M. M. KAYE
Mein Rudyard-Kipling-Buch Die schönsten Erzählungen vom Autor des »Dschungelbuchs«
Vollständig ins Deutsch...
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M. M. KAYE
Mein Rudyard-Kipling-Buch Die schönsten Erzählungen vom Autor des »Dschungelbuchs«
Vollständig ins Deutsche übertragen und mit einem Anhang versehen von Hugo Schrath
GOLDMANN VERLAG
Der Goldmann Verlag ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Bertelsmann Made in Germany • 5/90 • 1. Auflage
Copyright © für die Zusammenstellung der Erzählung und die Einführung von M. M. Kaye: 1990 by M. M. Kaye Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag Copyright © für den Anhang: 1990 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlaggestaltung: Design Team München Umschlagillustration: Michl, München Satz: Uhl+Massopust, Aalen Druck: Elsner-Druck, Berlin Verlagsnummer: 9767 Lektorat: Georg Reuchlein Herstellung: Gisela Ernst ISBN 3-442-09767-3
M. M. Kaye, die große alte Dame der angloindischen Literatur, hat mit Romanen wie Palast der Winde oder Inseln im Sturm ein Millionenpublikum begeistert. Eine intime Kennerin seines Werkes, hat sie für diesen Band zwölf der schönsten Erzählungen ihres Landsmanns und bewunderten Vorbilds Rudyard Kipling ausgewählt und mit einem Vorwort versehen. Die Geschichten dieses Bandes zeigen die ganze erzählerische Spannbreite Rudyard Kiplings: den Autor unvergeßlicher Liebesgeschichten ebenso wie den Verfasser unheimlicher Schauergeschichten aus dem geheimnisumwobenen Indien der Kolonialzeit oder den Dichter bezaubernder und zutiefst weiser Tiergeschichten aus dem Dschungelbuch, das ihn bis heute weltberühmt gemacht hat. Rudyard Kipling, längst ein Klassiker der angloindischen Literatur, ist, dies zeigt dieses Buch erneut, ein Geschichtenerzähler ersten Ranges, dessen Werke in einzigartiger Weise eine fast versunkene Welt und einen faszinierenden Kontinent noch einmal lebendig werden lassen. Für diese Ausgabe eigens neu übersetzt und mit einem erläuternden Anhang versehen, erlauben diese Geschichten auch einen frischen Blick auf das Œuvre dieses großen Autors. Sie lassen einen Schriftsteller erkennen, der alles andere ist als ein Verfasser bloß lieblichharmloser Tiergeschichten, wie wir sie aus Walt Disneys Zeichentrickfilm zu kennen glauben. Selbst in seinen scheinbar
»gefälligsten« Werken entpuppt sich Kipling bei näherem Hinsehen vielmehr als ein unbestechlicher und kompromißloser Beobachter und genauer Kenner des menschlichen Herzens; als ein Dichter, der, bar jeder kolonialistischen Arroganz, den Zauber und die Magie des alten Indien ebenso kannte wie seine gefährlichen und dunklen Seiten.
Diese Übertragung ins Deutsche ist Siebenstern gewidmet.
HUGO SCHRATH
Mein Kipling von M. M. Kaye
Ich kann mit Fug und Recht sagen, daß ich fast mein ganzes Leben lang ein Kipling-Fan war. Denn ich war kaum mehr als fünf Jahre alt, als mein Vater mir Das Dschungelbuch vorlas, und von da an sah ich RUDYARD KIPLING als den Namen einer Macht an. Einer, der wie Keats’ Nachtigall den Schlüssel aushändigen kann zu »magischen Fensterläden, die sich auf die Gischt gefährlicher Seen, verloren in Märchenlanden, öffnen«. Die Tatsache, daß die Märchenlande, über die Kipling schrieb, meistens indische waren, hat wahrscheinlich eine Menge mit meiner frühen Verzauberung durch seine Erzählungen zu tun. Denn ich hatte, wie er, das große Glück, in jenem gefährlich magischen Land geboren zu werden, und bis heute nehme ich, wann immer ich nach ihm Heimweh empfinde, meine alte zerlesene Ausgabe seines Meisterwerks Kim zur Hand – jenen wunderbaren Liebesbrief, den er an Indien schrieb – und lese es wieder: vielleicht zum hundertsten Mal, immer aber mit dem gleichen Entzücken wie damals, als ich, ein heimwehkranker Teenager, der nach England zurückgebracht worden war, um in einem Internat erzogen zu werden, es in der Schulbücherei fand und von ihm bei der ersten Lektüre sofort getröstet wurde. Denn hier lag das ganze Indien in meiner Hand! Für jeden, der einmal in Indien gelebt hat, aber auch für manchen Leser, der niemals einen Fuß in jenes wunderschöne, bezaubernde Land gesetzt hat, das einen oft verrückt machen kann und manchmal erschreckt, besitzt Kim eine starke Magie.
Das gleiche kann von vielen der Kurzgeschichten Kiplings gesagt werden, doch als ich gebeten wurde, für dieses Buch ein Dutzend auszuwählen, habe ich vor allem solche gewählt, die in Indien spielen, denn sie kommen mir – in Kiplings Worten – immer vor wie Erzählungen von »meinem eigenen Volk«. Unter den Geschichten, die ich ausgewählt habe, können vier als Geistergeschichten eingeordnet werden – und eine davon, Imrays Rückkehr, gehört zu denen, bei denen es mich eiskalt überrieselt, wenn ich sie lese. Weitere vier handeln von Tieren, und nochmals vier handeln von Menschen – von einem Sanyassin, einem heiligen Wanderer; von einem britischen Chefingenieur, dem der Bau einer Brücke über den Ganges anvertraut ist; von Mowgli dem Wolfssohn, dem inzwischen erwachsenen Kindhelden aus den »Dschungelbüchern«; und schließlich von der kurzen, bittersüßen Liebe eines Engländers zu einer jungen Inderin. Nur zwei dieser zwölf Geschichten spielen nicht in Indien: Sie in England, in Kiplings heimischer Grafschaft East-Sussex, und Der Stier, der dachte in Frankreich, in der Camargue und der Crau. Hemingway rühmt den Stierkampf als große Kunst. Und vielleicht ist er das auch, aber mich selbst hat er immer abgestoßen. Als Zuschauersport ist er fast ebenso unfair wie die Entsendung wehrloser Christen gegen ein Rudel hungriger Löwen im Colosseum des antiken Rom. Kein unglücklicher Christ hat je, soviel man weiß, jene blutbefleckte Arena lebend verlassen, und kein Kampfstier verläßt die Arena anders denn als Leiche auf dem Wege, aufgeschnitten und als Fleisch verkauft zu werden. So ist die Idee eines Stieres, der denken kann und ein ebenso kaltblütiger Killer ist wie die Männer, die ihn nicht nur herausfordern, sondern ihn auch noch aufhetzen, traurige, abgetriebene und mit Scheuklappen versehene alte Pferde anzugreifen und zu zerfleischen, damit er seine Nackenmuskeln ermüde und es so dem Matador leichter
mache, ihn zu töten, erfrischend originell. Und außerdem ist die Art, in der die Geschichte von einem älteren Franzosen erzählt wird, Kipling vom Besten. Wie in seinen Dschungelbüchern gibt Kipling seinen Tieren menschliche Wesenszüge – etwas, dem seine Kritiker oft widersprochen haben. Wann aber hat irgend jemand, der irgendwann einmal ein Tier oder einen Vogel besessen und geliebt hat – oder auch nur einen Goldfisch –, nicht daran gedacht, daß sie die gleichen Gefühle haben wie wir, oder ihnen zugetraut, daß sie denken wie wir? Richtig, Apis ist ein Mörder. Aber er kämpft um sein Leben gegen Männer, die ihn nach seinen kämpferischen Qualitäten ausgesucht und ihn in die Arena getrieben haben, damit er dort zur Unterhaltung von Hunderten blutgieriger Menschen getötet werde, die dafür bezahlt haben, ihn sterben zu sehen. Es ist heilsam zu sehen, wie er das Spiel gegen sie wendet. Ich habe die andere nichtindische Geschichte, Sie, mit aufgenommen, weil sie mit der größten Tragödie in Kiplings Leben zu tun hat; einer Tragödie, die sein Denken und sein Wesen mit Sicherheit verändert hat und die schwerer zu ertragen gewesen sein muß als der Tod seines einzigen Sohnes sechzehn Jahre später an der Front. Er und seine siebenjährige Tochter Josephine, die sein Augapfel und das Herz seines Herzens war, erkrankten an Lungenentzündung, die sie sich im Gefolge einer Erkältung und schwerer Seekrankheit auf einer erschreckend rauhen Winterreise von London nach New York zugezogen hatten. Rudyard, damals auf dem Gipfel seines Ruhmes, war dem Tode so nahe, daß die Straßen um das Hotel, in dem er krank lag, mit Tannenborke bestreut wurden, damit ihn der Verkehrslärm nicht störe. Stündlich wurden Bulletins über seinen Zustand an die wartende Presse gegeben, in den Kirchen wurde für seine Gesundung gebetet, und Menschen knieten in den Straßen und in den Korridoren seines Hotels
nieder, um für ihn zu beten, während Telegramme, Telefonanrufe und Botschaften – darunter mehrere des deutschen Kaisers – aus der ganzen Welt eintrafen, in denen nach Neuigkeiten gefragt und Mitgefühl und Ermutigung übermittelt wurden. Wäre er regierender Monarch oder ein moderner Filmstar erster Ordnung gewesen – er hätte nicht mehr internationales Interesse erregen können. Und schließlich genas er; nicht aber die kleine Josephine, die immer ein zartes Kind gewesen war. Der Tod seiner angebeteten Erstgeborenen war ein Schlag, von dem der Vater sich nie mehr erholte, und es ist behauptet worden, Rudyard habe sein erstes Haus in Sussex, »The Elms« in Rottingdean, aufgegeben, weil es zu viele Erinnerungen an sie barg. Das ist so nicht wahr: nicht die Erinnerung an Josephine trieb ihn dazu, »The Elms« zu verlassen, sondern die Tatsache, daß das Haus zu leicht für Schaulustige und Touristen zugänglich war, die sich draußen versammelten und über die Hecken in die Vorderfenster starrten in der Hoffnung, einen Blick auf den großen Mann zu erhaschen. Gewiß ist allerdings, daß »The Elms« für ihn verwünscht war, denn er erzählte seiner Mutter, daß er das Kind überall sehe, wie es durch seine Zimmer laufe, im Garten spiele, in einem leeren Stuhl sitze… Er ließ sie gleichwohl nicht zurück, als er knapp drei Jahre nach ihrem Tode ein einsameres Haus erwarb, »Batemans«, das ihm für den Rest seines Lebens Heim war. Denn Leute aus der Gegend erzählen, er habe es gekauft, weil er glaubte, Josephine blicke aus einem der oberen Fenster auf ihn herab. Seine Cousine, die Schriftstellerin Angela Thirkell, bemerkt, als sie über den Tod des Kindes berichtet: »Viel von dem geliebten Vetter Ruddy unserer Kinderjahre starb mit Josephine und ich habe den Eindruck, daß ich ihn seit jenem Jahr nie mehr als eine wirkliche Person gesehen habe.« Armer
Ruddy! Ich neige zu der Annahme, daß ihm ein Vorfall, wie er ihn am Ende von Sie beschreibt, selbst widerfahren ist; wahrscheinlich in »The Elms«. Aber auch ich glaube an Geister. Man kann nicht in Indien geboren werden und die prägenden Kindheitsjahre sowie einen guten Anteil des Erwachsenenlebens dort verbringen, ohne die Wahrheit von Shakespeares berühmtem Dictum zu erkennen, daß »es mehr Dinge im Himmel und auf Erden gibt, Horatio, als Deine Philosophie sich träumen läßt«. Mündliche Botschaft, eine von Kiplings Geistergeschichten, die ich in dieses Buch aufgenommen habe, wurde ursprünglich als Spaltenfüller geschrieben, als er als Anfängerreporter für die Civil and Military Gazette in Lahore arbeitete. Eine Sammlung dieser Spaltenfüller bildete eines seiner ersten Bücher; er nannte es Plain Tales from the Hills (Einfache Geschichten aus den Bergen; Kalkutta 1888, London/New York 1890), und es machte ihn berühmt. Mein Vater – den ich aus irgendeinem vergessenen Grund immer Tacklow nannte – war nur zwei Jahre jünger als Kipling, und da in seiner Familie die Tradition des Indiendienstes bestand, tauchte er schließlich auch in diesem Lande auf; zu einer Zeit, als die Spaltenfüller des jungen Rudyard bereits ziemlich regelmäßig in der Civil and Military Gazette erschienen. Tacklow war von ihnen so fasziniert, daß er sie auszuschneiden begann und in ein auf dem Bazar erstandenes Album klebte, ein Schatz, den er sein ganzes Leben hütete. Nur sehr wenige von ihnen waren gezeichnet, und dann nur mit den Initialen R. K. – ein sehr bekanntes Gedicht Pagett, M. P. (Pagett, Parlamentsabgeordneter) erschien zuerst in dieser Zeitung, gezeichnet Ein Engländer (jetzt in: Departmental Ditties and Other Verses, etwa: Liedchen aus der Abteilung und andere Gedichte; Lahore 1886, London, Kalkutta und New York 1890). Tacklow hatte
deshalb keine Ahnung, wer sie geschrieben hatte, bis Thacker & Spink die ersten Ausgaben der Plain Tales druckte, die als Paperbacks in jeder Bahnhofsbuchhandlung Indiens für eine Rupie zu haben waren. Tacklow kaufte sie ebenso wie alle späteren Eisenbahn-Paperbacks von Rudyard Kiplings Büchern. Heute dürfte ihr Wert den von Rubinen übersteigen. Aber leider wurden ein oder zwei Jahre nach dem Tod meines Vaters alle seine Bücher zusammen mit fast unserem gesamten Haushalt von einem furchtbaren Brand zerstört, der das Londoner Lagerhaus verschlang, in dem sie untergebracht waren. Ich habe Mündliche Botschaft aus zwei rein persönlichen Gründen ausgewählt; erstens wegen der Verse, die Kipling als Begleitung schrieb, und zweitens wegen ihrer Beschreibungen der Waldstraße, die von Simla nach Chini führt, und des frostigen, windumtosten dâk-Bungalows auf dem Berggipfel bei Bargi. (Ein dâk-Bungalow ist ein Rasthaus; wörtlich bedeutet der Begriff eigentlich »Post-Bungalow«, da er ursprünglich, in jenen Zeiten, da die Post noch zu Fuß ausgetragen wurde, für Postläufer errichtet wurde.) Meine Schwester und ich wurden in Simla geboren, das in den Tagen des Reiches Sommerhauptstadt Indiens war, und einst hatten wir ein Haus auf einem Kamm der Berge unmittelbar über jener Straße. Während der beiden Jahre, die wir dort lebten, unternahmen meine Eltern oftmals Picknick-Ausflüge mit uns nach Fargu und Bargi, die damals genau so aussahen, wie Kipling sie in dieser Geschichte beschreibt; heute allerdings gibt es eine Autostraße an der Stelle des alten unbefestigten Pfades, den Händler aus Tibet und der Mongolei seit Jahrhunderten benutzten, um ihre Waren nach Indien zu bringen. Wie Somerset Maugham pflegte auch Kipling wahre Geschichten zu sammeln und sie als fiktive niederzuschreiben.
Und ich bezweifle nicht, daß ihm die Geschichte, aus der er Mündliche Botschaft machte, von einem Freund oder Zufallsbekannten erzählt wurde, der den wirklichen Dumoise gekannt hat. Ich selbst habe eigenartige Erzählungen gehört und habe keinen Anlaß, sie nicht zu glauben. Einige der eigenartigsten drehten sich um Elefanten… Während der letzten Jahre des 19. Jahrhunderts, als der noch junge Tacklow gerade in Indien angekommen war, benutzte er eine Reitelefantin, wann immer er auf Jagdurlaub in den Terai zog – eine weite Landschaft aus Dschungel und hohem Gras, die sich Hunderte von Meilen zu Füßen der Himalayas hinzieht, aber heute wie die Regenwälder Südamerikas vom Menschen systematisch zerstört wird. Seine Reitelefantin hieß Pramekulli, und Tacklow erzählte mir endlose Geschichten über ihre Weisheit und Klugheit und ihre bezaubernden Manieren. Er hätte sie über alles gerne besessen; aber leider konnten sich nur Fürsten, Forstbeamte oder Besitzer sehr großer Güter einen eigenen Elefanten halten, da deren tägliche Futtermengen jeden Städter ruiniert hätten, genauso wie jeden, der in kargen Landstrichen lebte, wo es keine Wälder oder Grasländer gab und Ernten hart erarbeitet werden mußten. Als ich als Kind in Old Delhi war, zu einer Zeit, da New Delhi kaum mehr als ein Grundriß in einer leeren steinigen Ebene war, befreundeten meine Schwester und ich uns mit einem Elefanten, der zu einem Reisezirkus gehörte. Wir brachten ihm Kuchen und Früchte als Geschenke, und wir gewannen ihn wegen seiner Angewohnheit lieb, uns mit einem lauten und fröhlichen »Tuut! Tuut!« zu begrüßen. Eines Jahres dann, als wir aus den Bergen zurückkamen, wo wir die heißen Monate verbracht hatten, waren unser Elefant und sein mahout (Lenker) nicht mehr an ihrem angestammten Platz, und niemand wußte, wohin der Zirkus gezogen war. Zwei Jahre lang waren sie fort; aber als sie dann doch wieder auftauchten,
grüßte uns der Elefant schon von weitem mit begeisterten Tuut-Stößen – zweifellos in Erwartung weiterer Geschenke! Wenn das nicht die Wahrheit des alten Sprichwortes beweist: »Ein Elefant vergißt niemals.« Dieser jedenfalls vergaß uns nicht, und aus liebevoller Erinnerung an diese liebenswerten Tiere habe ich zwei Geschichten über sie in dieses Buch aufgenommen: Toomai von den Elefanten und Moti Guj – Meuterer. Roter Hund und Im Rukh sind beides Geschichten um Mowgli, den Kindhelden der Dschungelbücher, den Freund der Wölfe, die ihn aufgezogen hatten. Das Dschungelbuch und Das zweite Dschungelbuch enthalten insgesamt acht Geschichten um Mowgli und sieben weitere Erzählungen. Fünf dieser sieben handeln von Tieren, und zwei weitere befassen sich mehr mit Menschen als mit einem bestimmten Tier: Toomai von den Elefanten handelt hauptsächlich von einem kleinen Jungen, dem Sohn eines mahout, der hofft, eines Tages Elefantenspürer zu werden, während Dewan Sir Purun Daß, K. C. I. E. »Premierminister eines nicht kleinen Staates« in Das Wunder des Purun Bhagat ein Mann ist, der alle seine Ehren ablegt und sich auf der Höhe seiner Laufbahn zurückzieht, um die Bettelschale zu nehmen und ein bhagat zu werden, ein wandernder heiliger Mann. Ich habe diese beiden Geschichten in das Buch aufgenommen, weil sie immer zu meinen Lieblingsgeschichten gehörten, vor allem die letzte. Denn die Bergstraße, die in die Berge jenseits von Simla führt, ist die gleiche, die der Zivilarzt Dumoise in Mündliche Botschaft nahm; und ich kann mir jede Meile dieser Straße vorstellen, wie er und Purun Bhagat sie gesehen haben, und ich schätze mich glücklich, daß ich früh genug geboren wurde, um diese Straße noch erlebt zu haben, ehe Lastwagen, Busse, Jeeps und Privatautos auf ihr entlangröhrten!
In Rudyards Tagen, und auch noch in meinen, konnte man über diese liebliche, einsame Straße meilenlang gehen oder reiten, ohne irgendein Zeichen von Leben zu sehen außer einem gelegentlichen Holzfäller, der mit einem Bündel Brennholz auf dem Rücken dahintrottete, und manchmal einem Blitz aus gelbem geflecktem Fell, der in der Ferne über die schattenfleckige Straße huschte, wenn ein Leopard geräuschlos über sie sprang. Manchmal wirbelte ein Trupp Affen wie die Raufbolde bergab, und immer war da ein einsamer Adler, der auf einer Luftströmung hoch droben balancierte. Es war immer nur einer, aber mit den Adlern war es vermutlich das gleiche wie mit den Geiern in den Ebenen, von denen Kipling sagt, daß, wenn irgendeine Kreatur stirbt, »der Geier herabstößt, und der nächste Geier Meilen entfernt sieht ihn herabstoßen und folgt ihm, und der nächste und der nächste, und noch ehe sie tot sind, ist eine Horde hungriger Geier aus dem Nichts gekommen«. Was einem jedoch am stärksten auffiel, war das Schweigen: das ist etwas, das immer seltener und rarer in einer lärmenden Welt wird, die stündlich von Dutzenden Düsenflugzeugen kreuz und quer überflogen wird, bis selbst die Eisbären nicht mehr genügend Interesse aufbringen, um aufzuschauen, wenn eines von ihnen über den Nordpol fliegt. An windigen Tagen waren die Wälder voller Geräusche, und während des Monsuns brüllten die Berghänge vom niederstürzenden Regen. Das Getöse, das ein Sturm entfesseln konnte, war indessen wahrhaft schreckerregend, wenn die Donnerschläge zwischen den Schallwänden der Berge hin und her rollten. Bei ruhigerem Wetter konnte die kleinste Brise die Fichtennadeln flüstern machen, aber an windstillen Tagen war die Stille so tief, daß man buchstäblich ein Blatt fallen hören konnte. Aber das ist vorbei. Henry Ford und die Verbrennungsmotoren in aller Welt haben dem schon vor langer Zeit ein Ende bereitet. Doch ich kann immer noch vor
meinem geistigen Auge Purun Bhagat sehen, wie er in der orangenfarbenen Robe eines Sanyassin und mit der Bettelschale zum verlassenen Schrein auf dem Kamm eines Passes emporsteigt und zu sich sagt: »Hier werde ich Frieden finden.« Ich kannte die frühen Mowgli-Geschichten seit der Zeit, da Tacklow mir laut aus dem Dschungelbuch vorlas, aber obwohl ich schon über zehn war, als ich Das zweite Dschungelbuch las, kamen mit noch die Tränen beim Tode Akelas, des einsamen Wolfes in Roter Hund, und bei der Schlußerzählung Das Frühlings-Laufen, die ich zwar nicht richtig verstand, aber für sehr traurig hielt, denn sie erzählt, wie Mowgli Akelas Prophezeiung erfüllt, daß er eines Tages zu seiner eigenen Art zurückkehren werde und daß er besser gehe, ehe er vertrieben werde. Diese Geschichte, die ich nicht in diese Auswahl aufgenommen habe, erzählt, wie Mowgli getrieben wurde, zu den Menschen zurückzukehren, und wie Grauer Bruder und die anderen drei Wölfe, die in allem außer nach dem Blute seine Brüder waren, mit ihm gingen. Sie endet damit, daß Grauer Bruder nach dem Morgenwind schnuppert und sagt: »Wo werden wir heute lagern? Denn von nun an folgen wir neuen Fährten.« Darunter steht eine Reihe von Punkten, und unter die hat Kipling geschrieben: »Und dies ist die letzte der Mowgli-Geschichten.« Das stimmte in gewisser Weise. Tatsächlich aber gibt es noch eine andere Mowgli-Geschichte: Im Rukh, die ich in diese Sammlung aufgenommen habe, weil sie mich an unsere Jagdlager in Indien zur Weihnachtszeit erinnert; und auch, weil Tacklow den wirklichen Generalinspektor Muller kannte und bewunderte (das ist nicht sein richtiger Name; vermutlich wurde er mir genannt, aber wenn ja, so habe ich ihn vergessen), das Oberhaupt der indischen Forstverwaltung, und mir Geschichten über ihn zu erzählen pflegte. Im Rukh ist eine
Geschichte von dem bereits erwachsenen Mowgli und seinen vier Wolfsbrüdern, und sie steht in einem Band mit Kiplings Kurzgeschichten, den er Many Inventions (Mancherlei Schliche) genannt hat. Ich erinnere mich, wie entzückt ich war, als ich sie fand, denn sie schließt die Mowgli-Geschichten so schön ab. Und auch, weil ich Das Frühlings-Laufen nicht wirklich mochte und mich traurig und irgendwie im Stich gelassen fühlte, weil die Erzählungen so abrupt geendet hatten. Es war herrlich, Mowgli und seinen vier Brüdern wieder zu begegnen und zu erfahren, daß es ihnen gutging. Indien ist voller Geschichten über Kleinkinder, die im Dschungel verloren gehen und von Wölfen (fast immer sind es Wölfe!) gefunden und aufgezogen und deren Freunde werden, und während der späten dreißiger Jahre berichteten indische Zeitungen über wenigstens zwei Fälle von Kindern, die im Dschungel gefunden und dem nächsten Missionskrankenhaus zur Pflege übergeben worden waren; das eine Mal über einen Knaben von sechs oder sieben Jahren und das andere Mal über zwei kleine Mädchen, vermutlich Schwestern. Kipling wird einer Geschichte von Wolfskindern begegnet sein (vielleicht beim wirklichen »Muller«, der viele von ihnen gehört haben mag) und sie für eine spätere Verwendung beiseite gelegt haben. Nach Charles Carrington (Rudyard Kipling: His Life and Work, Macmillan, London 1955) verwendete er sie für Im Rukh, eine der Kurzgeschichten in Many Inventions, das 1893 veröffentlicht wurde – ein Jahr vor dem Dschungelbuch und zwei Jahre vor dem Zweiten Dschungelbuch, in denen die Geschichte des Wolfskindes Mowgli erzählt wird. Obwohl sie also als erste erschien, hat Kipling sie in Wirklichkeit erst geschrieben, nachdem er die Saga von Mowgli beendet hatte; vielleicht während er darauf wartete, daß sein Vater die Illustrationen für diese herrlichen Bücher beendete?
Von den übrigen drei Erzählungen in dieser Sammlung ist Ohne Kirchenrecht, eine weitere Erzählung aus Life’s Handicap (Die Schwierigkeiten des Lebens), meine Lieblingsgeschichte. Sie erzählt von dem kurzen Glück eines Engländers, der seiner bezaubernden muslimischen Geliebten ein Haus in der Inderstadt einrichtet. Die Liebesgeschichte endet tragisch: Ameera, die sich geweigert hatte, für die heiße Zeit in die Berge zu gehen, erkrankt tödlich, als die Temperaturen steigen und Cholera in der Stadt wütet. Das ist alles. Mir ist diese schlichte Erzählung immer als eine der schönsten und anrührendsten Liebesgeschichten erschienen, und die letzten Worte des sterbenden Mädchens zu ihrem Geliebten, als sie das große muslimische Glaubensbekenntnis »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Gott« abwandelt in: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer – Dir, Liebster!« ist für mich die bewegendste Liebeserklärung, die ich kenne. Die verlorene Legion ist abermals eine Geistergeschichte, die Kipling ebenfalls in seinen frühen Tagen als Reporter erzählt worden sein muß, denn sie beruht auf einer Erzählung, die lange Zeit Teil der Grenzlandlegenden war. Noch in den frühen Dreißigern konnte man in Peshawar, Nowshera, Rissalpur und Mardan – Garnisonsstädten der angloindischen Armee – Menschen treffen, die sie von ihren Vätern oder Großvätern gehört hatten und sie als selbstverständlich hinnahmen. Zumindest die Grenzvölker glaubten sie: diese Geschichte eines indischen Kavallerieregiments (Kipling nennt es ein Regiment Indischer Irregulärer Kavallerie), das im Frühjahr 1857 meuterte und nach Süden abmarschierte in der Absicht, sich den Aufrührern anzuschließen, die Delhi erobert hatten, dann aber nach Norden in die Kyber-Berge abgedrängt wurde, wo die Stammeskrieger über es herfielen und es wegen seiner Waffen und Ausrüstung zu Tode hetzten.
Ich habe einmal einen älteren Bekannten, einen pensionierten Rissaldar, der am Rande von Peshawar einen Obstgarten besaß, gefragt, ob er jemals diese Geschichte vernommen habe. Er nickte ohne großes Interesse und sagte: alle Männer kennten sie; sein Großvater habe sie ihm in seiner Kindheit erzählt, und selbst zu seines Vaters Zeiten habe jedermann an der Grenze sie gekannt. Als ich ihn aber fragte, ob er den Namen der »toten rissala« (Kavallerie) wisse, antwortete er: »Natürlich«, aber weigerte sich, ihn mir zu nennen, und bestand vielmehr darauf, daß er vergessen werden müsse. Es erwachse, sagte er streng, kein Heil aus der Erinnerung an schändliche Handlungen. Und außerdem hätten alle Mann teuer mit ihrem Leben für den schändlichen Verrat bezahlt. Selbst der Name des Regimentes sei aus den Büchern gestrichen worden. Er hatte nichts von jener kleinen Episode gehört, die Kipling in seine Geschichte einflicht, daß ein Trupp aus britischen, indischen und Gurkha-Einheiten ausgesandt wurde, in einem Dorf jenseits der Grenze einen notorischen Unruhestifter und dessen Gesinnungsgenossen festzunehmen. Aber als ich ihm davon erzählte, zuckte er die Schultern und sagte, daß die sirkar (die indische Regierung) ständig Truppen über die Grenze sende, um Unruhestifter festzunehmen oder jene zu bestrafen, die Dörfer ausraubten und Frauen und Vieh verschleppten, so daß es nur plausibel wäre, wenn einige von ihnen hin und wieder die »tote rissala« sähen. Ich neige zu der Annahme, daß Kiplings rissala – »die sehr lebendige rissala« der Geschichte – die Kavallerieeinheit war, der auch mein Mann später angehörte, Goff Hamiltons Regiment, »The Corps of Guides«. Sie muß es gewesen sein, wenn jener Teil der Geschichte nicht reine Phantasie ist: aus zwei Gründen. Der indische Offizier, der um Gnade ruft, als er erkennt, daß der afghanische Posten im Wachtturm sie im Licht der Blitze gesehen hat, ist ein Pathane; und die Mehrheit
der »Guides« wurde jenseits der Grenze rekrutiert. Dann, als des Mullahs Männer am Morgen erwachen und aus ihren Hütten kommen, sehen sie »Männer in grünen und roten und braunen Uniformen, auf ihre Waffen gestützt, säuberlich um den Krater des Dorfes von Bersund aufgereiht, in einer Kette, die nicht einmal ein Wolf hätte durchbrechen können«. Die grünen Uniformen wären die Gurkhas und die roten ein britisches Regiment – denn zu jener Zeit (etwa 1890) trug die britische Armee noch vorschriftsgemäß scharlachrote Uniformen. Aber die braunen (in Wirklichkeit khakifarbenen Uniformen) müssen die der »Guides« gewesen sein, denn zu jener Zeit waren sie die einzigen, die eine khakifarbene Montur trugen. Das Corps war 1846, elf Jahre vor der Meuterei, von Sir Henry Lawrence, einem meiner Lieblingshelden des Indiendienstes, aufgestellt worden. Lawrence war es auch gewesen, der befahl, daß seine Uniformen khaki – das persische Wort für »staubfarben« – sein sollten, anstelle des viel zu auffälligen Scharlachs, das die vorrückende britische Armee auf viele Meilen hin sichtbar machte! Die rissala in Die verlorene Legion kann daher nur die der »Guides« gewesen sein, die im Dunkeln antrat und so leise wie nur möglich aus der kleinen Garnison zu Mardan abritt, die ihr Heimatstandort für fast hundert Jahre war. Das gleiche Mardan, wo Major Wigram Battye zum zweiten Mal begraben liegt, nachdem seine Leiche aus ihrem Grab bei Jallabad ausgegraben und auf einem Floß den Kabulfluß herab hierher zurückgebracht worden ist. Und von wo ein Verwandter meines Mannes, Walter Pollack Hamilton, V. C. (Träger des Victoria-Kreuzes), der erste von drei Hamiltons, die bei den »Guides« dienten, an der Spitze von achtundsiebzig Mann des Corps ausritt, um Sir Louis Cavagnari, dem neu ernannten britischen Botschafter in Kabul, als Eskorte zu dienen. Cavagnari wurde später in Kabul
getötet – zusammen mit seinem Adjutanten und dreiundsiebzig Mann von den »Guides«, einschließlich ihres jugendlichen Kommandeurs und des Militärarztes Dr. Kelly –, als afghanische Aufrührer die Residenz angriffen und bis auf den Boden niederbrannten. Der Cavagnari-Bogen, der in Mardan zur Erinnerung an die hoffnungslose, aber heroische Verteidigung der britischen Residenz in Kabul errichtet wurde, steht dort immer noch, und 1987 fuhr ich zur Hundertjahrfeier der »Guides Church« in Mardan nach Pakistan und brachte eine Gedenktafel für meinen Mann mit – den letzten Hamilton, der je bei den »Guides« diente –, die während des Festgottesdienstes in Anwesenheit vieler seiner alten Freunde und Kameraden geweiht wurde. Vor allem wegen Goff und seiner geliebten »Guides« habe ich Die verlorene Legion in diese Sammlung aufgenommen. Obwohl ich glaube, daß sie auch sonst aufgenommen worden wäre: ich habe sie immer geliebt. Die letzte Erzählung, Die Brückenbauer, ist eine weitere aus The Day’s Work (Des Tages Arbeit), die mir immer als typisch für Kipling erschienen ist. Während seines ganzen Lebens war er voller Bewunderung für »Macher« – jene Männer, die ihre Arbeit tun, ohne viel darüber zu reden. Soldaten, Seeleute, Flieger, Verwaltungsbeamte, Forschungsreisende, Ingenieure… Ich habe den Verdacht, daß er gerne selbst einer der Ihren gewesen wäre und daß er Schreiben nicht als wirkliche Arbeit im wahren Sinne des Wortes ansah. Andererseits wollte er aber nie etwas anderes tun als schreiben, und er war schon in jungen Jahren am Journalismus und an der Druckerschwärze hängengeblieben, als ihn der Direktor seiner Schule »The United Service College« zum Herausgeber der Schulzeitschrift machte. Rudyards Helden waren Menschen wie MacAndrew aus MacAndrew’s Hymn (erstmals in The Seven Seas, Gedichte,
London und New York 1896; seit 1940 in Rudyard Kipling’s Verse. Definitive Edition), der Chefingenieur auf einem Handelsdampfer war, oder wie Findlayson vom P. W. D. (dem Public Works Department, der Abteilung für Öffentliche Arbeiten in Indien), der Chefingenieur der Kashi-Brücke, der ein vollkommenes Beispiel für jenen Typus Mann ist, den er am meisten bewunderte und sicherlich beneidete. Seine Brückenbauer erzählen von einem überraschenden Hochwasser auf dem Ganges, dem größten der indischen Ströme, und davon, wie Findlaysons Brücke, die seit über drei Jahren gebaut wird und mit Ausnahme weniger Wochen Arbeit an den Mittelpfeilern nahezu fertig ist, dem Anprall der Wogen widersteht. Ich habe Kipling immer bewundert. Und ich habe ihn immer wegen seiner Gabe beneidet, alles ganz lebendig zu beschreiben und Töne, Gerüche, Hitze, Licht und Kälte so in Worte zu fassen, daß man hört, sieht und fast auch riecht, was immer er schildert. Ein Beispiel dafür ist die Art, wie er das Nahen der ersten Flutwasser auf dem heißen Sand des Flußbettes beschreibt, wo die Kulis, die an der neuen Brücke arbeiten, sich zeitweilig ein Dorf errichtet hatten, das nun hastig abgebrochen werden muß, ehe die Flut es erreicht: »Sie bewegt sich!« sagte Peroo gerade vor Morgengrauen. »Mutter Gunga ist erwacht! Horchet!« Er tauchte seine Hand über den Rand eines Bootes und die Strömung mummelte an ihr. Eine kleine Welle schlug mit einem Kräuselklatsch gegen die Seite eines Pfeilers. »Sechs Stunden vor ihrer Zeit«, sagte Findlayson, und rieb sich wild die Stirn. »Jetzt müssen wir auf alles gefaßt sein. Wir sollten am besten alle Leute das Flußbett räumen lassen.« Wieder schlug der große Gong an, und ein zweites Mal war da das Hasten nackter Füße auf Erde und dröhnendem Eisen; das Geklirr des Werkzeugs hörte auf. In
der Stille hörten die Männer das trockene Gähnen von Wasser, das über durstigen Sand kriecht. Wer außer Kipling hätte so treffend das Geräusch steigenden Wassers beschreiben können, das über den heißen Silbersand eines indischen Flusses kriecht? Oder das Wort »mummeln« (»mumbling«) für die verstohlene Bewegung einer unsichtbaren Strömung gebraucht, die an der Hand eines Mannes herumfingert? Findlayson und sein Vorarbeiter Peroo, ein ehemaliger lascar (Decksmatrose) auf Britisch-Indischen Dampfern, werden von der Flut auf einem der unhandlichen flachbodigen Steinkähne fortgeschwemmt, der zerschellt und sie auf einer kleinen Insel inmitten des Stromes stranden läßt, wo sie im ununterbrochenen Aufflammen der Blitze erkennen, daß eine Reihe von Tieren und zwei menschliche Wesen dort ebenfalls Zuflucht genommen haben. »Die Götter. Was sonst? Siehe!« sagt Peroo, der Findlayson außerdem eine Handvoll Opiumpillen gegeben hat, um sein Fieber zu bekämpfen, und den Rest selbst schluckt, weil er sicher ist, daß sie zum Untergang verdammt sind, als das ruderlose Boot auf dem Kamm der Flut davongewirbelt wird. Findlayson, der neben ihm im nassen Gras kauert, beschließt, daß Peroo recht haben muß, denn: »Wer sollte nach der Flut in dem Land noch leben außer den Göttern, die es geschaffen hatten – den Göttern, zu denen sein Dorf nächtens betete – den Göttern, die in aller Menschen Mund sind und um aller Menschen Wege?« Findlayson und Peroo glauben, daß sie ein Treffen der »Erhabenen« belauschen, die zusammenkamen, um die Klagen des Flusses, der Mutter Gunga, anzuhören, die die
Gerechtigkeit der Götter gegen die Brückenbauer verlangt, da diese ihre Wasser ins Geschirr nahmen und sie zwangen, zwischen Steinpfeilern zu fließen. Kali, in der Gestalt einer Tigerin, unterstützt sie und klagt, daß die Gläubigen die alten Götter verlassen, um neuen zu folgen. Aber Shiv in der Gestalt eines heiligen Stieres sagt, dem sei nicht so: die neuen Götter seien nur die alten mit neuen Namen. Worauf Krischna, »das Götterbild träumender Jungfrauen und der Mütter, ehe ihre Kinder geboren sind – »Krischna der Vielgeliebte« erwidert, daß er, der unter seinem Volke lebe, dessen Herzen kenne und daß es das Volk sei, das zähle, nicht die Götter der Brückenbauer. Es komme die Zeit, da sie von ihrem alten Glauben abfielen und mehr veränderten als nur die Namen: »Mich allein können sie nicht töten, solange Jungfrau und Mann einander begegnen, oder der Frühling den Winterregen folgt.« Er drängt die Himmlischen, das Beste aus der Zeit zu machen, die ihnen noch geblieben sei: »Nehmt Gaben und lauschet den Zymbeln und Trommeln, Himmlische, solange es Blumen und Lieder gibt. Wie Menschen die Zeit zählen, ist das Ende noch ferne; wie aber wir, die wissen, rechnen, ist es heute.« Kipling schrieb diese Erzählung in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, als es so aussah, als werde das Indische Reich der Briten noch weitere tausend Jahre dauern. Ich habe immer den Verdacht gehegt, daß er eine ganz eigene Kristallkugel in seinem Kopfe hatte, die ihm gelegentlich flüchtige Blicke in die Zukunft ermöglichte; und daß dies einer davon war. Findlayson und sein indischer Kollege Peroo symbolisieren die Kameradschaft und das Vertrauen, die so oft zwischen Briten und Indern in den Tagen der britischen Herrschaft lebten und ohne die die Raj (das Reich) nicht ein Jahr hätte existieren
können. Sichtbar wird auch ihre gemeinsame Hingabe an das Werk, für das beide eingestellt worden waren und für das sie sich abmühten weniger um des Geldes willen als um die Anerkennung ihrer Berufsgenossen, um die Anerkennung von ihresgleichen. Die Rede der Götter beschwört hingegen das Ende herauf, das ziemlich genau fünfzig Jahre später kommen sollte. Ein halbes Jahrhundert! – das ist eine lange, lange Zeit im Leben eines Mannes, »wie aber wir, die wissen, rechnen, ist es heute«. Jetzt ist auch dieser Tag Vergangenheit. Aber für sehr viele unter uns hat ihn Rudyard Kipling mit seinem eigenen, außerordentlichen Licht erleuchtet.
Ohne Kirchenrecht
Before my Spring I garnered Autumn’s gain, Out of her time my field was white with grain, The year gave up her secrets to my woe. Forced and deflowered each sick season lay, In mystery of increase and decay; I saw the sunset ere men saw the day, Who am too wise in that I should not know. Bitter Waters (Vor meinem Frühling sammelte ich den Gewinn des Herbstes ein, Vor seiner Zeit war mein Feld weiß mit Getreide, Das Jahr gab sein Geheimnis zu meinem Schmerze preis. Vergewaltigt und defloriert lag jede Jahreszeit krank darnieder Im Geheimnis von Zunahme und Verfall; Ich sah den Sonnenuntergang, ehe andere den Tag sahen, Ich, der zu vieles weiß, was ich nicht wissen sollte. Bittere Wasser)
I »Und wenn es nun ein Mädchen wird?« »Herr meines Lebens, das kann nicht geschehen. Ich habe so viele Nächte durchbetet und so oft Geschenke zum Schrein von Scheich Badl geschickt, daß ich weiß, Gott wird uns einen Sohn geben – ein Mann-Kind, das zum Manne aufwachsen wird. Daran denke und sei froh. Meine Mutter wird seine Mutter sein, bis ich ihn wieder nehmen kann, und der Mullah der Pathanen-Moschee wird ihm das Horoskop stellen – Gott gebe, daß er in einer glückverheißenden Stunde geboren
werde! – und dann, und dann wirst Du niemals mehr meiner müde werden, Deiner Sklavin.« »Seit wann bist Du eine Sklavin, meine Königin?« »Seit allem Anfang – seit diese Gnade zu mir kam. Wie könnte ich Deiner Liebe sicher sein, wo ich weiß, daß ich für Silber gekauft wurde?« »O nein, das war das Brautgeschenk. Ich habe es an Deine Mutter ausgezahlt.« »Und sie hat es vergraben und sitzt den ganzen Tag darauf wie eine Henne. Was schwatzt Du da von Brautgeschenk! Ich bin gekauft worden, als wäre ich ein Tanzmädchen aus Lucknow gewesen, und nicht das Kind.« »Tut Dir der Handel leid?« »Ich habe gelitten; aber heute bin ich froh. Und jetzt wirst Du nie mehr aufhören mich zu lieben? – antworte, mein König.« »Niemals – niemals. Nein.« »Nicht einmal, wenn die mem-log – die weißen Frauen Deines Blutes – Dich lieben? Und bedenke, ich habe sie abends vorüberfahren sehen; sie sind sehr schön.« »Ich habe hunderte von Heißluftballons gesehen. Ich habe den Mond gesehen – und dann sah ich keine Heißluftballons mehr.« Ameera klatschte in die Hände und lachte. »Sehr gut gesprochen«, sagte sie. Dann gab sie sich den Ausdruck großer Erhabenheit. »Genug jetzt. Du hast Erlaubnis, Dich zurückzuziehen – wenn Du willst.« Der Mann bewegte sich nicht. Er saß auf einem niedrigen rotlackierten Hocker in einem Raum, der nur mit einem blau und weißen Bodenbelag, einigen groben Decken und einer sehr vollständigen Sammlung einheimischer Kissen ausgestattet war. Zu seinen Füßen saß eine Frau von sechzehn, und die war in seinen Augen nichts weniger als die ganze Welt. Nach jedem Recht und Gesetz hätte sie ihm etwas anderes sein
sollen, denn er war Engländer und sie eines Muslims Tochter, vor zwei Jahren ihrer Mutter abgekauft, die, mittellos zurückgeblieben, Ameera auch dem Fürst der Finsternis heulend verschachert hätte, falls der genügend hätte zahlen wollen. Der Vertrag war leichtherzig eingegangen worden; aber noch ehe das Mädchen ihre Blüte erreichte, füllte sie bereits den größeren Teil von John Holdens Leben aus. Er hatte für sie und die verwitterte Hexe, die ihre Mutter war, ein kleines Haus genommen, das die große rot ummauerte Stadt überschaute, und entdeckte – als die Ringelblumen um den Brunnen im Hofe sproßten, und Ameera sich nach ihren eigenen Vorstellungen von Bequemlichkeit eingerichtet hatte, und ihre Mutter aufgehört hatte, über die Unangemessenheit der Kochstellen, die Entfernung vom täglichen Markt und die Fragen des Haushalts allgemein zu grummeln –, daß das Haus ihm sein Heim war. Jeder konnte seinen Junggesellenbungalow bei Tag und Nacht betreten, und das Leben, das er dort führte, war kein heimeliges. Im Haus in der Stadt dagegen konnte nur sein Fuß vom äußeren Hof zu den Gemächern der Frauen gelangen; und wenn das große hölzerne Tor hinter ihm verriegelt war, war er der König in seinem eigenen Reich mit Ameera als Königin. Und nun sollte diesem Königreich eine dritte Person hinzugefügt werden, deren Ankunft Holden unwillig entgegenzusehen geneigt war. Sie störte sein vollkommenes Glück. Sie brachte den ordentlichen Frieden des Hauses, das sein Eigen war, in Unordnung. Doch Ameera war beim Gedanken daran außer sich vor Freude, und ihre Mutter nicht weniger. Die Liebe eines Mannes, und noch dazu eines weißen, war günstigenfalls eine unsichere Angelegenheit, doch mochte sie, so beider Frauen Argument, von der Hand eines Kindes festgehalten werden. »Und dann«, pflegte Ameera zu
sagen, »dann wird er sich nie mehr für die weißen mem-log interessieren. Ich hasse sie alle – ich hasse sie alle.« »Eines Tages wird er zu seinem eigenen Volk zurückgehen«, sagte die Mutter, »aber dank der Gnade Gottes ist dieser Tag noch weit entfernt.« Holden saß schweigend auf dem Hocker und dachte an die Zukunft, und seine Gedanken waren nicht erfreulich. Die Nachteile eines Doppellebens sind mannigfach. Die Regierung hatte ihn mit seltener Rücksichtnahme für vierzehn Tage aus der Station abkommandiert, weil er einen Mann vertreten sollte, der am Bett seiner kranken Ehefrau Wache hielt. Die mündliche Mitteilung über die Versetzung war durch eine fröhliche Bemerkung darüber verschärft worden, daß Holden sich glücklich schätzen solle, ein Junggeselle und ein freier Mann zu sein. Er war gekommen, um Ameera die Neuigkeit beizubringen. »Das ist nicht gut«, sagte sie langsam, »aber es ist auch nicht ganz schlimm. Meine Mutter ist ja da, und mir wird nichts Böses zustoßen – es sei denn, ich stürbe an der reinen Freude. Gehe Du an Deine Arbeit und denke keine beunruhigenden Gedanken. Wenn die Tage vorüber sind, glaube ich… nein, ich weiß es sicher. Und – und dann werde ich ihn in deine Arme legen, und Du wirst mich für immer lieben. Geht der Zug nicht heute nacht, um Mitternacht? Dann gehe jetzt, und lasse Dein Herz nicht schwer sein wegen mir. Aber Du wirst die Rückkehr nicht hinauszögern, ja? Du wirst nicht auf der Straße stehenbleiben und mit den kecken weißen mem-log reden. Komm schnell zurück zu mir, mein Leben.« Als er den Hof verließ, um zu seinem Pferd zu treten, das am Torpfosten angebunden war, sprach Holden mit dem weißhaarigen alten Wächter, der das Haus bewachte, und befahl ihm, unter bestimmten Umständen das ausgefüllte
Telegrammformular an ihn abzusenden, das Holden ihm gab. Das war alles, was er tun konnte, und mit den Gefühlen eines Mannes, der seiner eigenen Beisetzung beiwohnt, reiste Holden mit dem Nachtzug in sein Exil. Jede Stunde des Tages fürchtete er das Eintreffen des Telegramms, und jede Stunde der Nacht stellte er sich den Tod Ameeras vor. Daher war seine Arbeit für den Staat nicht von bester Qualität, noch war seine Stimmung den Kollegen gegenüber besonders freundlich. Die vierzehn Tage endeten ohne ein Zeichen aus seinem Haus, und Holden kehrte zurück, von seinen Ängsten in Stücke gerissen, nur um im Club während zweier kostbarer Stunden von einem Dinner festgehalten zu werden, bei dem er wie jemand in einem Ohnmachtsanfall Stimmen hörte, die ihm erzählten, wie lausig er die Aufgaben des anderen Mannes erfüllt habe und wie sehr er allen seinen Mitarbeitern ans Herz gewachsen sei. Dann floh er zu Pferde durch die Nacht, und das Herz schlug ihm im Halse. Da war keine Antwort auf den ersten seiner Schläge gegen das Tor, und er hatte schon sein Pferd herumgerissen, um es einzutreten, als Pir Khan mit einer Laterne erschien und ihm den Steigbügel hielt. »Hat sich irgend etwas ereignet?« fragte Holden. »Die Nachricht komme nicht aus meinem Mund, Beschützer der Armen, aber…« Und er hielt seine zitternde Hand ausgestreckt so, wie es dem Überbringer guter Nachricht ansteht, dem eine Belohnung gebührt. Holden eilte durch den Hof. Ein Licht brannte im oberen Zimmer. Sein Pferd wieherte im Torweg, und er hörte ein schrilles hohes Wimmern, das ihm das Blut in die Gurgel trieb. Es war eine neue Stimme, aber sie bewies nicht, daß Ameera lebte. »Wer ist da?« rief er die enge Ziegeltreppe hinauf.
Ein Freudenschrei von Ameera, und dann die Stimme der Mutter, zitternd vor Alter und Stolz: »Wir sind zwei Frauen und – der – Mann – Dein – Sohn.« Auf der Schwelle trat Holden auf einen blanken Dolch, der da lag, um Unheil abzuwenden, und der unter seinem ungeduldigen Absatz am Griff abbrach. »Gott ist groß!« gurrte Ameera im Halbdunkel. »Du hast sein Unglück auf Dein Haupt genommen.« »Ja gut, aber wie steht es mit Dir, Leben meines Lebens? Alte Frau, wie steht es mit ihr?« »Sie hat ihre Leiden über der Freude vergessen, daß das Kind geboren ist. Alles ist gut; aber sprich leise«, sagte die Mutter. »Es bedurfte nur Deiner Anwesenheit, um mich gesund zu machen«, sagte Ameera. »Mein König, Du warst sehr lange fort. Welche Geschenke hast Du für mich? Ahah! Ich bin es, die diesmal Gaben bringt. Siehe, mein Leben, sieh. Hat es je solch ein Kind gegeben? Ach, ich bin zu schwach, um auch nur meinen Arm von ihm zu lösen.« »Dann ruhe, und sprich nicht. Ich bin hier, bachari (kleine Frau).« »Wohl gesagt, denn da ist nun ein Band und eine Fußfessel (peecharee) zwischen uns, die nichts zerreißen kann. Sieh her, kannst Du in diesem Licht sehen? Er ist ohne Fleck noch Makel. Nie zuvor war so ein Mann-Kind. Ya illah! Er wird ein Gelehrter sein – nein, ein Reiter der Königin. Und Du, mein Leben, liebst Du mich wie zuvor, obwohl ich schwach und krank und verbraucht bin? Antworte wahr.« »Ja. Ich liebe wie ich geliebt habe, mit meiner ganzen Seele. Lieg still jetzt, Perle, und ruhe.« »Gehe noch nicht. Setz Dich an meine Seite hier – so. Mutter, der Herr dieses Hauses braucht ein Kissen. Bring es.« Da war eine fast unbemerkbare Bewegung seitens des neuen Lebens, das in der Beuge von Ameeras Arm lag. »Aho!« sagte sie mit
einer Stimme, die vor Liebe brach. »Das Kind ist ein Sieger von Geburt an. Es tritt mich in die Seite mit mächtigem Tritt. Hat es je solch ein Kind gegeben! Und unser ist es – Dein und mein. Leg Deine Hand auf seinen Kopf, aber vorsichtig, denn sehr jung ist er, und Männer sind ungeübt in solchen Dingen.« Sehr vorsichtig berührte Holden mit den Spitzen seiner Finger den flaumigen Kopf. »Er ist ein Gläubiger«, sagte Ameera; »denn während der Nachtwachen flüsterte ich ihm den Ruf zum Gebet und das Bekenntnis des Glaubens in seine Ohren. Und es ist höchst wunderbar, daß er an einem Freitag geboren wurde, wie ich. Sei vorsichtig mit ihm, mein Leben; aber er kann schon fast mit seinen Händen greifen.« Holden fand eine hilflose kleine Hand, die sich schwach um seinen Finger schloß. Und der Griff glitt durch seinen Körper, bis er sich um sein Herz schloß. Bis dahin galten seine Gedanken hur Ameera. Nun begann er zu begreifen, daß da noch jemand in der Welt war, aber er hatte nicht das Gefühl, daß es ein wirklicher Sohn mit einer Seele sei. Er setzte sich hin, um nachzudenken, und Ameera versank in einen leichten Schlummer. »Gehe nun, Sahib«, flüsterte die Mutter. »Es ist nicht gut, wenn sie Dich beim Erwachen hier findet. Sie muß ruhig sein.« »Ich gehe«, sagte Holden gehorsam; »hier sind Rupien. Sorge dafür, daß mein baba fett wird und alles bekommt, was er braucht.« Der Klang des Silbers weckte Ameera. »Ich bin seine Mutter und kein Mietling«, sagte sie schwach. »Soll ich um Geld mehr oder weniger für ihn sorgen? Mutter, gib es zurück. Ich habe meinem Herrn einen Sohn geboren.« Der tiefe Schlaf der Schwäche kam über sie, fast noch ehe der Satz vollendet war. Holden stieg sehr leise in den Hof hinab, mit leichtem Herzen. Pir Khan, der alte Wächter,
gluckste vor Vergnügen. »Dieses Haus ist nun komplett«, sagte er und schob ohne ein weiteres Wort Holden den Griff eines Säbels in die Hand, den er vor langen Jahren getragen hatte, als er, Pir Khan, der Königin in der Polizei diente. Das Meckern einer Ziege erklang vom Brunnenrand. »Da sind zwei«, sagte Pir Khan, »zwei Ziegen von der besten Art. Ich kaufte sie, und sie kosteten viel Geld; und weil keine Geburtsgesellschaft versammelt ist, wird ihr Fleisch allein mir gehören. Schlag geschickt zu, Sahib! Der Säbel ist bestenfalls schlecht ausgewogen. Warte, bis sie die Köpfe vom Rupfen der Ringelblumen heben.« »Und warum?« fragte Holden verwirrt. »Als Geburtsopfer. Wozu sonst? Andernfalls könnte das Kind ungeschützt vor dem Schicksal sterben. Der Beschützer der Armen wird die passenden Worte wissen, die dazu zu sagen sind.« Holden hatte sie einst gelernt, ohne daran zu denken, daß er sie je im Ernst sprechen werde. Die Berührung des kalten Säbelknaufs in seiner Hand verwandelte sich plötzlich in den klammernden Griff des Kindes da oben – des Kindes, das sein eigener Sohn war –, und Furcht, es zu verlieren, erfüllte ihn. »Schlag zu!« sagte Pir Khan. »Noch nie kam Leben in die Welt, ohne daß mit Leben dafür bezahlt ward. Sieh hin, die Ziegen haben ihre Köpfe gehoben. Jetzt! Beim Schlag die Klinge ziehn!« Holden schlug zu, kaum wissend was er tat, zweimal, während er das muslimische Gebet murmelte, das da lautet: »Allmächtiger! An Stelle dieses meines Sohnes opfere ich Leben für Leben, Blut für Blut, Haupt für Haupt, Knochen für Knochen, Haar für Haar, Haut für Haut.« Das wartende Pferd schnaubte und bäumte sich ins Halfter beim Geruch des frischen Blutes, das über Holdens Reitstiefel spritzte.
»Wohl getroffen!« sagte Pir Kahn und wischte den Säbel ab. »An Dir ist ein Mann des Schwertes verlorengegangen. Gehe mit leichtem Herzen, Himmelsgeborener. Ich bin Dein Diener, und der Diener Deines Sohnes. Möge die Anwesenheit leben tausend Jahre und… gehört das Fleisch der Ziegen alles mir?« Pir Khan zog sich um den Lohn eines Monats reicher zurück. Holden schwang sich in den Sattel und ritt durch den niedrig hängenden Holzrauch des Abends dahin. Er war von einem lärmenden Frohlocken erfüllt, das sich mit einer weiten vagen Zärtlichkeit ablöste, die auf kein bestimmtes Ziel gerichtet war und ihn fast erstickte, als er sich über den Hals seines unruhigen Pferdes beugte. »So hab ich mich in meinem Leben noch nie gefühlt«, dachte er. »Ich werde in den Club gehen und mich zusammenreißen.« Eine Billardpartie begann, und der Raum war voller Männer. Holden trat ein, begierig nach Licht und der Gesellschaft von seinesgleichen, und sang aus vollem Halse: »In Baltimore a-walking, a lady I did meet!« (»In Baltimore beim Bummeln, traf eine Dame ich!«) »Ah ja?« fragte der Clubsekretär aus seiner Ecke. »Hat sie Ihnen vielleicht zufällig erzählt, daß Ihre Stiefel tropf naß sind? Guter Gott, Mann, das ist ja Blut!« »Quatsch!« sagte Holden und griff sich seine Queue aus dem Halter. »Karin ich mitmachen? Das ist Tau. Ich bin durch hohe Felder geritten. Bei Gott! Meine Stiefel sind aber wirklich in einem üblen Zustand! ›And if it be a girl she shall wear a wedding-ring, And if it be a boy he shall fight for his king, With his dirk, and his cap, and his little jacket blue, He shall walk the quarter-deck…‹
(›Und wenn’s ein Mädchen wird, soll sie einen Trauring tragen, Und wenn’s ein Junge wird, soll er für seinen König kämpfen, Mit seinem Dolch, und seiner Mütze, und seiner kurzen blauen Joppe, Soll er auf dem Achterdeck Wache gehen…‹)« »Gelb auf Blau – Grün der Nächste«, sagte der Markeur monoton. »Soll er auf dem Achterdeck Wache gehen – bin ich Grün, Markeur? Soll er auf dem Achterdeck Wache gehen – pfui!, was für ’n schlechter Stoß – As his daddy used to do! (Wie es auch sein Vater tat!)« »Ich kann keinen Grund dafür sehen, daß Sie so krähen«, sagte ein junger Streber vom Zivildienst säuerlich. »Die Regierung ist nicht gerade erbaut über Ihre Arbeit in Vertretung von Sanders.« »Bedeutet das eine Zigarre vom Hauptquartier?« fragte Holden mit einem abwesenden Lächeln. »Ich glaube, die kann ich aushalten.« Das Gespräch drehte sich um das immer neue Thema der Arbeit eines jeden und beruhigte Holden, bis es Zeit wurde, in seinen dunklen leeren Bungalow zu gehen, wo ihn sein Butler mit der Miene eines Menschen empfing, der alles weiß. Holden blieb die meiste Zeit der Nacht wach, und seine Träume waren angenehm.
II »Wie alt ist er jetzt?« »Ya illah! So kann nur ein Mann fragen! Er ist gerade sechs Wochen alt; und in dieser Nacht steige ich mit Dir aufs Dach des Hauses, mein Leben, um die Sterne zu zählen. Denn das bringt Glück. Und er wurde an einem Freitag im Zeichen der Sonne geboren, und man hat mir gesagt, daß er uns beide überleben werde und Reichtum erlange. Was könnten wir Besseres wünschen, Liebster?« »Besseres gibt es nicht. Laß uns aufs Dach steigen, und Du wirst die Sterne zählen – aber nur wenige, denn der Himmel ist schwer von Wolken.« »Die Winterregen verspäten sich, und vielleicht kommen sie erst nach der Jahreszeit. Komm, bevor sich alle Sterne verbergen. Ich habe meinen reichsten Schmuck angelegt.« »Du hast das Beste von allem vergessen.« »Ai! Unseren. Er kommt auch mit. Er hat noch nie den Himmel gesehen.« Ameera klomm die enge Stiege empor, die auf das flache Dach führte. Das Kind lag ruhig und mit weit geöffneten Augen in der Beuge ihres rechten Armes, üppig in silbergesäumtes Musselin gehüllt und mit einem kleinen Häubchen auf dem Kopf. Ameera trug, was ihr am meisten bedeutete. Den diamantenen Nasenknopf, der wie das westliche Schönheitspflästerchen die Aufmerksamkeit auf den Schwung der Nüstern zu lenken hat, den goldenen Zierat mitten auf der Stirn, besetzt mit tropfenförmigen Smaragden und fehlerhaften Rubinen, den schweren Reif aus gehämmertem Gold, der sich durch die Weichheit des reinen Metalls um ihren Hals schmiegte, und die klingenden silbernen Fußkettchen, die ihr tief über die rosigen Knöchel hingen. Sie
war in jadegrünen Musselin gekleidet, wie es einer Tochter des Glaubens zukommt, und von der Schulter zum Ellenbogen, vom Ellbogen zum Gelenk folgten einander silberne Armreife, verknüpft mit Florettseide, zarte Armspangen aus Glas glitten über die Gelenke herab, die Schmalheit der Hand zu betonen, und schwere Goldarmbänder, die nicht zum Landesschmuck gehörten, ihr aber große Freude bereiteten, da sie Holdens Geschenk und mit raffinierten Schnappverschlüssen befestigt waren. Sie setzten sich an die niedrige weiße Brustwehr des Daches und blickten hinab auf die Stadt und ihre Lichter. »Sie sind glücklich da unten«, sagte Ameera. »Aber ich glaube nicht, daß sie so glücklich sind wie wir. Auch glaube ich nicht, daß die weißen mem-log so glücklich sind. Und Du?« »Ich weiß, daß sie es nicht sind.« »Woher weißt Du das?« »Sie geben ihre Kinder Ammen.« »Das habe ich nie gesehen«, sagte Ameera mit einem Seufzer, »und ich will es auch nicht sehen. Ahi!« – sie ließ ihren Kopf auf Holdens Schulter sinken – »Ich habe vierzig Sterne gezählt, und ich bin müde. Sieh auf das Kind, Liebe meines Lebens, es zählt sie auch.« Das Kind starrte mit runden Augen in die Dunkelheit des Himmels. Ameera legte es in Holdens Arm, und da lag es ohne zu schreien. »Wie sollen wir ihn unter uns nennen?« fragte sie. »Sieh! Wirst Du denn nie müde zu sehen? Er hat ganz Deine Augen. Aber der Mund…« »Ist Deiner, Liebste. Wer könnte das besser wissen als ich?« »So ein feines Mündchen. Oh, so klein! Und doch hält er mein Herz zwischen seinen Lippen. Gib ihn mir jetzt. Er ist schon zu lange fort.«
»Nicht doch, laß ihn liegen; er schreit ja noch nicht.« »Wenn er schreit, willst Du ihn zurückgeben – eh? Was bist Du bloß für ein Mensch! Wenn er schreit, ist er mir nur um so lieber. Aber, mein Leben, was für einen kleinen Namen sollen wir ihm geben?« Der kleine Körper lag nahe an Holdens Herz. Er war völlig hilflos und sehr sanft. Holden wagte kaum zu atmen aus Furcht, ihn zu zerdrücken. Der grüne Papagei in seinem Käfig, der in den meisten einheimischen Haushalten als eine Art Wächtergeist betrachtet wird, bewegte sich träge auf seiner Stange und flatterte schläfrig mit den Flügeln. »Das ist die Antwort«, sagte Holden. »Mian Mittu hat gesprochen. Wir werden ihn Papagei nennen. Wenn er so weit ist, wird er gewaltig reden und umherlaufen. Mian Mittu heißt doch Papagei in Deiner – in der Sprache der Muslime, nicht?« »Warum mich so weit wegschieben?« fragte Ameera zornig. »Es soll ein Name sein fast wie ein englischer – aber nicht ganz. Denn mein ist er.« »Dann nenn ihn Tota, denn das klingt dem Englischen am nächsten.« »Ja, Tota, und das heißt immer noch Papagei. Vergib mir, mein Gebieter, die Minute eben, aber in Wahrheit ist er zu klein, um all das Gewicht von Mian Mittu als Name zu schleppen. Er soll Tota sein – unser Tota. Hörst Du, o Winziger? Kleinster, Du bist Tota.« Sie berührte die Wange des Kindes, und es erwachte weinend, und so mußte er es seiner Mutter zurückgeben, die es mit dem wunderbaren Wiegenlied Are koko, Jare koko! beruhigte, was heißt: »Oh crow! Go crow! Baby’s sleeping sound, And the wild plums grow in the jungle, only a penny a pound. Only a penny a pound, baba, only a penny a pound.«
(»O Krähe! Geh Krähe! Das Kind schläft tief und fest, Und wilde Pflaumen wachsen im Dschungel, nur einen Penny das Pfund. Nur einen Penny das Pfund, baba, nur einen Penny das Pfund.«) Viele Male über den Preis jener Pflaumen beruhigt, kuschelte Tota sich in den Schlaf. Die beiden schlanken weißen Brunnenochsen im Hofe käuten stetig ihre Abendmahlzeit wieder; der alte Pir Khan hockte zu Haupten von Holdens Pferd, den Polizeisäbel quer über seinen Knien, und sog schläfrig an einer großen Wasserpfeife, die knarzte wie ein Ochsenfrosch im Teich. Ameeras Mutter saß spinnend auf der unteren Veranda, und das hölzerne Tor war geschlossen und verriegelt. Die Musik einer Hochzeitsprozession stieg aus dem sanften Summen der Stadt empor zum Dach, und eine Kette fliegender Hunde querte das Antlitz des niedrigen Mondes. »Ich habe gebetet«, sagte Ameera nach einer langen Pause, »ich habe um zwei Dinge gebetet. Zum ersten, daß ich an Deiner Stelle sterben möge, wenn Dein Tod gefordert ist, und zum zweiten, daß ich an der Stelle des Kindes sterben möge. Ich habe zum Propheten gebetet und zur Beebee Miriam (der Jungfrau Maria). Glaubst Du, daß sie mich erhören?« »Wer würde wohl von Deinen Lippen nicht selbst das leiseste Wort hören?« »Ich habe Dich Ernstes gefragt, und Du hast mir Süßes gesagt. Werden meine Gebete erhört werden?« »Woher soll ich das wissen? Gott ist gut.« »Da bin ich nicht so sicher. Höre nun. Wenn ich sterbe, oder das Kind stirbt, was wird dann Dein Schicksal sein? Wenn Du lebst, wirst Du zu den kecken weißen mem-log zurückkehren, denn Art verlang nach Art.«
»Nicht immer.« »Bei einer Frau nicht; bei einem Mann ist das anders. Du wirst in diesem Leben später zu Deinem eigenen Volk zurückkehren. Das könnte ich fast ertragen, denn dann werde ich tot sein. Aber nach Deinem Tod wird man Dich zu einem fremden Platz und in ein Paradies bringen, das ich nicht kenne.« »Wird es das Paradies sein?« »Gewiß, denn wer würde Dir Übel wollen? Aber wir beide – ich und das Kind – werden anderswo sein, und wir können nicht zu Dir kommen, noch kannst Du zu uns kommen. In früheren Zeiten, als das Kind noch nicht geboren war, habe ich nicht an diese Dinge gedacht; aber jetzt denke ich immer an sie. Das ist sehr harte Rede.« »Es wird geschehen, wie es geschehen wird. Das Morgen kennen wir nicht, aber das Heute und die Liebe kennen wir gut. Und gewiß ist, daß wir jetzt glücklich sind.« »So glücklich, daß es gut wäre, unser Glück zu sichern. Und eigentlich sollte Deine Beebee Miriam mich erhören; denn sie ist auch eine Frau. Aber vielleicht beneidet sie mich! Es ist nicht ziemlich für Männer, eine Frau anzubeten.« Holden lachte laut auf bei Ameeras kleinem Eifersuchtsausbruch. »Nicht ziemlich? Warum hast Du mich dann nicht davon abgehalten, Dich anzubeten?« »Du und anbeten! Und mich? Mein König, trotz all Deiner süßen Worte weiß ich wohl, daß ich Deine Dienerin bin und Deine Sklavin und Staub unter Deinem Fuß. Und ich wollte es auch nicht anders haben. Sieh!« Und ehe Holden sie daran hindern konnte, beugte sie sich vor und berührte seinen Fuß; und richtete sich mit einem kleinen Lachen wieder auf und drückte Tota fester an ihre Brust. Dann, fast wild:
»Ist es wahr, daß die kecken weißen mem-log dreimal die Länge meines Lebens leben? Ist es wahr, daß sie erst als alte Frauen heiraten?« »Sie heiraten wie andere – wenn sie Frauen sind.« »Das weiß ich, aber sie heiraten erst, wenn sie fünfundzwanzig sind. Stimmt das?« »Das stimmt.« »Ya illah! Mit fünfundzwanzig! Wer würde wohl aus freien Stücken eine Frau selbst von achtzehn nehmen? Sie ist eine Frau – und altert stündlich. Fünfundzwanzig! Ich werde in dem Alter eine alte Frau sein, und – diese mem-log bleiben ewig jung. Wie ich sie hasse!« »Was haben sie mit uns zu tun?« »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß da auf Erden jetzt eine Frau lebt, die zehn Jahre älter ist als ich, die zu Dir kommen und Deine Liebe nehmen kann zehn Jahre, nachdem ich eine alte Frau bin mit grauem Haar und die Amme von Totas Sohn. Das ist ungerecht und böse. Sie sollten auch sterben.« »Trotz all Deiner Jahre bist Du ein Kind, das ich auf den Arm nehmen und die Stiege hinabtragen werde.« »Tota! Paß auf Tota auf, mein Herr! Du bist mindestens so närrisch wie irgendein Kind!« Ameera barg Tota vor jeder Gefahr in der Beuge ihres Halses und ward in Holdens Armen lachend die Stiege hinabgetragen, während Tota die Augen öffnete und nach Art kleiner Engel lächelte. Er war ein schweigsames Kind und verwandelte sich, fast noch ehe Holden sich seiner Existenz in der Welt klarwerden konnte, in einen winzigen goldfarbenen kleinen Gott und unbestrittenen Despoten des Hauses, das die Stadt überblickte. Es waren dies Monate des vollkommenen Glücks für Holden und Ameera – ein weitab gewandtes Glück, abgeschlossen hinter dem hölzernen Tor, das Pir Khan bewachte. Tagsüber erledigte Holden seine Arbeit mit einem unendlichen
Mitgefühl für jene, die nicht so glücklich waren wie er, und einer Zuneigung zu kleinen Kindern, die manche Mutter bei den kleinen Zusammenkünften der Station verwunderte und erheiterte. Bei Einbruch der Nacht kehrte er zu Ameera zurück – Ameera, erfüllt von den wunderbaren Taten Totas; wie er gesehen ward beim Händezusammenschlagen und Fingerbewegen mit Absicht und Zweck – was wahrhaftig ein Wunder war – wie er später aus eigenem Antrieb aus seinem niedrigen Bettchen auf den Boden gekrabbelt war und sich drei Atemzüge lang schwankend auf beiden Beinchen hielt. »Und es waren lange Atemzüge, denn mein Herz stand still vor Wonne«, sagte Ameera. Danach bezog Tota die Tiere in seine Ratsversammlungen ein – die Brunnenochsen, die kleinen grauen Eichhörnchen, den Mungo, der in einem Loch nahe dem Brunnen hauste, und vor allem Mian Mittu, den Papagei, den er schmerzlich am Schwanze zauste, daß Mian Mittu kreischte, bis Ameera und Holden kamen. »O Übeltäter! Kind der Stärke! Das Deinem Bruder auf dem Hausdach! Tob ah! Tob ah! Pfui! Pfui! Aber ich kenne einen Zauber, der ihn weise machen wird wie Suleiman und Aflatoun (Salomo und Platon). Nun sieh her«, sagte Ameera. Sie zog aus einem bestickten Beutel eine Handvoll Mandeln hervor. »Schau! Wir zählen sieben. Im Namen Gottes!« Sie setzte Mian Mittu, der sehr ärgerlich und zerzaust war, oben auf seinen Käfig und setzte sich selbst zwischen das Kind und den Vogel und knackte und schälte eine Mandel, die weniger weiß war als ihre Zähne. »Dies ist ein wahrer Zauber, mein Leben, und lache nicht. Sieh! Ich gebe dem Papagei eine Hälfte und Tota die andere.« Mian Mittu holte sich mit vorsichtigem Schnabel seinen Anteil zwischen Ameeras Lippen, und die andere Hälfte küßte sie in den Mund des Kindes, das sie langsam mit verwunderten Augen aß. »Das
will ich an jedem Tag der sieben tun, und zweifellos wird er, der unser ist, ein kühner Sprecher und weise. Eh, Tota, was willst Du werden, wenn Du ein Mann bist und ich grauköpfig bin?« Tota legte seine fetten Beinchen in anbetungswürdige Falten. Er konnte krabbeln, aber er gedachte nicht, den Frühling seiner Jugend mit müßigem Schwatzen zu vertun. Er wollte Mian Mittus Schwanz zum Zwicken. Als er zur Würde eines Silbergürtels aufgestiegen war – der, zusammen mit einem magischen Quadrat, das in Silber graviert ihm um den Hals hing, den Hauptteil seiner Bekleidung ausmachte – , wackelte er die gefährliche Reise hinab in den Garten zu Pir Khan und bot ihm all seinen Schmuck an für einen kleinen Ritt auf Holdens Pferd, wie er die Mutter seiner Mutter in der Veranda mit Hausierern hatte schachern sehen. Pir Khan weinte und setzte sich die ungeübten Füßchen auf sein eigenes graues Haupt zum Zeichen seiner Vasallentreue und brachte den kühnen Abenteurer zurück in seiner Mutter Arme und schwur, daß Tota ein Führer von Männern sein werde, ehe noch sein Bart gewachsen sei. Eines heißen Abends, während er zwischen seinem Vater und der Mutter auf dem Dach saß und dem nie endenden Krieg der Drachen zusah, die die Stadtjungens steigen ließen, wollte er einen eigenen Drachen haben, den Pir Khan steigen lassen sollte, denn er fürchtete sich vor Dingen, die größer waren als er selbst, und als Holden ihn »Fünkchen« nannte, erhob er sich auf seine Füßchen und antwortete langsam zur Verteidigung seiner neu gefundenen Individualität: »Hum’park nabin hai. Hum admi hai (Ich bin kein Fünkchen, ich bin ein Mann).« Dieser Protest erstickte Holden fast und ließ ihn sehr ernsthaft Erwägungen über Totas Zukunft anstellen. Er hätte sich diese Mühe kaum zu machen brauchen. Das Glück eines solchen Lebens war zu vollkommen, um zu dauern. Deshalb
ward es hinweggenommen wie manche Dinge in Indien hinweggenommen werden – plötzlich und ohne Warnung. Der kleine Herr des Hauses, wie Pir Khan ihn nannte, wurde traurig und begann, über Schmerzen zu klagen, er, der das Wort Schmerz nie gekannt hatte. Ameera, außer sich vor Entsetzen, wachte die Nacht über bei ihm, und in der Morgendämmerung des zweiten Tages ward das Leben vom Fieber aus ihm herausgeschüttelt – vom jahreszeitlichen Herbstfieber. Es hatte unmöglich geschienen, daß er sterben könnte, und zunächst glaubten weder Ameera noch Holden dem Beweis des kleinen Körpers auf dem Bett. Dann schlug Ameera ihren Schädel gegen die Wand und hätte sich in den Brunnen im Garten gestürzt, hätte Holden sie nicht mit Gewalt zurückgehalten. Nur eine Gnade wurde Holden gewährt. Er ritt im hellen Tageslicht in sein Büro und fand dort eine ungewöhnlich umfangreiche Post vor, die konzentrierte Aufmerksamkeit und harte Arbeit forderte. Doch war er für diese Freundlichkeit der Götter taub.
