nie näher als fünf M e t e r an seine Beute heran, die blitzschnell in den Wald flüchtete. Passend zu seiner Gebrauchsanweisung blieb Marley jedoch weiterhin optimistisch, dass der Erfolg nicht weit war. Er kam zurück, schwanzwedelnd und nicht im Mindesten entmutigt, und fünf Minuten später startete er den nächsten Versuch. Glücklicherweise war er bei der Jagd auf Stinktiere genauso erfolglos. D e r Herbst kam und mit ihm ein ganz neues Spiel: Angriff auf den Blätterhaufen! In Florida warfen die Bäume ihre Blätter im Herbst nicht ab, u n d Marley war der Überzeugung, dass diese Dinger, die n u n durch die Luft segelten, alle n u r ihm zugedacht waren. W e n n ich die orangefarbenen und gelben Blätter zu Haufen zusammenharkte, saß Marley geduldig daneben und wartete den richtigen Zeitpunkt ab, um zuzuschlagen. Erst wenn ich einen beeindruckenden L a u b haufen aufgetürmt hatte, schlich er sich geduckt an. Alle paar Schritte verharrte er, eine Vorderpfote in der Luft, u n d nahm W i t t e r u n g auf, wie ein Löwe in der Serengeti, der sich an eine ahnungslose Gazelle heranschleicht. Dann, wenn ich mich gerade befriedigt auf meinen Rechen stützte u n d mein Werk betrachten wollte, sprang er los und jagte mit großen Sätzen über die Wiese, h o b wenige M e t e r vor seinem Ziel ab und landete mit einem gigantischen Bauchklatscher mitten im Laubhaufen, wo er sich knurrend herumwälzte, um sich schnappte und aus mir unerklärlichen G r ü n d e n wild seinem Schwanz hinterherjagte, so lange, bis mein schöner Laubhaufen wieder über die Wiese verteilt war. D a n n setzte 259
er sich hin u n d bewunderte seinerseits sein Werk. Blätterreste hingen in seinem Fell, und er sah mich selbstzufrieden an, als hätte er gerade Großes geleistet. U n s e r erstes Weihnachten in Pennsylvania sollte natürlich weiß sein. Es war nicht einfach gewesen, Patrick und C o n o r zu überzeugen, dass es sich lohnte, ihr Zuhause und ihre Freunde in Florida zu verlassen. Eines der schlagendsten Argumente war der Schnee gewesen. N i c h t irgendein Schnee, sondern tiefer, fluffiger Pulverschnee, wie man ihn von Postkarten kennt. Schnee, der in dicken, weichen Flocken vom H i m m e l fällt, sich in Haufen auftürmt und genau die richtige Konsistenz zum Schneemannbauen hat. U n d Schnee am Weihnachtstag, nun, das war das Allerbeste, der heilige Gral der nordischen W n t e r e r f a h r u n g . W i r malten bewusst eine übertrieben romantische Szenerie, wie sie am Weihnachtsmorgen aufwachen und vor dem Fenster eine glänzend weiße Schneelandschaft vorfinden würden, völlig unberührt, abgesehen von den Schlittenspuren, die Santa Claus in der N a c h t hinterlassen hatte. In der W o c h e vor dem großen Tag saßen die drei stundenlang zusammen vor dem Fenster. Ihre Augen hingen an d e m trüben H i m m e l , als könnten sie ihn so dazu bewegen, sich zu öffnen und seine Schätze freizugeben. » K o m m doch, Schnee!«, sangen die Kinder. Sie kannten Schnee nicht, und auch J e n n y u n d ich hatten seit Jahren keinen mehr gesehen. W i r wünschten uns nichts sehnlicher als Schnee, aber die Wolken wollten keinen hergeben. Einige Tage vor Weihnachten drängte sich die ganze Familie im Minivan zusamm e n u n d fuhr zu einem H o f zwei Kilometer entfernt, wo wir eine Fichte schnitten und heißen Apfelcider am Lagerfeuer tranken. Es war ein M o m e n t , wie er für Ferien hier im N o r den typisch war und wie wir ihn in Florida immer vermisst 260
hatten. Aber etwas fehlte. Wo war der verdammte Schnee? Jenny und ich begannen allmählich zu bereuen, wie übertrieben wir vom ersten Schnee geschwärmt hatten, der ganz sicher kommen würde. Als wir mit dem frisch geschnittenen Baum nach Hause fuhren und der süße Fichtenduft durchs Auto strömte, beschwerten sich die Kinder, dass wir sie angelogen hätten. Am Weihnachtsmorgen lag ein brandneuer Schlitten unter dem Weihnachtsbaum, und genug Schneeausrüstung, um eine Exkursion in die Antarktis zu u n t e r n e h m e n , aber vor unserem Fenster waren nur nackte Aste, gelbe Wiesen und braune Maisfelder zu sehen. Ich machte ein gemütliches Feuer im Kamin und sagte den Kindern, dass sie G e duld haben müssten. D e r Schnee ließe sich nicht herbeizwingen. An Silvester war immer noch kein Schnee gefallen. Sogar Marley wirkte nervös. Er schlich herum, starrte aus dem Fenster und winselte leise, als ob er sich auch irgendwie betrogen fühlte. N a c h den Ferien gingen die Kinder wieder zur Schule, und noch immer lag kein Schnee. Am Frühstückstisch starrten sie mich mürrisch an, ihren Vater, der sie betrogen hatte. Ich versuchte es mit lahmen Ausreden wie: »Vielleicht brauchen die kleinen Jungs und M ä d c h e n irgendwo anders auf der Welt den Schnee dringender als wir.« »Ja, klar, Dad«, sagte Patrick. Drei Wochen nach Neujahr rettete mich der Schnee schließlich aus meinem Fegefeuer der Schuldgefühle. Er fiel über Nacht, als alle schliefen, und Patrick schlug als Erster Alarm. Er kam in der M o r g e n d ä m m e r u n g in unser Schlafzimmer gerast und riss die Jalousien hoch. »Seht mal! Er ist da!«, quietschte er. Jenny und ich setzten uns im Bett auf, um unsere Rechtfertigung zu betrachten. Eine weiße Decke lag über den Hügeln, Feldern, Bäumen u n d Hausdächern, 261
so weit das Auge reichte. »Klar ist er da«, antwortete ich lässig. »Was hab ich dir gesagt?« D e r Schnee lag schon fast knietief, und es schneite immer noch. W e n i g später kamen auch C o n o r und Colleen Daum e n lutschend und mit ihren Decken im Schlepptau den G a n g entlanggetapst. Marley war jetzt auch auf und streckte sich. Sein Schwanz schlug überall an, als er die allgemeine Aufregung spürte. Ich wandte mich an J e n n y und sagte: »Ich glaube, das war's mit Schlafen«, und als sie mir zustimmte, wandte ich mich wieder an die Kinder und rief: »Okay, ihr Schneehasen, dann werft euch mal in Schale!« Die nächste halbe Stunde kämpften wir mit Reißverschlüssen, langen Unterhosen, Gürtelschnallen, Kapuzen u n d Handschuhen. Als wir endlich fertig waren, sahen unsere Kinder aus wie M u m i e n und unsere Küche wie der Bereitstellungsraum der Olympischen Winterspiele. U n d ein Mitbewerber beim Schneeclown-Abfahrtslauf in der Klasse der Labrador-Schwergewichte war natürlich ... Marley. Ich öffnete die Haustür, u n d noch ehe irgendwer hinaustreten konnte, schoss Marley an uns vorbei und riss dabei die gut verpackte Colleen u m . In dem M o m e n t , als seine Pfoten das seltsame weiße Z e u g berührten - Ah, kalt! Ah, nass! -, überlegte er es sich anders und versuchte eine abrupte Kehrtwende. W i e jeder weiß, der schon mal bei Schnee Auto gefahren ist, ist plötzliches Bremsen kombiniert mit engen Kehrtwenden keine gute Idee. Marley kam ins Rutschen und sein Hinterteil scherte aus. Er landete auf der Seite, rappelte sich aber gleich wieder auf, gerade noch rechtzeitig, um einen Purzelbaum die Verandatreppe hinunter zu machen und kopfüber in einem Schneehaufen zu landen. Als er einen M o m e n t später wieder auftauchte, sah er aus wie ein riesiger gezuckerter D o nut. Außer der schwarzen Schnauze und den braunen Augen 262
war er vollkommen weiß gepudert. D e r entsetzliche Schneehund. Marley wusste nicht, was er mit diesem fremden Z e u g anfangen sollte. Er stieß mit seiner Schnauze hinein und musste dann gewaltig niesen. Er schnappte danach und rieb sein Gesicht darin. D a n n , als hätte sich eine riesige H a n d vom H i m m e l herabgesenkt und ihm eine Uberdosis Adrenalin verpasst, trat er das Gaspedal voll durch und raste in gewaltigen Sprüngen um den G a r t e n herum; alle paar M e t e r überschlug er sich oder tauchte mit der Nase voran in den Schnee. Schnee machte fast so viel Spaß wie der Angriff auf die nachbarliche Mülltonne. Wenn man Marleys Spuren im Schnee verfolgte, k o n n te man ansatzweise nachvollziehen, wie sein verdrehtes Gehirn arbeitete. Er vollführte spontane D r e h u n g e n und Wendungen, wirre Sprünge und Achter, doppelte Rittberger und dreifache Lutzsprünge. Es war, als folgte er einem bizarren Algorithmus, den nur er verstehen konnte. Die Kinder folgten seinem Beispiel und kugelten wild im Schnee herum, und bald war jede Falte ihrer Anoraks und H o s e n voll Schnee. Jenny brachte Buttertoast und heißen Kakao nach draußen und verkündete, dass heute die Schule ausfiel. Ich wusste, dass ich meinen kleinen Nissan mit Zweiradantrieb bei diesen Verhältnissen niemals die Auffahrt hinaufbugsieren konnte, geschweige denn die hügeligen Bergstraßen schaffen würde, und erklärte diesen Tag auch für mich offiziell als schneefrei. Im Herbst hatte ich aus Steinen eine kleine Feuerstelle hinten im Garten gebaut. Jetzt fegte ich den Schnee dort weg und machte ein kleines, prasselndes Feuer. Die Kinder rutschten johlend mit dem Schlitten den H ü g e l hinunter, am Lagerfeuer vorbei bis zum Waldrand. Marley jagte ihnen hinterher. Ich sah zu Jenny hinüber und fragte sie: » W e n n dir vor einem Jahr jemand gesagt hätte, dass deine Kinder 263
gleich vor der Haustür Schlitten fahren würden, hättest du ihm geglaubt?« »Niemals«, antwortete sie. D a n n bückte sie sich, formte einen Schneeball und warf ihn mir gegen die Brust. Sie hatte Schnee im Haar, gerötete Wangen und ihr Atem bildete eine kleine Wolke. » K o m m her und küss mich«, sagte ich. Später, als sich die Kinder am Lagerfeuer aufwärmten, versuchte ich es mit einer Schlittenpartie. Ich war seit meiner J u g e n d nicht m e h r Schlitten gefahren. »Willst du mitfahren?«, fragte ich Jenny. »Tut mir leid, Sportsfreund, du musst allein fahren«, sagte sie. Ich zog den Schlitten den H ü g e l hinauf und legte mich darauf, stützte mich mit den Ellbogen ab und stellte meine Füße auf die Kufen. D a n n bewegte ich mich vor und zurück, um Schwung zu holen. Marley hatte nicht oft die G e legenheit, auf mich herunterzuschauen. D e r Augenblick war günstig. Er schlich zu mir herauf und schnoberte über mein Gesicht. »Was willst du?«, fragte ich ihn, und das war für ihn Aufforderung genug. Er kletterte zu mir auf den Schlitten, grätschte über mich und ließ sich auf meinen Brustkorb fallen. » G e h r u n t e r von mir, du Höllenhund!«, schrie ich. D o c h es war bereits zu spät. D e r Schlitten rutschte schon vorwärts, und wir wurden immer schneller. »Bon voyage!«, schrie J e n n y uns nach. U n d los ging es, der Schnee stob hoch, Marley lag auf mir wie ein Mehlsack u n d schleckte mir begeistert übers G e sicht, als wir den H a n g hinunterschlitterten. M i t unserem doppelten Gewicht bekamen wir deudich mehr Schwung als die Kinder, und wir rasten über die Stelle hinaus, an der ihre Spuren endeten. »Festhalten, Marley!«, schrie ich. »Es geht in den Wald!« W i r schössen an einem großen Walnussbaum vorbei, dann 264
zwischen zwei wilden Kirschbäumen hindurch u n d entgingen wie durch ein W u n d e r allen Hindernissen, während wir durchs Unterholz brachen. Brombeerranken zerrten an uns, und plötzlich fiel mir ein, dass direkt vor uns die Böschung des Baches lag, der noch nicht zugefroren war. Ich versuchte mit den Füßen zu bremsen, aber sie hingen zwischen den Kufen fest. Die Böschung war steil, beinahe senkrecht, u n d wir schössen genau darauf zu. Ich hatte n u r noch Zeit, die Arme um Marley zu schlingen, die Augen zuzukneifen und »Whoooaaa!« zu schreien. Unser Schlitten schoss über den Rand hinaus und stürzte unter uns weg. Ich fühlte mich wie eine Comicfigur in jenem klassischen M o m e n t , wenn sie einen Augenblick in der Luft stehen bleibt, um im nächsten katastrophal abzustürzen. N u r dass ich in diesem C o m i c an einen wie verrückt sabbernden Labrador festgeschweißt war. W i r klammerten uns aneinander, als wir mit einem sanften »Puff« am Ufer des Baches in einer Schneewehe landeten und, immer n o c h halb auf dem Schlitten hängend, bis an den Rand des W a s sers rutschten. Ich öffnete die Augen und versuchte meinen Zustand einzuschätzen. Ich konnte Finger und Z e h e n bewegen u n d den Kopf drehen, nichts war gebrochen. Marley war aufgestanden und lief um mich herum, als würde er das Ganze am liebsten gleich noch einmal machen. Stöhnend erhob ich mich und wischte mir den Schnee ab. »Ich bin zu alt für so was«, sagte ich zu Marley. In den folgenden M o n a t e n sollte immer klarer werden, dass das auch für ihn galt. Irgendwann gegen E n d e unseres ersten W i n t e r s in P e n n sylvania merkte ich, dass Marley langsam auf die Rente zuging. Er war in diesem Dezember n e u n geworden, u n d ganz allmählich wurde er ein wenig ruhiger. Zwar hatte er noch 265
immer zuweilen ungezügelte Adrenalinausbrüche, wie am Tag des ersten Schnees, doch sie waren kürzer und seltener geworden. Tagsüber döste er am liebsten vor sich hin, und auf unseren Spaziergängen wurde er vor mir müde. Das war in unserer ganzen Beziehung noch niemals der Fall gewesen. Eines Tages, die Temperatur war über den Gefrierpunkt gestiegen und Frühlingstauwetter lag in der Luft, wanderte ich mit ihm unseren H ü g e l hinunter und den nächsten wieder hinauf. Dieser zweite H ü g e l war noch etwas steiler als unserer. O b e n stand die weiße Kirche, daneben lag ein alter Friedhof mit den Gräbern von Bürgerkriegsveteranen. Ich ging hier oft entlang, und auch Marley hatte diese Strecke noch im letzten H e r b s t problemlos geschafft, trotz des steilen Anstiegs, bei dem wir beide außer Atem geraten waren. Diesmal jedoch blieb er zurück. Ich lockte ihn den ganzen W e g entlang, rief ihm aufmunternde W o r t e zu, aber er glich einem Spielzeug, dessen Batterie langsam zu Ende ging. Marley schaffte es einfach nicht bis auf den Hügel hinauf. Ich machte eine Pause, um ihn ausruhen zu lassen; etwas, das vorher nie notwendig gewesen war. » D u machst mir doch jetzt nicht schlapp, oder?«, fragte ich ihn und strich ihm mit meinem H a n d s c h u h über den Kopf. Er sah zu mir auf; seine Augen leuchteten und seine Nase war feucht. Er schien sich überhaupt keine Sorgen wegen seiner schlechten Kondition zu machen. Er sah zufrieden, aber erschöpft aus, als ob es im Leben nichts Schöneres gäbe, als an einem kalten W i n t e r t a g mit seinem H e r r c h e n an einer Landstraße zu sitzen. » W e n n du denkst, dass ich dich jetzt trage - vergiss es!«, sagte ich zu ihm. Die Sonne schien ihm auf den Pelz, und mir fiel auf, wie grau sein hellbraunes Gesicht geworden war. Wegen seines hellen Fells fiel es nicht auf, war aber nicht zu leugnen. Seine ganze Schnauze und zum Teil auch seine Brauen wa266
ren nicht mehr sandfarben, sondern weiß. O h n e dass wir es gemerkt hatten, war aus unserem ewigen Welpen ein alter H e r r geworden. Das hieß nicht, dass er sich besser benahm als früher. M a r ley hatte noch immer alle seine Marotten, er war n u r ein bisschen langsamer. Er stahl den Kindern n o c h immer das Essen vom Teller. Er klappte immer noch mit der Nase den Deckel des Abfalleimers in der Küche hoch u n d stöberte darin herum. Er zog immer noch an der Leine. Verschluckte noch immer verschiedenste Gegenstände aus unserem H a u s halt. Er trank weiterhin aus der Badewanne und schlabberte herum. U n d wenn sich der H i m m e l verdunkelte und D o n ner grollte, bekam er immer noch Panik und drehte durch, wenn er allein war. Einmal fanden wir Marley inmitten eines Berges aus Schaumgummi vor, und Conors Matratze war bis auf die Federn auseinandergenommen worden. M i t den Jahren hatten wir gelernt, gelassen mit den Zerstörungen umzugehen. Solche Vorfälle waren auch viel seltener geworden, seit wir aus Florida mit seinen regelmäßigen Unwettern weggezogen waren. Im Leben eines H u n d e s musste eben so manche W a n d dran glauben, so manches Kissen Federn lassen und so mancher Teppich zerfasern. W i e jede Beziehung hatte auch diese ihren Preis. W i r hatten gelernt, diesen Preis gegen die Freude, den Schutz und die Kameradschaft aufzurechnen, die er uns schenkte. Von dem Geld, das wir für unseren H u n d und seine Zerstörungswut ausgeben mussten, hätten wir uns eine kleine Yacht kaufen können. Aber wie viele Yachten warten den ganzen Tag n e ben der T ü r auf deine Rückkehr? W i e viele leben einzig für den Moment, wenn sie auf deinen Schoß klettern und mit dir auf einem Schlitten den H ü g e l hinunterfahren und dir dabei das Gesicht ablecken können? Marley hatte sich seinen Platz in unserer Familie redlich 267
verdient. Er war eben, wie er war, ein wunderliches, aber geliebtes Familienmitglied. Niemals würde er Lassie oder Benji sein; er würde es nie auf die Hundeschau in Westminster oder auch n u r auf die Regionalmesse schaffen. Das wussten wir inzwischen. W i r akzeptierten ihn als den H u n d , der er war, u n d liebten ihn umso mehr. » D u komischer alter Kauz«, sagte ich an diesem Wintertag am Straßenrand zu ihm und kraulte ihm den Nacken. U n s e r Ziel, der Friedhof, war noch immer einen steilen Anstieg weit entfernt. Aber, dachte ich, wie so oft im Leben war der W e g das Ziel. Ich ging vor ihm in die Hocke und fuhr ihm mit beiden H ä n d e n durchs Fell. »Lass uns einfach ein bisschen hier sitzen«, sagte ich zu ihm. Als er sich ausgeruht hatte, drehten wir um und wanderten nach Hause.