III Der erste Schock einer Kugel ist nicht mehr als ein kräftiges Kneifen. Der zerstörte Körper sendet der Seele seinen Protest erst zehn bis fünfzehn Sekunden später zu. Holden begriff seinen Schmerz langsam, so wie er auch sein Glück begriffen hatte, und mit der gleichen gebieterischen Notwendigkeit, jede Spur davon zu verbergen. Zu Anfang empfand er lediglich, daß etwas verlorengegangen sei und daß Ameera Trost brauche, wie sie da mit ihrem Kopf auf den Knien saß und schauderte, als Mian Mittu vom Hausdach schrie Tota! Tota! Tota! Später erhoben sich seine ganze Welt und ihr Alltagsleben wider ihn, ihn zu verletzen. Es war ein Frevel, daß irgendeines der Kinder
abends am Musikpavillon noch am Leben war und lärmen durfte, während sein eigenes Kind totlag. Es war mehr als nur Schmerz, wenn eines von ihnen ihn berührte, und Geschichten überstolzer Väter über die letzten Heldentaten ihrer Kinder trafen ihn bis ins Mark. Er konnte niemandem seinen Schmerz anvertrauen. Er hatte weder Hilfe noch Trost noch Mitgefühl; und Ameera führte ihn am Ende eines jeden mühseligen Tages durch jene Hölle der Selbstvorwürfe, die für die bestimmt ist, die ein Kind verloren haben und glauben, daß es mit einem bißchen – ja, einem winzigen bißchen mehr Vorsicht – hätte gerettet werden können. »Vielleicht«, sagte Ameera dann, »habe ich nicht genug aufgepaßt. Ja? – Nein? Die Sonne auf dem Dach an jenem Tag, als er so lange alleine spielte und ich mir – ahi! die Haare flocht –, vielleicht hat die Sonne da das Fieber ausgebrütet. Wenn ich ihn vor der Sonne gewarnt hätte, lebte er vielleicht noch. O mein Leben, sage mir, daß ich schuldlos bin! Du weißt, daß ich ihn liebte, wie ich Dich liebe. Sag, daß mich keine Schuld trifft, sonst sterbe ich – sonst sterbe ich!« »Da ist keine Schuld – vor Gott nicht, nein. Es stand so geschrieben, und was hätten wir da tun können, um ihn zu retten? Was war, war. Laß gut sein, Liebste.« »Er war mein Herz. Wie kann ich den Gedanken vergessen, wenn mir mein Arm jede Nacht erzählt, daß er nicht da ist? Ahi! Ahi! O Tota, komm zurück zu mir – komm wieder und laß uns wieder alle Zusammensein wie zuvor!« »Friede, Friede! Um Deinetwillen – und auch um meinetwillen, wenn du mich liebst – gib Ruhe.« »Das zeigt mir, daß es Dich nicht kümmert; und wie sollte es auch? Die weißen Männer haben Herzen aus Stein und Seelen aus Eisen. Oh, daß ich doch einen Mann meines Volkes geheiratet – auch wenn er mich schlüge – und nie das Brot eines Fremden gegessen hätte!«
»Bin ich ein Fremder – Mutter meines Sohnes?« »Was denn sonst – Sahib?… O vergib mir, vergib! Der Tod hat mich wahnsinnig gemacht. Du bist das Leben meines Herzens und das Licht meiner Augen und der Atem meines Lebens und – und ich habe Dich von mir gestoßen, wenn auch nur für einen Augenblick. Wenn Du fortgingest, bei wem sollte ich Hilfe suchen? Sei nicht ärgerlich. Es war der Schmerz, der sprach, und nicht Deine Sklavin.« »Ich weiß, ich weiß. Wir sind zwei, die wir drei waren. Um so nötiger, daß wir eines sind.« Sie saßen wie üblich auf dem Dach. Es war eine warme Nacht im frühen Frühjahr, und Wetterleuchten tanzte am Horizont zur gebrochenen Musik fernen Donners. Ameera kuschelte sich in Holdens Arme. »Die trockne Erde brüllt wie eine Kuh nach Regen, und ich – ich fürchte mich. Es war nicht so, als wir die Sterne zählten. Doch liebst Du mich wie zuvor, obwohl ein Band hinweggenommen ist? Antworte!« »Ich liebe stärker, denn ein neues Band entstand aus all dem Leid, das wir zusammen tranken, und das weißt Du.« »Ja, ich weiß«, sagte Ameera mit einem sehr leisen Flüstern. »Doch ist es gut, Dich so reden zu hören, mein Leben, der Du so stark im Helfen bist. Ich will kein Kind mehr sein, sondern eine Frau und Dir eine Hilfe. Höre! Gib mir meine sitar, und ich werde tapfer singen.« Und sie ergriff die leichte, silberbeschlagene sitar und begann ein Lied vom großen Helden Rajah Rasalu. Die Hand verirrte sich auf den Saiten, die Melodie zögerte, hielt inne und wandte sich über einen tiefen Ton dem armseligen kleinen Kinderliedchen von der bösen Krähe zu: »Und wilde Pflaumen wachsen im Dschungel, nur einen Penny das Pfund. Nur einen Penny das Pfund, baba, nur…«
Dann kamen die Tränen und die erbarmungswürdige Rebellion gegen das Schicksal, bis sie schlief, leise seufzend in ihrem Schlaf, den rechten Arm vom Körper abgespreizt, als ob sie etwas behüte, das nicht da war. Nach dieser Nacht wurde das Leben etwas leichter für Holden. Der immer vorhandene Schmerz des Verlustes trieb ihn in seine Arbeit, und die Arbeit lohnte es ihm, indem sie seinen Geist für neun oder zehn Stunden am Tag ausfüllte. Ameera saß allein im Haus und brütete, aber sie wurde, nach der Art der Frauen, fröhlicher, als sie begriff, daß Holden sich leichter fühlte. Sie berührten erneut das Glück, aber dieses Mal mit Vorsicht. »Weil wir Tota liebten, starb er. Die Eifersucht Gottes kam über uns«, sagte Ameera. »Ich habe einen großen schwarzen Krug vors Fenster gehängt, um den bösen Blick von uns abzuwenden, und wir dürfen unsere Freude nicht laut werden lassen, sondern müssen leise unter den Sternen wandeln, damit Gott uns nicht finde. Ist das nicht eine gute Rede, Wertloser?« Sie hatte die Betonung von dem Wort weggenommen, das »Liebster« meint, zum Beweis, wie ernst es ihr mit ihrem Vorschlag war. Aber der Kuß, der dieser neuen Taufe folgte, war etwas, das jede Gottheit neidisch gemacht hätte. So hielten sie es hinfort und sagten: »Es ist nichts, es ist nichts«, und hofften, daß alle Mächte das hörten. Die Mächte waren mit anderen Dingen beschäftigt. Sie hatten dreißig Millionen Menschen vier Jahre der Fülle gewährt, in denen die Menschen gut aßen und die Ernten sicher waren und die Geburtenrate Jahr um Jahr stieg; die Distrikte meldeten eine rein bäuerliche Bevölkerung von neunhundert bis zweitausend Personen pro Quadratmeile der überlasteten Erde; und der Abgeordnete von Lower Tooting durchwanderte in Zylinder und Frack Indien und redete weitschweifig über die Segnungen der britischen Herrschaft und regte als einziges, was noch fehle, die Ausarbeitung eines wirklich qualifizierten
Wahlsystems sowie die Einführung des allgemeinen Wahlrechts an. Seine leidgeprüften Gastgeber lächelten und hießen ihn willkommen, und wenn er innehielt, um mit wohlgewählten Worten die Blüte des blutroten Dhâk-Baums, der vor der Zeit ausschlug, zu bewundern als ein Vorzeichen für das, was komme, dann lächelten sie noch mehr. Es war der Stellvertretende Kommissar für Kot-Kyumharsen, der für einen Tag im Club abgestiegen war und leichthin eine Geschichte erzählte, die Holdens Blut zu Eis erstarren ließ, als er ihr Ende hörte. »Der wird keinen mehr belästigen. Hab nie in meinem Leben ‘nen Mann so verblüfft gesehn. Bei Gott, ich dachte, er würde dazu ‘ne Anfrage im Parlament einbringen. Mitreisender in seinem Schiff – aß neben ihm – von der Cholera übern Haufen gerollt, starb binnen achtzehn Stunden. Ihr braucht nicht zu lachen, Jungs. Der Abgeordnete von Lower Tooting ist furchtbar ärgerlich darüber; aber noch mehr verängstigt. Ich glaube, er wird sein erleuchtetes Selbst aus Indien rausbringen.« »Ich würd ne Menge dafür geben, wenn es ihn erwischte. Das würd vielleicht ‘n paar Küster seiner Art in ihren Gemeinden festhalten. Aber wie ist denn das nun mit der Cholera? Verdammt früh für so was«, sagte der Geschäftsführer eines unprofitablen Salzgartens. »Weiß nicht«, sagte der Stellvertretende Kommissar nachdenklich. »Wir haben nen Heuschreckeneinfall. Im ganzen Norden gibt’s sporadisch Cholera – wenigstens nennen wir’s anstandshalber sporadisch. Die Frühjahrs ernten in fünf Distrikten sind mager, und niemand scheint zu wissen, wo der Regen bleibt. Jetzt ist fast März. Ich will ja keinem Angst einjagen, aber mir scheint, daß die Natur diesen Sommer ihre Konten mit einem dicken roten Strich bereinigen wird.«
»Und das, wo ich gerade Urlaub nehmen wollte!« sagte eine Stimme quer durch den Raum. »Wird nicht viel Urlaub geben dieses Jahr, aber es müßten eine ganze Menge Beförderungen anfallen. Ich bin hergekommen, um die Regierung dazu zu bringen, meinen Lieblingskanal auf die Liste der Arbeiten zur Abhilfe bei Hungersnöten zu setzen. Es weht ein übler Wind, der nichts Gutes mit sich bringt. Ich werde den Kanal schließlich doch noch fertig kriegen.« »Das alte Schema also«, sagte Holden, »Hungersnot, Fieber und Cholera?« »Nicht doch. Nur örtliche Knappheit und ein ungewöhnliches Überwiegen jahreszeitlicher Erkrankungen. Sie werden’s alles in den Berichten finden, wenn Sie bis nächstes Jahr leben. Sie sind ein glücklicher Kerl. Sie haben keine Frau, die Sie in Sicherheit bringen müssen. Die Bergstationen dürften dieses Jahr voller Frauen sein.« »Ich glaube, Sie neigen dazu, das Basargeschwätz zu übertreiben«, sagte ein junger Zivilbeamter des Sekretariats. »Ich habe beobachtet…« »Haben Sie«, sagte der Stellvertretende Kommissar, »aber Sie haben noch viel mehr zu beobachten, mein Sohn. In der Zwischenzeit möchte ich Ihnen zu beachten geben…«, und er nahm ihn beiseite, um mit ihm den Bau jenes Kanals zu diskutieren, der ihm so am Herzen lag. Holden ging zu seinem Bungalow und begann zu begreifen, daß er nicht allein in der Welt war, und auch, daß er sich um einen anderen Menschen ängstigte – was die die Seele erhebendste Art von Angst ist, die der Mensch kennt. Zwei Monate später begann die Natur, wie der Stellvertretende vorausgesagt hatte, ihre Konten mit einem roten Stift zu bereinigen. Der Frühjahrsernte folgte ein Schrei nach Brot, und die Regierung, die angeordnet hatte, daß
niemand aus Mangel sterben solle, sandte Weizen. Dann kam die Cholera aus allen vier Himmelsrichtungen. Sie suchte ein Treffen von einer halben Million Pilgern bei einem heiligen Schrein heim. Manche starben zu Füßen ihres Gottes; die anderen flohen und rannten übers Land und trugen die Pestilenz mit sich. Sie warf sich in eine ummauerte Stadt und tötete täglich zweihundert. Das Volk überfüllte die Züge, hing auf den Trittbrettern und hockte auf den Dächern der Waggons, und die Cholera folgte ihm, denn an jeder Station schleppten sie die Toten und die Sterbenden heraus. Sie starben am Straßenrand, und die Pferde der Engländer scheuten vor den Leichen im Gras. Der Regen kam nicht und die Erde wurde Eisen, damit der Mensch nicht dem Tode entgehe, indem er sich in ihr verberge. Die Engländer schickten ihre Frauen in die Berge und gingen ihrer Arbeit nach und traten vor, so wie sie aufgerufen wurden, die Lücken in der Kampflinie aufzufüllen. Holden, der krank vor Angst war, seinen teuersten Schatz auf Erden zu verlieren, hatte sein Bestes getan, Ameera zu überreden, mit ihrer Mutter in die Berge des Himalaya zu gehen. »Warum sollte ich gehen?« fragte sie eines Abends auf dem Dach. »Die Krankheit herrscht, und Menschen sterben, und alle weißen mem-log sind bereits gegangen.« »Wirklich alle?« »Alle – bis auf vielleicht ein paar grindköpfige Alte, die das Herz ihrer Männer ängstigen, weil sie das Risiko zu sterben laufen.« »Nicht doch; wer bleibt, ist meine Schwester und Du darfst sie nicht beschimpfen, denn auch ich werde grindköpfig sein. Ich bin froh, daß alle kecken mem-log weg sind.« »Spreche ich mit einer Frau oder mit einem Kind? Geh in die Berge, und ich werde dafür sorgen, daß Du wie die Tochter
einer Königin reist. Stell Dir vor, Kind! In einem rotlackierten Ochsenwagen, mit Schleiern und Vorhängen, mit kupfernen Pfauen auf der Deichsel und roten Tuchbehängen. Ich werde zwei Ordonnanzen als Wache mitschicken und…« »Frieden! Wenn du so sprichst, bist Du das Kind. Was sollen mir solche Spielzeuge? Er würde die Ochsen getätschelt und mit der Zurüstung gespielt haben. Um seinetwillen wäre ich – Du hast mich sehr Englisch gemacht – vielleicht gegangen. Jetzt will ich nicht. Laß die mem-log weglaufen.« »Ihre Männer schicken sie, Liebste.« »Schöne Ausrede. Seit wann bist Du mein Eheherr, daß Du mir sagen könntest, was ich zu tun habe? Ich habe Dir nur einen Sohn geboren. Du bist mir nur die ganze Sehnsucht meiner Seele. Wie könnte ich abreisen, wo ich doch weiß, daß falls Dich ein Übel auch nur von der Breite meines kleinsten Fingernagels – ist der nicht winzig? – befiele, ich das sofort wüßte, und wäre ich im Paradies. Und wenn Du während dieses Sommers hier stürbest – ai, janee, stürbest!, und sie während deines Hinscheidens eine weiße Frau herbeiriefen, Dich zu pflegen, und sie mir so zuletzt Deine Liebe raubte!« »Aber Liebe entsteht doch nicht in einem Augenblick oder auf dem Sterbebett!« »Was weißt denn du von Liebe, steinernes Herz? Sie nähme wenigstens Deinen Dank entgegen, und bei Gott und dem Propheten und Beebee Miriam, der Mutter Deines Propheten: das werde ich niemals dulden. Mein Herr und meine Liebe, laß es genug sein mit dem närrischen Geschwätz über das Fortgehen. Wo Du bist, bin ich. Und damit Schluß.« Sie legte einen Arm um seinen Hals und eine Hand auf seinen Mund. Kein Glück ist vollständiger als das, das man im Schatten des Schwertes erhascht. Sie saßen beisammen und lachten, und sie riefen sich offen bei jedem Kosenamen, der den Zorn der Götter heraufbeschwören konnte. Die Stadt unter ihnen war in
ihre eigenen Qualen eingeschlossen. Schwefelfeuer loderten in den Straßen; die Muschelhörner in den Hindutempeln kreischten und brüllten, denn die Götter waren in jenen Tagen unaufmerksam. Beim großen muslimischen Schrein gab es einen Gottesdienst und von den Minaretten erklang fast ununterbrochen der Ruf zum Gebet. Sie hörten das Wehklagen in den Häusern der Toten und einmal die Schreie einer Mutter, die ihr Kind verloren hatte und seine Rückkehr forderte. Im Morgengrauen sahen sie, wie man die Toten durch die Stadttore hinaustrug, jede Bahre mit ihrem eigenen kleinen Knoten Trauernder. Worauf sie einander küßten und erschauerten. Es war eine rote und schwere Bereinigung, denn das Land war sehr krank und brauchte ein bißchen Atemraum, ehe der Strom billigen Lebens es erneut überflutete. Die Kinder unreifer Väter und unentwickelter Mütter leisteten keinen Widerstand. Sie waren verschüchtert und saßen still und warteten, bis das Schwert im November wieder in die Scheide gestoßen werde, falls das geschrieben stünde. Der Dienst in der Überwachung der Maßnahmen gegen die Hungersnot, der Cholerabaracken, der Medikamentenverteilung und was an kleinen hygienischen Verbesserungen möglich war, ging voran, weil es so angeordnet war. Holden war angewiesen worden, sich bereit zu halten, um den nächsten Mann, der fiele, zu ersetzen. Schon jetzt waren es zwölf Stunden an jedem Tag, da er Ameera nicht sehen konnte, und sie mochte binnen dreier sterben. Er erwog, wie er wohl leiden würde, wenn er sie für drei Monate nicht sehen könnte oder wenn sie in seiner Abwesenheit stürbe. Er war vollkommen sicher, daß ihr Tod gefordert werden würde – so sicher, daß er, als er vom Telegramm aufsah und Pir Khan atemlos in der Tür stehen sah, laut auflachte. »Na?« sagte er…
»Wenn ein Schrei in der Nacht ist und der Geist in der Kehle flattert, wer hat den Zauber, der wiederherstellt? Komm schnell, Himmelsgeborener! Es ist die schwarze Cholera.« Holden galoppierte nach Hause. Der Himmel war schwer von Wolken, denn der lange verzögerte Regen war nahe und die Hitze erstickend. Ameeras Mutter jammerte, als sie ihn im Hof traf. »Sie stirbt. Sie wiegt sich selbst in den Tod. Sie ist schon fast tot. Was soll ich tun, Sahib?« Ameera lag in dem Raum, in dem Tota geboren wurde. Sie gab kein Zeichen, als Holden eintrat, denn die menschliche Seele ist sehr einsam und, wenn sie sich darauf vorbereitet fortzugehen, verbirgt sie sich in einem nebligen Grenzland, wohin die Lebenden nicht folgen können. Die schwarze Cholera tut ihre Arbeit ruhig und ohne Erklärungen. Ameera wurde aus dem Leben hinausgestoßen, als ob der Engel des Todes selbst seine Hand auf sie gelegt hätte. Das schnelle Atmen schien anzudeuten, daß sie entweder in Schmerzen oder in Ängsten war, aber weder Auge noch Mund antwortete auf Holdens Küsse. Holden konnte nur warten und leiden. Die ersten Tropfen des Regens fielen auf das Dach und er konnte die Freudenschreie aus der vertrockneten Stadt hören. Die Seele kam ein Weniges zurück und die Lippen bewegten sich. Holden beugte sich hinab zu lauschen. »Behalte nichts von mir«, sagte Ameera. »Nimm kein Haar von meinem Kopf. Sie würde Dich später zwingen, es zu verbrennen. Und die Flamme spürte dann ich. Tiefer! Beug Dich tiefer! Erinnere Dich nur daran, daß ich Dein war und Dir einen Sohn gebar. Und ob Du morgen eine weiße Frau freiest, die Freude, in Deinen Armen Deinen ersten Sohn zu empfangen, ist von Dir genommen für immer. Erinnere Dich meiner, wenn Dein Sohn geboren wird – der, der Deinen Namen vor allen Menschen tragen wird. Sein Unglück falle auf mein Haupt. Ich bezeuge –
ich bezeuge«, – die Lippen formten die Worte in sein Ohr, – »daß es keinen Gott gibt außer – Dir, Liebster!« Dann starb sie. Holden saß still, und alles Denken war von ihm genommen – bis er Ameeras Mutter den Vorhang heben hörte. »Ist sie tot, Sahib?« »Sie ist tot.« »Dann will ich klagen und danach das Inventar der Möbel in diesem Haus aufstellen. Denn die gehören mir. Der Sahib gedenkt doch nicht, sie zu behalten? So wenig ist das, so ganz wenig, Sahib, und ich bin eine alte Frau. Ich möchte gerne weich gebettet sein.« »Bei der Gnade Gottes, schweig. Gehe und klage, wo ich es nicht hören kann.« »Sahib, sie wird in vier Stunden begraben.« »Ich kenne die Sitte. Ich werde gehen, bevor man sie wegträgt. Die Sache bleibt in Deiner Hand. Sorge dafür, daß das Bett, auf dem… auf dem sie liegt…« »Aha! Das wunderschöne rotlackierte Bett. Ich habe mir seit langem gewünscht…« »Das Bett bleibt hier unberührt zu meiner Verfügung. Alles andere im Haus ist Dein. Miete eine Karre, nimm alles, gehe fort, und vor Sonnenaufgang soll nichts mehr in diesem Haus sein außer dem, das zu respektieren ich Dir befohlen habe.« »Ich bin eine alte Frau. Ich wollte wenigstens für die Tage der Klage bleiben, und der Regen hat eben erst begonnen. Wohin soll ich gehen?« »Was geht das mich an? Mein Befehl ist, daß Du gehest. Die Hauseinrichtung ist tausend Rupien wert, und meine Ordonnanz wird Dir heut abend hundert Rupien bringen.« »Das ist sehr wenig. Denk an die Karrenmiete.« »Es wird gar nichts sein, wenn Du nicht gehest, und das schnell. O Weib, verschwinde und laß mich bei meiner Toten.«
Die Mutter schlurfte die Treppenstiege hinab und vergaß in ihrer Gier, die Hauseinrichtung aufzunehmen, ihre Klage. Holden blieb an Ameeras Seite und der Regen trommelte aufs Dach. Er vermochte wegen des Geräuschs nicht zusammenhängend zu denken, auch wenn er es viele Male versuchte. Dann glitten vier verhüllte Geister tropfend in den Raum und starrten ihn durch ihre Schleier an. Es waren die Leichenwäscherinnen. Holden verließ den Raum und ging hinaus zu seinem Pferd. Er war in einer toten, erstickenden Ruhe durch knöcheltiefen Staub gekommen. Jetzt fand er den Hof als regengepeitschten Teich, belebt von Fröschen; ein Strom gelben Wassers schoß durch das Tor, und ein brüllender Wind trieb die Regenbolzen wie Rehposten gegen die Lehmwände. Pir Khan fröstelte in seiner kleinen Hütte am Tor, und das Pferd stampfte unruhig im Wasser. »Ich habe des Sahibs Befehle empfangen«, sagte Pir Khan. »Es ist gut. Dieses Haus ist nun verlassen. Auch ich gehe, denn mein Affengesicht wäre eine Erinnerung an das, was war. Was das Bett angeht, so werde ich es am Morgen zu Deinem Haus hinüberbringen; aber bedenke, Sahib, es wird Dir ein Messer sein, das in einer frischen Wunde umgedreht wird. Ich gehe auf eine Pilgerfahrt, und ich nehme kein Geld. Ich bin fett geworden unter dem Schutz der Anwesenheit, deren Leid mein Leid ist. Zum letzten Mal halte ich den Steigbügel.« Er berührte Holdens Fuß mit beiden Händen, und das Pferd sprang in die Straße hinaus, wo ächzender Bambus den Himmel peitschte und alle Frösche frohlockend glucksten. Holden konnte wegen des Regens in seinem Gesicht nichts sehen. Er schlug die Hände vor die Augen und murmelte: »O Du Ungeheuer! Du furchtbares Ungeheuer!« Die Nachricht von seinem Unglück war bereits in seinem Bungalow angelangt. Er las das Wissen in den Augen seines Butlers, als Ahmed Khan Essen brachte, und zum ersten und
letzten Mal in seinem Leben legte er die Hand auf die Schulter seines Herrn und sagte: »Iß, Sahib, iß. Speise ist gut gegen Kummer. Auch ich weiß das. Und dann: die Schatten kommen und gehen, Sahib; die Schatten kommen und gehen. Hier sind Eier mit Curry.« Holden konnte weder essen noch schlafen. Der Himmel schickte in jener Nacht acht Zoll Regen hinab und wusch die Erde sauber. Die Wasser rissen Mauern ein, zerbrachen Straßen und schwemmten die flachen Gräber auf dem muslimischen Friedhof aus. Den ganzen nächsten Tag regnete es, und Holden saß bewegungslos in seinem Haus und bedachte seinen Schmerz. Am Morgen des dritten Tages erhielt er ein Telegramm, das nur sagte: »Ricketts, Myndonie. Sterbe. Holden ablösen. Sofort.« Da dachte er, daß er vor seiner Abreise einen Blick auf das Haus werfen wolle, worin er Herr und Gebieter gewesen war. Es gab einen Wetterumschwung, und die satte Erde dampfte mit Feuchtigkeit. Er stellte fest, daß der Regen die Lehmsäulen des Torwegs niedergerissen hatten, und das schwere hölzerne Tor, das sein Leben geborgen hatte, hing faul in einer Angel. Gras stand drei Zoll hoch im Hof; Pir Khans Hütte war leer, und das sattgesoffene Strohdach sackte durch die Balken. Ein graues Eichhörnchen hatte die Veranda in Besitz genommen, als ob das Haus seit dreißig Jahren und nicht erst seit drei Tagen unbewohnt wäre. Ameeras Mutter hatte alles entfernt außer einigen modernden Matten. Das tick-tick der kleinen Skorpione, als sie über den Boden huschten, war das einzige Geräusch im Haus. Ameeras Zimmer und das andere, in dem Tota gelebt hatte, waren dicht von Schimmel überzogen, und die enge Treppenstiege, die auf das Dach führte, war vom Schmutz, den der Regen eingeschwemmt hatte, gestreift und besudelt. Holden sah alle diese Dinge und ging hinaus in die
Straße und traf Durga Daß, seinen Hauswirt – behäbig, leutselig, in weißes Musselin gekleidet, in einem Buggy auf Cförmigen Federn. Er inspizierte seine Besitzungen, um zu sehen, wie die Dächer der Last des ersten Regens widerstanden hatten. »Ich habe gehört«, sagte er, »daß Sie das Haus nicht länger behalten wollen, Sahib?« »Was werden Sie mit ihm machen?« »Vielleicht werde ich es wieder vermieten.« »Dann will ich es behalten, während ich weg bin.« Durga Daß schwieg eine Weile. »Das sollten Sie nicht auf sich nehmen, Sahib«, sagte er. »Als ich ein junger Mann war, habe ich auch… aber heute bin ich ein Mitglied des Stadtrats. Ho! Ho! Nein. Wenn die Vögel fortgeflogen sind, warum dann das Nest behalten? Ich werde es niederreißen lassen – das Holz läßt sich immer noch verkaufen. Es wird niedergerissen, und die Stadt wird eine Straße darüber hinführen, wie sie das wünscht, vom Brand-Ghaut zur Stadtmauer, so daß niemand mehr sagen kann, wo dieses Haus einst stand.«
Imrays Rückkehr
The doors were wide, the story saith, Out of the night came the patient wraith, He might not speak, and he could not stir A hair of the Baron’s minniver – Speechless and strengthless, a shadow thin, He roved the castle to seek his kin. And oh, ‘twas a piteous thing to see. The dumb ghost follow his enemy! The Baron (Die Pforten waren weit, so erzählt die Geschichte, Aus der Nacht kam der geduldige Totengeist, Er wollte nicht sprechen, und er konnte nicht bewegen Ein Härchen am Hermelinmantel des Barons – Sprachlos und kraftlos, ein dünner Schatten, Durchschweifte er das Schloß auf der Suche nach Seinesgleichen. Und wie erbarmungswürdig war es zu sehen, Wie der stumme Geist seinem Feinde folgte! Der Baron)
Imray gelang das Unmögliche. Ohne Warnung und aus keinem erkennbaren Grund entschied er, in seiner Jugend und am Beginn seiner Karriere aus der Welt zu verschwinden – das heißt, aus der kleinen indischen Station, wo er lebte. Am einen Tag war er lebendig, wohlauf, glücklich und höchst sichtbar zwischen den Billardtischen seines Clubs. Am anderen Morgen war er es nicht, und alle Suche konnte nicht erkunden, wo er sein mochte. Er war aus seinem Platz herausgetreten; er war in seinem Büro nicht zur üblichen Zeit erschienen, und
seine Jagdgig fuhr auf keiner öffentlichen Straße. Aus diesen Gründen, und weil er in einem mikroskopischen Ausmaß die Verwaltung des Indischen Reiches behinderte, hielt dieses Reich für einen mikroskopischen Augenblick inne, um nach dem Schicksal Imrays zu forschen. Teiche wurden mit Netzen durchschleppt, Brunnen sondiert, Telegramme entlang den Eisenbahnlinien in den nächsten Seehafen – zwölfhundert Meilen entfernt – hinabgeschickt; aber Imray fand sich nicht in den Schleppnetzen noch am Ende der Telegraphendrähte. Er war verschwunden, und sein Platz kannte ihn nicht mehr. Und dann kam die Maschinerie des großen Indischen Reiches wieder in Schwung, denn sie konnte nicht länger verzögern, und Imray wurde aus einem Mann zu einem Mysterium – zu so einem, wie es Männer an ihren Tischen im Club für einen Monat besprechen und dann völlig vergessen. Seine Büchsen, Pferde, Wagen wurden an den Meistbietenden verkauft. Sein Vorgesetzter schrieb einen absolut absurden Brief an seine Mutter, daß Imray unerklärlicherweise verschwunden sei und sein Bungalow leerstehe. Nachdem drei oder vier Monate sengend heißen Wetters vergangen waren, hielt es mein Freund Strickland von der Polizei für angebracht, den Bungalow von dem einheimischen Hauswirt zu mieten. Dies geschah, bevor er mit Miss Youghal verlobt war – eine Angelegenheit, die an anderem Orte beschrieben wurde – und während er seine Erforschung des einheimischen Lebens betrieb. Sein eigenes Leben war eigenartig genug, und die Menschen beschwerten sich über seine Manieren und Gewohnheiten. Es gab immer zu essen in seinem Haus, aber es gab keine regulären Tischzeiten. Er aß im Stehen und umherschlendernd, was immer er auf dem Anrichtetisch vorfand, und das ist nicht gut für den Menschen. Sein Hausrat bestand aus sechs Gewehren, drei Jagdbüchsen, fünf Sätteln und einer Sammlung von Mahseer-Angelruten,
steif gespleißt jede und größer und stärker als die größte Lachsrute. Das nahm die eine Hälfte seines Bungalows ein, und die andere war Strickland und seinem Hund Tietjens vorbehalten – einem riesigen Stück Hündin aus Rampur, das täglich die Portionen von zwei Männern verschlang. Sie sprach mit Strickland in einer ihr eigenen Sprache; und wo immer sie beim Umherstreifen Dinge sah, die darauf abzielten, den Frieden ihrer Majestät der Königin und Kaiserin zu zerstören, kehrte sie zu ihrem Herrn zurück und berichtete ihm. Strickland unternahm dann sofort etwas, und das Ergebnis seiner Bemühungen waren Schwierigkeiten und Geldstrafen und Gefängnis für gewisse Leute. Ein Raum im Bungalow war dem speziellen Gebrauch der Hündin vorbehalten. Sie besaß ein Bett, eine Decke und eine Trinkschale, und wenn irgend jemand nachts in Stricklands Raum kam, pflegte sie den Eindringling umzuwerfen und so lange Laut zu geben, bis jemand mit einem Licht kam. Strickland verdankte ihr sein Leben, als er im Grenzgebiet nach einem Mörder vom Orte suchte, der im Grau der Morgendämmerung kam, um Strickland sehr viel weiter als zu den Andamanen zu schicken. Tietjens erwischte den Mann, als er mit einem Dolch zwischen den Zähnen in Stricklands Zelt kroch; und nachdem die Liste seiner Missetaten für das Auge des Gesetzes aufgesetzt war, wurde er gehängt. Von jenem Tag an trug Tietjens ein Halsband aus grobem Silber und ein Monogramm auf ihrer Nachtdecke; und die Nachtdecke war aus doppeltgewebtem Kaschmir, denn sie war eine feine Hündin. Unter keinen Umständen ließ sie zu, von Strickland getrennt zu sein; und einmal, als er krank mit Fieber darniederlag, bereitete sie den Ärzten erhebliche Schwierigkeiten, denn sie wußte nicht, wie sie ihrem Herrn hätte helfen können, erlaubte aber auch keinem anderen Geschöpf, Hilfe zu versuchen. Macarnaght vom Indischen Gesundheitsdienst hieb ihr einen
Gewehrkolben über den Schädel, damit sie begriff, daß sie jenen Platz machen mußte, die Chinin geben konnten. Kurz nachdem Strickland Imrays Bungalow übernommen hatte, führte mich meine Arbeit in jene Station, und da die Zimmer des Clubs belegt waren, quartierte ich mich natürlich bei Strickland ein. Es war ein schöner Bungalow mit acht Räumen und einem dicken Strohdach gegen jeden Regen. Unter der Dachschräge war ein Tuch ausgespannt, das genauso sauber wirkte wie eine frisch geweißte Decke. Der Hauswirt hatte es neu gestrichen, als Strickland den Bungalow übernahm. Wenn man nicht weiß, wie indische Bungalows gebaut sind, käme man nie auf die Idee, daß sich über dem Tuch die düstere dreieckige Höhle des Daches befand, die alle Arten von Ratten, Fledermäusen, Ameisen und üblen Dingen beherbergte. Tietjens kam mir auf der Veranda mit einem Bellen wie das Dröhnen der Glocken von St. Pauls entgegen und legte mir ihre Pfoten auf die Schultern, um mir zu zeigen, daß sie sich freute, mich zu sehen. Strickland hatte es geschafft, sich eine Art Essen zusammenzuklauben, das er Mittagessen nannte, und verschwand unmittelbar nachdem es beendet war zu seinen Obliegenheiten. Ich blieb mit Tietjens und meinen eigenen Angelegenheiten allein. Die Hitze des Sommers war gebrochen und hatte sich in die warme Feuchtigkeit der Regenzeit verwandelt. Die heiße Luft bewegte sich nicht, aber es regnete Schusterjungen, und der Regen warf einen bläulichen Nebel auf, wenn er von der Erde hochspritzte. Bambus und Flaschenbäume, Poinsettien und Mangobäume standen bewegungslos im Garten, während das warme Wasser durch sie hindurchpeitschte, und die Frösche begannen unter den Aloehecken zu singen. Kurz vor dem Erlöschen des Tageslichtes, während der Regen am heftigsten fiel, saß ich auf der hinteren Veranda und hörte das Wasser von den Blättern
strömen und kratzte mich, denn ich war mit dem bedeckt, was man Hitzepöckchen nennt. Tietjens kam mit mir heraus und legte ihren Kopf in meinen Schoß und war voller Kummer; also fütterte ich sie mit Plätzchen, als der Tee fertig war, und dann nahm ich den Tee auf der hinteren Veranda, weil es dort ein bißchen kühler war. Die Räume des Hauses hinter mir waren dunkel. Ich konnte Stricklands Sattelzeug riechen und das Öl seiner Gewehre, und ich hatte kein Verlangen, zwischen diesen Dingen zu sitzen. Mein Diener kam zu mir im Zwielicht, und der Musselin seiner Kleidung klebte eng an seinem durchnäßten Körper, und er sagte mir, da wäre ein Gentleman, der jemanden zu sprechen wünsche. Wegen der Dunkelheit der Räume ging ich sehr widerwillig in den kahlen Empfangsraum und befahl meinem Mann, er solle Lichter bringen. Vielleicht wartete da nun ein Besucher, vielleicht auch nicht – mir schien immerhin, als sähe ich eine Gestalt an einem der Fenster –, aber als die Lichter kamen, war da nichts außer dem Prasseln des Regens draußen und dem Geruch der trinkenden Erde in meinen Nüstern. Ich erklärte meinem Diener, daß er dümmer sei als die Polizei erlaube, und ging auf die Veranda zurück, um mit Tietjens zu reden. Sie war hinaus ins Nasse gegangen, und ich hatte selbst mit gezuckerten Plätzchen die größte Mühe, sie zu mir zurückzulocken. Strickland kam nach Hause, tropfnaß, gerade vor dem Abendessen, und das erste, was er sagte, war: »Ist jemand dagewesen?« Ich erklärte unter Entschuldigungen, daß mein Diener mich ins Besuchszimmer gerufen habe, doch sei es ein falscher Alarm gewesen; oder vielleicht habe irgendein Landstreicher Strickland sprechen wollen, sich dann aber anders besonnen und sei geflohen, nachdem er seinen Namen genannt habe. Strickland befahl kommentarlos das Abendessen, und da es ein
richtiges Abendessen auf weißem Tischtuch war, setzten wir uns dazu nieder. Um neun Uhr wollte Strickland zu Bett gehen, und auch ich war müde. Tietjens, die unter dem Tisch gelegen hatte, stand auf und sauste auf die am wenigsten zugängliche Veranda, sobald ihr Herr sich in seinen eigenen Raum verfügt hatte, der an ihr eigenes Staatsgemach angrenzte. Wenn eine einfache Ehefrau gewünscht hätte, außerhalb des Hauses im strömenden Regen zu schlafen, wäre das egal gewesen; aber Tietjens war eine Hündin und also das wertvollere Tier. Ich blickte zu Strickland hinüber und glaubte, er werde ihr die Peitsche geben. Er lächelte eigenartig, wie ein Mann lächelt, der gerade irgendeine unerfreuliche häusliche Tragödie berichtet hat. »Das tut sie schon, seit ich hier eingezogen bin«, sagte er. »Also laß sie.« Es war Stricklands Hündin, also sagte ich nichts, aber ich fühlte alles, was Strickland fühlte, als er sich so verschmäht sah. Tietjens kampierte unter meinem Schlafzimmerfenster, und Sturm nach Sturm kam auf, donnerte aufs Dach und erstarb. Die Blitze besprühten den Himmel wie ein geschleudertes Ei das Scheunentor, aber ihr Licht war blaßblau und nicht gelb; und wenn ich durch meine Bambus-Jalousien blickte, konnte ich die große Hündin in der Veranda stehen sehen, sie schlief nicht, die Rückenhaare waren gesträubt, die Pfoten so krampfhaft verankert wie die gespannten Drahtseile einer Hängebrücke, In den sehr kurzen Pausen zwischen den Donnerschlägen versuchte ich zu schlafen, aber es schien mir, als ob mich jemand sehr dringlich wünsche. Wer immer es war, er versuchte mich beim Namen zu rufen, doch seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern. Der Donner hörte auf, und Tietjens ging in den Garten und heulte den niedrigen Mond an. Jemand versuchte meine Tür zu öffnen und wanderte und wanderte durchs Haus und stand schwer
atmend auf der Veranda, und als ich gerade in Schlaf versank, schien es mir, als höre ich ein wildes Hämmern und Lärmen über mir oder an der Tür. Ich rannte in Stricklands Zimmer und fragte ihn, ob er krank sei und nach mir gerufen habe. Er lag halb angezogen auf seinem Bett, die Pfeife im Mund. »Ich dachte mir, daß Du kommen würdest«, sagte er. »Bin ich eben im Haus herumgelaufen?« Ich erklärte, daß er durchs Eßzimmer gestampft sei und durch den Rauchsalon und durch zwei oder drei andere Räume; und er lachte und sagte mir, ich solle mich wieder schlafen legen. Ich ging zurück ins Bett und schlief bis zum Morgen, aber durch all meine wirren Träume hindurch war ich mir sicher, daß ich irgend jemandem ein Unrecht antat, indem ich seinen Wünschen nicht nachkam. Was das für Wünsche waren, vermochte ich nicht zu sagen; aber ein flatternder, flüsternder, riegelbefummelnder, zögerlicher, lauernder Jemand warf mir meine Schlaffheit vor, und halbwach hörte ich das Heulen von Tietjens im Garten und das Prasseln des Regens. Zwei Tage verbrachte ich in diesem Haus. Strickland ging jeden Tag in sein Büro und ließ mich für acht oder zehn Stunden allein mit Tietjens als einzigem Gefährten. Solange das Tageslicht anhielt, fühlte ich mich wohl, und Tietjens auch; aber im Zwielicht verzogen sie und ich uns auf die hintere Veranda und schmusten zur Gesellschaft miteinander. Wir waren allein im Haus, aber dennoch war es zu sehr von einem Einwohner erfüllt, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Ich sah ihn nie, aber ich konnte die Vorhänge zwischen den Zimmern zittern sehen, durch die er gerade geschritten war; ich konnte die Stühle knacken hören, wenn sich der Bambus von einem Gewicht entspannte, das sie gerade verlassen hatte; und wenn ich mir ein Buch aus dem Eßzimmer holte, konnte ich fühlen, wie jemand im Schatten der vorderen
Veranda darauf wartete, daß ich wieder ging. Tietjens machte das Zwielicht interessanter, indem sie mit gesträubten Haaren in die dunklen Zimmer starrte und irgendwelche Bewegungen beobachtete, die ich nicht sehen konnte. Sie betrat keines der Zimmer, aber ihre Augen bewegten sich interessiert: das genügte. Nur wenn mein Diener kam, um die Lampen zu putzen und alles hell und wohnlich zu machen, ging sie mit mir hinein und verbrachte ihre Zeit auf den Keulen hockend und einen unsichtbaren weiteren Mann beobachtend, der sich hinter meinem Rücken zu schaffen machte. Hunde sind aufheiternde Gefährten. Ich erklärte Strickland so höflich wie möglich, daß ich zum Club hinübergehen wolle, um mir dort Unterkunft zu suchen. Ich bewundere seine Gastfreundschaft, erfreue mich an seinen Gewehren und Ruten, aber habe nicht viel übrig für das Haus und seine Atmosphäre. Er hörte mich bis zuende an und lächelte dann sehr müde aber ohne Verachtung, denn er ist ein Mann, der die Dinge versteht. »Bleib hier«, sagte er, »und sieh zu, was diese Sache bedeutet. Ich weiß davon, seit ich den Bungalow übernahm. Bleib und warte ab. Tietjens hat mich verlassen. Willst Du das auch?« Ich hatte ihn in einer kleinen Angelegenheit unterstützt, die mit einem heidnischen Idol zusammenhing und die mich fast ins Irrenhaus gebracht hätte, und ich spürte kein Bedürfnis, ihm bei weiteren Experimenten beizustehen. Er war ein Mann, dem Ungeheuerlichkeiten zustießen wie normalen Menschen Einladungen zum Abendessen. Deshalb erklärte ich ihm deutlicher als je zuvor, daß ich ihn ungemein gern habe und glücklich sein würde, ihn bei Tage zu sehen; daß ich aber keinen Wert darauf lege, unter seinem Dach zu schlafen. Das war nach dem Abendessen, als Tietjens schon gegangen war, sich auf der Veranda niederzulegen.
»Bei meiner Seele, wundert mich nicht«, sagte Strickland und blickte auf zum Deckentuch. »Sieh Dir das an!« Die Schwänze von zwei braunen Schlangen hingen zwischen Deckentuch und Wandgesims herab. Sie warfen im Lampenlicht lange Schatten. »Aber wenn Du Angst vor Schlangen hast…«, sagte Strickland. Ich hasse und fürchte Schlangen, denn wenn man in die Augen einer beliebigen Schlange blickt, sieht man, daß sie alles und noch mehr über das Geheimnis des menschlichen Sündenfalls weiß und daß sie all jene Verachtung empfindet, die der Teufel empfand, als Adam aus dem Paradies vertrieben wurde. Außerdem ist ihr Biß meist tödlich, und sie kriecht die Hosenbeine herauf. »Du solltest das Dach überholen lassen«, sagte ich. »Gib mir eine der Mahseer-Ruten und wir wollen sie runterschubsen.« »Sie verstecken sich zwischen den Dachbalken«, sagte Strickland. »Ich kann Schlangen überm Kopf nicht ausstehen. Ich werd ins Dach raufsteigen. Wenn ich sie runterschüttle, halt Dich mit einem Ladestock bereit und brech ihnen das Kreuz.« Ich war nicht scharf darauf, Strickland bei seiner Arbeit beizustehen, aber ich griff mir einen Ladestock und wartete im Eßzimmer, während Strickland eine Gärtnerleiter von der Veranda hereinbrachte und gegen die Zimmerwand lehnte. Die Schlangenschwänze zogen sich ein und verschwanden. Wir konnten das trockene raschelnde Huschen langer Körper hören, die über das schlottrige Deckentuch hinglitten. Strickland nahm eine Lampe mit sich, während ich ihm die Gefahren einer Jagd auf Dachschlangen zwischen Deckentuch und Strohdach klarzumachen versuchte, ganz abgesehen davon, daß er möglicherweise das Deckentuch herausriß und damit fremdes Eigentum beschädigte.
»Unfug!« sagte Strickland. »Sie verstecken sich bestimmt an den Mauern auf dem Tuch. Die Ziegel sind ihnen zu kalt, und die Zimmerwärme ist genau das, was sie lieben.« Er griff mit der Hand nach der Ecke des Stoffes und riß ihn vom Wandgesims ab. Er gab mit einem mächtigen reißenden Geräusch nach, und Strickland steckte seinen Kopf durch die Öffnung in das Dunkel der Schräge der Dachbalken. Ich biß auf die Zähne und hob den Ladestock, denn ich hatte nicht die geringste Vorstellung von dem, was herunterkommen mochte. »Hm!« machte Strickland, und seine Stimme rollte und grummelte im Dachraum. »Da ist Platz für ne ganze Reihe anderer Zimmer hier oben, und bei Gott, jemand bewohnt sie schon!« »Schlangen?« fragte ich von unten. »Nee. Ein Büffel. Gib mir die beiden Endstücke einer Mahseer-Rute rauf und ich werd’s runterstochern. Es liegt auf dem Tragebalken.« Ich gab die Rute hinauf. »Was für’n Nest für Eulen und Schlangen! Kein Wunder, daß Schlangen hier leben«, sagte Strickland und kletterte weiter ins Dach hinein. »Komm da raus, wer immer Du bist! Paß da unten auf Deinen Kopf auf! Es kommt.« Ich sah das Deckentuch ungefähr in der Mitte des Raumes durchhängen unter dem Gewicht einer Form, die es tiefer und tiefer drückte auf die brennenden Lampen auf dem Tisch zu. Ich zog eine Lampe hastig aus dem Gefahrenbereich und trat zurück. Dann riß das Tuch von der Wand, zerfetzte, zerbarst, schwankte und schoß etwas auf den Tisch herab, das ich nicht anzublicken wagte, bis Strickland die Leiter herabgeglitten war und an meiner Seite stand. Er sagte nicht viel, da er ein Mann von wenigen Worten war; aber er ergriff die losen Ecken der Tischdecke und breitete sie über das Überbleibsel auf dem Tisch.
»Scheint mir«, sagte er und stellte die Lampe ab, »unser Freund Imray ist zurück. Na! Was denn, willst Du wohl?« Da war eine Bewegung unter dem Tuch, und eine kleine Schlange schlängelte sich hervor, um das Kreuz mit dem Kolben der Mabseer-Rute gebrochen zu bekommen. Mir war es ausreichend übel, um keine überlieferungswerte Bemerkung zu machen. Strickland dachte nach und besorgte sich zu trinken. Was sich unter dem Tuch befand, gab keine weiteren Lebenszeichen von sich. »Ist es Imray?« fragte ich. Strickland hob für einen Moment das Tuch auf und sah hin. »Es ist Imray«, sagte er; »und der Hals ist von Ohr zu Ohr durchgeschnitten.« Dann sprachen wir beide zugleich und zu uns selbst: »Deshalb zischelte er im Haus umher.« Tietjens begann im Garten wild zu bellen. Kurz darauf schob sie mit ihrer großen Nase die Eßzimmertür auf. Sie schnüffelte und war still. Das zerfetzte Deckentuch hing fast auf den Tisch herab und da war kaum Platz, um sich von der Entdeckung wegzubewegen. Tietjens kam herein und setzte sich; die Zähne unter den Lefzen gebleckt, die Vorderläufe aufgestemmt. Sie blickte Strickland an. »Üble Sache, altes Mädchen«, sagte er. »Männer klettern nicht ins Dach ihrer Häuser, um da zu sterben, und sie befestigen das Deckentuch nicht hinter sich. Darüber müssen wir nachdenken.« »Laß uns anderswo darüber nachdenken«, sagte ich. »Vortreffliche Idee! Lösch die Lampen. Wir gehen in mein Zimmer.« Ich löschte die Lampen nicht aus. Ich ging als erster in Stricklands Zimmer, und er durfte das Licht ausmachen. Dann kam er mir nach, und wir entzündeten Tabak und dachten
nach. Strickland dachte. Ich rauchte wütend, denn ich hatte Angst. »Imray ist zurück«, sagte Strickland. »Die Frage ist – wer tötete Imray? Red nicht, ich hab da meine eigenen Ideen. Als ich diesen Bungalow übernahm, übernahm ich die meisten von Imrays Dienern. Imray war ohne Arg und gutmütig, oder nicht?« Ich stimmte zu; obwohl der Haufen unter dem Tisch weder nach dem Einen noch nach dem Anderen aussah. »Wenn ich jetzt alle Diener reinrufe, werden sie sich zusammenrotten und wie die Arier lügen. Was schlägst Du vor?« »Ruf sie einzeln rein«, sagte ich. »Dann werden sie fortlaufen und die Neuigkeit unter sich verbreiten«, sagte Strickland. »Wir müssen sie voneinander getrennt halten. Glaubst Du, daß Dein Diener hiervon irgendwas weiß?« »Er könnte, nach allem was ich weiß; aber ich glaub’s nicht recht. Er ist erst seit zwei oder drei Tagen hier«, antwortete ich. »Was meinst Du denn?« »Ich weiß noch nicht recht. Wie zum Teufel kam der Mann auf die falsche Seite des Deckentuchs?« Da war ein hartnäckiges Hüsteln vor Stricklands Schlafzimmertür. Das bedeutete, daß Bahadur Khan, sein Leibdiener, aus dem Schlaf erwacht war und Strickland zu Bett zu bringen wünschte. »Komm rein«, sagte Strickland. »Ziemlich warme Nacht, oder?« Bahadur Khan, ein großer, grün beturbanter, sechs Fuß hoher Muslim, sagte, daß es eine sehr warme Nacht sei; aber daß mehr Regen komme, der mit seiner Gnaden Zustimmung dem Land Erleichterung bringen werde.
»So wird es sein, wenn es Gott gefällt«, sagte Strickland und zerrte sich die Stiefel herab. »Es ist mir so, Bahadur Khan, als hätte ich Dich seit vielen Tagen erbarmungslos arbeiten lassen – seit Du in meine Dienste kämest. Wann war das?« »Hat das der Himmelsgeborene vergessen? Das war, als Imray Sahib insgeheim ohne Ankündigung nach Europa ging; und ich – sogar ich – kam in den ehrenvollen Dienst des Beschützers der Armen.« »Und Imray Sahib ging nach Europa?« »So wird gesprochen unter denen, die seine Diener waren.« »Und Du wirst wieder Dienst bei ihm nehmen, wenn er zurückkehrt?« »Gewißlich, Sahib. Er war ein guter Herr und hielt seine Abhängigen gut.« »Das ist wahr. Ich bin müde, aber ich will morgen auf Böcke gehen. Gib mir mal das Präzisionsgewehr, das ich für Schwarzböcke brauche; es liegt da drüben im Kasten.« Der Mann beugte sich über den Kasten; reichte Strickland Läufe, Schaft und Vorstück, der alles zusammenfügte und traurig gähnte. Dann griff er in das Büchsenfutteral, nahm eine Patrone mit aufgesetzter Kugel heraus und schob sie in die Kammer der 360 Express. »Und Imray Sahib ist insgeheim nach Europa gegangen! Das ist sehr sonderbar, Bahadur Khan, oder nicht?« »Was weiß ich von den Wegen des weißen Mannes, Himmelsgeborener?« »Sehr wenig, wahrhaftig. Doch nun sollst Du mehr von ihnen erfahren. Mir ist bekannt geworden, daß Imray Sahib von seinen so langen Reisen zurückgekehrt ist und in diesem Augenblick im Nebenzimmer liegt und seinen Diener erwartet.« »Sahib!«
Das Lampenlicht glitt die Läufe des Gewehrs entlang, als sie sich auf Bahadur Khans breite Brust richteten. »Geh und sieh!« sagte Strickland. »Nimm eine Lampe mit. Dein Herr ist müde und harret Deiner. Geh!« Der Mann nahm die Lampe auf und ging ins Eßzimmer; Strickland folgte ihm und stieß ihn fast mit der Mündung der Büchse vorwärts. Er blickte einen Augenblick in die schwarzen Tiefen über dem Deckentuch; auf die sich windende Schlange zu seinen Füßen; und schließlich mit einem grauen Ausdruck im Gesicht auf das Ding unter der Tischdecke. »Sahest Du?« fragte Strickland nach einer Weile. »Ich habe gesehen. Ich bin Ton in der Hand des weißen Mannes. Was wird die Anwesenheit tun?« »Dich noch in diesem Monat hängen. Was sonst?« »Weil ich ihn tötete? Herr, bedenke. Da er unter uns, seinen Dienern, wandelte, warf er sein Auge auf mein Kind, das vier Jahre alt war. Er verzauberte es, und binnen zehn Tagen starb es an Fieber – mein Kind!« »Was sagte Imray Sahib?« »Er sagte, es sei ein schönes Kind, und streichelte ihm den Kopf; weshalb mein Kind starb. Weshalb ich Imray Sahib im Zwielicht tötete, als er aus dem Büro zurückgekommen war und schlief. Weshalb ich ihn ins Dachgebälk hinaufschleppte und hinter ihm alles verschloß. Der Himmelsgeborene weiß alles. Ich bin der Diener des Himmelsgeborenen.« Strickland sah mich über das Gewehr hin an und sagte in der Landessprache: »Bist Du Zeuge seiner Worte? Er hat getötet.« Bahadur Khan stand aschgrau im Licht der einen Lampe. Der Drang sich zu rechtfertigen überkam ihn sehr rasch: »Ich sitze in der Falle«, sagte er, »aber die Untat hat jener Mann begangen. Er warf den bösen Blick auf mein Kind, und ich tötete und verbarg ihn. Nur die, denen Teufel dienen«, er
starrte Tietjens wild an, die unempfindlich vor ihm lagerte, »nur solche können wissen, was ich tat.« »Es war klug. Aber Du hättest ihn mit einem Seil am Balken festbinden sollen. Nun wirst Du selbst am Seil hängen. Ordonnanz!« Ein schläfriger Polizist kam auf Stricklands Ruf. Ihm folgte ein anderer, und Tietjens saß merkwürdig still da. »Bringt ihn zur Wache«, sagte Strickland. »Gegen ihn läuft eine Untersuchung.« »Ich soll also hängen?« sagte Bahadur Khan. Er machte keine Anstalten zu fliehen und hielt den Blick fest am Boden. »Gleichgültig ob die Sonne scheint oder die Wasser rinnen – ja!« sagte Strickland. Bahadur Khan trat einen langen Schritt zurück, zitterte, und stand still. Die beiden Polizisten erwarteten weitere Befehle. »Geh!« sagte Strickland. »O ja; und sehr schnell werde ich gehen«, sagte Bahadur Khan. »Siehe! Ich bin schon jetzt ein toter Mann.« Er hob seinen Fuß, und am kleinen Zeh hing der Kopf der halbgetöteten Schlange, festgeklemmt in der Agonie des Todes. »Ich stamme von Landbesitzern ab«, sagte Bahadur Khan, im Stehen schwankend. »Für mich wäre es eine Schande, zum öffentlichen Schafott zu gehen: daher nehme ich diesen Weg. Es sei daran erinnert, daß des Sahib Hemden korrekt gezählt sind und daß ein Extrastück Seife in der Waschschüssel liegt. Mein Kind war verzaubert und ich erschlug den Zauberer. Warum solltest Du mich mit dem Seil töten wollen? Meine Ehre ist gerettet, und – und – ich sterbe.« Nach einer Stunde starb er, so wie die sterben, die von der kleinen braunen Karait gebissen sind, und die Polizisten trugen ihn und das Ding unter dem Tischtuch zu den ihnen
angewiesenen Plätzen. All dessen bedurfte man, um das Verschwinden Imrays aufzuklären. »Das nennt man«, sagte Strickland sehr ruhig, als er ins Bett kletterte, »das neunzehnte Jahrhundert. Hast Du gehört, was der Mann gesagt hat?« »Ich hab’s gehört«, sagte ich. »Imray hat einen Fehler begangen.« »Einzig und allein durch Unkenntnis des Wesens der Orientalen und den Zufall eines kleinen jahreszeitlichen Fiebers. Bahadur Khan war vier Jahre lang bei ihm.« Mir schauderte. Mein eigener Diener war exakt die gleiche Zeit bei mir. Als ich in mein Zimmer ging, fand ich meinen Mann wartend vor, so unbewegt wie der Kupferkopf auf einem Penny, um mir die Stiefel auszuziehen. »Was ist mit Bahadur Khan geschehen?« fragte ich. »Ihn biß eine Schlange und er starb. Den Rest weiß der Sahib«, war die Antwort. »Und was hast Du von dieser Angelegenheit gewußt?« »So viel wie man von Einem erfahren kann, der im Zwielicht kommt und Genugtuung sucht. Langsam, Sahib. Laß mich diese Stiefel ausziehn.« Ich versank gerade in den Schlaf der Erschöpfung, als ich Strickland von seiner Seite des Hauses rufen hörte: »Tietjens ist auf ihren Platz zurückgekommen!« Und so war es. Die große Jagdhündin lagerte stattlich auf ihrem eigenen Bett auf ihrer eigenen Decke, während im nächsten Zimmer das nutzlose leere Deckentuch zitterte, als es über den Tisch strich.
Moti Guj – Meuterer
Es war einmal ein Kaffeepflanzer in Indien, der wollte ein Stück Wald abholzen, um Kaffee anzubauen. Als er alle Bäume abgehauen und das Unterholz abgebrannt hatte, blieben noch die Wurzelstubben. Dynamit ist teuer und Ausbrennen braucht seine Zeit. Das glücklichste Instrument zum Stubbenroden ist der Herr aller Tiere, der Elefant. Er bricht den Stubben entweder mit seinen Stoßzähnen aus dem Boden, wenn er welche hat, oder zieht ihn mit Seilen heraus. Der Pflanzer mietete also Elefanten, einzeln, im Zweier-, im Dreiergespann, und begann mit der Arbeit. Der beste aller Elefanten gehörte dem schlechtesten aller Treiber oder Mahouts; und des besten Tieres Name war Moti Guj. Er war absolutes Eigentum seines Mahout, was unter einheimischen Gesetzen niemals hätte der Fall sein können, denn Moti Guj war ein Geschöpf wie es die Könige begehren; und sein Name bedeutet übersetzt Perlenelefant. Weil die Britische Regierung im Lande war, genoß Deesa, der Mahout, sein Eigentum ungestört. Er war ein Verschwender. Wenn er durch die Kraft seines Elefanten genug Geld verdient hatte, pflegte er sich besinnungslos zu trinken und Moti Guj mit einem Zeltpflock auf die empfindlichen Nägel der Vorderfüße zu prügeln. Bei diesen Gelegenheiten trampelte Moti Guj niemals das Leben aus Deesa heraus, denn er wußte, daß Deesa nach dem Prügeln seinen Rüssel umfangen und weinen und ihn seine Liebe und sein Leben und die Leber seiner Seele nennen und ihm Schnaps geben würde. Moti Guj liebte Schnaps sehr – vor allem Arrak, obwohl er auch Palmentoddy trank, wenn er nichts anderes bekam. Danach pflegte Deesa sich zwischen
Moti Gujs Vorderfüßen zur Ruhe zu legen, und da Deesa sich dazu meist die Mitte einer öffentlichen Straße aussuchte und da Moti Guj über ihm Wache zu stehen pflegte und weder Pferd noch Fuß noch Karre passieren ließ, stand der Verkehr still, bis Deesa es für gut befand aufzuwachen. Tagsüber war es nichts mit Schlafen auf der Rodung des Pflanzers: die Löhne waren zu hoch, um aufs Spiel gesetzt zu werden. Deesa saß auf Moti Gujs Nacken und gab ihm Befehle, während Moti Guj die Stubben ausbrach – denn er hatte ein herrliches Paar Stoßzähne; oder er zog am Ende eines Seiles – denn er hatte ein herrliches Paar Schultern, während Deesa ihm Tritte hinters Ohr gab und ihn den König der Elefanten nannte. Abends spülte Moti Guj seine dreihundert Pfund Grünfutter mit einem Liter Arrak hinunter, und Deesa beteiligte sich daran und sang Lieder zwischen Moti Gujs Beinen, bis es Zeit war, schlafen zu gehen. Einmal in der Woche führte Deesa Moti Guj hinab zum Fluß, und Moti Guj schwelgte auf der Seite liegend im seichten Wasser, während Deesa ihn mit einem Schrubber aus Kokosfasern und einem Ziegelstein bearbeitete. Moti Guj mißverstand den klopfenden Schlag des letzteren niemals für den Schmack mit dem ersteren, der ihn aufforderte, sich aufzurichten und auf die andere Seite zu drehen. Danach besah sich Deesa seine Füße und untersuchte seine Augen und suchte unter den Rändern der mächtigen Ohren, ob vielleicht Scheuerwunden vorlagen oder sich eine beginnende Augenentzündung abzeichnete. Nach der Inspektion pflegten die beiden »mit einem Lied aus der See« zu kommen, Moti Guj schimmernd schwarz und mit einem zwölf Fuß langen, abgerissenen Baumzweig als Wedel im Rüssel, und Deesa, der sich sein eigenes langes nasses Haar aufband. Es war ein friedvolles, gut bezahltes Leben, bis Deesa den Drang nach schwerem Suff wiederkehren fühlte. Er sehnte sich
nach einer Orgie. Die kleinen Schluckspechtereien brachten nichts und nahmen ihm die Kraft. Er ging zum Pflanzer und sagte weinend: »Meine Mutter ist tot.« »Sie starb auf der letzten Plantage vor zwei Monaten; und sie starb davor bereits einmal, als Du letztes Jahr für mich gearbeitet hast«, sagte der Pflanzer, der einiges von den Wegen der Einheimischen wußte. »Dann ist es meine Tante, und sie war wie eine Mutter zu mir«, sagte Deesa und weinte mehr denn je. »Sie hat achtzehn kleine Kinder ohne ein Stück Brot hinterlassen, und ich muß ihre kleinen Mägen füllen«, sagte Deesa und schlug mit dem Kopf auf den Boden. »Wer hat Dir die Nachricht gebracht?« fragte der Pflanzer. »Die Post«, sagte Deesa. »Seit einer Woche ist hier keine Post mehr gekommen. Geh zurück an die Arbeit!« »Eine furchtbare Krankheit hat mein Dorf befallen, und alle meine Frauen sterben«, schrie Deesa, diesmal wirklich unter Tränen. »Ruft mir Chihun, der aus Deesas Dorf kommt«, sagte der Pflanzer. »Chihun, hat dieser Mann eine Frau?« »Der?« sagte Chihun. »Nein. Nie würde eine Frau in unserem Dorf ihn auch nur ansehen. Sie würden eher seinen Elefanten heiraten.« Chihun schnaufte. Deesa weinte und heulte. »Gleich wirst Du in Schwierigkeiten geraten«, sagte der Pflanzer. »Geh an Deine Arbeit!« »Jetzt will ich die reinste Wahrheit sagen«, schluckte Deesa aus einer Inspiration heraus. »Ich war seit zwei Monaten nicht mehr betrunken. Ich will fort, damit ich mich in anständiger Entfernung von dieser himmlischen Plantage betrinken kann. So werde ich kein Aufsehen erregen.«
Ein Lächeln flackerte über das Gesicht des Pflanzers. »Deesa«, sagte er, »nun hast Du die Wahrheit gesprochen, und ich würde Dir auf der Stelle Urlaub geben, wenn irgend etwas mit Moti Guj anzufangen wäre, während Du weg bist. Du weißt, daß er nur Deinen Befehlen gehorcht.« »Möge das Licht des Himmels leben vierzigtausend Jahre. Ich werde nur zehn kleine Tage weg sein. Danach kehre ich bei meinem Glauben und meiner Ehre und meiner Seele zurück. Was nun die unbeachtliche Zwischenzeit angeht: habe ich die gnädige Erlaubnis des Himmelsgeborenen, Moti Guj zu rufen?« Erlaubnis ward erteilt, und auf Deesas schrillen Schrei schwang sich der majestätische Zahnträger aus dem Schatten einer Baumgruppe, in dem er sich mit Staub beworfen hatte, bis sein Herr zurückkehre. »Licht meines Herzens, Beschützer des Trunkenen, Gebirge der Macht, leih mir Dein Ohr«, sagte Deesa vor ihm stehend. Moti Guj lieh sein Ohr und salutierte mit dem Rüssel. »Ich gehe fort«, sagte Deesa. Moti Guj zwinkerte. Er liebte Streifzüge ebenso wie sein Herr. Man kann dabei alle Arten schöner Dinge vom Straßenrand aufschnappen. »Du aber, Du fettes altes Schwein, mußt hierbleiben und arbeiten.« Das Zwinkern verschwand, während Moti Guj versuchte, erfreut auszusehen. Er haßte Stubbenbrechen auf der Plantage. Das schmerzte an den Zähnen. »Ich werde zehn Tage weg sein, o Du Labsal. Heb Dein nächstes Vorderbein, daß ich Dir das einbläue, warzige Kröte aus einem vertrockneten Schlammloch.« Deesa nahm einen Zeltpflock und schlug Moti Guj zehn Mal auf die Nägel. Moti Guj ächzte und trat von einem Fuß auf den anderen.
»Zehn Tage«, sagte Deesa, »mußt Du arbeiten und schleppen und Bäume ausbrechen, wie Chihun es Dir befehlen wird. Nimm Chihun hoch und setz ihn Dir auf den Nacken!« Moti Guj rollte die Spitze seines Rüssels zusammen, Chihun setzte seinen Fuß hinein und ward in den Nacken geschwungen. Deesa reichte ihm den schweren ankus hinauf, den eisernen Elefantenstachel. Chihun hieb damit auf Moti Gujs kahlen Kopf wie ein Pflasterer auf einen Prellstein. Moti Guj trompetete. »Sei still, Du hinterwäldlerisches Schwein. Chihun ist für zehn Tage Dein Mahout. Und nun sag mir Lebwohl, Du Vieh meines Herzens. O mein Herr, mein König! Juwel aller geschaffenen Elefanten, Lilie der Herde, bewahre Deine verehrte Gesundheit; sei tugendhaft. Adieu!« Moti Guj wand seinen Rüssel um Deesa und schwang ihn zweimal durch die Luft. Das war seine Art, dem Mann Adieu zu sagen. »Jetzt wird er arbeiten«, sagte Deesa zum Pflanzer. »Darf ich gehen?« Der Pflanzer nickte, und Deesa tauchte in die Wälder. Moti Guj ging wieder ans Stubbenroden. Chihun war sehr lieb zu ihm, aber er fühlte sich dennoch unglücklich und verloren. Chihun fütterte ihn mit Gewürzkugeln und kitzelte ihn unterm Kinn, und Chihuns kleines Kind gurrte mit ihm nach getaner Arbeit, und Chihuns Frau nannte ihn Liebling; aber Moti Guj war seinem Wesen nach Junggeselle wie Deesa. Er hatte kein Verständnis für häusliche Gefühle. Er wollte die Sonne seines Universums wieder haben – das Saufen und den besoffenen Schlaf, die wilden Schläge und die wilden Zärtlichkeiten. Dennoch arbeitete er gut, und der Pflanzer wunderte sich.
Deesa war über die Straßen vagabundiert, bis ihm ein Hochzeitszug seiner eigenen Kaste begegnete, und trinkend und tanzend und saufend hatte er jedes Gefühl für die Zeit verloren. Der Morgen des elften Tages dämmerte herauf, aber kein Deesa kehrte zurück. Moti Guj wurde zur täglichen Arbeitstour von seinen Fesseln befreit. Er schüttelte sie ab, blickte sich um, zuckte mit den Schultern und marschierte ab wie einer, der andernorts Geschäfte hat. »Ho! Ho! Komm zurück, Du«, schrie Chihun. »Komm zurück und heb mich auf Deinen Nacken, Mißgeburt eines Berges. Kehr wieder, Glanz der Hügel. Schmuck ganz Indiens, fang an, oder ich werd Dir jeden Zeh von Deinem fetten Vorderfuß abprügeln!« Moti Guj gurgelte sanft, aber gehorchte nicht. Chihun rannte mit einem Seil hinter ihm her und holte ihn ein. Moti Guj stellte seine Ohren auf und Chihun wußte, was das bedeutete, obwohl er versuchte, das mit großen Worten zu überspielen. »Treib Deinen Unsinn nicht mit mir«, sagte er. »Zurück zu Deiner Schicht, Du Höllensohn.« »Hrrumpf!« sagte Moti Guj, und das war alles – das und die hochgestellten Ohren. Moti Guj steckte die Hände in die Hosentaschen, kaute sich einen Ast als Zahnstocher zurecht und schlenderte durch die Rodung, wobei er sich über die anderen Elefanten lustig machte, die gerade mit der Arbeit anfingen. Chihun berichtete den Stand der Dinge dem Pflanzer, der mit einer Hundepeitsche herauskam und zornig damit knallte. Moti Guj erwies dem weißen Mann die Ehre, ihn fast eine Viertelmeile über die Rodung zu scheuchen und ihn auf seine Veranda zu »hrrumpfen«. Dann stand er vor dem Haus, kicherte in sich hinein und schaukelte ob des Spaßes, wie das Elefantenart ist.
»Wir werden ihn verprügeln«, sagte der Pflanzer. »Er soll die schönsten Prügel beziehen, die je ein Elefant bekommen hat. Gebt Kala Nag und Nazim je zwölf Fuß lange Ketten und sagt ihnen, sie sollen ihm zwanzig Schläge verpassen.« Kala Nag – was Schwarze Schlange bedeutet – und Nazim waren zwei der größten Elefanten der ganzen Truppe, und eine ihrer Pflichten war es, die ernsthafteren Strafen zu vollziehen, denn kein Mann kann einen Elefanten angemessen verprügeln. Sie nahmen die Peitschenketten und rasselten mit ihren Rüsseln damit, als sie sich von beiden Seiten an Moti Guj heranschoben in der Absicht, ihn zwischen sich zu nehmen. Moti Guj war in seinen ganzen neununddreißig Jahren niemals ausgepeitscht worden und er hatte nicht die Absicht, neue Erfahrungen zu sammeln. Also wartete er, wiegte seinen Kopf von rechts nach links und vermaß die exakte Stelle in Kala Nags fetter Flanke, wo ein stumpfer Zahn wohl am tiefsten eindringen könnte. Kala Nag hatte keine Zähne; die Kette war seine Autoritätsmarke; aber er hielt es für richtig, im letzten Augenblick Moti Guj weit auszuweichen und so zu tun, als habe er die Kette zu seinem Vergnügen mitgebracht. Nazim machte kehrt und ging früh nach Hause. Er fühlte sich an jenem Morgen nicht recht kampfbereit, und so blieb Moti Guj allein mit seinen hochgestellten Ohren. Das überzeugte den Pflanzer davon, es dabei zu belassen, und Moti Guj trollte zurück zu seiner Inspektion der Pflanzung. Ein Elefant, der nicht arbeiten will und nicht gefesselt ist, ist weniger handlich als eine Einundachtzig-Tonnen-Kanone, die in schwerer See lose umherrollt. Er schlug alte Freunde auf die Schultern und fragte sie, ob die Stubben leicht herausgingen; er schwatzte Unsinn die Arbeit und das unverzichtliche Recht von Elefanten auf einen langen Mittagsschlaf betreffend; und indem er so auf und nieder wanderte, demoralisierte er die
ganze Mannschaft bis Sonnenuntergang, und kehrte dann an seinen Platz um Futter zurück. »Wenn du nicht arbeitest, sollst Du auch nicht fressen«, sagte Chihun ärgerlich. »Du bist ein wilder Elefant und keineswegs ein wohlerzogenes Tier. Hau ab in Deinen Dschungel.« Chihuns kleines bräunliches Kind rollte auf dem Boden vor der Hütte umher und streckte seine fetten Ärmchen dem riesigen Schatten im Torweg entgegen. Moti Guj wußte wohl, daß das Chihuns liebstes Ding auf Erden war. Er schwang seinen Rüssel mit einer verführerischen Beugung am Ende aus, und das bräunliche Kind warf sich jauchzend hinein. Moti Guj nahm es fest und schwang es hoch, bis das bräunliche Kind zwölf Fuß über dem Kopf seines Vaters in der Luft krähte. »Großer Häuptling!« sagte Chihun. »Mehlkuchen vom Besten, zwölf Stück, zwei Fuß im Durchmesser und in Rum getränkt sollen sofort Dein sein, und außerdem zweihundert Pfund frisch geschnittenes Zuckerrohr. Nur geruhe, jenen unbedeutenden Knirps sicher niederzusetzen, der mein Herz und mein Leben ist.« Moti Guj verstaute das bräunliche Kind bequem zwischen seinen Vorderfüßen, die Chihuns Hütte in Zahnstocher hätten stampfen können, und wartete auf sein Futter. Er aß es, und das bräunliche Kind krabbelte von dannen. Moti Guj döste und dachte an Deesa. Eines der vielen mit dem Elefanten verbundenen Geheimnisse ist, daß sein riesiger Körper weniger Schlaf braucht als der jedes anderen Lebewesens. Vier oder fünf Stunden in der Nacht genügen – zwei unmittelbar vor Mitternacht, liegend auf der einen Seite verbracht; zwei unmittelbar nach ein Uhr, liegend auf der anderen Seite. Der Rest der stillen Stunden ist angefüllt mit Fressen und Herumhampeln und langen grummelnden Selbstgesprächen. Daher strebte Moti Guj um Mitternacht von seinem Platz fort, denn es war ihm der Gedanke gekommen, daß Deesa irgendwo
im dunklen Wald betrunken liegen könne, ohne daß jemand nach ihm sehe. So stöberte er die ganze Nacht im Unterholz umher, schnaubend und trompetend und ohrenwedelnd. Er wanderte hinab zum Fluß und schmetterte über die seichten Stellen hin, in denen Deesa ihn zu waschen pflegte, aber da war keine Antwort. Er konnte Deesa nicht finden, aber er störte alle Elefanten in ihren Reihen und erschreckte einige Zigeuner in den Wäldern fast zu Tode. Im Morgengrauen kehrte Deesa auf die Plantage zurück. Er war wirklich sehr betrunken gewesen, und er rechnete mit Schwierigkeiten, weil er seine Urlaubszeit überschritten hatte. Er holte tief Luft, als er sah, daß Bungalow und Pflanzung unzerstört standen; denn er wußte einiges von Moti Gujs Temperament; und meldete sich mit allerhand Lügen und Salaams zurück. Moti Guj war zum Frühstücken an seinen Platz getrottet. Sein nächtliches Unternehmen hatte ihn hungrig gemacht. »Ruf Dein Tier«, sagte der Pflanzer, und Deesa schrie in der geheimnisvollen Elefantensprache, von der manche Mahouts glauben, sie sei bei Geburt der Erde von China gekommen, als die Elefanten und nicht die Menschen die Herren waren. Moti Guj hörte und kam. Elefanten galoppieren nicht. Sie bewegen sich mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten fort. Wenn ein Elefant einen Schnellzug einzuholen wünscht, kann er nicht galoppieren, aber er kann den Zug einholen. So stand denn Moti Guj vor der Tür des Pflanzers, fast ehe Chihun bemerkte, daß er seinen Platz verlassen hatte. Er stürzte trompetend vor Freude in Deesas Arme, und Mann und Tier weinten und beschlabberten sich und betasteten einander von Kopf bis Füßen, um zu sehen, daß kein Harm widerfahren war. »Nun wollen wir an die Arbeit gehen«, sagte Deesa. »Heb mich hoch, mein Sohn und meine Freude.«
Moti Guj schwang ihn hoch, und die beiden wanderten los zur Kaffeerodung, um nach hinderlichen Stubben zu suchen. Der Pflanzer war zu erstaunt, um sehr ärgerlich zu sein.
Mündliche Botschaft
Not though you die to-night, O Sweet, and wail, A spectre at my door, Shall mortal Fear make Love immortal fail – I shall but love you more, Who, from Death’s house returning, give me still One moment’s comfort in my matchless ill. Shadow Houses (Doch wenn du heut nacht stürbest, O Liebste, und klagtest, Ein Geist an meiner Tür, Wird sterbliche Furcht unsterbliche Liebe nicht scheitern machen, Ich werde Dich drum nur um so mehr lieben, Die, aus dem Haus des Todes zurückgekehrt, mir gibt Eines Augenblickes Trost in meinem grenzenlosen Leid. Häuser der Schatten)
Diese Erzählung mögen jene erklären, die wissen, wie Seelen gemacht sind und wo die Grenzen des Möglichen liegen. Ich habe lange genug in Indien gelebt, um zu wissen, daß es besser ist, nichts zu wissen, und kann die Geschichte nur niederschreiben, wie sie sich ereignete. Dumoise war in Meridki unser Zivilarzt, und wir nannten ihn »Siebenschläfer«, weil er ein kleiner runder, ein schläfriger kleiner Mann war. Er war ein guter Arzt und stritt sich nie mit einem, nicht einmal mit unserem Stellvertretenden Kommissar, der die Manieren eines Schifferknechts und den Takt eines Rosses besaß. Er heiratete ein Mädchen, das ebenso rund war und ebenso schläfrig dreinblickte wie er selbst. Sie war eine Miss Hillardyce, die Tochter von »Matsch« Hillardyce von den
Berars, der die Tochter seines Chefs aus Versehen geheiratet hatte… Aber das ist eine andere Geschichte. Flitterwochen in Indien dauern selten länger als eine Woche; aber nichts hindert ein Paar daran, sie über ein oder zwei Jahre auszudehnen. Indien ist ein herrliches Land für Verheiratete, die ineinander aufgehen. Sie können vollkommen allein und ungestört leben – wie die Siebenschläfer. Diese beiden kleinen Leutchen zogen sich nach ihrer Heirat von der Welt zurück und waren sehr glücklich. Sie mußten natürlich ab und zu ein Abendessen geben, aber dadurch gewannen sie sich keine Freunde, und die Station ging ihres eigenen Wegs und vergaß sie; man stellte nur von Zeit zu Zeit fest, daß Siebenschläfer der feinste der guten Kerle sei, nur langweilig. Ein Zivilarzt, der sich niemals streitet, ist eine Seltenheit und wird als solche gewürdigt. Wenige Menschen können es sich leisten, irgendwo Robinson Crusoe zu spielen – am wenigsten in Indien, wo wir nur wenige im Lande sind und sehr davon abhängen, einander hilfreich beizustehen. Dumoise handelte nicht richtig, als er sich für ein Jahr von der Welt abschloß, und er entdeckte diesen Fehler, als in der Station mitten in der kalten Jahreszeit eine Typhusepidemie ausbrach und seine Frau krank wurde, Er war ein scheuer kleiner Mann, und fünf Tage wurden verschwendet, ehe er begriff, daß in Mrs. Dumoise etwas Schlimmeres brannte als Fieber, und drei weitere Tage verstrichen, ehe er es wagte, Mrs. Shute, die Frau des Ingenieurs, anzusprechen und ihr schüchtern von seinen Schwierigkeiten zu erzählen. Nun weiß fast jeder Haushalt in Indien, daß Ärzte bei Typhus sehr hilflos sind. Die Schlacht muß zwischen Tod und Pflegern ausgefochten werden, Minute um Minute, Schritt um Schritt. Mrs. Shute ohrfeigte Dumoise fast wegen dem, was sie seine »kriminelle Verzögerung« nannte, und machte sich sofort auf, um nach dem armen
Mädchen zu sehen. Wir hatten sieben Typhusfälle in jenem Winter in der Station, und da die Sterberate ungefähr bei einem von fünf Fällen liegt, waren wir sicher, daß wir jemanden verlieren würden. Aber alle taten ihr Bestes. Die Frauen blieben auf und pflegten die Frauen, und die Männer kümmerten sich um die Junggesellen, die krank waren, und wir rangen mit diesen Typhusfällen sechsundfünfzig Tage und geleiteten sie im Triumph durchs Tal der Schatten. Aber gerade als wir dachten, alles sei vorbei, und einen Tanzabend veranstalten wollten, um den Sieg zu feiern, erlitt die kleine Mrs. Dumoise einen Rückfall und starb binnen einer Woche, und die Station ging zur Beerdigung. Dumoise brach am Rand des Grabes völlig zusammen und mußte fortgeführt werden. Nach dem Tod verkroch Dumoise sich in seinem Haus und weigerte sich, sich trösten zu lassen. Er erledigte seine Aufgaben tadellos, aber wir alle hatten das Gefühl, daß er Urlaub machen solle, und die anderen Männer aus seinem Dienst sagten ihm das auch. Dumoise war sehr dankbar für die Anregung – er war in jenen Tagen für alles dankbar – und ging nach Chini, zu Fuß. Chini liegt etwa zwanzig Tagesmärsche von Simla entfernt, im Herzen der Berge, und die Landschaft tut gut, wenn man leidet. Man kommt durch große stille Deodar-Wälder und unter große stille Steilhänge und über große stille Wiesenhänge, die schwellen wie Frauenbrüste; und der Wind im Gras und der Regen in den Deodars sagen »scht – scht – scht«. So also wurde der kleine Dumoise nach Chini abgeschoben, bewaffnet mit einer großen Plattenkamera und einer Flinte. Er nahm auch einen wertlosen Träger mit, weil der Mann der Lieblingsdiener seiner Frau gewesen war. Er war faul und ein Dieb, aber Dumoise vertraute ihm blind. Auf seinem Rückweg von Chini machte Dumoise einen Abstecher nach Bagi, durch die Waldschonungen auf dem Ausläufer des Mount Huttoo. Einige, die mehr als nur ein
bißchen gereist sind, behaupten, daß der Marsch von Kotgarh nach Bagi einer der schönsten der Schöpfung ist. Er verläuft durch dunkle nasse Wälder und endet plötzlich auf einer öden kahlen Berghalde zwischen schwarzen Felsen. Bagis dâkBungalow steht allen Winden offen und ist bitter kalt. Wenige Leute gehen nach Bagi. Vielleicht war das der Grund, weshalb Dumoise hinging. Er machte abends um sieben Halt, und sein Träger stieg den Hügel ins Dorf hinab, um Kulis für den Weitermarsch am nächsten Tag zu engagieren. Die Sonne war untergegangen und die Nachtwinde begannen, zwischen den Felsen zu heulen. Dumoise lehnte am Geländer der Veranda und wartete auf die Rückkehr des Trägers. Der Mann kam fast unmittelbar nachdem er verschwunden war zurück, und mit solcher Geschwindigkeit, daß Dumoise sich einbildete, er müsse einem Bären begegnet sein. Er rannte den Hang des Hügels so schnell herauf, wie er konnte. Aber es gab keinen Bären, der seinen Schrecken erklärt hätte. Er rannte zur Veranda und stürzte nieder, Blut spritzte ihm aus der Nase, das Gesicht war eisengrau. Dann gurgelte er: »Ich habe die Memsahib gesehen! Ich habe die Memsahib gesehen!« »Wo?« fragte Dumoise. »Da unten, sie ging auf der Straße zum Dorf. Sie trug ein blaues Kleid, und sie lüftete den Schleier ihrer Haube und sagte: ›Ram Daß, gib meine Salaams dem Sahib und sage ihm, daß ich ihn nächsten Monat in Nuddea treffen werde.‹ Dann rannte ich weg, denn ich hatte Angst.« Was Dumoise sagte oder tat, weiß ich nicht. Ram Daß erklärte, daß er nichts sagte, aber während der ganzen kalten Nacht auf der Veranda hin und her ging und darauf wartete, daß die Memsahib den Hügel herauf komme, und seine Arme in die Dunkelheit streckte wie ein Wahnsinniger. Aber keine
Memsahib kam, und am nächsten Tag marschierte er nach Simla und nahm den Träger jede Stunde ins Kreuzverhör. Ram Daß konnte nur sagen, daß er Mrs. Dumoise getroffen habe und daß sie den Schleier gehoben und ihm die Botschaft gegeben habe, die er getreulich Dumoise berichtet hatte. Bei dieser Erklärung blieb Ram Daß. Er wußte nicht, wo Nuddea war, hatte keine Freunde in Nuddea und ging mit ziemlicher Sicherheit niemals nach Nuddea, selbst wenn man seinen Lohn verdoppelte. Nuddea liegt in Bengalen und hat nicht das Geringste mit dem Arzt zu tun, der im Punjab Dienst tut. Es muß mehr als zwölfhundert Meilen südlich von Meridki liegen. Dumoise marschierte ohne Zwischenhalt durch Simla und kehrte nach Meridki zurück, um dort seine Aufgaben wieder von dem Mann zu übernehmen, der für ihn während seiner Tour praktiziert hatte. Da gab es einige Apothekenrechnungen zu erklären und einige neue Anweisungen des Generalarztes zur Kenntnis zu nehmen, und so war die Übernahme eine volle Tagesarbeit. Abends erzählte Dumoise seinem locum tenens, einem alten Freund aus seinen Junggesellentagen, was sich in Bagi abgespielt hatte; und der Mann sagte, Ram Daß hätte genausogut Tuticorin nennen können, wenn er schon dabei war. In diesem Augenblick kam ein Telegrammbote herein mit einem Telegramm aus Simla, das Dumoise anwies, nicht seinen Dienst in Meridki wieder anzutreten, sondern mit Sonderauftrag sofort nach Nuddea zu gehen. Es gab da einen üblen Ausbruch der Cholera in Nuddea, und da die Bengalische Regierung wie üblich zu wenig Personal hatte, hatte sie sich einen Arzt vom Punjab ausgeborgt. Dumoise warf das Telegramm über den Tisch und sagte: »Na?«
Der andere Arzt sagte nichts. Das war alles, was er sagen konnte. Dann erinnerte er sich daran, daß Dumoise auf seinem Weg von Bagi durch Simla gekommen war; und so hätte er dort vielleicht erste Nachricht von der bevorstehenden Versetzung bekommen können. Er versuchte, die Frage und den in ihr enthaltenen Verdacht in Worte zu fassen, aber Dumoise stoppte ihn mit: »Wenn ich das wollte, hätte ich überhaupt nicht von Chini zurück zu kommen brauchen. Ich habe da geschossen. Ich möchte leben, denn ich habe Dinge zu erledigen… aber ich würde nicht traurig sein.« Der andere Mann senkte den Kopf und half im Dämmerlicht, die gerade ausgepackten Koffer von Dumoise wieder zu packen. Ram Daß kam mit den Lampen. »Wohin geht der Sahib?« fragte er. »Nach Nuddea«, sagte Dumoise sanft. Ram Daß umklammerte Dumoises Knie und Stiefel und bettelte ihn an, nicht zu gehen. Ram Daß weinte und heulte, bis er aus dem Raum gewiesen wurde. Dann raffte er all sein Hab und Gut zusammen und kam zurück und erbat ein Zeugnis. Er werde nicht nach Nuddea gehen, um seinen Sahib sterben zu sehen und vielleicht selbst zu sterben. Also gab Dumoise dem Mann seinen Lohn und ging allein nach Nuddea, von dem anderen Arzt verabschiedet wie ein Mann, der zum Tode verurteilt ist. Elf Tage später hatte er seine Memsahib getroffen; und die Bengalische Regierung hatte sich einen neuen Arzt auszuborgen, um mit jener Epidemie in Nuddea fertig zu werden. Der erste Import lag tot im Chooadanga dâkBungalow.
Toomai von den Elefanten
I will remember what I was. I am sick of rope and chain. I will remember my old strength and all my forest affairs. I will not sell my back to man for a bundle of sugar-cane: I will go out to my own kind, and the wood-folk in their lairs. I will go out until the day, until the morning break – Out to the winds’ untainted kiss, the waters’ clean caress – I will forget my ankle-ring and snap my picket-stake. I will revisit my lost loves, and playmates masterless!
(Ich will erinnern, was ich war. Ich habe Seil und Kette satt. Ich will erinnern meine alte Kraft und all meine Waldangelegenheiten. Ich will meinen Rücken nicht mehr dem Menschen für ein Bündel Zuckerrohr verkaufen: Ich will zurück zu meiner eigenen Art, und zum Waldvolk in seinen Lagern. Ich will hinausgehn bis zum Tag, und bis der Morgen anbricht – Hinaus in der Winde makellosen Kuß, der Wasser reine Liebkosung – Ich will meinen Fußring vergessen und meinen Anbindepflock zerbrechen. Ich will meine verlorenen Lieben wiedersehn, und die herrenlosen Spielgefährten!)
Kala Nag, was Schwarze Schlange heißt, hatte der Indischen Regierung auf jede Weise gedient, auf die ihr ein Elefant dienen kann, siebenundvierzig Jahre lang, und da er volle zwanzig Jahre alt gewesen war, als man ihn einfing, macht ihn das rund siebzig – ein reifes Alter für einen Elefanten. Er erinnerte sich, wie er mit einem dicken Lederpolster auf der
Stirn eine Kanone geschoben hatte, die tief im Matsch steckte, und das war vor dem Afghanen-Krieg von 1842, und er war da noch nicht in seiner ganzen Kraft gewesen. Seine Mutter Radha Pyari – Radha der Liebling –, die bei derselben Treibjagd zusammen mit Kala Nag gefangen worden war, erzählte ihm noch ehe seine kleinen Milchzähne ausgefallen waren, daß Elefanten, die Angst hätten, immer verletzt würden: und Kala Nag wußte, daß dieser Hinweis gut war, denn als er zum ersten Mal ein Geschoß bersten sah, drückte er sich schreiend rückwärts in eine Gewehrpyramide, und die Bajonette piekten ihn in all seine weichesten Stellen. Also gab er bevor er Fünfundzwanzig wurde auf, ängstlich zu sein, und wurde zum meistgeliebten und bestumsorgten Elefanten im Dienst der Regierung von Indien. Er hatte Zelte geschleppt, zwölfhundert Pfund an Zelten, auf dem Marsch nach Oberindien: er war am Ende eines Dampfkrans in ein Schiff gehievt worden und war tagelang übers Wasser gebracht worden, um dann in einem seltsamen und felsigen Land sehr weit von Indien entfernt einen Mörser auf seinem Rücken zu tragen, und er hatte Kaiser Theodor in Magdala tot daliegen sehen und war zurückgekommen mit dem Dampfer und berechtigt, wie die Soldaten sagten, den Orden für die Teilnahme am Abessinien-Krieg zu bekommen. Er hatte seine Mitelefanten an Kälte und Epilepsie sterben sehen, an Hunger und Sonnenstich an einem Ort namens Ali Musjid, zehn Jahre später; und danach wurde er tausende Meilen nach Süden gesandt, um auf den Holzplätzen von Moulmein dicke Balken Teakholz zu schleppen und zu stapeln. Dort hatte er beinahe einen aufsässigen jungen Elefanten getötet, der sich davor drückte, seinen Anteil an der Arbeit zu tun. Später holte man ihn vom Holzschleppen weg und setzte ihn mit einigen Dutzend anderer, darin ausgebildeter Elefanten beim Fang wilder Elefanten in den Garo-Bergen ein. Elefanten
werden von der Indischen Regierung sehr aufmerksam geschützt. Es gibt eine ganze eigene Abteilung, die nichts anderes tut als sie jagen und fangen und abrichten, und die sie überall im Land dahin schickt, wo sie zur Arbeit gebraucht werden. Kala Nag ragte in den Schultern zehn Fuß hoch, und seine Stoßzähne waren auf eine Länge von fünf Fuß verkürzt und an den Enden mit Kupfer ummantelt worden, um sie vor dem Splittern zu schützen; aber er konnte mit diesen Stümpfen mehr ausrichten als jeder ungeübte Elefant mit seinen noch ganz spitzen Zähnen. Wenn nach Wochen und Wochen vorsichtigen Treibens der über die Berge verstreuten Elefanten die vierzig oder fünfzig wilden Ungetüme in den letzten Palisadenpferch getrieben waren und das große Falltor aus zusammengeseilten Baumstämmen hinter ihnen herunterkrachte, war es Kala Nag, der auf Befehl in diese lodernde trompetende Hölle hineinging (meist nachts, wenn das Flackern der Fackeln das Abschätzen von Entfernungen schwierig macht) und sich den größten und wildesten Bullen aus dem Gewühl heraussuchte und ihn so lange prügelte und herumschubste, bis er ruhig war, während die Männer auf den anderen Elefanten die kleineren mit Seilen einfingen und fesselten. In Sachen Kämpfen gab es nichts, was Kala Nag, die alte weise Bergschlange, nicht wußte, denn er hatte in seiner Zeit mehr als einmal gegen den Angriff eines verwundeten Tigers Stand gehalten und hatte, indem er seinen empfindlichen Rüssel einrollte und aus der Gefahrenzone brachte, das anspringende Biest mitten in der Luft seitlich mit einem schnellen Sichelschlag seines Kopfes getroffen, den er ganz allein erfunden hatte; hatte es übern Haufen geschlagen und sich daraufgekniet mit seinen großen Knien, bis das Leben mit einem Ächzen und einem Jaulen entwich und nur noch ein flauschiges gestreiftes Etwas auf dem Boden lag, das Kala Nag dann am Schwanze zerren konnte.
»Ja«, sagte der Große Toomai, sein Treiber, der Sohn des Schwarzen Toomai, der ihn nach Abessinien geführt hatte, und der Enkel von Toomai von den Elefanten, der dabei war, als er gefangen wurde, »es gibt außer mir nichts, was die Schwarze Schlange fürchtet. Er hat drei Generationen von uns gesehen, die ihn fütterten und pflegten, und er wird die vierte noch erleben.« »Vor mir fürchtet er sich auch«, sagte der Kleine Toomai, und richtete sich, bekleidet nur mit einem Fetzen, zu seiner vollen Höhe von vier Fuß auf. Er war zehn Jahre alt, der älteste Sohn des Großen Toomai, und er würde nach dem Brauch den Platz seines Vaters auf Kala Nags Nacken einnehmen, wenn er erwachsen war, und er würde den schweren eisernen ankus führen, den Elefantenstachel, den sein Vater und sein Großvater und sein Urgroßvater durch Gebrauch glattgeschliffen hatten. Er wußte, wovon er sprach; denn er war in Kala Nags Schatten geboren, hatte mit der Spitze seines Rüssels gespielt, ehe er laufen konnte, hatte ihn zum Wasser hinabgeführt, sobald er laufen konnte, und Kala Nag dachte genausowenig daran, seinen schrillen kleinen Befehlen nicht zu gehorchen, wie er daran gedacht hätte, ihn an jenem Tag zu töten, als der Große Toomai das kleine braune Kind unter Kala Nags Zähne trug und ihm befahl, seinen zukünftigen Herrn zu grüßen. »Ja«, sagte Kleiner Toomai, »er fürchtet mich«, und mit langen Schrittchen ging er zu Kala Nag, rief ihn ein fettes altes Schwein und ließ ihn einen Fuß nach dem anderen heben. »Wah!« sagte Kleiner Toomai, »bist Du ein großer Elefant«, und er schüttelte seinen Wuschelkopf und zitierte seinen Vater. »Die Regierung zahlt vielleicht für Elefanten, aber sie gehören uns Mahouts. Wenn Du alt bist, Kala Nag, wird irgendein reicher Rajah kommen und Dich von der Regierung kaufen wegen Deiner Größe und Deiner Manieren, und dann wirst Du nichts mehr zu tun haben, als goldene Ohrringe in Deinen
Ohren zu tragen und eine goldene Howdah auf Deinem Rücken und ein goldbedecktes Tuch an Deinen Flanken und an der Spitze der Prozessionen des Königs zu schreiten. Dann werde ich auf Deinem Nacken sitzen, o Kala Nag, mit einem silbernen ankus, und Männer werden vor uns herlaufen mit goldenen Stäben und schreien ›Platz für des Königs Elefanten!‹ Das wird gut sein, Kala Nag, aber nicht so schön wie das Jagen im Dschungel.« »Umph!« sagte Großer Toomai. »Du bist noch ein Knabe und schon so wild wie ein Büffelkalb. Das zwischen den Bergen hin und her Rennen ist nicht der beste Regierungsdienst. Ich werde alt und ich liebe wilde Elefanten nicht. Gib mir Elefantenställe aus Ziegeln, einen Verschlag für jeden Elefanten und große Pfosten, sie sicher anzubinden, und ebene breite Straßen, darauf zu exerzieren, statt dieser Wanderlager. Ach, die Kasernen in Cawnpore waren gut. Da war ein Basar nahe bei, und nur drei Stunden Arbeit pro Tag.« Kleiner Toomai erinnerte sich der Elefantenstallungen zu Cawnpore und sagte nichts. Er zog das Lagerleben bei weitem vor und haßte jene breiten ebenen Straßen und die täglichen Auseinandersetzungen um Gras aus den Futterreserven und die langen Stunden, in denen es nichts zu tun gab als zuzusehen, wie Kala Nag sich unruhig zwischen seinen Pfosten wiegte. Hingegen liebte Kleiner Toomai es, Saumpfade hinauf zu klettern, die nur ein Elefant bewältigen kann; das Eintauchen ins Tal darunter; der zufällige Anblick Meilen entfernt grasender wilder Elefanten; die erschreckte Flucht verängstigter Schweine und Pfauen unter Kala Nags Füßen; die blindmachenden warmen Regen, wenn alle Berge und Täler dampfen; die wunderbaren Nebelmorgen, an denen niemand wußte, wo man abends das Lager aufschlagen würde; das stete vorsichtige Treiben wilder Elefanten und das tolle Rasen und Lodern und Durcheinander beim Trieb der letzten Nacht, wenn
die Elefanten in den Pferch stürzen wie Felsen im Erdrutsch, erkennen, daß es kein Entkommen mehr gibt und sich gegen die schweren Pfosten werfen, nur um durch gellendes Geschrei und Fackeln und Salven mit Platzpatronen zurückgetrieben zu werden. Selbst kleine Jungs konnten da nützlich sein, und Toomai war nützlich wie drei Jungen. Er nahm dann seine Fackel und schwenkte sie und gellte wie die Besten. Aber wirklich schön wurde es, wenn der Austrieb begann und die Keddah, der Palisadenpferch, aussah wie ein Bild vom Weltuntergang, und die Männer sich Zeichen geben mußten, weil sie sich selbst nicht mehr hören konnten. Dann kletterte Kleiner Toomai auf die Spitze eines der schwankenden Pferchpfähle, sein sonnengebleichtes braunes Haar flog frei um seine Schultern, und im Licht der Fackeln sah er aus wie ein Kobold; und sobald es ein wenig ruhiger wurde, konnte man seine schrillen Ermunterungsschreie an Kala Nag hören, über das Trompeten und Krachen, das Reißen der Seile und das Ächzen der angeketteten Elefanten hinweg. »Mail, mail, Kala Nag! (Los, los, Schwarze Schlange!) Dant do! (Gib ihm den Zahn!) Somalo! Somalo! (Vorsicht! Vorsicht!) Maro! Mar! (Hau ihn, hau!) Paß auf den Pfahl auf! Arre! Arre! Hai! Yai! Kya-a-ab!«, schrie er, und der große Kampf zwischen Kala Nag und dem wilden Elefanten schwankte hin und her über die Keddah, und die alten Elefantenfänger wischten sich den Schweiß aus den Augen und fanden Zeit, Kleiner Toomai zuzunicken, der sich vor Freude auf der Spitze des Pfahles wand. Er tat mehr als sich winden. Eines Nachts glitt er den Pfahl hinab und schlüpfte zwischen die Elefanten und warf das lose Ende eines Seiles, das herabgefallen war, einem Treiber zu, der das strampelnde Bein eines jungen Kalbes zu packen suchte (Kälber bereiten einem immer mehr Mühen als ausgewachsene Tiere). Kala Nag sah ihn, schnappte ihn sich mit dem Rüssel
und reichte ihn hinauf zu Großer Toomai, der ihn dort und sofort verdrosch und ihn zurück auf den Pfahl setzte. Am nächsten Morgen schimpfte er ihn aus und sagte: »Sind denn gute Elefantenställe aus Ziegeln und ein bißchen Zeltetragen nicht genug, daß Du jetzt auf eigene Rechnung auf Elefantenjagd gehen mußt, kleiner Taugenichts? Jetzt haben diese dummen Jäger, deren Lohn geringer ist als mein Lohn, von dieser Sache zu Sahib Petersen gesprochen.« Kleiner Toomai hatte Angst. Er wußte nicht viel über weiße Männer, aber für ihn war Sahib Petersen der größte weiße Mann auf Erden. Er war das Haupt aller Keddahvorgänge – der Mann, der alle Elefanten für die Regierung von Indien fing und mehr über Elefanten und ihr Treiben wußte, als irgendein anderer lebender Mensch. »Was – was wird geschehen?« fragte Kleiner Toomai. »Geschehen! Das Schlimmste kann geschehen. Petersen Sahib ist verrückt; warum sonst würde er diese wilden Teufel jagen? Er könnte sogar von Dir fordern, Elefantenjäger zu werden und in diesen Dschungeln voller Fieber zu schlafen und Dich in der Keddah tottrampeln zu lassen. Es ist gut, daß dieser Unfug bald vorbei ist. Nächste Woche ist der Fang vorbei, und wir aus der Ebene werden zu unserer Station zurückgeschickt. Dann werden wir auf glatten Straßen marschieren und all dieses Jagen vergessen. Ich aber, Sohn, bin zornig, daß Du Dich in Angelegenheiten eingemischt hast, die nur dieses schmutzige assamesische Dschungelvolk etwas angehen. Kala Nag gehorcht niemandem außer mir, und deshalb muß ich mit ihm in die Keddah, aber er ist nur ein Kampfelefant und hilft nicht mit, sie zu fesseln. Deswegen kann ich hier in Ruhe sitzen, wie es einem Mahout zusteht – nicht einem einfachen Jäger –, einem Mahout, sage ich, und einem Mann, der am Ende seines Dienstes eine Pension erhält. Soll denn die Familie von Toomai von den Elefanten im
Schmutz einer Keddah zertrampelt werden? Böser Sohn! Schlimmer Sohn! Wertloser Sohn! Geh, und wasche Kala Nag und kümmre Dich um seine Ohren, und sieh zu, daß keine Dornen in seinen Füßen stecken; sonst wird Petersen Sahib Dich greifen und einen wilden Jäger aus Dir machen – einen, der Elefantenspuren hinterherläuft, einen Dschungelbären. Bah! Schäm Dich! Geh!« Kleiner Toomai verschwand ohne ein Wort, aber er erzählte Kala Nag all seinen Kummer, während er seine Füße untersuchte. »Egal«, sagte Kleiner Toomai und klappte den Rand von Kala Nags großem rechten Ohr hoch. »Sie haben Petersen Sahib meinen Namen genannt und vielleicht – und vielleicht – und vielleicht – wer weiß? Hai! Da hab ich aber einen großen Dorn rausgezogen!« Die nächsten Tage vergingen, indem man die Elefanten zusammentrieb, die neu eingefangenen wilden Elefanten zwischen je einem Paar zahmer hin und her laufen ließ, damit sie auf dem Marsch in die Ebenen hinab nicht zuviel Ärger verursachten, und indem man die Decken und Seile und Dinge zählte, die im Wald verbraucht oder verloren worden waren. Petersen Sahib kam auf seiner klugen Elefantin Pudmini herein; er hatte andere Lager zwischen den Bergen ausgezahlt, denn die Saison ging zu Ende, und ein einheimischer Schreiber saß an einem Tisch unter einem Baum und zahlte den Treibern ihren Lohn. Jeder Mann, der ausgezahlt war, ging zu seinem Elefanten zurück und schloß sich der Reihe an, die fertig zum Aufbruch war. Die Fänger und die Jäger und die Treiber, die Männer von der regulären Keddah, die jahrein jahraus im Dschungel blieben, saßen auf den Elefanten, die zu Sahib Petersens ständiger Truppe gehörten, oder lehnten mit den Büchsen über den Armen an Bäumen und verspotteten die Treiber, die abzogen, und lachten, wenn die frisch gefangenen Elefanten aus der Reihe brachen und umher rasten. Großer
Toomai ging, mit Kleiner Toomai hinter sich, zu dem Schreiber, und Machua Appa, der erste der Fährtensucher, sagte halblaut zu einem seiner Freunde: »Da geht endlich einmal ein Stück vom guten Elefantenstoff. Jammer, daß man den jungen Dschungelhahn wegschickt, damit er sich in der Ebene mausert.« Nun hatte Petersen Sahib überall Ohren, wie ein Mann haben muß, der das schweigsamste aller lebenden Wesen belauscht – den wilden Elefanten. Er lag auf Pudminis Rücken und drehte sich herum und sagte: »Was war das? Ich habe noch nie von einem Mann unter den Treibern aus der Ebene gehört, der auch nur einen toten Elefanten fesseln könnte.« »Das ist kein Mann, sondern ein Knabe. Er ging beim letzten Trieb in die Keddah und warf Barmao dort das Seil zu, als wir versuchten, das Jungkalb mit dem Fleck auf der Schulter von seiner Mutter wegzuholen.« Machua Appa zeigte auf Kleiner Toomai, und Petersen Sahib sah ihn an, und Kleiner Toomai verneigte sich bis zur Erde. »Der hat ein Seil geworfen? Der ist doch kleiner als ein Pflock. Kleiner, wie heißt Du?« sagte Petersen Sahib. Kleiner Toomai war zu erschrocken zum Sprechen, aber Kala Nag war hinter ihm, und Toomai machte ein Zeichen mit der Hand, und der Elefant hob ihn mit dem Rüssel hoch und hielt ihn auf gleicher Höhe mit Pudminis Stirn, genau vor den großen Petersen Sahib. Da bedeckte Kleiner Toomai das Gesicht mit seinen Händen, denn er war nur ein Kind und in allem, was nicht mit Elefanten zu tun hatte, genauso scheu wie jedes andere Kind. »Oho«, sagte Petersen Sahib und lächelte unter seinem Schnurrbart, »und warum hast Du Deinen Elefanten diesen Trick gelehrt? Um Dir zu helfen, grünes Korn von den Dächern der Häuser zu stehlen, wo man die Ähren zum Trocknen auslegt?«
»Nicht grünes Korn, Beschützer der Armen – Melonen«, sagte Kleiner Toomai, und alle Männer, die rings umher saßen, brachen in schallendes Gelächter aus. Die meisten von ihnen hatten ihren Elefanten diesen Trick beigebracht, als sie Jungens waren. Kleiner Toomai hing acht Fuß hoch in der Luft und wünschte sehr, daß er acht Fuß unter der Erde wäre. »Das ist Toomai, mein Sohn, Sahib«, sagte Großer Toomai mürrisch. »Er ist ein sehr böser Junge und wird im Gefängnis enden, Sahib.« »Daran habe ich meine Zweifel«, sagte Petersen Sahib. »Ein Junge, der in seinem Alter schon einer vollen Keddah entgegen treten kann, endet nicht im Gefängnis. Hier sind vier Annas, kleiner Mann, für Süßigkeiten, weil Du einen kleinen Kopf unter Deinem großen Haarschopf hast. Mit der Zeit wirst Du vielleicht auch ein Jäger werden.« Großer Toomai wurde noch mürrischer. »Doch denk daran, daß Keddahs keine Kinderspielplätze sind«, fuhr Petersen Sahib fort. »Darf ich denn nie in eine gehen?« fragte Kleiner Toomai mit einem großen Seufzer. »Doch.« Petersen Sahib lächelte wieder. »Wenn du die Elefanten tanzen gesehen hast. Das ist der richtige Zeitpunkt. Komm zu mir, wenn Du die Elefanten tanzen gesehen hast, und dann werde ich Dich in alle Keddahs gehen lassen.« Es gab ein neues brüllendes Gelächter, denn das ist ein alter Witz unter Elefantenfängern und bedeutet soviel wie niemals. In den Wäldern liegen große flache Lichtungen verborgen, die man die Ballsäle der Elefanten nennt, aber auch diese findet man nur durch Zufall, und kein Mann hat je die Elefanten tanzen gesehen. Wenn ein Treiber mit seiner Geschicklichkeit und seinem Mut prahlt, fragen ihn die anderen Treiber: »Und wann hast du die Elefanten tanzen gesehen?« Kala Nag setzte Kleiner Toomai nieder, und er verneigte sich wieder bis zur Erde und ging mit seinem Vater fort und gab
das silberne Vierannastück seiner Mutter, die seinen kleinen Bruder nährte, und sie wurden alle auf Kala Nags Rücken verstaut, und die Reihe der grunzenden und quiekenden Elefanten rollte den Bergpfad hinab in die Ebene. Wegen der neuen Elefanten war es ein sehr lebhafter Marsch, denn an jeder Furt machten sie Schwierigkeiten, und jede zweite Minute mußten sie getätschelt oder geprügelt werden. Großer Toomai stachelte Kala Nag übelgelaunt an, denn er war sehr ärgerlich; Kleiner Toomai jedoch war zu glücklich zum Sprechen. Petersen Sahib hatte ihn bemerkt und ihm Geld geschenkt, und also fühlte er sich, wie sich ein einfacher Soldat fühlen würde, riefe sein Oberbefehlshaber ihn aus dem Glied hervor und lobte ihn. »Was hat Petersen Sahib mit dem Elefantentanz gemeint?« fragte er schließlich leise seine Mutter. Großer Toomai hörte ihn und grunzte: »Daß Du niemals einer dieser Bergbüffel oder Spurensucher sein wirst. Das hat er gemeint. Hoh, Ihr da vorne, was versperrt den Weg?« Ein assamesischer Treiber, zwei oder drei Elefanten vorauf, drehte sich ärgerlich um und schrie: »Bring Kala Nag her und laß ihn dieses Kalb hier prügeln, bis es sich ordentlich zu benehmen weiß. Warum hat Petersen Sahib ausgerechnet mich ausgewählt, um mit Euch Reisfeldeseln hinabzusteigen? Bring Dein Tier neben mich, Toomai, und laß es seine Stoßzähne benutzen. Bei allen Göttern der Berge, diese neuen Elefanten sind besessen, oder sie können ihre Freunde im Dschungel riechen.« Kala Nag hieb den neuen Elefanten in die Rippen und prügelte die Luft aus ihm heraus, und Großer Toomai sagte: »Wir haben die Berge beim letzten Fangzug von wilden Elefanten gesäubert. Schuld ist bloß Eure nachlässige Treiberei. Muß ich denn die ganze Reihe in Ordnung halten?«
»Hör Dir das an!« sagte der andere Treiber. »Wir haben die Berge gesäubert! Ho! Ho! Ihr seid sehr klug, Ihr Leute aus der Ebene. Außer einem Schlammkopf, der nie den Dschungel sah, weiß doch jeder, daß sie genau wissen, daß das Jagen für diese Saison vorbei ist. Deshalb werden heute nacht alle wilden Elefanten – aber warum soll ich mein Wissen an eine Flußschildkröte verschwenden?« »Was werden sie tun?« rief Kleiner Toomai. »Ohe, Kleiner. Bist Du das? Na schön, Dir will ich es erzählen, denn Du hast einen kühlen Kopf. Sie werden tanzen, und Dein Vater, der alle Berge von allen Elefanten gesäubert hat, sollte diese Nacht doppelte Ketten um die Pflöcke legen.« »Was ist das für ein Geschwätz?« sagte Großer Toomai. »Vierzig Jahre lang haben wir, Vater wie Sohn, Elefanten gehegt, aber nie haben wir solchen Unfug von Tanzereien gehört.« »Klar, denn ein Flachländer, der in einer Hütte lebt, kennt nur die vier Wände seiner Hütte. Also laß Deine Elefanten heute nacht unangekettet und wart ab, was geschieht. Was aber das Tanzen angeht, so habe ich den Platz gesehen, wo – Bapree bap! Wie viele Schleifen hat denn der Dihang? Schon wieder eine Furt, und wir müssen die Kälber ans Schwimmen kriegen. Bleibt stehen, Ihr da hinten.« Und auf diese Weise redeten sie und stritten sie und platschten durch die Flüsse und bewältigten ihren ersten Marsch zu einer Art von Empfangslager für die neuen Elefanten; aber schon lange, bevor sie da ankamen, hatten sie die Geduld verloren. Dann wurden die Elefanten an den Hinterbeinen an ihre mächtigen Pflöcke angekettet, und zusätzliche Seile wurden den neuen Elefanten angelegt, und Futter wurde vor ihnen aufgeschüttet, und die Bergtreiber zogen durch den Nachmittag zurück zu Petersen Sahib und ermahnten die Flachlandtreiber,
in dieser Nacht besonders wachsam zu sein, und lachten, als die Flachlandtreiber nach dem Grund fragten. Kleiner Toomai kümmerte sich um Kala Nags Abendessen und wanderte, als der Abend einbrach, auf der Suche nach einer Tom-Tom durchs Lager. Wenn einem indischen Kind das Herz überquillt, rennt es nicht umher und macht unordentlichen Lärm. Es setzt sich nieder und schwelgt sozusagen in sich selbst. Und Petersen Sahib hatte mit Kleiner Toomai gesprochen! Wenn er nicht gefunden hätte, was er suchte, wäre er – glaube ich – krank geworden. Aber der Zuckerwarenhändler im Lager lieh ihm eine kleine Tom-Tom – eine Trommel, die mit der flachen Hand geschlagen wird –, und er hockte sich mit gekreuzten Beinen vor Kala Nag hin, bevor die Sterne erschienen, die Tom-Tom im Schoß, und trommelte und trommelte und trommelte, und je mehr er an die große Ehre dachte, die ihm widerfahren war, desto mehr trommelte er, ganz allein zwischen dem Elefantenfutter. Da gab es keine Melodie und keine Worte, aber das Trommeln machte ihn glücklich. Die neuen Elefanten zerrten an ihren Seilen und quäkten und trompeteten von Zeit zu Zeit, und er konnte hören, wie seine Mutter in der Lagerhütte seinen kleinen Bruder in den Schlaf sang mit einem uralten Lied vom großen Gott Shiv, der einst allen Tieren sagte, was sie essen sollten. Es ist ein sehr beruhigendes Wiegenlied, und die erste Strophe lautet: Shiv, who poured the harvest und made the winds to blow, Sitting at the doorways of a day of long ago, Gave to each his portion, food and toil and fate, From the King upon the guddee to the Beggar at the gate. All things made he – Shiva the Preserver. Mahadeo! Mahadeo! he made all – Thorn for the camel, fodder for the kine, And mother’s heart for sleepy head, O little son of mine!
(Shiv, der die Ernten ausschüttet und die Winde wehen macht, Saß an der Pforte eines Tages vor langer Zeit, Gab jedem seinen Anteil, Essen und Arbeit und Schicksal, Vom König auf dem guddee bis zum Bettler an der Pforte. Alle Dinge schuf er – Shiva der Bewahrer. Mahadeo! Mahadeo! Er schuf alles – Dornen für Kamele, Futter für das Vieh, Und Mutters Herz fürs müde Haupt, mein lieber kleiner Sohn!)
Kleiner Toomai fiel ein mit einem fröhlichen tunk-a-tunk am Ende jeder Strophe, bis er schläfrig wurde und sich auf dem Futter an Kala Nags Seite ausstreckte. Schließlich begannen auch die Elefanten sich niederzulegen, einer nach dem anderen, wie es ihre Art ist, bis nur noch Kala Nag am rechten Ende der Reihe aufrecht stand; und er schaukelte langsam von Seite zu Seite, die Ohren nach vorne gerichtet, um dem Nachtwind zu lauschen, der ganz sanft über die Berge wehte. Die Luft war voll mit all den Nachtgeräuschen, die zusammen eine tiefe Stille sind – das Klicken, wenn ein Bambusstengel den anderen berührte, das Rascheln eines Lebewesens im Unterholz, das Kratzen und Knarzen eines halbwachen Vogels (Vögel sind nachts viel häufiger wach, als wir glauben), und das Herabstürzen von Wasser ganz weit weg. Kleiner Toomai schlief einige Zeit, und als er erwachte leuchtete das Mondlicht, und Kala Nag stand immer noch mit vorgestellten Ohren aufrecht. Kleiner Toomai drehte sich raschelnd im Futter um und betrachtete die Krümmung des großen Rückens vor der Hälfte aller Sterne am Himmel, und während er noch hinschaute, hörte er aus so großer Ferne, daß es nur wie ein in die Stille gestochenes Nadelloch von Lärm klang, das »huuttuut« eines wilden Elefanten. Alle Elefanten in den Reihen sprangen auf, als hätte man sie angeschossen, und ihr Gegrunze weckte schließlich die schlafenden Mahouts, und die kamen heraus und trieben die Pflöcke mit schweren Hämmern tiefer ein und zogen dieses Seil straffer und verknoteten jenes,
bis alles still war. Ein neuer Elefant hatte seinen Pflock beinahe herausgerissen, und Großer Toomai nahm Kala Nags Beinkette ab und kettete dem anderen Elefanten damit das Vorderbein ans Hinterbein; um Kala Nags Bein aber legte er eine Grasschlinge und ermahnte ihn, daran zu denken, daß er fest angebunden sei. Er wußte, daß er und sein Vater und sein Großvater das schon hundertemal zuvor gemacht hatten. Kala Nag beantwortete den Befehl nicht wie üblich mit einem Gurgeln. Er stand bewegungslos und blickte, den Kopf ein wenig erhoben und die Ohren wie Fächer ausgebreitet, durchs Mondlicht hinauf zu den großen Falten der Garo-Berge. »Kümmer Dich um ihn, wenn er diese Nacht unruhig wird«, sagte Großer Toomai zu Kleiner Toomai, und er ging in die Hütte zurück und schlief. Kleiner Toomai wollte auch gerade einschlafen, als er hörte, wie der Grasstrick mit einem leisen »ting« zerriß, und Kala Nag kam zwischen seinen Pflöcken so langsam und leise hervor, wie eine Wolke aus dem Eingang zu einem Tal hervorkommt. Kleiner Toomai trappte barfuß hinter ihm im Mondschein die Straße hinab und rief ganz leise: »Kala Nag! Kala Nag! Nimm mich mit, o Kala Nag!« Der Elefant drehte sich geräuschlos um, kehrte mit drei langen Schritten zurück zu dem Knaben im Mondschein, griff mit seinem Rüssel hinab, schwang ihn sich auf den Nacken und glitt, fast noch ehe Kleiner Toomai seine Knie eingestemmt hatte, in den Wald. Von den Reihen der Elefanten kam ein letzter wütender Trompetenstoß, und dann schloß sich das Schweigen über allem und Kala Nag setzte sich in Bewegung. Manchmal wusch ein Büschel hohen Grases an seiner Flanke entlang wie Wellen an der Bordwand eines Schiffes entlangwaschen, und manchmal kratzte ein Rankenbüschel vom wilden Pfeffer seinen Rücken entlang, oder ein Bambus knirschte, wenn ihn seine Schulter berührte; aber zwischen solchen Momenten
bewegte er sich absolut ohne jedes Geräusch und trieb durch den dichten Garo-Wald wie durch Rauch. Er lief bergauf, aber obwohl Kleiner Toomai durch die Lücken zwischen den Bäumen nach den Sternen sah, konnte er die Richtung nicht erkennen. Dann erreichte Kala Nag den Kamm des Hanges und hielt für eine Minute inne, und Kleiner Toomai konnte die Wipfel der Bäume meilenweit gefleckt und pelzig im Mondlicht liegen sehen und den blauweißen Nebel über dem Fluß in der Senke. Toomai lehnte sich nach vorne und schaute, und er fühlte, daß der Wald unter ihm wach war – wach und lebendig und wimmelnd. Eine große braune früchtefressende Fledermaus strich an seinem Ohr vorüber; die Stacheln eines Stachelschweins rasselten im Dickicht, und er hörte in der Dunkelheit zwischen den Baumstämmen einen Lippenbären angestrengt in der feuchten warmen Erde graben und beim Graben schnüffeln. Dann schlossen sich die Äste wieder über ihm und Kala Nag begann, ins Tal hinabzusteigen – nicht leise dieses Mal, sondern so, wie eine losgerissene Kanone einen steilen Hang hinabgeht – in einem durch. Die riesigen Glieder bewegten sich so gleichmäßig wie Kolben, acht Fuß pro Schritt, und die runzlige Haut über den Ellbogengelenken raschelte. Das Unterholz zu seinen beiden Seiten riß mit dem Geräusch reißender Segel und die Schößlinge, die er mit seinen Schultern nach rechts und links beiseite drängte, schnellten zurück und schlugen ihm gegen die Flanken, und große Schleppen verfilzter Schlinggewächse hingen ihm von den Stoßzähnen, während er den Kopf hin und her warf und sich seinen Pfad pflügte. Da schmiegte sich Kleiner Toomai dicht an den großen Nacken, damit ihn nicht ein zurückschnellender Ast zu Boden fege, und wünschte, er wäre wieder im Lager. Der Grasboden wurde langsam breiig und Kala Nags Füße saugten und schmatzten beim Aufsetzen, und der Nachtnebel auf der Talsohle machte Kleiner Toomai frösteln. Dann war da
ein Platschen und ein Trampeln und das Rauschen fließenden Wassers, und Kala Nag strebte durch ein Flußbett und ertastete sich seinen Weg mit jedem Schritt. Über dem Geräusch des um die Beine des Elefanten strudelnden Wassers konnte Kleiner Toomai flußauf und flußab noch mehr Platschen und manchmal ein Trompeten hören – mächtige Grunzer und ärgerliches Schnauben, und der Nebel um ihn herum schien erfüllt mit rollenden wogenden Schatten. »Ai!«, sagt er halblaut, und seine Zähne klapperten. »Das Elefanten-Volk ist heutnacht unterwegs. Also ist es der Tanz!« Kala Nag planschte aus dem Wasser, blies sich den Rüssel klar und begann mit einem weiteren Anstieg; aber diesmal war er nicht allein und mußte sich den Weg nicht selbst bahnen. Der war schon gemacht und lag sechs Fuß breit vor ihm, und das niedergetretene Gras versuchte sich zu erholen und wieder aufzurichten. Viele Elefanten mußten diesen Weg wenige Minuten zuvor gegangen sein. Kleiner Toomai blickte zurück und sah hinter sich einen riesigen wilden Bullen, dessen kleine Schweinsäuglein wie glühende Kohle glommen, als er sich aus dem nebligen Fluß schob. Dann schlossen sich die Bäume wieder, und sie stiegen weiter und höher, und überall um sie herum war Trompeten und Krachen und das Geräusch brechender Äste, Schließlich stand Kala Nag auf der Bergkuppe zwischen zwei Baumstämmen still. Sie waren Teil eines Baumkreises, der rund um einen unregelmäßigen Platz von etwa zwei Hektar wuchs, und auf dieser ganzen Fläche war, wie Kleiner Toomai sehen konnte, die Erde niedergetrampelt, flach und hart wie ein Ziegelboden. Einige Bäume wuchsen inmitten der Lichtung, aber ihre Borke war abgeschubbert und das weiße Holz darunter schimmerte hell und poliert in den Mondlichtfetzen. Schlinggewächse baumelten von den oberen Ästen herab und die Kelche ihrer Blüten, große wachsweiße Dinger wie Winden, hingen in
tiefem Schlaf; aber innerhalb der Lichtung gab es nicht einen Grashalm, nichts als festgetrampelte Erde. Im Mondlicht sah sie eisengrau aus, außer da wo Elefanten standen, und ihre Schatten waren tintenschwarz. Kleiner Toomai schaute, hielt die Luft an, die Augen traten ihm vor den Kopf, und wie er schaute, schwangen sich mehr und immer mehr Elefanten zwischen den Baumstämmen heraus ins Freie. Kleiner Toomai konnte nur bis zehn zählen, und er zählte wieder und wieder an seinen Fingern, bis er nicht mehr wußte, wie viele Zehner es waren und sein Kopf sich drehte. Außerhalb der Lichtung hörte er sie durchs Unterholz krachen, als sie sich ihren Weg den Berghang hinauf brachen; aber sobald sie innerhalb des Baumringes waren, bewegten sie sich wie Geister. Da gab es weißzähnige wilde Bullen mit abgestreiften Blättern und Nüssen und Zweigen in ihren Nackenrunzeln und Ohrfalten; fette langsame Elefantenkühe, denen ruhelose kleine schwarzrosa Kälber von nur drei oder vier Fuß Höhe unter den Bäuchen umherrannten; junge Elefanten, deren Stoßzähne sich eben erst zeigten und die sehr stolz auf sie waren; hagere dürre alte Elefantenjungfern mit hohlen besorgten Gesichtern und Rüsseln wie rauhe Borke; wüste alte Bullen, von der Schulter bis zur Flanke zernarbt von Striemen und Rissen aus vergangenen Kämpfen, und der festgebackene Dreck ihrer einsamen Schlammbäder bröckelte ihnen von den Schultern; und einer war da mit abgebrochenem Stoßzahn und den Markierungen des großen Hiebes, des furchtbaren reißenden Schürfens einer Tigerklaue an der Seite. Sie standen Kopf an Kopf oder wanderten auf der Fläche paarweise hin und her oder schwankten und schaukelten für sich allein – Dutzende und Aberdutzende von Elefanten. Toomai wußte, daß ihm solange er still auf Kala Nags Nacken lag nichts geschehen konnte; denn selbst im Gewühle und Gewüte eines Keddah-Treibens greift ein wilder Elefant nicht mit seinem
Rüssel hoch und zerrt einen Mann vom Nacken eines zahmen Elefanten; und diese Elefanten dachten in dieser Nacht nicht an Menschen. Einmal fuhren sie auf und stellten die Ohren vor, als sie das Klirren einer Fußkette aus dem Wald hörten, aber es war Pudmini, Petersen Sahibs Lieblingselefant, die mit kurz abgerissener Kette grummelnd und schnaufend den Berghang heraufkam. Sie mußte ihre Pflöcke zerbrochen haben und unmittelbar aus Petersen Sahibs Lager kommen; und Kleiner Toomai sah einen anderen Elefanten, den er nicht kannte, mit tiefen Seilwunden auf Rücken und Brust. Auch er mußte aus irgendeinem Lager in den umliegenden Bergen entlaufen sein. Schließlich gab es kein Geräusch mehr von weiteren Elefanten, die sich im Walde bewegten; und Kala Nag rollte von seiner Stelle zwischen den Bäumen hervor und ging mitten in die Menge hinein, schnalzend und gurgelnd, und alle Elefanten begannen, sich in ihrer Sprache zu unterhalten und umherzuwandern. Kleiner Toomai, der immer noch stillag, blickte hinab auf Dutzende und Aberdutzende breiter Rücken und zuckender Ohren und gereckter Rüssel und kleiner rollender Augen. Er hörte das Klacken von Stoßzähnen, die zufällig gegen andere Stoßzähne stießen, und das trockene Rascheln ineinander verschlungener Rüssel und das Schaben gewaltiger Flanken und Schultern in der Menge und das unaufhörliche Fuchteln und Zischen der großen Schwänze. Dann schob sich eine Wolke vor den Mond, und er saß in schwarzer Dunkelheit; aber das ruhige stetige Drängen und Schieben und Gurgeln dauerte unverändert an. Er wußte, daß überall um Kala Nag Elefanten waren und daß es keine Möglichkeit gab, ihn aus der Versammlung hinauszubringen; also biß er die Zähne zusammen und schauderte. In einer Keddah gab es wenigstens noch Fackellicht und Geschrei, aber hier war er ganz allein in der Dunkelheit, und einmal hob sich ein Rüssel bis zu ihm hinauf und berührte ihn am Knie. Dann
trompetete ein Elefant, und für fünf oder zehn fürchterliche Sekunden fielen sie alle ein. Der Tau sprühte von den Bäumen oben wie Regen hinab auf die unsichtbaren Rücken und ein dumpfes dröhnendes Geräusch setzte ein, zuerst nicht sehr laut, und Kleiner Toomai konnte nicht erkennen, was es war; aber es wurde lauter und lauter, und Kala Nag hob den einen Vorderfuß und dann den anderen und rammte sie auf den Boden – einszwei, eins-zwei, so gleichmäßig wie Schlaghämmer. Die Elefanten stampften nun alle gemeinsam, und es klang wie eine Kriegstrommel in der Mündung einer Höhle. Der Tau fiel von den Bäumen, bis keiner mehr übrig war zu fallen, und das Dröhnen dauerte an, und der Boden schwankte und bebte, und Kleiner Toomai legte die Hände über die Ohren, um das Geräusch auszuschließen. Aber alles wurde zu einer gigantischen Schockwelle, die ihn durchschoß – dieses Stampfen von Hunderten schwerer Füße auf der bloßen Erde. Einmal oder zweimal konnte er spüren, wie Kala Nag und die anderen alle ein paar Schritte vorwärts strömten, und das Stampfen wandelte sich in das malmende Geräusch des Zerquetschens von saftigen grünen Dingen, aber nach ein oder zwei Minuten begann das Dröhnen der Füße auf nackter Erde von Neuem. Ein Baum krachte und ächzte irgendwo nahebei. Er streckte seinen Arm aus und fühlte die Borke, aber Kala Nag bewegte sich immer noch stampfend vorwärts, und er konnte nicht sagen, ob er sich noch auf der Lichtung befand. Von den Elefanten kam kein Laut, außer einmal, als zwei oder drei kleine Kälber gemeinsam quäkten. Dann hörte er ein Geplumps und Geschiebe, und das Dröhnen hielt an. Es muß wenigstens zwei volle Stunden gedauert haben, und Kleinem Toomai schmerzte jeder Nerv; aber aus dem Geruch der Nachtluft erkannte er, daß das Morgendämmern kam. Der Morgen brach in einer Schicht fahlen Gelbs hinter den grünen Bergen an, und beim ersten Strahl hielt das Dröhnen
inne, als ob das Licht ein Befehl war. Ehe Kleiner Toomai das Klingen aus dem Kopf hatte, ehe er auch nur seine Position hatte ändern können, war kein Elefant mehr in Sicht außer Kala Nag, Pudmini und dem Elefanten mit den Seilwunden, und da war kein Zeichen oder Rascheln oder Flüstern die Berghänge hinab, das gezeigt hätte, wohin die anderen gegangen waren. Kleiner Toomai starrte und starrte. Die Lichtung, an die er sich erinnerte, war in der Nacht gewachsen. Mehr Bäume standen in ihr, aber das Unterholz und das Dschungelgras am Rande waren zurückgedrängt worden. Kleiner Toomai starrte noch einmal. Jetzt verstand er das Trampeln. Die Elefanten hatten mehr Platz zurechtgestampft – hatten dickes Gras und saftige Stangen zu Klump gestampft, den Klump zu Splittern, die Splitter zu winzigen Fasern und die Fasern zu harter Erde. »Wahl«, sagte Kleiner Toomai, und seine Augen waren wie bleiern. »Kala Nag, mein Herr, wir wollen bei Pudmini bleiben und in Petersen Sahibs Lager zurückkehren, sonst falle ich von Deinem Nacken.« Der dritte Elefant sah den beiden nach, als sie abzogen, schnaubte, warf sich herum und machte sich auf seinen eigenen Weg. Vielleicht gehörte er in die Stallungen eines kleinen einheimischen Königs, fünfzig oder sechzig oder hundert Meilen entfernt. Zwei Stunden später, als Petersen Sahib ein zeitiges Frühstück aß, begannen seine Elefanten, die in der Nacht doppelt angekettet gewesen waren, zu trompeten und Pudmini, bis zu den Schultern verdreckt, wankte mit dem reichlich fußkranken Kala Nag ins Lager. Das Gesicht von Kleiner Toomai war grau und klein, und sein Haar war voller Blätter und durchtränkt von Tau; aber er versuchte, Petersen Sahib zu grüßen und schrie schwach: »Der Tanz – der Tanz der Elefanten! Ich habe ihn gesehen und – ich sterbe!« Als Kala
Nag sich niederließ, glitt er ihm in tiefer Ohnmacht vom Nacken. Aber da eingeborene Kinder keine erwähnenswerten Nerven haben, lag er zwei Stunden später sehr zufrieden in Petersen Sahibs Hängematte mit Petersen Sahibs Jagdrock unterm Kopf und einem Glas warmer Milch und einem Schluck Brandy mit einem Schuß Chinin im Leib, und während die alten haarigen vernarbten Dschungeljäger drei Reihen tief vor ihm saßen und ihn anstarrten, als sei er ein Geist, erzählte er seine Geschichte in kurzen Worten, wie ein Kind tut, und endete so: »Und wenn ich auch nur mit einem Wort gelogen habe, dann schickt Männer aus zu sehen, und sie werden finden, daß das Elefantenvolk mehr Platz niedergetrampelt hat zu seinem Ballsaal, und sie werden finden zehn und zehn und viele Mal zehn Spuren, die zu diesem Ballsaal führen. Sie haben sich mehr Platz mit den Füßen geschaffen. Ich habe es gesehen. Kala Nag nahm mich mit, und ich sah. Und Kala Nag hat jetzt sehr müde Beine!« Kleiner Toomai lehnte sich zurück und schlief den ganzen langen Nachmittag durch und in die Dämmerung hinein, und während er schlief, folgten Petersen Sahib und Machua Appa den Spuren der beiden Elefanten über fünfzehn Meilen durch die Berge. Petersen Sahib hatte achtzehn Jahre mit dem Fangen von Elefanten verbracht, und er hatte nur einmal zuvor einen solchen Tanzplatz gefunden. Machua Appa brauchte weder zweimal hinzusehen, um zu wissen, was da geschehen war, noch mit seinem Zeh in der festgerammten Erde zu kratzen. »Das Kind spricht die Wahrheit«, sagte er. »All dies geschah in der vergangenen Nacht, und ich habe siebzig Spuren den Fluß kreuzen gezählt. Sieh, Sahib, wo Pudminis Fußeisen die Rinde jenes Baumes zerschnitt! Ja; auch sie war hier.« Sie sahen einander an, und hierhin und dorthin, und sie staunten;
denn die Wege der Elefanten sind jenseits des Scharfsinns der Menschen, schwarzer oder weißer, und unergründbar. »Vierzig Jahre und fünf«, sagte Machua Appa, »bin ich meinem Herrn, dem Elefanten gefolgt, aber niemals hörte ich, daß ein Kind der Menschen sah, was dieses Kind gesehen hat. Bei allen Göttern der Berge, das ist – was soll man sagen?« und er schüttelte den Kopf. Als sie ins Lager zurück kamen, war es Zeit fürs Abendessen. Petersen Sahib aß allein in seinem Zelt, aber er gab Anweisung, daß das Lager zwei Schafe und einiges Geflügel und außerdem eine doppelte Ration Mehl und Reis und Salz haben solle, denn er wußte, daß da ein Fest sein würde. Großer Toomai war eilenden Fußes aus dem Lager in der Ebene gekommen, um nach seinem Sohn und seinem Elefanten zu suchen, und nun, da er sie gefunden hatte, blickte er sie an, als habe er Furcht vor ihnen. Und bei den lodernden Lagerfeuern vor den Reihen der angepflockten Elefanten war ein Fest, und Kleiner Toomai war sein Held; und die großen braunen Elefantenjäger, die Fährtensucher und Treiber und Fessler und die Männer, die alle Geheimnisse um das Zähmen der wildesten Elefanten wissen, reichten ihn sich einander zu, und sie zeichneten seine Stirn mit dem Blut eines frisch geschlachteten Dschungelhahns, um anzuzeigen, daß er ein Waldläufer war, eingeweiht und für alle Dschungel freigesprochen. Und schließlich, als die Flammen erstarben und das rote Glimmen der Holzklötze die Elefanten aussehen ließ, als seien auch sie in Blut getaucht worden, sprang Machua Appa auf, das Oberhaupt aller Treiber aller Keddahs – Machua Appa, Petersen Sahibs anderes Ich, der vierzig Jahre lang keine gebahnte Straße mehr gesehen hatte: Machua Appa, der so groß war, daß er keinen anderen Namen als Machua Appa hatte – sprang auf die Füße und hielt Kleiner Toomai hoch in
die Luft über seinem Kopf und schrie: »Höret, meine Brüder! Höret auch Ihr, Ihr meine Herren dort in Euren Reihen, denn ich, Machua Appa, rede! Dieser Kleine hier soll nicht mehr Kleiner Toomai genannt sein, sondern Toomai von den Elefanten, wie vor ihm sein Urgroßvater genannt wurde. Was kein Mann je gesehen hat, hat er in dieser langen Nacht gesehen, und die Gunst des Elefantenvolkes und der Dschungelgötter ist mit ihm. Er wird ein großer Fährtensucher werden; er wird größer werden als ich, selbst ich, Machua Appa! Er wird folgen der neuen Fährte und der erkalteten Fährte und der gemischten Fährte mit scharfem Auge! Ihm wird kein Leid widerfahren in der Keddah, wenn er unter den Bäuchen der wilden Bullen umherrennt, um sie zu fesseln; und wenn er vor den Füßen des angreifenden Elefantenbullen ausrutscht, wird der Elefantenbulle wissen, wer er ist, und wird ihn nicht zermalmen. Aihai! Ihr meine Herren in den Ketten« – er wirbelte zu den Reihen der Angepflockten herum –, »hier ist der Kleine, der Euch hat tanzen gesehen an Euren verborgenen Plätzen – der sah, was kein Mann je sah! Ehret ihn, meine Herren! Salaam karo, meine Kinder. Salutiert vor Toomai von den Elefanten! Gunga Pershad, ahaa! Hira Guj, Birchi Guj, Kuttar Guj, ahaa! Pudmini – Du sähest ihn beim Tanz, und auch Du, Kala Nag, meine Perle unter den Elefanten! – ahaa! Zusammen! Auf Toomai von den Elefanten. Barrao!« Und bei diesem letzten wilden Schrei schwang die ganze Reihe die Rüssel empor, bis die Spitzen die Stirnen berührten, und brach aus in den vollen Gruß – den schmetternden Trompetenstoß, den nur der Vizekönig Indiens hört, das Salaamut der Keddah. Das alles geschah für Kleiner Toomai, der gesehen hatte, was kein Mann zuvor je sah – den Tanz der Elefanten in der Nacht, allein im Herzen der Garo-Berge!
Shiv and the Grasshopper The Song that Toomai’s Mother sang to the Baby Shiv, who poured the harvest and made the winds to blow, Sitting at the doorways of a day of long ago, Gave to each his portion, food and toil and fate, From the King upon the guddee to the Beggar at the gate. All things made he – Shiva the Preserver. Mahadeo! Mahadeo! he made all – Thorn for the camel, fodder for the kine, And mother’s heart for sleepy head, O little son of mine! Wheat he gave to rich folk, millet to the poor, Broken scraps for holy men that beg from door to door. Cattle to the tiger, carrion to the kite, And rags and bones to wicked wolves without the wall at night. Naught he found too lofty, none he saw too low – Parbati beside him watched them come and go, Thought to cheat her husband, turning Shiv to jest, Stole the little grasshopper and hid it in her breast! So she tricked him, Shiva the Preserver. Mahadeo! Mahadeo! turn and see. Tall are the camels, heavy are the kine, But this was Least of Little Things, O little son of mine! When the dole was ended, laughingly she said, »Master of a million mouths, is not one unfed?« Laughing, Shiv made answer, »All have had their part, Even he the little one hidden ‘neath the heart.« From her breast she plucked it, Parbati the thief, Saw the Least of Little Things gnawed a new-grown leaf. Saw and feared and wondered, making prayer to Shiv, Who has surely given meat to all that live. All things made he – Shiva the Preserver. Mahadeo! Mahadeo! he made all – Thorn for the camel, fodder for the kine, And mother’s heart for sleepy head, O little son of mine!
(Shiv und der Heuschreck Das Lied, das Toomais Mutter dem Kinde vorsang Shiv, der die Ernten ausschüttet und die Winde wehen macht, Saß an der Pforte eines Tages vor langer Zeit, Gab jedem seinen Anteil, Essen und Arbeit und Schicksal, Vom König auf dem guddee bis zum Bettler an der Pforte. Alle Dinge schuf er – Shiva der Bewahrer. Mahadeo! Mahadeo! Er schuf alles – Dornen für Kamele, Futter für das Vieh, Und Mutters Herz fürs müde Haupt, mein lieber kleiner Sohn! Weizen gab er den Reichen, Hirse den Armen, Brosamen für heilige Männer, die sich von Tür zu Tür betteln. Rinder für den Tiger, Aas den Geiern, Und Fetzen und Knochen den bösen Wölfen draußen in der Nacht. Keiner war ihm zu erhaben, keiner zu niedrig – Parbati saß neben ihm und sah sie kommen und gehen, Gedachte ihren Eheherrn zu foppen, Shiv zu Spott zu machen, Stahl den kleinen Heuschreck und verbarg ihn an ihrer Brust! So überlistete sie ihn, Shiva den Bewahrer. Mahadeo! Mahadeo! schau Dich um. Groß sind die Kamele, schwer ist das Vieh, Aber dies war das Allerkleinste, mein lieber kleiner Sohn! Als die Verteilung beendet war, sprach sie lachend: »Herr der Million Mäuler, ist nicht eines ungenährt?« Lachend antwortete Shiv: »Alle haben ihr Teil bekommen, Selbst der Kleine, den Du an Deinem Herzen verbirgst.« Von ihrer Brust nahm sie ihn, Parbati die Diebin, Sah das Allerkleinste nagen an einem frischen Blatt. Sah es und fürchtete sich und staunte, betete zu Shiv, Der wahrhaftig allen, die da leben, Essen gab. Alle Dinge schuf er – Shiva der Bewahrer. Mahadeo! Mahadeo! er schuf alles – Dornen für Kamele, Futter für das Vieh, Und Mutters Herz fürs müde Haupt, mein lieber kleiner Sohn!)
Roter Hund
For our white and our excellent nights – for the nights of swift running, Fair ranging, far-seeing, good hunting, sure cunning! For the smells of the dawning, untainted, ere dew has departed! For the rush through the mist, and the quarry blind-started! For the cry of our mates when the sambhur has wheeled and is standing at bay, For the risk and the riot of night! For the sleep at the lair-mouth by day – It ist met, and we go to the fight. Bay! O Bay! (Für unsere weißen und herrlichen Nächte – für die Nächte des schnellen Laufes, Feines Schweifen, weites Blicken, gutes Jagen, sichere Listen! Für die Gerüche des Morgens, unbefleckt, ehe der Tau schwindet! Für die Hatz durch den Nebel und die blinderschreckte Beute! Für den Schrei unserer Gefährten, wenn sich der sambhur umgewandt hat und gestellt ist, Für Wagnis und Wildheit der Nacht! Für den Schlaf im Schöße des Lagers bei Tag – Wir stellen uns, und wir gehn in den Kampf. Bellt! O bellt!)
Nachdem er den Dschungel in sich eingelassen hatte, begann der schönste Teil in Mowglis Leben. Er hatte das gute Gewissen, das man bekommt, wenn man eine berechtigte Schuld zurückgezahlt hat; und der ganze Dschungel war sein Freund, denn der ganze Dschungel fürchtete ihn. Die Dinge, die er tat und sah und hörte, wenn er allein oder mit seinen vier Gefährten von einem Volk zum anderen wanderte, ergäben manche, manche Geschichte, jede so lang wie diese. Deshalb
wird Euch nie erzählt werden, wie er dem verrückten Elefanten von Mandla begegnete und ihm entkam, der zweiundzwanzig Ochsen tötete, die elf Karren mit gemünztem Silber zum Schatzhaus der Regierung zog, und der die glitzernden Rupien im Staub verstreute; wie er mit Jacala, dem Krokodil, eine ganze lange Nacht in den Sümpfen des Nordens kämpfte und sein Häute-Messer an den Rückenplatten der Bestie zerbrach; wie er ein neues und längeres Messer am Hals eines Mannes fand, den ein wilder Keiler getötet hatte, und wie er der Spur dieses Keilers folgte und ihn tötete als gerechten Preis für das Messer; wie er während der Großen Hungersnot zwischen die Züge des Hochwilds geriet und von den schwankenden erhitzten Herden fast zu Tode gequetscht wurde; wie er Hathi den Schweigsamen davor bewahrte, in einer Grube mit einem Pfahl darin gefangen zu werden, und wie er selbst am nächsten Tag in eine raffinierte Leopardenfalle geriet, und wie Hathi die dicken Holzstangen über ihm in Stücke zerbrach; wie er die wilden Büffel im Sumpf molk und wie – Aber wir müssen die Geschichten eine nach der anderen erzählen. Vater und Mutter Wolf starben, und Mowgli rollte einen Felsbrocken vor den Höhlenmund und sang über ihnen das Lied des Todes, und Balu wurde sehr alt und steif, und selbst Bagiera mit Nerven aus Stahl und Muskeln aus Eisen schien beim Töten langsamer. Akela wandelte sich vor lauter Alter von grau in milchweiß; seine Rippen standen hervor, und er schritt, als sei er aus Holz, und Mowgli tötete für ihn. Aber die jungen Wölfe, die Kinder des aufgelösten Seoni-Rudels, gediehen und vermehrten sich, und als ihrer einige vierzig waren, herrenlose reinfüßige Fünfjährige, machte Akela ihnen klar, daß sie sich zusammenrudeln und dem Gesetz folgend unter einem Haupte laufen sollten, wie es sich für Freies Volk gezieme. Dies war keine Sache, in der Mowgli Rat gab, denn – wie er sagte – er hatte saure Frucht gegessen und kannte den
Baum, daran sie hing; als aber Phao, Sohn Phaonas (sein Vater war Grauer Spürer gewesen in den Tagen von Akelas Führung), sich seinen Weg zur Führung des Rudels erkämpfte gemäß dem Dschungelgesetz und als die alten Rufe und die alten Lieder erneut unter den Sternen erklangen, kam Mowgli um der Erinnerung willen zum Ratsfelsen. Wenn er zu sprechen beschloß, wartete das Rudel, bis er geendet hatte, und er saß an Akelas Seite auf dem Felsen über Phao. Das waren die Tage der guten Jagd und des guten Schlafes. Kein Fremder wagte es, in die Dschungel einzudringen, die Mowglis Volk gehörten, wie sie das Rudel nannten, und die jungen Wölfe wurden fett und stark, und mancher Welpe war zur Musterung zu bringen. Mowgli nahm immer an den Musterungen teil, denn er erinnerte sich der Nacht, in der ein schwarzer Panther ein nacktes braunes Kind zum Rudel brachte, und der langgezogene Ruf: »Sehet, wäget wohl, Wölfe«, ließ sein Herz mit sonderbaren Gefühlen pochen. Ansonsten hielt er sich fernab im Dschungel auf, wo er neue Dinge schmeckte, berührte, sah –, fühlte. Einst im Dämmerlicht, als er müßig über die Hänge trabte, um Akela die Hälfte eines Bockes zu bringen, den er getötet hatte, und während seine vier Wölfe hinter ihm herliefen, sich herumbalgten und einer über den anderen purzelte vor Lebensfreude, hörte er einen Schrei, den er nicht gehört hatte seit den bösen Tagen von Shere Khan. Es war, was man im Dschungel den Pheeal nennt, eine Art von Kreischen, das der Schakal ausstößt, wenn er hinter dem Tiger jagt oder wenn ein großes Töten geschieht. Wenn man sich eine Mischung aus Haß, Triumph, Furcht und Verzweiflung vorstellen kann, mit einer Art Grinsen darin, hat man einige Ahnung von dem Pheeal, der anschwoll und abnahm und schwankte und zitterte jenseits der Waingunga. Den Vieren sträubte sich das Fell und
sie begannen zu knurren. Mowglis Hand fuhr zum Messer, und auch er blieb stehen, als ob er in Stein verwandelt sei. »Es gibt keinen Gestreiften, der hier zu töten wagte«, sagte er. »Das ist nicht der Schrei des Vorläufers«, sagte Grauer Bruder. »Das ist ein großes Töten. Hört!« Wieder brach es aus, halb schluchzend und halb kichernd, als ob der Schakal sanfte Menschenlippen hätte. Da holte Mowgli tief Luft und rannte zum Ratsfelsen, wobei er hungrige Wölfe des Rudels überholte. Phao und Akela waren zusammen auf dem Felsen, und unter ihnen, jeder Nerv gespannt, saßen die anderen. Die Mütter und die Welpen trabten zu ihren Lagerstätten; denn wenn der Pheeal schreit, ist es nicht die rechte Zeit für schwache Wesen, unterwegs zu sein. Sie konnten nichts hören, außer dem Gurgeln der Waingunga im Dunkel und dem Abendwind in den Baumgipfeln, bis plötzlich ein Wolf über den Fluß rief. Es war kein Wolf aus dem Rudel, denn die waren alle beim Felsen. Der Ton veränderte sich zu einem langen verzweifelten Bellen; und »Dhole!« sagte es, »Dhole! Dhole! Dhole!« Wenige Minuten danach hörten sie müde Füße auf den Felsen, und ein hagerer tropfnasser Wolf, die Flanken rot gestreift, die rechte Vorderpfote zuschanden, die Fänge weiß von Schaum, warf sich in den Kreis und lag keuchend zu Mowglis Füßen. »Gutes Jagen! Unter wessen Führung?« sagte Phao würdevoll. »Gutes Jagen! Won-tolla bin ich«, lautete die Antwort. Er meinte, daß er ein einzelgängerischer Wolf war, der nur für sich selbst, die Gefährtin und seine Welpen sorgte in irgendeinem einsamen Lager. Won-tolla bedeutet Auslieger – einer, der außerhalb jeden Rudels liegt. Während er keuchte, konnte man sehen, wie sein Herz ihn rückwärts und vorwärts schüttelte.