DREIUNDZWANZIG
Die Hühnchenparade
I
n diesem Frühling beschlossen wir, unsere Fähigkeiten als Nutztierhalter auszutesten. W i r besaßen n u n ein großes Stück Land; es schien nur logisch, es mit ein oder zwei Tieren zu teilen. Außerdem war ich schließlich Redakteur der Zeitschrift Organic Gardening, die schon seit L a n g e m die Einbindung von T i e r e n - und ihrem Mist - in eine gesunde, ausgewogene Gartenarbeit predigte. »Eine K u h wäre lustig«, schlug Jenny vor. »Eine Kuh?«, fragte ich. »Bist du verrückt? W i r haben noch nicht einmal einen Schuppen, wie sollen wir denn da eine Kuh halten? Wo sollen wir sie deiner M e i n u n g nach u n terbringen, in der Garage neben dem Minivan?« »Wie wär's mit Schafen?«, meinte sie ungerührt. »Schafe sind niedlich.« Ich warf ihr meinen üblichen »Das ist doch Unsinn«-Blick zu. » O d e r eine Ziege?«, überlegte sie weiter. »Ziegen sind wunderbar!« Schließlich einigten wir uns auf H ü h n e r . Für einen G ä r t ner, der allen chemischen Düngemitteln und Pestiziden abgeschworen hatte, waren H ü h n e r unbedingt sinnvoll. Sie kosteten nicht viel, weder in der Anschaffung n o c h in der Haltung. Sie brauchten zum Glücklichsein nur einen kleinen Hühnerstall und jeden M o r g e n ein paar Tassen Körnerfutter. Sie lieferten frische Eier, und wenn man sie frei 269
laufen ließ, suchten sie das Grundstück den ganzen Tag akribisch nach Käfern und W ü r m e r n ab, verspeisten Zecken, lockerten beim H e r u m s c h a r r e n den Boden auf wie kleine Pflugscharen, und nebenbei ließen sie Dünger fallen. Jeden Abend kehrten sie von alleine in ihren Hühnerstall zurück. W a s wollten wir mehr? Ein H u h n war der beste Freund des Biogärtners. H ü h n e r waren überaus sinnvoll. U n d zudem bestanden sie auch den Niedlichkeitstest, wie Jenny betonte. Also H ü h n e r . J e n n y hatte sich mit einer anderen Mutter aus der Schule angefreundet, die auf einem Bauernhof lebte und anbot, uns beim nächsten Mal gerne ein paar Küken abzugeben. Ich erzählte unserem N a c h b a r n Digger von dem Plan u n d er stimmte zu, dass ein paar H ü h n e r durchaus sinnvoll wären. Er hatte selbst einen großen Hühnerstall und versorgte sich so mit Eiern und Fleisch. »Übrigens, n u r als kleine W a r n u n g « , sagte er und verschränkte die fleischigen Arme vor der Brust. »Egal, wie Sie's anstellen, passen Sie auf, dass die Kinder den Tieren keine N a m e n geben. W e n n sie einen N a m e n haben, sind sie kein Geflügel mehr, dann sind sie Haustiere.« »Stimmt«, meinte ich. In der H ü h n e r h a l t u n g war kein Platz für Sentimentalität. Das wusste ich. H e n n e n konnten bis zu fünfzehn J a h r e alt werden, legten aber nur in den ersten J a h r e n Eier. W e n n sie damit aufhörten, war es Zeit für den Suppentopf. Das gehörte zur H ü h n e r h a l t u n g dazu. Digger sah mich scharf an, als wollte er meine Gedanken lesen. » W e n n sie erst einen N a m e n haben, ist alles vorbei«, wiederholte er. »Absolut richtig«, versicherte ich ihm. »Keine N a m e n . « Als ich am nächsten Abend von der Arbeit kam und unsere Einfahrt hinauffuhr, kamen mir alle drei Kinder aus dem H a u s entgegengelaufen. Jedes hatte ein kleines, frisch geschlüpftes Küken in den hohlen H ä n d e n . Jenny kam mit 270
einem vierten hinterher. Ihre Freundin D o n n a hatte die Tierchen am Nachmittag herübergebracht. Sie waren erst einen Tag alt und sahen mich mit schief gelegtem Kopf an, als wollten sie fragen: »Bist du meine M a m a ? « Patrick platzte als Erster damit heraus. »Meins heißt Feathers!«, verkündete er. »Meins heißt Tweety«, sagte Conor. »Wuffy!«, brabbelte Colleen begeistert und zeigte mir ihr Küken. Ich sah J e n n y fragend an. »Fluffy«, erklärte Jenny. »Sie hat ihr Küken Fluffy genannt.« »Jenny!«, protestierte ich. »Was hat Digger uns gesagt? Das hier sind Nutztiere, keine Haustiere!« »Ach, komm wieder runter, Bauer John!«, sagte sie. » D u weißt doch genauso gut wie ich, dass du diesen T i e r c h e n hier niemals auch nur ein H a a r krümmen könntest. Schau doch nur mal, wie süß sie sind!« »Jenny!«, wiederholte ich mit deutlicher Genervtheit in der Stimme. »Ach, übrigens«, meinte sie dann und hielt mir das vierte Küken unter die Nase. »Darf ich vorstellen? Das ist Shirley.« Feathers, Tweety, Fluffy und Shirley zogen in eine Kiste auf der Küchentheke ein, unter einer Glühbirne, damit sie es schön warm hatten. Sie fraßen und machten in die Kiste, fraßen noch mehr - und wuchsen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Einige Wochen, nachdem wir die Küken bekommen hatten, schreckte ich noch vor der M o r g e n d ä m merung hoch. Ich setzte mich im Bett auf und lauschte. Von unten kam ein schwacher, kränklicher Ton. Er klang heiser und krächzend, fast wie ein Husten. Da war es wieder. Kikerikie! Ein paar Sekunden vergingen, dann kam die leise, aber durchaus energische Antwort: Kiiikerikiiieeee! 271
Ich rüttelte J e n n y wach, und als sie die Augen öffnete, fragte ich: »Als D o n n a die H ü h n e r rübergebracht hat, da hast du sie doch gefragt, ob es auch wirklich nur H e n n e n sind, oder?« » D u meinst, das kann man sehen?«, fragte sie zurück und war sofort wieder eingeschlafen. M a n n e n n t es Geschlechtsbestimmung. Ein Bauer, der sich damit auskennt, kann ein frisch geschlüpftes Küken untersuchen u n d mit bis zu achtzigprozentiger Sicherheit sagen, ob es ein M ä n n c h e n oder ein Weibchen ist. W e n n das Geschlecht klar festgestellt ist, sind die Tiere teurer. Billiger ist es, die Katze im Sack zu kaufen und abzuwarten. Später k o m m e n die H ä h n e dann in den Kochtopf und die H e n n e n werden zum Eierlegen gehalten. Diese Strategie setzt natürlich voraus, dass m a n das Zeug dazu hat, die Männchen zu schlachten, zu rupfen und auszunehmen. D e n n wie jeder weiß, der schon mal H ü h n e r aufgezogen hat, sind zwei H ä h ne schon einer zu viel. W i e sich herausstellte, hatte D o n n a gar nicht versucht, das Geschlecht unserer Küken zu bestimmen. Drei unserer » L e g e h e n n e n « waren M ä n n c h e n . W i r hatten unsere Küche unfreiwillig zu einem Waisenhaus für H ä h n c h e n gemacht. Das Besondere an H ä h n e n ist aber, dass sie niemals akzeptieren werden, die zweite Geige hinter einem anderen H ä h n c h e n zu spielen. W e n n m a n n u n gleich viele H e n n e n und H ä h n c h e n hat, könnte m a n meinen, dass sie sich arrangieren und in kleine, glückliche Pärchen aufteilen würden. D o c h das stimmt nicht. Die M ä n n c h e n bekriegen sich gegenseitig in blutigen Kämpfen bis zum bitteren Ende, um zu entscheiden, wer der Anführer ist. D e r Gewinner kriegt sie alle. Als sie größer wurden, fingen unsere drei Streithähne an, aufeinander einzupicken, und - was das Schlimmste war, 272
wenn man bedenkt, dass sie ja noch in unserer Küche w o h n ten, weil ich den Hühnerstall im Garten immer n o c h nicht fertig gebaut hatte - sie krähten sich ihre testosteronübersättigte Seele aus dem Leib. Shirley, unser einziges, armes, überstrapaziertes Weibchen, bekam m e h r Aufmerksamkeit, als sich irgendein weibliches Wesen wünschen kann. Ich hätte gedacht, das Gekrähe unserer H ä h n c h e n würde Marley in den Wahnsinn treiben. In jungen J a h r e n hatte ihn schon das zarte Zwitschern einer einzelnen kleinen N a c h t i gall im Garten so in Rage versetzt, dass er laut kläffend von Fenster zu Fenster jagte und wild auf und ab sprang. Jetzt dagegen schienen ihn drei krähende H ä h n e direkt neben seiner Futterschüssel nicht im Mindesten zu stören. Er schien sie überhaupt nicht zu bemerken. Das Krähen wurde jeden Tag lauter und kräftiger und hallte morgens um fünf U h r durch das Haus. Kikerikie! Marley verschlief das ganze Spektakel. Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass Marley das Gekrähe vielleicht gar nicht ignorierte - vielleicht k o n n te er es nicht hören. Eines Nachmittags ging ich hinter ihm her, als er in der Küche herumschnüffelte, und sagte: »Marley?« Nichts. Ich rief lauter. »Marley!« Nichts. Ich klatschte in die H ä n d e und schrie: »MARLEY!« Da h o b er den Kopf, als hätte sein Radargerät gerade etwas empfangen. Er stellte die O h r e n auf. Ich klatschte noch einmal in die H ä n d e und schrie laut seinen N a m e n . Diesmal drehte er den Kopf weit genug, um mich hinter sich stehen zu sehen. Oh, was machst du denn hier? Er sprang mich an, wedelte mit dem Schwanz und war glücklich - und deutlich überrascht -, mich zu sehen. Er schnoberte meine Beine ab und sah mich mit einem Schafsblick an, als wollte er fragen: Warum schleichst du dich so an mich heran? Offensichtlich wurde mein H u n d allmählich taub. Plötzlich passte alles zusammen. In den letzten M o n a t e n 273
hatte Marley mich manchmal gar nicht beachtet, etwas, was er früher nie getan hatte. Ich rief nach ihm, und er schaute sich noch nicht einmal um. Ich ließ ihn abends vor dem Schlafengehen noch einmal in den Garten hinaus, er schnüffelte im G a r t e n herum, und wenn er wieder ins Haus komm e n sollte, beachtete er mein Pfeifen und Rufen überhaupt nicht. Ein andermal schlief er im W o h n z i m m e r zu meinen Füßen, als es an der T ü r klingelte - und öffnete noch nicht einmal ein Auge. Marley hatte schon immer Probleme mit den O h r e n gehabt. W i e viele Labradors neigte er zu Ohreninfektionen, und wir hatten ein kleines Vermögen für Antibiotika, Salben, Spülungen, Tabletten u n d Tierarztbesuche ausgegeben. Einmal war er sogar operiert worden, um seine Gehörgänge zu verkürzen und das Problem so in den Griff zu bekommen. D o c h erst als wir die unüberhörbaren H ä h n e im Haus hatten, kam mir der Gedanke, dass diese jahrelangen Beschwerden n u n ihren Tribut gefordert hatten und unser H u n d allmählich in eine wattige Welt voll entferntem Flüstern abgedriftet war. Das schien ihm allerdings nichts auszumachen. Sein Ruhestand bekam Marley bestens, und seine Hörprobleme schienen sein entspanntes Landleben nicht im Geringsten zu stören. Er zog sogar noch einen Vorteil daraus, denn schließlich hatte er jetzt für seinen Ungehorsam eine schriftliche Entschuldigung vom Tierarzt. W i e sollte er denn ein e m Befehl nachkommen, den er gar nicht hören konnte? Ich schwöre, dass dieser Dickkopf seine Taubheit sehr bald zu seinem Vorteil auszunützen lernte. Ließ man ein Stück Fleisch in seine Futterschüssel fallen, kam er aus dem W o h n zimmer in die Küche getrabt. Dieses satte Geräusch konnte er noch sehr gut wahrnehmen. Aber wenn man nach ihm rief u n d er gerade etwas anderes vorhatte, dann wanderte er 274
einfach gemütlich weiter, ohne sich auch nur schuldbewusst umzusehen, wie er es früher getan hätte. »Ich glaube, der H u n d hält uns zum N a r r e n « , sagte ich zu Jenny. Sie stimmte mir zu, dass seine H ö r p r o b l e m e n u r zeitweise aufzutreten schienen. I m m e r wenn wir in die H ä n d e klatschten und ihn riefen, reagierte er nicht. W e n n wir dagegen Futter in seine Schüssel fallen ließen, kam er angerannt. Er schien für alle Geräusche taub geworden zu sein außer für das, das ihm am meisten am H e r z e n lag - oder vielmehr am Bauch: das Geräusch von Fressen. Marley war sein ganzes Leben lang einfach unersättlich gewesen. W i r gaben ihm jeden Tag vier Schüsseln Hundefutter - davon hätte eine Chihuahuafamilie eine ganze W o c h e lang leben können - und ergänzten seinen Speiseplan n o c h frei mit unseren Essensresten, entgegen jedem professionellen Ratgeber in Sachen Hundehaltung. Essensreste verwöhnten den H u n d , und bald würde er dann sein Hundefutter verschmähen (wenn man die Wahl zwischen einem halb aufgegessenen H a m b u r g e r und Trockenfutter hat, wer zögert da lange?). Essensreste waren der schnellste W e g zur Fettleibigkeit. Labradors sind dafür bekannt, dass sie zur Körperfülle neigen, besonders wenn sie älter werden. M a n c h e Exemplare, vor allem die aus der Englischen Linie, waren in späteren Jahren so rund, dass m a n meinen könnte, ihre M e n schen hätten sie aufgeblasen, um sie auf der ThanksgivingParade in N e w York mitfliegen zu lassen. Nicht so unser H u n d . Marley hatte viele Probleme, aber Fettleibigkeit gehörte nicht dazu. Egal wie viele Kalorien er zu sich nahm, er verbrannte mehr. Ständig stand er unter Strom, und diese zügellose Ausgelassenheit verbrauchte riesige Mengen an Energie. Er glich einer elektrischen Anlage, die sofort jeden Tropfen Treibstoff in reine Kraft umsetzte. Marley war ein bemerkenswerter physischer Ausnahmefall, 275
ein H u n d , dem Passanten beim Spazierengehen nachsahen. Er war sehr groß für einen Labrador, beträchdich größer als ein durchschnittlicher Rüde seiner Rasse, die normalerweise zwischen dreißig bis fünfunddreißig Kilo wiegen. Auch als er älter wurde, bestand sein Körper hauptsächlich aus Muskeln. Fünfundvierzig Kilo sehnige, gespannte Muskeln und kaum ein G r a m m Fett. Sein Brustkorb hatte den Umfang eines kleinen Bierfässchens, sein Fell spannte über den Rippen. W i r machten uns bei ihm keine Sorgen wegen Fettleibigkeit, ganz im Gegenteil. Bevor wir Florida verließen, waren wir mit Marley oft bei Dr. Jay, und jedes Mal äußerten J e n n y u n d ich dieselben Bedenken: W r gaben ihm unglaubliche M e n g e n an Futter, aber er war trotzdem viel dünner als die meisten anderen Labradors. Außerdem schien er immer H e i ß h u n g e r zu haben, auch wenn er gerade erst einen Eimer Trockenfutter hinuntergeschlungen hatte, der für ein Brauereipferd gereicht hätte. Ließen wir ihn langsam verhungern? Dr. Jay gab immer dieselbe Antwort. Er fuhr mit seinen H ä n den über Marleys schlanke Seiten und unser H u n d startete daraufhin eine wilde, glückliche Labrador-Entdeckungstour durch das enge Behandlungszimmer. Doktor Jay sagte dann immer, dass Marley in perfekter körperlicher Verfassung war. » M a c h e n Sie einfach so weiter«, meinte er. U n d wenn Marley dann zwischen seinen Beinen herumsprang oder einen Stoffball vom Behandlungstisch schnüffelte, fügte er hinzu: »Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass Marley eine M e n g e nervöser Energie verbrennt.« Jeden Abend nach dem Essen fütterte ich Marley. Ich füllte seine Schüssel mit Hundefutter und mischte alle halbwegs schmackhaften Reste hinein, die ich finden konnte. M i t drei kleinen Kindern am Tisch hatten wir jede Menge halb aufgegessene Portionen übrig. Brotrinden, Steakreste, Hühnchenkruste, Bratensoße, Reis, Karotten, Butterbrote, 276
drei Tage alte N u d e l n - alles ab in die Schüssel. U n s e r H u n d mag sich wie ein Hofnarr b e n o m m e n haben, aber er hatte den Speiseplan eines Prinzen von Wales. W i r verfütterten alles an ihn, bis auf die Sachen, von denen wir wussten, dass sie für H u n d e ungesund waren: Molkereiprodukte, Süßigkeiten, Kartoffeln und Schokolade. Ich habe ein Problem mit Leuten, die für ihre Haustiere kochen, aber Marley unsere Reste zu geben, die wir sonst weggeworfen hätten, gab mir das Gefühl, sparsam zu sein - nichts verkam -, und außerdem war es eine schöne Geste. Ich bot dem immer und für alles dankbaren Marley so eine Abwechslung zu seinem täglichen, langweiligen Hundefutter. W e n n Marley gerade einmal nicht als unser Familienendverwerter füngierte, war er als Familien-Klecker-Notdienst im Einsatz. Keine Sauerei war zu groß für unseren H u n d . Eines unserer Kinder warf einen vollen Teller mit Spaghetti Bolognese auf den Boden, und wir brauchten n u r zu pfeifen, und unser nasser Hundeschnauzenstaubsauger saugte jede einzelne N u d e l ein und schleckte dann den Boden sauber, bis er glänzte. Verirrte Erbsen, Sellerie, der unter den Tisch gefallen war, entkommene Rigatoni, verschütteter Apfelsaft, ganz egal. Sobald es den Boden berührte, war es Geschichte. Z u m Erstaunen unserer Freunde schlang Marley sogar Salatreste hinunter. Doch das Essen musste natürlich nicht erst auf den Boden fallen, um in Marleys Magen zu landen. Er war ein geschickter, gewissenloser Dieb, der vor allem bei unseren ahnungslosen Kindern leichte Beute machte. Dabei versicherte er sich immer zuerst, dass weder J e n n y noch ich gerade hinsahen. Geburtstagsfeiern waren für ihn wie Weihnachten. Er wuselte durch die Schar von Fünfjährigen und schnappte ihnen schamlos die H o t d o g s aus den kleinen H ä n d e n . Bei einer Party schaffte er letztendlich zwei Drittel des Geburtstags277
kuchens, indem er sich Stück für Stück von den Papptellern holte, die die Kinder auf dem Schoß hielten. Es spielte keine Rolle, wie viel er fraß, ob zugeteilt oder durch miese Tricks ergaunert. Er wollte immer noch mehr. Als er taub wurde, waren wir nicht sonderlich überrascht, dass er zwar sonst nichts m e h r hörte, das Geräusch von Fleisch, das in seine Futterschüssel fiel, aber nach wie vor problemlos ausmachen konnte. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, fand ich das H a u s leer vor. J e n n y war mit den Kindern unterwegs, u n d als ich nach Marley rief, bekam ich keine Antwort. Ich ging in den ersten Stock hinauf, wo er manchmal ein Nickerchen hielt, wenn er allein zu Hause war, doch ich konnte ihn nirgends entdecken. Ich zog mich um und ging wieder hinunter, wo ich ihn auf frischer Tat in der Küche ertappte. Er stand auf den Hinterbeinen, hatte mir das Hinterteil zugewandt, Vorderpfoten und Brust ruhten auf unserem Küchentisch. Als ich hereinkam, schlang er gerade die Reste eines gegrillten Käsesandwichs herunter. Mein erster Impuls war, laut zu schimpfen. Stattdessen beschloss ich dann aber, auszuprobieren, wie nah ich an ihn herankommen konnte, bis er mich bemerkte. Ich schlich auf Zehenspitzen näher, bis ich ihn beinahe berühren konnte. W ä h r e n d er kaute, behielt er i m m e r die T ü r zur Garage im Auge. Er wusste, dass Jenny u n d die Kinder bei ihrer Rückkehr dort hereinkommen würden. In dem M o m e n t , wo sich die T ü r öffnete, wäre er unter dem Tisch verschwunden und würde vorgeben zu schlafen. Offenbar war ihm noch nicht der Gedanke gekommen, dass Papa auch nach Hause k o m m e n und sich durch die Haustür hereinschleichen könnte. »Ach, Marley?«, sagte ich in neutralem Ton, »was machst du denn da?« In aller Ruhe schluckte er den Rest des Sandwichs hinunter; er hatte mich noch nicht bemerkt. Dabei 278
schlug er locker mit dem Schwanz, ein Zeichen, dass er dachte, er wäre allein und käme ungeschoren mit einem gelungenen Raubzug davon. Er war sichtlich mit sich zufrieden. Ich räusperte mich geräuschvoll, doch er hörte mich nicht. Ich machte schmatzende Geräusche mit dem M u n d . Nichts. Als er ein Sandwich verputzt hatte, stieß er den leeren Teller mit der Schnauze zur Seite und streckte sich, um an die Reste auf einem zweiten Teller heranzukommen. » D u bist so ein böser H u n d « , sagte ich, während er weiter kaute. Ich schnippte zweimal mit den Fingern, und er hielt mitten in einer Kaubewegung inne und starrte auf die Hintertür. Was war das? Hat da jemand eine Autotür zugeschlagen? Einen M o m e n t später war er sicher, dass er sich verhört hatte, u n d wandte sich wieder seinem Sandwich zu. In diesem Augenblick streckte ich meine H a n d aus und berührte ihn am Hinterteil. Ich hätte auch eine Stange D y namit zünden können. D e r alte H u n d sprang beinahe aus seinem Fell. Er prallte rückwärts vom Tisch ab, u n d als er mich sah, ließ er sich sofort auf den Boden fallen und drehte mir in einer ergebenen Geste den Bauch zu. »Vergiss es«, sagte ich zu ihm. » D u bist geliefert.« Aber ich brachte es einfach nicht fertig, mit ihm zu schimpfen. Er war alt; er war taub; es war Unsinn, ihn noch erziehen zu wollen. Ich würde ihn nicht mehr ändern. Es hatte großen Spaß gemacht, sich an ihn heranzuschleichen, und ich hatte laut lachen müssen, als er herumgefahren war. Als er jetzt zu meinen Füßen lag und um Vergebung bettelte, war ich n u r ein wenig traurig. Vielleicht hatte ich gehofft, dass seine ganze Taubheit n u r gespielt war. Ich baute den Hühnerstall fertig, eine einfache Konstruktion aus Sperrholz mit einer zugbrückenartigen Leiter, die nachts 279
hochgezogen werden konnte, um Eindringlinge fernzuhalten. D o n n a n a h m netterweise zwei unserer H ä h n e zurück und gab uns stattdessen zwei H e n n e n . Jetzt hatten wir drei Weibchen u n d einen mit Testosteron vollgepumpten Hahn, der jede wache M i n u t e mit einem der folgenden Dinge verbrachte: Sex anzetteln, Sex haben und angeberisch darüber krähen, dass er gerade Sex gehabt hatte. Jenny stellte fest, dass H ä h n e genau das seien, was M ä n n e r wären, wenn man sie ihren Trieben überlassen würde, ohne soziale Konventionen, die ihre niedrigen Instinkte zügeln. Ich musste ihr zustimmen. Ich muss sogar zugeben, dass ich den glücklichen Bastard irgendwie beneidete. J e d e n M o r g e n ließen wir die H ü h n e r in den Garten hinaus, und Marley machte ein paar halbherzige Jagdversuche. Er sprang bellend einige Sätze auf sie zu, dann ging ihm die Puste aus und er musste aufgeben. Es war, als würde irgendein genetischer Code tief in ihm drinnen zu ihm sagen: »Du bist ein Retriever; das sind Vögel. Meinst du nicht, dass es eine gute Idee wäre, sie zu jagen?« Aber er war nicht mit ganzem H e r z e n dabei. Bald hatten die H ü h n e r gelernt, dass dieses trampelnde hellbraune M o n s t e r keine Bedrohung darstellte, eher ein geringfügiges Ärgernis, und Marley lernte, den Garten mit diesen neuen gefederten Eindringlingen zu teilen. Eines Tages sah ich vom Unkrautjäten auf und beobachtete eine merkwürdige Szene: Marley und die H ü h n e r kamen einträchtig in einer Reihe auf mich zu, die H ü h n e r pickten hier und da, Marley schnüffelte herum. Sie sahen aus wie alte Freunde auf einem Sonntagsspaziergang. »Wie kannst du das nur mit deinem Stolz als Jagdhund vereinbaren?«, schimpfte ich ihn. Marley h o b ein Bein an einer Tomatenpflanze, dann beeilte er sich, zu seinen neuen Freunden aufzuschließen.