»Was ist unterwegs?« fragte Phao, denn das ist die Frage, die der ganze Dschungel nach dem Pheeal stellt. »Die Dhole, die Dohle des Dekkan – Roter Hund, der Töter! Sie kamen nordwärts aus dem Süden und sagen, der Dekkan sei leer, und sie töten auf dem Weg. Als dieser Mond neu war, waren mir vier zu eigen – die Gefährtin und drei Welpen. Sie wollte sie das Töten auf der Grasebene lehren, wie man sich versteckt, um den Bock zu treiben, wie wir tun, die wir vom offnen Lande sind. Um Mitternacht hörte ich sie gemeinsam mit voller Kehle auf der Fährte. Im Morgenwind fand ich sie tot im Gras – vier, Freies Volk, vier, als dieser Mond neu war! Da suchte ich mein Blutrecht und fand die Dhole.« »Wie viele?« fragte Mowgli; das Rudel knurrte tief in seinen Gurgeln. »Ich weiß nicht. Drei von ihnen werden nicht mehr töten, aber zuletzt trieben sie mich wie den Bock; auf drei Beinen trieben sie mich. Sieh, Freies Volk.« Er reckte seine zerfetzte Vorderpfote vor, schwarz von getrocknetem Blut. Grausame Bisse waren tief an seiner Seite, und seine Kehle war aufgerissen und zerschunden. »Iß«, sagte Akela und erhob sich von dem Fleisch, das Mowgli ihm gebracht hatte; der Auslieger warf sich verhungert darauf. »Das soll kein Verlust sein«, sagte er demütig, als er seinen schlimmsten Hunger gestillt hatte. »Gib mir ein wenig Kraft, Freies Volk, und auch ich werde töten! Mein Lager ist leer, das voll war, als dieser Mond neu war, und die Blutschuld ist nicht ganz gezahlt.« Phao hörte seine Zähne auf einem Hüftknochen krachen und grunzte beifällig. »Wir werden solche Kiefer brauchen«, sagte er. »Waren die Welpen mit den Dholen?«
»Nein, nein. Rote Jäger alle ausgewachsene Hunde ihres Rudels, schwer und stark.« Das bedeutete, daß die Dhole, der Rote Jagdhund des Dekkan, auf Kampf aus war, und die Wölfe wußten wohl, daß selbst der Tiger seine frische Beute den Dholen zu überlassen bereit ist. Sie treiben quer durch den Dschungel, und was ihnen begegnet, reißen sie nieder und in Stücke. Obwohl sie nicht so groß und nicht einmal halb so listig wie der Wolf sind, sind sie sehr stark und sehr zahlreich. So beginnen die Dhole sich zum Beispiel nicht eher ein Rudel zu nennen, als sie nicht hundert zählen, während vierzig Wölfe schon ein sehr ansehnliches Rudel sind. Mowglis Wanderungen hatten ihn bis an den Rand der hohen grasigen Ebenen des Dekkan geführt, und er hatte die furchtlosen Dhole oftmals schlafen und spielen und sich kratzen gesehen zwischen den flachen Mulden und den Grasbüscheln, die sie als Lager benutzen. Er verachtete und haßte sie, weil sie nicht rochen wie das Freie Volk, weil sie nicht in Höhlen lebten, vor allem aber, weil sie Haare zwischen den Zehen hatten, während er und seine Freunde reinfüßig waren. Aber er wußte, weil Hathi es ihm erzählt hatte, welch schreckliche Sache ein Jagdrudel der Dhole war. Hathi selbst weicht ihren Reihen aus, und bevor sie nicht alle getötet wurden oder Beutetiere rar geworden sind, rücken sie vor und töten dabei. Auch Akela wußte einiges von den Dholen; er sagte ruhig zu Mowgli: »Es ist besser, im Vollen Rudel zu sterben als führerlos und allein. Es ist gute Jagd und – meine letzte. Doch so, wie Menschen leben, hast Du noch viele Nächte und Tage, Kleiner Bruder. Ziehe nordwärts und lagere, und wenn noch ein Wolf lebt, nachdem die Dhole vorüber sind, wird er Dir Nachricht von dem Kampf bringen.« »Ah«, sagte Mowgli sehr ernst, »muß ich in die Sümpfe gehen und kleine Fische fangen und in einem Baum schlafen,
oder muß ich die bandar-log um Hilfe bitten und Nüsse essen, während das Rudel unten kämpft?« »Es geht um Tod«, sagte Akela. »Du bist niemals den Dholen begegnet, den Roten Tötern. Selbst der Gestreifte – « »Aowa! Aowa!« sagte Mowgli spöttisch. »Ich habe einen gestreiften Affen getötet. Nun höre: da war ein Wolf, mein Vater, und da war eine Wölfin, meine Mutter, und da war ein alter grauer Wolf (nicht zu weise: jetzt ist er weiß), der war mein Vater und meine Mutter. Daher sage ich – «, er erhob seine Stimme, »ich sage, daß wenn die Dhole kommen und falls die Dhole kommen, Mowgli und das Freie Volk bei dieser Jagd von einer Haut sind; und ich sage bei dem Bullen, der mich einkaufte, bei dem Bullen, den Bagiera für mich in den alten Tagen zahlte, an die Ihr vom Rudel Euch nicht mehr erinnert, ich sage, daß die Bäume und der Fluß hören und sich erinnern mögen, falls ich vergesse; ich sage, daß dieses mein Messer sein soll wie ein Zahn des Rudels – und ich glaube nicht, daß es so stumpf ist. Dies ist mein Wort, das von mir gegangen ist.« »Du kennst die Dhole nicht, Mann mit der Wolfszunge«, rief Won-tolla. »Ich will nur noch meine Blutschuld gegen sie klären, ehe sie mich in vielen Stücken haben. Sie bewegen sich langsam und töten im Vorrücken, aber binnen zwei Tagen wird wieder etwas Kraft zu mir zurückkommen und dann wende ich mich erneut meiner Blutschuld zu. Für Euch aber, Freies Volk, lautet mein Rat, daß Ihr nach Norden geht und für eine Weile nur wenig eßt, bis die Dhole gegangen sind. Da ist kein Schlafen bei dieser Jagd.« »Hört den Auslieger!« sagte Mowgli lachend. »Freies Volk, wir sollen nach Norden gehen und Eidechsen und Ratten vom Ufer fressen, damit wir nicht zufällig auf die Dhole stoßen. Sie dürfen unsere Jagdgründe ausmorden, während wir uns im Norden verbergen, bis es ihnen gefällt, uns unser Eigen
zurückzugeben. Er ist ein Hund – und die Welpe eines Hundes – rot, gelbbäuchig, lagerlos, mit Haaren zwischen jedem Zeh! Er zählt seine Welpen sechs und acht pro Wurf, als ob er Chikai wäre, die kleine springende Ratte. Sicher müssen wir fortrennen, Freies Volk, und von den Völkern im Norden den Abfall von totem Vieh erbetteln! Ihr kennt das Sprichwort: ›Im Norden Geziefer, im Süden Läuse!‹ Wir sind der Dschungel. Wählet Ihr, o wählet. Es ist gutes Jagen! Für das Rudel – für das Volle Rudel – für Lager und Wurf; für das Töten im Rudel und das Töten ohne Rudel; für die Gefährtin, die die Hindin treibt, und für die kleine, kleine Welpe in der Höhle, es steht fest – es steht fest – es steht fest!« Das Rudel antwortete mit einem tiefen krachenden Gebell, das in der Nacht klang wie ein stürzender Baum, »Es steht fest«, schrien sie. »Bleibt hier«, sagte Mowgli zu seinen Vieren. »Wir werden jeden Zahn brauchen. Phao und Akela müssen die Schlacht vorbereiten. Ich gehe und zähle die Hunde.« »Das ist der Tod!« schrie Won-tolla und richtete sich halb auf. »Was kann so ein Haarloser gegen den Roten Hund ausrichten? Selbst der Gestreifte, erinnert Euch – « »Du bist wirklich ein Auslieger«, schrie Mowgli zurück, »aber drüber wollen wir sprechen, wenn die Dhole tot sind. Allen gutes Jagen!« Er eilte fort in die Dunkelheit, wild vor Erregung, und sah kaum, wohin er trat, mit der natürlichen Folge, daß er in voller Länge über Kaas große Schleifen stürzte, wo der Python nahe dem Fluß lag und einen Hochwildpfad beobachtete. »Kssha!« sagte Kaa ärgerlich. »Ist das Dschungelart, rumzustampfen und reinzutrampeln und die Nachtjagd zu stören – vor allem, wenn das Wild so fein zieht?« »Mein ist der Fehler«, sagte Mowgli und raffte sich auf. »Tatsächlich habe ich Dich gesucht, Flachkopf, aber jedes
Mal, wenn wir uns begegnen, bist Du länger und breiter um die Länge meines Armes. Keiner ist Dir gleich im Dschungel, weiser, alter, starker und überaus wunderbarer Kaa.« »Also, wohin soll denn diese Fährte führen?« Kaas Stimme wurde sanfter. »Kaum einen Monat her, seit ein Mannling mit einem Messer Steine nach meinem Kopf warf und mich böse kleine Baumkatzennamen gerufen hat, weil ich schlafend im Offenen lag.« »Jaha, und weil Du alles getriebene Wild in alle Winde zerstreutest, und Mowgli jagte, und dieser nämliche Flachkopf zu taub war, ihn pfeifen zu hören und die Wildpfade freizugeben«, antwortete Mowgli gelassen und setzte sich zwischen die bunten Schlingen. »Nun kommt dieser selbe Mannling mit sanften Kitzelworten zu diesem selben Flachkopf und erzählt ihm, daß er weise sei und stark und wunderbar, und dieser selbe alte Flachkopf glaubt ihm und bereitet für diesen selben steinewerfenden Mannling einen Platz, so, und… Sitzest Du jetzt bequem? Könnte Bagiera Dir einen so guten Rastplatz bereiten?« Kaa hatte sich wie üblich unter Mowglis Gewicht zu einer Art halber Hängematte geschlungen. Der Junge reichte in die Dunkelheit hinaus und zog den geschmeidigen trossenartigen Hals zu sich, bis Kaas Kopf auf seiner Schulter ruhte, und dann erzählte er ihm alles, was sich in dieser Nacht im Dschungel zugetragen hatte. »Weise mag ich sein«, sagte Kaa schließlich, »aber taub bin ich sicherlich. Sonst würde ich den Pheeal gehört haben. Kein Wunder, daß die Grasesser unruhig sind. Wie viele Dhole sind es?« »Ich habe sie noch nicht gesehen. Ich kam stehenden Fußes zu Dir. Du bist älter als Hathi. Aber, o Kaa«, – und hier wand Mowgli sich vor Wonne, »das wird ein gutes Jagen! Von uns werden nur wenige den neuen Mond sehen.«
»Kämpfst Du da mit? Bedenke, Du bist ein Mensch; und erinnere Dich, daß das Rudel Dich ausgestoßen hat. Laß den Wolf sich um den Hund kümmern. Du bist ein Mensch.« »Des letzten Jahres Nüsse sind dieses Jahres Humus«, sagte Mowgli. »Es ist wahr, daß ich ein Mensch bin, aber es ist in meinem Magen, daß ich in dieser Nacht gesagt habe, ich bin ein Wolf. Ich rief die Bäume und den Fluß an, sich daran zu erinnern. Ich bin vom Freien Volk, Kaa, bis der Dhole gegangen ist.« »Freies Volk«, grunzte Kaa. »Freie Diebe! Und Du hast Dich um der Erinnerung an tote Wölfe willen in den Knoten des Todes gebunden! Das ist kein gutes Jagen!« »Es ist mein Wort, das ich gesprochen habe. Die Bäume wissen es, der Fluß weiß es. Bis die Dhole gegangen sind, wird mein Wort nicht zu mir zurückkehren.« »Ngssh! Das ändert alle Fährten. Ich hatte daran gedacht, Dich mit mir in die nördlichen Sümpfe zu nehmen, aber Das Wort – selbst Das Wort eines kleinen nackten haarlosen Mannlings – ist Das Wort. Nun sage ich, Kaa, – « »Denk nach, Flachkopf, ehe auch Du Dich in den Knoten des Todes bindest. Ich brauche Das Wort von Dir nicht, denn ich weiß gut – « »So sei es also«, sagte Kaa. »Ich werde Das Wort nicht geben; aber was ist in Deinem Magen, das du tun könntest, wenn die Dhole kommen?« »Sie müssen über die Waingunga schwimmen. Ich will ihnen mit meinem Messer im Seichten entgegentreten, das Rudel hinter mir; und vielleicht könnten wir sie mit Hauen und Stechen flußabwärts lenken oder ihre Kehlen ein bißchen kühlen.« »Die Dhole kehren nicht um, und ihre Kehlen sind heiß«, sagte Kaa. »Es wird weder Mannling noch Wölfling geben, wenn dieses Jagen vorbei ist, nur trockene Knochen.«
»Alala! Wenn wir sterben, sterben wir. Es wird hervorragendes Jagen sein. Aber mein Magen ist jung, und ich habe nicht viele Regen gesehen. Ich bin weder weise noch stark. Hast Du einen besseren Plan, Kaa?« »Ich habe hunderte und hunderte Regen gesehen. Ehe noch Hathi seine Milchzähne abwarf, war meine Spur groß im Staub. Beim Ersten Ei, ich bin älter als mancher Baum, und ich habe alles gesehen, was der Dschungel getan hat.« »Aber dies ist ein neues Jagen«, sagte Mowgli. »Nie zuvor hat der Dhole unsere Fährte gekreuzt.« »Was ist war. Was sein wird, ist nicht mehr als ein vergessenes Jahr, das rückwärts ausschlägt. Schweig, während ich meine Jahre zähle.« Eine lange Stunde über lag Mowgli rücklings in den Schlingen und spielte mit seinem Messer, während Kaa, den Kopf bewegungslos auf der Erde, an all das dachte, was er gesehen und erfahren hatte seit dem Tag, da er aus dem Ei kam. Das Licht schien aus seinen Augen zu schwinden und ließ sie zurück wie tote Opale, und ab und an machte er mit dem Kopf kleine steife Ausfälle nach rechts und links, als ob er im Schlafe jage. Mowgli döste ruhig, denn er wußte, daß nichts besser ist als Schlaf vor der Jagd, und er war darin geübt, ihn sich zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht zu nehmen. Dann fühlte er Kaa unter sich größer und breiter werden, als der große Python sich mit dem zischenden Geräusch eines Schwertes, das aus einer Stahlscheide gezogen wird, aufblähte. »Ich habe all die toten Jahre gesehen«, sagte Kaa schließlich, »und die großen Bäume und die alten Elefanten und die Felsen, die nackt waren und spitz, ehe das Moos wuchs. Bist Du noch lebendig, Mannling?« »Es ist erst kurz nach Mondaufgang«, sagte Mowgli. »Ich verstehe nicht – «
»Hssh! Ich bin wieder Kaa. Ich wußte, es war nur eine kleine Weile. Jetzt werden wir zum Fluß gehen, und ich werde Dir zeigen, was gegen die Dhole zu tun ist.« Er wandte sich gerade wie ein Pfeil der Hauptrinne der Waingunga zu und tauchte ein wenig oberhalb des Teichs, der den Friedensfelsen barg, hinein, Mowgli zur Seite. »Nicht, schwimm nicht. Ich bin schnell. Auf meinen Rücken, Kleiner Bruder.« Mowgli schlang seinen linken Arm um Kaas Nacken, ließ den rechten eng an seinen Körper fallen und streckte die Füße. Dann ging Kaa wider die Strömung, wie nur er allein das konnte, und die Krause des gestauten Wassers hob sich wie ein Rüschenkragen um Mowglis Hals, und seine Füße wurden im Strudel aus den peitschenden Flanken des Python hin und her geschleudert. Etwa eine Meile oberhalb des Friedensfelsens verengt sich die Waingunga in einem Schlund aus Marmorfelsen, achtzig bis hundert Fuß hoch, und die Strömung fließt wie ein Mühlgerinne zwischen und über alle Arten häßlicher Steine. Aber Mowgli zerbrach sich wegen des Wassers nicht den Kopf: kein Wasser auf Erden hätte ihm auch nur für einen Augenblick Furcht einjagen können. Er betrachtete die Schlucht auf beiden Seiten und schnüffelte unbehaglich, denn da war ein süßsaurer Geruch in der Luft, dem Geruch eines großen Ameisenhügels an einem heißen Tage ähnlich. Instinktiv glitt er tiefer ins Wasser und hob nur den Kopf zum Atmen, und Kaa legte sich mit einer doppelten Schleife seines Schwanzes um einen versunkenen Felsen vor Anker und hielt Mowgli in der Beuge einer Schlinge, während das Wasser vorüberschoß. »Dies ist der Platz des Todes«, sagte der Junge. »Warum sind wir hergekommen?« »Sie schlafen«, sagte Kaa. »Hathi wird vor dem Gestreiften nicht beiseite weichen. Aber Hathi und der Gestreifte weichen
beiseite vor den Dholen, und die Dhole, sagt man, weichen vor nichts beiseite. Vor wem aber weichen die Kleinen Leute aus den Felsen beiseite? Sag mir, Herr des Dschungels, wer ist der Herr des Dschungels?« »Diese da«, flüsterte Mowgli. »Dies ist der Platz des Todes. Laß uns gehen.« »Nicht doch, sieh Dich gut um, denn sie schlafen. Es ist, wie es war, als ich noch nicht die Länge Deines Armes hatte.« Die geborstenen und verwitterten Felsen der WaingungaSchlucht wurden seit Anbeginn des Dschungels vom Kleinen Volk der Felsen benutzt – den geschäftigen, zornigen, schwarzen, wilden Bienen Indiens; und alle Fährten bogen, wie Mowgli gut wußte, eine halbe Meile vor ihrem Gebiet ab. Durch die Jahrhunderte hausten die Kleinen Leute hier und schwärmten von Klippe zu Klippe, und schwärmten wieder, und beschmutzten den weißen Marmor mit schal gewordenem Honig, und bauten ihre Waben groß und tief und schwarz in der Dunkelheit der inneren Höhlen, und weder Mensch noch Tier noch Feuer noch Wasser hatten sie je angerührt. Die Schlucht war in ganzer Länge auf beiden Seiten behangen wie mit schwarz schimmernden Samtvorhängen, und Mowgli ließ sich schauend tiefer sinken, denn das waren die verklumpten Millionen schlafender Bienen. Andere Beulen und Girlanden und Dinge wie verrottete Baumstümpfe sprenkelten die Fläche der Felsen – alte Waben der vergangenen Jahre oder neue Städte, gebaut im Schatten der windlosen Schlucht – und gewaltige Massen schwammigen verrotteten Abfalls waren hinabgerollt und staken zwischen den Bäumen und Schlinggewächsen, die sich an die Felswand anklammerten. Während er lauschte, hörte er mehr als einmal das Rascheln und Schlittern einer honigbeladenen Wabe, die irgendwo in den dunklen Gängen umfiel oder abstürzte; dann das Brummen zorniger Flügel und das matte Tropf, Tropf, Tropf des
vergeudeten Honigs, der fortrann, bis er über einen Sims ins Offene leckte und zäh auf die Zweige herabtropfte. Es gab einen winzigen Uferstreifen, keine fünf Fuß breit, an der einen Seite des Flusses, und dort türmte sich der Abfall ungezählter Jahre hoch. Da lagen tote Bienen, Drohnen, Kehricht, abgenutzte Waben und Flügel marodierender Motten und Käfer, die sich auf der Suche nach Honig hier herein verirrt hatten, alles zu glatten Haufen feinsten schwarzen Staubes zerfallen. Allein der scharfe Geruch reichte aus, um alles abzuschrecken, das keine Flügel hatte und wußte, wie die Kleinen Leute waren. Kaa bewegte sich wieder stromauf, bis er am Kopf der Schlucht zu einer Sandbank kam. »Hier liegen die Opfer dieser Saison«, sagte er. »Sieh!« Auf dem Ufer lagen die Skelette von ein paar jungen Hirschen und einem Büffel. Mowgli konnte sehen, daß weder Wolf noch Schakal die Knochen angerührt hatte, die in natürlicher Ordnung lagen. »Sie kamen über die Grenze, sie wußten nicht«, murmelte Mowgli, »und die Kleinen Leute töteten sie. Laß uns gehen, ehe sie erwachen.« »Sie erwachen nicht vor der Dämmerung«, sagte Kaa. »Nun will ich Dir erzählen. Vor vielen vielen Regen kam ein gehetzter Bock aus dem Süden, der den Dschungel nicht kannte, ein Rudel auf seiner Spur. Blind vor Furcht sprang er herunter, das Rudel ihm nach auf Sicht, gierig und blind auf der Fährte. Die Kleinen Leute waren viele und sehr zornig. Viele waren es auch vom Rudel, die in die Waingunga sprangen, aber sie waren tot, ehe sie aufs Wasser aufschlugen. Die nicht sprangen starben auch, oben in den Felsen. Aber der Bock überlebte.« »Wie?«
»Weil er als erster kam, um sein Leben rannte, sprang, ehe die Kleinen Leute ihn bemerkten, und im Fluß war, als sie sich zum Töten sammelten. Das Rudel, das folgte, verschwand unter dem Gewicht der Kleinen Leute, die von den Hufen jenes Bocks aufgescheucht worden waren.« »Der Bock hat überlebt?« wiederholte Mowgli langsam. »Wenigstens starb er nicht damals, obwohl niemand auf seinen Sprung in die Tiefe wartete, um ihn mit einem starken Körper vor dem Wasser zu schützen, wie ein gewisser alter fetter tauber gelber Flachkopf auf einen Mannling warten würde – jaha, und wenn auch alle Dhole aus dem Dekkan auf seiner Fährte wären. Was ist in Deinem Magen?« Kaas Kopf lag auf Mowglis nasser Schulter, und seine Zunge zitterte im Ohr des Jungen. Da war ein langes Schweigen, ehe Mowgli flüsterte: »Darinnen ist, den Tod selbst am Bart zu zausen, aber – Kaa, Du bist wahrlich der Weiseste im ganzen Dschungel.« »So sagten viele. Nun schau, wenn die Dhole Dir folgen – « »Was sie sicherlich tun werden. Ho! Ich habe viele kleine Dornen unter der Zunge, ihnen in Fell zu pieken!« »Wenn sie Dir gierig und blind folgen und nur auf Deine Schultern starren, werden die, die nicht oben sterben, entweder hier oder weiter unten ins Wasser gehen, denn die Kleinen Leute werden sich erheben und sie bedecken. Nun ist die Waingunga ein hungriges Wasser, und für sie wird kein Kaa da sein, sie zu halten, und die von ihnen, die leben, werden hinab treiben zu den seichten Stellen bei den Lagern der Seoni, und dort mag Dein Rudel sie bei den Gurgeln packen.« »Ahai! Eowawa! Besseres könnte nicht sein, bis der Regen in der Trockenzeit fällt. Da bleibt nun nur die kleine Sache mit dem Rennen und dem Springen. Ich werde mich den Dhole bekannt machen, damit sie mir dichtauf folgen.« »Hast Du die Felsen über Dir gesehen? Auf der Landseite?«
»Nein, nicht. Das habe ich vergessen.« »Geh und sieh. Es ist alles morscher Boden, zerrissen und voller Löcher. Einen Deiner ungeschickten Füße niederzusetzen ohne zu sehen würde die Jagd beenden. Schau, ich verlasse Dich hier, und nur um Deinetwillen werde ich Wort zum Rudel tragen, damit sie wissen, wo sie auf die Dhole warten sollen. Was mich angeht, so bin ich nicht einer Haut mit irgendeinem Wolf.« Wenn Kaa einen Bekannten nicht mochte, konnte er unangenehmer sein als irgendein anderer vom Dschungelvolk, mit Ausnahme vielleicht Bagieras. Er schwamm stromab und stieß gegenüber vom Felsen auf Phao und Akela, die auf die Nachtgeräusche lauschten. »Hssh! Hunde«, sagte er fröhlich. »Die Dhole werden den Fluß herabkommen. Wenn Ihr nicht zu feige seid, könnt Ihr sie im Seichten töten.« »Wann kommen sie?« sagte Phao. »Und wo ist mein Menschenjunges?« sagte Akela. »Sie kommen, wenn sie kommen«, sagte Kaa. »Wartet und seht. Und was Dein Menschenjunges angeht, von dem Du Das Wort genommen und ihn so dem Tode geöffnet hast, Dein Menschenjunges ist bei mir, und wenn es nicht schon tot ist, so ist das nicht Deine Schuld, gebleichter Hund! Warte hier auf die Dhole und sei froh, daß das Menschenjunge und ich auf Deiner Seite kämpfen.« Kaa schoß wieder stromauf und vertäute sich in der Mitte der Schlucht und blickte hinauf zur Kante der Klippen. Bald sah er Mowglis Kopf sich vor den Sternen bewegen: dann war da ein Sausen in der Luft, das scharfe klare Schluup eines Körpers, der mit den Füßen voran fällt; in der nächsten Minute ruhte der Junge wieder in der Schlinge von Kaas Körper. »Kein Sprung bei Nacht«, sagte Mowgli ruhig. »Ich bin zum Spaß schon doppelt so weit gesprungen; aber das ist ein böser
Platz da oben – niedere Büsche und tiefe Spalten – alles voller Kleiner Leute. Ich habe neben drei Spalten große Steine übereinandergetürmt. Die werde ich im Vorbeirennen mit den Füßen hinabstoßen, und die Kleinen Leute werden zornig hinter mir aufsteigen.« »Das ist Menschenlist«, sagte Kaa. »Du bist klug, aber die Kleinen Leute sind immer zornig.« »Nein, im Dämmer ruhen alle Flügel weit und breit für eine Weile. Ich werde mit den Dholen im Zwielicht spielen, denn der Dhole jagt am Besten bei Tag. Jetzt folgt er Won-tollas Blutspur.« »Chil verläßt niemals einen toten Ochsen, noch der Dhole eine Blutspur«, sagte Kaa. »Dann werde ich ihm eine neue Blutspur machen – von seinem eigenen Blut, wenn ich kann, und werde ihm Dreck zu fressen geben. Wirst Du hier warten, Kaa, bis ich mit meinen Dholen komme?« »Ja, aber was, wenn sie Dich im Dschungel töten oder wenn die Kleinen Leute Dich töten, ehe Du herab in den Fluß springen kannst?« »Wenn morgen kommt, werden wir morgen töten«, sagte Mowgli und zitierte ein Dschungelsprichwort; und dann: »Wenn ich tot bin, ist es Zeit das Lied des Todes zu singen. Gut Jagen, Kaa.« Er löste den Arm vom Nacken des Python und schwamm die Schlucht hinab wie ein Baumstamm in einer Überschwemmung, paddelte hinüber zum gegenseitigen Ufer, wo er Stillwasser fand, und lachte laut vor reiner Fröhlichkeit. Es gab nichts, was Mowgli mehr liebte, als – wie er selbst sagte – »den Tod am Bart zu zausen« und den Dschungel fühlen zu machen, daß er der Herr sei. Mit Balus Hilfe hatte er oftmals Bienennester in einzelstehenden Bäumen ausgeraubt, und er wußte, daß den Kleinen Leuten der Geruch von
Knoblauch zuwider war. So sammelte er ein kleines Bündel davon, schnürte es mit einem Baststreifen zusammen, und folgte dann etwa fünf Meilen Won-tollas Blutspur, die von den Lagerstätten nach Süden lief, besah sich die Bäume mit schief gelegtem Kopf und kicherte, während er schaute. »Mowgli der Frosch war ich«, sagte er sich, »Mowgli der Wolf bin ich, habe ich gesagt. Nun werde ich Mowgli der Affe sein, ehe ich Mowgli der Hirsch sein werde. Und schließlich werde ich Mowgli der Mann sein. Ho!« Und er ließ seinen Daumen über die achtzehn Zoll lange Klinge seines Messers gleiten. Won-tollas Spur, voller dunkler Blutflecken, lief durch einen Wald dicker Bäume, die eng zusammen wuchsen und sich nach Nordost erstreckten, wo er nach und nach lichter und lichter wurde und knapp zwei Meilen vor den Bienenfelsen auslief. Zwischen dem letzten Baum und den niedrigen Büschen bei den Bienenfelsen war offenes Land, wo es kaum genug Deckung gab, einen Wolf zu bergen. Mowgli trabte unter den Bäumen dahin, schätzte die Entfernungen von Ast zu Ast, erklomm gelegentlich einen Stamm und unternahm einen Probesprung von einem Baum zum anderen, bis er schließlich zu dem offenen Land kam, das er sehr sorgfältig während einer Stunde untersuchte. Dann wandte er sich um, nahm Won-tollas Fährte da wieder auf, wo er sie verlassen hatte, machte es sich in einem Baum mit einem ausladenden Ast etwa acht Fuß über dem Boden bequem, hängte sein Bündel Knoblauch in eine sichere Baumgabel und saß still, wobei er sein Messer an der Fußsohle wetzte. Kurz vor Mittag, als die Sonne sehr warm war, hörte er das Trappeln von Füßen und roch den widerlichen Gestank des Dhole-Rudels, das stetig und erbarmungslos auf Won-tollas Fährte dahintrabte. Von oben betrachtet sieht der rote Dhole nicht halb so groß wie ein Wolf aus, aber Mowgli wußte, wie
stark seine Füße und Kiefer sind. Er beobachtete die spitze rostbraune Schnauze des Leittieres, das sich die Fährte entlang schnoberte, und wünschte ihm »Gut Jagen!« Die Bestie blickte auf, und ihre Gefährten hielten hinter ihr, Dutzende und Dutzende roter Hunde mit tiefhängenden Schwänzen, schweren Schultern, schmalen Hintern und blutigen Schnauzen. Die Dhole sind im allgemeinen ein sehr schweigsames Volk und haben selbst in ihrem eigenen Dekkan keine Manieren. Volle zweihundert mußten sich unter ihm versammelt haben, aber er konnte sehen, daß die Führer hungrig an Won-tollas Fährte schnupperten und versuchten, das Rudel voranzuziehen. Das durfte nicht geschehen, oder sie kamen bei hellem Tageslicht ans Lager, und Mowgli wollte sie unter seinem Baum festhalten bis zum Dämmerlicht. »Mit wessen Erlaubnis seid Ihr hier?« sagte Mowgli. »Jeder Dschungel ist unser Dschungel«, war die Antwort, und der Dhole, der sie gab, bleckte seine weißen Zähne. Mowgli blickte lächelnd hinab und ahmte vollkommen das scharfe Tschitter-Tschatter von Chikai nach, der Springratte des Dekkan, womit er den Dholen zu verstehen geben wollte, daß er sie für nicht besser als Chikai ansah. Das Rudel schloß sich enger um den Baum und die Führer bellten wild und nannten Mowgli einen Baumaffen. Als Antwort streckte Mowgli ein nacktes Bein hinab und wackelte mit seinen nackten Zehen gerade über dem Kopf des Leithundes. Das war ausreichend, und mehr als ausreichend, um das Rudel in besinnungslose Wut zu versetzen. Die da Haare zwischen den Zehen haben, legen keinen Wert darauf, daran erinnert zu werden. Mowgli zog den Fuß zurück, als der Führer hochsprang, und sagte sanft: »Hund, roter Hund! Geh zurück in den Dekkan und friß Eidechsen. Geh zu Chikai, Deinem Bruder, Hund, Hund, roter, roter Hund! Zwischen allen Zehen
hast Du Haare!« Er wackelte zum zweiten Mal mit seinen Zehen. »Komm runter, bevor wir Dich aushungern, haarloser Affe«, schrie das Rudel, und genau das war es, was Mowgli wollte. Er streckte sich auf dem Ast aus, die Wange an der Borke, der rechte Arm hing frei, und während einiger fünf Minuten erzählte er dem Pack, was er über sie wußte und dachte, über ihre Manieren, ihre Sitten, ihre Gefährtinnen und ihre Welpen. Keine Rede auf Erden ist so giftig und stechend wie die Sprache, die das Dschungelvolk verwendet, um Geringschätzung und Verachtung zu zeigen. Wenn man darüber nachdenkt, begreift man, warum das so sein muß. Wie Mowgli Kaa erzählt hatte, besaß er manche kleinen Dornen unter der Zunge, und langsam und genüßlich hetzte er die Dhole vom Schweigen ins Knurren, vom Knurren ins Gellen, und vom Gellen ins heisere geifernde Rasen. Sie versuchten, seine Schmähungen zu erwidern, aber ebensogut hätte eine Welpe versuchen können, dem zornigen Kaa zu antworten, und während dieser Zeit lag Mowglis rechte Hand gekrümmt an seiner Seite, bereit zum Einsatz, und seine Füße umklammerten den Ast. Das große rostrote Leittier war viele Male in die Luft gesprungen, aber Mowgli wagte nicht, einen unsicheren Hieb zu riskieren. Schließlich schleuderte sich der Führer, über seine natürliche Kraft hinaus rasend gemacht, glatte sieben oder acht Fuß vom Boden hoch. Da schoß Mowglis Hand wie der Kopf einer Baumschlange hervor und ergriff ihn beim Genick, und der Ast erbebte knarzend, als das Gewicht zurückstürzte, und Mowgli ward fast auf den Boden gezerrt. Aber er löste seinen Griff nicht, und Zoll um Zoll zog er die Bestie, die wie ein ertränkter Schakal baumelte, auf den Ast. Mit der Linken ergriff er sein Messer und schnitt den roten buschigen Schwanz ab und schleuderte den Dhole wieder zur Erde. Das war alles, was er brauchte. Nun würde der Dhole
auf Won-tollas Fährte so lange nicht weiter ziehen, ehe er nicht Mowgli getötet hätte, oder Mowgli ihn. Er sah sie sich in Kreisen niederhocken mit einem Zittern in den Keulen, das Rache bis auf den Tod bedeutet, und so klomm er zu einer höheren Gabel hinauf, setzte sich bequem zurecht und schlief. Nach drei oder vier Stunden wachte er auf und zählte das Rudel. Alle waren da, schweigend, stämmig, nüchtern, mit Augen aus Stahl. Die Sonne begann zu sinken. In einer halben Stunde würden die Kleinen Leute der Felsen ihre Arbeiten beenden, und der Dhole kämpft, wie man weiß, nicht gut im Zwielicht. »So getreue Leibwächter brauchte ich doch gar nicht«, sagte er und richtete sich auf einem Ast auf, »aber ich will mich dessen erinnern. Ihr seid wahre Dhole, aber für meinen Geschmack zu viele von einer Sorte. Deshalb gebe ich dem großen Eidechsenfresser seinen Schwanz nicht zurück. Freust Du Dich nicht darüber, Roter Hund?« »Ich selbst werde Dir den Magen herausreißen«, schrie der Führer und biß in den Fuß des Baumes. »Jaha, also überleg doch, kluge Dekkan-Ratte. Nun wird es viele Würfe kleiner schwanzloser roter Hunde geben, haja, mit rohen roten Stümpfen, die stechen, wenn der Sand heiß ist. Geh heim, Roter Hund, und verkünde, daß ein Affe das getan hat. Du willst nicht gehen? Dann komm mit mir, und ich will Dich sehr weise machen.« Er bewegte sich nach Art der Affen in den nächsten Baum, und so weiter in den nächsten und den nächsten, und das Rudel folgte mit gierig erhobenen Köpfen. Ab und an tat er so, als stürze er, und das Rudel stolperte in seiner Hast, beim Töten dabei zu sein, übereinander. Es war ein eigentümlicher Anblick – der Junge mit dem Messer, das im Licht der tiefstehenden Sonne leuchtete, welches durch die oberen Zweige sickerte, und das schweigende Rudel mit den flammendroten Röcken,
das sich unten zusammendrängte und nachfolgte. Als er zum letzten Baum kam, nahm er den Knoblauch und rieb sich sorgfältig überall ein, und die Dhole jaulten verächtlich. »Affe mit Wolfszunge, bildest Du Dir ein, Du könntest Deinen Geruch verdecken?« sagten sie. »Wir folgen bis zum Tod.« »Nimm Deinen Schwanz«, sagte Mowgli und schleuderte ihn in die Richtung zurück, aus der er kam. Natürlich stürmte das Rudel ein bißchen zurück, als es das Blut witterte. »Und nun folgt – zum Tod!« Er war den Baumstamm hinab geglitten und lief wie der barfüßige Wind auf die Bienenfelsen zu, ehe die Dhole sahen, was er tun wollte. Sie ließen ein tiefes Geheul los und fielen in den langen wiegenden leichten Galopp, der am Ende alles was lebt zur Strecke bringen kann. Mowgli wußte, daß ihr Rudeltempo viel langsamer war als das der Wölfe, sonst hätte er niemals ein Rennen über zwei Meilen bei voller Sicht gewagt. Sie waren sicher, daß der Junge am Ende ihnen gehören würde, und er war sicher, daß er mit ihnen spielen konnte wie es ihm gefiel. Seine einzige Sorge war, sie gierig genug hinter sich zu halten, um zu verhindern, daß sie zu früh abbögen. Er lief sauber, gleichmäßig und federnd; der schwanzlose Führer keine fünf Yards hinter ihm; und das Rudel über vielleicht eine Viertelmeile Boden auseinandergezogen, besinnungslos und blind vor Mordgier. Er horchte achtsam auf den Abstand und bewahrte sich seine letzten Kräfte für den Sturmlauf über die Bienenfelsen. - Die Kleinen Leute waren im frühen Dämmerlicht zur Ruhe gegangen, denn es war nicht die Jahreszeit der Abendblüten; als aber Mowglis erste Tritte hohl auf dem hohlen Boden dröhnten, hörte er ein Geräusch, als ob die ganze Erde summe. Da rannte er, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war, trat einen zwei – drei der Steinhaufen in die dunklen,
süßriechenden Spalten hinab; hörte ein Brüllen wie das Brüllen der See in einer Höhle, sah aus den Augenwinkeln die Luft hinter sich dunkel werden, sah den Strom der Waingunga tief unter sich und einen flachen diamantförmigen Kopf im Wasser; sprang mit all seiner Kraft hinaus, der schwanzlose Dhole schnappte inmitten der Luft nach seiner Schulter, und stürzte Füße voran in die Sicherheit des Flusses, atemlos und triumphierend. Da war kein Stich an seinem Körper, denn der Geruch des Knoblauchs hatte die Kleinen Leute gerade jene wenigen Sekunden zurückgehalten, die ihn über die Felsen trugen. Als er auftauchte, stützten ihn Kaas Schlingen, und Dinge sprangen über die Kante der Klippen große Klumpen, schien es, zusammengeballter Bienen, die stürzten wie Senkblei; und wie jeder Klumpen auf dem Wasser auftraf, flogen die Bienen hoch und wirbelte der Körper eines Dhole flußab. Oben konnte man zorniges kurzes Gellen hören, das in einem Röhren wie Donner unterging – das Röhren der Flügel der Kleinen Leute aus den Felsen. Auch waren einige Dhole in die Spalten gestürzt, die mit den Untergrundhöhlen in Verbindung standen, und da würgten und kämpften und schnappten sie zwischen den umgestürzten Honigwaben, und schossen zuletzt, im Tod von den Wogen der Bienen unter ihnen emporgetragen, aus einem der Löcher an der Flußseite und roll ten über die schwarzen Abfallhaufen. Es gab Dhole, die zu kurz, in die Bäume an den Klippen, gesprungen waren, und die Bienen löschten ihre Umrisse aus; aber die Mehrzahl von ihnen warf sich, toll von Stichen, in den Fluß; und, wie Kaa gesagt hatte, die Waingunga ist hungriges Wasser. Kaa hielt Mowgli fest, bis der Junge wieder bei Atem war. »Wir sollten nicht hier bleiben«, sagte er. »Die Kleinen Leute sind wirklich aufgebracht. Komm!« Tief im Wasser, und so oft wie möglich tauchend, schwamm Mowgli den Fluß hinab, das Messer in der Hand.
»Langsam, langsam!« sagte Kaa. »Ein Zahn tötet nicht hundert, es sei denn ein Kobrazahn, und manche der Dhole sprangen schnell ins Wasser, als sie die Kleinen Leute aufsteigen sahen. Die sind unverletzt.« »Um so mehr Arbeit für mein Messer also. Phai! Wie anhänglich die Kleinen Leute sind.« Mowgli sank wieder unter. Die Wasseroberfläche war mit wilden Bienen bedeckt, die wütend summten und alles stachen, was sie fanden. »Nichts ward je durch Schweigen verloren«, sagte Kaa – kein Stich konnte seine Schuppen durchdringen –, »und Du hast die ganze Nacht fürs Jagen vor Dir. Hör sie heulen!« Fast die Hälfte des Rudels hatte die Falle gesehen, in die ihre Gefährten rasten, und hatte sich, indem sie scharf abbog, ins Wasser geworfen, wo die Schlucht in steile Ufer niederbrach. Ihr Wutgeschrei und ihre Drohungen gegen den »Baumaffen«, der sie in ihre Schmach gestürzt hatte, vermischten sich mit dem Gellen und Jaulen jener, die von den Kleinen Leuten bestraft wurden. Am Ufer bleiben war der Tod, und jeder Dhole wußte es. Das Rudel wurde die Strömung hinabgeschwemmt, hinab und hinab zu den Felsen des Friedensteichs, aber selbst dahin folgten ihm die zornigen Kleinen Leute und zwangen es wieder ins Wasser. Mowgli konnte die Stimme des schwanzlosen Führers hören, der seinen Mannen befahl, auszuhalten und jeden Wolf in Seoni zu töten. Aber er verschwendete keine Zeit damit, darauf zu achten. »Einer tötet im Dunkeln hinter uns!« schnappte ein Dhole. »Hier ist verfärbtes Wasser!« Mowgli war vorwärts getaucht wie ein Otter, zerrte einen zappelnden Dhole unter Wasser, ehe der sein Maul aufreißen konnte, und dunkle ölige Ringe stiegen im Friedensteich auf, als der Körper mit einem Plopp auftauchte und sich auf die Seite legte. Die Dhole versuchten zu wenden, aber die Strömung zwang sie vorüber, und die Kleinen Leute stürzten
sich auf ihre Köpfe und Ohren, und sie konnten in der zunehmenden Dunkelheit die Herausforderung des SeoniRudels vor sich lauter und tiefer werden hören. Wieder tauchte Mowgli, und wieder ging ein Dhole unter und kam tot wieder hoch, und wieder brach Gelärme am Ende des Rudels aus; einige heulten, daß es am Besten wäre, an Land zu steigen, andere schrien nach ihrem Führer, er solle sie in den Dekkan zurückführen, und wieder andere forderten Mowgli auf, sich zu zeigen und sich töten zu lassen. »Sie kommen zum Kampf mit zwei Mägen und vielen Stimmen«, sagte Kaa. »Die übrigen sind bei Deinen Brüdern weiter unten. Die Kleinen Leute gehen zurück zum Schlafen, und ich werde auch umkehren. Ich helfe nicht Wölfen.« Ein Wolf kam auf drei Beinen am Ufer entlang gerannt, hüpfte auf und nieder, preßte den Kopf seitlich an den Boden, krümmte seinen Rücken und schnellte einige Fuß hoch in die Luft, als spiele er mit seinen Welpen. Es war Won-tolla, der Auslieger, und er sagte kein Wort, sondern setzte sein schreckliches Spiel neben den Dholen fort. Sie waren nun seit langem im Wasser und schwammen mühsam, die Felle durchtränkt und schwer, und ihre buschigen Schwänze schleppten sie wie Schwämme hinter sich her, und sie waren so ermattet und erschüttert, daß auch sie schwiegen, während sie das Paar lodernder Augen beobachteten, das sich neben ihnen bewegte. »Das ist kein gutes Jagen«, sagte schließlich einer. »Gutes Jagen!« sagte Mowgli, als er kühn an der Seite der Bestie auftauchte und das lange Messer hinter ihrer Schulter hineintrieb und hart zustieß, um dem Zuschnappen der Sterbenden zu entgehen. »Bist Du da, Mannling?« fragte Won-tolla vom Ufer her. »Frag das die Toten, Auslieger«, erwiderte Mowgli. »Sind denn keine stromab gekommen? Ich habe die Mäuler dieser
Hunde mit Dreck gefüllt; ich habe sie im hellen Tageslicht gefoppt, und ihrem Führer fehlt sein Schwanz, aber hier sind immer noch welche für Dich. Wohin soll ich sie Dir treiben?« »Ich werde warten«, sagte Won-tolla. »Lang ist die Nacht vor mir, und ich werde gut sehen.« Näher und näher kam das Gebell der Seoni-Wölfe. »Für das Rudel, für das volle Rudel stehet fest!« Und eine Biegung im Fluß trieb die Dhole vorwärts, zwischen die Sandbänke und Untiefen gegenüber dem Lager der Seoni. Dann erkannten sie ihren Fehler. Sie hätten eine halbe Meile früher an Land gehen und die Wölfe auf trockenem Grund angreifen sollen. Nun war es zu spät. Das Ufer war mit brennenden Augen gesäumt, und außer dem furchtbaren Pheeal-Schrei, der seit Sonnenuntergang nicht mehr abgebrochen war, gab es kein Geräusch im Dschungel. Es schien, als schmeichle Won-tolla ihnen, an Land zu kommen; und »Kehrt um und faßt Stand!« befahl der Führer der Dhole. Das ganze Rudel warf sich zum Ufer hin und drosch und drängte sich durch das seichte Wasser, bis das Antlitz der Waingunga ganz weiß und aufgewühlt war, und große Kräusel liefen von Ufer zu Ufer wie Bugwellen eines Bootes. Mowgli folgte dem Ansturm, zustechend und schlitzend, während die Dhole zusammengedrängt das Flußufer in einer einzigen Welle erstürmten. Dann begann der lange Kampf, und er wogte und dehnte und zerfaserte und verstreute und verengte und verbreiterte sich auf dem roten nassen Sand, über und zwischen die verzopften Baumwurzeln hinaus, und durch und unter die Büsche und hinein in die Grasbüschel und heraus, denn immer noch waren die Dhole zwei zu eins in der Überzahl. Aber sie trafen auf Wölfe, die für alles kämpften, was das Rudel ausmachte, und nicht nur auf die kurzen tiefbrüstigen weißzähnigen Jäger des Rudels, sondern auf die wildäugigen Lahinis – wie man die
Wölfinnen des Lagers nennt –, die für ihre Brut fochten, hier und da einen Jährlingswolf, den ersten Rock noch halb wollig, zur Seite, der packte und riß. Ein Wolf, muß man wissen, geht an die Gurgel oder beißt in die Flanke, während ein Dhole am liebsten tief beißt, so daß die Dhole, als sie sich aus dem Wasser herauskämpften und ihre Köpfe heben mußten, den Wölfen gegenüber im Nachteil waren; auf trockenem Land litten die Wölfe, Mowglis Messer zuckte auf und nieder, gleichgültig ob im Wasser oder an Land. Die Vier hatten sich den Weg gebahnt, um ihm zu helfen. Grauer Bruder, der zwischen den Knien des Jungen kauerte, schützte seinen Bauch, während die anderen seinen Rücken und die Seiten bewachten oder über ihm standen, wenn der Anprall eines springenden gellenden Dhole, der sich selbst in die stete Klinge schleuderte, ihn niederriß. Das übrige war ein wirres Durcheinander – eine verklammerte und schwankende Masse, die sich von rechts nach links und von links nach rechts über das Ufer bewegte und außerdem Runde für Runde langsam um ihre eigene Mitte mahlte. Hier erhob sich ein Hügel wie eine Wasserblase im Strudel und platzte wie eine Wasserblase und schleuderte vier oder fünf zerfleischte Hunde empor, die alle versuchten, sich wieder in die Mitte zu kämpfen; da wurde ein einzelner Wolf von zwei oder drei Dholen niedergerissen, die er langsam mit sich vorwärts schleppte, und dabei ging er unter; dort hielt der Druck ringsum einen Jährling aufrecht, obwohl er bereits früher im Kampf getötet worden war, während seine Mutter toll vor dumpfer Wut sich wälzte und schnappte und weitermachte; und mitten im dicksten Gewühle versuchten vielleicht ein Wolf und ein Dhole, alles andere vergessend, einander für den ersten Zubiß zurechtzumanövrieren, bis sie von einer Woge gellender Kämpfer fortgewirbelt wurden. Einmal kam Mowgli an Akela vorbei, der einen Dhole an jeder Seite und seine gar nicht
zahnlosen Kiefer um die Lenden eines dritten geschlossen hatte; und einmal sah er Phao, die Zähne in die Gurgel eines Dhole geschlagen und die unwillige Bestie vorwärts zerrend, bis die Jährlinge sie erledigen konnten. Aber der Hauptteil des Kampfes war ein blindes Stoßen und Würgen im Dunkel; Hieb und Tritt und Taumel, Gellen und Ächzen und Zerren-ZerrenZerren um ihn her und hinter ihm und über ihm. Als die Nacht verrann, nahm das schnelle schwindlige Kreisen zu. Die Dhole waren erschöpft und fürchteten sich, die stärkeren Wölfe anzugreifen, obwohl sie noch nicht fortzurennen wagten; aber Mowgli spürte, daß das Ende nahe war, und gab sich damit zufrieden, zuzustoßen, um zu lähmen. Die Jährlinge wurden kühner; es gab Zeit Luft zu holen; und jetzt genügte manchmal schon das Aufblitzen des Messers, um einen Dhole abzuschrecken. »Das Fleisch ist schon ganz nah beim Knochen«, keuchte Grauer Bruder. Er blutete aus einem Dutzend Fleischwunden. »Aber der Knochen muß noch geknackt werden«, sagte Mowgli. »Aowawa! So machen wir das im Dschungel!« Die rote Klinge fuhr wie eine Flamme über die Flanke eines Dhole, dessen Hinterteil vom Gewicht eines angeklammerten Wolfs verborgen war. »Mein Opfer!« schnaufte der Wolf durch die gerunzelte Nase. »Überlaß ihn mir!« »Ist Dein Magen noch leer, Auslieger?« fragte Mowgli. Wontolla war furchtbar zugerichtet, aber sein Zupacken hatte den Dhole gelähmt, daß der sich nicht umwenden und ihn erreichen konnte. »Beim Bullen, der mich kaufte«, schrie Mowgli mit einem bitteren Gelächter, »das ist der Schwanzlose!« Und es war in der Tat der große rostrote Führer. »Es ist nicht klug, Welpen und Lahinis zu töten«, fuhr Mowgli philosophisch fort und wischte sich das Blut aus den
Augen, »es sei denn, man tötet auch den Lagervater, und es ist in meinem Magen, daß dieser Lagervater Dich tötet.« Ein Dhole sprang seinem Führer zu Hilfe, aber ehe seine Zähne Won-tollas Flanke fanden, war Mowglis Messer in seiner Brust, und Grauer Bruder übernahm den Rest. »So also machen wir das im Dschungel«, sagte Mowgli. Won-tolla sagte kein Wort, nur seine Kiefer schlossen sich immer fester um das Rückgrat, als sein Leben verströmte. Der Dhole erbebte, sein Kopf sank herab und er lag still, und Wontolla stürzte auf ihn. »Huh! Der Blutpreis ist gezahlt«, sagte Mowgli. »Sing das Lied, Won-tolla.« »Der jagt nicht mehr«, sagte Grauer Bruder, »und auch Akela ist schon lange still.« »Der Knochen ist geknackt!« donnerte Phao, Sohn von Phaon. »Sie fliehen! Tötet, tötet, o Ihr Jäger des Freien Volkes!« Dhole um Dhole schlich sich aus jenen düsteren und blutigen Sandbänken zum Fluß, in den dichten Dschungel, stromauf oder stromab, wo immer er den Weg frei sah. »Die Schuld! Die Schuld!« schrie Mowgli. »Zahlet die Schuld! Sie haben den Einsamen Wolf getötet! Laßt keinen Hund entkommen!« Er flog zum Fluß, das Messer in der Hand, jeden Dhole aufzuhalten, der es wagen sollte, ins Wasser zu gehen, als unter einem Berg von neun Toten Akelas Kopf und Vorderteil auftauchte, und Mowgli neben dem Einsamen Wolf in die Knie fiel. »Sagte ich nicht, das werde mein letzter Kampf?« keuchte Akela. »Es ist gutes Jagen. Und Du, Kleiner Bruder?« »Ich lebe und habe viele getötet.« »Gut so. Ich sterbe, und ich möchte – ich möchte bei Dir sterben, Kleiner Bruder.«
Mowgli nahm den furchtbar zernarbten Kopf auf seine Knie und legte seine Arme um den zerfetzten Nacken. »Lang her, seit den alten Tagen von Shere Khan und einem Mannling, der nackt im Staube rollte«, keuchte Akela. »Nein, nicht doch, ich bin ein Wolf. Ich bin von einer Haut mit dem Freien Volk«, schrie Mowgli. »Es ist nicht meines Willens, daß ich ein Mensch bin.« »Du bist ein Mensch, Kleiner Bruder, Wölfling meiner Obhut. Du bist ein ganzer Mann, sonst wäre das Rudel vor den Dhole geflohen. Mein Leben danke ich Dir, und heute hast Du das Rudel gerettet, wie einst ich Dich rettete. Hast Du vergessen? Jetzt sind alle Schulden beglichen. Geh zu Deinem eigenen Volk. Noch einmal sag ich Dir, Auge meines Auges, dieses Jagen ist vorbei. Geh zu Deinem eigenen Volk.« »Ich werde niemals gehen. Ich will allein im Dschungel jagen. Ich habe gesprochen.« »Nach dem Sommer kommen die Regen, und nach den Regen kommt der Frühling. Gehe, ehe Du vertrieben wirst.« »Wer sollte mich vertreiben?« »Mowgli wird Mowgli vertreiben. Geh zurück zu Deinem Volk. Geh zu Menschen.« »Wenn Mowgli Mowgli vertreibt, werde ich gehen«, antwortete Mowgli. »Nun gibt es nichts mehr für Dich«, sagte Akela. »Jetzt will ich zu denen meiner Art sprechen. Kleiner Bruder, kannst Du mich auf die Füße stellen? Auch ich bin ein Führer des Freien Volkes.« Sehr vorsichtig und behutsam stellte Mowgli Akela auf seine Füße, beide Arme um ihn gelegt, und der Einsame Wolf holte tief Atem und begann das Lied des Todes, das der Leiter des Rudels singt, wenn er stirbt. Es wurde kräftiger, als er weitersang, und stieg an und stieg an und hallte weit über den Fluß, bis es zum letzten »Gutes Jagen!« kam und Akela sich
für einen Augenblick von Mowgli freischüttelte und in die Luft sprang und rücklings tot auf sein letztes und schrecklichstes Schlachtopfer stürzte. Mowgli saß mit dem Kopf auf den Knien, gleichgültig allem anderen gegenüber, während die letzten der sterbenden Dhole von den gnadenlosen Lahinis niedergehetzt wurden. Nach und nach erstarben die Schreie, und hinkend, weil ihre Wunden steif wurden, kamen die Wölfe zurück, um die Toten zu zählen. Fünfzehn vom Rudel und ein halbes Dutzend Lahinis lagen tot am Fluß, und von den anderen war keiner ungezeichnet. Mowgli saß bei alldem bis zum kalten Tagesanbruch, als Phaos nasse rote Schnauze in seine Hand fiel und Mowgli sich zurücklehnte, um den hageren Körper Akelas zu zeigen. »Gute Jagd!« sagte Phao, als ob Akela noch lebe, und dann über seine zerbissene Schulter zu den anderen: »Heult, Hunde! Ein Wolf starb heute nacht!« Aber von dem ganzen Rudel der zweihundert kämpfenden Dhole, der Roten Hunde aus dem Dekkan, die sich rühmen, daß nichts Lebendes im Dschungel vor ihnen Stand zu fassen wage, kehrte nicht einer in den Dekkan zurück, um die Nachricht zu überbringen.
Chil’s Song Dies ist das Lied, das Chil sang, als die Geier einer nach dem anderen sich ins Flußbett fallen ließen, nachdem der große Kampf vorüber war. Chil ist jedem guter Freund, aber im tiefsten Herzen ist er eine ziemlich kaltblütige Art von Geschöpf, denn er weiß, daß schließlich fast jeder im Dschungel am Ende zu ihm kommt. These were my companions going forth by night, (Chil! Look you, for Chil!) Now come I to whistle them the ending of the fight. (Chil! Vanguards of Chil!) Word they gave me overhead of quarry newly slain, Word I gave them underfoot of buck upon the plain. Here’s an end of every trail – they shall not speak again! They that gave the hunting-cry – they that followed fast – (Chil! Look you, for Chil!) They that bade the samhhur wheel, and pinned him as he passed (Chil! Vanguards of Chil! ) They that lagged behind the scent – they that ran before, They that shunned the level horn – they that overbore, Here’s an end of every trail – they shall not follow more. These were my companions. Pity ‘t was they died! (Chil! Look you, for Chit!) Now come I to comfort them that knew them in their pride. (Chil! Vanguards of Chil!) Tattered flank and sunken eye, open mouth and red, Locked and lank and lone they lie, the dead upon their dead. Here’s an end of every trail – and here my hosts are fed!
(Chils Gesang Dies waren meine Gefährten, sie zogen aus bei Nacht – (Chili Schaut aus für Chili) Nun komme ich, um ihnen das Ende des Kampfes zu pfeifen. (Chili Vorhuten von Chili) Nachricht gaben sie mir nach oben von frisch getöteter Beute, Nachricht gab ich ihnen nach unten vom Bock in der Ebene. Hier ist jede Fährte zu Ende – sie werden nie mehr sprechen! Sie, die den Jagdruf riefen – sie, die schnell folgten – (Chili Schaut aus für Chili) Sie, die den sambhur herumfahren ließen und ihn stellten, als er vorüberlief (Chili Vorhuten von Chili) Sie, die der Witterung hinterdrein liefen – sie, die ihr voraus eilten, Sie, die das gerade Horn scheuten, sie, die es überwanden, Hier ist jede Fährte zu Ende – sie werden nie mehr folgen. Dies waren meine Gefährten. Schade daß sie starben! (Chili Schaut aus für Chili) Nun komme ich die zu trösten, die ich in ihrem Stolze kannte. (Chili Vorhuten von Chili) Zerfetzte Flanke und eingesunkenes Auge, offen der Mund und rot, Verbissen und hohl und allein liegen sie, die Toten auf ihren Toten. Hier ist jede Fährte zu Ende – und hier schmausen meine Heere!)
Das Wunder des Purun Bhagat
The night we felt the Earth would move We stole and plucked him by the hand, Because we loved him with the love That knows but cannot understand. And when the roaring hillside broke, And all our world fell down in rain, We saved him, we the Little Folk; But lo! he will not come again! Mourn now, we saved him for the sake Of such poor love as wild ones may. Mourn ye! Our brother does not wake And his own kind drive us away! Dirge of the Langurs
(In der Nacht, da wir fühlten, die Erde werde sich bewegen, Schlichen wir hinzu und zupften ihn an der Hand, Denn wir liebten ihn mit der Liebe, Die weiß, aber nicht verstehen kann. Und als der röhrende Berghang niederbrach Und unsere Welt im Regen zusammenstürzte, Retteten wir ihn, wir, das Kleine Volk; Aber ach! Er wird nicht wiederkommen! Trauert nun, wir retteten ihn um solch Ärmliche Liebe, wie Wildes sie hat. Trauert, Ihr! Unser Bruder erwacht nicht Und die Seinen werden uns verjagen! Klagelied der Languren)
Einst gab es in Indien einen Mann, der war Premierminister eines der halbunabhängigen einheimischen Staaten im nordwestlichen Teil des Landes. Er war ein Brahmane von so hoher Kaste, daß Kaste aufgehört hatte, für ihn irgendeine besondere Bedeutung zu haben; und sein Vater war ein bedeutender Beamter im fröhlich-bunten Gewimmel eines altmodischen Hindu-Hofes. Als aber Purun Daß aufwuchs, wurde ihm klar, daß die alte Ordnung der Dinge sich wandelte und daß jeder, der vorankommen wollte, sich mit den Engländern gut stellen und alles nachahmen mußte, was die Engländer für gut hielten. Gleichzeitig aber mußte ein einheimischer Beamter sich die Gunst seines eigenen Herrn bewahren. Das war ein schwieriges Spiel, aber der ruhige schweigsame junge Brahmane spielte es, unterstützt von einer guten englischen Ausbildung an der Universität Bombay, gelassen und stieg Schritt für Schritt empor, bis er Premierminister des Königreichs war. Das heißt, er hatte mehr wirkliche Macht als sein Herr, der Maharaja. Als der alte König – der gegenüber den Engländern, ihren Eisenbahnen und Telegraphen mißtrauisch war – starb, galt Purun Daß viel bei seinem jungen Nachfolger, der von einem Engländer erzogen worden war; und miteinander – auch wenn er immer dafür sorgte, daß der Ruhm seinem Herrn zukam – richteten sie Schulen für kleine Mädchen ein, schufen Straßen und eine staatliche Krankenfürsorge und veranstalteten Ausstellungen landwirtschaftlichen Geräts und veröffentlichten jährlich ein Blaubuch über den »Moralischen und Materiellen Fortschritt des Staates«, und das Außenministerium und die Regierung Indiens waren begeistert. Nur wenige einheimische Staaten nehmen englischen Fortschritt ohne Vorbehalte an, denn sie glauben nicht, wie Purun Daß zu tun bewies, daß was für den Engländer gut ist, für den Asiaten doppelt so gut sein muß. Der Premierminister wurde der geehrte Freund von
Vizekönigen und Gouverneuren, von Stellvertretenden Gouverneuren, von medizinischen Missionaren und gewöhnlichen Missionaren und sattelfesten englischen Offizieren, die zur Jagd in die staatlichen Reservate kamen, ebenso wie ganzer Horden von Touristen, die in der kühlen Jahreszeit Indien auf und ab bereisten, um zu zeigen, wie man die Dinge angehen müsse. In seiner Freizeit stiftete er Stipendien fürs Medizinstudium und Fabriken genau nach englischem Vorbild und schrieb Briefe an den Pioneer, die größte indische Tageszeitung, in denen er die Pläne und Ziele seines Herrn erläuterte. Schließlich besuchte er England und hatte nach seiner Rückkehr den Priestern ungeheure Summen zu zahlen; denn selbst ein Brahmane so hoher Kaste wie Purun Daß verlor Kaste durchs Überqueren der Schwarzen See. In London traf und sprach er jeden, den zu kennen es sich lohnte – Männer, deren Namen in aller Welt bekannt sind –, und sah sehr viel mehr, als er sprach. Gelehrte Universitäten verliehen ihm Ehrendoktorate, und er hielt Reden und sprach über die Sozialreform bei den Hindus vor englischen Damen in Abendkleidern, bis ganz London rief: »Dies ist der faszinierendste Mann, den wir je bei einem Abendessen getroffen haben, seit erstmals Tischdecken aufgelegt wurden!« Als er nach Indien zurückkehrte, loderte sein Ruhm hoch auf, denn der Vizekönig selbst stattete einen Sonderbesuch ab, um dem Maharaja das Großkreuz des Sterns von Indien zu verleihen – lauter Diamanten und Bänder und Email; und in dieser gleichen Zeremonie wurde Purun Daß, während die Kanonen donnerten, zum Großmeister des Ordens des Indischen Reichs erhoben; so daß sein Name nun Sir Purun Daß, K. C. I. E. geschrieben wurde. An jenem Abend erhob er sich beim Abendessen im vizeköniglichen Zelt, mit dem Abzeichen und der Kette des
Ordens auf der Brust, und hielt in Erwiderung des Trinkspruchs auf das Wohl seines Herrn eine Rede, die kaum ein Engländer hätte übertreffen können. Im Monat darauf, als die Stadt in ihre sonnendurchglühte Ruhe zurückgesunken war, tat er etwas, was zu tun ein Engländer sich nie träumen ließe, indem er, soweit es die weltlichen Dinge anging, verstarb. Der juwelenbesetzte Orden seiner Ritterschaft ging zurück an die indische Regierung, und ein neuer Premierminister wurde mit der Wahrnehmung der Geschäfte betraut, und in allen untergeordneten Dienststellen begann das Große Allgemeine Rangstellenspiel. Die Priester wußten, was geschehen war, und das Volk erriet es; aber Indien ist der einzige Platz auf Erden, wo ein Mann tun kann, was er will, und niemand fragt warum; und die Tatsache, daß Dewan Sir Purun Daß, K. C. I. E. Posten, Palast und Macht abgegeben und die Bettelschale und das ockerfarbene Gewand eines Sanyassin oder heiligen Mannes ergriffen hatte, wurde als nichts Außergewöhnliches betrachtet. Er war, wie es das Alte Gesetz empfiehlt, zwanzig Jahre Jugendlicher gewesen, zwanzig Jahre ein Kämpfer – auch wenn er nie in seinem Leben eine Waffe getragen hatte – und zwanzig Jahre Haushaltsvorstand. Er hatte seinen Reichtum und seine Macht ihrem Wert gemäß, den er gut kannte, genutzt; er hatte Ehrung angenommen, wenn sie sich ihm darbot; er hatte Menschen und Städte fern und nah gesehen, und Menschen und Städte hatten sich erhoben und ihn geehrt. Nun ließ er diese Dinge fahren, wie ein Mann den Mantel fallen läßt, den er nicht länger braucht. Hinter ihm, als er durch die Stadttore schritt, ein Antilopenfell und eine Krücke mit Messinggriff unterm Arm und eine Bettelschale aus poliertem Meereskokos in der Hand, barfuß, allein, den Blick auf den Boden geheftet – hinter ihm feuerte es von den Bastionen Salut zu Ehren seines glücklichen
Nachfolgers. Purun Daß nickte. All jenes Leben war zu Ende; und er brachte für es nicht mehr Übelwollen oder guten Willen auf, wie ein Mann für einen farblosen Nachttraum aufbringt. Er war ein Sanyassin – ein unbehauster wandernder Bettler, der von seinen Nachbarn für sein tägliches Brot abhing; und solange es in Indien noch ein Bröckchen zu teilen gibt, hungert weder Priester noch Bettler. In seinem Leben hatte er nie Fleisch geschmeckt, und sehr selten auch nur Fisch gegessen. Eine Fünfpfundnote hätte in jedem der vielen Jahre, in denen er unbeschränkter Herr über Millionensummen war, seinen persönlichen Bedarf an Lebensmitteln gedeckt. Selbst als Held des Tages in London hatte er seines Traums von Frieden und Ruhe gedacht – die lange weiße staubige indische Landstraße, überall vom Abdruck bloßer Füße bedeckt, der unaufhörlich sich langsam bewegende Verkehr und der scharf riechende Holzrauch, der im Abenddämmer unter den Feigenbäumen emporkräuselt, wo die Wanderer bei ihrem Abendessen sitzen. Als die Zeit gekommen war, diesen Traum wahrzumachen, hatte der Premierminister die nötigen Schritte unternommen, und drei Tage später hätte man eher ein Bläschen in den Wellentälern der langen Atlantikdünung gefunden, als Purun Daß zwischen den schweifenden, zusammenströmenden, auseinandergehenden Millionen Indiens. Zur Nacht ward sein Antilopenfell ausgebreitet, wo immer ihn die Dunkelheit erreichte – manchmal in einem Kloster der Sanyassin am Rande der Straße; manchmal bei einem Lehmsäulenschrein für Kala Pir, wo die Yogis, eine andere nebulöse Gruppe heiliger Männer, ihn so empfingen, wie jene einen empfangen, die wissen, was Kasten und Gruppen wert sind; manchmal am Rande eines kleinen Hindudorfes, wo die Kinder sich mit der Nahrung, die ihre Eltern zubereitet hatten, herbeischlichen; und manchmal inmitten kahler Weidegründe, wo sein Feuer aus Reisig die schlafenden Kamele aufweckte.
Purun Daß – oder Purun Bhagat, wie er sich jetzt nannte – war das alles Eines. Erde, Menschen, Nahrung waren alles Eines. Seine Füße aber zogen ihn unbewußt nordwärts und ostwärts; aus dem Süden nach Rohtak; von Rohtak nach Kurnool; von Kurnool zu den Ruinen von Samanah und dann entlang des leeren Flußbettes des Gugger, das sich nur füllt, wenn der Regen in den Bergen fällt, stromauf, bis er eines Tages die ferne Linie der Himalaya-Berge erblickte. Da lächelte Purun Bhagat, denn er erinnerte sich, daß seine Mutter von Geburt eine Rajput-Brahmanin aus Kulu gewesen war – eine Bergfrau, stets voller Heimweh nach dem Schnee – und daß der letzte Tropfen Bergblut einen Mann am Ende dorthin zieht, wohin er gehört. »Dort«, sagte Purun Bhagat, als er die niederen Hänge der Sewalik-Berge anging, wo die Kakteen sich wie siebenarmige Kerzenleuchter erheben, »dort werde ich mich hinsetzen und Weisheit erlangen«; und der kühle Wind der Himalayas pfiff ihm um die Ohren, als er auf der Straße fürbaß zog, die nach Simla führt. Als er das letzte Mal diese Straße entlang gezogen war, war das in großem Prunk, von einer klappernden Kavallerieeskorte begleitet, geschehen, um den liebenswürdigsten und umgänglichsten Vizekönig zu besuchen; und die beiden hatten eine Stunde mitsammen über gemeinsame Freunde in London geplaudert, und was das einfache Volk Indiens wirklich vom Stand der Dinge hielt. Dieses Mal stattete Purun Bhagat keine Besuche ab, sondern lehnte sich gegen das Geländer der Laubenpromenade und genoß den herrlichen Anblick der Ebenen, die sich unten vierzig Meilen weit erstreckten, bis ein einheimischer mohammedanischer Polizist ihm bedeutete, daß er den Verkehr störe; und Purun Bhagat entbot ehrerbietig vor dem Gesetz das Salaam, da er dessen Wert kannte und ein Gesetz für sich selbst suchte. Dann wanderte er weiter und
schlief diese Nacht in einer leeren Hütte in Chota Simla, das aussieht wie das allerletzte Ende der Welt, aber das war erst der Beginn seiner Reise. Er folgte der Himalaya-Tibet-Straße, dem kleinen zehn Fuß breiten Weg, der aus dem massiven Felsen herausgesprengt oder auf Holzverstrebungen über tausend Fuß tiefe Abgründe gehängt ist; der in warme feuchte abgeschlossene Täler taucht und über kahle grasige Berghänge klimmt, wo die Sonne wie ein Brennglas sengt; oder sich durch tropfende düstere Wälder windet, in denen Baumfarn die Baumstämme von Kopf bis Fuß umhüllt und der Fasan sein Weibchen ruft. Und er begegnete tibetischen Hirten mit ihren Hunden und Schafherden, jedes Schaf mit einem kleinen Beutel Borax auf dem Rücken, und wandernden Holzfällern und in Mäntel und Decken gehüllten Lamas aus Tibet auf Pilgerfahrt nach Indien und Abgesandten kleiner einsamer Bergstaaten, die auf gestreiften und gescheckten Ponies vorüberpreschten, oder der Kavalkade eines Raja auf Staatsbesuch; oder er sah an einem langen klaren Tag nichts anderes als einen schwarzen Bären, der unten im Tal grunzte und wühlte. Als er aufbrach, gellte noch das Tosen der Welt, die er verließ, in seinen Ohren, wie das Dröhnen eines Tunnels noch ein Weilchen anhält, nachdem der Zug ihn durchfahren hat; aber als er den Mutteeanee-Paß hinter sich gebracht hatte, war es auch damit vorbei, und Purun Bhagat war allein mit sich selbst, wandernd, staunend, denkend, die Augen am Boden und die Gedanken in den Wolken. Eines Abends querte er den höchsten Paß, auf den er bisher gestoßen war – der Aufstieg hatte zwei Tage gedauert –, und kam hinaus auf eine Reihe von Schneegipfeln, die den ganzen Horizont säumten – Berge fünfzehn- bis zwanzigtausend Fuß hoch, die so nahe aussahen, als könne man sie mit einem Steinwurf treffen, obwohl sie fünfzig oder sechzig Meilen entfernt waren. Den Paß krönte dichter dunkler Wald –
Deodar, Walnuß, Wildkirsche, Wildolive, Wildbirne, vor allem aber Deodar, die Zeder des Himalaya; und im Schatten der Deodar stand verlassen ein Schrein Kalis – die Durga ist, die Sitala ist, die manchmal gegen die Blattern angerufen wird. Purun Daß kehrte den Steinboden sauber, lächelte die grinsende Statue an, baute sich hinter dem Schrein aus Lehm eine kleine Feuerstelle, breitete sein Antilopenfell auf einem Lager frischer Fichtennadeln aus, schob sich die bairagi – seine messingknaufene Krücke – unter die Achsel und ließ sich zur Ruhe nieder. Unmittelbar unter ihm fiel die Bergwand licht und gelichtet fünfzehnhundert Fuß tief ab bis dahin, wo sich ein kleines Dorf aus Steinhäusern mit Dächern aus gestampfter Erde an die steile Schräge klammerte. Rund herum lagen seine kleinen Terrassenfelder wie Flickenschürzen auf den Knien des Berges, und Kühe nicht größer wie Käfer grasten zwischen den glatten Steinkreisen der Dreschplätze. Beim Blick übers Tal ward das Auge von der Größe der Dinge getäuscht und konnte zuerst nicht erkennen, daß was auf dem gegenüberliegenden Berghang niedriges Gebüsch schien, in Wahrheit ein Wald hundert Fuß hoher Fichten war. Purun Bhagat sah einen Adler über die riesige Senke schweben, aber der große Vogel schrumpfte zu einem kleinen Punkt zusammen, ehe er die Hälfte des Weges hinter sich hatte. Einige Bänder verstreuter Wolken hingen talauf und talab, verfingen sich an einer Bergschulter oder stiegen auf und verschwanden, wenn sie die Höhe des Passes erreichten. Und »Hier werde ich Frieden finden«, sagte Purun Bhagat. Ein Bergmensch macht sich nichts aus ein paar hundert Fuß bergauf oder bergab, und sobald die Dörfler Rauch aus dem verlassenen Schrein aufsteigen sahen, kletterte der Dorfpriester den terrassierten Berghang hinan, um den Fremden willkommen zu heißen.
Als er den Augen Purun Bhagats begegnete – Augen eines Mannes, der gewohnt war, Tausende zu kontrollieren –, verneigte er sich bis zur Erde, nahm wortlos die Bettelschale an sich und kehrte ins Dorf zurück, wo er sagte: »Endlich haben wir einen heiligen Mann. So einen Mann habe ich noch nie gesehen. Er kommt aus den Ebenen – aber er ist hellhäutig – ein Brahmane unter den Brahmanen.« Da fragten alle Hausfrauen des Dorfes: »Glaubst Du, daß er bleibt?« und eine jede tat ihr Bestes, für den Bhagat ihr schmackhaftestes Mahl zuzubereiten. Bergkost ist sehr einfach, aber mit Buchweizen und Mais, mit Reis und rotem Pfeffer, mit kleinen Fischen aus dem Fluß im kleinen Tal, und Honig aus den röhrenförmigen Stöcken in den Steinwänden, und getrockneten Aprikosen und Gelbwurz und wildem Ingwer und Fladenbrot kann eine hingebungsvolle Frau gute Sachen bereiten; und es war eine volle Bettelschale, die der Priester zum Bhagat trug. Ob er bleibe? fragte der Priester. Ob er einen chela – einen Jünger – brauche, der für ihn bettle? Ob er eine Decke gegen kaltes Wetter brauche? Ob das Essen gut sei? Purun Bhagat aß und dankte dem Spender. Es sei seine Absicht zu bleiben. Das genüge, sagte der Priester. Er möge die Bettelschale außerhalb des Schreines lassen, in der Höhlung aus den beiden verschlungenen Wurzeln, und jeden Tag werde der Bhagat gespeist sein; denn das Dorf fühle sich geehrt, daß solch ein Mann – er blickte scheu ins Antlitz des Bhagat – bei ihnen weilen wolle. Jener Tag sah das Ende der Wanderungen von Purun Bhagat. Er hatte den ihm vorbestimmten Ort erreicht – die Stille und den Raum. Danach endete die Zeit, und er, in der Öffnung des Schreines sitzend, konnte nicht sagen, ob er lebe oder tot sei; ein Mann mit Kontrolle über seine Gliedmaßen oder ein Teil der Berge und der Wolken und des wechselnden Regens und des Sonnenlichts. Leise wiederholte er sich einen heiligen
Namen hundert mal hundert Male, bis er bei jeder Wiederholung mehr und mehr aus seinem Körper herauszugleiten und emporzuschweben schien zu den Pforten einer ungeheuren Erkenntnis; aber wenn sich die Pforte gerade zu öffnen begann, zog ihn sein Körper herab, und er fühlte mit Trauer, daß er wieder in Fleisch und Gebein Purun Bhagats eingeschlossen war. Jeden Morgen ward die gefüllte Bettelschale schweigend in die Wurzelgabelung vor dem Schrein gelegt. Manchmal brachte der Priester sie; manchmal schleppte sich ein ladakhischer Händler, der im Dorf übernachtete und Verdienst erwerben wollte, den Pfad herauf; aber öfter war es die Frau, die das Mahl über Nacht gekocht hatte; und dann murmelte sie kaum lauter als ihr Atem: »Sprich für mich vor den Göttern, Bhagat. Sprich für die und die, das Weib des so und so!« Hin und wieder wurde einem Kinde die Ehre gestattet, und der Bhagat hörte es die Schale absetzen und wegrennen, so schnell seine kleinen Beine es trugen, aber niemals kam der Baghat hinab ins Dorf. Es lag wie eine Karte zu seinen Füßen. Er konnte die Abendversammlungen im Kreis der Dreschplätze sehen, denn dies war die einzige ebene Fläche; konnte das wundervoll namenlose Grün des jungen Reises sehen, das Indigoblau des Maises, die ampferfarbenen Buchweizenflecken und zu ihrer Jahreszeit die rote Blüte des Amaranth, dessen kleine Samen, da weder Korn noch Hülse, eine Nahrung geben, die der Hindu zu Fastenzeiten essen darf. Wenn das Jahr sich rundete, waren die Dächer der Hütten alle kleine Rechtecke des reinsten Goldes, denn auf den Dächern legte man die Maiskolben zum Trocknen aus. Imkern und ernten, Reis säen und schälen, alles geschah vor seinen Augen, wie Stickwerk an den vielförmigen Feldstücken, und Alles bedachte er, grübelnd, wohin Alles schließlich führen werde.
Selbst im volkreichen Indien kann ein Mann nicht den ganzen Tag lang still dasitzen, ohne daß schon Getier auf ihm herumläuft als sei er ein Felsen; und in jener wilden Gegend kamen die wilden Tiere, die Kalis Schrein gut kannten, bald zu dem Eindringling zurück. Die langur, die großen graubärtigen Himalaya-Affen, waren natürlich die ersten, denn sie sind voller Neugierde; und nachdem sie die Bettelschale umgeworfen und auf dem Fußboden herumgerollt und ihre Zähne an der messingknaufenen Krücke ausprobiert und dem Antilopenfell Grimassen geschnitten hatten, entschieden sie, daß das menschliche Wesen, das da so still saß, harmlos sei. Abends sprangen sie aus den Fichten herab und bettelten mit den Händen um Eßbares, und dann schwangen sie sich in anmutigen Kurven wieder von dannen. Auch liebten sie die Wärme des Feuers und kauerten so eng darum herum, daß Purun Bhagat sie beiseite schubsen mußte, um neues Brennholz aufzulegen; und morgens fand er fast immer einen zottigen Affen vor, der seine Decke teilte. Den ganzen Tag über saß der eine oder der andere des Stammes an seiner Seite, starrte auf den Schnee hinaus, summte und sah unsäglich weise und kummervoll aus. Nach den Affen kam der barasingh, der große Hirsch, der unserem Rothirsch ähnlich ist, doch stärker. Er wollte den Bastsamt seiner Hörner an den kalten Steinen von Kalis Statue abscheuern und stampfte mit dem Huf auf, als er den Mann am Schrein sitzen sah. Aber Purun Bhagat bewegte sich nicht, und nach und nach schob sich der königliche Hirsch näher und beschnoberte seine Schulter. Purun Bhagat ließ eine kühle Hand an dem heißen Gehörn entlanggleiten, und die Berührung beruhigte das aufgeregte Tier, das den Kopf neigte, und Purun Bhagat rieb und riefelte sehr behutsam den Bast herunter. Später brachte der barasingh Hindin und Kitz mit – sanfte Tiere, die an der Decke des heiligen Mannes knabberten
– oder kam allein in der Nacht, die Augen grün im Flackern des Feuers, um sich seinen Anteil an frischen Walnüssen zu nehmen. Schließlich kam auch das Moschustier, scheuester und kleinster der Kleinhirsche, die großen kaninchenähnlichen Lauscher aufgestellt; selbst diese gestreifte mushick-nabha mußte unbedingt herausfinden, was das Licht im Schrein bedeute, ihre Elchsnase in Purun Bhagats Schoß stupsen, und mit den Schatten des Feuers kommen und gehen. Purun Bhagat nannte sie alle »meine Brüder«, und sein leiser Ruf »Bhai! Bhai!« zog sie zur Mittagsstunde aus dem Walde, wenn sie in Hörweite waren. Der schwarze Himalayabär, mürrisch und mißtrauisch – Sona, der das weiße V-Zeichen unterm Kinn hat –, kam mehr als einmal vorüber; und da der Bhagat keine Furcht zeigte, zeigte Sona keinen Zorn, sondern beobachtete ihn und kam näher und erbat sich einen Anteil an den Zärtlichkeiten und ein Almosen an Brot oder wilden Beeren. Oft, wenn der Bhagat in den stillen Morgendämmerungen zum höchsten Punkt der Paßkerbe emporstieg, um die Röte des Tages die Schneegipfel entlangwandern zu sehen, fand er Sona schlurfend und grunzend an seinen Fersen, wie er eine neugierige Vorderpfote unter umgestürzte Stämme schob und mit einem ungeduldigen whuff wieder hervorzog; oder seine frühen Schritte weckten Sona dort, wo er zusammengerollt lag, und das große Biest richtete sich auf und wollte kämpfen, bis es des Bhagat Stimme hörte und seinen besten Freund erkannte. Fast alle Einsiedler und heiligen Männer, die fern der großen Städte leben, haben den Ruf, mit den wilden Tieren Wunder wirken zu können, aber das ganze Wunder liegt darin, daß sie sich ruhig verhalten, niemals eine hastige Bewegung machen und, auf lange Zeit wenigstens, einen Besucher nicht unmittelbar ansehen. Die Dörfler sahen die Umrisse des barasingh, wie er schattengleich durch den dunklen Wald
hinter dem Schrein glitt; sahen den Himalaya-Fasan vor Kalis Statue mit seinem schönsten Gefieder prunken; und die langur auf ihren Keulen im Innern mit Walnußschalen spielen. Auch hatten einige der Kinder Sona hinter dem Felsgeröll vor sich hin singen hören nach Bärenart, und des Bhagat Ruf als Wunderwirker war gesichert. Nichts aber war seinem Geist ferner als Wunder. Er glaubte, daß alle Dinge ein großes Wunder seien, und wenn ein Mann das weiß, weiß er etwas, auf das er aufbauen kann. Es war ihm eine Gewißheit, daß es nichts Großes und nichts Kleines in dieser Welt gibt; und Tag und Nacht strebte er, sich seinen Weg ins Herz der Dinge zu denken, zurück zu jenem Platz, woher seine Seele gekommen war. Während er so dachte, fiel ihm das ungeschnittne Haar auf seine Schultern herab, die Steinplatte neben dem Antilopenfell erhielt vom Fuß seiner Krücke mit dem Messinggriff ein kleines Loch eingedellt, und der Platz zwischen den Baumstämmen, wo die Bettelschale Tag um Tag lag, sank ein und ward zu einer Höhlung abgenutzt, die fast so glatt war wie die braune Schale selbst; und jedes Tier kannte seinen genauen Platz am Feuer. Die Felder wechselten ihre Farben mit den Jahreszeiten; die Dreschplätze füllten und leerten sich, und füllten sich wieder und wieder; und wieder und wieder tobten, wenn der Winter kam, die langur durch die mit leichtem Schnee befederten Äste, bis im Frühling die Affenmütter ihre kleinen Babys mit den traurigen Augen aus den wärmeren Tälern heraufbrachten. Es gab wenige Veränderungen im Dorf. Der Priester war älter geworden, und manche der kleinen Kinder, die einst mit dem Bettelnapf kamen, schickten jetzt ihre eigenen Kinder; und frug man die Dörfler, seit wann ihr heiliger Mann in Kalis Schrein am Ende des Passes lebe, antworteten sie: »Immer schon.«
Dann kamen solche Sommerregen, wie man sie in den Bergen seit vielen Jahren nicht gekannt hatte. Während dreier voller Monate war das Tal in Wolken und triefenden Nebel gehüllt – stetiger, nie abnehmender Guß, der in Gewitterregen auf Gewitterregen ausbrach. Kalis Schrein stand meistens über den Wolken, und einen ganzen Monat gab es, in dem der Bhagat nicht einen Blick auf sein Dorf erhaschte. Es lag verstaut unter einem weißen Wolkenboden, der schwankte und sich verschob und sich einrollte und aufwölbte, aber niemals aus seinen Halterungen brach – den strömenden Flanken des Tales. Während der ganzen Zeit hörte er nur das Murmeln einer Million kleiner Wasserläufe, von oben aus den Bäumen und unter seinen Füßen am Boden, die durch die Fichtennadeln sickerten, von den Zungen verschmierter Farne troffen und durch neu gegrabene schlammige Kanäle die Hänge hinabschossen. Dann brach die Sonne durch und zog den guten Geruch der Deodars und der Rhododendren hervor und jenen fernen reinen Geruch, den die Bergmenschen »den Schneegeruch« nennen. Der heiße Sonnenschein dauerte eine Woche, dann versammelten sich die Regen zu ihrem letzten Platzguß, und das Wasser fiel in Wänden, die die Haut vom Boden peitschten und als Schlamm hochsprangen. In jener Nacht türmte Purun Bhagat sein Feuer hoch, denn er war sicher, daß seine Brüder Wärme brauchten; doch kam kein Tier zum Schrein, obwohl er rief und rief, bis er in Schlummer sank, ratlos, was im Walde geschehen sei. Es war im schwarzen Herzen der Nacht, als der Regen wie tausend Trommeln trommelte, daß er durch ein Zupfen an seiner Decke geweckt wurde und, als er sich reckte, die kleine Hand eines langur spürte. »Hier ist es besser als in den Bäumen«, sagte er schläfrig und löste eine Deckenfalte; »nimm sie und hab es warm.« Der Affe ergriff seine Hand und
zerrte heftig. »Geht es um Essen?« sagte Purun Bhagat. »Warte ein Weilchen, und ich werde Dir etwas zurichten.« Als er sich hinkniete, um Brennholz auf das Feuer zu werfen, rannte der langur zum Schrein, summte, und kam zurückgerannt und zupfte am Knie des Mannes. »Was ist denn? Was ist Dein Kummer, Bruder?« sagte Purun Bhagat, denn die Augen des langur füllten Dinge, die er nicht erzählen konnte. »Außer wenn einer Deiner Kaste in einer Falle steckt – und niemand stellt hier Fallen auf –, gehe ich nicht in das Wetter hinaus. Siehe, Bruder, selbst der barasingh sucht hier Schutz.« Das Gehörn des Hirsches krachte, als er in den Schrein kam, krachte gegen die grinsende Statue Kalis. Er senkte es in Richtung auf Purun Bhagat und stampfte unruhig, während er durch die halbgeschlossenen Nüstern schnaubte. »Hai! Hai! Hai!« sagte der Bhagat und schnalzte mit den Fingern. »Ist das der Lohn für ein Nachtquartier?« Aber der Hirsch schob ihn auf die Tür zu, und während er das tat, hörte Purun Bhagat das Geräusch von etwas, das sich mit einem Seufzen öffnete, und sah zwei Bodenplatten voneinander wegrücken, während die klebrige Erde darunter mit den Lippen schmatzte. »Jetzt verstehe ich«, sagte Purun Bhagat. »Meinen Brüdern keinen Vorwurf, daß sie heute Nacht nicht beim Feuer saßen. Der Berg stürzt ein. Aber dennoch – warum sollte ich gehen?« Sein Blick fiel auf die leere Bettelschale, und sein Gesicht veränderte sich. »Sie haben mir gutes Essen gegeben jeden Tag seit – seit ich kam, aber wenn ich nicht schnell bin, wird es morgen nicht einen Mund mehr im Tale geben. Ich muß wirklich gehen und sie da unten warnen. Zurück da, Bruder! Laß mich zum Feuer!« Der barasingh trat unwillig zurück, als Purun Bhagat eine Fackel tief in die Flamme stieß und sie drehte, bis sie gut
brannte. »Ah! Ihr kamet, um mich zu warnen«, sagte er, indem er sich erhob. »Wir wollen Besseres tun als das, Besseres als das. Raus jetzt, und leih mir Deinen Nacken, Bruder, denn ich habe nur zwei Füße.« Er ergriff den borstigen Widerrist des barasingh mit der Rechten, hielt die Fackel mit der Linken von sich und trat aus dem Schrein in die furchtbare Nacht. Kein Windhauch ging, aber der Regen löschte fast die Fackel aus, als der große Hirsch auf seinen Keulen schlitternd den Hang hinabeilte. Er hörte die langur sich um ihn pressen, obwohl er sie nicht sehen konnte, und hinter sich das uhh! uhh! von Sona. Der Regen verfilzte sein langes weißes Haar in Strähnen; das Wasser platschte unter seinen bloßen Füßen, und seine gelbe Robe klebte an seinem gebrechlichen alten Körper, aber stetig stieg er hinab und stützte sich auf den barasingh. Jetzt war er kein heiliger Mann mehr, sondern Sir Purun Daß, K. C. I. E. Premierminister eines nicht kleinen Staates, ein ans Befehlen gewohnter Mann, der auszog, Leben zu retten. Den steilen matschigen Pfad stürmten sie gemeinsam hinab, der Bhagat und sein Bruder, hinab und hinab, bis der Hirsch gegen die Mauer eines Dreschplatzes klackte und stolperte und schnaubte, weil er Menschen roch. Sie waren nun am Beginn der gewundenen einen Dorfstraße, und der Bhagat schlug mit seiner Krücke gegen die vergitterten Fenster vom Haus des Grobschmieds, während seine Fackel im Schutz der Dachtraufen aufloderte. »Auf und raus!« schrie Purun Bhagat, und er erkannte seine eigene Stimme nicht, denn es war Jahre her, seit er laut zu einem Menschen gesprochen hatte. »Der Berg stürzt! Der Berg stürzt ein! Auf und raus, o Ihr da drinnen!« »Das ist unser Bhagat«, sagte die Frau des Schmiedes. »Da steht er zwischen seinen Tieren. Hol die Kleinen zusammen und gib den Ruf weiter.«
Der lief von Haus zu Haus, während die in die enge Straße gedrängten Tiere sich um den Bhagat drängten und ihn umwogten und Sona ungeduldig prustete. Die Menschen stürzten in die Straße – es waren nicht mehr als siebzig alle zusammen – und sahen im Lodern ihrer Fackeln ihren Bhagat, wie er den erschreckten barasingh festhielt, während die Affen kläglich an seinem Gewand zupften und Sona auf seinen Keulen hockte und brüllte. »Durch das Tal und auf den nächsten Berg!« schrie Purun Bhagat. »Laßt niemanden zurück! Wir folgen!« Dann rannten die Menschen, wie nur Bergmenschen rennen können, denn sie wußten, daß man bei einem Bergrutsch auf der Gegenseite des Tales zur höchsten Stelle klettern muß. Sie flohen und platschten durch den kleinen Fluß auf der Talsohle und keuchten die Terrassenfelder auf der anderen Seite hinan, während der Bhagat und seine Brüder folgten. Hinauf und hinauf kletterten sie den Gegenberg und riefen einander bei Namen – der Anwesenheitsappell des Dorfes –, und hinter ihren Fersen mühte sich der große barasingh ab, den die versagende Kraft von Purun Bhagat belastete. Schließlich hielt der Hirsch im Schatten eines tiefen Fichtenwaldes inne, fünfhundert Fuß den Berghang hinauf. Sein Instinkt, der ihn vor dem kommenden Bergrutsch gewarnt hatte, sagte ihm, daß er hier sicher sei. Purun Bhagat brach kraftlos neben ihm zusammen, denn die Kälte des Regens und dieses wüste Klettern brachten ihn um; aber zunächst rief er den verstreuten Fackeln vor sich zu: »Bleibt stehen und zählt Euch«; und dann, als er sah, wie die Lichter sich zu einem Haufen sammelten, flüsterte er dem Hirsch zu: »Bleib bei mir Bruder. Bleib – bis – ich – gehe!« Da war ein Seufzen in der Luft, das zu einem Murmeln wurde, und ein Murmeln, das zu einem Röhren wurde, und ein Röhren, das über alle Hörbarkeit hinauswuchs, und die
Bergflanke, auf der die Dörfler standen, ward in der Dunkelheit getroffen und schwankte unter dem Hieb. Dann ertränkte ein Ton so stetig und tief und voll wie das tiefe C der Orgel für vielleicht fünf Minuten alles, während die Wurzeln der Fichten in ihm erbebten. Er erstarb, und das Geräusch von Regen, der auf Meilen harten Bodens und Grases fällt, veränderte sich zu dem dumpfen Trommeln von Wasser auf weicher Erde. Das erzählte seine eigene Geschichte. Keiner der Dörfler – nicht einmal der Priester – war kühn genug, den Bhagat anzusprechen, der ihr Leben gerettet hatte. Sie verkrochen sich unter den Fichten und erwarteten den Tag. Als der kam, blickten sie über das Tal und sahen, daß was Wald gewesen war und Terrassenfelder und fährtendurchfurchte Weideflächen, nun eine wunde rote fächerförmige Schmiere war, mit einzelnen Bäumen kopfüber die Böschung hinabgeschleudert. Dieses Rot reichte weit den Berg ihrer Zuflucht hinauf und staute den kleinen Fluß auf, der begann, sich in einen ziegelroten See zu verbreitern. Vom Dorf, vom Weg zum Schrein, vom Schrein selbst und dem Wald dahinter gab es keine Spur mehr. Denn auf eine Meile Breite und zweitausend Fuß reine Höhe hatte sich die Bergwand abgelöst, sauber abgehobelt vom Gipfel bis zum Fuß. Und die Dörfler krochen einer nach dem anderen durch den Wald, um vor ihrem Bhagat zu beten. Sie sahen den barasingh über ihm stehen, der floh, als sie näherkamen, und sie hörten die langur in den Ästen klagen und Sona weiter bergauf ächzen; aber ihr Bhagat war tot, er saß mit gekreuzten Beinen, mit dem Rücken gegen einen Baum, die Krücke unter seiner Achsel, und sein Antlitz nordöstlich gewandt. Der Priester sagte: »Sehet ein Wunder nach einem Wunder, denn in dieser Haltung müssen alle Sanyassin begraben werden! Deshalb
werden wir da, wo er nun ist, unserem heiligen Mann den Tempel erbauen.« Sie erbauten den Tempel, ehe ein Jahr vorüber war, einen kleinen Schrein aus Stein und Erde, und sie nannten den Berg den Berg des Bhagat, und bis heute beten sie dort mit Lichtern und Blumen und Gaben. Aber sie wissen nicht, daß der Heilige ihrer Verehrung der verstorbene Sir Purun Daß ist, K. C. I. E. D. C. L. Ph. D. usw. einst Premierminister des fortschrittlichen und aufgeklärten Staates Mohiniwala sowie Ehren- oder Korrespondierendes Mitglied von mehr gelehrten und wissenschaftlichen Gesellschaften, als je in dieser oder der nächsten Welt zu irgend etwas gut sein werden.
A Song of Kabir Oh, light was the world that he weighed in his hands! Oh, heavy the tale of his fiefs and his lands! He has gone from the guddee and put on the shroud, And departed in guise of bairagi avowed! Now the white road to Delhi is mat for his feet, The sal and the kikar must guard him from heat; His home is the camp, and the waste, and the crowd – He is seeking the Way, a bairagi avowed! He has looked upon Man and his eyeballs are clear (There was One; there is One, and but One, saith Kabir); The Red Mist of Doing is thinned to a cloud – He has taken the Path, a bairagi avowed! To learn and discern of his brother the clod, Of his brother the brute, and his brother the God, He has gone from the council and put on the shroud (»Can ye hear?« saith Kabir), a bairagi avowed.
(Ein Lied von Kabir O, leicht war die Welt, die er in seinen Händen wog! O, schwer die Zahl seiner Lehen und Ländereien! Er hat den guddee verlassen und das Tuch angelegt, Und ist gegangen im Gewand eines erklärten bairagi! Nun ist die weiße Straße nach Delhi Matte seinen Füßen, sal und kikar müssen ihn vor der Hitze schützen; Sein Heim ist das Lager und die Wüstenei und die Menge – Er sucht Den Weg, ein erklärter bairagi! Er hat den Menschen gesehen, und seine Augäpfel sind klar (Es gab Einen; es gibt Einen, und nur Einen, sagt Kabir); Der Rote Nebel des Tuns ist zu einer Wolke verdünnt – Er hat Den Pfad eingeschlagen, ein erklärter bairagi! Um zu lernen und zu erkennen von seinem Bruder dem Klotz, seinem Bruder dem Tier und seinem Bruder dem Gott, Ist er aus dem Rat gegangen und hat das Tuch angelegt (»Kannst Du hören?« fragt Kabir), ein erklärter bairagi!)
Im Rukh
The Only Son lay down again and dreamed that he dreamed a dream. The last ash dropped from the dying fire with the click of a falling spark, And the Only Son woke up again and called across the dark: – »Now, was I born of womankind and laid in a mother’s breast? For I have dreamed of a shaggy hide whereon I went to rest. And was I born of womankind and laid on a father’s arm? For I have dreamed of long white teeth that guarded me from harm. Oh, was I born of womankind and did I play alone? For I have dreamed of playmates twain that bit me to the bone. And did I break the barley bread and steep it in the tyre? For I have dreamed of a youngling kid new riven from the byre. An hour it lacks and an hour it lacks to the rising of the moon – But I can see the black roof-beams as plain as it were moon! ‘Tis a league and a league to the Lena-Falls where the trooping sambhur go But I can hear the little fawn that bleats behind the doe! ‘Tis a league and a league to the Lena-Falls where the crop and the upland meet, But I can smell the warm wet wind that whispers through the wheat!« The Only Son (Der Einzige Sohn legte sich wieder nieder und träumte, er träume einen Traum. Die letzte Asche fiel aus dem sterbenden Feuer mit dem Knacken eines stürzenden Funkens, Und der Einzige Sohn erwachte wieder und rief durch die Dunkelheit: »Bin ich denn geboren von einer Frau und gelegt an der Mutter Brust? Denn mir träumte von einem zottigen Fell, auf dem ich schlafen ging. Und bin ich geboren von einer Frau und gelegt auf des Vaters Arm? Denn mir träumte von langen weißen Zähnen, die mich bewahrten vor Harm. Oh, ward ich geboren von einer Frau und spielte ich allein? Denn mir träumte von zwei Spielgefährten, die mich bis auf den Knochen bissen. Und habe ich Gerstenbrot gebrochen und es in Quark getunkt?
Denn mir träumte von einem jungen Kitz, frisch aus dem Stall gerissen. Eine Stunde fehlt noch und noch eine Stunde fehlt bis zum Aufgang des Mondes – Aber ich kann die schwarzen Dachbalken sehen, als wäre es heller Tag! Eine Meile ist es und noch eine Meile bis zu dem Lena-Fall, wo die sambhur-Herde grast, Doch ich kann das Hirschkitz hören, das nach der Hindin blökt! Eine Meile ist es und noch eine Meile bis zu dem Lena-Fall, wo sich Acker und Bergland treffen, Aber ich kann den warmen nassen Wind riechen, der durch den Weizen wispert!« Der Einzige Sohn)
Von den Rädern des Öffentlichen Dienstes, die sich unter der Indischen Regierung drehen, ist keines wichtiger als die Abteilung Wälder und Forsten. Die Wiederaufforstung ganz Indiens liegt in ihren Händen; oder so wird es sein, sobald die Regierung das nötige Geld hat. Ihre Bediensteten ringen mit wandernden Sandströmen und mit Wanderdünen: umzäunen sie an den Seiten mit Flechtwerk, dämmen sie vorne ein, und pflocken sie oben mit Hartgras und Kiefernschößlingen nach den Regeln von Nancy an. Sie sind verantwortlich für alles Holz in den Staatsforsten der Himalayas wie für die entblößten Berghänge, die der Monsun in trockene Flußbetten und schmerzende Schluchten spült; jede ein Mund, der laut herausschreit, was Achtlosigkeit anrichten kann. Sie experimentieren mit Bataillonen fremdländischer Bäume und beschwatzen den blauen Eukalyptus, Wurzeln zu schlagen und so vielleicht das Sumpffieber auszutrocknen. In den Ebenen ist es ihre oberste Pflicht, dafür zu sorgen, daß die Feuergürtel in den Waldreservaten freigehalten werden, damit sie, wenn die Trockenheit kommt und das Vieh verhungert, den Herden der Dörfler die Reservate öffnen und den Menschen das Sammeln von Reisig erlauben können. Sie kappen und stutzen für die Brennholzstapel entlang den Eisenbahnlinien, die keine Kohle
verheizen; sie berechnen den Gewinn ihrer Pflanzungen bis zur fünften Dezimalstelle; sie sind die Ärzte und Hebammen der großen Teakwälder Oberburmas, der Gummibäume in den östlichen Dschungeln und der Galläpfel des Südens; und immer sind sie durch Geldmangel behindert. Da aber die Arbeit eines Forstbeamten ihn weit von den ausgetretenen Straßen und den ständigen Siedlungen fortführt, lernt er mehr als nur die Weisheit des Waldwerks; lernt die Wesen und das Gemeinwesen des Dschungels kennen; begegnet Tiger, Bär, Leopard, Wildhund, allem Hochwild, nicht nur ein- oder zweimal nach tagelanger Pirsch, sondern wieder und wieder bei der Erfüllung seiner Dienstpflichten. Er verbringt viel Zeit im Sattel oder im Zelt – als Freund frischgepflanzter Bäume, als Gefährte eigenartiger Jäger und behaarter Fährtensucher –, bis die Wälder, denen man seine Pflege ansieht, ihm ihrerseits ihr Mal aufdrücken und er aufhört, die unartigen französischen Lieder zu singen, die er in Nancy lernte, und schweigsam wird mit den schweigsamen Dingen im Dickicht. Gisborne, von der Wälder-und-Forsten, hatte vier Jahre in diesem Dienst verbracht. Anfangs liebte er ihn ohne Verständnis, weil er ihn zu Pferd ins Freie brachte und ihm Autorität gab. Dann haßte er ihn leidenschaftlich und würde eines Jahres Lohn gegeben haben für einen Monat Geselligkeit, wie Indien sie bietet. Als diese Krise vorüber war, nahmen die Wälder ihn wieder auf, und er war es zufrieden, ihnen zu dienen und seine Feuergürtel zu vertiefen und zu verbreitern, den grünen Dunst seiner Neupflanzungen vor dem älteren Blätterwerk zu betrachten, den erstickten Fluß freizuschaufeln und den letzten Kampf des Waldes zu unterstützen, wo er niederbrach und im langen Borstengras starb. Eines stillen Tages brannte man dieses Gras ab und hundert Tiere, die darin ihre Wohnungen hatten, flohen vor den fahlen Flammen im grellen Mittagslicht. Später kroch der
Wald über die geschwärzte Erde in ordentlichen Reihen von Setzlingen vorwärts und Gisborne, der das beobachtete, war es wohlgefällig. Sein Bungalow, ein strohbedachtes weißwändiges kleines Häuschen von zwei Räumen, stand am einen Ende des großen rukh und überschaute ihn. Er versuchte gar nicht erst, einen Garten anzulegen, denn der rukh wogte bis zu seiner Tür, schäumte auf in ein Bambusdickicht, und von seiner Veranda ritt er in sein Herz, ohne einer Auffahrt zu bedürfen. Abdul Gafur, sein fetter muslimischer Butler, nährte ihn, wenn er zu Hause war, und verbrachte den Rest seiner Zeit schwatzend mit dem kleinen Trupp einheimischer Diener, deren Hütten hinter dem Bungalow lagen. Da gab es zwei Pferdeknechte, einen Koch, einen Wasserträger und einen Feger, und das war alles. Gisborne reinigte seine Büchsen selber und hielt sich keinen Hund. Hunde vergrämen das Wild, und es gefiel dem Mann, sagen zu können, wo die Untertanen seines Königreichs bei Mondaufgang tranken, vor dem Morgengrauen aßen und die Hitze des Tages Verlagen. Die Jäger und Waldhüter lebten in kleinen Hütten weit weg im rukh und erschienen nur, wenn einer von ihnen von einem stürzenden Baum oder einem wilden Tier verletzt worden war. Dort war Gisborne allein. Im Frühling trieb der rukh wenige neue Blätter, sondern lag trocken da und noch unberührt vom Finger des Jahres und wartete auf Regen. Nur gab es dann mehr Rufen und Gebrüll im Dunkel einer stillen Nacht; das Getöse eines Königskampfes zwischen Tigern, das Röhren eines arroganten Bockes oder das stetige Holzhacken eines alten Keilers, der seine Hauer an einem starken Baumstamm schärfte. Dann legte Gisborne seine selten verwendete Büchse ganz beiseite, denn ihm war Töten eine Sünde. Im Sommer waberte der rukh während der sengenden Maihitze im Dunst, und Gisborne hielt
Ausschau nach dem ersten Anzeichen kräuselnden Rauchs, der einen Waldbrand verriete. Dann kamen die Regen mit Gebrüll, und der rukh wurde Stück für Stück von warmen Nebeln ausgelöscht, und die breiten Blätter trommelten unter den großen Tropfen durch die Nacht; und da war das Geräusch rinnenden Wassers und des Knirschens von saftigem Grün, wo der Wind es traf, und die Blitze woben Muster hinter der dichten Blättermatte, bis die Sonne wieder durchbrach und der rukh mit heißen Flanken dastand, die in den frischgewaschenen Himmel empordampften. Später dämpften Hitze und trockene Kälte alles wieder zu Tigerfarben. So lernte Gisborne seinen rukh kennen und war sehr glücklich. Sein Gehalt kam Monat für Monat, aber er hatte kaum Bedarf für Geld. Die Scheine häuften sich in der Schublade, in der er seine Briefe aus der Heimat aufbewahrte und den Zündkapseleinsetzer. Wenn er irgend etwas davon nahm, dann für Ankäufe aus dem Botanischen Garten in Calcutta, oder um der Witwe eines Jägers eine Summe zu zahlen, die die Regierung Indiens niemals für den Tod ihres Mannes bewilligt hätte. Zahlungen waren dann gut, aber Rache war ebenfalls nötig, und die nahm er, wann er konnte. In einer Nacht unter vielen kam ein Läufer zu ihm, atemlos und keuchend, mit der Nachricht, daß ein Waldhüter tot beim Kanye-Fluß liege, den Schädel seitlich eingeschlagen, als ob er eine Eierschale gewesen wäre. Gisborne brach im Morgengrauen auf, um nach dem Mörder zu suchen. Nur Reisende und ab und an junge Soldaten werden der Welt als große Jäger bekannt. Forstbeamte erledigen ihren shikar als Teil ihrer Tagesarbeit und niemand erfährt davon. Gisborne ging zu Fuß zum Ort des Tötens: die Witwe wehklagte über dem Leichnam, der auf einer Bahre lag, während zwei oder drei Männer Fußabdrücke im feuchten Boden betrachteten. »Das war der Rote«, sagte ein
Mann. »Ich wußte, daß er eines Tages auf Menschen gehen würde, aber selbst für ihn gibt es noch genügend Wild. Das geschah aus reiner Teufelei.« »Der Rote haust in den Felsen hinter den Bäumen«, sagte Gisborne. Er kannte den Tiger unter Verdacht. »Jetzt nicht, Sahib, nicht jetzt. Jetzt wird er toben und hin und her jagen. Bedenke, daß das erste Töten immer ein dreifaches Töten ist. Unser Blut macht sie toll. Er könnte hinter uns sein, während wir jetzt reden.« »Er könnte zur nächsten Hütte gegangen sein«, sagte ein anderer. »Das sind nur vier kos. Wallah, wer ist das?« Gisborne wandte sich mit den anderen um. Ein Mann kam das trockene Flußbett herab, nackt bis auf den Lendenschurz, aber mit einem Kranz aus den hängenden Blüten der weißen Winde bekrönt. So lautlos bewegte er sich über die kleinen Kiesel, daß selbst der an die Leichtfüßigkeit der Fährtensucher gewohnte Gisborne zusammenfuhr. »Der Tiger, der tötete«, begann er ohne jeden Gruß, »ist trinken gegangen und liegt jetzt schlafend unter einem Felsen hinter diesem Berg.« Seine Stimme war klar und glockenreich, ganz verschieden von dem üblichen Genäsel der Einheimischen, und als er sein Gesicht in den Sonnenschein hob, hätte es das eines in die Wälder verirrten Engels sein können. Die Witwe stellte ihr Wehklagen über dem Leichnam ein und starrte den Fremden rundäugig an, um dann mit verdoppelter Kraft zu ihrer Pflicht zurückzukehren. »Soll ich ihn dem Sahib zeigen?« fragte er einfach. »Wenn Du sicher bist – «, begann Gisborne. »Ganz sicher. Vor einer Stunde erst habe ich ihn gesehen – den Hund. Zu früh ist es für ihn, Menschenfleisch zu essen. Noch hat er ein Dutzend gesunde Zähne in seinem bösen Kopf.«
Die Männer, die über den Fußabdrücken knieten, verdrückten sich still, aus Angst, daß Gisborne sie aufforderte mit ihm zu gehen, und der junge Mann lachte leise vor sich hin. »Komm, Sahib«, rief er, und wandte sich auf dem Absatz um und schritt vor seinem Gefährten einher. »Nicht so schnell. Da kann ich nicht Schritt halten«, sagte der weiße Mann. »Bleib stehen. Dein Gesicht ist mir neu.« »Das kann sein. Ich bin erst neu in diesen Wald gekommen.« »Aus welchem Dorf?« »Ich bin ohne Dorf. Ich kam von dort.« Er streckte den Arm Richtung Norden aus. »Ein Zigeuner also?« »Nein, Sahib. Ich bin ein Mann ohne Kaste, und übrigens auch ohne Vater.« »Wie nennen die Menschen Dich?« »Mowgli, Sahib. Und was ist der Name des Sahib?« »Ich bin der Hüter dieses rukh – Gisborne ist mein Name.« »Wie? Zählt man hier die Bäume und die Grashalme?« »So ist es; damit solche Streuner wie Du sie nicht in Brand setzen.« »Ich! Ich würde um nichts in der Welt den Dschungel verletzen. Er ist mein Zuhause.« Er wandte sich mit einem unwiderstehlichen Lächeln zu Gisborne um und hielt warnend die Hand hoch. »Jetzt, Sahib, müssen wir ein wenig leise gehen. Es ist nicht nötig, den Hund zu wecken, wenn er auch tief genug schläft. Vielleicht wäre es besser, wenn ich alleine vorwärts ginge und ihn mit dem Wind dem Sahib zutriebe.« »Allah! Seit wann werden Tiger von nackten Männern hin und her getrieben wie Vieh?« sagte Gisborne, bestürzt ob der Verwegenheit des Mannes.
Wieder lachte er leise. »Nun gut, dann komme mit mir und schieße ihn auf Deine eigene Weise mit dem großen englischen Gewehr.« Gisborne folgte seinem Führer auf den Fersen, drehte sich, kroch, und klomm und bückte sich, und durchlitt all die Qualen einer Dschungelpirsch. Er war purpurrot und troff von Schweiß, als Mowgli ihn endlich aufforderte, den Kopf zu heben und über einen blauen sonnengebackenen Felsen nahe einem kleinen Bergteich zu schauen. Am Wasser lag der Tiger lässig ausgestreckt und leckte träge sein riesiges Kniegelenk und die Vordertatze sauber. Er war alt, gelbzahnig und reichlich räudig, aber in dieser Umgebung und im Sonnenschein beeindruckend genug. Gisborne hatte keine falschen Vorstellungen von Sportlichkeit, wenn es um einen Menschenfresser ging. Dieses Ding war Ungeziefer und mußte so schnell wie möglich getötet werden. Er wartete, um wieder zu Atem zu kommen, stützte die Büchse auf den Felsen und pfiff. Der Kopf der Bestie drehte sich langsam, kaum zwanzig Fuß von der Mündung entfernt, und Gisborne setzte seine Schüsse geschäftsmäßig, einen hinter die Schulter und den anderen ein bißchen unterhalb des Auges. Auf diese Entfernung waren die schweren Knochen kein Schutz gegen die reißenden Kugeln. »Na ja, das Fell lohnte sich sowieso nicht mehr«, sagte er, als der Rauch sich verzog und die Bestie im letzten Todeskampf umherpeitschend und keuchend dalag. »Ein Hundetod für einen Hund«, sagte Mowgli ruhig. »An diesem Aas ist nichts wert, mitgenommen zu werden.« »Die Barthaare. Nimmst Du die Barthaare nicht?« fragte Gisborne, der wußte, wie Jäger solche Dinge schätzten. »Ich? Bin ich ein lausiger Dschungel-shikarri, daß ich mich mit einem Tigermaul abgäbe? Laß ihn liegen. Hier kommen seine Freunde schon.«
Ein herabstürzender Geier pfiff schrill über ihnen, während Gisborne die leeren Hülsen auswarf und sich das Gesicht abwischte. »Und wenn Du kein shikarri bist, wo lerntest Du dann Dein Wissen vom Tigervolk?« fragte er. »Kein Fährtensucher hätte es besser machen können.« »Ich hasse alle Tiger«, sagte Mowgli knapp. »Es gebe der Sahib mir sein Gewehr zu tragen. Arre , das ist ein sehr feines. Und wohin geht der Sahib jetzt?« »Nach Hause.« »Darf ich mitkommen? Noch nie habe ich in das Haus eines weißen Mannes geschaut.« Gisborne kehrte zu seinem Bungalow zurück, Mowgli schritt lautlos vor ihm hin, seine braune Haut glänzte im Sonnenlicht. Neugierig starrte er auf die Veranda und die beiden Sessel dort, befingerte mißtrauisch die Rollvorhänge aus gespaltenem Bambus, und trat ein, immer wieder rückwärts blickend. Gisborne löste einen Vorhang, um die Sonne auszuschließen. Er fiel klappernd nieder, doch fast noch ehe er die Verandafliesen berührte, war Mowgli fortgesprungen und stand schwer atmend im Freien. »Das ist eine Falle«, sagte er rasch. Gisborne lachte. »Weiße Männer stellen Menschen keine Fallen. Du bist wirklich ganz aus dem Dschungel.« »Ich sehe«, sagte Mowgli, »daß es weder Haken noch Fallriegel hat. Ich – ich habe diese Dinge bis heute nie gesehen.« Er kam auf Zehenspitzen herein und starrte mit großen Augen auf die Möbel in den beiden Räumen. Abdul Gafur, der das Mittagessen auftrug, musterte ihn mit tiefem Abscheu. »So viele Mühen, um zu essen, und so viele Mühen, um sich niederzulegen, nachdem man gegessen hat«, sagte Mowgli mit einem Grinsen. »Wir machen es im Dschungel besser. Es ist
sehr wunderbar. Hier gibt es viele reiche Dinge. Hat der Sahib nicht Angst, daß er beraubt werde? Nie zuvor habe ich so wunderbare Dinge gesehen.« Er starrte auf eine staubige Messingplatte aus Benares auf einer wackligen Konsole. »Nur ein Dschungeldieb würde hier rauben«, sagte Abdul Gafur und setzte klappernd einen Teller nieder. Mowgli öffnete seine Augen sehr weit und starrte den weißbärtigen Muslim an. »Wenn in meinem Land Ziegen sehr laut blöken, schneiden wir ihnen die Kehle durch«, entgegnete er fröhlich. »Aber Du fürchte nichts. Ich gehe schon.« Er wandte sich um und verschwand im rukh. Gisborne sah ihm mit einem Lachen nach, das in einem kleinen Seufzer endete. Es gab nicht viel außerhalb seiner normalen Arbeit, was den Forstbeamten interessierte, und dieser Sohn der Wälder, der Tiger zu kennen schien wie andere Menschen Hunde, wäre eine Abwechslung gewesen. »Ein ganz prächtiger Bursche«, dachte Gisborne; »wie die Illustrationen im Klassischen Wörterbuch. Ich wünschte, ich hätte ihn zum Gewehrboy machen können. Macht keinen Spaß, allein auf shikar zu gehen, und der Kerl hätte einen perfekten shikarri abgegeben. Ich frage mich bloß, was um alles in der Welt er ist.« An diesem Abend saß er auf der Veranda rauchend unter den Sternen und staunte. Eine Rauchwolke kräuselte sich aus dem Pfeifenkopf. Als sie sich verzog, bemerkte er Mowgli, der mit gekreuzten Armen auf dem Rand der Veranda saß. Ein Geist hätte nicht leiser heranwehen können. Gisborne fuhr zusammen und ließ die Pfeife fallen. »Da ist niemand im rukh, mit dem man reden kann«, sagte Mowgli; »deshalb bin ich hergekommen.« Er hob die Pfeife auf und gab sie Gisborne zurück.
»Oh«, sagte Gisborne, und nach einer langen Pause: »Was gibt es Neues im rukh? Hast Du einen anderen Tiger gefunden?« »Die nilghai wechseln ihre Weidegründe zum neuen Mond hin, wie es ihre Sitte ist. Die Schweine fressen jetzt nahe dem Kanye-Fluß, weil sie nicht bei den nilghai fressen wollen, und eine ihrer Sauen wurde von einem Leoparden im hohen Gras an der Flußmündung getötet. Mehr weiß ich nicht.« »Und woher weißt Du all diese Dinge?« fragte Gisborne, der sich vorlehnte und in die Augen blickte, die im Sternenlicht funkelten. »Wie sollte ich nicht wissen? Der nilghai hat seine Sitten und Gebräuche, und jedes Kind weiß, daß Schweine nicht mit ihm zusammen fressen.« »Ich wußte das nicht«, sagte Gisborne. »Tck! Tck! Und Dir ist – erzählen mir die Männer in den Hütten –, Dir ist dieser ganze rukh anvertraut.« Er lachte vor sich hin. »Es ist leicht, zu schwatzen und Kindermärchen zu erzählen«, erwiderte Gisborne, den das Kichern reizte. »Zu sagen, daß dieses und jenes im rukh vor sich gehe. Kein Mensch kann Dich widerlegen.« »Was den Kadaver der Sau angeht, so werde ich Dir morgen ihre Knochen zeigen«, antwortete Mowgli völlig ungerührt. »Zu den nilghai – wenn der Sahib hier ganz stillsitzen will, werde ich einen nilghai hertreiben, und wenn er sorgsam auf die Geräusche achtet, wird der Sahib erkennen, woher der nilghai getrieben ward.« »Mowgli, der Dschungel hat Dich verrückt gemacht«, sagte Gisborne. »Wer kann nilghai treiben?« »Still – dann sitz still. Ich gehe.« »O Gott, der Mann ist ein Geist!« sagte Gisborne; denn Mowgli war in die Dunkelheit geschwunden und da war kein
Geräusch von Füßen. Der rukh lag in großen samtenen Falten im Ungewissen Schimmer des Sternenstaubes – so still, daß der winzigste wandernde Wind zwischen den Baumwipfeln herüberklang wie das Seufzen eines ruhig schlafenden Kindes. Abdul Gafur klapperte im Kochhaus mit Tellern. »Ruhe da!« schrie Gisborne und sammelte sich, um zu lauschen, wie das ein Mann kann, der an die Stille des rukh gewöhnt ist. Es war seine Gewohnheit, um in dieser Einsamkeit seine Selbstachtung zu wahren, sich jeden Abend zum Abendessen umzuziehen, und die steife weiße Hemdenbrust knarrte zu seinem regelmäßigen Atmen, bis er sich etwas zur Seite lehnte. Dann begann der Tabak in einer nicht besonders guten Pfeife zu schmurgeln, und er warf die Pfeife weg. Nun war abgesehen vom Nachtatem des rukh alles stumm. Aus einer unvorstellbaren Entfernung, und durch das unmeßbare Dunkel gedehnt, kam der schwache, schwache Widerhall eines Wolfsgeheuls. Dann wieder Schweigen, es schien für lange Stunden. Schließlich, als seine Beine unterhalb der Knie schon alles Gefühl verloren hatten, hörte Gisborne etwas wie ein Krachen weit weg im Unterholz. Er zweifelte, bis es sich wiederholte, und erneut wiederholte. »Das kommt von Westen«, murmelte er; »irgendwas ist da unterwegs.« Der Lärm wuchs – Krachen um Krachen, Sprung um Sprung – mit dem dicken Grunzen eines scharf gehetzten nilghai, der in panischer Furcht floh und nicht auf seinen Weg achtete. Ein Schatten polterte zwischen den Baumstämmen hervor, wirbelte zurück, wandte sich grunzend erneut um und schoß mit einem Trappeln auf den kahlen Boden vor bis fast in die Reichweite seiner Hand. Es war ein nilghai-Bulle, der von Tau troff – vom Widerrist hing eine zerfetzte Schleppe aus Schlingpflanzen, die Augen leuchteten im Licht aus dem Haus.
Das Geschöpf stutzte beim Anblick des Mannes und floh dann am Rande des rukh entlang, bis es in die Dunkelheit schmolz. Der erste Gedanke in Gisbornes verwirrtem Gehirn war, daß es unanständig sei, den großen blauen Bullen so zur Inspektion aus dem rukh zu zerren – ihn so die Dressur gehen zu lassen in einer Nacht, die eigentlich ihm hätte gehören sollen. Dann sagte eine weiche Stimme neben seinem Ohr, während er noch immer vor sich hinstarrte: »Er kam von der Wassermündung, wohin er die Herde führte. Von Westen kam er. Glaubt der Sahib jetzt, oder soll ich die Herde herbringen, daß sie gezählt werde? Dem Sahib ist dieser rukh ja anvertraut.« Mowgli hatte sich wieder auf die Veranda gehockt, er atmete ein wenig schneller. Gisborne sah ihn mit offenem Munde an. »Wie ist das geschehen?« fragte er. »Der Sahib sah. Der Bulle wurde getrieben – getrieben wie ein Büffel. Ho! ho! Er wird eine feine Geschichte zu erzählen haben, wenn er zur Herde zurückkehrt.« »Das ist für mich ein neuer Trick. Kannst Du denn so schnell laufen wie ein nilghai?« »Der Sahib hat es gesehen. Wenn der Sahib irgendwann mehr Wissen über die Bewegungen des Wildes braucht, ich, Mowgli, bin da. Dies ist ein guter rukh, und ich bleibe.« »So bleib, und wenn Du irgendwann eine Mahlzeit brauchst, werden Dir meine Diener eine geben.« »Doch ja, ich mag gekochtes Essen«, antwortete Mowgli rasch. »Niemand sage, daß ich nicht Gekochtes und Gebratenes esse wie jeder andere Mann. Ich werde zu diesem Essen kommen. Nun aber will ich für meinen Teil versprechen, daß der Sahib sicher schlafen soll in seinem Haus zur Nacht und daß kein Dieb einbricht, ihm seine so reichen Schätze fortzuschleppen.«
Das Gespräch endete von selbst durch Mowglis plötzlichen Aufbruch. Gisborne saß lange rauchend da, und das Ergebnis seiner Gedanken war, daß er in Mowgli endlich den idealen Jäger und Waldhüter gefunden habe, nach dem die Abteilung und er ständig suchten. »Irgendwie muß ich ihn zum Regierungsdienst kriegen. Ein Mann, der nilghai treiben kann, weiß mehr über den rukh als fünfzig Männer. Er ist ein Wunder – ein lusus naturae –, aber Waldhüter muß er werden, wenn er sich nur irgendwo fest niederlassen will«, sagte Gisborne. Abdul Gafurs Meinung war weniger günstig. Er vertraute Gisborne zur Schlafenszeit an, daß Fremde von Gottweißwo mit großer Wahrscheinlichkeit berufsmäßige Diebe seien und daß er persönlich nackte Kastenlose mißbillige, die sich Weißen gegenüber nicht geziemend zu benehmen wüßten. Gisborne lachte und schickte ihn in sein Quartier, und Abdul Gafur zog sich grollend zurück. Später in der Nacht fand er Gelegenheit, sich zu erheben und seine dreizehnjährige Tochter zu verprügeln. Niemand wußte den Grund für den Streit, aber Gisborne hörte das Geschrei. Während der folgenden Tage kam Mowgli und ging wie ein Schatten. Er hatte sich und seinen wilden Haushalt nahe dem Bungalow, aber am Rande des rukh eingerichtet, wo Gisborne, wenn er um einen Atemzug kühler Luft auf die Veranda trat, ihn manchmal im Mondlicht sitzen sah, die Stirn auf den Knien oder ausgestreckt auf einem Ast, an ihn geschmiegt wie ein Nachtgetier. Von dort warf ihm Mowgli dann einen Gruß zu und sagte ihm, er möge in Ruhe schlummern, oder er stieg herab und wob wundersame Geschichten aus dem Leben der Tiere im rukh. Einmal wanderte er in die Ställe und ward entdeckt, wie er mit großem Interesse die Pferde betrachtete. »Das«, sagte Abdul Gafur spitz, »ist ein sicheres Zeichen, daß er eines Tages eins stehlen wird. Warum nimmt er, wenn
er schon nahe am Hause lebt, keine ehrliche Beschäftigung an? Doch nein, er muß hin und her wandern wie ein losgerissenes Kamel, den Narren die Köpfe verdrehen und den Unweisen die Mäuler für Torheiten öffnen.« Also gab Abdul Gafur Mowgli scharfe Befehle, wenn sie sich begegneten, ließ ihn Wasser holen und Geflügel rupfen, und Mowgli gehorchte gleichmütig lachend. »Er ist kastenlos«, sagte Abdul Gafur. »Er kann alles tun. Achte darauf, Sahib, daß er nicht zuviel tut. Eine Schlange ist eine Schlange, und ein Dschungelzigeuner ein Dieb bis zum Tode.« »Schweig endlich«, sagte Gisborne. »Ich erlaube Dir, Deinen eigenen Haushalt in Ordnung zu halten, wenn das ohne zuviel Geräusch abgeht, denn ich kenne Deine Sitten und Gebräuche. Meine Sitten kennst Du nicht. Der Mann ist zweifellos ein bißchen verrückt.« »Wirklich ganz ein bißchen verrückt«, sagte Abdul Gafur. »Aber wir werden ja sehen, was daraus entsteht.« Einige Tage später führte seine Arbeit Gisborne auf drei Tage in den rukh. Abdul Gafur, der alt und fett war, wurde zu Hause gelassen. Er billigte es nicht, sich in Jägerhütten niederzulegen, und neigte dazu, im Namen seines Herren von denen Tribut an Getreide und Öl und Milch einzutreiben, die sich solche Wohltätigkeit kaum leisten konnten. Gisborne ritt im frühen Morgengrauen ab, ein wenig verärgert, daß sein Mann aus den Wäldern nicht an der Veranda war, ihn zu begleiten. Er mochte ihn – liebte seine Kraft und seine Schnelligkeit, seine Lautlosigkeit und sein stets bereites offenes Lächeln; seine Unkenntnis aller Zeremonien und Grußformen, und seine kindlichen Geschichten (die Gisborne nun glaubte), was das Wild im rukh treibe. Nach einer Stunde Ritt durchs Laub hörte er ein Rascheln hinter sich, und Mowgli trabte neben seinem Steigbügel.
»Wir haben eine Dreitagesarbeit vor uns«, sagte Gisborne, »bei den neuen Bäumen.« »Gut«, sagte Mowgli. »Es ist immer gut, junge Bäume zu hegen. Sie geben Schutz, wenn die Tiere sie alleinlassen. Wir müssen wieder die Schweine verschieben.« »Wieder? Wie?« Gisborne lächelte. »Oh, sie haben letzte Nacht unter den jungen sal gewühlt und herumgestöbert, und ich habe sie vertrieben. Deshalb kam ich heute Morgen nicht zur Veranda. Die Schweine sollten überhaupt nicht auf dieser Seite des rukh stehen. Wir müssen sie unterhalb der Mündung des Kanye-Flusses halten.« »Wenn ein Mann Wolken treiben könnte, könnte er auch das tun; aber, Mowgli, wenn Du, wie Du sagst, Hirte im Wald bist ohne Gewinn und ohne Lohn – « »Es ist der rukh des Sahib«, sagte Mowgli und blickte schnell auf. Gisborne dankte mit einem Nicken und fuhr fort: »Wäre es nicht besser, für Lohn von der Regierung zu arbeiten? Am Ende eines langen Dienstes gibt es eine Pension.« »Daran habe ich schon gedacht«, sagte Mowgli. »Aber die Jäger leben in Hütten mit geschlossenen Türen, und all das ist für mich viel zu sehr Falle. Doch denke ich – « »Dann denke richtig und sag es mir später. Hier wollen wir fürs Frühstück bleiben.« Gisborne stieg ab, nahm sein Morgenmahl aus den selbstgemachten Satteltaschen, und sah den Tag sich heiß über dem rukh öffnen. Mowgli lag neben ihm im Gras und starrte hinauf zum Himmel. Plötzlich sagte er mit einem trägen Flüstern: »Sahib, gibt es beim Bungalow einen Befehl, heute die weiße Stute herauszuholen?« »Nein, sie ist fett und alt und außerdem ein bißchen lahm. Warum?« »Sie wird gerade, und nicht langsam, auf der Straße geritten, die zur Eisenbahnlinie führt.«
»Bah, das ist zwei kos entfernt. Es ist sicher ein Specht.« Mowgli hob seinen Vorderarm, um sich die Sonne aus den Augen zu halten. »Die Straße biegt vom Bungalow aus in einer weiten Kurve her. Es ist höchstens ein kos, wie der Geier fliegt; und Klang fliegt wie Vögel. Wollen wir sehen?« »Verrückt! In dieser Sonne ein kos weit laufen, um ein Geräusch im Wald zu sehen.« »Nun, das Pony ist des Sahibs Pony. Ich wollte es nur herbringen. Wenn es nicht des Sahibs Pony ist, spielt es keine Rolle. Wenn doch, kann der Sahib tun, was er will. Es wird auf jeden Fall scharf geritten.« »Und wie willst Du es herbringen, Verrückter?« »Hat der Sahib vergessen? Auf dem Weg des nilghai, und nicht anders.« »Dann auf und lauf, wenn Du so voller Eifer bist.« »Oh, ich laufe nicht!« Er streckte die Hand aus als Zeichen zu schweigen, und ruhig auf dem Rücken liegend rief er dreimal laut – mit einem tiefen gurgelnden Schrei, der Gisborne neu war. »Es wird kommen«, sagte er schließlich. »Wir wollen im Schatten warten.« Die langen Augenwimpern sanken über die wilden Augen, als Mowgli in der Morgenstille zu dösen begann. Gisborne wartete geduldig: Mowgli war sicherlich verrückt, aber so unterhaltsam als Gefährte, wie es sich ein einsamer Forstbeamter nur wünschen konnte. »Ho! ho!« sagte Mowgli träge mit geschlossenen Augen. »Er ist heruntergefallen. Also, zuerst wird die Stute kommen, und dann der Mann.« Dann gähnte er, als Gisbornes Ponyhengst wieherte. Drei Minuten später kam Gisbornes weiße Stute, mit Sattel und Zaumzeug aber reiterlos, in die Lichtung gejagt, in der sie saßen, und stürmte zu ihrem Gefährten.
»Sie ist nicht sehr erhitzt«, sagte Mowgli, »aber in dieser Hitze kommt der Schweiß leicht. Gleich werden wir ihren Reiter sehen, denn ein Mann geht langsamer als ein Pferd – vor allem, wenn er zufällig ein fetter Mann und alt ist.« »Allah! Dies ist das Werk des Teufels«, rief Gisborne und sprang auf die Füße, denn er hörte einen Schrei im Dschungel. »Sorge Dich nicht, Sahib. Er wird nicht verletzt werden. Auch er wird sagen, das sei das Werk des Teufels. Ah! Höre! Wer ist das?« Es war die Stimme von Abdul Gafur, der in Todesangst unbekannte Dinge anflehte, ihn und seine grauen Haare zu schonen. »Nein, ich kann keinen Schritt weiter«, heulte er. »Ich bin alt und mein Turban ist verloren. Arre! Arre! Ich will ja weitergehen. Ich werde sogar eilen. Ich werde rennen! O Teufel aus der Höllengrube, ich bin ein Muslim!« Das Unterholz teilte sich und entließ Abdul Gafur, turbanlos, schuhlos, die Hüftschärpe gelöst, Lehm und Gras in seinen verkrampften Händen, und das Gesicht purpurrot. Er sah Gisborne, schrie wieder auf und stürzte vornüber, erschöpft und bebend, vor seine Füße. Mowgli beobachtete ihn mit einem milden Lächeln. »Das ist kein Spaß«, sagte Gisborne streng. »Der Mann könnte sterben, Mowgli.« »Er wird nicht sterben. Er hat nur Angst. Es war nicht nötig, daß er zu einem Spaziergang herkam.« Abdul Gafur stöhnte und erhob sich, an allen Gliedern zitternd. »Das war Zauberei – Zauberei und Teufelei!« schluchzte er und tastete mit der Hand nach seiner Brust. »Wegen meiner Sünden wurde ich von Teufeln durch den Wald gepeitscht. Alles ist aus. Ich bereue. Nimm sie, Sahib!« Er hielt eine Rolle schmierigen Papiers hin.
»Was soll das bedeuten, Abdul Gafur?« fragte Gisborne, der bereits wußte, was kommen würde. »Wirf mich in den Kerker – die Geldscheine sind alle hier –, aber schließ mich fest ein, damit keine Teufel hineinkönnen. Ich habe wider den Sahib gesündigt und sein Salz, das ich gegessen habe; und ohne diese verfluchten Walddämone hätte ich mir weit fort Land gekauft und in Frieden gelebt all meine Tage.« Er schlug den Kopf in qualvoller Verzweiflung und Zerknirschung auf den Boden. Gisborne drehte das Bündel Scheine hin und her. Es war sein angesammeltes Gehalt der letzten neun Monate – das Bündel, das in der Schublade bei den Briefen von daheim und dem Zündkapseleinsetzer gelegen hatte. Mowgli beobachtete Abdul Gafur und lachte lautlos vor sich hin. »Es ist nicht nötig, mich wieder auf das Pferd zu setzen. Ich werde langsam mit dem Sahib nach Hause wandern, und dann kann er mich unter Bewachung in den Kerker schicken. Die Regierung gibt für dieses Vergehen viele Jahre«, sagte der Butler düster. Die Einsamkeit im rukh wirkt auf sehr viele Gedanken über sehr viele Dinge ein. Gisborne starrte Abdul Gafur an, bedachte, daß er ein ausgezeichneter Diener war und daß einem neuen Butler die Sitten des Hauses ganz von vorn beigebracht werden müßten, und daß es bestenfalls ein neues Gesicht und eine neue Zunge wäre. »Hör zu, Abdul Gafur«, sagte er. »Du hast großes Unrecht getan und Dein izzat und Deinen Ruf vollständig verloren. Doch ich glaube, daß Dich das plötzlich überkam.« »Allah! Nie zuvor habe ich diese Scheine begehrt. Der Böse packte mich bei der Kehle, während ich hinschaute.« »Auch das kann ich glauben. Gehe also zurück zu meinem Haus, und wenn ich wiederkomme, werde ich die Scheine durch einen Läufer zur Bank bringen lassen, und nichts wird
mehr gesagt werden. Du bist zu alt für den Kerker. Und Dein Haushalt ist unschuldig.« Als Antwort schluchzte Abdul Gafur zwischen Gisbornes rindsledernen Reitstiefeln. »So gibt es keine Entlassung?« stieß er hervor. »Das werden wir sehen. Das hängt von Deinem Verhalten ab, wenn wir zurückkehren. Steig auf die Stute und reite langsam zurück.« »Aber die Teufel! Der rukh ist voller Teufel.« »Unwichtig, mein Vater. Sie werden Dir kein Leid zufügen, es sei denn, daß des Sahibs Befehle nicht befolgt würden«, sagte Mowgli. »Dann jedoch könnten sie Dich heimhetzen – auf dem Weg des nilghai.« Abdul Gafurs Unterkiefer klappte herab, während er seine Hüftschärpe zurechtzog und Mowgli anstarrte. »Sind das seine Teufel? Seine Teufel! Und ich hatte vor, zurückzukehren und diesem Hexer die Schuld anzulasten!« »Das war gut ausgedacht, Huzrut; aber ehe wir eine Falle machen, schauen wir erst nach, wie groß das Wild ist, das hineinstürzen soll. Nun hatte ich nichts anderes gedacht, als daß ein Mann eines der Pferde des Sahib genommen habe. Ich wußte nicht, daß der Plan war, mich in den Augen des Sahib zum Dieb zu machen, sonst hätten meine Teufel Dich an den Beinen hergeschleift. Dazu ist es noch nicht zu spät.« Mowgli schaute Gisborne fragend an; aber Abdul Gafur watschelte hastig zur weißen Stute, kroch hinauf und floh, daß die Waldwege hinter ihm krachten und widerhallten. »Wohl getan«, sagte Mowgli. »Aber er wird wieder herabfallen, wenn er sich nicht an der Mähne festhält.« »Nun ist es an der Zeit, mir zu erzählen, was diese Dinge bedeuten«, sagte Gisborne mit leichter Strenge. »Was ist dieses Gerede von Deinen Teufeln? Wie kann man im rukh Menschen hin und her hetzen wie Vieh? Antworte.«
»Ist der Sahib ärgerlich, weil ich ihm sein Geld gerettet habe?« »Nein, sondern weil da Trickwerk ist, das mir nicht gefällt.« »Nun gut. Wenn ich jetzt aufstünde und drei Schritte in den rukh träte, könnte niemand, nicht einmal der Sahib, mich finden, wenn ich nicht wollte. Wie ich das nicht gerne täte, so würde ich auch nicht gern davon erzählen. Habe ein bißchen Geduld, Sahib, und eines Tages werde ich Dir alles zeigen, denn wenn Du willst, werden wir eines Tages den Bock miteinander treiben. Da ist kein Teufelswerk in der ganzen Sache. Nur… ich kenne den rukh wie ein Mann die Kochstelle in seinem Haus kennt.« Mowgli sprach, als spräche er zu einem ungeduldigen Kind. Gisborne, der verwirrt und verblüfft und reichlich verärgert war, sagte nichts, sondern starrte auf den Boden und dachte nach. Als er aufschaute, war der Mann aus dem Wald gegangen. »Es ist nicht gut«, sagte eine gleichmütige Stimme aus dem Dickicht, »wenn Freunde aufeinander ärgerlich sind. Warte bis zum Abend, Sahib, wenn die Luft abkühlt.« So sich selbst überlassen, gleichsam im Herzen des rukh ausgesetzt, fluchte Gisborne, dann lachte er, bestieg sein Pony und ritt weiter. Er besuchte die Hütte eines Jägers, sah sich ein paar neue Anpflanzungen an, hinterließ einige Anweisungen über das Abbrennen einer Fläche trockenen Grases und machte sich nach einem Lagerplatz seiner eigenen Wahl auf den Weg, einem Haufen zersplitterter Felsen unter einem groben Schutzdach aus Zweigen und Blättern, nicht weit vom Ufer des Kanye-Flusses. Zwielicht war, als er in Sicht seines Rastplatzes kam, und der rukh erwachte zum stillen gefräßigen Leben der Nacht. Ein Lagerfeuer flackerte auf dem Hügel, und der Duft eines sehr guten Abendessens war im Wind.
»Hm«, sagte Gisborne, »das ist auf jeden Fall besser als kaltes Fleisch. Nun ist der einzige Mann, der hier sein könnte, Müller, und da er offiziell den rukh von Changamanga inspizieren sollte, dürfte das der Grund sein, weshalb er auf meinem Territorium ist.« Der riesige Deutsche, der das Oberhaupt aller Wälder und Forsten ganz Indiens war, der oberste Jäger von Burma bis Bombay, hatte die Angewohnheit, wie eine Fledermaus ohne Warnung von einem Ort zum anderen zu flitzen und genau da aufzutauchen, wo man ihn am wenigsten erwartete. Nach seiner Theorie waren plötzliche Kontrollbesuche, die Entdeckung von Mängeln und ein mündliches Zusammenstauchen eines Untergebenen unendlich viel besser als der langsame Prozeß des Schriftwechsels, der mit einem schriftlichen und offiziellen Tadel enden mochte – einer Sache, die in späteren Jahren gegen die Leistungen eines Forstbeamten aufgerechnet werden könnte. Er erklärte das so: »Wenn ich mit meinen Jungs rede wie n guter alter Onkel, denn sagense: ›War man bloß der olle verdammte Müller‹, und machens beim nächsten Mal besser. Aber wenn mein Strohkopp von Schreiber schreibt, daß der Generalinspektor Müller nich zu begreifen vermag und äußerst verärgert is, denn kommt erstens nischt dabei rum, weil ich nich da bin, un zweitens kommt nach mir n Narr, der denn zu meinen besten Jungs sagen kann: ›Nu gugge da, mein Vorgänger hat Euch verdroschen.‹ Ich sage Ihnen, so ‘n hochfeierlichet Jetue macht keene Bäume wachsen.« Müllers tiefe Stimme kam aus der Dunkelheit hinter dem Feuer, als er sich über die Schulter seines Lieblingskochs beugte: »Nicht so viel Sauce, Du Sohn Belials! Worcestersauce ist Würze und nicht Brühe. Ah, Gisborne, Sie komm zu nem lausigen Abendessen. Wo is Ihr Lager?« und er kam herüber zum Händeschütteln.
»Ich bin das Lager, Sir«, sagte Gisborne. »Ich wußte nicht, daß Sie hier sind.« Müller musterte die schlanke Gestalt des jungen Mannes. »Gut! Das is sehr gut! Ein Pferd und n paar kalte Bissen. Als ich jung war, machte ich’s mit meim Lager genauso. Nu müssense mit mir essen. Letzten Monat war ich im Hauptquartier, um mein n Bericht zu schreiben. Ich hab ihn halb geschrieben – ha! ha! – und den Rest hab ich meinen Schreibern überlassen un bin raus gekomm für n Spaziergang. Die Regierung is ja verrückt mit diese Berichte. Hab ich dem Vizekönig in Simla auch gesagt.« Gisborne kicherte, als er an die vielen Geschichten dachte, die über Müllers Konflikte mit der Obersten Regierung erzählt wurden. Er hatte bei allen Ämtern den Freibrief der Aufsässigkeit, denn als Forstbeamter hatte er nicht seinesgleichen. »Wenn ich Sie in Ihrem Bungalow finde, Gisborne, wie Se Berichte an mich ausbrüten über Ihre Anpflanzungen, statt de Pflanzungen abzureiten, werd ich Se mitten in die BikaneerWüste versetzen, um die aufzuforsten. Ich bin krank von Berichten und Papierfresserei, wo wir Arbeit zu tun haben.« »Keine Gefahr, daß ich meine Zeit mit Jahresberichten vertue. Ich hasse die genau so wie Sie, Sir.« Damit wandte sich das Gespräch Berufsfragen zu. Müller hatte einige Fragen zu stellen und Gisborne Anweisungen und Hinweise zu empfangen, bis das Abendessen fertig war. Es war das kultivierteste Essen, das Gisborne seit Monaten gegessen hatte. Keine Entfernung von den Nachschubbasen durfte die Arbeit von Müllers Koch beeinträchtigen; und jene in der Wildnis zubereitete Tafel begann mit scharfen kleinen Süßwasserfischen und endete mit Kaffee und Cognac. »Ah!« sagte Müller schließlich mit einem Seufzer der Befriedigung, entzündete eine Zigarre und ließ sich in seinen
arg abgenutzten Feldstuhl fallen. »Wenn ich Berichte schreibe, bin ich Freidenker und Atheist, aber hier im rukh bin ich mehr als nur Christ. Bin ich auch Heide.« Er rollte den Zigarrenstummel genießerisch unter der Zunge, ließ die Hände auf die Knie fallen und starrte vor sich hin in das vage wiegende Herz des rukh voller verstohlener Geräusche; das Knacken von Zweigen wie das Knacken des Feuers hinter ihm; das Seufzen und Knistern eines von der Hitze gebeugten Astes, der sich in der Kühle der Nacht wieder gerade reckte; das ununterbrochene Gemurmel des Kanye-Flusses und der Unterton des vielvölkigen höhergelegenen Graslandes, das jenseits einer Hügelkette außer Sicht lag. Er blies eine dichte Rauchwolke aus und begann, sich Heine zu zitieren. »Ja, das ist sehr gut. Sehr gut. ›Ja ich tue Wunder, und bei Gott, sie werden auch noch wahr.‹ Ich erinnere mich, als es noch keinen rukh gab, der höher als Ihr Knie gewesen wäre, von hier bis zum Ackerland, und in der Trockenzeit fraßen de Rinder überall de Knochen von de toten Rinder. Nu sind de Bäume zurückgekommen. N Freidenker hat se gepflanzt, weil er weiß, daß de Ursache de Wirkung macht. Aber de Bäume brauchen den Kult mit de alten Götter – ›und der Christen Götter heulen laut‹. Die könn n nich im rukh leben, Gisborne.« Ein Schatten bewegte sich auf einem der Saumpfade – bewegte sich und trat heraus ins Sternenlicht. »Ich hab’s ja gesagt. Psst! Hier kommt Faunus höchstselbst zum Generalinspektor. Himmel, das ist der Gott! Sehn Sie!« Es war Mowgli, bekrönt mit seinem Kranz weißer Blumen, der da mit einem halbgeschälten Ast wanderte – Mowgli, voll des Mißtrauens ob des Feuerscheins und bereit, beim geringsten Alarm in das Dickicht zu fliehen. »Das ist einer meiner Freunde«, sagte Gisborne. »Er sucht mich. Ohe, Mowgli!«
Müller hatte kaum Zeit zu ächzen, als der Mann auch schon an Gisbornes Seite war und klagte: »Es war falsch, daß ich ging. Es war falsch, aber da wußte ich noch nicht, daß die Gefährtin jenes, der an diesem Fluß getötet wurde, wach war und nach Dir sucht. Sonst wäre ich nicht gegangen. Sie folgte Dir seit der Hügelkette, Sahib.« »Er ist ein bißchen verrückt«, sagte Gisborne, »und er spricht von all den Tieren hier umher, als wäre er ihr Freund.« »Natürlich – natürlich. Wenn Faunus nicht weiß, wer sollte dann wissen?« sagte Müller feierlich. »Was erzählt er da von Tigern – dieser Gott, der Sie so gut kennt?« Gisborne zündete seine Zigarre wieder an, und ehe er seine Geschichte von Mowgli und seinen Taten beendet hatte, war der Stumpen bis zum Schnurrbart herabgebrannt. Müller lauschte ohne Unterbrechung. »Das is nich verrückt«, sagte er schließlich, als Gisborne die Hetze Abdul Gafurs berichtet hatte. »Das is kein Stück verrückt.« »Was ist es dann? Er verließ mich in einem Wutanfall heute morgen, weil ich ihn aufgefordert hatte zu erzählen, wie er es tat. Ich glaube, der Kerl ist auf irgendeine Weise besessen.« »Nix da von besessen, aber es ist höchst wunderbar. Normalerweise sterben sie jung – diese Menschen. Und nun sagen Sie, daß Ihr Diebsdiener nicht sagte, was das Pony hetzte, und der nilghai spricht natürlich nicht.« »Nein, aber zum Teufel, da war nichts. Ich lauschte, und ich kann fast alles hören. Die Stute und der Mann sind einfach kopfüber herangerast gekommen – wahnsinnig vor Angst.« Als Antwort musterte Müller Mowgli von Kopf bis Fuß und winkte ihn dann heran. Er kam, wie ein Bock einen verschmierten Pfad betritt. »Da ist keine Gefahr«, sagte Müller in der Umgangssprache. »Strecke einen Arm aus.«
Er fuhr mit der Hand über den Ellbogen, befühlte ihn und nickte. »Das dachte ich mir. Nun das Knie.« Gisborne sah ihn die Kniescheibe befühlen und lächeln. Zwei oder drei weiße Narben gerade über dem Fußgelenk fingen seinen Blick. »Diese kamen, als Du sehr jung warest?« fragte er. »Ja«, antwortete Mowgli mit einem Lächeln. »Sie waren Liebeszeichen der Kleinen.« Dann über die Schulter zu Gisborne: »Dieser Sahib weiß alles. Wer ist er?« »Das kommt später, mein Freund. Wo aber sind sie jetzt?« fragte Müller. Mowgli schwang seine Hand in einem Bogen um seinen Kopf. »So! Und Du kannst nilghais treiben? Siehe! Da steht meine Stute in ihren Pflöcken. Kannst Du sie zu mir bringen, ohne sie zu ängstigen?« »Kann ich die Stute zum Sahib bringen, ohne sie zu ängstigen!« wiederholte Mowgli und hob seine Stimme ein wenig über ihre normale Stärke. »Was wäre leichter, wenn die Fußfesseln gelöst sind?« »Laß ihr Kopf und Fußpflöcke frei«, rief Müller dem Pferdeknecht zu. Kaum waren sie aus der Erde, als die Stute, eine große schwarze Australierin, den Kopf hochwarf und die Ohren spitzte. »Achtsam! Ich will sie nicht in den rukh getrieben haben«, sagte Müller. Mowgli stand still mit dem Gesicht zum lodernden Feuer – wahrlich in Gestalt und Haltung jenes griechischen Gottes, der in den Romanen so verschwenderisch beschrieben ist. Die Stute schnaubte, hob ein Hinterbein, fand die Fußfesseln gelöst, und kam schnell zu ihrem Herrn, auf dessen Brust sie ihren Kopf legte; sie schwitzte leicht. »Sie kam freiwillig. Meine Pferde tun das auch«, rief Gisborne. »Fühle, ob sie schwitzt«, sagte Mowgli.
Gisborne legte eine Hand auf die feuchte Flanke. »Das genügt«, sagte Müller. »Das genügt«, wiederholte Mowgli, und ein Fels hinter ihm warf das Wort zurück. »Das ist unheimlich, wie?« sagte Gisborne. »Nein, nur wunderbar – höchst wunderbar. Begreifen Sie immer noch nicht, Gisborne?« »Ich muß gestehen, nein.« »Na denn, ich werd nichts sagen. Er sagt, daß er Ihnen eines Tages zeigen will, was es is. Wär schlimm, wenn ich’s täte. Aber warum er nich tot is, versteh ich nich. Nun höre, Du.« Müller sah Mowgli an und kehrte zur Umgangssprache zurück. »Ich bin das Haupt aller rukh im Lande Indien und anderer über dem Schwarzen Wasser. Ich weiß nicht, wie viele Männer mir untergeben sind – vielleicht fünftausend, vielleicht zehn. Deine Arbeit ist diese – nicht mehr im rukh hin und her zu wandern und die Tiere aus Spiel oder Prahlerei zu treiben, sondern Dienst unter mir zu nehmen, der ich die Regierung bin in allen Fragen der Wälder und Forsten, und in diesem rukh als Waldhüter zu leben; die Ziegen der Dörfler zu vertreiben, wenn es keinen Befehl gibt, sie im rukh zu weiden; sie zuzulassen, wenn es einen Befehl gibt; Wildschwein und nilghai niederzuhalten, wie Du sie niederhalten kannst, wenn sie zu zahlreich werden; Gisborne Sahib zu sagen, wie und wo Tiger wechseln und welches Wild im Walde ist; und sichere Warnung vor allen Feuern im Walde zu geben, denn Du kannst Warnung schneller als jeder andere geben. Für diese Arbeit gibt es jeden Monat Zahlung in Silber und am Ende, wenn Du ein Weib und Vieh hast, und vielleicht Kinder, eine Pension. Welche Antwort?« »Das ist genau das, was ich – «, begann Gisborne. Mein Sahib sprach diesen Morgen von solch einem Dienst. Ich wanderte den ganzen Tag allein, um diese Sache zu
erwägen, und meine Antwort ist fertig. Ich diene, wenn ich diene, in diesem rukh und in keinem anderen: mit Gisborne Sahib und mit keinem anderen.« »So soll es sein. In einer Woche kommt der geschriebene Befehl, der die Ehre der Regierung für die Pension verpfändet. Danach wirst Du Deine Hütte errichten, wo Gisborne Sahib Dich anweist.« »Ich wollte schon mit Ihnen darüber sprechen«, sagte Gisborne. »Ich wollte nichts hören, als ich den Mann sah. Wird nie mehr nen Waldhüter wie den geben. Er ist ein Wunder. Ich sage Ihnen, Gisborne, eines Tages werden Sie’s rausfinden. Hören Sie, er ist Blutsbruder jeden Tieres im rukh!« »Mir wäre wohler, wenn ich ihn verstehen könnte.« »Wird schon werden. Nu sag ich Ihn, in meiner Dienstzeit von jetzt dreißig Jahre hab ich nur einmal n Jungen getroffen, der so anfing wie dieser Mann. Und er starb. Manchmal wernse von denen was hörn in Bevölkerungsberichten, aber alle sterben sie. Dieser Mann lebt, und er is n Anachronismus, denn er ist vor der Eisenzeit und vor der Steinzeit. Sehnse, der is am Anfang der Geschichte des Menschen – Adam im Garten, und nun wünschen wir uns nur eine Eva! Nein! der is älter als solche Kindermärchen, wie der rukh älter ist als die Götter. Gisborne, jetzt bin ich wieder Heide, ein für allemal.« Während des Restes dieses langen Abends saß Müller rauchend und rauchend, und er starrte und starrte in die Dunkelheit, und seine Lippen bewegten sich in ungezählten Zitaten, und ein großes Staunen war auf seinem Gesicht. Er ging in sein Zelt, kam aber sofort zurück in seinem majestätischen rosa Schlafanzug, und die letzten Worte, die ihn Gisborne an den rukh durch das tiefe Schweigen der Mitternacht sagen hörte, waren diese, vorgetragen mit ungeheurer Betonung:
Dough we shivt und bedeck und bedrape us, Dou art noble und nude und andeek; Libidina dy moder, Briapus Dy fader, a God and a Greek. (Wir mögen uns winden und schmücken und behängen, Du bist edel und nackt und antik; Libidina Deine Mutter, Priapus Dein Vater, ein Gott und ein Grieche.)
Nu weiß ich, daß ich weder als Heide noch als Christ je das innerste Wesen des rukh kennen werde!« Um Mitternacht, eine Woche später, stand im Bungalow Abdul Gafur aschgrau vor Zorn am Fußende von Gisbornes Bett und hieß ihn flüsternd aufwachen. »Auf, Sahib«, stammelte er. »Auf und nimm Dein Gewehr. Meine Ehre schwand. Auf und töte, ehe jemand sieht.« Das Gesicht des alten Mannes hatte sich so verändert, daß Gisborne ihn fassungslos anstarrte. »Darum denn hat dieser Auswurf des Dschungels mir geholfen, des Sahibs Tafel zu polieren, und hat Wasser geholt und Geflügel gerupft. Trotz all meiner Prügel sind sie zusammen fortgegangen, und nun sitzt er inmitten seiner Teufel und zerrt ihre Seele in den Höllenpfuhl. Auf, Sahib, und komme mit mir!« Er drückte ein Gewehr in Gisbornes halbwache Hand und schleppte ihn fast aus dem Zimmer auf die Veranda. »Sie sind im rukh; sogar in Schußweite vom Haus. Komm leise mit mir.« »Aber was ist denn? Worum geht es denn, Abdul?« »Mowgli und seine Teufel. Und meine eigene Tochter«, sagte Abdul Gafur. Gisborne pfiff und folgte seinem Führer. Nicht ohne Grund hatte Abdul Gafur, wie er wußte, seine Tochter nachts verprügelt, und nicht umsonst hatte Mowgli einem
Mann im Haushalt geholfen, den seine eigenen Kräfte, was immer die sein mochten, des Diebstahls überführt hatten. Und außerdem freit es sich schnell im Walde. Da war das Atmen einer Flöte im rukh, als sei es das Lied eines wandernden Waldgottes, und als sie näher kamen ein Murmeln von Stimmen. Der Pfad endete auf einer kleinen halbkreisförmigen Lichtung, die teils von hohem Gras umgeben war und teils von Bäumen. In der Mitte, auf einem umgestürzten Stamm, den Rücken zu den Beobachtern und seinen Arm um die Tochter Abdul Gafurs gelegt, saß Mowgli, erneut mit Blumen gekrönt, und spielte auf einer einfachen Bambusflöte eine Musik, zu der vier große Wölfe feierlich auf ihren Hinterläufen tanzten. »Das sind seine Teufel«, flüsterte Abdul Gafur. Er hielt ein Bündel Patronen in der Hand. Die Tiere ließen sich auf einen langgezogenen bebenden Ton hin fallen und lagen still und glühten mit steten grünen Augen das Mädchen an. »Schau«, sagte Mowgli und legte die Flöte beiseite. »Ist darin irgend etwas zu fürchten? Ich sagte Dir, kleines Tapfer-Herz, daß es das nicht sei, und Du glaubtest. Dein Vater sagte – und oh, wenn Du nur hättest sehen können Deinen Vater, wie er den Weg des nilghai getrieben ward! – Dein Vater sagte, daß sie Teufel seien; und bei Allah, der Dein Gott ist, ich wundere mich nicht, daß er so glaubt.« Das Mädchen lachte ein kleines plätscherndes Lachen, und Gisborne hörte, wie Abdul Gafur mit seinen wenigen übrigen Zähnen knirschte. Dies war wahrhaftig nicht mehr das Mädchen, das Gisborne mit halbem Auge verschleiert und schweigend hatte sich ums Haus drücken sehen, sondern jemand anderes – eine in einer Nacht voll erblühte Frau, wie die Orchidee aufgeht in der feuchten Hitze einer einzigen Stunde.