VIERUNDZWANZIG
Die Häufchenecke
E
in Mensch kann einiges von einem alten H u n d lernen. Als die Monate vergingen und seine Unpässlichkeiten zunahmen, brachte Marley uns viel über die unentrinnbare Endlichkeit des Lebens bei. J e n n y und ich waren noch r e lativ jung. W i r hatten kleine Kinder, waren bei guter G e sundheit, und unsere Rente lag noch in unvorstellbar weiter Ferne. W i r hätten den Lauf der Zeit o h n e weiteres verdrängen und so tun können, als könnten uns die J a h r e nichts anhaben. Aber Marley ließ uns dieses Verleugnen der Tatsachen nicht durchgehen. W i r sahen, wie er allmählich alt, grau und taub wurde, und es hatte keinen Sinn, seine Sterblichkeit zu leugnen - und damit auch unsere. Das Alter holt uns alle irgendwann ein, aber bei einem H u n d geht es atemberaubend und ernüchternd schnell. In der kurzen Zeitspanne von zwölf Jahren hatte sich Marley von einem quirligen Welpen erst in einen linkischen Jungspund, dann in einen muskulösen, ausgewachsenen H u n d und n u n in einen tattrigen Greis verwandelt. Ein Hundejahr entspricht etwa sieben Menschenjahren, das hieß, dass er inzwischen auf die neunzig zuging.
Seine einst blendend weißen Z ä h n e waren mit der Zeit zu bräunlichen Stümpfen geworden. Drei seiner vier F a n g zähne fehlten, er hatte sich einen nach dem anderen bei seinen Panikattacken abgebrochen, wenn er versuchte, sich 281
den W e g in die Sicherheit freizubeißen. Sein Atem war noch nie ganz frisch gewesen, inzwischen jedoch ließ er einen an eine Mülltonne in der Sonne denken. Auf seine alten Tage hatte Marley zudem noch eine Vorliebe für Hühnermist entdeckt, was die Sache nicht unbedingt besser machte. Zu unserer großen Abscheu schlang er das Z e u g hinunter, als sei es Kaviar. Seine Verdauung war auch nicht m e h r das, was sie einmal gewesen war, und er stieß so viele Gase aus wie eine Methanfabrik. An manchen Tagen hätte ich schwören können, dass das E n t z ü n d e n eines einzigen Streichholzes zu einer Gasexplosion geführt hätte. Marley konnte mit seiner stillschweigenden, tödlichen Flatulenz einen ganzen Raum leeren, und irgendwie schien seine steigende Ausdünstung in direkter Korrelation zu der Zahl unserer abendlichen Gäste zu stehen. »Marley! N i c h t schon wieder!«, schrien unsere Kinder unisono u n d flohen als Erste. Manchmal hielt er es selbst nicht aus und flüchtete aus dem Zimmer. Er schlief friedlich, bis der Gestank seine Nasenlöcher erreichte; dann schlug er plötzlich die Augen auf u n d stellte die Augenbrauen schief, als wollte er fragen: Großer Gott, wer war das? U n d dann stand er auf und ging einfach ins nächste Zimmer. W e n n er gerade keinen fahren ließ, war er draußen und setzte Haufen. O d e r er beschäftigte sich zumindest mit der Planung derselben. Die Suche nach dem perfekten O r t für sein Geschäft war inzwischen zu einer zwanghaften Obsession geworden. Jedes Mal, wenn ich ihn hinausließ, suchte er länger und länger herum, wanderte vor und zurück, lief im Kreis, schnüffelte, hielt wieder inne, kratzte am Boden, drehte sich im Kreis, lief ein Stück weiter, immer mit einem lächerlichen Grinsen im Gesicht. W ä h r e n d er so den Boden nach dem Hundehaufenparadies absuchte, stand ich draußen, manchmal im Regen, manchmal im Schnee, manchmal 282
in der Dunkelheit, oft barfuß, u n d ab und zu sogar n u r in Boxershorts. Ich wusste aus Erfahrung, dass ich ihn lieber nicht alleine lassen sollte, damit er nicht plötzlich auf die Idee kam, den Hügel hinaufzuwandern und seine H u n d e freunde in der Nachbarschaft zu besuchen. Er machte sich einen Spaß daraus, abzuhauen. W e n n sich eine Gelegenheit bot und er dachte, dass er damit davonkommen könnte, dann türmte er zur Grenze unseres G r u n d stücks. Na ja, türmen war vielleicht zu viel gesagt. E h e r schnüffelte und schlurfte er von einem Busch zum nächsten, bis er außer Sichtweite war. Eines N a c h t s ließ ich ihn spät noch einmal vor dem Schlafengehen hinaus. Gefrorener Regen fiel vom H i m m e l und hatte den Boden mit einer dünnen Eisschicht überzogen. Ich drehte mich noch einmal um und holte einen Regenumhang aus dem Schrank in der Diele. Als ich einen Augenblick später auf den W e g hinaustrat, war Marley nirgends zu sehen. Ich lief in den G a r t e n hinaus, pfiff und klatschte in die H ä n d e . Dabei wusste ich, dass er mich nicht hören konnte, unsere N a c h b a r n dagegen wahrscheinlich schon. Zwanzig Minuten lang lief ich im Regen durch die Gärten unserer Nachbarn; modisch hatte ich mir in meinen Gummistiefeln, den Boxershorts und meinem Regenumhang nichts vorzuwerfen. Ich betete, dass nirgends eine Außenbeleuchtung anspringen würde. Je länger ich suchte, desto wütender wurde ich. Wohin zum Teufel hat er sich diesmal verkrümelt? Aber als die M i n u t e n vergingen, wurde aus meiner W u t Sorge. Ich musste an diese Geschichten denken, die man immer wieder in der Zeitung liest: von alten M ä n nern, die aus dem Altenheim verschwinden u n d dann drei Tage später irgendwo am Straßenrand erfroren aufgefunden werden. Ich ging zurück nach Hause, stieg die Treppe hinauf und weckte Jenny. »Marley ist verschwunden«, sagte ich. »Ich kann ihn nirgends finden. Er ist da draußen im Eis283
regen.« Sie war sofort auf den Beinen, zog sich Jeans und Pulli an und stieg in ihre Stiefel. Gemeinsam weiteten wir unsere Suche aus. W ä h r e n d ich durch den dunklen Wald irrte u n d halb damit rechnete, ihn irgendwo bewusstlos liegen zu sehen, hörte ich, wie J e n n y pfeifend und lockend den H ü g e l hinauflief. Schließlich kreuzten sich unsere Wege. » U n d ? « , fragte ich. »Nichts«, antwortete Jenny. W r waren vom Regen durchnässt, und meine nackten Beine waren steif vor Kälte. » K o m m « , sagte ich zu ihr, »wir gehen nach Hause und wärmen uns auf. D a n n mache ich mich im Auto auf die Suche.« W i r gingen den Hügel hinunter und unsere Auffahrt hinauf. Da sahen wir ihn unter dem Vordach stehen, vor dem Regen geschützt und überglücklich, uns zu sehen. Ich hätte ihn umbringen können. Stattdessen brachte ich ihn hinein und nibbelte ihn mit einem H a n d tuch ab. Die ganze Küche roch unverkennbar nach nassem H u n d . Erschöpft von seiner nächtlichen Tour schlief Marley sofort ein und rührte sich nicht bis zum nächsten Mittag. Marleys Augen waren schlechter geworden. Inzwischen konnten die Kaninchen wenige M e t e r vor ihm herumhoppeln, ohne dass er sie bemerkte. Er verteilte überall seine H a a r e und zwang J e n n y damit, jeden Tag Staub zu saugen und selbst das war noch zu wenig. Die Hundehaare krochen in jede Spalte unseres Hauses, auf jedes Kleidungsstück im Schrank und in unser Essen. Er hatte immer schon gehaart, inzwischen jedoch waren aus den einzelnen Haaren ganze Büschel geworden. W e n n er sich schüttelte, flog eine Wolke auf und legte sich über seine U m g e b u n g . Eines Abends lag ich auf dem Sofa vor dem Fernseher. Marley lag vor der C o u c h auf dem Boden und ich strich ihm abwesend mit mein e m nackten Fuß über die Hüfte. In der Werbepause sah ich zu ihm hinunter und entdeckte einen Fellball von der Größe einer Grapefruit auf dem Boden, gleich neben der Stelle, 284
wo ich ihn gestreichelt hatte. Haarwolken wanderten über den Fußboden wie Pusteblumenflocken auf einer Wiese im Wind. Am meisten Probleme bereiteten ihm seine Hüften, u n d bald versagten sie ihm gänzlich den Dienst. Arthritis hatte sich in seine Gelenke geschlichen und bereitete ihm Schmerzen. D e r gleiche H u n d , auf dem ich früher Rodeo reiten konnte, der mit seinen Schultern den ganzen Esszimmertisch hochheben und durch das Z i m m e r schieben konnte, dieser H u n d konnte n u n kaum noch aufstehen. Er seufzte vor Schmerz, wenn er sich hinlegte, und seufzte wieder, wenn er sich hochkämpfte. M i r war nicht klar, wie schwach seine Hüftgelenke tatsächlich geworden waren, bis ich ihm eines Tages die Seite tätschelte und seine Hinterbeine u n ter ihm einknickten, als hätte ihn gerade jemand umgerannt. Er brach einfach zusammen. Es war schrecklich mit anzusehen. Es bereitete ihm immer größere Schwierigkeiten, die Treppe in den ersten Stock hinaufzukommen, doch es fiel ihm nicht im Traum ein, alleine unten zu schlafen, auch nicht, als wir seinen Korb unten an die Treppe gestellt hatten. Marley liebte Gesellschaft, er wollte immer dabei sein. Er liebte es, den Kopf auf unsere Matratze zu legen und uns ins Gesicht zu hecheln, während wir schliefen, er liebte es, seinen Kopf durch den Duschvorhang zu stecken, wenn wir badeten, um einen Schluck zu trinken, und er wollte damit jetzt nicht aufhören. Jeden Abend, wenn J e n n y und ich in unser Schlafzimmer gingen, machte er am Fuß der T r e p pe Theater, winselte, kläffte, tapste herum und versuchte vorsichtig mit der Vorderpfote die erste Stufe zu nehmen, während er M u t sammelte für den Aufstieg, der ihm früher keinerlei M ü h e bereitet hatte. Ich stand oben an der Treppe und ermunterte ihn: » K o m m schon, alter Junge. Du schaffst 285
das.« N a c h einigen Alinuten verschwand er dann immer um die Ecke, um Anlauf zu nehmen, und dann sprang er herauf, wobei er das meiste Gewicht mit den Vorderpfoten trug. M a n c h m a l schaffte er es, manchmal musste er mittendrin abbrechen und wieder zum Fuß der Treppe zurück und es n o c h einmal versuchen. Am schlimmsten war es, wenn er den H a l t verlor und hilflos auf dem Bauch wieder hinunterrutschte. Er war zu groß für mich, um ihn zu tragen, aber schließlich folgte ich ihm auf der Treppe und hob sein H i n terteil jede Stufe hinauf, während er mit den Vorderpfoten hochstieg. N a c h d e m eine Treppe n u n solche Schwierigkeiten für ihn bedeutete, dachte ich, dass Marley jedes Hinauf- und H i n u n tersteigen vermeiden würde. Aber so war es nicht. Offenbar hätte das zu viel Vernunft von ihm gefordert. Ganz egal, wie schwer der Aufstieg für ihn gewesen war, er folgte mir auf dem Fuße, wenn ich hinunterging, um ein Buch zu holen oder auch n u r um das Licht auszuschalten. Er schlitterte hinter mir die Stufen hinunter und musste wenige Sekunden später schon wieder den quälenden Aufstieg beginnen. Jenny u n d ich gewöhnten uns an, uns an ihm vorbeizuschleichen, wenn er es abends hinaufgeschafft hatte, damit er nicht in die Versuchung kam, wieder hinter uns herzukommen. W i r dachten, dass wir uns jetzt, wo er nicht m e h r gut hörte und tiefer und länger schlief als jemals zuvor, ganz einfach an i h m vorbeischleichen konnten. Aber er schien es immer zu merken, wenn wir uns davongestohlen hatten. Ich lag beispielsweise im Bett und las, während er neben dem Bett auf d e m Boden schlief und laut schnarchte. Vorsichtig schob ich die Bettdecke weg, stieg leise aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen an ihm vorbei aus dem Zimmer. An der T ü r drehte ich mich noch einmal um, um sicherzugehen, dass ich ihn nicht gestört hatte. D o c h ich war n u r wenige Minu286
ten unten, da hörte ich schon seine schweren Tapser auf der Treppe auf der Suche nach mir. Er war vielleicht taub und halb blind, aber sein Radar schien noch vollkommen in O r d nung zu sein. So ging es nicht nur abends, sondern den ganzen Tag. Ich saß zum Beispiel am Küchentisch und las Zeitung, Marley lag zu meinen Füßen. D a n n stand ich auf, um mir noch einen Kaffee aus der Kanne am anderen Ende der Küche zu holen. Obwohl ich ja in Sichtweite blieb und gleich zurückkam, rappelte er sich mühevoll hoch und schlurfte herüber, um bei mir zu sein. Aber sobald er sich gemütlich zu meinen Füßen an der Kaffeemaschine niedergelassen hatte, kehrte ich zum Küchentisch zurück und er folgte mir wieder und rollte sich dort zusammen. W e n n ich dann wenig später h i nüber ins W o h n z i m m e r ging, um das Radio anzudrehen, kämpfte er sich wieder hoch, schleppte sich hinter mir her, drehte sich dann neben mir im Kreis und ließ sich genau in dem M o m e n t mit einem Stöhnen auf den Boden fallen, wenn ich wieder in die Küche zurückgehen wollte. So ging das den ganzen Tag, nicht n u r bei mir, sondern auch bei J e n ny und den Kindern. Als er alt wurde, hatte Marley gute und schlechte Tage. Es gab auch gute und schlechte Augenblicke, die manchmal so dicht beieinanderlagen, dass man kaum glauben konnte, dass es derselbe H u n d war. Eines Abends im Frühling 2002 ging ich mit Marley für einen kurzen Spaziergang hinaus in den Garten. Es war eine kühle, windige Nacht. Angestachelt von der kalten Luft rannte ich los, und Marley, dem es wohl genauso ging, galoppierte neben mir her wie in alten Zeiten. Ich rief ihm sogar noch zu: »Schau, Marley, du hast immer noch etwas vom Welpen in dir!« W i r trabten zusammen zur H a u s t ü r zurück, und er hechelte glücklich, mit hellwachen Augen. An der 287
Verandatreppe versuchte er dann verspielt die zwei Stufen hinaufzuspringen, doch als er sich abstoßen wollte, versagten ihm seine Hüften den Dienst, und plötzlich fand er sich in einer höchst misslichen Lage wieder: die Vorderpfoten oben auf dem Treppenabsatz, der Bauch auf den Stufen und sein Hinterteil auf dem Weg. So blieb er einen Augenblick liegen und sah mich an, als wüsste er gar nicht, wie er in eine so peinliche Situation hatte geraten können. Ich pfiff und schlug mir mit den H ä n d e n auf die Oberschenkel, um ihn zu locken, und er ruderte verzweifelt mit den Vorderpfoten, um vorwärtszukommen - aber vergeblich. Er konnte sein Hinterteil nicht m e h r hochstemmen. » K o m m , Marley!«, rief ich, aber er konnte einfach nicht. Schließlich packte ich ihn unter den Schultern und drehte ihn zur Seite, damit er alle vier Pfoten auf den Boden bekam. N a c h mehreren Fehlversuchen gelang es i h m schließlich, sich hinzustellen. Er machte ein paar Schritte zurück und betrachtete dann aufmerksam die Stufen. U n d dann lief er hinauf und ins Haus. Von diesem Tag an hatte er kein Selbstvertrauen mehr beim Treppensteigen; er traute sich nicht m e h r an diese beiden kleinen Stufen heran, ohne unten T h e a t e r zu machen. Kein Zweifel, es war bitter, alt zu werden. U n d es war unwürdig. Marley erinnerte mich daran, dass das Leben kurz war. Er erinnerte mich an seine flüchtigen Freuden und verpassten Gelegenheiten. U n d daran, dass jeder von uns nur einen einzigen Schuss hat, ohne zweite Chance. Am einen Tag schwimmst du noch weit ins M e e r hinaus und bist überzeugt, dass du heute eine Seemöwe fangen wirst, und am nächsten kannst du dich gerade noch zu deiner Wasserschüssel hinunterbeugen, um zu trinken. W i e der amerikanische Freiheitskämpfer Patrick H e n r y und wie jeder andere auch, 288
hatte ich nur ein einziges Leben. Ich landete i m m e r öfter bei derselben Frage: W i e in aller Welt konnte ich dieses L e ben in der Redaktion einer Gartenzeitschrift verbringen? Es war nicht so, dass mir mein neuer J o b keine Befriedigung verschaffte. Ich war stolz darauf, was ich aus der Zeitschrift gemacht hatte. Aber ich vermisste die Tageszeitung schrecklich. Ich vermisste die Leute, die sie lasen, und die Leute, die sie schrieben. Ich vermisste es, direkt am Tagesgeschehen zu sein, und das Gefühl, dass ich auf meine eigene bescheidene Weise eingreifen konnte. Ich vermisste den Adrenalinschub, wenn man unter Zeitdruck auf eine Deadline hinarbeitete, und die Befriedigung, wenn ich am nächsten Morgen in meiner Mailbox eine M e n g e E-Mails mit Bezug auf meine Kolumne vorfand. Aber am meisten vermisste ich es, Geschichten zu erzählen. Ich fragte mich, wie ich einen J o b , der so perfekt zu mir passte, hatte aufgeben können, um in den trüben Wassern einer Zeitschriftenredaktion zu fischen, wo mir ein mageres Budget zur Verfügung stand, wo ich auf Werbeanzeigen angewiesen war, wo ich mir über die Neubesetzung von Stellen den Kopf zerbrechen und die wenig ehrenhaften Redaktionsarbeiten hinter den Kulissen erledigen musste. Als ein früherer Kollege von mir nebenbei fallen ließ, dass der Philadelphia Inquirer einen Kolumnisten suchte, ließ ich mir das nicht zweimal sagen. Kolumnisten-Jobs sind sehr schwer zu bekommen, auch bei kleineren Zeitungen. W e n n eine solche Stelle tatsächlich einmal frei wird, dann ist sie meist schon intern vergeben, sozusagen als anerkennende Geste für verdiente Kollegen, die sich als Reporter bewährt haben. D e r Inquirer war ein angesehenes Blatt, das im Laufe der Jahre siebzehn Pulitzer-Preise gewonnen hatte und inzwischen zu den großen Zeitungen des Landes gehörte. Ich war ein Fan dieser Zeitung, und nun luden mich die Herausgeber des Inquirer zu einem Vorstel289
lungsgespräch ein. Ich würde für diesen J o b nicht einmal umziehen müssen. Das Büro, in dem ich arbeiten würde, war gerade mal fünfundvierzig M i n u t e n vom Autobahnknoten Pennsylvania entfernt, eine zumutbare Strecke. Ich glaube eigendich nicht an Wunder, aber es schien alles beinahe zu perfekt, um wahr zu sein, wie eine göttliche Fügung. Im N o v e m b e r 2002 tauschte ich meine Gärtnerklamotten gegen einen Presseausweis des Philadelphia Inquirer ein. Wahrscheinlich war das der glücklichste Tag in meinem Leben. Ich war wieder da, wo ich hingehörte: als Kolumnist in einer Zeitungsredaktion. Ich war gerade ein paar M o n a t e im neuen J o b , als die ersten schweren Schneestürme des Jahres 2003 niedergingen. D e r Schnee kam an einem Sonntagabend, und als es am nächsten Tag aufhörte zu schneien, lagen ungefähr achtzig Zentimeter Schnee. Die Kinder gingen drei Tage nicht zur Schule, während sich unsere kleine Gemeinde langsam aus dem Schnee frei grub, und ich schickte meine Kolumnen von zu Hause aus per E-Mail. Ich lieh mir von einem Nachbarn eine Schneefräse und räumte unsere Auffahrt und einen kleinen Z u g a n g zur H a u s t ü r frei. Ich wusste, dass Marley niemals die h o h e Schneemauer überwinden und in den Garten gelangen, geschweige denn im tiefen Schnee neben dem Pfad vorwärtskommen könnte, deshalb räumte ich ihm seine eigene Toilette frei, die Häufchenecke, wie die Kinder sie tauften. Es war ein kleiner freier Platz gleich neben der Auffahrt, wo er sein Geschäft verrichten konnte. Doch als ich ihn nach draußen rief, um die neuen Räumlichkeiten auszuprobieren, stand er nur auf der kleinen geräumten Fläche h e r u m u n d schnüffelte argwöhnisch am Schnee. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, welcher Platz geeignet war, um dort seine Notdurft zu verrichten, und das 290
hier entsprach ganz offensichtlich überhaupt nicht seinen Vorstellungen. Er war bereit, hier sein Bein zu heben, um zu markieren, aber das war auch wirklich das äußerste Z u g e ständnis. Ich soll hier einfach einen Haufen hinsetzen? Direkt vor eurem Fenster? Das ist doch wohl nicht dein Ernst! D a m i t drehte er sich um und kletterte mit Schwung die rutschigen Stufen hinauf, dann trottete er ins H a u s zurück. N a c h dem Abendessen ließ ich ihn wieder hinaus, und diesmal konnte Marley sich den Luxus des Wartens nicht mehr erlauben. Er musste einfach. Nervös lief er den geräumten W e g auf und ab, in die Häufchenecke und wieder hinaus auf die Auffahrt, er schnüffelte im Schnee und kratzte mit der Vorderpfote auf dem gefrorenen Boden herum. Nein, hier geht es einfach nicht. Bevor ich ihn zurückhalten konnte, schaffte er es irgendwie, auf die gefrorene Schneemauer hinaufzuklettern, die die Schneefräse zusammengeschoben hatte, und kämpfte sich durch den G a r t e n in Richtung der weißen Kiefern, die zwanzig M e t e r entfernt standen. Ich konnte es nicht glauben: mein arthritischer, altersschwacher H u n d war auf einer alpinen Schnee tour unterwegs. Alle paar Schritte brach seine Hüfte ein und er sank in den Schnee, wo er ein paar Augenblicke auf dem Bauch ausruhte und sich dann wieder aufrappelte und weiter vorankämpfte. Langsam u n d schmerzvoll arbeitete er sich im tiefen Schnee voran, indem er sich mit seinen noch immer kräftigen Schultern vorwärtszog. Ich stand in der Auffahrt und überlegte, wie ich ihn retten konnte, wenn er irgendwann endgültig festsaß und nicht m e h r weiterkam. D o c h er stapfte unverdrossen weiter und schaffte es schließlich bis zur ersten Kiefer. Plötzlich wusste ich, was er vorhatte. D i e ser H u n d verfolgte einen Plan. U n t e r den dichten Zweigen der Kiefer war der Schnee nur ein paar Zentimeter tief. D e r Baum hatte den Effekt eines Regenschirms, und unter den 291
Asten konnte sich Marley frei bewegen und bequem genau da seinen Haufen setzen, wo es ihm gefiel. Ich musste zugeben, dass das ein absolut brillanter Plan war. Er lief im Kreis und schnüffelte und kratzte wie immer, um einen würdigen Schrein für sein tägliches Opfer zu finden. D a n n verließ er das zu meinem größten Erstaunen gemütliche überdachte Plätzchen und sprang zurück in den tiefen Schnee auf dem W e g zur nächsten Kiefer. D e r erste Platz war in meinen Augen perfekt gewesen, aber er entsprach offenbar nicht Marleys h o h e n Ansprüchen. M i t Ach u n d Krach erreichte er den zweiten Baum, aber wieder befand er den Platz unter dessen Zweigen nach eingehender Prüfung für ungeeignet. U n d so machte er sich zum dritten Baum auf, und zum vierten und zum fünften. M i t jedem Mal entfernte er sich weiter von der Auffahrt. Ich versuchte ihn zurückzurufen, obwohl ich wusste, dass er mich nicht hören konnte. »Marley, du wirst stecken bleiben, du Dummkopf!«, schrie ich. Aber er pflügte weiter wild entschlossen durch den Schnee. Dieser H u n d hatte eine Mission. Schließlich erreichte er den letzten Baum auf unserem Grundstück, eine große Fichte mit einem dichten Dach aus Zweigen. Sie stand ganz in der N ä h e der Haltestelle, wo die Kinder immer in den Schulbus einstiegen. D o r t fand er endlich das Stück gefrorene Erde, nach dem er so lange gesucht hatte, abgeschirmt und nur leicht mit Schnee bepudert. Er drehte sich ein paar Mal im Kreis und hockte sich dann ächzend auf seine alten, lahmen, arthritischen Hinterläufe. Endlich konnte er sich erleichtern. Heureka! N a c h d e m er diese Mission erfolgreich beendet hatte, machte er sich auf den langen, beschwerlichen Heimweg. W ä h r e n d er sich durch den Schnee kämpfte, winkte ich mit den Armen und klatschte in die H ä n d e , um ihn anzuspornen. »Weiter so, Junge! Du schaffst es!« Aber ich konnte se292
hen, wie er müde wurde, und er hatte immer noch ein langes Stück W e g vor sich. » G i b jetzt nicht auf!«, schrie ich. Aber er schaffte es nicht weiter als zehn M e t e r an die Auffahrt heran. D a n n war er am Ende seiner Kräfte. Er blieb stehen und legte sich erschöpft in den Schnee. Marley sah nicht verzweifelt aus, aber er war auch nicht glücklich. Er warf mir einen sorgenvollen Blick zu. Was machen wir jetzt, Boss? Ich hatte keine Ahnung. Ich konnte zwar durch den Schnee zu ihm waten, aber was dann? Er war zu schwer für mich, um ihn zu tragen. Ich stand noch ein paar M i n u t e n rufend und lockend da, aber Marley rührte sich nicht von der Stelle. »Halt durch«, sagte ich zu ihm, »ich ziehe mir n u r schnell meine Stiefel an, und dann hole ich dich.« M i r war die Idee gekommen, dass ich ihn auf den Schlitten hieven u n d damit zum Haus zurückziehen konnte. Sobald er mich mit d e m Schlitten k o m m e n sah, war mein Plan hinfällig. Er sprang auf, voller neuer Energie. M i r fiel n u r eine Erklärung dafür ein: Er erinnerte sich wohl an unsere unrühmliche Schlittenfahrt durch den Wald und das Ufer hinunter und hoffte auf eine Wiederholung. Er kam auf mich zugesprungen wie ein Dinosaurier in einer Teergrube. Ich watete in den Schnee und stampfte dabei einen Pfad für ihn, während er mir entgegenkam. Schließlich kletterten wir beide über die Schneemauer auf die Auffahrt zurück. Er schüttelte den Schnee ab und schlug mit dem Schwanz gegen mein Knie, tapste herum wie ein junger H u n d und sah so stolz und draufgängerisch aus wie ein Abenteurer, der gerade von einem Trip durch die Wildnis zurückgekehrt ist. W i e hatte ich auch n u r einen M o m e n t daran zweifeln können, dass er es schaffen würde! Am nächsten M o r g e n räumte ich einen schmalen Pfad zu der Fichte am Ende unseres Grundstücks für ihn frei, und Marley kürte diesen Platz für den Rest des W i n t e r s zu seiner 293
privaten Toilette. Diese Krise war bewältigt, aber nun stellte sich eine beunruhigendere Frage: W i e lange konnte er noch so weitermachen? U n d wann würden die Schmerzen und Erniedrigungen des Alters seine einfache Freude, die er an jedem verschlafenen, faulen Tag fand, übertreffen?