»Sie sind aber meine Spielgefährten und meine Brüder, Kinder jener Mutter, die mich säugte, wie ich Dir hinterm Kochhaus erzählt habe«, fuhr Mowgli fort. »Kinder des Vaters, der zwischen mir und der Kälte in der Höhlenöffnung lag, als ich ein kleines nacktes Kind war. Siehe« – ein Wolf hob die graue Wange und besabberte Mowglis Knie –, »mein Bruder weiß, daß ich von ihnen spreche. Ja, als ich ein kleines Kind war, war er eine Wolfswelpe und wälzte sich mit mir auf dem Lehmboden.« »Aber Du sagtest, Du seiest von Menschen geboren«, gurrte das Mädchen und schmiegte sich enger an die Schulter. »Bist Du von Menschen geboren?« »Sagtest! Ich weiß, daß ich von Menschen geboren bin, weil mein Herz in Deiner Gewalt ist, o Kleine.« Ihr Kopf sank unter Mowglis Kinn. Gisborne streckte eine warnende Hand aus, um Abdul Gafur zurückzuhalten, den das Wunder des Anblicks in keiner Weise beeindruckte. »Dennoch war ich Wolf unter Wölfen, bis die Zeit kam, da mich Die vom Dschungel gehen hießen, weil ich Mensch bin.« »Wer hieß Dich gehen? Das klingt nicht wie wirkliche Mannesrede.« »Die Tiere selbst. O Kleine, nie würdest Du meiner Erzählung glauben, aber so war es. Die Tiere des Dschungels hießen mich gehen, aber diese Vier folgten mir, weil ich ihr Bruder bin. Dann war ich Viehhirte bei den Menschen, nachdem ich ihre Sprache gelernt hatte. Ho! ho! Die Herden zahlten meinen Brüdern Zoll, bis eine Frau, eine alte Frau, Liebste, mich eines Nachts mit meinen Brüdern im Getreide spielen sah. Sie sagten, daß ich von Teufeln besessen sei und trieben mich aus jenem Dorf mit Stöcken und Steinen, und die Vier kamen verstohlen mit mir und nicht offen. Das war, als ich gelernt habe, gekochtes Essen zu essen und keck zu reden. Von Dorf zu Dorf zog ich, Herz meines Herzens, ein Hüter der
Rinder, ein Heger der Büffel, ein Fährtensucher hinterm Wild, aber da war kein Mann, der es gewagt hätte, seinen Finger zweimal gegen mich zu heben.« Er bückte sich und tätschelte einen der Köpfe. »Tue auch Du so. Da ist weder Harm noch Zauber in ihnen. Siehe, sie kennen Dich.« »Die Wälder sind voll von allen Arten Teufeln«, sagte das Mädchen mit einem Schaudern. »Eine Lüge. Eine Kinderlüge«, gab Mowgli überzeugt zurück. »Ich habe im Tau unter den Sternen gelegen und in der dunklen Nacht, und ich weiß. Der Dschungel ist mein Haus. Soll ein Mann seine eigenen Dachbalken fürchten oder eine Frau ihres Mannes Herd? Bück Dich und streichle sie.« »Sie sind Hunde und unrein«, murmelte sie, indem sie sich mit abgewandtem Kopf vorbeugte. »Nachdem wir die Frucht gegessen haben, erinnern wir uns nun des Gesetzes!« sagte Abdul Gafur bitter. »Wozu warten, Sahib? Töte!« »Psst, Du. Laß uns erfahren, was geschehen ist«, sagte Gisborne. »Wohl getan«, sagte Mowgli und schlang seinen Arm wieder um das Mädchen. »Hunde oder nicht Hunde, sie wanderten mit mir durch tausend Dörfer.« »Abi, und wo war da Dein Herz? Durch tausend Dörfer. Du hast tausend Mädchen gesehen. Ich – die ich – die ich kein Mädchen mehr bin, habe ich Dein Herz?« »Wobei soll ich schwören? Bei Allah, von dem Du sprichest?« »Nein, bei dem Leben, das in Dir ist, und ich bin zufrieden. Wo war Dein Herz in jenen Tagen?« Mowgli lachte ein wenig. »In meinem Bauch, denn ich war jung und immer hungrig. Also lernte ich der Fährte folgen und jagen, indem ich meine Brüder aussandte wie ein König seine Heere und sie wieder zurückrief. Deshalb habe ich den nilghai
für den törichten jungen Sahib getrieben, und die große fette Stute für den großen fetten Sahib, als sie meine Macht bezweifelten. Es wäre genauso leicht gewesen, die Männer selbst getrieben zu haben. Selbst jetzt«, er hob seine Stimme ein bißchen, »selbst jetzt weiß ich, daß hinter mir Dein Vater und Gisborne Sahib stehen. Nein, lauf nicht fort, denn auch nicht zehn Männer wagten einen Schritt vorwärts. Erinnere Dich, daß Dein Vater Dich mehr als einmal schlug: soll ich das Wort sagen und ihn wieder in Kreisen durch den rukh treiben lassen?« Ein Wolf stand mit gebleckten Zähnen auf. Gisborne spürte Abdul Gafur an seiner Seite zittern. Dann war sein Platz leer, und der fette Mann floh über die Lichtung davon. »Bleibt nur noch Gisborne Sahib«, sagte Mowgli, immer noch ohne sich umzudrehen; »aber ich habe Gisborne Sahibs Brot gegessen und werde bald in seinen Diensten stehen, und meine Brüder werden seine Diener sein, um Wild zu jagen und Nachricht zu bringen. Verbirg Dich im Gras.« Das Mädchen floh, das hohe Gras schloß sich hinter ihr und dem Wächterwolf, der ihr folgte, und Mowgli wandte sich mit seiner dreiköpfigen Leibwache um und sah Gisborne an, als der Forstbeamte vortrat. »Das ist der ganze Zauber«, sagte er und wies auf die drei. »Der fette Sahib wußte, daß wir, die unter Wölfen aufwachsen, eine Zeitlang auf unseren Ellbogen und Knien laufen. Als er meine Arme und Beine befühlte, fühlte er die Wahrheit, die Du nicht wußtest. Ist das so wunderbar, Sahib?« »Das ist wirklich sehr viel wunderbarer als aller Zauber. Diese also trieben den nilghai?« »Ja, so wie sie den Iblis trieben, wenn ich den Befehl gäbe. Sie sind mir Augen und Füße.« »Dann achte Du darauf, daß der Iblis kein doppelläufiges Gewehr trägt. Sie haben noch einiges zu lernen, Deine Teufel,
denn sie stehen einer hinter dem anderen, so daß zwei Schüsse alle drei töten würden.« »Ah, aber sie wissen, daß sie Deine Diener sind, sobald ich Waldhüter bin.« »Hüter oder nicht Hüter, Mowgli, Du hast Abdul Gafur eine schlimme Schande angetan. Du hast sein Haus entehrt und sein Antlitz schwarz gemacht.« »Was das angeht, so wurde es schwarz, als er Dein Geld nahm, und noch schwärzer, als er Dir vor kurzem ins Ohr flüsterte, einen nackten Mann zu töten. Ich selbst werde mit Abdul Gafur sprechen, denn ich bin ein Mann im Dienste der Regierung mit einer Pension. Er soll die Heirat ausrichten, nach welchem Ritus immer er will, oder er wird wieder rennen. Ich werde im Morgengrauen mit ihm reden. Im Übrigen hat der Sahib sein Haus, und dieses ist meines. Es ist Zeit, wieder zu schlafen, Sahib.« Mowgli wandte sich auf dem Absatz um und verschwand im Gras und ließ Gisborne stehen. Der Hinweis des Waldgottes war nicht mißzuverstehen; und Gisborne ging zurück zum Bungalow, wo Abdul Gafur, von Wut und Angst zerrissen, auf der Veranda tobte. »Frieden, Frieden«, sagte Gisborne und schüttelte ihn, denn er sah aus, als erlitte er einen Anfall. »Müller Sahib hat den Mann zum Waldhüter gemacht, und wie Du weißt ist da eine Pension am Ende dieses Amts, und es ist Regierungsdienst.« »Er ist ein Kastenloser – ein mlech – ein Hund unter Hunden; ein Aasfresser! Welche Pension kann das aufwiegen?« »Allah weiß es; und Du hast gehört, daß das Unheil schon geschehen ist. Willst Du das allen anderen Dienern verkünden? Bereite schnell den shadi, und das Mädchen wird ihn zum Muslim machen. Er ist sehr hübsch. Wundert es Dich, daß sie nach Deinen Schlägen zu ihm ging?« »Sagte er, er wolle mich mit seinen Tieren hetzen?«
»Mir schien es so. Wenn er ein Zauberer ist, dann ist er wenigstens ein sehr mächtiger.« Abdul Gafur dachte eine Weile nach, dann brach er zusammen und heulte und vergaß, daß er ein Muslim war: »Du bist ein Brahmane. Ich bin Deine Kuh. Bringe Du alles in Ordnung und rette meine Ehre, wenn sie gerettet werden kann!« Zum zweiten Mal tauchte Gisborne in den rukh und rief nach Mowgli. Die Antwort kam von hochoben und in keineswegs unterwürfigem Ton. »Sprich höflich«, sagte Gisborne und blickte hinauf. »Noch ist es Zeit, Dich Deiner Stellung zu entkleiden und Dich samt Deinen Wölfen zu jagen. Das Mädchen muß heut nacht in ihres Vaters Haus zurückkehren. Morgen wird nach muslimischem Recht der shadi sein, und dann kannst Du sie mit Dir fortführen. Bring sie zu Abdul Gafur.« »Ich höre.« Da war ein Murmeln zweier Stimmen, die zwischen den Blättern sich berieten. »Und wir gehorchen – zum letzten Mal.«
Ein Jahr später ritten Müller und Gisborne zusammen durch den rukh und besprachen ihre Arbeit. Sie kamen bei den Felsen nahe dem Kanye-Fluß heraus, Müller ritt ein wenig voran. Im Schatten eines Dornendickichts krabbelte ein nacktes braunes Kind und aus dem Gebüsch unmittelbar hinter ihm spähte der Kopf eines grauen Wolfes. Gisborne hatte eben noch Zeit, Müllers Büchse hochzuschlagen, und die Kugel riß prasselnd durchs obere Geäst. »Sind Sie wahnsinnig?« donnerte Müller. »Sehen Sie!« »Ich sehe«, sagte Gisborne ruhig. »Die Mutter ist bestimmt in der Nähe. Sie werden bei Zeus das ganze Rudel aufwecken!«
Die Büsche teilten sich erneut und eine unverschleierte Frau schnappte sich das Kind. »Wer schoß, Sahib?« rief sie zu Gisborne. »Dieser Sahib. Er hatte sich nicht an Deines Mannes Volk erinnert.« »Nicht erinnert? Doch ja, so wird es sein, denn wir, die mit ihnen leben, vergessen, daß sie Fremde sind. Mowgli ist flußabwärts und fängt Fische. Möchte der Sahib ihn sehen? Kommt heraus, Ihr ohne Manieren, und verbeugt Euch vor den Sahibs.« Müllers Augen wurden größer und größer. Er schwang sich von der ausschlagenden Stute und stieg ab, während der Dschungel vier Wölfe ausspie, die Gisborne umschmeichelten. Die Mutter stand da und säugte ihr Kind und stieß sie beiseite, als sie ihre nackten Füße berührten. »Sie hatten völlig recht mit Mowgli«, sagte Gisborne. »Ich haben Ihnen das schon immer erzählen wollen, aber ich habe mich in den letzten zwölf Monaten so an diese Kerle gewöhnt, daß es mir ganz entfallen war.« »Oh, entschuldigen Sie sich nicht«, sagte Müller. »Das macht nichts. Gott im Himmel! ›Und ich wirke Wunder – und sie werden auch noch wahr!‹«
Die verlorene Legion
Als die Indische Meuterei ausbrach, und nicht lange vor der Belagerung Delhis, war ein Regiment Eingeborener Irregulärer Kavallerie in Peschawar an der Grenze Indiens stationiert. Dieses Regiment steckte sich mit dem an, was John Lawrence damals »die vorherrschende Manie« nannte, und hätte sein Schicksal mit dem der Meuterer aufs Spiel gesetzt, wäre es ihm gestattet worden. Die Gelegenheit kam nie, denn als das Regiment nach Süden fegte, wurde es von den Überresten eines englischen Corps in die Berge Afghanistans abgedrängt, wo die jüngst unterworfenen Stammeskrieger sich auf es warfen wie Wölfe auf einen Bock. Es wurde um seiner Waffen und Ausrüstung willen von Berg zu Berg gehetzt, von Schlucht zu Schlucht, ausgetrocknete Flußbetten hinauf und hinab und um die Schultern steiler Klippen herum, bis es verschwand wie Wasser im Sande versickert – dieses offizierslose Rebellenregiment. Die einzige heute noch vorhandene Spur seiner Existenz ist eine Stammrolle, abgefaßt in einer sauberen runden Handschrift und gegengezeichnet von einem Offizier, der sich selbst »Adjutant, vormals… Irreguläre Kavallerie« nannte. Das Papier ist gelb von Jahren und Schmutz, aber auf der Rückseite kann man immer noch eine Bleistiftnotiz von John Lawrence lesen, die besagt: »Dafür sorgen, daß die beiden Eingeborenenoffiziere, die loyal blieben, ihrer Güter nicht verlustig gehen. – J. L.« Von sechshundertfünfzig Säbeln hielten nur zwei der Belastung stand, und John Lawrence fand inmitten all des Todeskampfes während der ersten Monate der Meuterei Zeit, ihrer Verdienste zu gedenken.
Das war vor über dreißig Jahren, und die Stammeskrieger jenseits der afghanischen Grenze, die damals das Regiment vernichten halfen, sind heute alte Männer. Manchmal spricht ein Graubart von seinem Anteil an dem Massaker. »Sie kamen«, sagt er dann, »über die Grenze, sehr stolz, und forderten uns auf, uns zu erheben und die Engländer zu töten und zur Plünderung Delhis zu reiten. Aber wir, die wir gerade erst von denselben Engländern unterworfen worden waren, wußten, daß sie allzu kühn waren und daß die Regierung leicht mit diesen Flachlandhunden fertig werden würde. Deshalb gaben wir diesem Hindustaniregiment gute Worte und hielten es an einem Ort, bis ihnen die Rotröcke sehr hitzig und zornig nachkamen. Dann rannte dieses Regiment ein bißchen weiter in unsere Berge hinein, um dem Zorn der Engländer zu entgehen, und wir hielten uns an ihren Flanken und beobachteten sie von den Hängen der Berge, bis wir ganz sicher waren, daß sich ihre Spur hinter ihnen verloren hatte. Dann kamen wir herab, denn wir wollten ihre Kleider und ihr Zaumzeug und ihre Flinten und ihre Stiefel – besonders ihre Stiefel.« Hier reibt der alte Mann seine Nase und schüttelt seine langen Schlangenlocken und leckt seine bärtigen Lippen und grinst, bis die gelben Zahnstümpfe zu sehen sind. »Ja, wir töteten sie, weil wir ihre Ausrüstung brauchten und weil wir wußten, daß ihr Leben vor Gott verspielt war wegen ihrer Sünde – der Sünde des Verrats an dem Salz, das sie gegessen hatten. Sie ritten die Täler auf und ab, taumelten und schwankten in den Sätteln und heulten um Gnade. Wir trieben sie langsam wie Vieh, bis sie alle an einer Stelle zusammen waren, dem flachen weiten Tal von Sheor Kôt. Manche waren an Wassermangel gestorben, aber noch waren viele übrig geblieben, und sie konnten uns nicht mehr standhalten. Wir gingen zwischen sie, rissen sie mit unseren Händen herab, zwei zugleich, und unsere Knaben, die das Schwert zum ersten
Mal führten, töteten sie. Mein Anteil an der Beute war das und das – so viele Flinten und so viele Sättel. Die Flinten waren in jenen Tagen gut. Heute stehlen wir die Gewehre der Regierung und verschmähen glatte Läufe. Ja, ohne Zweifel haben wir dieses Regiment vom Antlitz der Erde gewischt, und selbst die Erinnerung an die Tat stirbt jetzt. Aber Männer sagen – « An dieser Stelle brach die Erzählung in der Regel plötzlich ab, und es war unmöglich herauszufinden, was die Männer jenseits der Grenze sagten. Die Afghanen waren immer schon ein verschlossenes Volk und zogen es bei weitem vor, irgend etwas Übles zu tun, als irgend etwas zu sagen. Monatelang waren sie ruhig und benahmen sich anständig, bis sie dann eines nachts ohne jede Vorwarnung einen Polizeiposten stürmten, einem oder zwei Polizisten die Gurgeln durchschnitten, durch ein Dorf preschten, drei oder vier Frauen abschleppten und sich im roten Lohen brennender Strohdächer zurückzogen, wobei sie Vieh und Ziegen vor sich her in ihre öden Berge trieben. Bei solchen Gelegenheiten brach die Indische Regierung fast in Tränen aus. Zunächst pflegte sie zu sagen: »Bitte seid lieb, und wir werden Euch vergeben.« Der mit dem letzten Raubzug befaßte Stamm legte dann kollektiv den Daumen an die Nase und antwortete grob. Dann sagte die Regierung: »Wäre es nicht besser, wenn Ihr ein wenig Geld für die paar Leichen bezahltet, die Ihr neulich hinterlassen habt?« Worauf der Stamm gewöhnlich begann, auf Zeit zu spielen, zu lügen und zu poltern; und einige der jüngeren Männer überfielen, nur um ihre Verachtung für Autoritäten zu zeigen, einen anderen Polizeiposten und feuerten in irgendeine Lehmfestung an der Grenze und töteten, wenn sie Glück hatten, einen echt englischen Offizier. Dann sagte die Regierung: »Paßt auf; wenn Ihr wirklich darauf besteht, mit dieser Verhaltensweise fortzufahren, werdet Ihr verletzt werden.« Falls nun der Stamm genau wußte, was in Indien vor
sich ging, entschuldigte er sich entweder oder wurde grob, je nachdem, ob er erfuhr, daß die Regierung mit anderen Dingen beschäftigt oder imstande war, seinen Aktivitäten volle Aufmerksamkeit zu schenken. Einige der Stämme wußten bis auf den Leichnam genau, wie weit sie gehen konnten. Andere gerieten in Erregung, verloren den Kopf und forderten die Regierung heraus, doch zu kommen. Unter Trauer und Tränen und mit einem Auge auf dem britischen Steuerzahler zu Hause, der darauf bestand, derlei Feldübungen als brutale Annexionskriege zu bezeichnen, pflegte die Regierung dann eine kostspielige kleine Feldbrigade auszurüsten und einige Kanonen bereitzustellen und alles zusammen in die Berge hinauf zu schicken, um den bösen Stamm aus den Tälern, in denen das Getreide wächst, auf die Berge zu jagen, wo es nichts zu essen gibt. Der Stamm hingegen zog dann in voller Stärke aus und genoß den Feldzug, denn er wußte, daß seinen Frauen nichts geschah, daß seine Verwundeten betreut wurden und nicht verstümmelt, und daß man, sobald jeder seinen Habersack leergegessen hatte, sich ergeben und mit dem englischen General verhandeln konnte, als sei man ein wirklicher Gegner gewesen. Später, Jahre später, würde man der Regierung das Blutgeld zahlen, Tröpfchen auf Tröpfchen, und den Kindern erzählen, wie man die Rotröcke zu Tausenden erschlug. Der einzige Nachteil dieser Picknick-Kriege war die Schwäche der Rotröcke für feierliche Sprengungen befestigter Türme und Verschanzungen mittels Schießpulvers. Das fanden die Stämme immer gemein. Oberster unter den Führern der kleineren Stämme – der kleinen Clans, die bis auf den Pfennig genau die Kosten des Einsatzes weißer Truppen gegen sie kannten – war ein Priester-Bandit-Häuptling, den wir Gulla Kutta Mullah nennen wollen. Seine Begeisterung für Grenzmord als Kunstform war
schon fast ehrenhaft. Er pflegte aus reinem Übermut einen Postreiter niederzumachen oder eine Lehmfestung mit Gewehrfeuer zu bombardieren, wenn er wußte, daß unsere Männer Schlaf brauchten. In seiner Freizeit besuchte er seine Nachbarn und versuchte, die anderen Stämme zu Teufeleien aufzureizen. Er betrieb auch eine Art Hotel für vogelfreie Kollegen in seinem Dorf, das in einem Tal namens Bersund lag. Jeder ehrbare Mörder in jenem Grenzgebiet ruhte sich mit Sicherheit in Bersund aus, denn das galt als ungewöhnlich sicherer Platz. Der einzige Zugang verlief durch eine enge Schlucht, die binnen fünf Minuten in eine Todesfalle verwandelt werden konnte. Es war von hohen Bergen umgeben, die für alle, außer geborenen Bergmenschen, als unersteigbar galten, und hier lebte Gulla Kutta Mullah in großer Pracht, Oberhaupt einer Kolonie von Lehm- und Steinhütten, und in jeder Hütte hing ein Teil einer roten Uniform und die Beute von toten Männern. Die Regierung war auf seine Festnahme besonders erpicht und lud ihn einmal in aller Form ein, herauszukommen und sich wegen einiger der Morde, an denen er einen unmittelbaren Anteil hatte, hängen zu lassen. Er antwortete: »Ich bin nur zwanzig Meilen, wie die Krähe fliegt, von Eurer Grenze. Kommt und holt mich.« »Eines Tages werden wir kommen«, sagte die Regierung, »und hängen wirst Du.« Der Gulla Kutta Mullah entließ die Angelegenheit aus seinem Geiste. Er wußte, daß die Geduld der Regierung lang war wie ein Sommertag; aber ihm wurde nicht klar, daß ihr Arm lang war wie eine Winternacht. Monate später, als Frieden an der Grenze und ganz Indien ruhig war, drehte sich die Indische Regierung im Schlafe um und erinnerte sich des Gulla Kutta Mullah in Bersund und seiner dreizehn Vogelfreien. Gegen ihn auch nur ein einziges Regiment in Bewegung zu setzen – was
die Pressetelegramme als Krieg übersetzt haben würden –, wäre politisch höchst unklug gewesen. Es war dies eine Zeit für Schweigen und Schnelligkeit und, vor allem, für das Ausbleiben von Blutvergießen. Man muß wissen, daß entlang der gesamten Nordwestgrenze Indiens eine Streitmacht von rund dreißigtausend Mann zu Fuß und zu Pferd verstreut ist, deren Aufgabe es ist, ruhig und unauffällig die Stämme vor sich als Hirten zu hüten. Sie bewegen sich hinauf und hinab und hinab und hinauf, von einem trostlosen kleinen Posten zum anderen; sie sind bereit, binnen zehn Minuten ins Feld zu rücken; sie sind immer halb in einer Schwierigkeit und halb heraus irgendwo entlang der eintönigen Grenze; ihr Leben ist so hart wie es ihre Muskeln sind, und die Zeitungen berichten nie über sie. Aus dieser Streitmacht suchte sich die Regierung ihre Männer aus. Eines nachts spielten in einer Station, wo die berittenen Nachtpatrouillen mit dem Anruf schießen und der Weizen in großen blaugrünen Wellen unter unserem kalten nördlichen Mond wogt, die Offiziere Billard in dem Clubhaus aus Lehmwänden, als der Befehl kam, sofort zu einer Nachtübung anzutreten. Sie murrten und gingen ihre Leute wecken – sagen wir hundert englische Soldaten, zweihundert Gurkhas und rund hundert Kavalleristen von der besten Eingeborenenkavallerie der Welt. Als sie auf dem Exerzierplatz waren, wurde ihnen flüsternd mitgeteilt, daß sie sofort über die Berge nach Bersund auszurücken hätten. Die englischen Truppen sollten die Berghöhen um das Tal besetzen; die Gurkhas hätten Schlucht und Todesfalle zu übernehmen; die Kavallerie solle einen großen Bogen und in den Rücken des Bergkreises reiten, von wo sie, falls es Schwierigkeiten geben sollte, auf die Männer des Mullah herabstürmen könnte. Aber strengste Befehle verboten jeden Kampf und Lärm. Am Morgen sollten sie mit
jedem ausgegebenen Schuß Munition intakt zurückkommen, den Mullah und seine dreizehn Vogelfreien gebunden in der Mitte. Falls sie erfolgreich seien, werde niemand von ihrer Arbeit erfahren oder sich darum kümmern; Versagen aber bedeute vermutlich einen kleinen Grenzkrieg, in dem der Gulla Kutta Mullah als Volksführer gegen eine bedrückerische Großmacht statt als gemeiner Grenzmörder auftreten werde. Dann herrschte Schweigen, unterbrochen lediglich vom Klicken der Kompaßnadeln und vom Schnappen der Uhrgehäuse, als die Kolonnenführer Richtungen verglichen und Vereinbarungen über die Treffpunkte trafen. Fünf Minuten später war der Exerzierplatz leer; die grünen Röcke der Gurkhas und die Mäntel der englischen Soldaten waren in die Dunkelheit geschwunden, und die Kavallerie ritt in leichtem Galopp in einen blindmachenden Nieselregen hinein. Was Gurkhas und Engländer taten, wird man später sehen. Die schwere Arbeit lag bei den Berittenen, denn sie hatten weit vorzustoßen und sich einen Weg fernab bewohnter Gebiete zu suchen. Viele der Reiter waren in dieser Weltgegend geboren, bereit und begierig, gegen ihre Sippen zu kämpfen, und einige der Offiziere hatten bereits früher private und inoffizielle Ausflüge in jene Berge unternommen. Sie überquerten die Grenze, fanden ein trockenes Flußbett, galoppierten es hinauf, gingen durch eine Geröllschlucht, wagten im Schutz der Dunkelheit die Überquerung eines niedrigen Berges, umgingen einen anderen Berg, hinterließen tiefe Hufspuren in gepflügten Äckern, ertasteten ihren Weg entlang eines anderen Wasserlaufs, rasten über einen Bergausläufer und beteten, daß niemand ihre Pferde grunzen höre, und arbeiteten sich so in Regen und Dunkelheit vorwärts, bis sie Bersund und seinen Bergkrater zur Linken hinter sich gelassen hatten und es Zeit war, herumzuschwenken. Der Anstieg, der die Rückseite von Bersund beherrscht, ist steil, und sie hielten in einem breiten
flachen Tal unterhalb der Höhe inne, um zu Atem zu kommen. Das heißt, die Männer zogen die Zügel, aber die Pferde verweigerten, erschöpft wie sie waren, den Halt. Es gab unchristliche Worte, um so übler, als sie flüsternd abgesondert wurden, und man hörte die Sättel in der Dunkelheit quietschen, als die Pferde vorwärts sprangen. Der Leutnant am Schluß eines Trupps drehte sich im Sattel um und sagte sehr leise: »Carter, was beim gesegneten Himmel machen Sie da am Ende? Bringen Sie Ihre Leute ran, Mann.« Da war keine Antwort, bis ein Reiter erwiderte: »Carter Sahib ist vorne – nicht hier. Hinter uns ist nichts.« »Ist wohl«, sagte der Leutnant. »Die Schwadron reitet auf ihrem eigenen Schwanz.« Dann kam der kommandierende Major leise fluchend zur Nachhut zurück und forderte das Blut von Leutnant Halley – dem Leutnant, der gerade gesprochen hatte. »Passen Sie auf Ihre Nachhut auf«, sagte der Major. »Ein paar von Ihren Höllenhunden sind verloren gegangen. Sie sind jetzt an der Spitze der Schwadron, und Sie sind n ganzer Haufen Trottel.« »Soll ich meine Leute abzählen, Sir?« fragte der Leutnant verdrossen, denn er fühlte sich naß und kalt. »Zählen Sie sie ab!« sagte der Major. »Mit der Peitsche, verdammt! Sie haben sie in der ganzen Gegend verstreut. Jetzt ist ein Trupp hinter Ihnen!« »Das dachte ich auch«, sagte der Leutnant ruhig. »Ich hab all meine Leute hier. Wäre besser, Sie sprechen mit Carter.« »Carter Sahib sendet salaam und möchte wissen, warum das Regiment halt«, sagte ein Reiter zu Leutnant Halley. »Wo unterm Himmel ist Carter?« fragte der Major. »Vorne bei seiner Truppe«, war die Antwort.
»Reiten wir denn im Kreis, oder sind wir die Mitte einer verdammten Brigade?« fragte der Major. Zu dieser Zeit herrschte Schweigen entlang der ganzen Kolonne. Die Pferde waren ruhig; aber durch das Nieseln des feinen Regens konnten die Männer die Hufe vieler Pferde hören, die sich über steinigen Grund bewegten. »Wir sind umzingelt«, sagte Leutnant Halley. »Die haben keine Pferde hier. Außerdem hätten sie längst geschossen«, sagte der Major. »Das sind – das sind Ponies von Dörflern.« »Dann hätten unsere Pferde gewiehert und den Angriff schon längst versaut. Die müssen uns schon seit ner halben Stunde nahe sein«, sagte der Leutnant. »Komisch, daß wir die Pferde nicht riechen können«, sagte der Major und benetzte seinen Finger und rieb ihn an der Nase, als er gegen den Wind witterte. »Jedenfalls ein schlechter Anfang«, sagte der Leutnant und schüttelte die Nässe von seinem Mantel. »Was jetzt, Sir?« »Weiter«, sagte der Major. »Diese Nacht erwischt es uns.« Die Kolonne bewegte sich behutsam ein paar Schritte voran. Dann war da ein Fluch, ein Schauer blauer Funken, als beschlagene Hufe auf kleine Steine krachten, und ein Mann rollte umher mit einem Geklirr seiner Ausrüstung, das Tote geweckt hätte. »Jetzt haben wir’s geschafft«, sagte Leutnant Halley. »Der ganze Berghang wach, und der ganze Berghang unter Musketenfeuer zu besteigen. Das kommt davon, wenn man die Arbeit von Nachtschwalben tun will.« Der zitternde Kavallerist raffte sich auf und versuchte zu erklären, daß sein Pferd über einen der kleinen Grabhügel gestürzt sei, die man aus losen Steinen an der Stelle errichtet, wo ein Mann ermordet wurde. Erklärungen waren überflüssig. Das große australische Schlachtroß des Majors stolperte als
nächstes und die Kolonne kam zum Stillstand in etwas, das ein ganzer Friedhof von kleinen Grabhügeln mit rund zwei Fuß Höhe zu sein schien. Die Bewegungen der Schwadron sind nicht überliefert. Die Leute erzählten, es sei gewesen wie gerittene Quadrille ohne Übung und ohne Musik; aber schließlich kamen die Pferde, indem sie ausbrachen und sich ihren eigenen Weg suchten, von den Grabhügeln frei, bis alle Mann der Schwadron sich ein paar Yards hangaufwärts neu formierten und die Pferde zügelten. Dann war da laut Leutnant Halley eine weitere Szene ziemlich ähnlich der beschriebenen. Der Major und Carter bestanden darauf, daß nicht alle Mann sich eingereiht hätten, und daß noch mehr von ihnen hinten zwischen den Grabhügeln der toten Männer lärmten und herumstolperten. Leutnant Halley zählte seine Männer erneut ab und ergab sich ins Warten. Später erzählte er mir: »Ich wußte nicht so recht, was los war, und es war mir auch ziemlich egal. Der Krach, den dieser Reiter beim Sturz gemacht hatte, hätte das halbe Land aufschrecken müssen, und ich hätte geschworen, daß wir hinten von einem ganzen Regiment umzingelt waren, und das machte Lärm genug, um ganz Afghanistan aufzujagen. Ich saß still da, aber nichts passierte.« Der rätselhafte Teil der Nachtarbeit war das Schweigen am Berghang. Jeder wußte, daß der Gulla Kutta Mullah seine Vorpostenhütten auf der anderen Seite des Berges hatte, und als der Major sich in eine Art Stille geflucht hatte, erwartete jeder, daß die Wachtposten da das Feuer eröffnen würden. Als nichts geschah, sagte man sich, daß die Regengüsse das Geräusch der Pferde erstickt hätten, und dankte der Vorsehung. Schließlich überzeugte sich der Major davon, daß er (a) niemanden zwischen den Grabhügeln zurückgelassen hatte und (b) rückwärts nicht von einer großen und kampfstarken Kavallerieeinheit angegriffen wurde. Die Stimmung der
Männer war gründlich verdorben, die Pferde schäumten und waren unruhig, und alle beteten bis zum letzten Mann um Tageslicht. Sie machten sich daran, den Berg hinanzuklimmen, wobei jeder sein Pferd sorgsam führte. Bevor sie die unteren Hänge bewältigt oder die Brustgeschirre eng zu werden begonnen hatten, kam hinter ihnen ein Gewitter auf, das über die niedrigen Berge zog und jedes Geräusch übertönte, das leiser als ein Kanonenschuß war. Das erste Aufflammen der Blitze zeigte die kahlen Rippen des Aufstiegs, den Bergkamm stahlblau gegen den schwarzen Himmel, die dünnen fallenden Regenschnüre, und einige Yards auf ihrer linken Flanke einen afghanischen zweistöckigen Wachtturm aus Stein, in den man vom oberen Stockwerk aus über eine Leiter einzusteigen hat. Die Leiter war hochgezogen und ein Mann mit Gewehr lehnte sich aus dem Fenster. Dunkelheit und Donner überrollten im Nu alles, und in die nachfolgende Stille schrie eine Stimme vom Wachtturm: »Wer da?« Die Kavallerie verhielt sich sehr ruhig, aber jeder Mann griff seinen Karabiner fester und stand neben seinem Pferd. Wieder rief die Stimme: »Wer da?« und lauter: »Gebt Alarm, o Brüder!« Nun wäre jeder Mann der Kavallerie eher in seinen hohen Stiefeln gestorben, ehe er um Pardon gebeten hätte; Tatsache aber ist, daß die Antwort, auf den zweiten Anruf ein langes klagendes »Marfkaro! Marfkaro!« war, was bedeutet: »Habt Gnade! Habt Gnade!« Es kam von dem bergauf kletternden Regiment. Die Kavallerie stand sprachlos vor Verblüffung, bis die großen Reiter Zeit fanden, einander zuzuflüstern: »Mir Khan, war das Deine Stimme? Abdullah, hast Du gerufen?« Leutnant Halley stand neben seinem Schlachtroß und wartete. Solange kein Feuer kam, war er es zufrieden. Ein anderer Blitz zeigte die Pferde mit wogenden Flanken und nickenden Köpfen, die Männer weißäugig starrend neben ihnen, und den steinernen
Wachtturm zur Linken. Diesmal war kein Kopf im Fenster, und der grobe eisenbeschlagene Laden, der eine Gewehrkugel abfangen konnte, war geschlossen. »Weiter, Männer«, sagte der Major. »Auf jeden Fall rauf auf den Gipfel.« Die Schwadron mühte sich voran, die Pferde schlugen mit den Schweifen, die Männer zerrten an den Zügeln, die Steine rollten den Berghang hinab, die Funken stoben. Leutnant Halley erklärt, daß er niemals in seinem Leben eine Schwadron soviel Lärm habe machen hören. Sie seien, sagt er, raufgekrabbelt, als habe jedes Pferd acht Beine und dahinter ein Reservepferd. Selbst jetzt kam kein Geräusch vom Wachtturm, und erschöpft hielten die Männer auf dem Kamm inne, der das Loch der Finsternis überblickte, in dem das Dorf von Bersund lag. Gurte wurden gelockert, Kinnriemen verschoben und Sättel gerichtet, und die Männer fielen zwischen die Steine. Was immer jetzt geschehen mochte, sie hatten gegenüber jedem Angriff die höhere Position. Der Donner hörte auf und mit ihm der Regen, und die sanfte Dunkelheit einer Winternacht vor Morgengrauen bedeckte sie alle. Abgesehen vom Geräusch fallenden Wassers unten in den Schluchten war es still. Sie hörten, wie der Laden am Wachtturm unter ihnen mit einem Klirren zurückgeschwungen wurde und wie die Stimme des Wächters rief: »O Hafiz Ullah!« Das Echo nahm den Ruf auf: »La-la-la!« Und eine Antwort kam von dem hinter der Biegung des Berges verborgenen Wachtturm: »Was ist, Shahbaz Khan?« Shahbaz Khan antwortete mit der schrillen, hohen Stimme des Gebirglers: »Hast Du gesehen?« Die Antwort kam zurück: »Ja. Gott bewahre uns vor allen bösen Geistern!« Eine Pause, und dann:
»Hafiz Ullah, ich bin allein! Komm zu mir!« »Shahbaz Khan, auch ich bin allein; aber ich wage nicht, meinen Posten zu verlassen!« »Du lügst: Du hast Angst.« Eine längere Pause, und dann: »Ich habe Angst. Sei still! Sie sind immer noch unter uns. Bete zu Gott und schlafe.« Die Reiter lauschten und staunten, denn sie konnten nicht verstehen, was außer Erde und Stein unter den Wachttürmen liegen sollte. Shahbaz Khan fing wieder an zu rufen: »Sie sind unter uns. Ich kann sie sehen. Um der Barmherzigkeit Gottes willen komm zu mir herüber! Mein Vater erschlug zehn von ihnen. Komm herüber!« Hafiz Ullah antwortete mit sehr lauter Stimme: »Meiner war unschuldig. Höret, Ihr Männer der Nacht, weder mein Vater noch mein Blut hatten irgendeinen Teil an jener Sünde. Trag Du Deine eigene Strafe, Shahbaz Khan.« »Irgendeiner sollte die beiden Kerle daran hindern, wie Hähne herumzukrähen«, sagte Leutnant Halley, der unter seinem Felsen bibberte. Kaum hatte er sich umgedreht, um einen anderen Teil von sich dem Regen auszusetzen, als ein bärtiger langlockiger übelriechender Afghane den Berg herauf gerannt kam und in seine Arme stolperte. Halley hockte sich auf ihn und rammte ihm so viel Degenknauf, wie er entbehren konnte, in den Rachen. »Wenn Du schreist, töte ich Dich«, sagte er fröhlich. Der Mann war über alle Maßen verängstigt. Er lag da und bebte grunzend. Als Halley den Degenknauf zwischen seinen Zähnen herausnahm, brachte er noch immer keinen Ton hervor, sondern klammerte sich an Halleys Arm und betastete ihn vom Ellbogen bis zum Handgelenk. »Die Rissala! Die tote Rissala!« keuchte er. »Sie ist da unten!«
»Nein; die Rissala, die sehr lebendige Rissala. Sie ist hier oben«, sagte Halley, löste seine Wassertrense und band dem Mann die Hände. »Warum wart Ihr in den Türmen so närrisch, uns vorbeizulassen?« »Das Tal ist voll von Toten«, sagte der Afghane. »Es ist besser, in die Hände der Engländer zu fallen als in die Hände der Toten. Sie marschieren da unten hin und her. Ich sah sie im Blitz.« Er gewann nach einer Weile seine Fassung wieder und sagte flüsternd, weil Halleys Pistole an seinem Bauch war: »Was soll das? Da ist jetzt kein Krieg zwischen uns, und der Mullah wird mich töten, weil ich Euch nicht passieren sah!« »Bleib ruhig«, sagte Halley; »wir sind gekommen, um den Mullah zu töten, wenn es Gott gefällt. Seine Zähne sind zu lang geworden. Dir wird kein Leid zustoßen, es sei denn, das Tageslicht zeigt Dein Gesicht als eines, nach dem sich wegen begangener Verbrechen der Galgen sehnt. Was aber ist mit dem toten Regiment?« »Ich töte nur innerhalb meiner Grenze«, sagte der Mann unendlich erleichtert. »Das tote Regiment ist da unten. Die Männer müssen auf ihrem Marsch hindurchpassiert sein – vierhundert Tote auf Pferden, die zwischen ihren eigenen Gräbern herumstolpern, zwischen den kleinen Haufen – alles tote Männer, die wir erschlugen.« »Pfuhl«, sagte Halley. »Das erklärt, warum ich Carter verfluchte, und warum der Major mich verfluchte. Vierhundert Säbel, eh? Kein Wunder, daß wir dachten, da wären ein paar Männer überzählig in der Truppe. Kurruk Shah«, flüsterte er einem grauhaarigen Eingeborenenoffizier zu, der wenige Schritte von ihm entfernt lag, »hast du irgendwas von einer toten Rissala in diesen Bergen gehört?« »Gewiß«, sagte Kurruk Shah mit einem grimmigen Kichern. »Warum sonst hätte wohl ich, der ich siebenundzwanzig Jahre
der Königin diente und manchen Berghund tötete, laut um Gnade schreien sollen, als uns der Blitz den Wachttürmen sichtbar machte? Als junger Mann sah ich das Töten im Tal von Sheor Kôt da zu unseren Füßen, und ich kenne die Geschichte, die daraus erwuchs. Wie aber können die Geister der Ungläubigen gegen uns bestehen, die wir vom wahren Glauben sind? Binde dem Hund die Hände ein bißchen fester, Sahib. Ein Afghane ist wie ein Aal.« »Aber eine tote Rissala«, sagte Halley und zerrte an den Handgelenken seines Gefangenen. »Das ist närrisches Geschwätz, Kurruk Shah. Die Toten sind tot. Halt still, sag.« Der Afghane wand sich. »Die Toten sind tot, und aus dem Grund wandeln sie bei Nacht. Aber warum reden? Wir sind Männer; wir haben Augen und Ohren. Du kannst sie sehen und hören, da unten am Berghang«, sagte Kurruk Sha gefaßt. Halley starrte und lauschte lange und angespannt. Das Tal war voller erstickter Geräusche, wie jedes Tal das zur Nacht sein muß; aber ob er mehr sah oder hörte, als natürlich ist, weiß Halley allein, und er zieht es vor, nicht über dieses Thema zu sprechen. Schließlich ging, gerade vor dem Morgengrauen, eine grüne Rakete am fernen Ende des Tales von Bersund, an der Mündung der Schlucht, hoch, um anzuzeigen, daß die Gurkhas in Stellung waren. Rotes Licht von der Infanterie links und rechts antwortete, und die Kavallerie brannte ein weißes Licht. Afghanen sind im Winter Langschläfer, und erst bei vollem Tageslicht begannen Gutta Kutta Mullahs Männer aus ihren Hütten zu kriechen und sich die Augen zu reiben. Sie sahen Männer in grünen und roten und braunen Uniformen, auf ihre Waffen gestützt, säuberlich um den Krater des Dorfes von Bersund aufgereiht, in einer Kette, die nicht einmal ein Wolf hätte durchbrechen können. Sie rieben sich die Augen noch
mehr, als ein junger Mann mit rosigem Gesicht, der nicht einmal der Armee angehörte, sondern die Politische Abteilung vertrat, mit zwei Ordonnanzen den Berghang herabgeschlittert kam, an die Tür des Hauses von Gutta Kutta Mullah klopfte und ihm ruhig befahl, er solle herauskommen, um für sicheren Transport gebunden zu werden. Derselbe junge Mann wanderte weiter durch die Hütten, tippte hier einen Räuber und dort einen anderen leicht mit seinem Stöckchen an; und so wie jeder angezeigt wurde, ward er gebunden, hoffnungslos auf die bekrönten Gipfel ringsumher starrend, von denen englische Soldaten mit neugierigen Augen herabschauten. Nur der Mullah versuchte, sich mit Flüchen und großen Worten aufzuspielen, bis ein Soldat, der ihm die Hände band, sagte: »Halt die Schnauze! Warum biste nich rausgekomm als man’s Dir sachte, statt uns de ganze Nacht wach zu halten? Bist auch nich besser wie unser Kasernenfeger, oller Weißkopp von Hochgewächs! Rauf mit Dir!« Eine halbe Stunde später waren die Truppen mit dem Mullah und seinen dreizehn Freunden abgezogen. Die verschreckten Dörfler schauten traurig auf einen Haufen zerbrochener Musketen und zerspellter Schwerter und fragten sich, wie in aller Welt sie dazu gekommen waren, die Geduld der Indischen Regierung so falsch einzuschätzen. Es war eine sehr saubere kleine Affäre, sauber ausgeführt, und den beteiligten Männern wurde inoffiziell für ihre Dienste gedankt. Mir aber will scheinen, daß viel Anerkennung auch einem anderen Regiment gebührt, dessen Name nicht im Tagesbefehl der Brigade erscheint, und dessen bloße Existenz in Gefahr ist, vergessen zu werden.
Die Brückenbauer
Als Wenigstes erwartete Findlayson von der Abteilung Öffentliche Arbeiten den C. I. E.; er träumte von einem C. S. I.: seine Freunde aber versicherten ihm, daß er mehr verdiene. Drei Jahre lang hatte er Hitze und Kälte ertragen, Enttäuschung, Entmutigung, Gefahr und Krankheit, mit einer für ein Paar Schultern fast zu schweren Verantwortung; und Tag und Nacht war während dieser Zeit die große KashiBrücke über den Ganges unter seiner Aufsicht gewachsen. Nun würde in weniger als drei Monaten, wenn alles gut ging, Seine Exzellenz der Vizekönig die Brücke in vollem Staat eröffnen, ein Erzbischof würde sie segnen, der erste Transportzug mit Soldaten würde über sie fahren, und es würde Reden geben. Findlayson, C. E. saß in seiner Draisine auf einer Baustrecke, die entlang einer der Hauptfuttermauern verlief – den hohen steingefaßten Flußufern, die auf beiden Seiten des Flusses drei Meilen nach Nord und Süd ausgriffen – und erlaubte sich, an das Ende zu denken. Mit den Zufahrten war sein Werk eindreiviertel Meilen lang; eine Balkengitterbrücke, vertroßt mit den Findlayson’schen Hängetrossen, auf siebenundzwanzig Ziegelpfeilern. Jeder dieser Pfeiler maß vierundzwanzig Fuß im Durchmesser, war mit rotem AgraStein verblendet und achtzig Fuß tief unter die wandernden Sande des Ganges-Bettes abgesenkt. Über sie verlief die fünfzehn Fuß breite Eisenbahnlinie; nochmals darüber eine Fahrbahn von achtzehn Fuß, flankiert von Fußsteigen. An beiden Enden erhoben sich Türme aus rotem Backstein mit Schießscharten für Gewehre und Öffnungen für schweres Geschütz, und die Straßenrampe führte an ihre Bogenschenkel
heran. Die unfertigen Erdenden wimmelten und lebten von Hunderten und Aberhunderten kleiner Esel, die aus der gähnenden Abschachtung darunter mit Sackladungen voll Aushub herauskletterten; und die heiße Nachmittagsluft war mit dem Geräusch von Hufen erfüllt, dem Klappern der Stöcke der Treiber, und dem Platschen und Herabrollen des Drecks. Der Fluß war sehr niedrig, und auf dem blendend weißen Sand zwischen den drei mittleren Pfeilern standen massive Stapel von Eisenbahnschwellen, innen aufgefüllt und außen verschmiert mit Schlick, um die Last der Gitterbalken zu tragen, während diese vernietet wurden. In dem bißchen Tiefwasser, das die Trockenheit übriggelassen hatte, lief ein Schwingkran an seinem Zapfenbalken hin und her und schwang eiserne Werkstücke an ihren Platz, schnaubend und zurückweichend und grunzend, wie ein Elefant auf dem Holzplatz grunzt. Nieter schwärmten zu Hunderten über die Seitengitter und das Eisendach der Eisenbahnlinie, hingen an unsichtbaren Gerüsten unter den Bäuchen der Balkengitter, ballten sich um die Pfeilerhälse und ritten auf den Auskragungen der Fußsteigstreben; ihre Nietöfen und die Flammenzungen, die jeden Hammerschlag beantworteten, leuchteten im Sonnenglast nur blaßgelb. Im Osten und Westen und Norden und Süden ratterten und kreischten die Bauzüge die Aufschüttungen entlang, die mit braunen und weißen Steinen hochgetürmten Loren krachten hinter ihnen, bis die Seitenwände weggeschlagen und ein paar tausend Tonnen weiteres Material mit Brüllen und Rumpeln herausgestürzt wurden, um den Fluß im Zaum zu halten. Findlayson, C. E. drehte sich auf seiner Draisine um und überblickte das Antlitz des Landes, das er auf sieben Meilen umher verändert hatte. Blickte zurück auf das summende Dorf der fünftausend Arbeiter; blickte flußauf und flußab über die Querwälle und Sande hin; über den Fluß zu den ferneren
Pfeilern, die im Dunst verschwammen; hoch zu den Wachttürmen – und nur er wußte, wie stark sie waren – und sah mit einem Seufzer der Zufriedenheit, daß sein Werk gut war. Da stand seine Brücke vor ihm im Sonnenlicht, und ihr fehlte nur noch ein paar Wochen Arbeit am Gitterwerk der drei Mittelpfeiler – seine Brücke, roh und häßlich wie die Erbsünde, aber pukka – beständig – dauerhaft über die Zeit hinaus, zu der alle Erinnerung an die Erbauer, ja sogar an das vortreffliche Findlayson’sche Hängetrossenwerk, vergangen sein würde. Die Sache war so gut wie fertig. Hitchcock, sein Assistent, kam auf einem kleinen peitschenschwänzigen Kabuli-Pony entlang der Bahnlinie angaloppiert, das durch lange Übung sogar sicher über einen Brückenbock hätte traben können, und nickte seinem Chef zu. »Fast fertig«, sagte er, mit einem Lächeln. »Da habe ich gerade dran gedacht«, antwortete der Ältere. »Keine schlechte Arbeit für zwei Männer, was?« »Einer – und ein halber. Gott, was war ich für ein Grünschnabel aus Cooper’s Hill, als ich hierher kam!« Hitchcock kam sich sehr alt vor mit den gedrängten Erfahrungen der letzten drei Jahre, die ihn Macht und Verantwortlichkeit gelehrt hatten. »Sie waren wirklich ein Füllen«, sagte Findlayson. »Ich frage mich, wie Ihnen die Büroarbeit wieder gefallen wird, wenn diese Arbeit getan ist.« »Ich werde sie hassen!« sagte der junge Mann, und als er fortfuhr, folgte sein Blick dem Findlaysons, und er murmelte: »Verdammt gut, was?« ›Ich glaube, wir werden im Dienst weiter zusammen aufsteigen‹, dachte Findlayson bis sich. ›Du bist viel zu gut als Nachwuchs, um Dich an einen anderen zu verschwenden. Füllen warst Du; Assistent bist Du. Persönlicher Assistent, und
zwar in Simla, wirst Du sein, wenn mir aus dieser Arbeit auch nur die geringste Anerkennung zuwächst.‹ Wirklich hatte die Last der Arbeit ganz auf Findlayson und seinem Assistenten gelegen, diesem jungen Mann, den er gewählt hatte, weil er dessen Unerfahrenheit seinen eigenen Bedürfnissen anpassen konnte. Es gab da ein halbes Hundert Bauaufseher – Monteure und Nieter, Europäer, von den Eisenbahnwerkstätten ausgeliehen, mit vielleicht je zwanzig weißen und halbblütigen Untergebenen, die, unter Aufsicht, die Bienenschwärme der Arbeiter zu beaufsichtigen hatten –, aber niemand wußte besser als diese beiden, die einander vertrauten, daß den Untergebenen nicht zu vertrauen war. Vielmals waren sie in plötzlichen Krisen auf die Probe gestellt worden – durch herabstürzende Balken, das Brechen schwerer Flaschenzüge, das Versagen von Kränen, und durch den Zorn des Flusses –, aber kein Druck hatte unter ihnen auch nur einen Mann ans Tageslicht gebracht, den Findlayson und Hitchcock dadurch geehrt hätten, daß sie ihn ebenso unbarmherzig hätten arbeiten lassen wie sich selbst. Findlayson überdachte es von den Anfängen an: die Arbeit von Monaten im Büro auf einen Streich zerstört, als die Regierung von Indien im letzten Augenblick der Brücke zwei Fuß Breite zugab, im Glauben wohl, daß Brücken aus Papier ausgeschnitten würden, und so mindestens einen Viertel Hektar Berechnungen ruinierte – und Hitchcock, dem Enttäuschungen neu waren, barg den Kopf im Arm und weinte; die herzzerreißenden Verzögerungen bei der Erfüllung der Verträge in England; die nichtigen Korrespondenzen, in denen großer Reichtum aus Kommissionsgebühren angedeutet wurde, wenn eine, nur eine, ziemlich zweifelhafte Lieferung durchginge; der Kampf, der der Weigerung folgte; die sorgfältige höfliche Behinderung am anderen Ende, die dem Kampf folgte, bis Jung-Hitchcock zwei Urlaubsmonate zusammenlegte und sich noch zehn Tage von
Findlayson auslieh, seine armseligen Ersparnisse eines Jahres für eine wilde Blitzreise nach London ausgab und dort, wie seine eigene Zunge berichtete und die späteren Lieferungen bewiesen, die Furcht Gottes einem Mann beibrachte, der so groß war, daß er nur das Parlament fürchtete, und das so lange sagte, bis Hitchcock ihn an seiner eigenen Abendtafel bearbeitete, und ab da – fürchtete er auch die Kashi-Brücke und alle, die in ihrem Namen sprachen. Dann war da die Cholera, die über Nacht in das Dorf bei den Brückenwerken kam; und nach der Cholera schlugen die Pocken zu. Das Fieber, das sie ständig begleitet hatte. Hitchcock war zum Beamten dritter Klasse ernannt worden mit der Befugnis zu körperlichen Züchtigungen, um die Gemeinschaft besser im Zaum zu halten, und Findlayson hatte ihn beobachtet, wie er seine Macht maßvoll ausübte und lernte, was zu übersehen sei und was er sehen mußte. Es war eine lange lange Träumerei, und sie umfaßte Sturm, plötzliche Überschwemmungen, Tod in jeder Art und Form, wilde und entsetzliche Wut auf den Amtsschimmel, der einen Geist halb in den Wahnsinn trieb, dem bewußt war, daß er sich mit anderen Dingen befassen sollte; Trockenheit, Sanitäres, Finanzfragen; Geburt, Hochzeit, Beerdigung und Aufruhr im Dorf der zwanzig streitenden Kasten; Auseinandersetzung, Vorhaltung, Überredung, und die blanke Verzweiflung, mit der ein Mann zu Bett geht, dankbar, daß sein Gewehr zerlegt im Gewehrschrank liegt. Hinter all dem wuchs der schwarze Rahmen der Kashi-Brücke – Platte um Platte, Balken um Balken, Bogen um Bogen –, und jeder ihrer Pfeiler erinnerte ihn an Hitchcock, den Allgegenwärtigen, der seinem Chef ohne ein Versagen vom ersten Anfang an bis jetzt beiseite gestanden hatte. So war die Brücke die Arbeit zweier Männer – falls man nicht Peroo mitzählte, wie Peroo das selbst gewiß tat. Er war ein Laskare, ein Kharva aus Bulsar, der jeden Hafen zwischen
Rockhampton und London kannte, der auf den Britisch-IndienDampfern zum Rang eines serang aufgestiegen war, doch überdrüssig der Routineappelle und der sauberen Kleidung den Dienst aufgekündigt hatte und ins Binnenland gegangen war, wo Männer seines Kalibers einer Anstellung sicher waren. Wegen seiner Kenntnisse im Umgang mit Flaschenzügen und schweren Gewichten war Peroo fast jedes Geld wert, das er für seine Dienste verlangen mochte; aber der Brauch bestimmte den Lohn der Vorarbeiter, und Peroo blieb viele Silberstücke unter seinem wahren Wert. Er fürchtete weder fließendes Wasser noch schwindelnde Höhen; und als Ex-serang wußte er, wie Autorität durchzusetzen war. Kein Eisenstück war zu groß oder zu falsch plaziert, als daß Peroo nicht ein Hebezeug hätte erfinden können, es damit anzuheben – eine improvisierte, durchhängende Konstruktion, mit einem skandalösen Aufwand an Gerede errichtet, aber der zu bewältigenden Aufgabe perfekt angepaßt. Es war Peroo, der das Gitterwerk von Pfeiler Nummer sieben vor der Zerstörung gerettet hatte, als das neue Drahtseil sich in der Kranrolle verklemmte und der riesige Tragebalken in seinen Schlingen umkippte und seitlich herauszurutschen drohte. Da hatten die einheimischen Arbeiter unter großem Geschrei den Kopf verloren, und Hitchcocks rechter Arm wurde durch einen herabstürzenden T-Träger gebrochen, und er knüpfte ihn in seine Jacke ein und fiel in Ohnmacht, und kam wieder zu sich und gab vier Stunden lang Anweisungen, bis Peroo von der Spitze des Krans herab meldete »Alles in Ordnung« und der Tragebalken an seinen Platz schwang. Da war keiner wie Peroo, serang, beim Festzurren und Abstützen und Festhalten, beim Überwachen der Ladewinden, beim geschickten Emporhieven einer Lokomotive aus der Ausschachtung, in die sie gestürzt war; beim Entkleiden und Tauchen, wenn es denn sein mußte, um nachzusehen, wie die Betonblöcke um die
Pfeiler dem Scheuern von Mutter Gunga widerstanden, oder wenn es galt, sich in einer Monsunnacht stromauf zu wagen und über den Zustand der Uferverkleidungen zu berichten. Er pflegte den Kriegsrat von Findlayson und Hitchcock furchtlos zu unterbrechen, bis sein wundersames Englisch oder seine noch wundersamere Lingua franca, halb Portugiesisch und halb Malaiisch, erschöpft waren und er gezwungen war, sich ein Tau zu greifen und die Knoten vorzuführen, die er empfahl. Er kontrollierte seinen eigenen Trupp von Takelleuten – geheimnisvolle Verwandte, die er Monat um Monat in Kutch Mandvi zusammenholte und bis zum Äußersten erprobte. Keine Rücksicht auf Familie oder Verwandtschaft erlaubte es Peroo, untüchtige Hände oder einen unbesonnenen Kopf auf der Lohnliste zu behalten. »Meine Ehre ist die Ehre dieser Brücke«, pflegte er dem zu Feuernden zu sagen. »Was kümmert mich Deine Ehre? Hau ab und arbeite auf einem Dampfer. Das ist das Einzige, für das Du taugst.« Die kleine Gruppe Hütten, in denen er und sein Trupp lebten, stand um die verkommene Behausung eines Seepriesters – eines, der niemals Schwarzes Wasser befahren hatte, aber von zwei Generationen von Seeräubern zum geistlichen Beistand gewählt worden war, alle unbeeinflußt von den Hafenmissionen oder jenen Glaubensbekenntnissen, die Seeleuten von den Agenturen am Themseufer aufgedrängt werden. Der Priester der Laskaren hatte nichts mit ihrer Kaste zu tun oder mit überhaupt irgend etwas. Er aß die Opfergaben seiner Kirche, und schlief und rauchte, und schlief wieder, »denn«, sagte Peroo, der ihn tausend Meilen weit ins Binnenland geholt hatte, »er ist ein sehr heiliger Mann. Er kümmert sich nicht darum, was man ißt, solange man nicht vom Rind ißt, und das ist gut, denn am Land verehren wir Kharvas Shiva; aber auf See auf den Schiffen der Kumpani befolgen wir strikt die Befehle des Burra Malum (des ersten
Bootsmanns), und auf dieser Brücke gehorchen wir dem, was Finlinson Sahib sagt.« Findlayson Sahib hatte an jenem Tag Befehl gegeben, das Baugerüst am Wachtturm auf dem rechten Ufer abzubrechen, und Peroo machte mit seinen Mannen die Bambuspfosten und die Planken ebenso schnell los und ließ sie herab, wie sie nur je die Ladung aus einem Küstenfrachter herausgeschwungen hatten. Von seiner Draisine aus konnte er das Pfeifen der silbernen Pfeife des serang hören und das Kreischen und Klappern der Winden. Peroo stand auf der obersten Mauerkappe des Turms, gekleidet in das blaue Dungaree seines verlassenen Dienstes, und als Findlayson ihm bedeutete, vorsichtig zu sein, da er kein Leben fortzuwerfen habe, umklammerte er den letzten Pfosten und antwortete, indem er die Augen schiffsmäßig beschattete, mit dem langgezogenen Ruf eines Ausgucks auf der Vorderback: »Harn dekhta hai« (Bin auf Ausguck). Findlayson lachte, und dann seufzte er. Es war Jahre her, seit er einen Dampfer gesehen hatte, und er war krank vor Heimweh. Als seine Draisine unter dem Turm vorbeifuhr, kam Peroo an einem Seil nach Affenart herab und rief: »Sieht jetzt alles gut aus, Sahib. Unsere Brücke ist fast fertig. Was, meinst Du, wird Mutter Gunga sagen, wenn das Gleis oben entlang läuft?« »Bisher hat sie wenig gesagt. Es war nie Mutter Gunga, die uns aufgehalten hat.« »Dazu hat sie immer noch Gelegenheit; und es hat auch so Verzögerungen gegeben. Hat der Sahib die Flut vom letzten Herbst vergessen, als die Steinkähne ohne Warnung versenkt wurden – oder mit nur eines halben Tages Warnung?« »Ja, aber jetzt kann uns nichts mehr außer einer großen Flut schaden. Die Buhnen halten gut am Westufer.«
»Mutter Gunga ißt große Bissen. Da ist immer noch Platz für mehr Steine an der Futtermauer. Ich hab das Chota Sahib gesagt« – er meinte Hitchcock –, »und der lacht.« »Macht nichts, Peroo. Noch ein Jahr, und Du wirst selbst eine Brücke nach Deinen eigenen Vorstellungen bauen können.« Der Laskare grinste. »Dann wird es nicht auf diese Weise sein – mit unter Wasser versenktem Steinwerk wie die Quetta gesunken ist. Ich mag Sas-sas-penschen-Brücken, die von einem Ufer ans andere fliegen, mit einem großen Schritt, wie ein Laufsteg. Dann kann kein Wasser schaden. Wann kommt der Lord Sahib, um die Brücke zu eröffnen?« »In drei Monaten, wenn das Wetter kühler ist.« »Ho! ho! Er ist wie der Burra Malum. Er schläft unter Deck, während die Arbeit getan wird. Dann kommt er aufs Achterdeck und berührt alles mit dem Finger und sagt: ›Das ist nicht sauber. Verdammter Affenkerl!‹« »Aber der Lord Sahib wird mich nicht einen verdammten Affenkerl nennen, Peroo.« »Nein, Sahib; aber er kommt nicht auf Deck, bevor die Arbeit beendet ist. Selbst der Burra Malum auf der Nerbudda sagte mal vor Tuticorin – « »Schluß! Hau ab! Ich habe zu tun.« »Ich auch«, sagte Peroo mit unerschütterlicher Haltung. »Kann ich jetzt das leichte Dinghi nehmen und die Buhnen abrudern?« »Um sie mit Deinen Händen zu stützen? Sie sind, glaube ich, schwer genug.« »Nun, Sahib. Das ist so. Auf See, auf dem Schwarzen Wasser, haben wir Platz, um unbesorgt hin und her geweht zu werden. Hier haben wir überhaupt keinen Platz. Siehe, wir haben den Fluß in ein Dock eingesperrt und machen ihn zwischen Steinschwellen laufen.« Findlayson lächelte ob des »wir«.
»Wir haben sie gezäumt und gezügelt. Sie ist nicht wie die See, die auf einen weichen Strand schlagen kann. Sie ist Mutter Gunga – in Eisen.« Seine Stimme sank ein wenig. »Peroo, Du bist mehr in der Welt herumgekommen als selbst ich. Sprich jetzt wahre Rede. Wieviel glaubst Du in Deinem Herzen von Mutter Gunga?« »Alles, was uns die Priester sagen. London ist London, Sahib. Sidney ist Sidney, und Port Darwin ist Port Darwin. Und so ist Mutter Gunga Mutter Gunga, und wenn ich an ihre Ufer zurückkomme, weiß ich das und bete sie an. In London machte ich poojah vor dem großen Tempel am Fluß wegen des Gottes darinnen…Ja, ich werde die Kissen nicht ins Boot mitnehmen.« Findlayson bestieg sein Pferd und trabte zu dem Schuppen von einem Bungalow, den er mit seinem Assistenten teilte. Der Platz war ihm zum Heim geworden in den letzten drei Jahren. Er hatte in der Hitze geschmort, im Regen geschwitzt und im Fieber gezittert unter dem großen Strohdach; der Kalkverputz neben der Tür war mit groben Zeichnungen und Formeln bedeckt, und der in den Mattenbelag der Veranda getretene Wachpostenpfad zeigte, wo er allein gewandert war. Für die Arbeit eines Ingenieurs gibt es keinen Achtstundentag, und das Abendbrot mit Hitchcock ward gestiefelt und gespornt gegessen: über ihren Zigarren lauschten sie auf das Summen des Dorfes, als die Trupps aus dem Flußbett heraufkamen und die Lichter zu funkeln begannen. »Peroo ist in Ihrem Dinghi rauf zu den Buhnen gefahren. Er hat ein paar Neffen mitgenommen und räkelt sich im Heck wie ein Kommodore«, sagte Hitchcock. »Schon recht. Ihn bedrückt etwas. Man sollte meinen, zehn Jahre Dienst auf den Britisch-Indien-Dampfern sollten ihm seine Religion weitgehend rausgeprügelt haben.«
»Haben sie auch«, sagte Hitchcock kichernd. »Neulich hab ich ihn zufällig mitten in einem höchst atheistischen Gerede mit dem fetten alten guru von ihnen gehört. Peroo leugnete die Wirksamkeit von Gebeten; und forderte den guru auf, mit ihm auf See zu kommen und während eines Sturms mit ihm Wache zu gehen und zu sehen, ob er einen Monsun anhalten kann.« »Trotzdem, wenn man seinen guru wegschleppte, würde er uns wie ne Kugel verlassen. Er hat mir da ne Geschichte erzählt, wie er die St. Pauls-Kathedrale angebetet hat, als er in London war.« »Mir hat er erzählt, daß er beim ersten Mal, als er, ein Junge noch, in den Maschinenraum eines Dampfers kam, Niederdruckzylinder angebetet hat.« »Ist ja auch gar keine so schlechte Sache zum Anbeten. Jetzt will er seine eigenen Götter versöhnen und will herausfinden, was Mutter Gunga von einer Brücke denkt, die über sie hinweg geführt wird. Wer ist da?« Ein Schatten verdunkelte den Eingang, und ein Telegramm wurde in Hitchcocks Hand gedrückt. »Daran sollte sie eigentlich inzwischen gewöhnt sein. Nur ein tar. Müßte Rallis Antwort wegen der neuen Nieten… Guter Gott!« Hitchcock sprang auf. »Was ist los?« fragte der Ältere und nahm das Formular. »Das also denkt Mutter Gunga«, sagte er, während er las. »Ruhig Blut, Jüngling. Wir kriegen alle unsere Arbeit vorgeschnitten. Wollen sehen. Muir telegraphiert vor einer halben Stunde: ›Flut auf dem Ramgunga. Vorsicht.‹ Na schön, das gibt uns – ein, zwei – neuneinhalb Stunden, bis die Flut Melipur Ghaut erreicht, und sieben, macht sechzehneinhalb bis Latodi – sagen wir fünfzehn Stunden, bis sie zu uns kommt.« »Verfluchter Ramgunga, dieser Abzugsgraben aller Bergwässer! Findlayson, das ist zwei Monate früher, als
irgendwas zu erwarten war, und das linke Ufer liegt noch voller Material. Zwei volle Monate vor der Zeit!« »Deshalb passiert es ja. Ich kenne indische Flüsse erst seit fünfundzwanzig Jahren und behaupte nicht, sie zu verstehen. Hier kommt noch ein tar.« Findlayson öffnete das Telegramm. »Das ist Cockran, vom Ganges-Kanal: ›Hier schwere Regen Übel.‹ Das letzte Wort hätte er sich sparen können. Na schön, mehr wollen wir gar nicht wissen. Wir müssen die Trupps die ganze Nacht arbeiten und das Flußbett säubern lassen. Sie übernehmen das Ostufer und arbeiten auf die Mitte zu, mich da zu treffen. Schaffen Sie alles, was schwimmt, hinter die Brücke: wir werden sowieso genug Zeugs runtergeschwemmt bekommen, ohne daß die Steinkähne die Pfeiler rammen. Worum müssen Sie sich auf dem Ostufer kümmern?« »Ponton, ein großes Ponton mit dem Schwingkran drauf. Den anderen Schwingkran auf dem geflickten Ponton, mit dem Nietzeug für die Pfeiler zwanzig bis dreiundzwanzig – zwei Baugeleise und eine Wendeplatte. Die Baugerüste müssen ihr Glück versuchen«, sagte Hitchcock. »Na schön. Schaffen Sie alles fort, was Sie erwischen können. Wir wollen den Leuten noch fünfzehn Minuten für ihr Futter geben.« Nahe der Veranda stand ein großer Nachtgong, der nur bei Flutwasser oder Brand im Dorf benutzt wurde. Hitchcock hatte nach einem frischen Pferd gerufen und war zu seiner Seite der Brücke abgeritten, als Findlayson den stoffumwickelten Schlägel nahm und mit jenem streichenden Schlag anschlug, der den vollen Donner des Metalls hervorbringt. Lange bevor das letzte Dröhnen verklang, hatte jeder Nachtgong im Dorf die Warnung aufgegriffen. Hinzu kam das heisere Kreischen der Muschelhörner in den kleinen Tempeln; das Hämmern der Trommeln und Tamtams; und vom Europäerviertel her, wo die Nieter wohnten, blökte kläglich
M’Cartneys Hifthorn, an Sonn- und Feiertagen eine ärgerniserregende Waffe, und rief ›zu den Pferden‹. Lok um Lok, die nach getaner Tagesarbeit entlang der Buhnen heimwärts rollte, pfiff zur Antwort, bis das Pfeifen vom Gegenufer beantwortet wurde. Dann donnerte der große Gong dreimal zum Zeichen, daß es eine Flut und kein Feuer war; Muschelhorn, Trommel und Pfeife echoten den Ruf, und das Dorf erbebte vom Klang nackter Füße, die auf weicher Erde rannten. Der Befehl für alle Fälle war, am Platz der Tagesarbeit Anweisungen abzuwarten. Die Trupps strömten im Dunkel vorüber; Männer blieben stehen, um sich den Lendenschurz zu knoten oder eine Sandale festzubinden; Vorarbeiter schrien im Rennen oder während sie vor den Werkzeugschuppen auf Stangen und Hacken warteten nach ihren Untergebenen; Lokomotiven krochen auf ihren Geleisen radtief durch die Menge, bis der braune Strom im Dunkel des Flußbettes verschwand, über die Baugerüste raste, über das Gitterwerk schwärmte, sich um die Kräne ballte, und innehielt, jeder Mann an seinem Platz. Dann trug der verstörte Schlag des Gongs den Befehl herbei, alles aufzuheben und es über die Hochwassergrenze zu bringen, und die Schweißbrenner flammten zu Hunderten im Netzwerk aus Gußeisen auf, als die Nieter ihre Nachtarbeit im Wettrennen gegen die kommende Flut aufnahmen. Die Tragbalken der drei Mittelpfeiler – jene, die auf den Schwellenstapeln ruhten – waren alles andere als am rechten Platze. Sie brauchten so viele Nieten wie nur möglich, denn die Flut würde mit Sicherheit die Widerlager unterspülen, und das Eisenwerk würde sich auf die Blendsteine aufsetzen, wenn es nicht an den Enden vernietet war. Hundert Brechstangen schufteten an den Schwellen der provisorischen Geleise, die die unvollendeten Pfeiler fütterten. Sie wurden schienenweise hochgehievt, auf Loren verladen und von ächzenden
Lokomotiven das Ufer hinauf über die Hochwassermarke geschoben. Die Werkzeugschuppen auf den Sänden schmolzen im Angriff schreiender Heere dahin, und mit ihnen die aufgestapelten Reihen von Regierungsvorräten, eisenbeschlagene Kisten voll Nieten, Drahtzangen, Schneidemaschinen, Ersatzteile der Nietapparate, Reservepumpen und Ketten. Der große Kran würde als letztes fortgeschafft werden, denn er hievte all das schwere Material auf den Hauptbau der Brücke. Die Betonblöcke auf der Flotte von Steinkähnen wurden über Bord geworfen, wo sich tieferes Wasser fand, um die Pfeiler zu schützen, und die leeren Kähne selbst wurden unter der Brücke stromabwärts vertäut. Hier schrillte Peroos Pfeife am lautesten, denn der erste Schlag des großen Gongs hatte das Dinghi mit Renngeschwindigkeit zurückgebracht, und Peroo und seine Männer arbeiteten, bis an die Hüften nackt, für Ehre und Ansehen, die mehr gelten als das Leben. »Ich wußte, daß sie sprechen würde«, schrie er. »Ich wußte es, aber der Telegraph gab uns gute Warnung. O Söhne unausdenklicher Zeugung – Kinder unnennbarer Schande – sind wir hier wegen dieses Dinges Anblick?« Das waren zwei Fuß Drahtseil, an den Enden ausgefranst, die Wunder taten, als Peroo von Schandeckel zu Schandeckel sprang und die Sprache der See brüllte. Findlayson war wegen der Steinkähne besorgter, als wegen sonst etwas. M’Cartney blockierte mit seinem Trupp die Enden der drei zweifelhaften Träger, aber treibende Boote konnten, wenn die Flut hoch war, das Trägerwerk gefährden; und da war eine wahre Flotte in den ausgetrockneten Kanälen. »Schaff sie hinter die Stauung an den Wachttürmen«, schrie er Peroo zu. »Da wird Stauwasser stehen; bring sie unter die Brücke.«
»Accba! (Sehr gut). Ich weiß. Wir werden sie mit Drahtseilen vertäuen«, war die Antwort. »He! Höret den Chota Sahib. Er arbeitet hart.« Über den Fluß kam ein fast ununterbrochenes Pfeifen von Lokomotiven, unterstützt von Steingerumpel. Hitchcock verbrauchte in letzter Minute noch einige hundert Loren Tarakee-Stein, um seine Buhnen und Uferbefestigungen zu verstärken. »Die Brücke fordert Mutter Gunga heraus«, sagte Peroo lachend. »Wenn aber sie redet, weiß ich, wessen Stimme die lauteste sein wird.« Stundenlang arbeiteten die nackten Männer und schrien und brüllten unter den Lampen. Es war eine heiße mondlose Nacht; ihr Ende wurde durch Wolken und eine plötzliche Bö verdunkelt, die Findlayson sehr ernst stimmte. »Sie bewegt sich!« sagte Peroo gerade vor Morgengrauen. »Mutter Gunga ist erwacht! Horchet!« Er tauchte seine Hand über den Rand eines Bootes und die Strömung mummelte an ihr. Eine kleine Welle schlug mit einem Kräuselklatsch gegen die Seite eines Pfeilers. »Sechs Stunden vor ihrer Zeit«, sagte Findlayson, und rieb sich wild die Stirn. »Jetzt müssen wir auf alles gefaßt sein. Wir sollten am besten alle Leute das Flußbett räumen lassen.« Wieder schlug der große Gong an, und ein zweites Mal war da das Hasten nackter Füße auf Erde und dröhnendem Eisen; das Geklirr des Werkzeugs hörte auf. In der Stille hörten die Männer das trockene Gähnen von Wasser, das über durstigen Sand kriecht. Vorarbeiter um Vorarbeiter schrie zu Findlayson hinüber, der sich beim Wachtturm aufgestellt hatte, daß sein Abschnitt des Flußbettes geräumt sei, und als die letzte Stimme schwieg, eilte Findlayson über die Brücke, bis die eisernen Platten der
ständigen Fahrbahn dem provisorischen Plankensteg über die drei Mittelpfeiler wichen, und da traf er Hitchcock. »Bei Ihnen alles klar?« fragte Findlayson. Das Flüstern hallte in dem Käfig aus Gitterwerk. »Ja, und der Ostkanal füllt sich jetzt. Wir haben uns total verrechnet. Wann kommt dieses Ding auf uns runter?« »Kann man nicht sagen. Sie schwillt so schnell an wie sie kann. Sehen Sie!« Findlayson deutete auf die Planken unter seinen Füßen, wo der von monatelanger Arbeit verbrannte und verschmutzte Sand zu flüstern und zu zischen begann. »Was für Befehle?« fragte Hitchcock. »Appell durchführen – Vorräte zählen – auf Ihrem Hintern sitzen – und für die Brücke beten. Das ist alles, was mir einfallen will. Gute Nacht. Riskieren Sie Ihr Leben nicht, um irgendwas herauszuangeln, das den Fluß runter geht.« »Oh, ich werde so vorsichtig sein wie Sie! ‘Nacht. Gott, wie sie anschwillt! Hier ist allen Ernstes auch noch der Regen!« Findlayson suchte seinen Weg zurück zu seinem Ufer und scheuchte die letzten Nieter M’Cartneys vor sich her. Die Trupps hatten sich ohne Rücksicht auf den kalten Regen des Morgengrauens entlang der Uferaufschüttungen verteilt, und da warteten sie auf die Flut. Nur Peroo hielt seine Männer hinter dem Stauwasser des Wachtturms zusammen, wo die Steinkähne vorn und achtern mit Trossen, Drahtseilen und Ketten vertäut lagen. Ein schriller Ruf lief die Linie entlang und wuchs zu einem Gellen, halb Furcht und halb Staunen: das Antlitz des Flusses wurde weiß von Ufer zu Ufer zwischen den Steinverkleidungen, und die fernen Gegenbuhnen verschwanden in Schaumspritzern. Mutter Gunga kam in Dammhöhe herbeigeeilt, und eine Wand schokoladefarbenen Wassers war ihr Vorbote. Da war ein Kreischen über dem Brüllen des Wassers, Klageschrei der Trägerbalken, die auf
ihre Blöcke herabsackten, als die Schwellenstapel unter ihren Bäuchen fortgewirbelt wurden. Die Steinkähne ächzten und scheuerten aneinander in dem Strudel, der um das Widerlager wirbelte, und ihre plumpen Masten stiegen vor dem trüben Horizont höher und höher. »Bevor sie zwischen diese Wände eingeschlossen ward, wußten wir, was sie tun würde. Nun sie so eingezwängt ist, weiß Gott allein, was sie tun wird!« sagte Peroo, der den wütenden Aufruhr rings um den Wachtturm beobachtete. »Ohe! Dann kämpfe. Kämpfe hart, denn so erschöpft ein Weib sich selbst.« Aber Mutter Gunga wollte nicht so kämpfen wie Peroo wünschte. Nach dem ersten Schwall flußab kamen keine weiteren Wasserwände, sondern der Fluß hob sich leibhaftig wie eine Schlange, wenn sie mitsommers trinkt, und zupfte und fingerte an den Uferbefestigungen herum und bäumte sich hinter den Pfeilern auf, bis selbst Findlayson begann, die Stärke seines Werkes zu überrechnen. Als der Tag kam, keuchte das Dorf auf. »Letzte Nacht noch«, sagten die Männer und wandten sich einander zu, »war es im Flußbett wie eine Stadt! Jetzt sehet hin!« Und sie sahen hin und staunten erneut ob des tiefen Wassers, des reißenden Wassers, das die Gurgeln der Pfeiler beleckte. Das jenseitige Ufer war vom Regen verschleiert, in den die Brücke hineinlief und verschwand; die Buhnen stromauf kennzeichneten nurmehr Strudel und Spritzer, und stromab hatte der eingepferchte Fluß, einmal von seinen Zwängen befreit, sich wie ein Meer bis zum Horizont ausgebreitet. Dann eilten im Wasser sich drehend tote Männer vorüber gemeinsam mit Ochsen, und hier und da ein Stück Strohdach, das sich auflöste, wenn es einen Pfeiler berührte. »Große Flut«, sagte Peroo, und Findlayson nickte. Es war eine so große Flut, wie zu sehen er sich nur wünschen konnte.