FÜNFUNDZWANZIG
Entgegen aller Wahrscheinlichkeit
A
ls die Sommerferien da waren, packte J e n n y die Kinder in den Minivan und fuhr mit ihnen für eine W o che nach Boston zu ihrer Schwester. Ich blieb zu Hause, um zu arbeiten. Das hätte bedeutet, dass Marley alleine blieb, niemand hätte ihm Gesellschaft geleistet, niemand ihn hinausgelassen. Von den vielen kleineren Gebrechen, die das Alter mit sich brachte, schien ihn die mangelhafte Kontrolle über D a r m und Blase am meisten zu stören. Marley hatte sich in all den Jahren in vieler Hinsicht schlecht benommen, aber seine Toilettengewohnheiten waren immer tadellos gewesen. Es war das Einzige an Marley gewesen, womit wir hatten angeben können. Seit er ein paar M o n a t e alt war, war ihm niemals, kein einziges Mal, ein Missgeschick im H a u s passiert, auch nicht, wenn wir ihn mal mehrere Stunden allein gelassen hatten. W i r witzelten immer, dass seine Blase aus Stahl und sein D a r m aus Stein sein mussten.
Das war in den letzten M o n a t e n anders geworden. N u n brauchte er schon nach ein paar Stunden eine Pinkelpause. W e n n er musste, musste es sofort sein, und wenn wir nicht zu Hause waren, um ihn hinauszulassen, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Geschäft im H a u s zu verrichten. Es war schrecklich für ihn, wenn ihm das passierte, u n d wir wussten in dem M o m e n t , wenn wir das H a u s betraten, was los war. Anstatt uns ausgelassen an der T ü r zu begrüßen, 295
wie es sonst seine Art war, stand er mit hängendem Kopf und eingeklemmtem Schwanz ganz hinten im Zimmer und strahlte aus jeder P o r e aus, wie peinlich ihm die Geschichte war. W i r bestraften ihn nie deswegen. W i e hätten wir das auch tun können? Er war beinahe dreizehn Jahre alt, viel älter wurden Labradors nicht. W i r wussten, dass er nichts dagegen tun konnte, und er schien es auch zu wissen. Ich bin sicher, wenn er hätte reden können, dann hätte er uns erklärt, dass er wirklich versucht hatte, dichtzuhalten. J e n n y kaufte einen Dampfreiniger für den Teppich, und wir glichen unsere Termine so ab, dass wir ihn nie länger als ein paar Stunden alleine lassen mussten. Jenny ging von der Schule, wo sie aushalf, zwischendurch nach Hause, um ihn hinauszulassen. Ich verließ Abendesseneinladungen zwischen d e m H a u p t g a n g und dem Dessert, um mit ihm einen Spaziergang zu machen, den Marley natürlich so lange wie möglich in die Länge zog, indem er herumschnüffelte und im G a r t e n im Kreis herumlief. Unsere Freunde zogen uns schon damit auf, wer der eigentliche H e r r im Hause Grogan war. W e n n J e n n y und die Kinder nun in Boston waren, hieß das für mich, dass ich lange arbeiten konnte. Das war meine Chance, nach der Arbeit noch in der Gegend herumzufahren u n d die Städtchen u n d O r t e zu erkunden, über die ich nun in meinen K o l u m n e n schrieb. Zusammen mit meinem weiten H e i m w e g würde ich zehn bis zwölf Stunden außer Haus sein. Es stand außer Frage, dass Marley nicht so lange allein bleiben konnte, nicht einmal halb so lange. W i r beschlossen daher, ihn in der örtlichen Hundepension einzumieten, wo er jeden Sommer während unseres Urlaubs wohnte. Die H u n d e p e n s i o n war an eine große Tierklinik angegliedert, die professionelle tierärztliche Hilfe anbot, wenn auch nicht den persönlichsten Service. Jedes Mal, wenn wir dort hin296
kamen, trafen wir einen anderen Arzt, der nichts von Marley wusste außer den Fakten, die in seiner Karte standen. Oft erfuhren wir noch nicht einmal die N a m e n der Arzte. Im Gegensatz zu unserem geliebten Dr. Jay, der Marley beinahe so gut gekannt hatte wie wir und im Laufe der Jahre ein guter Freund unserer Familie geworden war, waren diese Arzte Fremde - zwar kompetente Fremde, aber eben Fremde. M a r ley schien das egal zu sein. »Mallie geht Hundehotel.'«, kreischte Colleen, und M a r ley spitzte die O h r e n , als ob ihm diese Aussicht gefiele. W i r machten Witze über das Freizeitangebot, das ihm dort geboten würde: von neun U h r bis zehn U h r Löcherbuddeln, anschließend eine Stunde Kissenzerfetzen, von elf U h r bis Mittag Abfalldurchwühlen und so weiter. Ich lieferte ihn am Sonntagabend dort ab und hinterließ meine H a n d y n u m m e r am Empfang. Marley wirkte immer etwas angespannt, wenn er irgendwo abgegeben wurde, sogar in der vertrauten U m gebung von Dr. Jays Praxis, und ich machte mir i m m e r ein wenig Sorgen um ihn. N a c h jedem Besuch wirkte er ein bisschen magerer, seine Schnauze war oft wund vom vielen Reiben an den Gitterstäben seines Zwingers, und wenn er nach Hause kam, legte er sich in einer Ecke auf den Boden und fiel für mehrere Stunden in Tiefschlaf, als wäre er die ganze Zeit über schlaflos auf und ab gewandert. Am darauffolgenden Dienstag war ich gerade in der N ä h e der Independence Hall in der Innenstadt von Philadelphia, als mein H a n d y klingelte. »Bleiben Sie bitte dran, Dr. Soundso möchte mit Ihnen sprechen«, sagte die D a m e von der Hundepension. Es war wieder eine Tierärztin, deren N a m e n ich noch nie gehört hatte. Wenige Sekunden später war sie am Apparat. » W i r haben einen Notfall mit Marley«, sagte sie. M i r rutschte das H e r z in die Hose. »Einen Notfall?« 297
Die Arztin erklärte, dass Marleys M a g e n von Futter, Wasser u n d Luft angeschwollen war und sich dann überdehnt um sich selbst gedreht hatte. Dabei war sein Mageninhalt eingeklemmt worden. Als die Gase und der übrige Inhalt nirgendwohin entweichen konnten, war sein Bauch schmerzvoll angeschwollen. M a n nannte diesen lebensbedrohlichen Zustand einen Torsio ventriculi, eine Magendrehung. In den meisten Fällen war eine Operation notwendig, erklärte sie, und wenn man den H u n d nicht behandelte, könnte er innerhalb weniger Stunden sterben. Sie sagte, sie habe eine Sonde durch seine Speiseröhre eingeführt und so einen Großteil der Gase abgeleitet, die sich in seinem M a g e n gebildet hatten. Die Schwellung war daraufhin zurückgegangen. Bei dieser Gelegenheit hatte sie den M a g e n zurückgedreht, oder wie sie es nannte, entdreht. Marley war noch in Narkose und schlief friedlich. »Das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«, fragte ich vorsichtig. »Aber nur vorübergehend«, erklärte die Ärztin. »Wir haben die unmittelbare Krise abgewendet, aber wenn sich der M a g e n einmal so gedreht hat, dann tut er es meistens wieder.« » W i e meistens?«, fragte ich. »Ich würde schätzen, seine Chancen stehen eins zu hundert, dass sich sein M a g e n nicht noch einmal dreht«, sagte sie. Eins zu hundert? Um Gottes willen! Er hat bessere Chancen, in Harvard aufgenommen zu werden! »Eins zu hundert? N i c h t mehr?« »Es tut mir leid«, sagte sie. »Sein Zustand ist sehr ernst.« W e n n sich sein M a g e n wieder drehte - und sie sagte ja, dass das sicher passieren würde -, dann hatten wir zwei M ö g lichkeiten. Die erste war, ihn operieren zu lassen. Die Ärztin 298
sagte, sie würde Marley aufschneiden und seinen M a g e n an der W a n d der Bauchhöhle befestigen, damit er sich nicht wieder drehen konnte. »Die Operation kostet ungefähr zweitausend Dollar«, fügte sie hinzu. Ich schluckte. » U n d es handelt sich hier um einen sehr schweren Eingriff. Für einen H u n d in seinem Alter wird das nicht einfach.« Marley würde sich lange davon erholen müssen, wenn er die Operation überhaupt überstand. Manchmal überlebten ältere H u n d e einen so schweren Eingriff nicht, erklärte sie. »Wenn er vier oder fünf Jahre alt wäre, dann würde ich auf jeden Fall für eine Operation plädieren«, sagte sie. »Aber in seinem Alter müssen Sie sich wirklich überlegen, ob Sie ihm das noch antun wollen.« »Nicht wenn wir es vermeiden können«, antwortete ich. »Was ist die zweite Möglichkeit?« »Die zweite Möglichkeit ist«, und dabei zögerte sie n u r unmerklich, »ihn einzuschläfern.« » O h « , sagte ich. Es fiel mir schwer, das alles richtig einzuordnen. N o c h vor fünf Minuten war ich zur Freiheitsglocke gewandert und hatte gedacht, Marley würde sich frohen M u t e s in der Hundepension entspannen. Jetzt musste ich entscheiden, ob er leben oder sterben sollte. Ich hatte noch nie etwas von dieser Magenkomplikation gehört. Später erfuhr ich, dass eine Magendrehung bei bestimmten Rassen recht häufig vorkommt, vor allem bei solchen mit breitem Brustkorb wie bei Marley. H u n d e , die ihr Futter in wenigen Bissen h i n u n terschlangen - wieder wie Marley -, hatten ebenfalls ein erhöhtes Risiko. M a n c h e Hundebesitzer behaupten, es gäbe einen Zusammenhang zwischen dem Stress, dem ein H u n d in einer Hundepension ausgesetzt ist, und den Blähungen, aber später hörte ich, wie ein Professor der Tiermedizin erklärte, seine Forschungen hätten keinen Anhaltspunkt für 299
solche T h e o r i e n erbracht. Die Tierärztin am Telefon bestätigte zwar, dass Marleys Aufregung mit all den anderen H u n den den Vorfall ausgelöst haben könnte. W i e immer hatte er sein Futter hinuntergeschlungen und dabei heftig gehechelt u n d gesabbert, aufgehetzt von den vielen anderen H u n d e n um ihn herum. Sie n a h m an, dass Marley dabei so viel Luft und Sabber geschluckt hatte, dass sich sein Magen endang der Längsachse ausgedehnt und so eine Magendrehung begünstigt hatte. » K ö n n e n wir nicht einfach abwarten, wie es ihm geht?«, fragte ich. »Vielleicht dreht sich sein Magen ja nicht noch einmal.« »Das tun wir gerade«, antwortete sie. »Abwarten und beobachten.« Sie wiederholte die Eins-zu-hundert-Chance und fügte hinzu: » W e n n sich sein M a g e n wieder dreht, brauche ich eine schnelle Entscheidung von Ihnen. Ich kann ihn nicht leiden lassen.« »Ich muss mit meiner Frau darüber sprechen«, sagte ich. »Ich rufe Sie zurück.« Ich erreichte J e n n y auf dem Handy, als sie gerade mit den Kindern auf einem überfüllten Ausflugsschiff in Boston Harbor unterwegs war. Im H i n t e r g r u n d hörte ich den Schiffsmotor b r u m m e n und die Stimmen des Touristenführers durch die Lautsprecher dröhnen. Die Verbindung war schlecht, keiner von uns konnte den anderen richtig verstehen. Ich schrie in mein Handy, damit sie mich verstehen konnte. Aber bei ihr kamen n u r Satzfetzen an. Marley ... Notfall ... M a g e n ... Operation ... einschläfern. D a n n war es still am anderen E n d e der Leitung. »Hallo?«, rief ich. »Bist du noch dran?« »Ja«, antwortete Jenny. D a n n war sie wieder still. W i r hatten beide gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde; wir hatten nur nicht damit gerechnet, dass es heute sein würde. N i c h t wenn sie u n d die Kinder unterwegs waren und 300
sich noch nicht einmal von Marley verabschieden konnten. Nicht wenn ich neunzig M i n u t e n entfernt in Philadelphia unterwegs war und geschäftliche Verpflichtungen hatte. Am Ende unseres Gesprächs, oder vielmehr am E n d e unseres bedeutungsvollen Schweigens, war klar, dass wir keine W a h l hatten. Die Tierärztin hatte Recht. Marley baute in jeder Hinsicht ab. Es wäre grausam, ihm eine schwere O p e r a tion anzutun, um zu versuchen, das Unvermeidbare hinauszuschieben. Außerdem konnten wir die immensen Kosten nicht einfach ignorieren. Es schien unanständig, beinahe u n moralisch, so viel Geld für einen alten H u n d auszugeben, der ohnehin nicht mehr lange leben würde, wenn gleichzeitig jeden Tag unerwünschte H u n d e eingeschläfert wurden, weil sie kein Zuhause fanden, oder, noch viel gravierender, Kinder auf der ganzen Welt nicht ausreichend medizinisch versorgt werden konnten, weil die finanziellen Mittel fehlten. W e n n Marleys Zeit gekommen war, dann konnten wir nichts daran ändern, und wir mussten dafür Sorge tragen, dass er würdig und ohne zu leiden aus dem Leben schied. W i r wussten, dass es die richtige Entscheidung war, dennoch war keiner von uns beiden bereit, ihn zu verlieren. Ich rief die Tierärztin zurück und teilte ihr unsere E n t scheidung mit. »Seine Z ä h n e sind sehr schlecht, er ist stocktaub und seine Hüften sind so schlimm geworden, dass er kaum noch die zwei Stufen zur Veranda h o c h k o m m t « , erklärte ich ihr, als ob ich sie überzeugen müsste. » E r kann sich nicht mehr richtig hinhocken, wenn er sein Geschäft machen muss.« Die Tierärztin, Dr. Hopkinson, wie ich inzwischen wusste, machte es mir einfach. »Ich glaube, es ist Zeit«, sagte sie. »Ja, wahrscheinlich«, meinte ich, aber ich wollte nicht, dass sie ihn einschläferte, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. W e n n möglich, wollte ich bei ihm sein. » U n d « , erin301
nerte ich sie, »ich baue noch immer auf dieses Eins-zu-hundert-Wunder!« »Lassen Sie uns in einer Stunde noch einmal telefonieren«, sagte sie. Eine Stunde später klang Dr. Hopkinson ein wenig optimistischer. Marleys Zustand war stabil. Er schlief noch immer, mit einer Infusion am Vorderbein. Sie gab ihm nun schon fünf Prozent Chancen. »Aber ich möchte nicht, dass Sie sich falsche Hoffhungen machen«, sagte sie. » E r ist ein sehr kranker H u n d . « Am nächsten M o r g e n klang sie fröhlicher. » E r hatte eine gute N a c h t « , sagte sie. Als ich mittags wieder anrief, hatte sie die Infusion entfernt u n d ihm eine Mischung aus Reis und Fleisch vorgesetzt. » E r ist völlig ausgehungert«, erklärte sie. Bei meinem nächsten Anruf war er schon auf den Beinen. » G u t e Nachrichten«, sagte die Arztin. »Einer unserer Tierarzthelfer war gerade mit ihm draußen, und er hat sein kleines und großes Geschäft gemacht.« Ich jubelte ins Telefon, als hätte er gerade den ersten Platz auf einer Hundeschau gemacht. D a n n fügte sie hinzu: » E r fühlt sich wohl besser. Er hat mir gerade einen dicken, nassen Kuss gegeben.« Yep, das war unser Marley. »Ich hätte das gestern nicht für möglich gehalten«, sagte die Ärztin, »aber ich denke, Sie können ihn morgen mit nach Hause n e h m e n . « U n d genau das tat ich am nächsten Abend nach der Arbeit. Er sah furchtbar aus, schwach und abgemagert, seine Augen waren trüb und verklebt. Er sah aus, als hätte er eine Reise in den Tod und zurück gemacht. U n d irgendwie stimmte das ja auch. Ich muss ebenfalls ein wenig blass ausgesehen haben, nachdem ich die 800-DollarR e c h n u n g bezahlt hatte. Als ich mich bei der Arztin für ihre Hilfe bedankte, meinte sie: »Alle hier lieben Marley. W i r haben alle um ihn gebangt.« 302
Ich brachte ihn zum Auto, meinen E i n s - z u - h u n d e r t - W u n derhund, und sagte zu ihm: » K o m m , wir bringen dich nach Hause, wo du hingehörst.« Er stand einfach da und betrachtete traurig den Rücksitz, denn er wusste genau, dass er sich genauso gut die Besteigung des Olymps hätte v o r n e h m e n können. Er versuchte noch nicht einmal, hinaufzuspringen. Ich rief einen Mitarbeiter der H u n d e p e n s i o n und er half mir, Marley behutsam ins Auto zu heben. D a n n fuhr ich ihn nach Hause, zusammen mit einer Kiste voll Medizin und strengen Anweisungen. Marley durfte nie wieder eine große Portion Hundefutter auf einmal hinunterschlingen oder u n begrenzte M e n g e n Wasser in sich hineinschlürfen. Die Z e i ten, in denen er in der Badewanne mit der Schnauze U - B o o t gespielt hatte, waren vorbei. Von nun an musste er täglich vier kleine Mahlzeiten bekommen und durfte n u r eine begrenzte M e n g e Wasser trinken - pro Mahlzeit nicht m e h r als eine halbe Tasse. Die Arztin hoffte, dass sein M a g e n auf diese Weise stabil bleiben und sich nicht wieder aufblähen und drehen würde. Marley durfte auch nie m e h r in einer großen Hundepension mit vielen bellenden H u n d e n um ihn h e rum untergebracht werden. Ich war überzeugt, dass das der auslösende Faktor für seine kurze Bekanntschaft mit dem Tod gewesen war, und Dr. Hopkinson stimmte mir zu. Als ich ihn an diesem Abend nach Hause gebracht hatte, breitete ich einen Schlafsack neben ihm auf dem Boden im Wohnzimmer aus. Er würde die Treppe in den ersten Stock nicht schaffen, und ich brachte es nicht fertig, ihn allein u n d hilflos hier unten zurückzulassen. Ich wusste, dass er sich die ganze N a c h t aufregen würde, wenn er nicht bei mir war. »Marley, ich schlafe heute N a c h t mal bei dir!«, verkündete ich und legte mich neben ihn. Ich streichelte ihn vom Kopf bis zum Schwanz, bis große Fellwolken von seinem Rücken 303
aufstiegen. Ich wischte ihm die verklebten Augen sauber u n d kraulte ihm die O h r e n , bis er vor Genuss seufzte. Jenny würde am nächsten M o r g e n mit den Kindern nach H a u se kommen; dann würde sie ihn mit regelmäßigen kleinen Mahlzeiten aus gekochtem Hackfleisch und Reis verwöhnen. Es hatte dreizehn Jahre gedauert, aber schließlich hatte sich Marley doch noch Menschenfutter verdient, und zwar keine Reste, sondern eine extra für ihn gekochte Mahlzeit. Die Kinder würden ihn stürmisch umarmen, ohne zu wissen, wie knapp es gewesen war, dass sie ihn nie wiedergesehen hätten. M o r g e n würde das H a u s wieder laut und voller ungestüm e n Lebens sein. Aber heute N a c h t waren Marley und ich allein. Als ich so neben ihm lag und seinen streng riechenden Atem im Gesicht spürte, musste ich an unsere erste gemeinsame N a c h t vor vielen Jahren denken, als ich ihn vom Züchter nach Hause gebracht hatte, ein winziger Welpe, der nach seiner M u t t e r winselte. Ich erinnerte mich, wie ich seine Kiste ins Schlafzimmer getragen hatte und wie wir beide eingeschlafen waren, wie mein Arm über die Bettkante hing, um ihn zu trösten. Dreizehn Jahre später lagen wir hier, imm e r n o c h unzertrennlich. Ich dachte an seine Welpenzeit und seine Jugendjahre zurück, an die zerfetzten Sofas und die aufgefressenen Matratzen, an die wilden Spaziergänge am M e e r und die W a n g e - a n - W a n g e - T ä n z e vor unserer d r ö h n e n d e n Stereoanlage. Ich dachte an die verschluckten Gegenstände und die gestohlenen Gehaltsschecks, und an die schönen, einfühlsamen M o m e n t e zwischen Mensch und H u n d . Vor allem dachte ich daran, was für ein guter und treuer Begleiter er all die Jahre gewesen war. U n d was für eine Reise wir zusammen hinter uns hatten. » D u hast mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Alter«, flüsterte ich, als er sich neben mir ausstreckte und mir seine 304
Schnauze unter den Arm schob, damit ich ihn weiterkraulte. »Es ist schön, dich wieder daheim zu haben.« Seite an Seite schliefen wir auf dem Boden ein, sein H i n terteil lag halb auf meinem Schlafsack, mein A r m auf seinem Rücken. Ich wachte einmal auf, weil er mit den Pfoten zuckte und im Traum leise vor sich hin wuffte. Ich stellte mir vor, dass er davon träumte, wieder jung und stark zu sein. U n d so schnell rannte, als gäbe es kein M o r g e n .