Seine Brücke konnte dem standhalten, was jetzt von ihr verlangt wurde, aber nicht sehr viel mehr; und wenn aus einer von tausend Zufälligkeiten sich eine Schwachstelle in den Uferbefestigungen finden sollte, würde Mutter Gunga seine Ehre mitsamt dem anderen Gerümpel ins Meer schwemmen. Am schlimmsten von allem war, daß nichts zu tun war außer stillsitzen; und Findlayson saß still unter seinem Regenmantel, bis sein Tropenhelm Brei auf seinem Kopf wurde und seine Stiefel knöcheltief im Schlamm staken. Er zählte die Zeit nicht, denn der Fluß markierte die Stunden an der Uferbefestigung, Zoll um Zoll und Fuß um Fuß, und er lauschte stumpf und hungrig auf das heftige Arbeiten der Steinkähne, den hohlen Donner unter den Pfeilern und die hundert Geräusche, die den vollen Ton einer Flut machen. Einmal brachte ihm ein tropfnasser Diener Essen, aber er konnte nicht essen; und einmal glaubte er, den schwachen Pfiff einer Lokomotive über den Fluß zu hören, und da lächelte er. Ein Versagen der Brücke würde seinen Assistenten nicht wenig treffen, aber Hitchcock war ein junger Mann und hatte sein großes Werk noch vor sich. Für ihn selbst bedeutete der Zusammenbruch alles – alles, das ein hartes Leben lebenswert machte. Sie würden sagen, die Männer seines Faches – er erinnerte sich der halb mitleidigen Dinge, die er selbst gesagt hatte, als Lockharts große Wasserwerke barsten und in Ziegelhaufen und Schlamm niederbrachen und Lockharts Geist in ihm zerbrach und er starb. Er erinnerte, was er selbst gesagt hatte, als die Sumao-Brücke im großen Zyklon am Meer unterging; und am deutlichsten erinnerte er sich an das Gesicht des armen Hartopp drei Wochen später, als die Schmach es gezeichnet hatte. Seine Brücke war doppelt so groß wie die von Hartopp und trug außerdem die Findlayson’sche Vertrossung wie den neuen Pfeilerschuh – den Findlayson’schen Riegelschuh. In seinem Dienst gab es keine
Entschuldigungen. Die Regierung mochte vielleicht zuhören, aber die seines Faches würden ihn nach seiner Brücke beurteilen, wie sie stand oder stürzte. Er ging sie im Kopf durch, Platte für Platte, Bogen für Bogen, Stein für Stein, Pfeiler für Pfeiler, sich erinnernd, vergleichend, abwägend, nachrechnend, ob da irgendein Fehler sei; und durch die langen Stunden und durch die Formelfluchten, die vor ihm tanzten und wirbelten, kam kalte Furcht, die sich in sein Herz krallte. Seine Berechnungen waren fraglos richtig; aber welcher Mann kannte Mutter Gungas Arithmetik? Selbst während er alles mit der Multiplikationstabelle überprüfte, mochte der Fluß tiefe Löcher in die Fundamente eines jeden dieser achtzig Fuß hohen Pfeiler drillen, die seinen guten Ruf trugen. Wieder kam ein Diener mit Essen zu ihm, aber sein Mund war trocken, und er konnte nur trinken und zu den Dezimalen in seinem Hirn zurückkehren. Und der Fluß stieg weiter. Peroo kauerte in einem Wettermantel aus Binsen zu seinen Füßen, betrachtete bald sein Gesicht, bald das Gesicht des Flusses, aber sagte nichts. Schließlich erhob sich der Laskare und schlitterte durch den Schlamm zum Dorf, aber er war sorgsam genug, einen seiner Mannen als Wache bei den Booten zurückzulassen. Kurz danach kehrte er zurück und trieb höchst respektlos den Priester seines Glaubens vor sich her – einen fetten alten Mann mit grauem Bart, den der Wind mit dem nassen Tuch peitschte, das ihm um die Schultern wehte. Nie sah man einen beklagenswerteren guru. »Wozu sind Opfergaben gut und kleine Kerosinlämpchen und trockenes Korn«, brüllte Peroo, »wenn Dich im Schlamme wälzen alles ist, was Du tun kannst? Du hast langen Umgang mit den Göttern gepflogen, als sie zufrieden und wohlwollend waren. Nun sind sie zornig. Sprich mit ihnen!«
»Was ist ein Mensch gegen den Zorn der Götter?« winselte der Priester und kauerte sich zusammen, als der Wind ihn packte. »Laß mich zum Tempel gehen, und ich werde dort beten.« »Sohn eines Schweines, bete hier! Ist da keine Gegengabe für gesalzenen Fisch und Currypulver und getrocknete Zwiebeln? Rufe laut! Sage Mutter Gunga, daß wir genug haben. Befehle ihr, in der Nacht ruhig zu sein. Ich kann nicht beten, aber ich habe auf den Dampfern der Kumpani gedient, und wenn Männer meinen Befehlen nicht gehorchten, habe ich – « Ein Schnörkel mit der Drahtpeitsche rundete den Satz ab, und der Priester riß sich von seinem Jünger los und floh zum Dorf. »Fettes Schwein!« sagte Peroo. »Nach allem, was wir für ihn getan haben! Sobald das Wasser gefallen ist, werde ich dafür sorgen, daß wir einen neuen guru bekommen. Finlinson Sahib, die Nacht dunkelt schon, und seit gestern ward nichts gegessen. Sei weise, Sahib. Kein Mann kann Wache halten und tiefes Nachdenken auf leeren Bauch ertragen. Leg Dich nieder, Sahib. Der Fluß wird tun, was der Fluß tun will.« »Das ist meine Brücke; ich kann sie nicht verlassen.« »Willst Du sie mit Deinen Händen aufrecht halten?« lachte Peroo. »Ich habe mich um meine Boote und Kräne gesorgt, bevor die Flut kam. Jetzt sind wir in den Händen der Götter. Will der Sahib nicht essen und sich niederlegen? Dann nimm dies. Das ist Fleisch und guter Schnaps in einem, und es tötet alle Müdigkeit und außerdem das Fieber, das dem Regen folgt. Ich habe heute nichts anderes gegessen.« Er nahm eine kleine zinnerne Tabaksbüchse aus seinem durchnäßten Hüftgurt, schob sie in Findlaysons Hand und sagte: »Hab keine Furcht. Es ist nur Opium – reines MalwaOpium.« Findlayson schüttelte sich zwei oder drei der dunkelbraunen Kügelchen in die Hand und schluckte sie, ohne recht zu
wissen, was er tat. Das Zeug war wenigstens ein gutes Mittel gegen das Fieber – das Fieber, das aus dem nassen Schlamm in ihm hochkroch –, und er hatte gesehen, was Peroo in den brodelnden Herbstnebeln aus der Stärke einer Dosis aus der Zinnbüchse heraus tun konnte. Peroo nickte mit leuchtenden Augen: »Bald – ganz bald wird der Sahib feststellen, daß er wieder richtig denken kann. Auch ich will – « Er tauchte in sein Schatzdöschen, zog sich den Regenmantel wieder über den Kopf und hockte nieder, um die Boote zu beobachten. Es war schon zu dunkel, um weiter als bis zum ersten Pfeiler zu sehen, und die Nacht schien dem Fluß neue Kraft gegeben zu haben. Findlayson stand mit dem Kinn auf der Brust und dachte nach. Es gab da eine Sache mit einem der Pfeiler – dem siebten –, die er im Kopf noch nicht völlig geklärt hatte. Die Ziffern wollten sich nicht mehr vor seinem Auge formen, nur eine nach der anderen, und nur mit gewaltigen Zwischenpausen. Da war ein Klang in seinen Ohren, reich und weich, wie der tiefste Ton eines Kontrabasses – ein verzaubernder Ton, dem er, wie es schien, viele Stunden lang nachsann. Dann war Peroo an seiner Seite und schrie, daß eine Drahttrosse gerissen sei und die Steinkähne frei trieben. Findlayson sah die Flotte sich öffnen und wie ein Fächer ausschwingen zum langgezogenen Kreischen von Drahtseilen, die über Schandeckel zerrten. »Ein Baum traf sie. Sie werden alle abtreiben«, schrie Peroo. »Die Haupttrosse ist gerissen. Was wird der Sahib tun?« Ein ungeheuer komplexer Plan war plötzlich in Findlaysons Geist geschossen. Er sah die Trossen in geraden Linien und Winkeln von Boot zu Boot laufen – jede Trosse eine Linie weißen Feuers. Aber da war eine Trosse, die die Haupttrosse war. Er konnte diese Trosse sehen. Wenn er ein einziges Mal an ihr ziehen konnte, war es absolut und mathematisch sicher, daß die in Unordnung geratene Flotte sich wieder im
Stauwasser hinter dem Wachtturm sammeln würde. Aber warum nur, wunderte er sich, klammerte Peroo sich so verzweifelt um seine Hüften, als er das Ufer hinabhastete? Man mußte den Laskaren beiseite schieben, sanft und langsam, denn man mußte die Boote retten und außerdem die ungeheure Leichtigkeit des Problems vorführen, das so schwierig zu sein schien. Und dann – aber das war von keiner sonderlichen Wichtigkeit – raste ein Drahtseil durch seine Hand, verbrannte sie, das hohe Ufer verschwand und mit ihm alle die sich langsam zerstreuenden Faktoren des Problems. Er saß in der regnerischen Dunkelheit – saß in einem Boot, das sich wie ein Kreisel drehte, und Peroo stand über ihm. »Ich hatte vergessen«, sagte der Laskare langsam, »daß für Fastende und Ungewohnte Opium schlimmer ist als irgendein Wein. Die in der Gunga sterben gehen zu den Göttern. Doch habe ich noch keine Sehnsucht, vor so Erhabene hinzutreten. Kann der Sahib schwimmen?« »Wozu? Er kann fliegen – so schnell fliegen wie der Wind«, kam die dicke Antwort. »Er ist verrückt!« murmelte Peroo leise. »Und er hat mich beiseite geschleudert wie einen Dungfladen. Nun wohl, er wird seinen Tod nicht wissen. Das Boot kann hier keine Stunde überleben, selbst wenn es nichts rammt. Es ist nicht gut, den Tod mit klarem Auge zu erblicken.« Und wieder erfrischte er sich aus dem Zinndöschen, hockte sich in die aus Holzstiften gefertigten und geflickten Duchten des tanzenden Bootes und starrte durch den Nebel ins Nichts, das da war. Eine warme Schläfrigkeit durchkroch Findlayson, den Chefingenieur, dessen Pflicht bei seiner Brücke war. Die schweren Regentropfen schlugen ihn mit tausend prickelnden kleinen Schauern, und das Gewicht von aller Zeit, seit Zeit geschaffen ward, hing schwer an seinen Augenlidern. Er dachte und empfand, daß er vollständig sicher war, denn das
Wasser war so fest, daß ein Mann sicherlich auf es hinaus treten konnte und, indem er mit gespreizten Beinen stillstand, um sein Gleichgewicht zu wahren – das war das Wichtigste –, mit großer und angenehmer Geschwindigkeit ans Ufer getragen würde. Doch kam ihn noch ein beßrer Plan. Es bedurfte nur einer Anstrengung des Willens, daß die Seele den Körper ans Ufer schleudere wie der Wind Papier verweht; ihn wie einen Papierdrachen leicht durch die Luft zum Ufer führe. Danach – das Boot drehte sich schwindelerregend –, was wenn der Sturm unter den befreiten Körper geriete? Würde er hoch steigen wie ein Drache und kopfüber auf die fernen Sandbänke niederstürzen oder würde er außer Kontrolle durch alle Ewigkeiten tauchen? Findlayson hielt sich am Schandeckel fest, denn ihm schien, er höbe bereits zum Fluge ab, ehe er all seine Pläne gefaßt habe. Opium wirkt auf den weißen Mann stärker als auf den schwarzen. Peroo war nur angenehm gleichmütig gegenüber Unglücksfällen. »Das kann’s nicht überstehen«, grunzte er. »Die Fugen öffnen sich schon. Wenn es wenigstens ein Dinghi mit Rudern wäre, könnten wir es ausreiten; aber eine Schachtel mit Löchern taugt nichts. Finlinson Sahib, sie läuft voll.« »Accba! Ich gehe. Komm mit.« In seinem Geiste war Findlayson bereits aus dem Boot entkommen und kreiste hoch in den Lüften, um eine Stütze für die Sohle seines Fußes zu finden. Sein Körper – er bedauerte ihn tief wegen seiner ungeschlachten Hilflosigkeit – lag im Heck, und das Wasser gurgelte um seine Knie. ›Wie lächerlich!‹ sagte er sich in seinem luftigen Horst; ›das – ist Findlayson – Chef der Kashi-Brücke. Der arme Teufel wird auch ertrinken. Ertrinken, so nahe beim Ufer. Ich bin – ich bin schon am Ufer. Warum kommt er denn nicht?‹ Zu seinem höchsten Widerwillen fand er seine Seele wieder in seinem Körper, und den Körper spritzend und würgend in
tiefem Wasser. Der Schmerz der Wiedervereinigung war grauenhaft, aber er war auch nötig, um für den Körper kämpfen zu können. Er war sich bewußt, daß er wild in nassen Sand griff und wundersam große Schritte machte, wie man im Traum ausschreitet, um im wirbelnden Wasser festzustehen, bis er sich schließlich aus dem Griff des Flusses schleppte und keuchend auf nasse Erde niederstürzte. »Nicht in dieser Nacht«, sagte Peroo ihm ins Ohr. »Die Götter haben uns beschützt.« Der Laskare bewegte seine Füße vorsichtig, und sie raschelten in vertrockneten Stoppeln. »Das ist irgendeine Insel, auf der im Vorjahr Indigo geerntet wurde«, fuhr er fort. »Wir werden hier keine Menschen finden; aber sei sehr vorsichtig, Sahib; hundert Meilen weit hat die Flut alle Schlangen ausgeschwemmt. Hier kommt der Blitz, auf den Fersen des Windes. Nun werden wir sehen können; doch schreite vorsichtig.« Findlayson war weit weit jenseits jeder Furcht vor Schlangen, oder jedes anderen menschlichen Gefühls. Er sah, nachdem er sich das Wasser aus den Augen gerieben hatte, mit ungeheurer Klarheit und schritt, so schien ihm, mit weltumgreifenden Schritten. Irgendwo in der Nacht der Zeiten hatte er eine Brücke gebaut – eine Brücke, die grenzenlose Spiegel schimmernder Meere überspannte; aber die Sintflut hatte sie hinweggefegt und nur diese eine Insel unter den Himmeln für Findlayson und seinen Begleiter gelassen, die einzigen Überlebenden der menschlichen Rasse. Ein ununterbrochener gegabelter blauer Blitz zeigte alles, was auf dem kleinen Fleck in der Flut zu sehen war – ein Dornengebüsch, ein Gebüsch knarrend schwankenden Bambus’ und einen grauen knorrigen heiligen Feigenbaum, der einen Hinduschrein überschattete, von dessen Kuppel eine zerfetzte rote Fahne wehte. Der heilige Mann, dessen sommerlicher Rastplatz das war, hatte ihn seit langem schon
verlassen, und die Wetter hatten das rotgetünchte Standbild seines Gottes zerbrochen. Die beiden Männer stolperten schwergliedrig und schweräugig über die Asche einer ziegelsteinernen Feuerstelle und sanken unter den Schutz der Äste nieder, während Regen und Strom gemeinsam röhrten. Die Stoppeln des Indigo krachten, und es roch nach Rind, als ein riesiger tropfender Brahminenbulle sich seinen Weg unter den Baum bahnte. Die Blitze enthüllten das Dreizackzeichen Shivas auf seiner Flanke, den Hochmut von Haupt und Höcker, die leuchtenden Hirschaugen, die Braue gekrönt mit einem Kranz triefender Ringelblumen, und die seidige Wamme, die fast den Boden fegte. Hinter ihm war ein Geräusch von anderen Tieren, die von der Flutlinie durch das Dickicht heraufkamen, ein Klang von schweren Füßen und tiefem Atmen. »Hier werden mehr als wir sein«, sagte Findlayson, den Kopf an dem Baumstamm, durch halbgeschlossene Lider blickend, völlig entspannt. »Wahrhaftig«, sagte Peroo mit dicker Stimme, »und keine Kleinen.« »Was sind sie denn? Ich sehe nicht deutlich.« »Die Götter. Was sonst? Siehe!« »Ah, ja! Die Götter, sicherlich – die Götter.« Findlayson lächelte, als ihm der Kopf vornüber auf die Brust fiel. Peroo hatte ja so recht. Wer sollte nach der Flut in dem Land noch leben außer den Göttern, die es geschaffen hatten – den Göttern, zu denen sein Dorf nächtens betete – den Göttern, die in aller Menschen Mund sind und um aller Menschen Wege? Er konnte den Kopf nicht heben noch einen Finger rühren in dem Zauberbann, der ihn gefangen hielt, und Peroo lächelte leer in die Blitze. Der Bulle hielt beim Schrein inne, das Haupt zur feuchten Erde gebeugt. Ein Papagei im Gezweig putzte sich sein nasses
Gefieder und kreischte gegen den Donner an, als der Kreis unter dem Baum sich mit den schwankenden Schatten von Tieren füllte. Da war ein Schwarzbock an den Fersen des Bullen – ein Bock, wie Findlayson ihn in seinem längstvergangenen Erdenleben in Träumen gesehen haben mochte – ein Bock mit königlichem Haupte, ebenholzschwarzem Rücken, silbernem Bauch und funkelndem geradem Gehörn. Neben ihm schritt, den Kopf zum Boden gebeugt, die grünen Augen brennend unter schweren Brauen, mit ruhelosem Schweif das tote Gras peitschend, eine Tigerin, mit vollem Gebäuch und mächtigen Wangen. Der Bulle ließ sich neben dem Schrein nieder, und aus der Dunkelheit sprang ein riesiger grauer Affe herab, der sich menschengleich an die Stelle des gestürzten Götterbildes setzte, und der Regen strömte wie Edelgestein aus dem Haar an Nacken und Schultern. Andere Schatten kamen und gingen hinter dem Kreis, darunter ein trunkener Mann, der Stab und Trinkflasche schwang. Dann brach ein heiseres Bellen vom Boden herauf. »Die Flut nimmt jetzt schon ab«, schrie es. »Stunde um Stunde fallen die Wasser, und ihre Brücke steht immer noch!« »Meine Brücke«, sagte sich Findlayson. »Das muß jetzt schon sehr alte Arbeit sein. Was haben die Götter mit meiner Brücke zu schaffen?« Seine Augen rollten sich im Dunkel dem Gebrüll zu. Ein Krokodil – der stumpfnasige, Furten bejagende Mugger des Ganges – schleppte sich vor die Tiere und peitschte zornig nach rechts und links mit dem Schweif. »Sie haben sie zu stark für mich gemacht. Während der ganzen Nacht habe ich nur eine Handvoll Planken weggerissen. Die Mauern stehen! Die Türme stehen! Sie haben meine Flut angekettet, und mein Fluß ist nicht länger frei.
Himmlische, nehmet dieses Joch hinweg! Gebt mir freie Gewässer zwischen Ufer und Ufer! Das bin ich, Mutter Gunga, die spricht. Die Gerechtigkeit der Götter! Laßt mir die Gerechtigkeit der Götter zuteil werden!« »Was habe ich gesagt?« flüsterte Peroo. »Dies ist in Wahrheit ein Punchayet der Götter. Nun wissen wir, daß alle Welt tot ist, außer Dir und mir, Sahib.« Der Papagei kreischte und flatterte wiederum, und die Tigerin, die Ohren flach an den Kopf gelegt, knurrte bösartig. Irgendwo im Schatten schwankten ein großer Rüssel und schimmernde Stoßzähne hin und her, und ein tiefes Gurgeln durchbrach die Stille, die dem Knurren gefolgt war. »Wir sind hier«, sagte eine tiefe Stimme, »wir, die Erhabenen. Ein einziger und doch sehr viele. Shiv mein Vater ist hier mit Indra. Kali hat schon gesprochen. Hanuman lauscht ebenfalls.« »Kashi ist heute nacht ohne seinen Kotwal«, rief der Mann mit der Trinkflasche und warf seinen Stab zu Boden, während die Insel von Hundegebell erklang. »Gebt ihr die Gerechtigkeit der Götter.« »Ihr schwieget, als sie meine Wasser verschmutzten«, bellte das große Krokodil. »Ihr machtet kein Zeichen, als mein Fluß zwischen den Wänden gefangen ward. Ich hatte keine Hilfe außer meiner eigenen Stärke, und die versagte – die Stärke von Mutter Gunga versagte – vor ihren Wachttürmen. Was kann ich tun? Ich habe alles getan. Beendet es nun, o Ihr Himmlischen!« »Ich brachte den Tod; ich ritt die gefleckte Krankheit von Hütte zu Hütte der Arbeiter, und doch wollten sie nicht beigeben.« Ein Esel mit gespaltener Nase, abgeschabtem Fell, lahm, krummbeinig und wundgeritten, hinkte vor. »Ich schnaubte Tod auf sie aus meinen Nüstern, aber sie gaben nicht bei.«
Peroo wollte sich regen, aber das Opium lag schwer auf ihm. »Bäh!« sagte er und spie aus. »Hier ist Sitala selbst; Mata – die Pocken. Hat der Sahib ein Taschentuch, es über sein Antlitz zu legen?« »Geringe Hilfe! Sie fütterten mich einen Monat lang mit Leichen, und ich schleuderte sie auf meine Sandbänke, aber ihre Arbeit schritt voran. Dämonen sind sie, und Söhne von Dämonen! Und Ihr ließet Mutter Gunga allein, auf daß ihr Feuerwagen aus ihr einen Spott mache. Die Gerechtigkeit der Götter auf die Brückenbauer!« Der Bulle käute in seinem Maule wider und antwortete langsam: »Wenn die Gerechtigkeit der Götter alle ergriffe, die heilige Dinge verspotten, dann stünden viele Altäre dunkel im Land, Mutter.« »Dies aber geht über einen Spott hinaus«, sagte die Tigerin und schnellte eine gespreizte Tatze vor. »Du weißt es, Shiv, und auch Ihr, Himmlische; Ihr wisset, daß sie Gunga geschändet haben. Wahrlich, sie müssen vor den Zerstörer kommen. Laßt Indra richten.« Der Bock bewegte sich nicht, als er antwortete: »Wie lange dauert dieses Übel schon an?« »Drei Jahre, wie Menschen Jahre zählen«, sagte der Mugger und preßte sich eng an die Erde. »Stirbt Mutter Gunga denn binnen des Jahres, daß sie so gierig ist, die Rache jetzt zu sehen? Wo sie jetzt läuft, war gestern noch die tiefe See, und morgen wird die tiefe See sie wieder bedecken, wie Götter zählen, was die Menschen Zeit nennen. Kann irgend jemand sagen, daß ihre Brücke bis morgen daure?« sagte der Bock. Da war ein langes Schweigen, und am Himmel, vom Sturm klargefegt, stand der volle Mond hoch über den tropfenden Bäumen.
»Richtet Ihr denn«, sagte der Fluß dumpf. »Ich habe meine Schande gesprochen. Die Flut fällt weiter. Ich kann mehr nicht tun.« »Was mich betrifft« – das war die Stimme des großen Affen, der im Schreine saß –, »so gefällt es mir wohl, diese Menschen zu beobachten und mich daran zu erinnern, daß auch ich eine nicht kleine Brücke baute, als die Erde jung war.« »Sie sagen auch«, knurrte die Tigerin, »daß diese Menschen aus den Trümmern Deiner Heere stammen, Hanuman, und daß Du ihnen deshalb halfest – « »Sie schinden sich, wie meine Heere sich in Lanka schunden, und glauben, daß ihr Werk überdaure. Indra ist zu erhaben, aber Du, Shiv, weißt, wie das Land von ihren Feuerwagen durchzogen ist.« »Ja ich weiß«, sagte der Bulle. »Ihre Götter lehrten sie das.« Ein Lachen durchlief den Kreis. »Ihre Götter! Was wissen ihre Götter? Sie wurden gestern geboren, und die sie zeugten sind kaum schon kalt«, sagte der Mugger. »Morgen werden ihre Götter sterben.« »Ho!« sagte Peroo. »Mutter Gunga redet gute Rede. Ich sagte das zu dem Padre Sahib, der auf der Mombassa predigt, und er bat den Burra Malum, mich wegen großer Frechheit in Eisen zu legen.« »Sicherlich schaffen sie diese Dinge, um ihren Göttern zu gefallen«, sagte wieder der Bulle. »Nicht nur.« Der Elefant rollte vor. »Es ist zum Nutzen meiner mahajuns – meiner fetten Geldverleiher, die mich an jedem Neujahrstag verehren, wenn sie mein Bild in den Anfang ihrer Rechnungsbücher zeichnen. Ich, der ich im Lampenschein über ihre Schultern schaue, sehe, daß die Namen in den Büchern solche von Männern an fernen Orten sind – denn alle Städte werden vom Feuerwagen zusammengezogen, und das Geld kommt und geht schnell, und
die Kontobücher werden fett wie ich selbst. Und ich, der ich Ganesh vom Guten Glück bin, ich segne mein Volk.« »Sie haben das Antlitz des Landes verändert, das mein Land ist. Sie haben an meinen Ufern Städte getötet und neue gebaut«, sagte der Mugger. »Das ist nur ein bißchen Dreck bewegen. Laß den Dreck im Drecke wühlen, wenn es dem Dreck gefällt«, sagte der Elefant. »Aber danach?« fragte der Tiger. »Danach werden sie sehen, daß Mutter Gunga keine Beleidigung rächen kann, und dann werden sie erst von ihr abfallen, und danach von uns allen, von einem nach dem anderen. Am Ende stehen wir, Ganesh, da mit leeren Altären.« Der trunkene Mann schwankte auf seine Füße und rülpste mächtig ins Gesicht der versammelten Götter. »Kali lügt. Meine Schwester lügt. Dieser mein Stab ist der Kotwal von Kâshi, und er hält die Zahl meiner Pilger fest. Wenn die Zeit kommt, Bhairon zu verehren – und die Zeit ist immer –, bewegen sich die Feuerwagen einer nach dem anderen, und jeder trägt tausend Pilger. Sie kommen nicht mehr zu Fuß, sondern sie rollen auf Rädern, und meine Ehre wächst.« »Gunga, ich habe Dein Bett bei Pryag schwarz vor Pilgern gesehen«, sagte der Affe und lehnte sich vor, »doch ohne den Feuerwagen wären sie langsam gekommen und in geringerer Zahl. Bedenke.« »Sie kommen immer zu mir«, fuhr Bhairon mit dicker Stimme fort. »Bei Tag und Nacht beten sie zu mir, alle die Einfachen Leute in den Feldern und auf den Straßen. Wer ist heute wie Bhairon? Was für Geschwätz ist das von wechselndem Glauben? Ist mein Stab umsonst Kotwal von Kashi? Er wahrt die Zählung, und er sagt, daß niemals so viele Altäre waren wie heute, und die Feuerwagen dienen ihnen gut.
Bhairon bin ich – Bhairon der Einfachen Leute, und der höchste der Himmlischen heute. Mein Stab sagt auch – « »Still Du!« brüllte der Bulle. »Die Verehrung der Schulen gilt mir, und sie reden sehr weise und fragen, ob ich einer bin oder viele, und das ergötzt mein Volk, und Ihr wißt, was ich bin. Kali, mein Weib, auch Du weißt es.« »Ja, ich weiß«, sagte die Tigerin mit gesenktem Kopf. »Größer bin ich auch als Gunga. Denn Ihr wißt, die Ihr die Herzen der Menschen bewegt, daß sie Gunga heilig unter den Flüssen halten. Wer in jenem Wasser stirbt – Ihr wißt, wie Menschen sprechen – kommt ohne Strafe zu uns, und Gunga weiß, daß der Feuerwagen Scharen um Scharen Verlangender zu ihr getragen hat; und Kali weiß, daß sie ihre größten Festmähler unter den Pilgerscharen hielt, die der Feuerwagen füttert. Wer schlug zu Pooree unter dem Standbild dort ihre Tausende an einem Tag und in einer Nacht und band die Krankheit an die Räder der Feuerwagen, damit sie von einem Ende des Landes zum anderen laufe? Wer wenn nicht Kali? Ehe die Feuerwagen kamen, war es harte Mühe. Die Feuerwagen dienen Dir wohl, Mutter des Todes. Doch spreche ich für meine eigenen Altäre, der ich nicht Bhairon bin des Einfachen Volkes, sondern Shiv. Menschen kommen und gehen, machen Worte und reden Gerede von fremden Göttern, und ich lausche. Glaube folgt auf Glaube unter meinem Volk in den Schulen, und es ärgert mich nicht; denn wenn die Worte gesagt sind und das neue Gerede endet, kehren die Menschen zum Schluß doch zu Shiv zurück.« »Wahr. Das ist wahr«, murmelte Hanuman. »Zu Shiv und zu den andern, Mutter, kehren sie zurück. Ich schleich mich von Tempel zu Tempel im Norden, wo sie einen Gott verehren und Seinen Propheten; und bald steht mein Bild allein in ihren Schreinen.«
»Geringen Dank«, sagte der Bock und wandte seinen Kopf langsam. »Ich bin der Eine, und auch Sein Prophet.« »Wohl wahr, Vater«, sagte Hanuman. »Und in den Süden gehe ich, der ich der älteste der Götter bin, wie Menschen Götter kennen, und bald berühre ich die Altäre des neuen Glaubens, und die Frau, die wir kennen, ist zwölfarmig gestaltet, und doch nennen sie sie noch Maria.« »Geringen Dank, Bruder«, sagte die Tigerin. »Ich bin jene Frau.« »Wohl wahr, Schwester; und ich gehe mit den Feuerwagen nach Westen und stehe in mancherlei Gestalt vor den Brückenbauern, und um meinetwillen ändern sie ihren Glauben und sind sehr weise. Ho! ho! Ich bin in Wahrheit der Bauer von Brücken – Brücken zwischen diesem und jenem, und jede Brücke führt zuletzt doch zu Uns. Sei zufrieden, Gunga. Keiner dieser Männer noch einer jener, die ihnen folgen, verspottet Dich.« »So bin ich denn allein, Himmlische? Soll ich meine Flut glätten, damit ich nicht unseligerweise ihre Mauern davontrage? Will Indra meine Quellen in den Bergen austrocknen und mich demütig zwischen ihren Dämmen dahinkriechen machen? Soll ich mich im Sande vergraben, damit ich kein Ärgernis gebe?« »Und all das wegen einer kleinen Eisenstange mit dem Feuerwagen darauf. Wahrlich, Mutter Gunga bleibt ewig jung!« sagte Ganesh der Elefant. »Kein Kind hat je närrischer gesprochen. Laß den Dreck im Drecke graben, ehe er zum Dreck zurückkehrt. Ich weiß nur, daß mein Volk reich wird und mich preiset. Shiv hat gesagt, daß die Menschen in den Schulen nicht vergessen; Bhairon ist zufrieden mit seinen Mengen des Einfachen Volkes: und Hanuman lacht.« »Sicherlich lache ich«, sagte der Affe. »Meine Altäre sind wenige neben denen von Ghanesh oder Bhairon, aber die
Feuerwagen bringen mir neue Anbeter von jenseits des Schwarzen Wassers – die Männer, die glauben, daß ihr Gott Mühe sei. Ich laufe winkend vor ihnen her, und sie folgen Hanuman.« »Dann gib ihnen die Mühen, die sie begehren«, sagte der Fluß. »Zieh eine Schranke durch meine Flut und wirf die Wasser zurück auf die Brücke. Einst warst Du stark in Lanka, Hanuman. Bück Dich und erhöhe mein Bett.« »Wer Leben gibt kann Leben nehmen.« Der Affe kratzte mit einem langen Zeigefinger im Schlamm. »Und doch, wem würde Töten nützen? Sehr viele würden sterben.« Da kamen vom Wasser herauf Fetzen eines Liebesliedes, wie es die Knaben singen, wenn sie ihre Rinder in der Mittagshitze des späten Frühjahrs hüten. Der Papagei kreischte fröhlich auf und hüpfte seinen Zweig mit gesenktem Kopf entlang, als das Lied lauter wurde, und in einem Flecken reinen Mondlichts stand enthüllt der junge Hirte, der Liebling der Gopis, das Götterbild träumender Jungfrauen und der Mütter, ehe ihre Kinder geboren sind – Krischna der Vielgeliebte. Er beugte sich nieder, um sein langes nasses Haar aufzubinden, und der Papagei flatterte auf seine Schulter. »Streunen und singen, und singen und streunen«, rülpste Bhairon. »Das macht Dich spät zum Rate kommen, Bruder.« »Na und?« fragte Krischna mit einem Lachen und warf den Kopf zurück. »Ihr könnt wenig ohne mich oder ohne Karma tun.« Er streichelte das Gefieder des Papageien und lachte wieder. »Was soll dieses Sitzen und Schwatzen bedeuten? Ich hörte Mutter Gunga im Dunkeln brüllen, und so kam ich schnell aus einer Hütte herbei, in der ich warm lag. Und was habt Ihr Karma getan, daß er so naß ist und schweigend? Und was macht Mutter Gunga hier? Sind die Himmel überfüllt, daß Ihr im Schlamm herumplatschen müßt nach Art der Tiere? Karma, was treiben sie?«
»Gunga erflehte Rache an den Brückenbauern, und Kali steht ihr bei. Nun heißt sie Hanuman die Brücke verschütten, auf daß ihre Ehre groß sei«, schrie der Papagei. »Ich harrete hier, wissend, daß Du kommest, o mein Meister!« »Und die Himmlischen sagen nichts? Haben Gunga und die Mutter der Kümmernisse sie überredet? Sprach niemand für mein Volk?« »Naha«, sagte Ganesh und bewegte sich unbehaglich von einem Fuß auf den anderen; »ich sagte, das sei nur spielender Dreck, und warum wir ihn flachtreten sollten?« »Ich bin es zufrieden, sie sich abschinden zu lassen – sehr zufrieden«, sagte Hanuman. »Was hätte ich mit Gungas Zorn zu tun?« sagte der Bulle. »Ich bin Bhairon vom Einfachen Volk, und dieser mein Stab ist Kotwal von ganz Kashi. Ich sprach für das Einfache Volk.« »Du?« Die Augen des jungen Gottes sprühten. »Bin ich nicht heute der Erste der Götter in ihren Mündern?« gab Bhairon unverfroren zurück. »Um der Sache der Einfachen Leute willen sagte ich – viele sehr weise Dinge, die ich jetzt vergessen habe –, aber dieser mein Stab – « Krischna wandte sich ungeduldig um, sah den Mugger zu seinen Füßen, kniete und schlang einen Arm um den kalten Nacken. »Mutter«, sagte er sanft, »kehre in Deine Fluten zurück. Das hier ist nichts für Dich. Welchen Schaden sollte Deine Ehre durch diesen lebenden Dreck nehmen? Du hast ihnen ihre Felder Jahr um Jahr neu gegeben, und Deine Fluten machten sie stark. Zuletzt werden sie alle zu Dir kommen. Warum sie also jetzt erschlagen? Hab Mitleid, Mutter, eine kleine Weile – es ist nur für eine kleine Weile.« »Wenn es nur für eine kleine Weile – «, begann das langsame Tier. »Sind sie denn Götter?« Krischna wandte sich mit einem Lachen um, und seine Augen blickten in die stumpfen Augen
des Flusses. »Sei sicher, daß es nur für eine kleine Weile ist. Die Himmlischen haben Dich gehört, und alsbald wird Gerechtigkeit geschehen. Geh nun, Mutter, wieder zur Flut. Menschen und Rinder sind dick auf den Wassern – die Ufer stürzen – die Dörfer vergehen vor Dir.« »Aber die Brücke – die Brücke steht.« Der Mugger wandte sich mürrisch brummend in das Unterholz zurück, als Krischna sich erhob. »Es ist zu Ende«, sagte die Tigerin tückisch. »Da ist keine Gerechtigkeit mehr von den Himmlischen. Ihr habt Gunga Schande und Schmach angetan, die um nicht mehr als um ein paar Dutzend Leben bat.« »Von meinem Volk – das unter den Blätterdächern jenes Dorfes dort liegt – von den jungen Mädchen und den jungen Männern, die ihnen im Dunkeln zusingen – vom Kind, das morgen früh geboren wird – von dem, das in dieser Nacht gezeugt ward«, sagte Krischna. »Und wenn alles geschehen ist, was nutzt es? Der nächste Tag sieht sie an der Arbeit. Und wenn Ihr die Brücke von einem Ende zum anderen zerstörtet, sie begönnen von Neuem. Höret mich! Bhairon ist immer betrunken. Hanuman verspottet sein Volk mit neuen Rätseln.« »Nahain, das sind sehr alte«, lachte der Affe. »Shiv hört auf das Gerede der Schulen und auf die Träume der heiligen Männer; Ganesh denkt nur an seine fetten Händler; aber ich – ich lebe mit diesem meinem Volk, und frage nicht nach Geschenken und empfange sie deshalb stündlich.« »Und sehr zärtlich bist Du zu Deinem Volk«, sagte die Tigerin. »Es ist mein Volk. Die alten Frauen träumen von mir, wenn sie sich im Schlafe umdrehen; die Jungfrauen halten Ausschau und lauschen nach mir, wenn sie gehen, um ihre lotahs am Fluß zu füllen. Ich bin bei den jungen Männern, wenn sie im
Dunkel an den Toren warten, und ich rufe über die Schulter den Weißbärtigen zu. Ihr wißt, Himmlische, daß ich allein von uns allen ständig die Erde bewandere und keine Freude in unseren Himmeln habe, solange hier noch ein grünes Blatt sprießt, oder dort zwei Stimmen im Zwielicht im reifenden Felde erklingen. Weise seid Ihr, aber fernab lebet Ihr, vergessend, von wannen Ihr kamet. So vergesse ich nicht. Und die Feuerwagen füttern Eure Schreine, sagt Ihr? Und die Feuerwagen bringen tausend Pilgerschaften, wo in den alten Jahren nur zehn kamen? Wahr. Das ist heute wahr.« »Aber morgen sind sie tot, Bruder«, sagte Ganesh. »Frieden!« sagte der Bulle, als Hanuman sich wieder vorneigte. »Und morgen, Geliebter – was ist morgen?« »Nur dies. Ein neues Wort kriecht von Mund zu Mund beim Einfachen Volk – ein Wort, das weder Mensch noch Gott halten kann – ein kleines faules Wort zwischen dem Einfachen Volk, das sagt (und niemand weiß, wer es in Gange setzte), daß sie Eurer überdrüssig sind, Himmlische.« Die Götter lachten sanft miteinander. »Und dann, Geliebter?« fragten sie. »Und um jenen Überdruß zu verbergen wird mein Volk Dir, Shiv, und Dir, Ganesh, zunächst größere Opfergaben und lärmendere Verehrung darbringen. Aber das Wort geht um, und danach werden sie Euren fetten Brahminen weniger Tribut zahlen. Als nächstes werden sie Eure Altäre vergessen, aber so langsam, daß niemand sagen kann, wie dieses Vergessen begann.« »Ich wußte es – ich wußte es! Auch ich sagte so, aber sie wollten nicht hören«, sagte die Tigerin. »Wir hätten erschlagen sollen – wir hätten erschlagen sollen!« »Jetzt ist es zu spät. Ihr hättet erschlagen sollen zu Beginn, als die Männer von jenseits des Wassers unser Volk noch nichts gelehrt hatten. Nun sieht mein Volk ihr Werk und geht
denkend von hinnen. Sie denken nicht mehr an die Himmlischen. Sie denken an die Feuerwagen und die anderen Dinge, die die Brückenbauer getan haben, und wenn Eure Priester ihre Hände ausstrecken um Almosen, geben sie unwillig wenig. Das ist der Anfang, bei einem oder zwei, bei fünf oder zehn – denn ich, der ich mich zwischen meinem Volk bewege, weiß, was in ihren Herzen ist.« »Und das Ende, Verspotter der Götter? Was wird das Ende sein?« fragte Ganesh. »Das Ende wird sein wie es im Anfang war, o Du träger Sohn Shivs! Die Flamme stirbt auf den Altären und die Gebete ersterben auf den Zungen, bis Ihr wieder kleine Götter seid – Götter des Dschungels – Namen, die Rattenjäger und Hundefänger im Dickicht und in den Höhlen flüstern – Lumpengötter, Baumgöttlinge und Göttlinge der Dorfgemarkung, was Ihr zu Anfang waret. Das ist das Ende für Dich, Ganesh, und für Bhairon – Bhairon vom Einfachen Volk.« »Das ist noch in weiter Ferne«, grunzte Bhairon. »Und außerdem ist es eine Lüge.« »Viele Frauen haben Krischna geküßt. Sie haben ihm das erzählt, um ihre Herzen fröhlich zu machen, als die grauen Haare kamen, und er hat uns die Sage gesagt«, sagte der Bulle leise. »Ihre Götter kamen, und wir veränderten sie. Ich nahm die Frau und machte sie zwölfarmig. So werden wir all ihre Götter verdrehen«, sagte Hanuman. »Ihre Götter! Das ist keine Frage ihrer Götter – eines oder dreier – Mann oder Frau. Das Problem liegt bei den Leuten des Volkes. Sie wandeln sich, und nicht die Götter der Brückenbauer«, sagte Krischna. »So sei es. Ich habe einen Mann den Feuerwagen anbeten gemacht, als er stillstand und Rauch atmete, und er wußte
nicht, daß er mich anbetete«, sagte Hanuman der Affe. »Sie werden nur die Namen ihrer Götter ein Weniges wandeln. Ich werde die Brückenbauer anführen wie seit je; Shiv wird in den Schulen von jenen verehrt werden, die zweifeln und ihre Mitmenschen verachten; Ganesh wird seine mahajuns haben, und Bhairon die Eseltreiber, die Pilger und die Spielzeugverkäufer. Geliebter, sie werden nicht mehr tun als die Namen ändern, und das haben wir schon tausendemal gesehen.« »Sicher werden sie nicht mehr tun als die Namen ändern«, echote Ganesh; aber da gab es eine unbehagliche Bewegung unter den Göttern. »Sie werden mehr als die Namen ändern. Mich allein können sie nicht töten, solange Jungfrau und Mann einander begegnen, oder der Frühling den Winterregen folgt. Himmlische, ich bewandere nicht umsonst die Erde. Mein Volk weiß noch nicht, was es weiß; aber ich, der mit ihm lebt, ich lese ihre Herzen. Große Könige, der Anfang vom Ende ist schon geboren. Die Feuerwagen schreien schon die Namen neuer Götter, die nicht die alten unter neuen Namen sind. Trinkt nun und esset mächtig! Badet Eure Gesichter im Rauch der Altäre, ehe sie kalt werden! Nehmt Gaben und lauschet den Zymbeln und Trommeln, Himmlische, solange es Blumen und Lieder gibt. Wie Menschen die Zeit zählen, ist das Ende noch ferne; wie aber wir, die wissen, rechnen, ist es heute. Ich habe gesprochen.« Der junge Gott endete, und seine Brüder schauten sich lange schweigend an. »Das habe ich niemals zuvor gehört«, flüsterte Peroo seinem Begleiter ins Ohr. »Doch manchmal, wenn ich das Kupfer im Maschinenraum der Goorkha ölte, habe ich mich gefragt, ob unsere Priester wirklich so weise sind – so weise. Der Tag kommt, Sahib. Beim Morgen werden sie gegangen sein.«
Ein gelbes Licht breitete sich am Himmel aus, und die Farbe des Flusses veränderte sich, als die Dunkelheit sich zurückzog. Plötzlich trompetete der Elefant laut, als stachle ihn ein Mensch vorwärts. »Laßt Indra richten. All-Vater, sprich Du! Was ist mit dem, das wir gehört haben? Log Krischna in Wahrheit? Oder – « »Ihr wisset«, sagte der Bock und erhob sich. »Ihr wisset das Rätsel der Götter. Wenn Brahma aufhört zu träumen, vergehen Himmel und Hölle und Erde. Seiet zufrieden. Brahma träumt noch. Die Träume kommen und gehen, und das Wesen der Träume ändert sich, aber noch träumt Brahma. Krischna bewanderte die Erde zu lange, und doch liebe ich ihn um der Sage, die er sagte, um so mehr. Die Götter ändern sich, Geliebte – alle bis auf Einen!« »Ja, alle bis auf einen, der Liebe in den Herzen der Menschen schafft«, sagte Krischna und knotete seinen Gürtel. »Es ist nur noch eine kleine Weile abzuwarten, und Ihr werdet wissen, ob ich log.« »Wahrlich wird es nur eine kleine Weile sein, wie Du sagest, und wir werden wissen. Gehe Du wieder zu Deinen Hütten, Geliebter, und jage die jungen Dinger, denn noch träumt Brahma. Geht, meine Kinder! Brahma träumt – und ehe er erwacht, werden die Götter nicht sterben.« »Wohin denn gingen sie?« fragte der Laskare, von Ehrfurcht erfüllt und in der Kälte ein bißchen bibbernd. »Gott weiß!« sagte Findlayson. Der Fluß und die Insel lagen jetzt im vollen Tageslicht, und keine Spur war da von Huf oder Klaue in der nassen Erde unter dem heiligen Feigenbaum. Nur ein Papagei kreischte in den Ästen und machte Tropfenschauer fallen, als er seine Flügel schlug. »Auf! Wir sind steif vor Kälte! Ist das Opium erloschen? Kannst Du Dich regen, Sahib?«
Findlayson stolperte auf seine Füße und schüttelte sich. Sein Kopf schwamm und schmerzte, aber die Wirkung des Opiums war vorbei, und als er seine Stirne in einer Pfütze kühlte, überlegte der Chefingenieur der Kashi-Brücke, wie er auf die Insel geraten war, welche Möglichkeiten der Tag für die Rückkehr bot, und vor allem, wie sein Werk stand. »Peroo, ich habe viel vergessen. Ich stand unter dem Wachtturm und beobachtete den Fluß; und dann – schwemmte uns die Flut fort?« »Nein. Die Boote brachen los, Sahib, und« (wenn der Sahib das Opium vergessen hatte, würde Peroo ihn entschieden nicht daran erinnern) »im Bemühen, sie wieder zu vertäuen, schien es mir – aber es war dunkel –, es habe ein Tau den Sahib gefaßt und ihn auf ein Boot geworfen. Da es nun so ist, daß wir beide mit Hitchcock Sahib die Brücke wie auch immer gebaut haben, kam ich auch auf das Boot, das wie auch immer auf die Spitze dieser Insel zu galoppierte und uns, zerberstend, ans Ufer warf. Ich erhob ein großes Geschrei, als das Boot den Liegeplatz verließ, und Hitchcock Sahib wird uns ohne Zweifel holen kommen. Was die Brücke angeht, so starben so viele bei ihrem Bau, daß sie nicht einstürzen kann.« Eine glühende Sonne, die alle Gerüche aus dem durchtränkten Land sog, folgte dem Sturm, und in ihrem klaren Licht war kein Platz, daß ein Mann an die Träume des Dunkels dächte. Findlayson starrte stromauf durch den Glast der wogenden Wasser, bis seine Augen schmerzten. Da war kein Anzeichen eines Ufers des Ganges, noch weniger eine Brückenlinie. »Wir sind von weither gekommen«, sagte er. »Es ist ein Wunder, daß wir nicht hundertmal ertränkt wurden.« »Das ist das kleinste der Wunder, denn niemand stirbt vor seiner Zeit. Ich habe Sidney gesehen, ich habe London gesehen und zwanzig große Häfen, aber« – Peroo blickte auf den
durchnäßten mißfarbenen Schrein unter dem heiligen Feigenbaum – »nie sah ein Mann, was wir hier sahen.« »Was?« »Hat der Sahib vergessen; oder sehen nur wir schwarzen Menschen die Götter?« »Mich hatte das Fieber.« Findlayson blickte unbehaglich über das Wasser. »Mir erschien die Insel voller sprechender Tiere und Menschen, aber ich erinnere nichts. Ein Boot könnte jetzt in diesem Wasser bestehen, glaube ich.« »Oho! Dann ist es wahr. ›Wenn Brahma zu träumen aufhört, sterben die Götter.‹ Nun weiß ich wirklich, was er meinte. Einst sagte auch der guru so etwas zu mir; aber damals verstand ich nicht. Nun bin ich weise.« »Was?« fragte Findlayson über seine Schulter. Peroo fuhr fort, als spräche er zu sich selbst. »Sechs – sieben – zehn Monsune, seit ich Wache auf dem Vordeck der Rewah ging – dem großen Schiff der Kumpani – und da war ein großer tufan und peitschte grüne und schwarze Wasser; und ich klammerte mich an die Strecktaue und erstickte unter den Wassern. Dann dachte ich an die Götter – an Jene, die wir heute nacht sahen« – er starrte neugierig auf Findlaysons Rücken, aber der weiße Mann blickte über die Flut. »Ja, ich sage, Jene, die wir in der vergangenen Nacht sahen, und ich rief Sie an, mich zu beschützen. Und während ich betete, ständig auf dem Ausguck, kam eine große Woge und schleuderte mich vorwärts auf den Ring des großen schwarzen Bugankers, und die Rewah stieg höher und höher und lehnte sich zur linken Seite über, und unter ihrer Nase zog das Wasser sich zurück, und ich lag auf meinem Bauch und blickte hinab in jene großen Tiefen. Da dachte ich angesichts des Todes, daß ich stürbe, wenn ich los ließe, und dann wäre für mich nicht mehr Rewah noch mein Platz bei der Kombüse, in der der Reis gekocht wird, noch Bombay noch Kalkutta noch selbst
London, nicht mehr für mich. ›Wie kann ich sicher sein‹, sagte ich, ›daß die Götter, zu denen ich bete, ausharren?‹ Das dachte ich, und die Rewah senkte ihre Nase wie ein Hammer fällt, und die ganze See kam herein und schwemmte mich rückwärts über das Vordeck und über die Brückennocks, und ich zerschlug mir das Schienbein übel an der Ladewinsch; aber ich starb nicht, und ich habe die Götter gesehen. Sie sind gut für lebende Menschen, aber für die toten. Sie haben Selbst gesprochen. Deshalb werde ich, wenn ich ins Dorf komme, den guru verprügeln, weil er Rätsel redet, die keine Rätsel sind. Wenn Brahma aufhört zu träumen, verschwinden die Götter.« »Schau flußauf. Das Licht blendet. Ist da nicht Rauch?« Peroo beschattete seine Augen mit der Hand. »Er ist ein kluger Mann und schnell. Hitchcock Sahib traut keinem Ruderboot. Er hat das Dampfboot von Rao Sahib geliehen und kommt, nach uns zu suchen. Ich habe immer gesagt, daß da für uns ein Dampfboot bei der Brückenarbeit sein sollte.« Das Gebiet des Rao von Baraon lag innerhalb zehn Meilen von der Brücke; und Findlayson und Hitchcock hatten einen beträchtlichen Teil ihrer knappen Freizeit damit verbracht, mit dem jungen Mann Billard zu spielen und Schwarzböcke zu schießen. Er war von einem englischen Erzieher mit sportlichen Ambitionen während fünf oder sechs Jahren auf den Jagdpfad geführt worden und verschwendete jetzt auf königliche Art die Einkünfte, die von der Indischen Regierung während seiner Minderjährigkeit für ihn angesammelt worden waren. Sein Dampfboot mit silberbeschlagener Reling, gestreiften Seidenmarkisen und Mahagonidecks war ein neues Spielzeug, das Findlayson schrecklich im Wege fand, wenn der Rao kam, um die Brückenarbeiten zu besichtigen. »Großes Glück«, murmelte Findlayson, war aber darum nicht weniger in Angst um Nachrichten von der Brücke.
Der prunkvolle blauweiße Schlot kam schnell flußab. Sie konnten Hitchcock im Bug sehen mit einem Paar Operngläser, und sein Gesicht war ungewöhnlich weiß. Dann rief Peroo sie an, und die Barkasse hielt aufs Ende der Insel zu. Der Rao Sahib im Jagdanzug aus Tweed mit siebenfach geschlungenem Turban winkte mit der königlichen Hand, und Hitchcock schrie. Aber er vermochte keine Fragen zu stellen, denn Findlaysons erste Frage war nach seiner Brücke. »Alles bestens! Gott, ich hab nicht geglaubt, Sie je wieder zu sehen, Findlayson. Sie sind sieben kos flußab. Wirklich; kein Stein ist versetzt; aber wie geht es Ihnen? Ich hab mir Rao Sahibs Barkasse geliehen, und er war so freundlich, selbst mitzukommen. Springen Sie rein.« »Ah, Finlinson, sind Sie in Ordnung, eh? Das war ein höchst unübliches Unglück letzte Nacht, eh? Mein königlicher Palast auch, er ist leck wie der Teufel und in meinem ganzen Land wird die Ernte knapp sein. Nun müssen Sie sie zurückbugsieren, Hitchcock. Ich – ich versteh Dampfmaschinen nicht. Sie sind naß? Ihnen ist kalt, Finlinson? Ich hab was zu essen hier, und Sie müssen einen guten Schluck tun.« »Ich bin unendlich dankbar, Rao Sahib. Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet. Wie hat Hitchcock – « »Oho! Ihm standen die Haare zu Berge. Er kam mitten in der Nacht angeritten und weckte mich aus den Armen von Morpheus. Ich war natürlich höchst besorgt, Finlinson, und so kam ich mit. Mein Oberpriester, er ist jetzt sehr ärgerlich. Wir müssen schnell machen, Herr Hitchcock. Ich muß um zwölf Uhr fünfundvierzig im Staatstempel anwesend sein, wo wir irgend ne neue Götterstatue einweihen. Wenn nicht, hätte ich Sie gefragt, den Tag mit mir zu verbringen. Die sind ‘flucht langweilig, diese religiösen Zeremonien, was Finlinson?«
Peroo, der Mannschaft wohlbekannt, hatte das Ruder ergriffen und führte die Barkasse geschickt stromauf. Doch während er steuerte, handhabte er im Geiste zwei Fuß teilweise aufgedröselten Drahtseils; und der Rücken, den er prügelte, war der Rücken seines guru.
»Sie«
The Return of the Children Neither the harps nor the crowns amused, nor the cherubs dove-winged races – Holding hands forlornly the Children wandered beneath the Dome, Plucking the radiant robes of the passers-by, and with pitiful faces Begging what Princes and Powers refused: – ›Ah, please will you let us go home?‹ Over the jewelled floor, nigh weeping, ran to them Mary the Mother, Kneeled and caressed and made promise with kisses, and drew them along to the gateway – Yea, the all-iron unbribeable Door which Peter must guard and none other. Straightway She took the Keys from his keeping, and opened and freed them straightway. Then to Her Son, Who had seen and smiled, She said: ›On the night that I bore Thee What didst Thou care for a love beyond mine or a heaven that was not my arm? Didst Thou push from the nipple, O Child, to hear the angels adore Thee? When we two lay in the breath of the kine?‹ And he said: – ›Thou hast done no harm.‹ So through the Void the Children ran homeward merrily hand in hand, Looking neither to left nor right where the breathless Heavens stood still; And the Guards of the Void resheathed their swords, for they heard the Command: ›Shall I that have suffered the children to come to me hold them against their will?‹ (Die Rückkehr der Kinder Weder Harfen noch Kronen erfreuten, noch der Cherubim taubenflüglige Wettrennen – Hände hielten die Kinder verloren und wanderten unter der Kuppel;
Zupften an den strahlenden Gewändern der Vorübergehenden und mit klagenden Gesichtern Erbaten sie, was Fürsten und Mächte verwehrten: – ›Ach bitte, laßt Ihr uns nach Hause gehen?‹ Über den Flur aus Edelsteinen, fast weinend, lief zu ihnen Maria die Mutter, Kniete und streichelte und versprach unter Küssen, und zog sie mit sich zum Torweg – Ja, zum alleisernen unbestechlichen Tor, das Peter bewachen muß und kein andrer. Geradenwegs nahm Sie die Schlüssel aus seiner Hut, und öffnete und befreite sie geradenwegs. Dann sprach Sie zu Ihrem Sohn, der es sah und lächelte: ›In der Nacht, da ich Dich gebar, Wolltest Du da eine Liebe jenseits meiner oder einen Himmel, der nicht mein Arm war? Ließest Du meine Brust, o Kind, um die Engel Dich anbeten zu hören? Als wir beide im Atem der Rinder lagen?‹ Und er sagte: – ›Du tatest nichts Böses.‹ So rannten durch die Leere die Kinder nach Hause, fröhlich Hand in Hand, Sahen nicht links oder rechts, wo die atemlosen Himmel still standen; Und die Wachen der Leere schoben ihre Schwerter wieder in die Scheiden, denn sie hörten den Befehl: ›Soll ich, der ich litt, daß die Kinder zu mir kämen, sie gegen ihren Willen halten?‹)
Eine Aussicht lockte mich zur anderen; eine Hügelkuppe zu ihrem Genossen, quer durch die halbe Grafschaft, und da ich dem nachgeben konnte ohne mehr Mühen als dem Einlegen des Vorwärtsganges, ließ ich die Grafschaft unter meinen Rädern dahinfliegen. Die Ebenen des Ostens mit ihren Orchideengewächsen wichen dem Thymian, der Steineiche und dem Graugras der Downs; diese wiederum dem reichen Getreideland und den Feigenbäumen des niedrigen Küstenlandes, wo einen der Schlag der Gezeiten zur Linken während fünfzehn ebene Meilen begleitet; und als ich schließlich durch ein Durcheinander von rundlichen Hügeln
und Wäldern ins Binnenland abbog, hatte ich mich selbst aus dem Bereich der mir bekannten Landmarken herausbefördert. Jenseits jenes bestimmten Weilers, der Pate für die Hauptstadt der Vereinigten Staaten war, fand ich verborgene Dörfer, wo Bienen, die einzigen wachen Wesen, in achtzig Fuß hohen Linden brausten, die sich über graue normannische Kirchen beugten; verwunschene Bäche, die unter Steinbrücken tauchten, die für schwereren Verkehr gebaut waren, als er sie je wieder bedrängen würde; Zehntscheunen, die größer waren als ihre Kirchen, und eine alte Schmiede, die laut herausschrie, daß sie einst Halle der Tempelritter gewesen sei. Zigeuner fand ich auf einem Gemeindeanger, auf dem Stechginster, Farne und Heidekraut entlang einer Meile römischer Straße um die Herrschaft kämpften; und ein wenig weiter störte ich einen roten Fuchs auf, der sich wie ein Hund im vollen Sonnenschein wälzte. Als die bewaldeten Hügel sich um mich schlossen, stellte ich mich im Wagen auf, um meinen Kurs nach jener großen Düne auszurichten, deren ringförmige Kuppe im Umkreis von fünfzig Meilen im Tiefland die Landmarke ist. Ich vermutete, daß die Gegebenheiten der Landschaft mich über eine westwärts laufende Straße zu ihrem Fuß bringen würden, hatte aber die verwirrenden Schleier der Wälder nicht bedacht. Eine jähe Kurve schleuderte mich zunächst in eine grüne Lichtung, randvoll mit flüssigem Sonnenschein, alsdann in einen düsteren Tunnel, in dem des letzten Jahres tote Blätter um meine Reifen flüsterten und tanzten. Kräftiges Haselgesträuch, das sich über mir schloß, war während mindestens einiger Generationen nicht mehr beschnitten worden, noch hatte je eine Axt den moosüberwucherten Eichen und Buchen geholfen, darüber emporzuwachsen. Hier wandelte sich die Straße offen in einen bedeckten Reitweg, auf dessen braunem Samt verblühte Primelbüschel wie Jade schimmerten und ein
paar kränkliche weißstielige Glockenblumen einander zunickten. Wenn der Hang es begünstigte, schaltete ich den Motor ab und glitt über die zusammengewirbelten Blätter, jeden Augenblick in der Erwartung, einem Waldhüter zu begegnen; aber ich hörte nur einen Häher, der fernab gegen das Schweigen im Zwielicht unter den Bäumen anschimpfte. Immer noch stieg der Pfad weiter hinab. Ich war schon soweit, umzukehren und mir den Weg zurück im zweiten Gang zu erarbeiten, ehe ich in einem Sumpf endete, als ich Sonnenschein durch das Gewirr vor mir sah und die Bremse löste. Sie ward sofort wieder durchgetreten. Als das Licht mir ins Gesicht schlug, rollten meine Vorderräder auf den Rand einer großen stillen Rasenfläche, von der Reiter mit eingelegten Lanzen zehn Fuß hoch sprangen, monströse Pfauen und schmucke rundköpfige Ehrenjungfern – blau, schwarz und glänzend – alle aus beschnittenen Eiben. Jenseits des Rasens – die aufmarschierten Wälder belagerten ihn von drei Seiten – stand ein altes Haus aus von Flechten überwucherten und verwitterten Steinen, mit von Pfeilern geteilten Fenstern und Dächern aus rosenroten Ziegeln. Es war flankiert von halbkreisförmigen, ebenfalls rosenroten Mauern, die den Rasen auf der vierten Seite abschlossen, und zu ihren Füßen wuchs eine Buchsbaumhecke mannshoch. Da waren Tauben auf dem Dach um die schlanken Ziegelkamine, und ich erhaschte einen Blick auf ein achteckiges Taubenhaus hinter der schirmenden Mauer. Hier also blieb ich; den grünen Speer eines Reiters auf meine Brust gerichtet; gebannt von der außerordentlichen Schönheit dieses Juwels in dieser Fassung. ›Wenn ich nicht als Eindringling herausgeschmissen werde, oder wenn dieser Ritter keine Attacke gegen mich reitet‹, dachte ich, ›müßten mindestens Shakespeare und Königin
Elisabeth durch jene halboffene Gartentür kommen und mich zum Tee bitten.‹ Ein Kind erschien an einem der oberen Fenster, und ich glaubte, das kleine Ding winke mir freundlich mit der Hand. Doch galt das einem Gefährten, denn sofort danach zeigte sich ein anderes vergnügtes Gesicht. Dann hörte ich zwischen den Eibenpfauen ein Lachen, und als ich mich umwandte, um mich zu vergewissern (bis dahin hatte ich nur das Haus betrachtet), sah ich hinter einer Hecke das Silber eines Springbrunnens der Sonne zugeworfen. Die Tauben auf dem Dach gurrten zum gurrenden Wasser; aber zwischen diesen beiden Klängen fing ich das vollkommen glückliche Kichern eines Kindes bei irgendeinem harmlosen Schabernack auf. Das Gartentor – schwere Eiche in die Dicke der Mauer versenkt – öffnete sich weiter: eine Frau mit großem Gartenhut setzte ihren Fuß langsam auf die zeitgehöhlten Steinstufen und schritt ebenso langsam über den Rasen. Ich suchte nach einer Entschuldigung, als sie den Kopf hob und ich sah, daß sie blind war. »Ich habe Sie gehört«, sagte sie. »Ist das nicht ein Auto?« »Ich fürchte, ich habe mich verfahren. Ich hätte oben abbiegen müssen – ich habe mir niemals träumen lassen – «, begann ich. »Ich freue mich sehr. Man stelle sich vor, daß ein Auto in den Garten kommt! Das wird solch eine Freude sein – « Sie wandte sich um und tat so, als blicke sie um sich. »Sie – Sie haben niemanden gesehen, oder – vielleicht doch?« »Niemanden, um mit ihm zu sprechen, aber die Kinder schienen aus der Entfernung interessiert.« »Welche?« »Ich sah ein paar eben oben am Fenster, und ich bilde mir ein, einen kleinen Kerl im Gebüsch gehört zu haben.«
»O Sie Glücklicher!« rief sie, und ihr Antlitz leuchtete auf. »Ich höre sie natürlich, aber das ist alles. Sie haben sie gesehen und gehört?« »Ja«, antwortete ich. »Und wenn ich irgendwas von Kindern verstehe, hat eines jetzt eine herrliche Zeit drüben beim Springbrunnen. Ausgebüchst, nehme ich an.« »Lieben Sie Kinder?« Ich zählte ihr einen oder zwei Gründe auf, weshalb ich sie nicht unbedingt haßte. »Natürlich, natürlich«, sagte sie. »Dann werden Sie verstehen. Dann werden Sie es nicht närrisch finden, wenn ich Sie bitte, Ihren Wagen durch den Garten zu fahren, ein- oder zweimal – ganz langsam. Ich bin sicher, daß sie ihn so gerne sehen würden. Sie sehen so wenig, die armen kleinen Dinger. Man bemüht sich, ihnen das Leben schön zu machen, aber – «, sie streckte die Hände zu den Wäldern hin aus. »Wir sind hier so sehr von der Welt abgeschieden.« »Es wird mir ein Vergnügen sein«, sagte ich. »Aber ich kann Ihnen doch nicht Ihren Rasen zerfahren.« Sie wandte das Gesicht nach rechts. »Einen Augenblick«, sagte sie. »Wir sind am Südtor, nicht? Hinter den Pfauen dort ist ein gepflasterter Weg. Wir nennen ihn den Pfauenpfad. Man sagt mir, daß man ihn von hier aus nicht sehen kann, aber wenn Sie sich am Waldrand vorbeidrücken, können Sie beim ersten Pfau einbiegen und auf die Steinplatten kommen.« Es war eine Entweihung, jene verträumte Hausfront durch das Getöse der Maschine aufzuwecken, aber ich wendete den Wagen vom Rasen herunter, streifte am Waldrand entlang und bog in den breiten Steinpfad ein, wo das Springbrunnenbecken wie ein Sternsaphir lag. »Darf ich mitkommen?« rief sie. »Nein, bitte helfen Sie mir nicht. Sie werden es mehr mögen, wenn sie mich sehen.«
Sie ertastete ihren Weg leicht zur Vorderseite des Wagens und rief mit einem Fuß auf dem Trittbrett: »Kinder, o Kinder! Schaut her und seht, was geschieht!« Diese Stimme hätte verlorene Seelen aus der Hölle gezogen, durch das Sehnen, das unter ihrer Süße lag, und mich überraschte nicht, einen Antwortruf hinter den Eiben zu hören. Das mußte der Knabe beim Springbrunnen gewesen sein, aber er floh bei unserem Nahen und hinterließ ein Spielzeugboot im Wasser. Ich sah den Schimmer seiner blauen Bluse zwischen den reglosen Reitern. Wir paradierten höchst gravitätisch entlang des Pfades und auf ihre Bitte hin wieder zurück. Diesmal hatte das Kind seine Panik bezwungen, blieb aber vorsichtshalber fern. »Der kleine Kerl beobachtet uns«, sagte ich. »Ich frage mich, ob er wohl mitfahren möchte.« »Sie sind noch sehr scheu. Sehr scheu. Ach wie glücklich Sie sind, daß Sie sie sehen können! Horchen wir.« Ich stellte sofort die Maschine ab, und die feuchte Stille, schwer mit dem Duft des Buchsbaums, hüllte uns dicht ein. Scheren konnte ich hören, mit denen ein Gärtner schor; das Summen von Bienen und gebrochene Stimmen, die die Tauben sein mochten. »Wie unfreundlich!« sagte sie erschöpft. »Vielleicht haben sie nur Angst vor dem Motor. Das kleine Mädchen am Fenster schaut ungemein interessiert.« »Ja?« Sie hob den Kopf. »Es war falsch von mir, das zu sagen. Sie lieben mich wirklich. Das ist das Einzige, was das Leben lebenswert macht – wenn jemand einen lieb hat, nicht? Ich wage mir gar nicht vorzustellen, wie das hier ohne sie wäre. Übrigens: ist es schön?« »Es ist der schönste Ort, den ich jemals gesehen habe.« »Das sagen alle. Ich kann es natürlich fühlen, aber das ist nicht das Gleiche.«
»Sie haben also niemals –?« begann ich, doch hielt beschämt inne. »Nicht, solange ich mich erinnern kann. Es geschah, als ich erst einige Monate alt war, hat man mir erzählt. Und doch muß ich mich an etwas erinnern, wie könnte ich sonst von Farben träumen. Ich sehe Licht in meinen Träumen, und Farben, aber niemals sehe ich sie. Ich höre sie nur, so wie wenn ich wach bin.« »Es ist schwierig, im Traum Gesichter zu sehen. Manche Menschen können das, aber den meisten von uns fehlt diese Gabe«, fuhr ich fort und schaute hinauf zu dem Fenster, wo das Kind ganz unverborgen stand. »Das habe ich auch gehört«, sagte sie. »Und man hat mir erzählt, daß man nie eines Toten Gesicht im Traume sieht. Ist das wahr?« »Ich glaube ja – jetzt, wo ich darüber nachdenke.« »Aber wie ist das mit Ihnen – Ihnen selbst?« Die blinden Augen wandten sich mir zu. »Ich habe die Gesichter meiner Toten nie in einem Traum gesehen«, sagte ich. »Das muß so schlimm sein wie blind sein.« Die Sonne war hinter die Wälder getaucht und die langen Schatten überwanden die hochmütigen Reiter einen nach dem anderen. Ich sah das Licht von der Spitze einer schimmerndblättrigen Lanze sterben und all das tapfre harte Grün ward sanftes Schwarz. Das Haus, das eines anderen Tages Ende hinnahm, wie es hunderttausend vergangene hingenommen hatte, schien sich tiefer in sein Nest zwischen den Schatten zu schmiegen. »Haben Sie sich das jemals gewünscht?« fragte sie nach dem Schweigen. »Manchmal sehr«, antwortete ich. Das Kind hatte das Fenster verlassen, als sich die Schatten um es schlossen.
»Ach! Ich auch, aber ich nehme an, das ist nicht erlaubt… Wo leben Sie?« »Ganz am anderen Ende der Grafschaft – runde sechzig Meilen und mehr, und ich muß zurückfahren. Ich bin ohne meinen großen Scheinwerfer gekommen.« »Aber es ist noch nicht dunkel. Das kann ich fühlen.« »Ich fürchte, das wird es sein, wenn ich nach Hause komme. Könnten Sie mir jemanden leihen, der mich zur Straße bringen kann? Ich habe mich total verfahren.« »Ich werde Madden mit Ihnen bis zur Kreuzung schicken. Wir sind so weit ab von der Welt, daß ich mich nicht wundere, daß Sie sich verfahren haben! Ich werde Sie zur Vorderseite des Hauses geleiten; aber fahren Sie bitte langsam, bis Sie vom Grundstück herunter sind. Das ist doch nicht töricht, oder?« »Ich verspreche Ihnen, daß ich so fahren werde«, sagte ich und ließ den Wagen den Steinpfad hinabrollen. Wir umrundeten den linken Flügel des Hauses, dessen kunstvoll aus Blei gegossene Dachrinne allein eine Tagesreise wert war; durchfuhren ein großes rosenüberwachsenes Tor in der roten Wand und kamen so herum zur hohen Vorderfront des Hauses, die an Schönheit und Stattlichkeit die Rückseite ebenso übertraf, wie diese alle anderen, die ich je gesehen hatte. »Ist es so sehr schön?« fragte sie sehnsuchtsvoll, als sie mein Entzücken hörte. »Und mögen Sie auch die Bleifiguren? Da hinten ist der alte Azaleengarten. Man sagt, daß dieser Platz für Kinder geschaffen worden sein muß. Helfen Sie mir bitte heraus? Ich würde gerne mit Ihnen bis zur Straßenkreuzung kommen, aber ich kann sie nicht allein lassen. Sind Sie das, Madden? Bitte zeigen Sie diesem Gentleman den Weg zu der Straßenkreuzung. Er hat sich verfahren, aber – er hat sie gesehen.«
Ein Butler erschien geräuschlos an jenem Wunder aus alter Eiche, das Vordertür genannt werden muß, und glitt beiseite, um seinen Hut aufzusetzen. Sie stand da und sah mich an mit offenen blauen Augen, in denen kein Sehen lag, und ich sah zum ersten Mal, daß sie schön war. »Denken Sie daran«, sagte sie ruhig, »wenn Sie sie lieb haben, werden Sie wiederkommen«, und verschwand im Haus. Der Butler im Wagen sagte nichts, bis wir den Toren des Grundstücks nahe waren und ich beim Anblick einer blauen Bluse in einem Gebüsch einen weiten Bogen fuhr, damit der Teufel, der kleine Jungen beim Spielen anführt, mich nicht in einen Kindsmord verwickele. »Verzeihung«, fragte er plötzlich, »aber warum haben Sie das getan, Sir?« »Da war ein Kind.« »Unser junger Gentleman in Blau?« »Natürlich.« »Er läuft viel umher. Haben Sie ihn beim Springbrunnen gesehen, Sir?« »O ja, verschiedentlich. Biegen wir hier ab?« »Ja, Sir. Und haben Sie sie zufällig auch oben gesehen?« »Am oberen Fenster? Ja.« »War das, bevor die Hausherrin herauskam, um mit Ihnen zu sprechen, Sir?« »Kurz vorher. Warum wollen Sie das wissen?« Er schwieg ein Weilchen. »Nur um sicher zu sein, daß – daß sie das Auto gesehen haben, Sir, denn wenn Kinder herumlaufen kann es, obwohl ich sicher bin, daß Sie besonders rücksichtsvoll fahren, zu Unfällen kommen. Das war alles, Sir. Hier ist die Straßenkreuzung. Von hier aus können Sie Ihren Weg nicht mehr verfehlen. Vielen Dank, Sir, aber das ist bei uns nicht üblich, nicht bei – «
»Entschuldigen Sie«, sagte ich und steckte das britische Silberstück weg. »Oh, im Allgemeinen ist das bei den anderen schon in Ordnung. Auf Wiedersehen, Sir.« Er zog sich in den gepanzerten Kommandoturm seiner Kaste zurück und schritt von dannen. Offensichtlich ein Butler, der um die Ehre seines Hauses besorgt war, und interessiert an den Kindern, vielleicht über ein Kindermädchen. Jenseits der Wegweiser an der Kreuzung blickte ich zurück, aber die schrumpfenden Hügel schoben sich so eifersüchtig ineinander, daß ich nicht sehen konnte, wo das Haus gestanden hatte. Als ich in einem Häuschen an der Straße nach seinem Namen fragte, gab mir die fette Frau, die Süßigkeiten verkaufte, zu verstehen, daß Menschen mit Autos wenig Berechtigung zu leben hätten – und noch weniger, »herumzugehen und wie Kutscher zu reden«. Keine Gemeinde mit freundlichen Sitten. Als ich an jenem Abend meine Fahrt auf der Karte nachvollzog, war ich nicht viel klüger. Der Katastername des Platzes schien Hawkins Alter Hof zu sein, und das alte Grafschaftshandbuch, sonst so ausführlich, enthielt keine Angaben dazu. Das Herrenhaus dieser Gegend hieß Hodnington Hall, im georgianischen Stil mit frühviktorianischen Verzierungen, wie ein scheußlicher Stahlstich bezeugte. Ich trug mein Problem zu einem Nachbarn – einem tiefverwurzelten Baum jenes Bodens – und er nannte mir den Namen einer Familie, der mir nichts sagte. Einen Monat oder so später – fuhr ich wieder dahin, oder vielleicht hat auch mein Auto die Straße aus eigenem Willen genommen. Es lief über die unfruchtbaren Downs, wand sich durch jede Kurve des Labyrinthes von Wegen unterhalb der Hügel, zog durch die hochragenden, im vollen Laub undurchdringlichen Wälder, kam an der Straßenkreuzung an,
wo mich der Butler verlassen hatte, und entwickelte ein wenig weiter innere Schwierigkeiten, die mich zwangen, es auf einen grasigen Bracheplatz am Wegesrand zu lenken, der in den sommerstillen Haselwald einschnitt. Soweit ich das mit Hilfe der Sonne und einer sechszölligen Generalstabskarte feststellen konnte, sollte das die Straße sein, die an jenem Wald entlang lief, den ich beim ersten Mal von den Höhen oben erforscht hatte. Ich machte ein mächtig ernsthaftes Geschäft aus den Reparaturarbeiten und eine glitzernde Auslage aus Reparaturwerkzeugen, Schraubenziehern, Pumpe und Ähnlichem, das ich ordentlich auf einer Decke ausbreitete. Es war eine ausgesprochene Kinderfalle, denn an einem solchen Tag, dachte ich mir, würden die Kinder nicht fern sein. Wenn ich meine Arbeit unterbrach, lauschte ich, aber der Wald war so voller Sommerlärm (obwohl sich die Vögel schon gepaart hatten), daß ich ihn zunächst nicht vom Tritt kleiner vorsichtiger Füßchen unterscheiden konnte, die sich über totes Laub stahlen. Ich ließ meine Glocke verlockend ertönen, aber die Füßchen flohen, und ich bereute, denn für ein Kind ist ein plötzliches Geräusch ein sehr wirklicher Schrecken. Ich mußte wohl eine halbe Stunde gearbeitet haben, als ich im Walde die Stimme der blinden Frau rufen hörte: »Kinder, o Kinder! Wo seid Ihr?« und die Stille schloß sich nur langsam um die Vollkommenheit dieses Rufes. Sie kam auf mich zu, indem sie sich halb ihren Weg zwischen den starken Baumstämmen erfühlte, und obwohl ein Kind an ihrem Rock zu hängen schien, huschte es wie ein Kaninchen ins Gelaub, als sie näher kam. »Sind Sie das?« fragte sie, »vom anderen Ende der Grafschaft?« »Ja, ich bin das, vom anderen Ende der Grafschaft.« »Warum sind Sie nicht durch den oberen Wald gekommen? Da waren sie eben noch.«
»Sie waren vor wenigen Minuten hier. Ich nehme an, sie wußten, daß mein Wagen eine Panne hat, und kamen, sich den Spaß anzusehen.« »Nichts Ernstes, hoffe ich? Wie kommen Autos zu Pannen?« »Auf fünfzig verschiedene Weisen. Leider hat meines die einundfünfzigste gewählt.« Sie lachte fröhlich über den kleinen Scherz, sie gurrte ein entzückendes Lachen und schob ihren Hut zurück. »Erzählen Sie«, sagte sie. »Warten Sie«, rief ich, »ich werde Ihnen ein Kissen holen.« Sie setzte den Fuß auf die Decke, die ganz mit Ersatzteilen bedeckt war, und beugte sich eifrig über sie. »Was für wundervolle Dinge!« Die Hände, mit denen sie sah, glänzten im gefleckten Sonnenlicht. »Hier eine Schachtel – eine andere Schachtel! Warum haben Sie sie wie in einem Spielladen angeordnet?« »Offen gestanden habe ich es so angeordnet, um sie anzulocken. Ich brauche nicht einmal die Hälfte dieser Dinge.« »Wie lieb von Ihnen! Ich hörte Ihre Hupe im oberen Wald. Sie sagen, daß sie schon vorher hier waren?« »Da bin ich ganz sicher. Warum sind sie so scheu? Der kleine Kerl in Blau, der eben noch bei Ihnen war, sollte inzwischen seine Furcht überwunden haben. Er beobachtet mich wie ein Indianer.« »Es muß Ihre Glocke gewesen sein«, sagte sie. »Ich hörte eines von ihnen ängstlich hinter mir vorbeilaufen, als ich herabkam. Sie sind scheu – so scheu selbst mir gegenüber.« Sie wandte ihr Antlitz über die Schulter und rief wieder: »Kinder, o Kinder! Kommt und seht!« »Sie werden zusammen zu ihren eigenen Angelegenheiten fortgelaufen sein«, regte ich an, denn da war ein Murmeln hinter uns von leisen Stimmen, vom plötzlichen quiekenden Kichern der Kindheit unterbrochen. Ich machte mich wieder an
meine Reparaturarbeiten, und sie lehnte sich vor, das Kinn in der Hand, und lauschte aufmerksam. »Wie viele sind es?« fragte ich schließlich. Die Arbeit war beendet, aber ich sah keinen Grund zu gehen. Ihre Stirn runzelte sich ein bißchen beim Nachdenken. »Ich weiß nicht recht«, sagte sie einfach. »Manchmal mehr – manchmal weniger. Sie kommen und bleiben bei mir, weil ich sie lieb habe, wissen Sie.« »Das muß sehr lustig sein«, sagte ich und legte einen Schraubenzieher zurück, und während ich sprach, hörte ich die Leere meiner Antwort. »Sie – Sie lachen doch nicht über mich«, rief sie. »Ich – ich habe nie eigene gehabt. Ich habe nie geheiratet. Leute lachen ihretwegen manchmal über mich, weil sie – weil – « »Weil sie Barbaren sind«, gab ich zurück. »Darüber muß man sich nicht grämen. Die Sorte lacht über alles, was sie nicht aus ihrem eigenen feisten Leben kennt.« »Ich weiß nicht. Woher sollte ich! Ich mag nur nicht, daß man über sie lacht. Das schmerzt; und wenn man nicht sehen kann… Ich möchte nicht töricht erscheinen«, ihr Kinn zitterte wie das eines Kindes, als sie sprach, »aber wir Blinden haben nur eine Haut, glaube ich. Alles von außen trifft direkt auf unsere Seelen. Mit Euch ist das anders. Ihr habt so gute Schutzmechanismen in Euren Augen – Ihr seht Euch vor – ehe jemand Euch wirklich in der Seele quälen kann. Daran denken die Menschen bei uns nicht.« Ich erwog schweigend diesen unerschöpflichen Gegenstand – die mehr als nur ererbte (nämlich auch sorgsam gelehrte) Brutalität der christlichen Völker, neben der das einfache Heidentum der Westküstenneger sauber und zurückhaltend ist. Das führte mich tief in mein Inneres. »Tun Sie das nicht!« sagte sie plötzlich und legte die Hände vor die Augen.