SECHSUNDZWANZIG
Geborgte Zeit
I
n den nächsten W o c h e n erholte sich Marley zusehends. Er hatte wieder dieses spitzbübische Glitzern in den Augen, seine Schnauze war wieder kalt und feucht, und er bekam wieder etwas Fleisch auf die Knochen. M a n sah ihm nicht m e h r an, was er durchgemacht hatte. Er war damit zufrieden, seine Tage zu verdösen, am liebsten vor der Glastür im Wohnzimmer, wo die Sonne hereinfiel und sein Fell wärmte. W e g e n seiner neuen Diät, die kleine Mahlzeiten vorschrieb, war er andauernd hungrig und bettelte und klaute noch viel unverfrorener Essen als je zuvor. Eines Abends erwischte ich ihn allein in der Küche, als er mit den Vorderpfoten auf dem Küchentisch stand und Reiscrisps von einem Servierteller stahl. Keine Ahnung, wie er mit seinen kaputten Hüften dort hinauf gekommen war. Gebrechen hin oder her, wenn der Wille rief, dann gehorchte Marleys Körper. Ich hätte ihn am liebsten umarmt, so froh war ich über diese unvermutete Demonstration körperlicher Fitness.
D e r Schrecken, den uns Marley in jenem Sommer eingejagt hatte, hätte J e n n y und mich eigendich aufrütteln müssen. Aber wir verdrängten den Gedanken an Marleys fortgeschrittenes Alter weiterhin und waren bald wieder bei der bequemen Annahme angelangt, dass es ein einmaliger Vorfall gewesen war und er seine ewige Wanderung in den Sonnenuntergang wieder aufnehmen konnte. Ein Teil von 306
uns hoffte, dass er immer so weitermachen könnte. Trotz all seiner Gebrechen war er immer noch derselbe fröhliche, unbeschwerte H u n d . Jeden M o r g e n nach seinem Frühstück trabte er ins Wohnzimmer, um das Sofa als riesiges Taschentuch zweckzuentfremden. Er lief daran entlang, rieb sich die Schnauze am Bezug ab und warf die Kissen herunter. D a n n drehte er um und wiederholte das Ganze mit der anderen Seite. Anschließend ließ er sich auf den Boden fallen, rollte auf den Rücken und schubberte sich kräftig das Rückenfell. Er liebte es auch, auf dem Boden zu liegen u n d hingebungsvoll den Teppich abzulecken, als hätte jemand eine leckere Soße darüber geschüttet. Außerdem gehörte es zu seiner täglichen Routine, den Postboten anzubellen, den H ü h n e r n einen Besuch abzustatten, den Behälter mit dem Vogelfutter anzustarren und die Wasserhähne an der Badewanne zu überprüfen, ob nicht doch ein Tropfen für ihn abfiel. M e h r mals am Tag klappte er den Deckel des Mülleimers in der Küche hoch, um nachzusehen, welche Schätze dort auf ihn warteten. Er führte wieder täglich den M a r l e y - M a m b o auf, trampelte durchs Haus, schlug mit dem Schwanz gegen Möbel und Wände; und wie früher stemmte ich ihm jeden Tag das Maul auf, um daraus alle möglichen Zeugnisse u n seres täglichen Lebens zu entfernen - Kartoffelschalen u n d Muffinpapierchen, gebrauchte Taschentücher und Zahnseide. Auch auf seine alten Tage änderten sich manche Dinge nicht. Als der 11. September 2003 näher rückte, fuhr ich in die kleine Stadt Shanksville, Pennsylvania, wo an jenem unseligen Vormittag vor zwei Jahren der Flug United Flight 93 über einem Feld abgestürzt war, nachdem die Passagiere sich tapfer zur W e h r gesetzt hatten. Die Kidnapper, die das Flugzeug in ihre Gewalt gebracht hatten, hatten angeblich geplant, nach Washington, D . C . zu fliegen und dort das Flug307
zeug ins Weiße H a u s oder das Kapitol stürzen zu lassen. Die Passagiere, die das Cockpit stürmten, retteten höchstwahrscheinlich zahllose Leben am Boden. Anlässlich des zweiten Jahrestages dieses Uberfalls hatten mich meine Redakteure an den Schauplatz des Geschehens geschickt, wo ich der Tragödie nachspüren u n d ihre Nachwirkungen auf die amerikanische Seele untersuchen sollte. Ich verbrachte einen ganzen Tag an diesem O r t und verweilte an der Gedenkstätte, die man dort errichtet hatte. Ich sprach mit den vielen Besuchern, die dort hinkamen, um den Toten ihren Respekt zu erweisen, interviewte Anwohner, die sich an die schreckliche Explosion erinnerten, und unterhielt mich mit einer Frau, die ihre Tochter bei einem Autounfall verloren hatte und hier an diesem O r t Trost in der allgemeinen Trauer zu finden hoffte. Ich dokumentierte die vielen Gedenkschriften und Erinnerungen auf dem Parkplatz. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, was ich schreiben sollte. Was konnte ich zu dieser schrecklichen Tragödie sagen, was noch nicht gesagt worden war? Ich ging zum Abendessen in die Stadt und sah meine Aufzeichnungen durch. Eine Kolumne zu schreiben, ist wie einen Turm aus Holzklötzchen zu bauen, jede Information, jedes Zitat und jeder eingefangene Augenblick ist so ein Holzklötzchen. Zuerst baut m a n eine breite Basis, die stark genug ist, um eine Aussage zu stützen, und dann arbeitet man sich langsam hinauf zur Spitze. M e i n Notizbuch war voll von soliden Bausteinen, aber mir fehlte noch der Mörtel, der alles zusammenhielt. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit den Versatzstücken anfangen sollte. N a c h dem Essen machte ich mich auf den W e g zurück in mein Hotel, um einen Schreibversuch zu starten. Auf halbem W e g kehrte ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, um und fuhr zurück zu der Gedenkstätte, mehrere Kilome308
ter außerhalb der Stadt. Als ich dort ankam, verschwand die Sonne gerade hinter den Hügeln, und die letzten Besucher fuhren davon. Ich saß lange dort, allein, während die Sonne unterging und die N a c h t hereinbrach. Von den H ü g e l n kam ein starker W i n d und ich zog meine Jacke enger um mich. Uber mir schlug ein riesiges Sternenbanner gegen einen Fahnenmast, seine Farben glühten in den letzten glimmenden Sonnenstrahlen. U n d plötzlich zog mich dieser ehrwürdige O r t in seinen Bann, und mir wurde die G r ö ß e und Bedeutung dessen klar, was hier über diesem einsamen Feld in der Luft geschehen war. Ich sah zu der Stelle hinüber, wo das Flugzeug aufgeschlagen hatte, dann blickte ich zu der Flagge hinauf, und Tränen brannten mir in den Augen. Z u m ersten Mal in meinem Leben n a h m ich mir die Zeit, die Streifen zu zählen. Sieben rote und sechs weiße. D a n n zählte ich die Sterne, fünfzig Sterne auf blauem U n t e r g r u n d . Die amerikanische Flagge hatte für uns an Bedeutung gewonnen. Sie stand wieder für H e l d e n m u t und Opferbereitschaft. Ich wusste, was ich schreiben musste. Ich schob meine H ä n d e tief in die Jackentaschen und ging zum Rand des gekiesten Platzes. D o r t starrte ich in die D u n kelheit. Ich war hin und her gerissen. Einerseits war ich stolz auf meine Landsleute, ganz normale Leute, die im entscheidenden M o m e n t über sich hinausgewachsen waren, weil sie wussten, dass es ihr letzter M o m e n t war. Andererseits fühlte ich Demut, weil ich von den furchtbaren Ereignissen an jenem Tag verschont geblieben und noch am Leben war und einfach mein glückliches Leben als Ehemann, Vater und Autor weiterführen konnte. H i e r in der Dunkelheit der N a c h t konnte ich die Begrenztheit des Lebens beinahe spüren, und ich fühlte, wie wertvoll dieses Leben war. W i r n e h m e n es als selbstverständlich hin, aber es ist zerbrechlich, gefährdet, unsicher, und es kann jeden M o m e n t ohne Vorwarnung zu 309
E n d e sein. M i r wurde klar, was eigentlich selbstverständlich sein sollte, aber viel zu oft in Vergessenheit gerät: dass jeder Tag, jede Stunde und jede M i n u t e bewusst gelebt und geschätzt werden muss. U n d ich spürte noch etwas anderes - eine tiefe Verwunder u n g über die unbegreifliche G r ö ß e des menschlichen H e r zens, das eine Tragödie solchen Ausmaßes verkraften kann u n d zugleich noch Raum findet, die kleinen Sorgen und Ängste zu fühlen, die Teil von jedem Leben sind. In meinem Fall war das die Sorge um meinen alten H u n d . Ich schämte mich ein wenig, dass ich sogar hier, am O r t einer so furchtbaren menschlichen Tragödie, den scharfen Schmerz seines bevorstehenden Verlustes spüren konnte. Marleys Tage waren gezählt, das war klar. Jeden Tag konnte ein weiterer Zusammenbruch erfolgen, und wenn es so weit war, dann würde ich nicht länger vor dem Unvermeidbaren davonlaufen. Jeder schwere medizinische Eingriff wäre in seinem Alter grausam gewesen, etwas, das Jenny und ich wohl m e h r für uns selbst als für Marley getan hätten. W i r liebten diesen verrückten alten H u n d trotz allem - oder gerade wegen allem. Aber ich wusste, dass wir ihn bald gehen lassen mussten. Ich kehrte zu meinem Auto zurück und fuhr zum H o t e l . Als ich meine Kolumne am nächsten Tag per E-Mail weggeschickt hatte, rief ich J e n n y an. Sie sagte: »Ich möchte nur, dass du weißt, dass Marley dich wirklich sehr vermisst.« »Marley?«, fragte ich. » U n d wie steht es mit euch anderen?« »Natürlich fehlst du uns auch, du Blödmann, aber was ich meine, ist, dass Marley dich wirklich vermisst. Er macht uns alle wahnsinnig.« In der N a c h t zuvor hatte Marley immer wieder das ganze 310
Haus nach mir abgesucht, hatte jedes Z i m m e r durchstöbert, hatte hinter den T ü r e n und in den Wandschränken nach mir gesucht. M i t M ü h e hatte er sich in den ersten Stock hinaufgekämpft, und als er mich auch dort nicht fand, war er wieder hinuntergeschlichen und hatte seine Suche dort fortgesetzt. » E r war ganz außer sich«, sagte Jenny. Er hatte sich sogar die steile Treppe in den Keller hinuntergequält, wo er mir früher oft stundenlang fröhlich in meiner Werkstatt Gesellschaft geleistet hatte, bis ihm die rutschigen Holzstufen einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten. D o r t hatte er zu meinen Füßen geschlafen, während sich das feine Sägemehl wie eine Wolke über sein Fell legte. Als er nun dort hinuntergeklettert war, kam er nicht wieder hinauf, und er bellte und jaulte so lange, bis J e n ny und die Kinder zu seiner Rettung herbeieilten und ihn Stufe für Stufe hinaufbugsierten. Anstatt sich wie immer neben unser Bett schlafen zu legen, hatte Marley sich oben an der Treppe niedergelassen, von wo er alle Schlafzimmer und die Haustür im Blick hatte, falls ich 1) aus meinem Versteck herauskam oder 2) während der N a c h t nach Hause kam, weil ich mich heimlich fortgeschlichen hatte, ohne ihm Bescheid zu sagen. D o r t lag er noch, als Jenny am nächsten M o r g e n hinunterging, um Frühstück zu machen. Erst ein paar Stunden später fiel ihr auf, dass er sich noch nicht gezeigt hatte, was sehr ungewöhnlich für ihn war. Sonst war Marley immer als Erster u n ten, rannte uns voraus und schlug mit dem Schwanz gegen die Haustür, damit wir ihn hinausließen. Schließlich fand sie ihn ruhig schlafend neben meinem Bett auf dem Fußboden. U n d dann sah sie auch den G r u n d dafür. Als sie aufgestanden war, hatte sie aus Versehen ihre Kopfkissen - sie schläft immer mit drei Kopfkissen - auf meine Seite des Bettes geschoben. D o r t bildeten sie unter der Decke einen großen 311
Haufen, genau an der Stelle, wo ich sonst immer schlief. Bei seinen schlechten Augen sei ihm verziehen, dass er einen Berg Federn mit seinem H e r r c h e n verwechselte. » E r war überzeugt, dass du da liegst«, sagte Jenny. »Kein Zweifel, er dachte wirklich, dass du im Bett liegst und ausschläfst!« W i r mussten beide lachen, dann sagte Jenny: » E r ist ein schrecklich treuer H u n d . « Das stimmte. Unser H u n d war ein Ausbund von Hingabe. Ich war erst eine W o c h e aus Shanksville zurück, als der Z u sammenbruch kam, den wir alle früher oder später erwartet hatten. Ich war gerade im Schlafzimmer und zog mich an, als ich ein schreckliches Gerassel hörte, gefolgt von Conors Schrei: »Hilfe! Marley ist die Treppe runtergefallen!« Ich kam aus dem Z i m m e r gerannt und fand ihn am Fuße der Treppe, wo er versuchte, aufzustehen. Jenny und ich eilten zu ihm und strichen mit den H ä n d e n über seinen Körper, tasteten vorsichtig seine Gliedmaßen und Rippen ab, massierten ihm leicht den Rücken. Nichts schien gebrochen zu sein. M i t einem Ächzen kam Marley auf die Beine, schüttelte sich und tapste davon, als wäre nichts geschehen. Conor hatte den Unfall gesehen. Er erzählte, dass Marley erst die Treppe hinuntergehen wollte, aber dann war ihm offenbar nach zwei Stufen aufgefallen, dass alle anderen noch oben waren, und er hatte eine Kehrtwende versucht. Als er sich u m d r e h e n wollte, waren ihm die Hüften weggeknickt und er war in freiem Fall die ganze Treppe hinuntergestürzt. » M a n n , hat er Glück gehabt«, sagte ich. »So ein Sturz hätte ihn umbringen können!« »Ich fasse es nicht, dass er sich nicht verletzt hat«, meinte Jenny. » E r ist wie eine Katze mit n e u n Leben.« Aber er hatte sich verletzt. Wenige Minuten später wurde er zusehends steif, und als ich abends von der Arbeit nach 312
Hause kam, war Marley vollkommen lahm und konnte sich nicht mehr bewegen. Es schien, als täte ihm alles weh, so als ob er von Rowdys zusammengeschlagen worden wäre. Am meisten Schwierigkeiten machte ihm sein linker Vorderlauf, er konnte ihn überhaupt nicht m e h r belasten. Ich vermutete, dass er sich eine Sehne gerissen hatte. Als er mich sah, versuchte er aufzustehen, um mich zu begrüßen, aber vergeblich. Er konnte vorne links nicht m e h r auftreten, u n d in seinen schwachen Hüften hatte er überhaupt keine Kraft mehr. Marley hatte n u r noch ein gesundes Bein, ein trauriger Zustand für jeden Vierbeiner. Schließlich schaffte er es doch hochzukommen und versuchte, mir auf drei Beinen entgegenzuhüpfen, aber seine Hüften versagten und er fiel wieder zu Boden. J e n n y gab ihm ein Aspirin und hielt Eiswürfel an sein Bein. Marley, der seinen Spieltrieb auch unter solchen Umständen nicht vergessen hatte, versuchte, die Eiswürfel zu fressen. Um halb elf an diesem Abend ging es ihm noch nicht besser, und er war seit ein U h r nachmittags nicht draußen gewesen, um Wasser zu lassen. Er hatte es jetzt zehn Stunden lang zurückgehalten. Ich hatte keine Ahnung, wie ich ihn hinausbekommen sollte, damit er sich erleichtern konnte, geschweige denn, wie er danach wieder ins H a u s k o m m e n sollte. Ich stellte mich über ihn und griff ihm unter die Brust. So zog ich ihn auf die Beine. Z u s a m m e n wankten wir zur Haustür, ich hielt ihn aufrecht, während er vorwärtshinkte. Doch als wir draußen auf der Veranda waren, blieb er wie angewurzelt stehen. Es regnete, und die Treppenstufen, sein Untergang, lagen nass und glitschig vor ihm. Er sah verzweifelt aus. » K o m m schon«, sagte ich. » N u r kurz pinkeln, dann gehen wir wieder rein.« Aber er wollte nichts davon wissen. Ich wünschte, ich hätte ihn überreden können, sein Geschäft gleich auf der Veranda zu machen, aber dieser alte H u n d ließ 313
sich nicht m e h r von seinen Prinzipien abbringen. Er hinkte zurück ins H a u s und sah mich verdrießlich an, als wollte er sich für das entschuldigen, von dem er wusste, dass es unvermeidlich war. » W i r versuchen es später noch einmal«, beruhigte ich ihn. W i e auf ein Stichwort hockte er sich auf seinen drei noch halbwegs intakten Beinen halb nieder und entleerte seine volle Blase mitten auf dem Dielenboden, sodass es um ihn h e r u m spritzte. Seit er ein kleiner Welpe gewesen war, hatte Marley nicht m e h r ins H a u s gemacht. Am nächsten M o r g e n ging es ihm besser, auch wenn er immer noch hinkte wie ein Invalide. W i r ließen ihn hinaus, wo er seine Geschäfte ohne Probleme machte. Auf drei hoben J e n n y u n d ich ihn zusammen die Verandastufen wieder hinauf, damit er zurück ins H a u s konnte. »Ich habe das sichere Gefühl, dass Marley den ersten Stock unseres Hauses nie wiedersehen wird«, sagte ich zu ihr. Es war klar, dass Marley nie m e h r eine Treppe hinaufkommen würde. Er würde sich daran gewöhnen müssen, unten zu schlafen. An diesem Tag arbeitete ich von zu Hause aus und schrieb gerade im Schlafzimmer auf meinem Laptop an einer Kolumne, als ich etwas auf der Treppe hörte. Ich hielt im T i p pen inne und lauschte. Das Geräusch kam mir vertraut vor, eine Art lautes Klappern, wie Pferdehufe auf Holz. Ich schaute zur T ü r und hielt die Luft an. Ein paar Sekunden später steckte Marley den Kopf um die Ecke und kam ins Z i m m e r geschlendert. Seine Augen strahlten, als er mich entdeckte. Hier bist du also! Er legte mir seinen Kopf auf den Schoß und wollte an den O h r e n gekrault werden, was er ja auch wirklich verdient hatte. »Marley, du hast es geschafft!«, rief ich aus. » D u alter Gauner! Ich kann's nicht fassen, dass du hier oben bist!« Als ich später neben ihm auf dem Boden saß und ihm den Nacken kraulte, drehte er den Kopf und nahm spielerisch 314
mein Handgelenk ins Maul. Das war ein gutes Zeichen, ein Hinweis auf den Welpen, der noch immer in ihm schlummerte. Erst wenn er eines Tages still neben mir sitzen und mich nicht mehr zum Weitermachen ermuntern würde, während ich ihn kraulte, dann war seine Zeit gekommen. Am Abend zuvor war er dem Tod nahe gewesen, u n d ich hatte mich einmal m e h r auf das Schlimmste gefasst gemacht. Heute hechelte er fröhlich, kratzte mit der Pfote an meinem Bein und versuchte, meine H a n d aufzufressen. I m m e r wenn ich dachte, sein langes, glückliches Leben sei n u n vorbei, kam er noch einmal hoch. Ich zog seinen Kopf zu mir herauf und sah ihm direkt in die Augen. » D u sagst mir, wenn es so weit ist, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich wollte die Entscheidung nicht alleine treffen müssen. » D u wirst es mir sagen, nicht wahr?«
SIEBENUNDZWANZIG
Die große Wiese
I
n diesem J a h r kam der W i n t e r früh, und als die Tage kürzer wurden und der W n d durch die gefrorenen Aste heulte, machten wir es uns in unserem behaglichen Haus gemüdich. Ich hackte genug Feuerholz für einen ganzen W i n ter und stapelte es neben der H i n t e r t ü r auf. Jenny kochte deftige Suppen und backte Brot, und die Kinder saßen wieder am Fenster u n d warteten auf den Schnee. Ich erwartete den ersten Schneefall mit einer gewissen U n r u h e , denn ich fragte mich, ob Marley einen weiteren harten Winter überstehen würde. D e r letzte hatte ihm schon genug zu schaffen gemacht, und sein Zustand hatte sich seitdem dramatisch verschlechtert. Ich hatte keine Ahnung, wie er mit vereisten Wegen, rutschigen Treppenstufen und verschneiten Landschaften zurechtkommen würde. Langsam wurde mir klar, warum ältere Leute häufig nach Florida oder Arizona auswanderten. An einem stürmischen Sonntagabend im Dezember, als die Kinder mit ihren Hausaufgaben fertig waren und auf ihren Musikinstrumenten geübt hatten, machte Jenny P o p corn und kündete einen Heimkinoabend an. Die Kinder stürmten los, um einen Film auszusuchen, und ich pfiff nach Marley, um ihn hinauszulassen, während ich ein paar Ahornscheite vom Holzstoß holte. W ä h r e n d ich das Holz in den Korb schichtete, suchte er auf dem gefrorenen Gras herum 316
und hielt das Gesicht in den Wind. Er schnüffelte mit seiner nassen Schnauze in die eisige Luft, als würde er den nahenden Winter wittern. Ich klatschte in die H ä n d e und winkte mit den Armen, um ihn auf mich aufmerksam zu machen, und er folgte mir ins Haus. An den Verandastufen zögerte er kurz, nahm dann all seinen M u t zusammen, sprang hinauf und zog seine Hinterbeine nach. Drinnen machte ich das Feuer an und die Kinder legten den Film ein. Die Flammen züngelten hoch und schickten ihre Hitze durch das Zimmer, was Marley wie i m m e r dazu veranlasste, den besten Platz direkt vor dem Kamin für sich zu beanspruchen. Ich ließ mich neben ihm auf dem Boden nieder und legte meinen Kopf auf ein Kissen. Ich starrte mehr ins Feuer, als den Film zu verfolgen. Marley wollte seinen warmen Platz nicht aufgeben, aber er konnte der Gelegenheit nicht widerstehen. Sein Lieblingsmensch lag flach auf dem Boden, vollkommen wehrlos. W e r war jetzt das Alphatier? Sein Schwanz begann auf den Boden zu klopfen. D a n n robbte er auf mich zu. Er wankte auf dem Bauch von einer Seite zur anderen, die H i n t e r b e i n e lang ausgestreckt, und als er mich erreicht hatte, drückte er mir seinen Kopf in die Rippen. In dem M o m e n t , als ich die H a n d ausstreckte, um ihn zu kraulen, war alles vorbei. Er stemmte sich hoch u n d schüttelte sich wild, dabei ging ein Schauer losen Fells auf mich nieder. Er starrte auf mich herunter, seine schlabbernden Lefzen hingen dicht über meinem Gesicht. Als ich anfing zu lachen, n a h m er das als Startzeichen, und noch ehe ich wusste, wie mir geschah, hatte er sich mit den Vorderpfoten breitbeinig über mich gestellt und sank dann in freiem Fall mit Karacho auf mir zusammen. »Uff!«, schrie ich unter seinem Gewicht. » F r o n taler Labradorangriff!« Die Kinder quietschten vor Vergnügen. Marley konnte sein Glück kaum fassen. Ich versuchte 317
gar nicht erst, ihn abzuschütteln. Er räkelte sich, sabberte, leckte mir das Gesicht und schnoberte an meinem Hals. Ich konnte unter seinem Gewicht kaum atmen, und nach ein paar M i n u t e n schob ich ihn halb von mir herunter, wo er fast den ganzen Film lang liegen blieb, Kopf, Schulter und Vorderpfote auf meiner Brust, der Rest von ihm gegen meine Seite gedrückt. Ich behielt es für mich, aber ich merkte, wie ich mich an diesen M o m e n t klammerte, weil ich wusste, dass es nicht m e h r viele davon geben würde. Marley war in der D ä m m e rung eines langen, ereignisreichen Lebens angekommen. W e n n ich später daran zurückdachte, erkannte ich diesen Abend vor dem Kamin als das, was er war: unser Abschiedsfest. Ich streichelte Marleys Kopf, bis er einschlief, und auch dann hörte ich nicht damit auf. Vier Tage später packten wir unseren Minivan für einen Familienausflug nach Florida ins Disneyland. Es war das erste Mal, dass die Kinder an Weihnachten nicht zu Hause sein würden, u n d sie waren ganz aus dem Häuschen vor Aufregung. W i r wollten am nächsten M o r g e n früh losfahren, deswegen brachte J e n n y Marley abends in die Tierarztpraxis, wo er eine W o c h e lang unter ständiger ärzdicher Aufsicht bleiben konnte und wo er seine Ruhe vor anderen H u n d e n hatte. Die Arzte und Helfer erinnerten sich noch an seine dramatischen Eskapaden im letzten Sommer und richteten für ihn gerne die Königssuite her. Sie versprachen, sich besonders gut um ihn zu kümmern. Als wir an diesem Abend die letzten Koffer packten, fiel J e n n y u n d mir auf, wie seltsam es war, keinen H u n d um sich zu haben. Kein Riesentier, das einem ständig vor die Füße lief, uns wie unser Schatten folgte und versuchte, jedes Mal mit uns aus der T ü r zu schleichen, wenn wir einen Koffer ins Auto trugen. Es war auf gewisse Weise befreiend, doch 318
das Haus wirkte irgendwie verlassen und leer, auch wenn die Kinder darin herumsprangen. Am nächsten M o r g e n setzten wir uns bei Sonnenaufgang in den Minivan und fuhren los Richtung Süden. In unserem Bekanntenkreis ist es eine Art Sport, sich über diese ganze Disneygeschichte lustig zu machen. Ich weiß nicht mehr, wie oft ich schon gesagt habe: »Für das gleiche Geld k ö n n ten wir mit der ganzen Familie nach Paris fahren.« Aber wir amüsierten uns prächtig, auch ich als nörgelnder Vater. Von den üblichen Fallstricken einer solchen U n t e r n e h m u n g Übelkeit, müdigkeitsbedingte Trotzanfälle, verlorene E i n trittskarten, verlorene Kinder, Raufereien unter Geschwistern - blieben wir weitgehend verschont. Es wurde ein toller Familienurlaub, und wir verbrachten den Großteil der langen Rückfahrt damit, die einzelnen Karussell- und Achterbahnfahrten, Mahlzeiten, Schwimmrunden, einfach jeden M o m e n t noch einmal Revue passieren zu lassen. Als wir die halbe Strecke durch Maryland geschafft und n u r noch vier Stunden Fahrt vor uns hatten, klingelte mein Handy. Es war eine Tierarzthelferin der Tierarztpraxis. Marley wäre ganz lethargisch, sagte sie, und seine Hüften wären schwächer als sonst. Es schien ihm nicht gut zu gehen. Sie sagte, der Tierarzt würde um unsere Z u s t i m m u n g bitten, Marley Kortison geben zu dürfen. Natürlich, sagte ich. Sie sollten alles tun, damit es ihm gut ging. W i r würden unseren H u n d am nächsten Tag abholen. Als Jenny Marley am nächsten Abend, dem 29. Dezember, abholte, sah er müde und ein wenig abgekämpft aus, aber nicht wirklich krank. W i e man mir am Telefon gesagt hatte, waren seine Hüften sichtbar schwächer geworden. D e r Tierarzt erklärte Jenny, was für Medikamente wir ihm geben sollten, dann half ihr ein Tierarzthelfer, Marley in den Minivan zu heben. D o c h während der halbstündigen H e i m 319
fahrt würgte er die ganze Zeit und versuchte, zähen Schleim herauszubringen. Als J e n n y ihn zu Hause in den Vorgarten ließ, legte er sich einfach auf den gefrorenen Boden und konnte oder wollte sich nicht rühren. Verängstigt rief sie mich auf der Arbeit an. »Ich bekomme ihn nicht mehr ins H a u s « , rief sie aufgeregt, »er liegt da draußen in der Kälte und will nicht aufstehen!« Ich fuhr sofort los, und als ich eine Dreiviertelstunde später zu Hause ankam, hatte sie es doch geschafft, ihn auf die Pfoten zu stellen und ins Haus zurückzubugsieren. Ich fand ihn im Esszimmer auf dem Boden ausgestreckt, eindeutig krank und nicht er selbst. Dreizehn J a h r e lang war ich nicht ein einziges Mal nach Hause gekommen, ohne dass er aufgesprungen war, sich gestreckt und geschüttelt u n d mich dann hechelnd und schwanzwedelnd begrüßt hatte, als wäre ich gerade aus d e m Hundertjährigen Krieg heimgekehrt. N i c h t an diesem Tag. Er folgte mir mit den Augen, als ich ins Z i m m e r kam, aber er bewegte nicht einmal den Kopf. Ich kniete mich neben ihn u n d streichelte seine Schnauze. Keine Reaktion. Er versuchte nicht, mein Handgelenk zu fassen, er wollte nicht spielen, er h o b noch nicht einmal den Kopf. Sein Blick schien abwesend und sein Schwanz lag schlaff auf dem Boden. J e n n y hatte schon zwei Nachrichten auf dem Anrufbeantworter der Tierklinik hinterlassen und wartete auf den Rückruf des Tierarztes, doch das Ganze wuchs sich allmählich zu einem Notfall aus. Ich rief ein drittes Mal an. N a c h einigen M i n u t e n stand Marley langsam und mit zitternden Beinen auf u n d versuchte abermals zu würgen, aber es kam nichts heraus. Da fiel mir sein Bauch auf. Er sah dicker aus als sonst u n d fühlte sich hart an. M e i n M u t sank; ich wusste, was das bedeutete. Ich rief wieder beim Tierarzt an und beschrieb diesmal Marleys geschwollenen Bauch. Die Empfangsdame 320
bat mich, einen Augenblick zu warten, dann sagte sie: » D e r Doktor sagt, Sie sollen ihn sofort herbringen.« Jenny und ich brauchten nichts zueinander zu sagen, wir wussten beide, dass der Augenblick gekommen war. W i r riefen die Kinder zusammen und erklärten ihnen, dass Marley ins Krankenhaus musste und die Arzte dort versuchen würden, ihm zu helfen, dass er aber sehr krank war. Als ich zur Abfahrt fertig war, schaute ich ins W o h n z i m m e r und sah, wie Jenny und die Kinder sich um Marley zusammendrängten, der auf dem Boden lag, und sich verabschiedeten. Es war offensichtlich, dass es ihm schlecht ging. Jeder konnte ihn streicheln und noch ein paar letzte M o m e n t e mit ihm verbringen. Die Kinder blieben verbissen optimistisch, dass dieser H u n d , der schon immer ein Teil ihres Lebens gewesen war, bald wieder da sein würde, so gut wie neu. » G u t e Besserung, Marley«, sagte Colleen mit ihrem kleinen Stimmchen. Mit Jennys Hilfe bugsierte ich Marley hinten ins Auto. Sie umarmte ihn noch einmal kurz, dann versprach ich, mich sofort zu melden, wenn ich etwas N e u e s wusste, u n d fuhr mit Marley davon. Er lag hinten im Auto auf dem Boden, den Kopf auf die Mittelkonsole gestützt. Ich hielt das Lenkrad mit der einen H a n d und streckte die andere nach hinten, sodass ich ihn am Kopf und an den Schultern streicheln k o n n te. »Ach, Marley«, sagte ich immer wieder. Auf dem Parkplatz der Tierklinik half ich ihm aus dem Auto, dann blieb er kurz stehen, um an einem Baum zu schnüffeln, wo andere H u n d e ihre Markierung gesetzt hatten - obwohl es ihm so schlecht ging, war er immer noch neugierig. Ich ließ ihm Zeit, denn ich wusste, dass es vielleicht sein letzter Besuch an der frischen Luft war, die er so liebte. D a n n zog ich vorsichtig an der Leine und führte ihn in die Empfangshalle der Klinik. Gleich hinter der E i n 321
gangstür beschloss er, dass er n u n weit genug gelaufen war, u n d ließ sich vorsichtig auf dem Fliesenboden nieder. Als es den Tierarzthelfern und mir nicht gelang, ihn wieder auf die Beine zu stellen, brachten sie eine Trage und hoben ihn darauf. D a n n verschwanden sie mit ihm im Untersuchungszimmer. N a c h ein paar M i n u t e n kam eine junge Tierärztin, die ich noch nie gesehen hatte, in die Eingangshalle und führte mich in ein Behandlungszimmer. D o r t legte sie einige Röntgenbilder auf einen Bildbetrachter. Sie zeigte mir, dass Marleys M a g e n auf die doppelte G r ö ß e angeschwollen war. Sie deutete außerdem auf eine weiße Linie auf dem Bild. Das wäre ein Zeichen einer Magendrehung. Genau wie beim letzten Mal würde sie ihn narkotisieren und eine Sonde in seinen M a g e n einführen, um das Gas abzuleiten, das die Blähung ausgelöst hatte. D a n n würde sie mit dem Schlauch die Rückwand des Magens ertasten. »Es wird nicht einfach, aber ich versuche, den M a g e n mit dem Schlauch wieder in seine richtige Stellung zu massieren.« Wieder standen die Chancen eins zu hundert, dieselbe Prognose, die mir Doktor Hopkinson im Sommer gegeben hatte. Es hatte einmal funktioniert, es konnte wieder funktionieren. Im Stillen war ich immer noch optimistisch. »Okay«, sagte ich. »Versuchen Sie es.« N a c h einer halben Stunde tauchte sie mit grimmigem Gesicht wieder auf. Sie hatte es dreimal versucht, aber sie konnte die Sonde nicht in den M a g e n einführen. Sie hatte ihm noch m e h r Narkosemittel gegeben, in der Hoffnung, dass sich seine Bauchmuskeln dadurch entspannen würden. Als das alles nichts nützte, hatte sie in einem letzten verzweifelten Versuch einen Trokar zum Entgasen gelegt, doch auch das war nicht geglückt. »An diesem Punkt können wir n u r noch operieren«, sagte sie. Sie hielt inne, als wollte sie 322
abschätzen, ob ich bereit war, über das Unvermeidliche zu sprechen, dann fuhr sie fort: » O d e r es wäre vielleicht die h u manste Lösung, ihn einzuschläfern.« Jenny und ich hatten diese schwere Entscheidung eigentlich schon vor fünf M o n a t e n getroffen. M e i n Besuch in Shanksville hatte meinen Entschluss, Marley nicht weiter leiden zu lassen, nur noch bestärkt. Aber jetzt, hier im W a r tezimmer, als ich erneut vor der Entscheidung stand, war ich wie erstarrt. Die Ärztin spürte meine Verzweiflung und erklärte mir die Komplikationen, die bei einer Operation bei einem H u n d in Marleys Alter auftreten konnten. Außerdem machten ihr Blutspuren Sorgen, die aus dem Katheter ausgetreten waren, was auf ein Problem in der Magenwand hindeutete. »Wer weiß, was wir finden würden, wenn wir hineinschauen«, sagte sie. Ich sagte ihr, dass ich kurz hinausgehen wollte, um meine Frau anzurufen. Auf dem Parkplatz erklärte ich Jenny dann am Handy, dass sie vergeblich alles versucht hätten, mit Ausnahme einer Operation. W i r schwiegen eine kleine Ewigkeit am Telefon, dann sagte Jenny: »Ich liebe dich, J o h n . « »Ich dich auch, Jenny«, sagte ich. Ich ging wieder hinein und fragte die Arztin, ob ich ein paar Minuten mit Marley allein sein dürfte. Sie warnte mich, dass er unter starken Betäubungsmitteln stand. » N e h men Sie sich die Zeit, die Sie brauchen«, sagte sie. Ich fand ihn bewusstlos auf einer Trage auf dem Boden, am Vorderlauf hatte er eine Infusion. Vorsichtig kniete ich mich hin und strich ihm mit den Fingern durch das Fell, so wie er es besonders gerne mochte. Ich streichelte ihm über den Rücken, n a h m seine Schlappohren einzeln in die H a n d diese verrückten O h r e n , die ihm in all den J a h r e n so viele Probleme bereitet und uns ein kleines Vermögen gekostet hatten - und spürte ihr Gewicht. Ich schob seine Lefzen zu323
rück und betrachtete seine schlechten, abgenutzten Zähne. Ich n a h m eine Vorderpfote in meine H a n d . D a n n lehnte ich meine Stirn gegen seine und blieb lange so sitzen, als könnte ich eine Botschaft durch unsere beiden Schädel von meinem G e h i r n in seines schicken. Ich wollte ihm noch ein paar D i n g e sagen. » D u weißt doch, was wir alles über dich gesagt haben, oder?«, flüsterte ich. »Was für eine Last du bist und so weiter. Glaub kein W o r t davon. Glaub es keine Sekunde lang, Marley.« Er sollte das wissen, und noch etwas anderes. Es gab etwas, was ich ihm noch nie gesagt hatte, niemand hatte es ihm je gesagt. Ich wollte, dass er es hörte, bevor er ging. »Marley«, sagte ich, »du bist ein ganz toller H u n d . « Ich fand die Arztin wartend am Empfangstresen. »Ich bin so weit«, sagte ich. M e i n e Stimme zitterte, was mich wirklich wunderte, denn ich hatte gedacht, ich hätte mich schon vor M o n a t e n für diesen M o m e n t gerüstet. Ich spürte, dass ich zusammenbrechen würde, wenn ich auch nur noch ein einziges W o r t sagte. Deswegen nickte ich nur, als sie mir einige Formulare reichte, und unterschrieb schweigend. Als die Formalitäten erledigt waren, folgte ich ihr wieder zu Marley, der immer noch in Narkose lag. Ich kniete noch einmal vor ihm nieder und nahm seinen Kopf in die Hände, während die Arztin eine Spritze vorbereitete und an den Infusionsschlauch setzte. »Alles okay?«, fragte sie. Ich nickte, dann drückte sie den Kolben herunter. Seine Lefzen zitterten ganz leicht. Sie hörte sein H e r z ab und sagte, dass sich sein Herzschlag deutlich verlangsamt habe, aber noch nicht ausgesetzt hatte. Er war ein großer H u n d . Sie bereitete eine zweite Spritze vor und drückte die Flüssigkeit in den Infusionsschlauch. D a n n hörte sie wieder sein H e r z ab. »Er ist tot«, sagte sie. Sie ließ mich mit ihm allein, und ich hob vor324
sichtig eines seiner Augenlider. Sie hatte Recht; Marley war nicht mehr da. Ich ging zum Empfangstresen hinaus und bezahlte die Rechnung. Die Arztin bot mir eine »Sammeleinäscherung« für 75 Dollar oder eine »Einzeleinäscherung«, bei der m a n eine U r n e mit der Asche zurückbekam, für 170 Dollar an. Ich lehnte ab, ich würde ihn mit nach Hause n e h m e n . N a c h ein paar Minuten schob sie zusammen mit einem Helfer einen Wagen aus dem Sprechzimmer, auf dem ein großer schwarzer Sack lag. Sie half mir, den Sack auf den Rücksitz des Autos zu bugsieren. D a n n schüttelte sie mir die H a n d und sagte, dass es ihr sehr leid täte. Sie hätte ihr Bestes getan, sagte sie. »Es war Zeit für ihn«, erwiderte ich, dann dankte ich ihr und fuhr davon. Im Auto auf dem H e i m w e g begann ich zu weinen. Das passierte mir eigentlich nie, nicht einmal auf Beerdigungen. Nach ein paar Minuten hatte ich mich wieder gefasst. Als ich in unsere Auffahrt einbog, waren meine Tränen versiegt. Ich ließ Marley im Wagen und ging hinein, wo J e n n y n o c h auf war und auf mich wartete. Die Kinder waren alle schon im Bett. W i r würden es ihnen morgen sagen. W i r fielen uns in die Arme und fingen beide an zu schluchzen. Ich versuchte es ihr zu beschreiben, ihr zu sagen, dass er schon tief geschlafen hatte, als das Ende kam, dass es weder Panik noch Schock noch Schmerz gegeben hatte. D o c h ich fand keine Worte. So wiegten wir uns nur gegenseitig in den Armen. Später gingen wir hinaus und hoben den schweren Sack aus dem Auto und auf einen Schubkarren, den ich für die N a c h t in die Garage fuhr.
ACHTUNDZWANZIG
Unter den Kirschbäumen
A
n diesem Abend schlief ich sofort ein, und als der Morgen dämmerte, stand ich leise auf, um Jenny nicht zu wecken, und zog mich an. In der Küche trank ich ein Glas Wasser - der Kaffee konnte warten - und trat hinaus in den feinen, graupeligen Nieselregen. Ich nahm eine Schaufel u n d eine Spitzhacke und ging zum Erbsenbeet gleich neben der Stelle unter den Kiefern, wohin Marley sich im letzten W i n t e r für seine Geschäfte zurückgezogen hatte. Hier wollte ich ihn begraben. Es war nicht sehr kalt, und der Boden war zum Glück nicht gefroren. Im Halbdunkel des frühen Morgens begann ich zu graben.
Als ich mich durch eine dünne Schicht Erde gearbeitet hatte, stieß ich auf schweren, harten L e h m b o d e n mit Steinen darin - Reste v o m Ausheben unseres Kellers -, und es ging n u r noch schleppend voran. N a c h fünfzehn Minuten zog ich meine Jacke aus und machte eine Pause, um wieder zu Atem zu k o m m e n . N a c h einer halben Stunde war ich durchgeschwitzt und noch nicht einmal einen halben M e t e r tief. N a c h einer Dreiviertelstunde stieß ich auf Wasser. Die G r u be begann sich zu füllen. U n d lief immer voller. U n d voller. Bald bedeckte schlammiges, kaltes Wasser knöcheltief den Boden der G r u b e . Ich holte einen Eimer und versuchte es abzuschöpfen, doch es sickerte immer wieder Wasser nach. 326
Ich konnte Marley unmöglich in dieses eiskalte, matschige Loch legen. Auf gar keinen Fall. Obwohl ich so hart daran gearbeitet hatte - mein H e r z raste, als wäre ich gerade einen M a r a t h o n gelaufen -, gab ich diese Stelle auf und wanderte durch den Garten. Schließlich kam ich zu der Stelle am Fuße des Hügels, wo das Gras aufhörte und der Wald anfing. Zwischen zwei großen, alten Kirschbäumen, deren Zweige in der M o r g e n d ä m m e r u n g über mir aufragten wie eine Freiluftkathedrale, setzte ich meinen Spaten an. Diese Bäume hatten Marley und ich auf unserer wilden Schlittenfahrt n u r knapp verfehlt, und ich sagte laut: »Das ist ein guter Platz.« Bis hier oben waren die Bulldozer nicht gekommen, als sie den Schiefer verteilt hatten, und der Boden war locker und feucht. Ein T r a u m für jeden Gärtner. Hier ging das G r a b e n leicht, und bald hatte ich ein großes längliches Loch ausgehoben, ungefähr eineinhalb Meter tief. Ich ging zurück ins H a u s und sah, dass alle drei Kinder wach waren. Sie schnieften leise vor sich hin. Jenny hatte es ihnen gerade gesagt. Es traf mich tief, sie trauern zu sehen. Dies war die erste direkte Erfahrung mit dem Tod für sie. Ja, es war nur ein Hund, und H u n d e k o m m e n und gehen im Laufe eines M e n schenlebens, manchmal einfach nur deswegen, weil sie ihren Besitzern zu viel werden. Es war nur ein H u n d , u n d doch stiegen mir jedes Mal die Tränen in die Augen, wenn ich versuchte, mit den Kindern über Marley zu sprechen. Ich sagte ihnen, dass es in O r d n u n g war, um ihn zu weinen, u n d dass man als Hundebesitzer mit dieser Trauer leben musste, weil H u n d e eben nicht so lange lebten wie Menschen. Ich erzählte ihnen, dass Marley geschlafen hatte, als er das Mittel bekam, und dass er nichts gespürt hatte. Er dämmerte einfach ein und war fort. Colleen war tieftraurig, weil sie sich nicht richtig von ihm hatte verabschieden können. Sie hatte 327
gedacht, er würde wieder nach Hause kommen. Ich versicherte ihr, dass ich mich für uns alle von ihm verabschiedet hatte. Conor, unser angehender Schriftsteller, zeigte mir etwas, was er für Marley gemacht hatte und das er ihm mit ins G r a b geben wollte. Er hatte ein großes rotes H e r z gemalt und darunter geschrieben: »Für Marley. Ich hoffe, du weißt, wie lieb ich dich mein ganzes Leben lang gehabt habe. Du warst immer da, wenn ich dich gebraucht habe. Im Leben oder im Tod werde ich dich immer lieb haben. Dein Bruder C o n o r Richard Grogan.« D a n n malte Colleen ein Bild von einem M ä d c h e n und einem großen, hellbraunen H u n d . Darunter schrieb sie mit Hilfe ihres Bruders: »PS: Ich werde dich nie vergessen.« Ich ging alleine wieder hinaus und fuhr Marleys sterbliche Überreste den H ü g e l hinunter. D o r t schnitt ich einen Arm voll weicher Kiefernzweige und legte sie auf den Grund der G r u b e . Ich hob den schweren Sack von der Schubkarre und ließ ihn so vorsichtig wie möglich in die G r u b e gleiten, aber es war einfach nicht möglich, das Ganze auf würdige Weise zu tun. Ich stieg in die G r u b e und öffnete den Sack, um ihn noch ein letztes Mal zu sehen, dann legte ich ihn in einer natürlichen, bequemen Stellung zurecht - genau so, wie er sich vielleicht vor dem Kamin hingelegt hätte, zusammengerollt, den Kopf zur Seite gedreht. »Okay, mein Freund, das war's«, sagte ich. Ich machte den Sack wieder zu und ging zum H a u s zurück, um J e n n y und die Kinder zu holen. Die ganze Familie ging mit zum G r a b . C o n o r und Colleen hatten ihre Botschaften Rücken an Rücken in eine Klarsichthülle gesteckt, und ich legte sie direkt neben Marleys Kopf. Patrick schnitt mit seinem Taschenmesser fünf Kiefernzweige ab, für jeden von uns einen. Einer nach dem anderen warfen wir sie in das Grab, und ihr Duft stieg zu uns auf. W i r hielten einen M o m e n t inne, u n d dann sagten wir alle gleich328
zeitig, so als hätten wir es einstudiert: »Marley, wir haben dich lieb.« Ich n a h m die Schaufel und warf die erste Portion Erde hinunter. Es machte ein hässliches, platschendes G e räusch auf dem Plastik, und J e n n y fing an zu schluchzen. Ich schaufelte weiter. Die Kinder sahen schweigend zu. Als das Loch halb gefüllt war, machte ich eine Pause. W i r gingen alle hinauf zum H a u s und setzten uns um den Küchentisch. D a n n erzählten wir uns lustige Episoden, die wir mit Marley erlebt hatten. Einmal stiegen uns die Tränen in die Augen, im nächsten M o m e n t mussten wir lachen. J e n n y erzählte, wie Marley während der Dreharbeiten zu The Last Homerun durchgedreht hatte, als ein F r e m d e r Conor, der damals noch ein Baby gewesen war, hochgehoben hatte. Ich erzählte von den vielen Leinen, die er durchgebissen hatte, und von damals, als er am Knöchel unseres N a c h b a r n das Bein gehoben hatte. W i r überlegten, was er alles kaputt gemacht hatte und wie viel Tausende von Dollar uns das gekostet hatte. Jetzt konnten wir darüber lachen. D a m i t die Kinder sich besser fühlten, sagte ich etwas zu ihnen, woran ich selbst nicht ganz glaubte. »Marleys Seele ist jetzt oben im Hundehimmel«, erklärte ich. » E r ist jetzt auf einer großen goldenen Wiese und kann dort frei herumlaufen. Seine Hüften sind wieder gesund und er kann wieder richtig hören und sehen. U n d er hat wieder alle seine Z ä h n e . Er ist wieder ganz der Alte - und jagt den ganzen Tag Kaninchen.« Jenny fügte hinzu: » U n d er hat jetzt unendlich viele Fliegentüren, durch die er durchfetzen kann.« Die Vorstellung, wie sich Marley tollpatschig seinen W e g durch den H i m m e l bahnt, brachte alle zum Lachen. Es war bereits Vormittag, und ich musste zur Arbeit. Ich ging noch einmal allein zum G r a b zurück und füllte es ganz mit Erde auf, vorsichtig und respektvoll. D a n n trat ich die Erde behutsam fest. Als der Boden über dem G r a b glatt u n d 329
flach war, stellte ich zwei große Steine aus dem Wald darauf. D a n n ging ich ins Haus, n a h m eine heiße Dusche und fuhr zur Arbeit. In den ersten Tagen, nachdem wir Marley begraben hatten, waren wir alle sehr still. Das Tier, das jahrelang ein so erfreuliches Gesprächsthema gewesen war, war zum Tabuthema geworden. W i r versuchten, zu einem normalen Leben zurückzukehren, und wenn wir von Marley sprachen, machte es das n u r noch schwerer. Vor allem Colleen konnte es nicht ertragen, seinen N a m e n zu hören oder ein Foto von ihm zu sehen. D a n n stiegen ihr die Tränen in die Augen, sie ballte die Fäuste und sagte wütend: »Ich will nicht über ihn reden!« Ich n a h m meinen üblichen Tagesplan wieder auf, fuhr zur Arbeit, schrieb meine Kolumnen und fuhr wieder nach Hause. Dreizehn Jahre lang hatte mich Marley an der T ü r begrüßt, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. Jetzt abends durch die T ü r zu kommen, war das Allerschlimmste. Das H a u s schien still und leer, irgendwie war es kein richtiges Zuhause mehr. J e n n y saugte wie verrückt Staub. Sie hatte sich vorgenommen, Marleys Haare, die ihm in den letzten J a h r e n eimerweise ausgefallen waren und sich in jede Spalte und Ritze unseres Haushaltes eingenistet hatten, endgültig zu beseitigen. Langsam wurden die letzten Spuren des alten H u n d e s verwischt. Eines Morgens wollte ich mir meine Schuhe anziehen, und die Sohlen waren mit Marleys Fell bedeckt, das ich beim Herumlaufen mit meinen Socken aufgesammelt und dann nach und nach in die Schuhe abgeladen hatte. Ich saß nur da, betrachtete die Haare - ich strich sogar mit zwei Fingern darüber - und lächelte. D a n n hielt ich J e n ny die Schuhe unter die Nase und sagte: »So leicht werden wir ihn nicht los.« Sie lachte; aber an diesem Abend brach es 330
auf einmal aus ihr, die in den letzten Tagen nicht viel gesagt hatte, heraus: »Ich vermisse ihn. Ich meine, ich vermisse ihn wirklich richtig. Es tut weh, so sehr vermisse ich ihn.« »Ich weiß«, sagte ich. » M i r geht es genauso.« Ich wollte eine Abschiedskolumne für Marley schreiben, doch ich hatte Angst, dass es ein überschwängliches, rührseliges Zeugnis meines Selbstmitleids werden und ich mich damit nur erniedrigen würde. D a h e r blieb ich bei T h e m e n , die mir weniger nahe gingen. Trotzdem n a h m ich mir fortan immer ein Diktiergerät mit, damit ich die Gedanken, die mir zu Marley kamen, gleich aufzeichnen konnte. Ich wollte ihn so darstellen, wie er wirklich gewesen war, und nicht als perfekte Wiedergeburt von Lassie oder Rin T i n T i n - aber da bestand natürlich keine Gefahr. Es gibt viele Menschen, die ihre Haustiere nach deren Tod ganz neu erfinden und übernatürliche, edle Geschöpfe aus ihnen machen, die alles für ihre Herrschaft getan hätten, außer vielleicht Rührei zum Frühstück zu servieren. Aber ich wollte ehrlich sein. Marley war ein komischer, überlebensgroßer Klotz am Bein gewesen, der das mit dem Befehlen und G e h o r c h e n nie so ganz durchschaut hatte. Ganz ehrlich, vielleicht war er sogar der ungezogenste H u n d der Welt gewesen. U n d trotzdem hatte er von Anfang an intuitiv begriffen, was es hieß, der beste Freund des Menschen zu sein. In der Woche nach seinem Tod ging ich öfter den H ü g e l hinunter und verweilte eine Zeit lang an seinem G r a b . Z u m einen wollte ich sichergehen, dass sich abends keine wilden Tiere anschlichen. Das G r a b war ungestört, aber schon jetzt konnte ich sehen, dass ich im Frühling einige Schubkarren Erde heranschaffen musste, um die Vertiefung aufzufüllen, wo der aufgeschüttete Boden sich absenkte. Vor allem aber wollte ich mit ihm zusammen sein. W e n n ich dort an seinem Grab stand, kamen mir unwillkürlich einzelne Episoden aus 331
seinem Leben in den Sinn. Ich schämte mich beinahe, wie tief ich um diesen H u n d trauerte, mehr als um so manchen Menschen, den ich gekannt hatte. Ich setzte deswegen nicht ein H u n d e l e b e n mit einem Menschenleben gleich, aber außerhalb meiner engeren Familie hatte es nur wenige M e n schen gegeben, die sich mir gegenüber so selbstlos gezeigt hatten. Heimlich holte ich Marleys Kettenhalsband aus dem Auto, wo es seit unserer letzten Fahrt in die Tierklinik gelegen hatte, und legte es in meine K o m m o d e unter die Socken, damit ich es jeden Tag berühren konnte. Die ganze W o c h e über spürte ich einen unbestimmten Schmerz in mir. Es war ein körperlicher Schmerz, ungefähr so wie eine Magenverstimmung. Ich war antriebslos und unmotiviert, brachte noch nicht einmal die Energie auf, meinen Hobbys nachzugehen - Gitarrespielen, Holzarbeiten, Lesen. Ich stand völlig neben mir und wusste nichts mit mir anzufangen. Schließlich ging ich abends einfach früher schlafen, um n e u n oder halb zehn. An Silvester waren wir auf eine Party bei unseren Nachbarn eingeladen. Unsere Freunde bekundeten vorsichtig ihr Beileid, aber wir alle versuchten, das Gespräch in lockerem Ton weiterzuführen. Schließlich war Silvester. Beim Abendessen saßen Sara und Dave Pandl neben mir am Tisch, zwei Landschaftsarchitekten, die aus Kalifornien wieder nach Pennsylvania gezogen waren, um sich ein altes Steinhaus auszubauen. W i r waren gut befreundet und redeten lange über H u n d e , Liebe und Verlust. Dave und Sara hatten ihre geliebte Nelly, einen Australischen H ü t e h u n d , vor fünf Jahren einschläfern lassen müssen und hatten sie auf dem Hügel neben ihrem H a u s begraben. Dave ist einer der abgeklärtesten Menschen, die ich jemals getroffen habe, ein ruhiger, stoischer Spross eines wortkargen holländischen Geschlechts in Pennsylvania. D o c h immer wenn das Gespräch auf Nelly 332
kam, kämpfte auch er mit einer tiefen inneren Trauer. Er erzählte mir, wie er tagelang die steinigen Wälder hinter seinem Haus durchkämmt hatte, bis er den perfekten Stein für ihr G r a b gefunden hatte. Er hatte von N a t u r aus die Form eines Herzens, und Dave brachte ihn zu einem Steinmetz, der »Nelly« in seine Oberfläche einmeißelte. N a c h all den Jahren berührte die beiden der Tod dieses H u n d e s noch immer tief. Ihre Augen verschleierten sich, wenn sie über Nelly redeten. Sara drückte es so aus: M a n c h m a l begegnest du einem H u n d , der dein Leben wirklich berührt, und dann kannst du ihn nie wieder vergessen. Ihre Augen waren feucht, als sie das sagte. An diesem Wochenende machte ich einen langen Spaziergang durch den Wald, und als ich am M o n t a g wieder zur Arbeit kam, wusste ich, was ich über diesen H u n d schreiben wollte, der mein Leben so tief berührt hatte und den ich niemals vergessen würde. Zuerst schrieb ich darüber, wie ich in der M o r g e n d ä m m e rung mit einer Schaufel den H ü g e l hinuntergewandert war, und wie seltsam es gewesen war, ohne Marley draußen zu sein. Schließlich hatte er es sich dreizehn Jahre lang zur Aufgabe gemacht, mich auf jedem Ausflug zu begleiten. » U n d auf einmal war ich allein«, schrieb ich, »und hob ein G r a b für ihn aus.« Ich zitierte, was mein Vater auf die Nachricht, dass ich Marley hatte einschläfern lassen müssen, gesagt hatte. U n ser H u n d hatte nie Komplimente bekommen, aber seine Bemerkung kam dem noch am nächsten: »Es wird nie wieder einen H u n d wie Marley geben.« Ich überlegte lange, wie ich Marley beschreiben sollte, und schließlich schrieb ich: » N i e m a n d hat ihn jemals als tollen H u n d bezeichnet - oder auch n u r als guten H u n d . Er war so wild wie ein Kobold, und so stark wie ein Stier. Er 333
krachte mit einer Begeisterung durchs Leben, die oft einer Naturgewalt gleichkam. Er ist der einzige H u n d , den ich kenne, der jemals von der Hundeschule geflogen ist.« Weiter schrieb ich: »Marley war ein Couchzerstörer, ein Sabberkönig, ein Abfalleimerdurchwühler. Was seine Intelligenz angeht, so lassen Sie mich n u r so viel sagen: Er jagte bis ans E n d e seiner Tage seinem Schwanz nach und war überzeugt, dass er dabei etwas ganz G r o ß e m auf der Spur war, das ihm als erstem H u n d der Welt gelingen würde.« Aber natürlich hatte er n o c h ganz andere Qualitäten gehabt, und so beschrieb ich seine Intuition, sein Einfühlungsvermögen, seine Liebe zu Kindern, sein gutes H e r z . Eigentlich wollte ich vor allen Dingen ausdrücken, wie sehr dieses T i e r unsere Seele berührt und uns die wichtigsten Lektionen über das Leben gelehrt hatte. »Ein Mensch kann viel von einem H u n d lernen, auch von so einem verrückten wie unserem«, schrieb ich. »Marley lehrte mich, jeden Tag mit ungezügelter Ausgelassenheit und Freude zu leben, er lehrte mich, den Augenblick zu genießen und meinem H e r z e n zu folgen. Er lehrte mich, mich an den einfachen D i n g e n zu freuen - ein Waldspaziergang, frisch gefallener Schnee, ein Nickerchen am Fenster, wenn die Wintersonne hereinscheint. U n d als er alt und gebrechlich wurde, lehrte er mich Optimismus im Angesicht von W d r i g k e i t e n . Am meisten lehrte er mich aber über Freundschaft, Selbstlosigkeit und vor allem über unumstößliche Treue.« Dieser erstaunliche Gedanke - Marley als M e n t o r - kam mir erst jetzt nach seinem Tod so richtig zu Bewusstsein. Ein L e h r e r und Vorbild. W a r es möglich, dass ein H u n d - nicht irgendein H u n d , sondern speziell ein so dummer, unverbesserlicher H u n d wie unserer - Menschen auf die Dinge hinwies, die wirklich zählten im Leben? Ich glaube schon. Treue. M u t . Hingabe. Einfachheit. Freude. U n d genauso die 334
Dinge, die nicht wichtig waren. Ein H u n d hat keinen Sinn für teure Autos, große Häuser oder Designerklamotten. Statussymbole bedeuten ihm nichts. Ein nasser Stock genügt völlig. Ein H u n d beurteilt andere nicht nach ihrer H a u t farbe, ihrem Glauben oder ihrer Herkunft, sondern danach, wer sie im Innersten sind. Einem H u n d ist es egal, ob m a n reich oder arm ist, gebildet oder ein Analphabet, klug oder dumm. Schenk ihm dein H e r z und er schenkt dir seines. Es war wirklich ganz einfach, und doch hatten wir Menschen, die wir doch so viel klüger und kultivierter sind, immer schon Schwierigkeiten damit, zu erkennen, was wirklich wichtig ist und was nicht. Als ich diese Abschiedskolumne für M a r ley schrieb, wurde mir klar, dass alles vor unserer Nase lag, wenn wir nur die Augen aufmachten. M a n c h m a l schaffte es eben nur ein H u n d mit Mundgeruch, schlechten Manieren und reinen Absichten, einem die Augen zu öffnen. Ich schloss meinen Text ab, schickte ihn an meinen Redakteur und fuhr nach Hause. Irgendwie fühlte ich mich erleichtert, beinahe heiter, als sei eine Bürde von mir g e n o m m e n worden, von der ich nicht einmal gewusst hatte.
NEUNUNDZWANZIG
Der Bad-Dog-Club
A
ls ich am nächsten M o r g e n ins Büro kam, blinkte das rote Licht auf meinem Anrufbeantworter. Ich gab meinen Zugangscode ein und bekam eine automatische Mitteilung, die ich noch nie gehört hatte: »Ihre Mailbox ist voll. Bitte alte Nachrichten löschen.« Ich schaltete meinen Laptop an und öffnete das E-MailP r o g r a m m . Dasselbe Bild. Die Inbox war voll mit neuen Nachrichten, vier Seiten lang nur neue Nachrichten. Das Beantworten der E-Mails am M o r g e n war sonst ein Ritual für mich, ein eingebautes, wenn auch ungenaues Barometer für die Wirkung, die ich mit meiner Kolumne vom Vortag erzielt hatte. Manchmal bekam ich nur fünf oder zehn Reaktionen, und an solchen Tagen wusste ich, dass ich den Ton nicht getroffen hatte. An anderen Tagen waren es ein paar Dutzend, das war dann ein gutes Ergebnis. Manchmal waren es sogar noch mehr. An diesem M o r g e n jedoch waren es H u n d e r t e , weit mehr, als ich jemals bekommen hatte. Die Betreffzeilen lauteten: »Herzliches Beileid«, » Ü b e r Ihren Verlust« oder einfach n u r »Marley«. Tierliebhaber sind ein ganz eigener Menschenschlag, großzügig, einfühlsam, oft ein wenig sentimental, und sie haben ein H e r z , so groß wie der wolkenlose Himmel. Die meisten wollten einfach nur ihr Beileid bekunden und mir sagen, dass sie Ähnliches erlebt hatten und wussten, was 336
meine Familie und ich jetzt durchmachten. Andere hatten H u n d e , mit denen es langsam, aber sicher zu E n d e ging, und sie fürchteten sich vor dem Unvermeidlichen, genau wie wir uns gefürchtet hatten. Ein Pärchen schrieb: » W i r können Sie vollkommen verstehen und beklagen den Verlust von Marley. W i r trauern um Rusty. Die beiden werden uns wohl immer fehlen und können niemals wirklich ersetzt werden.« Eine Leserin namens Joyce schrieb: »Danke, dass Sie uns an D u n c a n erinnert haben, der in unserem G a r t e n begraben liegt.« Eine gewisse Debi fügte hinzu: »Meine Familie kann verstehen, wie Sie sich jetzt fühlen. Vor kurzem mussten wir unseren Golden Retriever Chewy einschläfern lassen. Er war dreizehn und hatte ähnliche Gebrechen, wie Sie sie von I h r e m H u n d beschreiben. Als er es an diesem letzten Tag nicht einmal mehr schaffte, aufzustehen, um hinauszugehen und sein Geschäft zu machen, wussten wir, dass wir ihn nicht länger leiden lassen durften. W i r hatten auch ein Begräbnis in unserem Garten, unter einem roten Ahornbaum, der uns immer an ihn erinnern wird.« Eine andere Frau, die einen Labrador namens Katie hatte, schrieb: »Ich schicke Ihnen mein Beileid u n d meine Tränen. Meine kleine Katie ist erst zwei Jahre alt, u n d ich denke mir immer: Monica, warum hast du zugelassen, dass dieses wunderbare Wesen dir dein H e r z stiehlt?« U n d Carmela schrieb: »Marley muss ein toller H u n d gewesen sein, dass seine Familie ihn so sehr geliebt hat. N u r wer selbst einen H u n d hat, kann verstehen, wie viel Liebe sie einem geben und wie furchtbar es ist, wenn m a n sie verliert.« Elaine schrieb: »Unsere Haustiere verbringen n u r ein so kurzes, kleines Leben mit uns, und die meiste Zeit davon warten sie jeden Tag darauf, dass wir nach Hause k o m m e n . Es ist wunderbar, wie viel Liebe und Lachen sie in unser 337
Leben bringen und wie sie uns Menschen einander näher bringen.« N a n c y schrieb: » H u n d e sind W u n d e r des Lebens und bereichern unser Leben so sehr.« U n d MaryPat: » N o c h heute vermisse ich das Klirren von Max' Halsband, wenn er auf seiner Erkundungstour durchs H a u s tapste. Diese Stille treibt dich anfangs zum Wahnsinn, vor allem nachts.« Von Connie: »Es ist schön, einen H u n d zu lieben, nicht wahr? Im Vergleich dazu erscheinen viele Bekanntschaften mit Menschen schrecklich langweilig.« Als die Flut von E-Mails einige Tage später abflaute, zählte ich sie. Beinahe achthundert Menschen, ohne Ausnahme Tierliebhaber, hatten sich bemüßigt gefühlt, mir zu schreiben. Es war eine überwältigende Resonanz, und für mich war es wie eine Katharsis. Als ich sie alle gelesen und so viele wie möglich beantwortet hatte, fühlte ich mich besser, so als ob ich zu einer riesigen Selbsthilfegruppe im Internet gehören würde. Meine eigene Trauer war in eine öffentliche Therapiesitzung ausgeartet, und in diesem Umfeld war es nicht peinlich, den echten, durchdringenden Schmerz über den Verlust von so etwas Unerheblichem wie einem alten, streng riechenden H u n d zu beklagen. Aber die Leute schrieben mir noch aus einem anderen G r u n d . Sie wollten die grundlegende Aussage meines Artikels diskutieren, die Feststellung, dass Marley der H u n d mit den schlechtesten Manieren der ganzen Welt gewesen war. »Tut mir leid«, hieß es da immer, »aber Ihr H u n d kann gar nicht der unerzogenste H u n d der Welt gewesen sein - denn den hatte ich.« Um ihre T h e s e zu untermauern, überhäuften sie mich mit ausführlichen Berichten über das schlechte Benehmen ihrer Haustiere. Ich las von zerstörten Vorhängen, gestohlener Damenunterwäsche, aufgefressenen Geburtstagstorten, ruinierten Autositzen, unerlaubten Freigängen, sogar von einem heruntergeschluckten Verlobungs-Diamantring, der 338
Marleys Vorliebe für Goldketten vergleichsweise harmlos erscheinen ließ. Meine Inbox glich einer Fernseh-Talkshow zum T h e m a Böse Hunde und die Menschen, die sie lieben, wo die Opfer bereitwillig auftreten und mit Stolz nicht etwa die Liebenswürdigkeit ihrer Tiere, sondern deren schlechte Eigenschaften beschreiben. Seltsamerweise spielten in den meisten Schauergeschichten verrückte Labradors die H a u p t rolle, wie meiner einer gewesen war. W i r waren also nicht allein. Eine Frau namens Elyssa erzählte, wie ihr Labrador Mo immer aus dem H a u s ausbrach, wenn man ihn allein ließ, indem er sich mit Vorliebe durch das Fliegengitter aus dem Fenster stürzte. Elyssa und ihr M a n n hatten gehofft, die Fluchtversuche ihres H u n d e s vereiteln zu können, indem sie alle Fenster im Erdgeschoss verriegelt hatten. Sie hatten nicht daran gedacht, auch die Fenster in den oberen Stockwerken zu schließen. Eines Tages kam ihr M a n n nach Hause und fand im zweiten Stock ein Fliegengitter lose in den Angeln hängend. » E r hatte furchtbare Angst davor, den H u n d zu finden«, schrieb sie. Gerade, als ihr M a n n bereits mit dem Schlimmsten rechnete, »kam Mo auf einmal mit gesenktem Kopf um die Hausecke. Er wusste, dass er etwas falsch gemacht hatte, aber wir waren sprachlos, weil er sich nicht verletzt hatte. Er war aus dem Fenster gesprungen und auf einem kräftigen Busch gelandet, der seinen Sturz abgefedert hatte.« D e r Labrador Larry fraß den BH seines Frauchens u n d spuckte ihn zehn Tage später im Ganzen wieder aus. Gipsy, ein anderer Labrador mit abenteuerlichem Geschmack, verspeiste eine Jalousie. Jason, eine Retriever-Irish-Setter-Mischung, verschluckte einen Staubsaugerschlauch »mit Polsterbürste und allem«, berichtete sein Besitzer Mike. »Einmal fraß Jason ein ein M e t e r großes Loch in eine Rigipswand, 339
ein andermal grub er eine breite Furche in den Teppich, bis zu seinem Lieblingsplatz am Fenster.« Mike fügte hinzu: »Aber ich habe dieses Vieh geliebt.« Phoebe, eine Labradormischung, flog aus zwei verschiedenen Hundepensionen und durfte sich dort nie mehr blicken lassen, schrieb ihre Besitzerin Aimee. »Sie brach aus ihrem Zwinger aus und befreite dann noch zwei andere Hunde. D a n n schlugen sie sich die ganze N a c h t den Bauch in der Vorratskammer voll.« Hayden, ein 50-Kilo-Labrador, fraß alles, was er zwischen die Z ä h n e bekam, berichtete seine Besitzerin Carolyn, einschließlich einer ganzen Kiste Fischfutter, einem Paar Wildlederhalbschuhen und einer Tube Superkleber, »natürlich nicht alles auf einmal«. Sie schrieb weiter: »Aber sein Meisterstück lieferte er, als er den Rahmen des Garagentors aus der Mauer riss, weil ich seine Leine unvernünftigerweise am Tor festgebunden hatte, damit er in der Sonne liegen konnte.« T i m erzählte, dass sein gelber Labrador Ralph ein genauso schlimmer Futterräuber war wie Marley, nur gerissener. Eines Tages legte T i m eine große Tafel Schokolade auf den Kühlschrank, wo er sie vor Ralph sicher wähnte. D a n n ging er. Sein H u n d zog mit den Pfoten die Schubladen aus dem Küchenschrank und benutzte sie dann als Treppe, um auf die Arbeitsplatte zu klettern. D o r t stellte er sich auf die Hinterbeine und kam so an die Schokolade, die spurlos verschwunden war, als T i m nach Hause kam. Trotz der Uberdosis Zucker zeigte Ralph keine Anzeichen von Unwohlsein. »Ein andermal«, schrieb T i m weiter, »öffnete Ralph den Kühlschrank und fraß den gesamten Inhalt, einschließlich der Dosen.« N a n c y schnitt meine Kolumne aus, um sie aufzuheben, weil Marley sie so sehr an ihren Retriever Gracie erinnerte. »Ich legte den Artikel auf den Küchentisch und drehte mich um, um die Schere wegzuräumen. Als ich mich wieder zum 340
Küchentisch umdrehte, hatte Gracie tatsächlich den Artikel gefressen.« Wow, ich fühlte mich mit jeder M i n u t e besser. Marley war auf einmal gar kein so schrecklicher H u n d mehr. Zumindest war er im Bad-Dog-Club in bester Gesellschaft. Ich druckte mehrere Zuschriften aus und zeigte sie zu Hause Jenny, die daraufhin zum ersten Mal seit Marleys Tod lachte. M e i n e neuen Freunde von der Geheimen Bruderschaft Versagender Hundebesitzer hatten uns m e h r geholfen, als sie ahnen konnten. Aus den Tagen wurden W o c h e n und der W i n t e r schmolz zum Frühling. Narzissen brachen durch die E r d e und blühten an Marleys Grab, und hübsche weiße Kirschblüten rieselten darauf herab. Allmählich gewöhnten wir uns an unser Leben ohne H u n d . An manchen Tagen dachte ich gar nicht an ihn, bis ein kleiner Hinweis - ein H a a r auf meinem Pullover, das Klirren seines Kettenhalsbandes, wenn ich in die Sockenschublade griff - ihn mir plötzlich wieder vergegenwärtigte. Mit der Zeit wurden die Erinnerungen schöner und weniger schmerzlich. Längst vergessene M o m e n t e zogen an meinem inneren Auge vorbei, so deutlich, als würde ich ein Video abspielen: W i e sich Lisa, das Opfer der Messerattacke, zu Marley herabgebeugt und ihn auf die Schnauze geküsst hatte, als sie aus dem Krankenhaus nach Hause kam. Die Begeisterung, mit der sich das Filmteam um ihn geschart hatte. W i e die Postbotin ihm jeden M o r g e n an der T ü r einen Hundekuchen zusteckte. W i e er Mangos zwischen seinen Pfoten hielt und das Fruchtfleisch ablutschte. W i e er mit verklärtem Gesichtsausdruck nach den W i n d e l n der Babys geschnappt hatte, und wie er mich um seine Beruhigungstabletten angebettelt hatte, als seien es Steaks gewesen. Alles kleine M o m e n t e , die eigentlich kaum der Erinnerung wert
341
waren, u n d trotzdem waren sie auf einmal da und liefen nach dem Zufallsprinzip an den unwahrscheinlichsten Orten und im unerwartetsten M o m e n t auf meiner geistigen Kinoleinwand ab. Ü b e r die meisten musste ich lächeln, manchmal musste ich mir aber auch auf die Lippen beißen und innehalten. Bei einer Sitzung im Büro kam mir die folgende Szene ins Gedächtnis: W i r wohnten noch in West Palm Beach, Marley war noch ein Welpe und J e n n y und ich frisch verheiratet. An einem kalten W n t e r t a g gingen wir händchenhaltend am M e e r spazieren, Marley lief voran und zog uns vorwärts. Ich ließ ihn auf die Wellenbrecher aus Beton hinaufspringen. Sie waren ungefähr einen halben M e t e r breit und einen Meter hoch über dem Wasser. »John«, protestierte Jenny, »er fällt noch hinein!« Ich sah sie zweifelnd an. »Für wie d u m m hältst du ihn?«, fragte ich sie. »Was glaubst du, was er macht? Einfach über den Rand hinaus laufen?« Z e h n Sekunden später tat er genau das und landete mit einem gewaltigen Platschen im Wasser. W i r mussten ihn mühsam retten und wieder auf die M a u e r u n d damit auf festen Boden zerren. Einige Tage später fuhr ich gerade zu einem Gesprächstermin, als mir auf einmal eine andere Szene aus der ersten Zeit unserer E h e einfiel: W i r planten ein romantisches Wochenende in einem kleinen Häuschen auf Sanibel Island, das war, bevor die Kinder kamen. N u r das Brautpaar - und Marley. Ich hatte diese Episode vollkommen vergessen, und plötzlich war sie wieder da, klar und deudich: W i e wir im Auto fuhren, er zwischen uns, und wie er ab und zu den Schalthebel mit der Schnauze in den Leerlauf schob. W i e wir ihn nach einem Tag am Strand in unserem gemieteten Haus in der W a n n e badeten und überall Sand, Wasser und Seifenlauge verteilten. U n d wie J e n n y und ich uns später unter den kühlen Baumwolllaken liebten, während die Meeresbri342
se hereinwehte und Marleys Otterschwanz gegen die M a t ratze schlug. Er spielte in einigen der glücklichsten Kapitel unseres Lebens die Hauptrolle. Kapitel, die von junger Liebe und neuen Anfängen erzählten, von ersten beruflichen Erfolgen und kleinen Babys. Von berauschenden Erfolgen und schweren Enttäuschungen, von Entdeckergeist und Freiheit und Selbstverwirklichung. Er trat in unser Leben, als wir gerade dabei waren, herauszufinden, was wir damit eigentlich anfangen wollten. Er kam zu uns, als wir gerade anpackten, was jedem Pärchen irgendwann bevorsteht, nämlich zwei verschiedene Vergangenheiten zu einer gemeinsamen Zukunft zu verweben. Er wurde Teil unserer Verschmelzung, ein fein gesponnener, unauftrennbarer Faden in unserem gemeinsamen Leben. U n d genau wie wir ihn zu unserem Familienhund gemacht hatten, half er mit, aus uns ein Paar, Eltern, Tierliebhaber und erwachsene Menschen zu machen. Trotz allem, trotz aller Enttäuschungen und unerfüllten Erwartungen hatte Marley uns ein Geschenk gemacht, das unbezahlbar und umsonst zugleich war. Er lehrte uns die Kunst der unbedingten Liebe. W i e man sie gibt und wie man sie annimmt. Wo das möglich ist, ergibt sich vieles von selbst. Im Sommer nach Marleys Tod installierten wir einen Swimmingpool, und ich musste daran denken, wie sehr Marley, unser unermüdlicher Seehund, ihn geliebt hätte, vielleicht mehr als wir alle, auch wenn er die W a n d mit seinen Krallen zerkratzt und den Filter mit seinen H a a r e n verstopft hätte. Jenny staunte, wie leicht sich ein H a u s o h n e einen sabbernden, haarenden und manchmal vor Schmutz starrenden H u n d sauber halten ließ. Ich musste zugeben, dass es angenehm war, barfuß durchs Gras zu laufen, o h n e darauf achten zu müssen, wo man hintrat. D e r Garten war eindeu343
tig in besserem Zustand, wenn kein großer Kaninchenjäger mit schweren Pfoten hindurchpflügte. Kein Zweifel, das L e ben ohne H u n d war in vieler Hinsicht viel einfacher. W i r konnten einfach übers Wochenende wegfahren, ohne einen Hundesitter zu organisieren. W i r konnten abends essen gehen, o h n e uns Sorgen darüber zu machen, welches Familienerbstück diesmal in Gefahr war. Die Kinder konnten essen, ohne auf ihre Teller aufpassen zu müssen. W i r brauchten den Abfalleimer nicht auf den Küchentisch zu stellen, wenn wir das H a u s verließen. U n d wir konnten uns wieder zurücklehnen und in aller Ruhe das erstaunliche Schauspiel eines schweren Gewitters betrachten. Vor allem genoss ich die Freiheit, durchs H a u s zu streifen, ohne dass mir ein großer hellbrauner M a g n e t an den Fersen hing. U n d trotzdem war unsere Familie nicht ganz vollständig. Als ich eines M o r g e n s im Spätsommer zum Frühstück herunterkam, reichte mir J e n n y einen Teil der Zeitung. Er war so gefaltet, dass einem eine der hinteren Seiten gleich ins Auge fiel. » D u wirst es nicht glauben«, sagte Jenny. Einmal pro Woche stellte unsere Lokalzeitung einen H u n d aus dem Tierheim vor, der ein neues Zuhause suchte. Zu der Anzeige gehörte immer ein Foto des Hundes, sein N a m e u n d eine kurze Beschreibung in der ersten Person, als würde sich das T i e r selbst vorstellen und dabei natürlich seine Schokoladenseiten betonen. Auf diese Weise versuchten die Leute vom T i e r h e i m ihre Schützlinge so liebenswert wie möglich darzustellen. W i r amüsierten uns immer über H u n deporträts, nicht zuletzt, weil dahinter der Versuch stand, ungeliebte Tiere, die schon mindestens einmal Pech gehabt hatten, möglichst gut wegkommen zu lassen. An diesem Tag starrte mich von dem Foto ein Gesicht an, das ich sofort wiedererkannte. U n s e r Marley. O d e r zumin344
dest ein H u n d , der sein eineiiger Zwilling hätte sein können. Ein großer, hellbrauner Labradorrüde mit kantigem Kopf, schrägen Augenbrauen und halb aufgestellten Schlappohren. Er starrte direkt in die Kamera, und von seinem Blick ging eine zitternde Intensität aus. M i r war klar, dass er sofort nach dem Klick den Fotografen umgerannt und die Kamera gefressen hatte. U n t e r dem Foto stand sein N a m e : Lucky. Ich las seine Vorstellung laut vor. Lucky hatte Folgendes über sich zu sagen: »Voll auf Draht! Ich würde in ein ruhiges Zuhause passen, wo ich lernen kann, meine Energie zu zügeln. Ich hatte es bisher nicht einfach im Leben, deswegen muss meine neue Familie Geduld mit mir haben u n d mir behutsam H u n d e m a n i e r e n beibringen.« »Mein Gott!«, rief ich aus. » E r ist es! Er lebt!« »Wiedergeburt«, sagte Jenny. Es war unheimlich, wie sehr Lucky Marley ähnelte u n d wie sehr die Beschreibung auf Marley passte. Voll auf Draht? Probleme, die Energie zu zügeln? H u n d e m a n i e r e n beibringen? Geduld erforderlich? W i r wussten genau, was hinter diesen Floskeln steckte, denn wir hatten sie ja selbst verwendet. Unser seelisch unausgeglichener H u n d war zurück, jung und kräftig und wilder als je zuvor. W i r standen beide einfach nur da und starrten stumm auf die Zeitung. »Ich denke, wir könnten ihn uns ja mal anschauen«, meinte ich schließlich. » N u r so zum Spaß«, fügte J e n n y hinzu. »Genau. N u r aus Neugier.« »Anschauen kostet ja nichts.« »Nein, überhaupt nichts«, bestätigte ich. »Tja«, sagte Jenny, »warum also nicht?« »Was haben wir zu verlieren?«
NACHWORT
UND
DANKSAGUNG
N
iemand lebt im luftleeren Raum, auch ein Schriftsteller nicht, und ich würde gerne den vielen L e u t e n danken, mit deren Unterstützung dieses Buch entstanden ist. Zuallererst möchte ich meiner Agentin meine tiefste Anerkennung aussprechen, der talentierten und unermüdlichen Laurie Abkemeier von DeFiore and Company, die an diese Geschichte und an meine Fähigkeit, sie zu erzählen, glaubte, als ich es selbst noch nicht tat. Ich bin überzeugt, dass dieses Buch ohne ihre Begeisterung und Betreuung immer noch ungeschrieben in meinem Kopf herumspuken würde. Danke, Laurie, dass du meine enge Beraterin, meine Anwältin und meine Freundin bist. Mein tief empfundener D a n k geht an meinen wunderbaren Lektor, M a u r o DiPreta, der durch seine vernünftige u n d kluge Überarbeitung hieraus ein besseres Buch gemacht hat, und an die stets gut gelaunte Joelle Yudin, die sich um alle Details kümmerte. D a n k auch an Michael Morrison, Lisa Gallagher, Seale Ballenger, Ana Maria Allessi, Christine Tanigawa, Richard Aquan und alle in der HarperCollinsGruppe, die sich in Marley und seine Geschichte verliebt und meinen Traum wahr gemacht haben. Ich stehe auch in der Schuld bei meinen Redakteuren des Philadelphia Inquirer, die mich aus meinem selbst auferlegten Exil ins Zeitungsgeschäft zurückgeholt haben, das ich so 347
liebe, und die mir das unschätzbare Geschenk einer eigenen Kolumne in einer der größten Zeitungen Amerikas gemacht haben. Außerdem möchte ich noch Anna Quindlen danken, deren frühe Begeisterung und Ermutigung mir mehr bedeutet haben, als sie sich vorstellen kann. Ein herzliches Dankeschön auch an J o n Katz, der mir wertvolle Ratschläge und Feedback gegeben hat, und dessen Bücher, vor allem A Dog Year: Twelve Months, four dogs and me, mich inspiriert haben. U n d an J i m Tolpin, einen viel beschäftigten Anwalt, der immer die Zeit fand, mich umsonst und klug zu beraten. An Pete und M a u r e e n Kelly, deren Freundschaft - und ihr H a u s mit Aussicht auf den Lake H u r o n - das Stärkungsmittel war, das ich brauchte. An Ray und JoAnn Smith, weil sie da waren, als ich sie am meisten brauchte, und an Timothy R. Smith für die schöne Musik, die mich zum Weinen brachte. An Digger D a n für die dauernde Versorgung mit Rauchfleisch, und an meine Geschwister, Marijo, T i m o t h y und Michael Grogan, für ihre begeisterte Unterstützung. An Maria Rodale, weil sie mir einen geliebten Familienschatz anvertraute und mir half, mein Gleichgewicht zu finden. An alle Freunde und Kollegen, die ich hier aus Platzgründen gar nicht alle aufzählen kann, für ihre Freundlichkeit, Unterstützung und guten W ü n s c h e ... Danke euch allen. Dieses Projekt wäre undenkbar gewesen ohne meine Mutter, Ruth Marie H o w a r d Grogan, die mir schon früh die Freude an einer guten und gut erzählten Geschichte gezeigt hat und mir ihre Begabung, Geschichten zu erzählen, vererbt hat. M i t Trauer und Ehrfurcht möchte ich hier an meinen größten Fan erinnern, meinen Vater Richard Frank Grogan, der am 23. Dezember 2004 gestorben ist, als dieses Buch gerade in Druck ging. Er bekam nie die Gelegenheit, 348
es zu lesen, aber ich konnte eines Abends, als es ihm nicht gut ging, bei ihm sein und ihm einige Kapitel daraus vorlesen, die ihn zum Lachen brachten. An dieses Lächeln werde ich mich immer erinnern. Ich stehe tief in der Schuld meiner reizenden und geduldigen Ehefrau Jenny und meiner Kinder Patrick, C o n o r u n d Colleen, weil sie mir erlaubten, sie ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken und die intimsten Einzelheiten preiszugeben. Ihr seid die Besten, und ich liebe euch mehr, als ich es sagen kann. Schließlich (diesmal wirklich) muss ich meinem unerträglichen vierbeinigen Freund danken, ohne den es kein Marley und ich geben würde. Er würde sich freuen zu hören, dass seine Schulden wegen der zerstörten Matratzen, eingerissenen Zwischenwände und verschluckten Schmuckstücke n u n offiziell beglichen sind.