»Was?« Sie machte eine Bewegung mit der Hand. »Das! Das ist – ist alles purpurn und schwarz. Nicht! Die Farbe schmerzt.« »Aber wie in aller Welt wissen Sie von Farben?« rief ich aus, denn das war wirklich eine Offenbarung. »Farben als Farben?« fragte sie. »Nein. Die Farben, die Sie gerade gesehen haben.« »Das wissen Sie genau so gut wie ich«, lachte sie, »sonst hätten Sie diese Frage nicht gefragt. Die sind nicht in der Welt. Die sind in Ihnen – wenn Sie so ärgerlich werden.« »Meinen Sie einen stumpfen purpurnen Fleck, wie Portwein vermischt mit Tinte?« sagte ich. »Ich habe nie Portwein oder Tinte gesehen, aber die Farben sind nicht vermischt. Sie sind voneinander getrennt – ganz getrennt.« »Meinen Sie schwarze Streifen und Zacken quer durch den Purpur?« Sie nickte. »Ja – wenn sie so sind«, und wieder machte ihr Finger zickzack, »aber es ist mehr rot als purpurn – diese böse Farbe.« »Und was sind die Farben an der Spitze dessen – was immer Sie sehen?« Langsam beugte sie sich nach vorne und zog auf der Decke die Gestalt des Ur-Eies selbst. »Ich sehe sie so«, sagte sie und wies mit einem Grashalm, »weiß, grün, gelb, rot, purpurn, und wenn die Menschen ärgerlich oder böse sind, schwarz quer durchs Rot – wie Sie eben waren.« »Wer hat Ihnen darüber erzählt – im Anfang?« fragte ich. »Über die Farben? Niemand. Ich habe gefragt, was das für Farben seien, als ich klein war – in Tischdecken und Vorhängen und Teppichen, wissen Sie –, denn manche Farben
schmerzten mich und manche machten mich glücklich. Die Leute sagen es mir; und als ich älter wurde, sah ich so die Menschen.« Wieder zog sie die Kontur des Ur-Eises nach, das zu sehen nur sehr wenigen von uns gegeben ist. »Ganz aus Ihnen heraus?« wiederholte ich. »Ganz aus mir heraus. Da war sonst niemand. Ich habe erst später herausgefunden, daß andere Menschen diese Farben nicht sehen.« Sie lehnte gegen den Baumstamm und verflocht und löste zufällig gepflückte Grashalme. Die Kinder im Walde waren näher gekommen. Ich konnte sie aus dem Augenwinkel beobachten, wie sie mit Eichhörnchen herumtollten. »Nun bin ich sicher, daß Sie niemals über mich lachen werden«, fuhr sie nach langem Schweigen fort. »Noch über sie.« »Um Gottes willen! Nein!« schrie ich, aus meinen Gedankengängen heraus gerüttelt. »Ein Mann, der über ein Kind lacht – wenn das Kind nicht selber lacht –, ist ein Heide!« »Das habe ich nicht gemeint. Sie würden Kinder niemals auslachen, aber ich dachte – ich habe gedacht –, daß Sie vielleicht über sie lachten. So bitte ich denn um Ihre Vergebung… Worüber lachen Sie?« Ich hatte kein Geräusch gemacht, aber sie wußte. »Über die Vorstellung, daß Sie meine Vergebung erbitten. Wenn Sie Ihre Pflicht als Säule des Staates und besitzende Grundeigentümerin getan hätten, hätten Sie mich wegen unbefugten Eindringens gerichtlich verfolgen lassen müssen, als ich neulich durch Ihre Wälder brach. Das war schändlich von mir – unentschuldbar.« Sie sah mich an, den Kopf gegen den Baumstamm gelehnt – lange und stetig – diese Frau, die die nackte Seele sehen konnte.
»Wie seltsam«, flüsterte sie halb. »Wie äußerst seltsam.« »Warum, was habe ich getan?« »Sie verstehen nicht… und doch begreifen Sie diese Farben. Verstehen Sie nicht?« Sie sprach mit einer durch nichts gerechtfertigten Leidenschaft, und ich starrte sie verwirrt an, als sie sich erhob. Die Kinder hatten sich in einer Runde hinter einem Brombeerbusch gesammelt. Ein glatter Kopf beugte sich über etwas Kleineres, und die Haltung der kleinen Schultern zeigte mir, daß Finger auf Lippen lagen. Auch sie hatten irgendwelche ungeheuren Kindergeheimnisse. Ich allein befand mich im hellen Sonnenschein dort hoffnungslos in der Irre. »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf, als ob die toten Augen das hätten wahrnehmen können. »Was immer es ist, ich verstehe es noch nicht. Vielleicht werde ich später – wenn Sie mir wiederzukommen erlauben.« »Sie werden wiederkommen«, antwortete sie. »Sie werden bestimmt wiederkommen und im Wald spazieren gehen.« »Vielleicht werden die Kinder mich dann gut genug kennen, um mich mit ihnen spielen zu lassen – als eine Gunst. Sie wissen ja, wie Kinder sind.« »Das ist keine Gunst, sondern ein Recht«, antwortete sie, und während ich mich noch fragte, was sie damit meine, stürzte eine aufgelöste Frau um die Straßenbiegung, mit gelöstem Haar, purpurn, im Rennen vor Todesangst fast vergehend. Es war meine unwirsche fette Freundin aus dem Laden mit Süßigkeiten. Die blinde Frau hörte sie und trat hervor. »Was ist los, Frau Madehurst?« fragte sie. Die Frau warf sich die Schürze über den Kopf und kroch buchstäblich im Staub, und schrie, daß ihr Enkelkind auf den Tod krank sei, daß der Ortsarzt zum Fischen fort sei, daß Jenny, die Mutter, am Ende ihres Lateins sei, und immer so
fort, mit Wiederholungen und Geschrei. »Wo ist der nächste Arzt?« fragte ich zwischen den Ausbrüchen. »Madden wird es Ihnen sagen. Gehen Sie ums Haus und nehmen ihn mit. Ich werde mich hierum kümmern. Seien Sie schnell!« Sie half der fetten Frau in den Schatten. Zwei Minuten später ließ ich alle Trompeten von Jericho vor Haus Wunderschön erschallen, und Madden, in der Speisekammer, stellte sich der Krise wie ein Butler und ein Mann. Eine Viertelstunde mit unerlaubter Geschwindigkeit verhalf uns fünf Meilen weiter zu einem Arzt. Binnen einer halben Stunde hatten wir ihn, der sehr an Motoren interessiert war, in die Tür des Süßwarenladens umgegossen und stellten uns an der Straße auf, um den Urteilsspruch abzuwarten. »Nützliche Dinger, Autos«, sagte Madden, nur Mann und nicht Butler. »Wenn ich eins gehabt hätte, als meine Kleine krank wurde, wäre sie nicht gestorben.« »Was war’s denn?« fragte ich. »Diphtherie. Frau Madden war nicht da. Niemand wußte, was tun. Ich fuhr mit einem Mietkarren acht Meilen weit um den Arzt. Sie war erstickt, als wir wiederkamen. Dieses Auto hättse retten gekonnt. Sie wäre jetzt fast zehn.« »Tut mir leid«, sagte ich. »Aus dem, was Sie mir neulich erzählten, als wir zur Straßenkreuzung fuhren, entnahm ich, daß Sie Kinder ziemlich gern haben.« »Haben Sie sie wieder gesehen, Sir – heute Morgen?« »Ja, aber sie hüten sich vor Autos. Ich konnte keines näher als zwanzig Yards heranbekommen.« Er betrachtete mich sorgfältig, so wie ein Späher einen Fremden betrachtet – nicht wie ein Dienstbote seine Augen zu dem von Gott über ihn Gesetzten erheben soll. »Ich frag mich warum«, sagte er kaum lauter als der Atem, den er einsog.
Wir warteten. Ein leichter Wind von der See wanderte die langen Reihen der Wälder auf und ab, und die Gräser am Straßenrand, vom Sommerstaub bereits geweißt, hoben und neigten sich in fahlen Wogen. Eine Frau, die sich den Seifenschaum von den Armen wischte, kam aus dem Häuschen neben dem Süßwarenladen. »Ich hab im Hof gehorcht«, sagte sie fröhlich. »Er sagt, Arthur geht’s unerklärlich schlecht. Harn Sie n eben quieken gehört? Unerklärlich schlecht. Jetz isses an Jenny nächse Woche innen Wald zu gehn, Herr Madden.« »Verzeihen Sie, Sir, aber Ihr Schürzenrock rutscht«, sagte Madden höflich. Die Frau stutzte, knickste und eilte fort. »Was meint Sie mit ›in den Wald gehen‹?« fragte ich. »Es muß wohl eine Redensart von hier herum sein. Ich selbst bin aus Norfolk«, sagte Madden. »Sie sind ein unabhängiges Volk hier in der Grafschaft. Sie hat Sie für einen Chauffeur angesehen, Sir.« Ich sah den Doktor aus dem Haus kommen, gefolgt von einer verschlumpten Schlunze, die sich an seinen Arm klammerte, als könne er für sie einen Pakt mit dem Tod schließen. »Die sin«, jammerte sie – »die sin für uns, die wir se harn, genausoviel, wie wenn se ehelich geborn wärn. Genausoviel – genau so viel! Un Gott freut sich genau so, wenn Se eins retten, Doktor. Nehm Se s mir nich weg. Miss Florence wird Ihn s Gleiche sagen. Verlassen Se n nich, Doktor!« »Ich weiß, ich weiß«, sagte der Mann; »aber jetzt wird er für ein Weilchen ruhig sein. Wir werden die Pflegerin und Arznei holen, so schnell wir können.« Er winkte mir, mit dem Wagen vorzufahren, und ich bemühte mich, nichts von dem zu sehen, was folgte; aber ich sah das Gesicht des Mädchens, fleckig und vor Kummer erstarrt, und ich fühlte die Hand ohne Ring sich um mein Knie krampfen, als wir abfuhren.
Der Doktor war ein Mann von Humor, denn ich erinnere mich, daß er mein Auto unter dem Eid des Aesculap beschlagnahmte und es und mich erbarmungslos benutzte. Zunächst holten wir Frau Madehurst und die blinde Frau herbei, daß sie am Krankenbett wachten, bis die Pflegerin komme. Danach fielen wir in eine saubere Stadt der Grafschaft um Medikamente ein (der Doktor sagte, das Problem sei cerebrospinale Meningitis), und als das Grafschaftskrankenhaus, umstrudelt von verängstigtem Marktvieh, sich für den Augenblick von Pflegerinnen entblößt erklärte, stürzten wir uns buchstäblich auf die Grafschaft. Wir verhandelten mit den Besitzern großer Häuser-Magnaten am Ende überwölbter Zufahrten, deren großknochige Frauen von ihren Teetischen herbeikamen, um dem herrischen Doktor zu lauschen. Schließlich übergab eine weißhaarige Dame, die umgeben von einem Hofstaat herrlicher Barsois – alle dem Auto feindselig – unter einer Zeder vom Libanon saß, dem Doktor schriftliche Anweisungen, die er wie von einer Fürstin entgegennahm, mit denen wir manche Meile mit Höchstgeschwindigkeit durch einen Park zu einem französischen Nonnenkloster brausten, wo wir im Austausch eine blaßgesichtige und zitternde Schwester übernahmen. Sie kniete im Fond des Wagens und betete unaufhörlich ihren Rosenkranz, bis wir auf Abkürzungen aus der Erfindung des Doktors sie wiederum beim Süßwarenladen hatten. Es war ein langer Nachmittag, gefüllt mit verrückten Episoden, die sich erhoben und auflösten wie der Staub von unseren Rädern; Querschnitte aus fernen und unbegreiflichen Leben, die wir in rechten Winkeln durchrasten; und ich kam erschöpft in der Dunkelheit nach Hause, um von Rindergehörnen zu träumen, die aufeinanderprallten; von rundäugigen Nonnen, die durch einen Gräbergarten wandelten; von freundlichen Teegesellschaften unter schattigen Bäumen; von
karbolriechenden graugestrichenen Korridoren im Grafschaftskrankenhaus; von Schritten scheuer Kinder im Wald und von den Händen, die sich um mein Knie krampften, als der Motor zu laufen begann. Ich hatte am nächsten oder übernächsten Tag zurückkommen wollen, aber es gefiel dem Schicksal, mich unter mancherlei Vorwänden von jenem Ende der Grafschaft fernzuhalten, bis Holunder und wilde Rose Frucht getragen hatten. Da kam schließlich ein strahlender Tag, vom Südwest sauber gefegt, der die Hügel in greifbare Nähe brachte – ein Tag unsteter Lüfte und hoher dünner Wolken. Nicht durch eigenes Verdienst war ich frei, und zum dritten Mal steuerte ich den Wagen auf jene bekannte Straße. Als ich den Kamm der Downs erreichte, spürte ich die sanfte Luft sich wandeln, sah sie unter der Sonne flimmern; und als ich auf die See hinabblickte, sah ich in diesem Augenblick das Blau des Kanals sich durch poliertes Silber und stumpfen Stahl zu schmutzigem Zinn wandeln. Ein beladenes Kohleschiff dicht unter der Küste steuerte hinaus in tieferes Wasser, und durch kupferfarbenen Dunst sah ich Segel steigen, eines ums andere auf der vor Anker liegenden Fischerflotte. In einer tiefen Senke hinter mir dröhnte der Wirbel einer jähen Bö durch die schützenden Eichen und jagte die erste trockene Auswahl von Herbstblättern im Kreis in die Höhe. Als ich die Uferstraße erreichte, qualmte der Meeresnebel über die Ziegeleien, und die Gezeiten erzählten allen Molen vom Sturm jenseits Ushant. In weniger als einer Stunde verschwand das sommerliche England in kaltem Grau. Wir waren wieder die abgeschlossene Insel des Nordens, und alle Schiffe der Welt brüllten vor unseren gefährlichen Toren; und zwischen ihre Schreie pfiffen verschreckte Möwen. Meine Mütze tropfte Nässe, die Falten der Decke hielten sie in Pfützen oder schleusten sie in Rinnsalen fort, und Salzreif klebte an meinen Lippen.
Im Binnenland lud der Geruch des Herbstes den sich verdichtenden Nebel zwischen den Bäumen auf, und das Tröpfeln wurde ein andauernder Regen. Doch die späten Blumen – Malven am Straßenrain, Knopfblumen auf den Feldern, und Dahlien in den Gärten – leuchteten heiter im Nebel, und jenseits des Atems der See gab es noch kaum Anzeichen für Verfall im Laub. Doch in den Dörfern waren alle Haustüren offen, und barbeinige barhäuptige Kinder hockten bequem auf den feuchten Türstufen, um dem Fremden »piep-piep« zuzurufen. Ich faßte Mut zu einem Besuch im Süßwarenladen, wo Frau Madehurst mich mit den gastfreundlichen Tränen einer fetten Frau empfing. Jennys Kind, sagte sie, sei zwei Tage nach dem Eintreffen der Nonne gestorben. Es sei, fühle sie, am besten aus dem Weg, obwohl Versicherungsbüros aus Gründen, die zu verstehen sie nicht vorgebe, solche verirrten Leben nicht gerne versicherten. »Als ob Jenny nicht alles für n Arthur getan hätte, wie wenn er orntlich am Ende vons erste Jahr gekomm wär – wie Jenny selbs.« Dank Miss Florence sei das Kind mit einem Pomp begraben worden, der nach Frau Madehursts Meinung die kleine Unregelmäßigkeit seiner Geburt mehr als bedecke. Sie beschrieb den Sarg, Inneres und Äußeres, den gläsernen Leichenwagen, und die Grabeinfassung aus Immergrün. »Wie geht es der Mutter?« fragte ich. »Jenny? Oh, die wird drüber wegkommen. Mir ging’s mit ein oder zwei von meine Eignen genau so. Sie wird drüber wegkomm. Jetzt geht se in n Wald.« »Bei diesem Wetter?« Frau Madehurst sah mich mit zusammengekniffenen Augen über die Theke hin an.
»Weiß nich, aber’s öffnet s Herz. Ja, s öffnet s Herz. Deshalb komm Verliern un Gebärn schließlich aufs Gleiche raus, sagen wir hier.« Nun ist die Weisheit alter Frauen größer als die aller Kirchenväter, und dieser letzte Orakelspruch machte mich so ausführlich denken, daß ich fast eine Frau und ein Kind an der bewaldeten Ecke bei den Grundstückstoren von Haus Wunderschön überfahren hätte. »Schreckliches Wetter!« rief ich, als ich für die Abbiegung anhielt. »Nich so schlimm«, antwortete sie friedlich aus dem Nebel. »Meine sin dran gewöhnt. Ihre wern Se wohl drinnen finden, nehm ich an.« Drinnen empfing Madden mich mit berufsgemäßer Höflichkeit und freundlichen Fragen nach der Gesundheit des Motors, den er abdecken wolle. Ich wartete in einer stillen nußbraunen Halle, die späte Blumen freundlich machten und die von einem genußreichen Holzfeuer erwärmt wurde – einem Ort guten Einflusses und tiefen Friedens. (Männer und Frauen mögen manchmal nach großer Anstrengung eine glaubhafte Lüge hervorbringen; aber das Haus, das ihr Tempel ist, kann über die, die in ihm gelebt haben, nur die Wahrheit sagen). Eines Kindes Wagen und eine Puppe lagen auf dem schwarzweißen Flur, auf dem ein Teppich zurückgeschlagen worden war. Ich hatte das Gefühl, daß die Kinder eben erst – wahrscheinlich um sich zu verstecken – weggehuscht waren in die vielen Wendelungen der großen, mit dem Handbeil gearbeiteten Treppe, die stattlich aus der Halle emporkletterte, oder lugend hinter den Löwen und Rosen der geschnitzten oberen Galerie kauerten. Dann hörte ich ihre Stimme über mir, singend wie die Blinden singen – aus der Seele:
›In the pleasant orchard-closes.‹ Und mein ganzer früher Sommer kam bei diesem Ruf zurück. ›In the pleasant orchard-closes, God bless all our gains say we – But may God bless all our losses, Better suits with our degree.‹ Sie ließ die störende 5. Zeile beiseite und wiederholte: ›Better suits with our degree!‹ Ich sah sie sich über die Galerie lehnen, die verschränkten Hände weiß wie Perlen vor dem Eichenholz. »Sind das Sie – vom anderen Ende der Grafschaft?« rief sie. »Ja, ich – vom anderen Ende der Grafschaft«, antwortete ich lachend. »Wie lange Zeit Sie brauchten, um wieder herzukommen.« Sie rannte die Treppe herab, die eine Hand berührte leicht das breite Geländer. »Zwei Monate und vier Tage. Der Sommer ist vorbei!« »Ich wollte früher kommen, aber das Schicksal verhinderte es.« »Das wußte ich. Bitte tun Sie was mit dem Feuer. Man will mich nicht mit ihm spielen lassen, aber ich weiß, daß es sich schlecht benimmt. Prügeln Sie es!« Ich suchte auf beiden Seiten der tiefen Feuerstelle und fand nur einen halbverkohlten Zaunpfosten, mit dem ich einen schwarzen Klotz in die Flamme schob. »Es geht niemals aus, bei Tag oder Nacht«, sagte sie, als ob sie sich erklären müsse. »Für den Fall, daß jemand mit kalten Zehen hereinkommt, wissen Sie.«
»Es ist drinnen noch schöner als von außen«, murmelte ich. Das rote Licht ergoß sich entlang den vom Alter polierten dunklen Paneelen, bis die Tudor-Rosen und -Löwen der Galerie in Farbe und Bewegung kamen. Ein alter, von einem Adler gekrönter Spiegel sammelte das Bild in sein geheimnisvolles Herz und verzerrte erneut die verzerrten Schatten und krümmte die Linien der Galerie in die Krümmungen eines Schiffes. Der Tag ging in einem halben Sturm zuende, als der Nebel sich in eine zerfetzte niedrige Wolke wandelte. Durch die vorhanglosen Scheiben des breiten Pfeilerfensters konnte ich die tapfren Reiter auf dem Rasen sich aufrichten und gegen den Wind decken sehen, der sie mit Legionen toter Blätter verhöhnte. »Ja, das muß herrlich sein«, sagte sie. »Wollen Sie es sich ansehen? Oben ist noch genug Licht.« Ich folgte ihr über die gerade wagenbreite Treppe hinauf zur Galerie, auf die sich die kleinen gekehlten elisabethanischen Türen öffneten. »Fühlen Sie, wie sie die Riegel zugunsten der Kinder niedrig angebracht haben.« Sie öffnete eine kleine Tür nach innen. »Übrigens, wo sind sie?« fragte ich. »Ich habe sie heute nicht einmal gehört.« Zunächst antwortete sie nicht. Dann erwiderte sie sanft: »Ich kann sie nur hören. Dies ist eines ihrer Zimmer – alles ist bereitet, sehen Sie.« Sie wies in einen Raum mit schwerer Täfelung. Da gab es kleine niedrige Tische und Kinderstühle. Ein Puppenhaus, die eingehakte Vorderfront halb geöffnet, gegenüber ein großes geschecktes Schaukelpferd, von dessen gepolstertem Sattel es nur eines Kindes Krabbeln auf den breiten Fenstersitz war, der den Rasen überblickte. Ein Spielzeuggewehr lag in einer Ecke neben einer vergoldeten Holzkanone.
»Sie sind sicherlich gerade erst weg«, flüsterte ich. Im schwindenden Licht quietschte eine Tür vorsichtig. Ich hörte das Rascheln eines Rockes und das Trippeln von Füßchen – schnelle Füßchen durch ein Zimmer nebenan. »Ich hab es gehört«, rief sie triumphierend. »Sie auch? Kinder, o Kinder! Wo seid Ihr?« Die Stimme füllte die Wände, die sie liebevoll bis zur letzten vollkommenen Note hielten, aber da kam kein antwortender Ruf, wie ich ihn im Garten gehört hatte. Wir eilten von Zimmer zu eichenbedieltem Zimmer; hier eine Stufe hinauf, dort drei Stufen hinab; durch ein Gewirr von Gängen; immer genarrt von unserem Wild. Man hätte genausogut versuchen können, in einem unverschlossenen Kaninchenbau mit einem einzigen Frettchen zu jagen. Da gab es unzählige Schlupflöcher – Vertiefungen in den Mauern, tief eingeschnittene Fensternischen, nun dunkel, aus denen sie hinter uns aufspringen konnten; und verlassene Kamine, sechs Fuß tief im Mauerwerk, und das Gewimmel von Verbindungstüren. Vor allem aber hatten sie das Zwielicht als Helfer in unserem Spiel. Ich hatte ein oder zwei fröhliche Fluchtgekicher aufgefangen und hatte ein oder zweimal die Silhouette eines Kinderkleidchens vor einem sich verdunkelnden Fenster am Ende des Ganges gesehen; aber wir kehrten mit leeren Händen auf die Galerie zurück, gerade als eine mittelalte Frau eine Lampe in ihre Nische stellte. »Nein, ich habe sie heute abend auch nicht gesehen, Miss Florence«, hörte ich sie sagen, »aber der Turpin sagt, er will Sie wegen seines Schuppens sprechen.« »Oh, Herr Turpin muß mich wirklich dringend sehen wollen. Sagen Sie ihm, er soll in die Halle kommen, Frau Madden.« Ich blickte in die Halle hinab, deren einziges Licht das matte Feuer war, und tief im Schatten sah ich sie endlich. Sie mußten hinabgeschlüpft sein, während wir in den Gängen waren, und
glaubten sich nun vollkommen verborgen hinter einem alten vergoldeten ledernen Ofenschirm. Nach kindlichem Recht war meine fruchtlose Jagd so gut wie eine formelle Vorstellung, aber da ich so viele Mühen gehabt hatte, beschloß ich, sie später durch den einfachen Trick hervorzuzwingen, daß ich vorgäbe, sie nicht zu bemerken, was Kinder verabscheuen. Sie lagen in einem kleinen Grüppchen eng beieinander, nicht mehr als Schatten, außer wenn ein Aufflammen einen Umriß verriet. »Und jetzt wollen wir Tee trinken«, sagte sie. »Ich glaube, das hätte ich Ihnen schon zu Anfang anbieten sollen, aber irgendwie verlernt man seine Manieren, wenn man allein lebt und als – hm – eigenartig betrachtet wird.« Dann, mit anmutigstem Spott: »Wollen Sie eine Lampe, um beim Essen zu sehen?« »Ich glaube, das Kaminfeuer ist viel schöner.« Wir stiegen in jenes köstliche Dämmer hinab, und Madden brachte den Tee. Ich wählte mir einen Sessel beim Ofenschirm, bereit zu überraschen oder mich überraschen zu lassen, ganz wie das Spiel weitergehen mochte, und beugte mich mit ihrer Erlaubnis, denn ein Herdfeuer ist immer heilig, vor, um mit dem Feuer zu spielen. »Wo kriegen Sie denn diese wunderschönen kurzen Holzscheite her?« fragte ich müßig. »Ach, sie sind ja eingekerbt!« »Natürlich«, sagte sie. »Da ich weder lesen noch schreiben kann, bin ich für meine Abrechnungen zur frühen englischen Kerbzählung zurückgezwungen worden. Geben Sie mir einen Scheit, und ich werde Ihnen sagen, was das bedeutet.« Ich reichte ihr einen unangebrannten Haselscheit, etwa einen Fuß lang, und sie fuhr mit dem Daumen über die Kerben. »Das ist die Milchabrechnung unseres Gutshofes vom April letzten Jahres, in Gallonen«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich ohne die Kerbrechnung hätte tun sollen. Einer meiner alten
Förster hat mich das System gelehrt. Für alle anderen ist es jetzt außer Gebrauch; aber meine Pächter respektieren es. Einer von ihnen besucht mich jetzt. Oh, das spielt keine Rolle. Außerhalb der Bürozeiten hat er hier nichts zu suchen. Er ist ein habsüchtiger unwissender Mann – sehr habsüchtig, sonst – käme er nicht nach Einbruch der Dunkelheit her.« »Haben Sie viel Grundbesitz?« »Nur runde hundert Morgen unterm Pflug, Gott sei Dank. Die übrigen sechshundert sind fast alle an Leute verpachtet, die meine Familie schon vor mir kannten, nur dieser Turpin ist ein neuer Mann – und ein Straßenräuber.« »Aber sind Sie sicher, daß ich nicht –?« »Sicher nicht. Sie haben das Recht. Er hat keine Kinder.« »Ach, die Kinder!« sagte ich und schob meinen Sessel zurück, bis er fast den Schirm berührte, der sie verbarg. »Ich frage mich, ob sie wohl für mich herauskommen werden.« Da war ein Murmeln von Stimmen – von Madden und einem tieferen Klang – an der niedrigen dunklen Seitentür, und ein rotschopfiger Riese in Leinengamaschen, der unverkennbare Landpächter, stolperte herein oder ward hereingeschoben. »Kommen Sie zum Feuer, Mr. Turpin«, sagte sie. »Wenn – wenn Sie erlauben, Miss, ich – ich kann genausogut bei der Tür bleiben.« Er umklammerte, während er sprach, die Klinke wie ein verschrecktes Kind. Plötzlich wurde mir bewußt, daß ihn eine fast übermächtige Furcht gepackt hielt. »Also?« »Wegen dem neuen Stall für das Jungvieh – das ist alles. Die ersten Herbststürme setzen ein… aber ich werde wiederkommen, Miss.« Seine Zähne klapperten nicht viel lauter als die Türklinke. »Ich glaube nicht«, sagte sie gelassen. »Der neue Stall – mhm. Was hat Ihnen mein Verwalter am Fünfzehnten geschrieben?«
»Ich – dachte vlleich, wenn ich mit Ihnen spreche – Ma – Mann zu Mann sozusagen, Miss. Aber – « Seine vor Grauen weit aufgerissenen Augen irrten in jede Ecke des Raumes. Er öffnete die Tür halb, durch die er gekommen war, aber ich sah, wie sie wieder geschlossen wurde – von außen und zwar fest. »Er hat Ihnen geschrieben, was ich ihm auftrug«, fuhr sie fort. »Sie haben schon zu viele. Dunnetts Farm hat nie mehr als fünfzig Jungochsen getragen – selbst in Mr. Wrights Zeiten. Und er fütterte Ölkuchen. Sie haben siebenundsechzig und Sie füttern keine Ölkuchen. In diesem Punkt haben Sie den Pachtvertrag gebrochen. Sie treiben Raubbau mit der Farm.« »Ich – ich krieg einigen Kunstdünger – Superphosphat – nächste Woche. Ich hab ne Wagenladung schon so gut wie bestellt. Ich wer morgen deswegen zum Bahnhof gehn. Dann kann ich wiederkomm und sozusagen Mann zu Mann mit Ihn reden, Miss, bei Tageslicht… Der Herr geht doch nich etwa weg?« Er kreischte fast. Ich hatte den Sessel nur ein wenig weiter nach hinten geschoben und griff hinter mich, um gegen das Leder des Ofenschirms zu klopfen, aber er fuhr auf wie eine Ratte. »Nein. Hören Sie mir bitte zu, Mr. Turpin.« Sie drehte sich in ihrem Stuhl um und wandte ihm, der mit seinem Rücken zur Tür stand, ihr Gesicht zu. Es war ein alter schmutziger kleiner Betrugsplan, den sie aus ihm heraus zwang – seine Bitte um einen neuen Rinderstall auf Kosten seiner Verpächterin, daß er mit dem beiseite gebrachten Dung die Pacht des nächsten Jahres nach der Taxierung zahle, nachdem er, wie sie klarstellte, die angereicherten Weiden bis aufs Mark ausgeblutet hätte. Ich mußte unwillkürlich das Ausmaß seiner Habgier bewundern, als ich ihn sich deswegen welchem Schrecken auch immer stellen sah, der ihm naß von der Stirn rann.
Ich hörte auf, gegen das Leder zu klopfen – berechnete tatsächlich die Kosten der Stallung –, als ich meine entspannte Hand ergriffen und sanft zwischen den sanften Händen eines Kindes gedreht spürte. So triumphierte ich denn zuletzt. Gleich würde ich mich umdrehen und mich mit jenen schnellfüßigen Wanderern bekannt machen… Der kleine streifende Kuß fiel in die Mitte meiner Handfläche – als Geschenk, auf das hin, früher einmal, erwartet wurde, die Finger zu schließen: als das allvertrauende halb vorwurfsvolle Zeichen eines harrenden Kindes, das nicht an Vernachlässigung gewöhnt ist, selbst wenn die Erwachsenen noch so beschäftigt sind – Teil jener vor so langer Zeit erfundenen stummen Zeichensprache. Da wußte ich. Und es war, als hätte ich es vom ersten Tag an gewußt, seit ich über den Rasen auf das hohe Fenster schaute. Ich hörte die Tür schließen. Die Frau wandte sich schweigend zu mir, und ich spürte, daß sie wußte. Wieviel Zeit danach verstrich, kann ich nicht sagen. Ich ward vom Fall eines Scheites aufgeschreckt und erhob mich mechanisch, um ihn zurückzulegen. Dann kehrte ich zu meinem Platz in dem Sessel sehr nahe beim Ofenschirm zurück. »Jetzt verstehen Sie«, flüsterte sie durch die dicht gedrängten Schatten. »Ja – ich verstehe – jetzt. Dank Ihnen.« »Ich – ich höre sie nur.« Sie neigte ihren Kopf in die Hände. »Ich hab kein Recht, wissen Sie – kein anderes Recht. Ich habe keines geboren noch verloren – weder geboren noch verloren!« »Dann seien Sie sehr froh«, sagte ich, denn meine Seele war in mir aufgerissen. »Verzeihen Sie mir!« Sie schwieg, und ich kehrte zu meinem Schmerz und meiner Freude zurück.
»Es geschah, weil ich sie so liebte«, sagte sie schließlich, gebrochen. »Deshalb war es so, schon vom ersten – noch ehe ich wußte, daß sie – sie alles sein würden, was ich je haben sollte. Und ich liebte sie so!« Sie streckte ihre Arme nach den Schatten aus und den Schatten im Schatten. »Sie kamen, weil ich sie liebte – weil ich sie brauchte. Ich – ich habe sie wohl herbeigelockt. Glauben Sie, daß das unrecht war?« »Nein – nein.« »Ich – ich gebe Ihnen zu, daß das Spielzeug und – und all diese Dinge Unsinn waren, aber – aber ich haßte leere Räume selbst, als ich klein war.« Sie wies zur Galerie. »Und die Gänge alle leer… Und wie hätte ich je die Gartentür geschlossen ertragen können? Stellen Sie sich vor – « »Nicht! Um Gottes willen nicht!« rief ich. Die Dämmerung hatte einen kalten Regen gebracht mit stürmischen Böen, die an den bleigefaßten Fenstern zerrten. »Und ebenso ist es mit dem Feuer die ganze Nacht brennen lassen. Ich finde das nicht so töricht – Sie?« Ich blickte auf den breiten Ziegelkamin, sah, durch Tränen glaube ich, daß da kein undurchlässiges Eisen in oder bei ihm war, und verneigte mich. »Ich tat das alles und vieles andere – nur um so zu tun als ob. Dann kamen sie. Ich hörte sie, aber ich wußte nicht, daß sie rechtens nicht mein waren, bis Frau Madden mir erzählte – « »Die Frau des Butlers? Was?« »Eines von ihnen – hörte ich – sah sie. Und wußte. Ihres! Nicht für mich. Zuerst wußte ich das nicht. Vielleicht war ich eifersüchtig. Später begann ich zu begreifen, daß es nur geschah, weil ich sie liebte, nicht weil – … Oh, man muß gebären oder verlieren«, sagte sie jammervoll. »Es gibt keinen
anderen Weg – und doch lieben sie mich. Sie müssen! Oder nicht?« Da war kein Ton im Raum außer den leckenden Stimmen des Feuers, aber wir beide lauschten angespannt, und wenigstens sie fand Trost in dem, was sie hörte. Sie faßte sich und erhob sich halb. Ich saß still in meinem Sessel beim Ofenschirm. »Glauben Sie nicht, daß ich unglücklich bin, weil ich so um mich selbst klage, aber – aber ich bin ewig im Dunkeln, wissen Sie, und Sie können sehen.« Wahrlich konnte ich sehen, und meine Gesichte bestärkten mich in meinem Entschluß, obwohl das war, wie wenn sich Geist und Fleisch scheiden. Doch ein Weilchen wollte ich noch bleiben, da es das letzte Mal war. »Sie denken also, es sei falsch?« rief sie scharf, obwohl ich nichts gesagt hatte. »Nicht für Sie. Tausendmal Nein. Für Sie ist es richtig… Ich bin Ihnen dankbar jenseits aller Worte. Für mich wäre es falsch. Nur für mich…« »Warum?« fragte sie, fuhr aber mit der Hand über ihr Gesicht, wie sie das bei unserem zweiten Treffen im Wald getan hatte. »Oh, ich verstehe«, fuhr sie einfach wie ein Kind fort. »Für Sie wäre es falsch.« Dann fuhr sie mit einem kleinen Lachen nach innen fort: »Und, wissen Sie noch, Sie habe ich glücklich genannt – einmal – beim ersten Mal, Sie, der niemals wieder herkommen darf!« Sie verließ mich, damit ich noch ein bißchen länger beim Ofenschirm sitzen konnte, und ich hörte den Klang ihrer Schritte entlang der Galerie oben ersterben.
Der Stier, der dachte
Von einer Stadt an der Rhône-Mündung läuft eine Straße nach Westen so mathematisch gerade, so barometrisch eben, daß sie zu den Eichmeilen der Erde gehört und von Autofahrern für Rekordfahrten genutzt wird. Ich war die Strecke verschiedentlich angegangen, aber immer wehte ein Mistral oder waren die unseligen Rinder jener Gegend unterwegs. Einst aber kam aus Osten in einen hochgetürmten fast ägyptischen Sonnenuntergang eine Nacht, die ungenutzt zu lassen Sünde gewesen wäre. Es war warm im Atem des vorgerückten Sommers; mondhell, daß der Schatten jedes runden Kiesels und jeder spitzigen Zypressenwindhecke kräftig auf jener weiten flachbodigen Ebene lag; und mein Mr. Leggatt, der hinausgeschlüpft war, um sich zu vergewissern, berichtete, daß die Straßendecke makellos sei. »Jetzt«, schlug er vor, »könnten wir mal sehen, was sie unter feinsten Straßenbedingungen leisten kann. Sie hat den ganzen Tag gezogen wie der Blue de Luxe. Wenn mich nicht alles täuscht, ist das ihre Nacht.« Wir bereiteten den Versuch für die Zeit nach dem Abendessen vor – gute dreißig Kilometer; und davon zweiundzwanzig ohne Kreuzung. Neben mir saß an der Table d’hote ein älterer, bärtiger Franzose, der die Rosette nicht eben der niedrigsten Klasse der Ehrenlegion trug und in einem schwatzhaften Citroen angekommen war. Ich erfuhr, daß er einen Großteil seines Lebens im französischen Kolonialdienst in Annam und Tonking verbracht hatte. Als der Krieg kam, hinderten ihn seine Jahre am Frontdienst und er überwachte chinesische
Holzfäller, die mit Axt und Dynamit das zentrale Frankreich um Stützpfosten für die Schützengräben entwaldeten. Er sagte, daß mein Fahrer ihm erzählt habe, ich erwöge einen Versuch. Er sei an Autos interessiert – habe meines bewundert – wäre mir, kurz gesagt, zu großem Dank verpflichtet, wenn ich ihm gestattete, dem als Beobachter beizuwohnen. Ich konnte das schlecht verweigern; und da ich meinen Mr. Leggatt kannte, kam es mir bei, daß da wohl noch eine Wette im Hintergrund sein mochte. Als er seinen Mantel holte, fragte ich den Wirt nach seinem Namen. »Voiron – Monsieur André Voiron«, war die Antwort. »Und was tut er?« – »Mein Gott! Er ist Voiron! Er ist all das da!« Der Wirt wedelte mit den Händen zu den Hochglanzreklamen an den Wänden des Speiseraums, die bekannt machten, daß Voiron mit Weinen, landwirtschaftlichen Geräten, Kunstdünger, Lebensmitteln und Landwirtschaftsprodukten in jener ganzen Weltregion handele. Er sprach während der ersten fünf Minuten unserer Fahrt wenig, und während der nächsten zehn gar nichts – es war, wie Leggatt vermutet hatte, Esmeraldas große Nacht. Als aber der Geschwindigkeitsmesser eine bestimmte Zahl erreichte und dort während dreier berauschender Kilometer verblieb, erklärte er sich befriedigt und schlug mir vor, daß wir das Ereignis im Hotel feiern sollten. »Ich habe da«, sagte er, »einen Wein, zu dem ich gerne Ihre Meinung wüßte.« Nach unserer Rückkehr verschwand er für einige Minuten, und ich hörte ihn im Keller rumoren. Dann lud der Wirt mich in den Speiseraum, wo unter kargem Licht eine Tafel mit berühmten Spezialitäten der Gegend angerichtet war. Da war auch eine Flasche jenseits der meisten bekannten Größen, schwarz auf Rot etikettiert, mit einer Jahreszahl. Monsieur Voiron öffnete sie, und wir tranken auf das Wohl meines Wagens. Das samtene duftende Getränk, zwischen hellbraun
und Topas, weder zu süß noch zu trocken, stand sahnig im geräumigen Glas. Ich kannte aber keinen Wein komponiert aus dem Flüstern von Engelsschwingen, dem Odem Edens und dem erneuten Schäumen und Pulsen der Jugend. So fragte ich denn, was es sei. »Das ist Champagner«, sagte er würdevoll. »Was habe ich denn dann all mein Leben getrunken?« »Wenn Sie Glück hatten, vor dem Krieg, und dreißig Schilling die Flasche zahlten, haben Sie vielleicht einen unserer besseren leichten Schaumweine getrunken.« »Und wo bekommt man diesen?« »Hier, kann ich beglückt sagen. Andernorts ist es vermutlich nicht so einfach. Wir Weinbauer tauschen diese wirklichen Weine nur untereinander.« Ich neigte mein Haupt in Bewunderung, Ergebenheit und Freude. Da stand die allerfülligste Flasche, und es war noch nicht einmal elf Uhr. Türen schlossen sich und Läden schlugen im ganzen Gebäude zu. Irgendein letzter Dienstbote gähnte auf seinem Weg zum Bett. Monsieur Voiron öffnete ein Fenster und das Mondlicht strömte aus dem kleinen Kieselhof herein. Fast konnte man die Stadt Chambres in ihrem ersten Schlaf atmen hören. Dann war da ein dickes Geräusch in der Luft, der Zug von Füßen und Hufen, Rindergebrüll, ein gedämpftes Gebell oder zwei. Staub stieg über die Hofmauer, gefolgt vom strengen Geruch nach Rindern. »Sie treiben einige Tiere«, sagte Monsieur Voiron, der ein Ohr spitzte. »Meine, glaube ich. Ja, ich höre Christophe. Unsere Tiere lieben Autos nicht – deshalb treiben wir bei Nacht. Kennen Sie unser Land – die Crau hier oder die Camargue? Ich war – bin jetzt wieder – von hier. Ganz Frankreich ist schön; aber hier ist es am schönsten.« Er sprach, wie nur ein Franzose das kann, von seiner eigenen geliebten Gegend in seinem eigenen geliebten Land.
»Was mich angeht, so würde ich, wäre ich nicht in all diese Geschäfte so eingespannt« – er wies auf die Reklamen –, »auf meinem Hof mit meinen Rindern leben und sie wie ein Hindu verehren. Kennen Sie unsere Camargue-Rinder, Monsieur? Nein? Keine Bekanntschaft, die man so leichthin machen kann. Tiere ihresgleichen gibt es nicht. Sie haben einen Verstand, der anderen überlegen ist. Sie grasen und käuen wieder nach eigenem Belieben und trotzen dem Mistral, was mehr ist, als manche Autos vermögen. Und sie tragen die Gabe zu denken in sich – und wenn Rinder denken – ich habe gesehen, was dann passiert.« »Sind sie wirklich so klug?« fragte ich müßig. »Monsieur, als Ihr sportiver Chauffeur Ihre Limousine verkleidet hatte, daß sie aussah wie einer unserer Heerestransporter, wollte ich ihre Fähigkeiten nicht glauben. Ich wettete mit ihm – ah – zwei zu eins –, daß sie keine neunzig Kilometer schaffen würde. Es hat sich gezeigt, daß sie es konnte. Ich kann Ihnen keinen Beweis liefern, aber würden Sie mir glauben, wenn ich Ihnen erzählte, was ein Tier, das denkt, erreichen kann?« »Nach dem Krieg«, sagte ich weiträumig, »ist alles glaubhaft.« »Das ist wahr! Alles Unvorstellbare ist geschehen; aber immer noch lernen wir nichts und glauben wir nichts. Als ich ein Kind in meines Vaters Haus war – bevor ich Kolonialverwalter wurde – galt mein Interesse und meine Zuneigung unseren Rindern. Wir vom alten Schlag leben hier – haben Sie das gesehen? – auf großen Höfen wie Burgen. Manche von ihnen mögen wirklich noch sarazenisch sein. Die Scheunen gruppieren sich um sie – große Scheunen mit geweißten Mauern und Stallungen, solide wie unsere Häuser. Ein Tor verschließt alles. Es ist eine Welt für sich; eine Verwaltung von all dem, was Tiere angeht. Dort habe ich
einiges über Rinder gelernt. Sehen Sie, sie sind unser Spielzeug in der Camargue und der Crau. Der Knabe mißt seine Kräfte mit dem Kalb, das ihn im Spiel um die Misthaufen stößt. Er bewegt sich zwischen den Kühen, die – nicht so freundlich sind. Er reitet mit den Hirten hinaus, die Herden zu treiben. Früher oder später trifft er die Kälber, die ihn umschubsten, als Stiere wieder. So war es mit mir, bis es notwendig wurde, daß ich in unsere Kolonien ging.« Er lachte. »Sehr notwendig. Das ist die glückliche Zeit der Jugend, Monsieur, in der wir diese Dinge tun, die unsere Eltern schockieren. Warum ist es immer Papa, der so schockiert ist und der nie von solchen Dingen gehört hat – während Mama sich die Entschuldigungen dafür einfallen läßt?… Und als mein Bruder – der ältere, der blieb und das Geschäft aufbaute – mich bat, zurückzukommen und ihm zu helfen, verzichtete ich gerne auf meine Koloniallaufbahn. Ich kam auf unsere eigenen Ländereien zurück und zu meinen so geliebten boshaften weißen und gelben Rindern der Camargue und der Crau. Bei Gott, ich könnte die ganze Nacht von ihnen reden, denn dieses Zeug öffnet das Herz ohne Kater am Morgen… Ja! Es war nach dem Krieg, als sich dieses ereignete. Da war ein Kalb unter der Himmel weiß wie vielen – ein Stierkalb – ein Kind, von seinen Gefährten nicht zu unterscheiden. Es war krank und es wurde mit seiner Mutter in den großen Viehhof beim Haus gebracht. Natürlich übten die Kinder unserer Hirten sich an ihm von Anfang an. Das steckt ihnen im Blut. Die Spanier machen einen Kult aus dem Stierkampf. Unsere kleinen Teufel hier hetzen die Stiere so automatisch, wie englische Kinder Bälle treten oder werfen. Dieses Kalb jagte sie mit offenen Augen, wie eine Kuh, wenn sie einen Menschen jagt. Sie flüchteten sich hinter unsere Pflüge und Weinkarren inmitten des Hofes: es hetzte sie wie ein Hund Ratten hetzt. Mehr noch, es studierte Aug in Auge mit ihnen ihre Psychologie. Ja, es
beobachtete ihre Gesichter, um zu erraten, in welche Richtung sie rennen würden. Es selbst tat manchmal so, als stürme es direkt auf einen Jungen zu. Dann aber warf es sich nach rechts oder links – das konnte man nie erkennen – und stieß irgendein Kind über den Haufen, das sich an die Mauer preßte und sicher glaubte. Danach stand es über ihm, da es wußte, daß seine Gefährten ihm zu Hilfe kommen mußten; und wenn sie alle zusammen waren, ihre Jacken vor seinen Augen schwenkten und an seinem Schwanz rissen, dann jagte es sie auseinander – und wie es sie auseinanderjagte! Es keilte auch zur Seite hin aus, wie eine Kuh. Es kannte seine Reichweite ebensogut wie unsere Kanoniere, und es war so flink auf den Beinen wie unser Carpentier. Ich habe es oft beobachtet. Christophe – der Mann, der gerade vorbeikam – unser Oberhirte, der mich lehrte, mit unseren Tieren zu reiten, als ich zehn war – Christophe erzählte mir, daß es von einer gelben Kuh jener Tage abstamme, die uns einmal in die Sümpfe gejagt hatte. ›Der keilt aus wie sie‹, sagte Christophe. ›Der kann im Sprung seitlich auskeilen. Hast Du auch gesehen, daß er sich nicht von der Jacke täuschen läßt, wenn einer der Jungen damit wedelt? Er benutzt sie, um den Jungen zu finden. Die denken, sie können ihn leimen. Dabei leimt er sie. Der denkt, der da.‹ Ich war zu der gleichen Schlußfolgerung gekommen. Ja – das Tier war ein Denker nach den Spielregeln seines Sportes; und außerdem war es ein Humorist, wie so viele geborene Mörder. Man hat den Typ unter Tieren ebenso wie unter Menschen. Er besitzt eine eigenartige grausame Heiterkeit – fast schamlos, aber unfehlbar bedeutsam – « Monsieur Voiron füllte unsere Gläser mit dem großartigen Wein nach, der bei jedem Hinabgleiten besser wurde. »Sie hielten ihn für einige Zeit in den Höfen, um sich an ihm zu üben. Natürlich wurde er ein bißchen brutal; also brachte Christophe ihn hinaus, damit er bei Seinesgleichen auf den
Weideflächen, wo Camargue und Crau sich begegnen, Manieren lerne. Wie alt er damals war? Acht oder neun Monate, meine ich. Wir trafen uns ein paar Monate später wieder – er und ich. Ich ritt auf einem unserer kleinen halbwilden Pferde entlang einer Straße in der Crau, als ich mich fast aus dem Sattel geschleudert fand. Das war er! Er hatte sich hinter einer Windschutzhecke verborgen, bis wir vorüber waren, und hatte dann mein Pferd von hinten angegriffen. Ja, er hatte sogar mein kleines Pferd getäuscht! Aber ich erkannte ihn. Ich zog ihm die Peitsche über die Nase, und ich sagte: ›Apis, dafür kommst Du nach Arles! Das war Deiner unwürdig, zwischen uns beiden.‹ Aber der Kerl besaß kein Schamgefühl. Er ging ab und lachte wie ein Apache. Wenn er mich vom Pferd gestürzt hätte, glaube ich nicht, daß ich es gewesen wäre, der lachte – Jährling, der er war.« »Warum wollten Sie ihn nach Arles schicken?« fragte ich. »Zum Stierkampf. Wenn Ihre bezaubernden Touristen uns verlassen haben, veranstalten wir dort unsere kleinen Unterhaltungen. Keinen richtigen Stierkampf, verstehen Sie, sondern junge Stiere mit gepolsterten Hörnern, und unsere Jungens hier aus der Gegend und aus der Stadt spielen mit ihnen. Natürlich erproben wir sie in unseren Pferchen zuhause, ehe wir sie hinschicken. Also holten wir Apis von den Weiden herein. Er wußte sofort, daß er sich bei den Freunden seiner Jugend befand – er schüttelte sozusagen die Hände mit ihnen – und er unterwarf sich geradezu engelhaft der Polsterung seiner Hörner. Er untersuchte die Karren und Pflüge in den Höfen, um sich seine Verteidigungs- und Angriffslinien zurechtzulegen. Und dann – griff er mit einem Elan an, und verteidigte sich mit einer Zähigkeit und einer Umsicht, die uns entzückten. Wir waren in Wahrheit so begeistert, daß wir, fürchte ich, seine Geduld überstrapazierten. Wir wollten, daß er sich wiederhole, was kein wahrer Künstler duldet. Aber er
gab uns eine ehrliche Warnung. Er ging in die Mitte des Hofes, wo es trockene Erde gab; er kniete sich hin und – haben Sie gesehen, wie ein Kalb, dessen Hörner es quälen, sie in eine Böschung stößt und wühlt? Genau das tat er, mit voller Absicht, bis er die Polsterungen von seinen Hörnern abgescheuert hatte. Dann erhob er sich, tanzte auf seinen wundervollen Füßen, die aufblitzten, und sagte: ›Nun, meine Freunde, die Knöpfe sind vom Degen. Wer fängt an?‹ Wir verstanden. Wir beendigten das sofort. Er wurde wieder auf die Weiden gebracht, bis es Zeit wäre, die in unserer kleinen Hauptstadt zu unterhalten. Einige Zeit aber, bevor er nach Arles ging – ja, ich glaube, ich erinnere mich korrekt –, unterrichtete mich Christophe, der in der Crau gewesen war, daß Apis einen jungen Stier ermordet habe, der erkennen hatte lassen, daß er sich zu einem Rivalen entwickele. So was kommt natürlich vor, und unsere Hirten sollten das verhindern. Aber Apis hatte auf seine persönliche Weise getötet – im Dunkeln, aus dem Hinterhalt einer Windschutzhecke – durch einen Angriff von schräg hinten, der den anderen über den Haufen warf. Dann hatte er ihn zerfetzt. Alles durchaus möglich, aber – nach dem Mord ging Apis zur Böschung einer Windschutzhecke, kniete sich hin und reinigte sorgfältig, wie er das in unserem Hof getan hatte, seine Hörner in der Erde. Christophe, der so etwas niemals zuvor gesehen hatte, entlieh sich (wissen Sie, daß es auf diese Weise am wirksamsten ist?) etwas Weihwasser aus unserer kleinen Kapelle auf jenen Weiden, besprengte Apis (den das nicht beeindruckte) und ritt nach Hause, um mir zu berichten. Natürlich achtet ein Denker von der Art dieses Stieres auch sorgsam auf seine Toilette; deshalb warnte ich, als er nach Arles geschickt wurde, unsere Agenten, vorsichtig mit ihm umzugehen. Glücklicherweise lenkten ihn der Wechsel der Szenerie, die Musik, die allgemeine Aufmerksamkeit, und das Wiedersehen mit alten
Freunden – alle unsere bösen Buben waren da – angenehm ab. Während dieser Zeit war er wieder der reine Farcenmacher; aber seine Wendungen, seine Ausfälle, sein Rattenjagen waren großartiger denn je. In ihnen steckte nun, verstehen Sie, eine Weite der Technik, die wohldurchdachter Kunst entspringt, und vor allem eine Leidenschaft, die aus der Erfahrung kommt. Oh, er hatte gelernt, draußen in der Crau! Zum Abschluß seines kleinen Auftritts sollte er entsprechend den örtlichen Regeln in allem mit Ausnahme des Degens, der ein Stock war, wie ein wirklicher Stier behandelt werden, der sterben muß. Man manövrierte ihn, oder er brachte sich selbst in die richtige Position; machte seinen Ausfall; erhielt seinen Stoß auf die Schulter, und dann – drehte er sich um und trabte zu dem Tor, durch das er die Arena betreten hatte. Er sagte der Welt: ›Meine Freunde, die Vorstellung ist zu Ende. Ich danke Euch für Euren Beifall. Jetzt gehe ich und ruhe mich aus.‹ Aber unsere Arlesier, die – nicht so klug sind wie andere, forderten ein Dacapo, und Apis wurde wieder zurückgejagt. Wir, seine Landsleute, wir wußten, was geschehen würde. Er ging in die Mitte des Ringes, kniete sich hin und stieß langsam und in voller Pracht seine Hörner abwechselnd in den Dreck, bis die Polster sich lösten. Christophe schrie: ›Laßt ihn in Frieden, Ihr stumpfnasigen Dummköpfe! Macht Euch fort, ehe Ihr müßt.‹ Aber sie wollten Aufregung; denn Rom hat seine geliebte Provinz immer mit Brot und Spielen verdorben. Sie wurden gegeben. Haben Sie, Monsieur, jemals einen Diener beobachtet, wie er mit Kehrblech und Besen entlang der Fußleiste eines Zimmers fegt? Binnen einer halben Minute hatte Apis sie alle hinaus und über die Schranken gefegt. Dann forderte er erneut, daß ihm das Tor geöffnet werde. Es wird geöffnet und er zieht sich zurück, als sei er – was er wirklich auch war – mit Lorbeer beladen.«
Monsieur Voiron füllte wieder die Gläser und erlaubte sich eine Zigarette, an der er einige Weile paffte. »Und danach?« fragte ich. »Ich sortiere es im Geiste. Es ist schwierig, dem Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Danach – ja, danach – kehrte Apis zu seinen Weiden und seinen Weibsen zurück, und ich zu meiner Arbeit. Ich bin nicht länger der wilde Sportfex, der in Hemdsärmeln dem gelben Sohn einer Kuh Ermunterung zubrüllt. Ich kehre zu Voiron Frères zurück – Weine, Kunstdünger, et cetera. Und im nächsten Jahr setzte sich vermöge irgendwelcher Kniffe, die aufzudröseln ich nicht die Muße habe, und auch dank unseres patriarchalischen Systems, unsere älteren Männer aus dem Zuwachs der Herden zu bezahlen, Christophe in den Besitz von Apis. O ja, er hatte seine Herkunft von einer bestimmten Kuh nachgewiesen, die mein Vater seinem Vater vor der Republik gegeben hatte. Hüten Sie sich, Monsieur, vor dem Gedächtnis des Leseunkundigen! Ein Ahne Christophes war Soldat unter unserem Soult gegen Euren Beresford, bei Bayonne. Er fiel spanischen Guerrilleros in die Hände. Christophe und seine Frau pflegten mir die Einzelheiten an bestimmten Heiligentagen zu erzählen, als ich ein Kind war. Nun, wenn man unseren jüngsten Krieg mit Soults Feldzug und Rückzug über die Bidassoa vergleicht – « »Aber haben Sie denn Christophe einfach erlaubt, sich den Stier anzueignen?« »Sie kennen Christophe nicht. Er hatte ihn an die Spanier verkauft, ehe er mich unterrichtete. Die Spanier zahlten in Münzen – Duros aus reinem Silber. Unsere Bauern mißtrauen unserem Papiergeld. Sie kennen die Redensart: ›Tausend Francs Papier; achthundert in Münze, und die Kuh gehört Ihnen.‹ Ja, Christophe verkaufte Apis, der damals zweieinhalb
Jahre alt war und nach Christophes Wissen wenigstens dreifacher Mörder.« »Was war das?« sagte ich. »Oh, nur von seiner Art; und immer, erzählte mir Christophe, durch den gleichen schrägen Angriff von hinten, den gleichen seitlichen Überwurf und das gleiche schnelle Zerfetzen, gefolgt von dieser levitischen Reinigung der Hörner. Im menschlichen Leben hätte er sich einen Manikürer gehalten – dieser Minotaurus. Und so verschwindet Apis aus unserem Land. Das stört mich nicht. Ich weiß, daß ich zu gegebener Zeit erfahren werde. Warum? Weil sich in diesem Land, Monsieur, ohne Wissen solcher Spezialisten wie Christophe kein Huf zwischen Berre und den Saintes Maries bewegt. Die Tiere sind Inhalt und Drama ihres Lebens. Als also Christophe mir kurz vor Ostersonntag erzählt, daß Apis seinen ersten Auftritt in der Stierkampfarena einer kleinen katalanischen Stadt an der Straße nach Barcelona haben werde, geschieht das nur, damit ich meinen Wagen nehme und mit ihm über die Grenze rolle. Dem Ort ermangelte es an Bedeutung und Handel, aber er hatte einen Matador von einigem Ruf hervorgebracht, der sich herabließ, seine Kunst in seiner Geburtsstadt zu zeigen. Sie setzten sogar einen Sonderzug zu dem Ort ein. Nun ist unser französisches Eisenbahnsystem lediglich miserabel, aber das spanische – « »Sie fuhren über die Straße hin?« fragte ich. »Natürlich. Es war nicht zu erfreulich. Villamarti hieß der Matador. Er wollte zu Ehren seines Geburtsortes zwei Stiere töten. Apis sollte, wie Christophe mir erzählte, der zweite sein. Es war eine interessante Fahrt und die kleine Stadt am Meer war zauberhaft. Ihre Stierkampfarena stammt aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Sie ist voller Atmosphäre. Die Eröffnungszeremonie auch – wenn die Reiter hereinkommen und den Bürgermeister ersuchen, ihnen die Schlüssel des
Bullenzwingers herabzuwerfen – das war brillant ausgedacht. Wissen Sie, wenn der Reiter die Schlüssel in seinem Hut auffängt, sieht man das als ein gutes Vorzeichen an. Sie wurden vollendet aufgefangen. Unsere Sitze waren in der ersten Reihe neben den Toren, durch die die Stiere hereinkommen, so daß wir alles sahen. Villamartis erster Stier wurde nicht so übel getötet. Der zweite Matador, dessen Name mir entfallen ist, tötete seinen ohne Bravour – eine Folie für Villamarti. Und der dritte, Chisto, ein fleißiger mittelalter Profi, der niemals über eine gewisse stumpfe Fertigkeit hinausgewachsen war, blieb ebenfalls im Hintergrund. Oh, die sind so eifersüchtig wie die Mädchen der Comédie Française, diese Matadores! Villamartis Truppe stand bereit für seinen zweiten Stier. Die Tore öffneten sich, und wir sahen Apis, wie er sich herrlich auf seinen Füßen wiegte und kokett um die Ecke lugte, als sei er zu Hause. Ein Picador – ein Berittener mit der langen Stichlanze – stand nahe der Schranke zu seiner Rechten. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, sein Pferd zu wenden, denn die Capeadores – die Männer mit den Mänteln – gingen vor, um Apis zu spielen – seine Psychologie und seine Absichten zu erforschen nach den Regeln, die für Stiere gemacht sind, die nicht denken… Ich begriff den Mord erst, als er geschehen war! Die Wende, der Ausfall, der schräge Angriff von hinten, der Sturz von Roß und Mann geschahen gleichzeitig. Apis übersprang das Pferd, mit dem er keinen Streit hatte, und landete mit allen Vieren zusammen (das reichte) zwischen den Schultern des Mannes, tänzelte mit seinen herrlichen Füßen auf der Leiche und war fort, indem er so tat, als stürze er fast auf seine Nase. Verstehen Sie mich? In jenem Augenblick, durch dieses Stolpern erweckte er den Eindruck, als sei sein bewunderungswürdiger Mord nur eine tierische Tölpelei. Da, Monsieur, begann ich zu begreifen, daß wir es mit einem
Künstler zu tun hatten. Er stand nicht über dem Körper, um den Rest der Truppe heranzulocken. Den Trick hob er sich auf. Er ließ die Wärter den Toten heraustragen und amüsierte sich zwischen den Capeadores. Nun war für Apis, der zwischen den Kindern in unseren Pferchen gelernt hatte, der Mantel lediglich ein Wegweiser zu dem Knaben dahinter. Er verfolgte, verstehen Sie, die Person und nicht die Propaganda – den Besitzer und nicht die Zeitung. Wenn auch nur ein Drittel der Wähler in Frankreich so weise wären, mein Freund!… Aber es geschah spielerisch, mit Humor und einer Spur Grausamkeit. Er schnappte nach dem Mantel eines Mannes wie ein tapsiger Hund, aber ich sah, daß er den Mann auf seiner furchtbaren linken Seite hielt. Christophe flüsterte mir zu: ›Warten Sie auf das Auskeilen seiner Mutter. Wenn er den Burschen sicher gemacht hat, kommt das.‹ Es kam mitten aus einem Luftsprung. Mein Gott! Er schlug in der Luft aus, während er sprang. Der Mann stürzte wie ein Sack, hob eine Hand in Richtung seines Kopfes und – das war alles. Und so war, sehen Sie, erneut ein Körper zu seiner Verfügung; ein zweites Mal rannten die Mäntel auf ihn zu, um ihn abzulenken, und ein zweites Mal verweigerte Apis seine große Szene. Ein zweites Mal tat er so, als sei dieser Mord ein Unfall und – er überzeugte seine Zuschauer! Es war, als hätte er in den Sümpfen ein Brückengatter aus Versehen umgerannt. Unglaublich? Ich habe es gesehen.« Die Erinnerung sandte Monsieur Voiron erneut zum Champagner, und ich begleitete ihn. »Aber Apis war nicht der einzige anwesende Künstler. Man sagt, Villamarti stamme aus einer Familie von Schauspielern. Ich sah ihn Apis mit einem ganz neuen Auge betrachten. Auch er begann zu begreifen. Er nahm seinen Mantel und ging vor, um ihn zu spielen, ehe sie einen anderen Picador anbrächten. Er hatte seinen Ruf. Vielleicht kannte Apis den. Vielleicht
erinnerte Villamarti ihn an einen Jungen, mit dem er zu Hause geübt hatte. Jedenfalls ließ Apis es zu – bis zu einem gewissen Grade; aber er gab Villamarti die Bühne nicht frei. Er hielt ihn beständig in der Klemme. Er tauchte und duckte sich unbeholfen und langsam, aber immer bedrohlich und immer näher rückend. Wir konnten sehen, daß der Mann sich dem Stier anpaßte – nicht der Stier dem Mann; denn Apis manövrierte ihn ins Zentrum des Ringes und nach kurzer Zeit – ich beobachtete sein Gesicht – wußte Villamarti das. Aber ich konnte nicht sehen, worauf das Biest hinauswollte. ›Abwarten‹, sagte der alte Christophe. ›Er will den Picador auf dem weißen Pferd da drüben. Sobald er in die richtige Reichweite kommt, kriegt er ihn. Villamarti ist seine Deckung. Mich hat er auch mal so gebraucht.‹ Und so geschah es, mein Freund! Mit dem Dröhnen einer unserer Fünfundsiebziger entledigte Apis sich Villamartis mit der Brust – rammte ihn über den Haufen – und hatte sein Ziel nahe der Schranke erreicht. Der gleiche schräge Angriff; der Kopf tief für den Hieb mit den Hörnern; der mächtige Sturz des Pferdes auf die Seite, mit gebrochenen Beinen und halb gelähmt; der bewußtlose Mann auf der Erde, und – stellen Sie sich Apis zwischen ihnen vor, den Rücken zur Schranke – die Rechte durch das Pferd gedeckt; die Linke durch den Körper des Mannes zu seinen Füßen. Diese Einfachheit! Da die Karren und Pflüge seiner frühen Kampfplätze fehlten, hatte er, ein Genie, mit den zur Verfügung stehenden Materialien improvisiert und sich eingegraben. Die Truppe schloß wieder auf, ihr linker Flügel zerbrochen durch das ausschlagende Pferd, ihr rechter durch den Körper des Mannes, über dem Apis bedeutungsvoll stand, gelähmt. Villamarti selbst warf sich fast zwischen die Hörner, aber – das war mehr ein Appell als ein Angriff. Apis lehnte ihn ab. Er hielt seine Stellung. Ein Picador wurde gegen ihn gesandt – notwendigerweise von der
Front, die alleine offen war. Apis griff an – er, der bis dahin, denken Sie daran, sein Horn nicht eingesetzt hatte! Das Pferd stürzte hintenüber, der Mann halb unter es. Apis hielt an, hakte unter sein Herz, und schleuderte ihn gegen die Schranke. Wir hörten seinen Kopf krachen, aber er war tot, ehe er gegen das Holz schlug. Die Zuschauer waren wie erstarrt. Auch sie hatten diesen Foch unter den Stieren zu begreifen begonnen! Die Arena beschäftigte sich erneut mit dem Toten. Zwei von der Truppe versuchten unentschlossen, ihn zu spielen – Gott weiß in welcher Hoffnung? –, aber er bewegte sich aus dem Zentrum des Ringes. ›Sehn Sie!‹ sagte Christophe. ›Jetzt reinigt er sich. Das macht mir immer Angst.‹ Er kniete nieder; er begann, seine Hörner zu säubern. Die Erde war hart. Er mühte sich an ihr ab in einer Ekstase der Versunkenheit. Wenn er den Kopf anlegte und mit den Ohren zuckte war es, als ob er die Teufel selbst um ihre Geheimnisse befragte und ständig ungeduldig sagte: ›Ja, das weiß ich – und das – und das! Erzählt mir mehr – mehr!‹ In die Stille, die uns bedeckte, schrie eine Frau: ›Er gräbt ein Grab. O ihr Heiligen, er gräbt ein Grab!‹ Einige andere wiederholten das wie ein Echo – nicht laut – wie das Echo einer Woge in einer Meeresgrotte. Und als seine Hörner sauber waren, stand er auf und studierte die Truppe des armen Villamarti, Auge in Auge, einen nach dem anderen, mit dem Gewicht eines Gleichen an Geist und der fernen und erbarmungslosen Entschlossenheit eines Meisters in seiner Kunst. Das war noch fürchterlicher als die Reinigung zuvor.« »Und sie – Villamartis Männer?« fragte ich. »Er beherrschte sie wie die Zuschauer. Sie hatten aufgehört zu posieren oder zu stampfen, oder ihn zu beleidigen. Sie richteten sich nach ihm. Die beiden anderen Matadore starrten. Nur Chisto, der älteste, brach das Schweigen mit irgendeinem Ruf, und Apis wandte ihm seinen Kopf zu. Ansonsten stand er
für sich, unbeweglich – dräuend – brütend über die seiner Gnade Ausgelieferten. Ah! Aus irgendeinem Grunde rief die Trompete nach den Bandil – jenen bunten widerhakigen Pfeilen, die in die Schultern von Stieren, die nicht denken, gestochen werden, nachdem ihre Nackenmuskeln vom Anheben der Pferde ermattet sind. Wenn solche Stiere den Schmerz verspüren, halten sie für einen Augenblick inne, und in diesem Augenblick springen die Männer gewandt beiseite. Villamartis Bandillero reagierte automatisch auf die Trompete – wie ein Verurteilter. Er trat vor, präsentierte die Pfeile und stammelte die übliche Herausforderung… Und dann? Ich will nicht behaupten, daß Apis mit den Schultern zuckte, aber er führte das Zwischenspiel auf seine einfachsten Elemente zurück, wie das nur ein Stier aus Gallien kann. In seine Grausamkeit war immer – wohl durch die Kürze seines Schwanzes – eine gewisse rabelaissche Ungezwungenheit gemischt, besonders wenn man von achtern zuschaute. Christophe hatte das oft kommentiert. Nun brachte Apis diese Eigenschaft ins Spiel. Er umrundete den Jungen und zwang ihn so, seine schönen Stellungen aufzugeben. Er studierte ihn aus den verschiedensten Winkeln, wie ein unfähiger Photograph. Er bot ihm jeden Teil seiner Anatomie dar mit Ausnahme der Schultern. Manchmal tat er so, als wolle er auf ihn losstürzen. Mein Gott, er war grausam! Aber seine Absicht war offenkundig. Er legte es auf ein Lachen der Zuschauer an, das zusammenfallen sollte mit dem Zusammenbruch der menschlichen Moral. Es gelang. Der Junge drehte sich um und rannte auf die Schranken zu. Apis war bei ihm, ehe das Gelächter endete; überholte ihn; jagte ihn – was sage ich? – geleitete ihn nach links hinüber, die Hörner neben und ein wenig vor seiner Brust: er hatte nicht die Absicht, ihn in Sicherheit entkommen zu lassen. Einige von der Truppe
wollten aufschließen, aber Villamarti rief: ›Wenn er ihn haben will, nimmt er ihn sich. Bleibt stehen!‹ Sie blieben stehen. Ob der Junge stolperte oder Apis ihn mit der Nase umstupste, konnte ich nicht sehen. Aber er fiel, schluchzend. Apis stoppte wie ein Auto mit vier Bremsen, nahm eine Pose ein, beschnüffelte ihn von oben bis unten, und wandte sich ab. Das war eine schmachvollere Verabschiedung als eine Degradierung vor der Front des Bataillons. Die Vorstellung war beendet. Blieb Apis nur noch, seine Bühne von den untergeordneten Chargen zu säubern. Ah! Seine Gesten! Er gab einen dramatischen Auftritt – dieser Cyrano der Camargue –, als ob er sie zum ersten Male wahrnehme. Er bewegte sich. All ihre herrlichen Hosen funkelten für einen Augenblick oben auf den Schranken. Er war allein auf der Bühne! Aber Christophe und ich, wir zitterten! Denn, beachten Sie, er hatte sich nun in ein erstaunliches Drama verwickelt, dessen dritten Akt nur er allein liefern konnte. Und abgesehen von einem bis zum Zerreißen angespannten Publikum hatte er sein Material ausgeschöpft. Moliere selbst – wir haben vergessen, mein Freund, auf die Gesundheit dieser großen Seele zu trinken – hätte hier verzweifeln können. Und die Tragödie folgt nur einen Schritt nach dem Scheitern. Wir konnten die vier oder fünf Mann der Guardia Civil sehen, die immer abgestellt werden, um die Ordnung zu wahren, wie sie an den Verschlüssen ihrer Gewehre fingerten. Sie warteten nur auf ein Wort des Bürgermeisters, auf ihn zu schießen, wie sie das manchmal bei einem Stier tun, der über die Schranken in die Zuschauer springt. Sie würden natürlich einige Menschen getötet oder verwundet haben – aber das hätte Apis nicht gerettet.« Monsieur Voiron ertränkte den Gedanken sofort, und strich sich den Bart.
»In diesem Augenblick entsandte das Schicksal – der Genius Frankreichs, wenn Sie so wollen – Chisto, um beim unvergleichlichen Finale mitzuhelfen; niemanden anders als Chisto, den ältesten, und ich hätte gesagt (doch niemals mehr werde ich urteilen!) den unbeseeltesten von allen; die Mittelmäßigkeit selbst, aber im Herzen – und es ist immer das Herz, das siegt, mein Freund –, im Herzen ein Künstler. Er stieg steif in die Arena hinab, allein und selbstsicher. Apis betrachtete ihn Auge in Auge. Der Mann nahm mit seinem Mantel Haltung an und redete zu dem Stier wie zu Seinesgleichen: ›Nun, Señor, wollen wir diesen ehrenwerten Caballeros gemeinsam etwas zeigen.‹ Und so trat er diesem Denker entgegen, der ihn mit einem Sprung – einem Tritt – einem Stoß, wir alle wußten es, hätte auslöschen können. ›Mein lieber Freund, ich wollte, ich könnte Ihnen etwas vermitteln von der ungekünstelten Gutmütigkeit, dem Humor, dem Feingefühl, der an Respekt grenzenden Rücksichtnahme selbst, mit der Apis, dieser vollendete Künstler, die Einladung annahm. Es war der Meister, erschöpft von einer anstrengenden Stunde im Atelier, jetzt aufgeknöpft und entspannt mit einem nicht unerfahrenen, aber beschränkten Schüler. Der geistige Kontakt war zwischen ihnen sofort da. Und aus gutem Grunde! Christophe sagte zu mir: Jetzt geht alles gut. Chisto da hat zwischen den Stieren angefangen. Ich war dessen sicher, als ich ihn eben reden hörte. Er war ein Hirte. Er wird’s schaffen.‹ Da war zuerst ein bißchen Abtasten und Zurechtrücken der beiderseitigen Entfernungen und Zugeständnisse. O ja! Und dann beging Villamarti eine grobe Unverschämtheit. Er war nach einer Pause Chisto gefolgt – um seinen Ruf zurückzugewinnen. Mein Gott! Ich kann mir den älteren Dumas vorstellen, wie er einem Eindringling die Türe vor der Nase zudonnert, wie Apis das tat. Er jagte Villamarti
sofort in den nächsten Zuschlupf. Er stampfte davor mit den Füßen und schnaubte: ›Pack Dich! Ich bin mit einem Künstler beschäftigt.‹ Villamarti ging – seinen Ruf ließ er für immer hinter sich liegen. Apis kehrte zu Chisto zurück und sagte: ›Vergebt die Unterbrechung. Ich bin nicht immer Herr meiner Zeit, aber Ihr waret dabei zu bemerken, mein lieber Bruder in der Kunst…?‹ Dann begann das Spiel. Als Kompliment für Chisto wählte sich Apis (jeder Stier ist in dieser Hinsicht anders) die Innenkante des Mantels zum Ziel – jene dem Körper des Mannes nächste. Das läßt beim Angriff nur wenige Millimeter Spiel frei. Aber Apis vertraute sich, wie Chisto ihm vertraute, und diesmal paßte er sich dem Manne an, mit unnachahmlichem Urteil und Maß. Er erlaubte sich, in den Schatten oder in die Sonne gespielt zu werden, wie die entzückten Zuschauer verlangten. Er tobte ungeheuer; er täuschte Niederlage vor; er verzweifelte in statuenhafter Aufgabe, und explodierte daraus in neue Zornesorgien – aber immer mit dem Abstand des wahren Künstlers, der weiß, daß er nur das Gefäß einer Emotion ist, aus dem andere, nicht er, zu trinken haben. Und nicht für einen Augenblick vergaß er, daß des wackren Chisto Mantel ihm das Maß war, damit er ihm kein Härchen krümme. Und er inspirierte Chisto. Mein Gott! Die Jugend kehrte diesem verdienten Ochsenschlächter zurück – die Lust, die Anmut und die Schönheit seiner frühen Träume. Fast konnte man das Mädchen der Vergangenheit sehen, für das er aufstieg, emporstieg zur jetzigen Höhe von Gewandtheit und Wagemut. Es war auch seine Stunde – eine wundersame Stunde des Morgenrots kehrte zurück, um den Sonnenuntergang zu vergolden. All sein Wissen stand Apis zur Verfügung. Apis erkannte das an mit allem, was er zu Hause, in Arles, bei seinen einsamen Morden auf unseren Weideflächen gelernt hatte. Er floß um Chisto herum wie ein
Fluß des Todes – um seine Knie, sprang nach seinen Schultern, keilte haarscharf an der einen oder der anderen Seite seines Kopfes vorbei aus; zischte hinter seinem Rücken hart vorbei; und ein oder zweimal bäumte er sich – unnachahmlich! – vor ihm auf, während Chisto unter der Lawine dieses wohlgeschulten Körpers zurückglitt. Diese beiden, mein Freund, hielten fünftausend Menschen in ihrem Bann, lautlos bis auf ihr Atmen – das regelmäßig wie Pumpen ging. Es war unerträglich. Tier und Mensch erkannten zusammen, daß wir eines Wechsels in der Tonart bedurften – eine Entspannung. Sie entspannten sich in reine Clownerie. Chisto fiel hintenüber und beschimpfte ihn unmäßig. Apis tat, als habe er solche Sprache nie vernommen. Die Zuschauer heulten vor Vergnügen. Chisto klatschte ihn; nahm sich Freiheiten mit seinem kurzen Schwanz heraus, an dessen Ende er sich festklammerte, während Apis Pirouetten drehte; er umspielte ihn in allen möglichen Stellungen; er war wieder der Hirte geworden – grob, unbekümmert, brutal, aber verständnisvoll. Und doch blieb Apis stets der vollendetere Clown. Während der ganzen Zeit (Christophe und ich sahen es) drängte Apis auf die Gatter des toril zu, durch die so viele Stiere hereinkommen, aber – haben Sie je von einem gehört, der zurückkam? Wir wußten, daß Apis wußte, daß so, wie er Chisto gerettet hatte, Chisto ihn retten würde. Das Leben ist uns allen süß; dem Künstler, der viele Leben in einem lebt, am süßesten. Chisto enttäuschte ihn nicht. Als schließlich niemand mehr lachen konnte, warf der Mann seinen Mantel über den Rücken des Stieres, den Arm um seinen Nacken. Er streckte eine Hand gegen das Tor aus, wie Villamarti sie, jung und anmaßend aber kein Hirte, hätte ausstrecken können und schrie: ›Ihr Herren, öffnet mir und meinem ehrbaren kleinen Esel.‹ Sie öffneten – ich hatte die Spanier bis dahin falsch beurteilt! –, jene Tore öffneten sich – für den Mann und den Stier zusammen, und
schlossen sich hinter ihnen. Und dann? Vom Bürgermeister bis zur Guardia Civil wurden für fünf Minuten alle verrückt, bis die Trompeten bliesen und der fünfte Stier herauskam – ein schwarzer Andalusier ohne Denken. Ich nehme an, daß ihn irgendwer tötete. Mein Freund, mein sehr lieber Freund, dem ich mein Herz geöffnet habe, ich gestehe, daß ich nicht hinsah. Christophe und ich, wir weinten zusammen wie Kinder der gleichen Mutter. Wollen wir auf die trinken?«
Alnaschar and the Oxen There’s a pasture in a valley where the hanging woods divide, And a Herd lies down and ruminates in peace; Where the pheasant rules the nooning, and the owl the twilight tide, And the war-cries of our world die out and cease. Here I cast aside the burden that each weary week-day brings And, delivered from the shadows I pursue, On peaceful, postless Sabbaths I consider Weighty Things – Such as Sussex Cattle feeding in the dew! At the gate beside the river where the trouty shallows brawl, I know the pride that Lobengula felt, When he bade the bars be lowered of the Royal Cattle Kraal, And fifteen mile of oxen took the veldt. From the walls of Bulawayo in unbroken file they came To where the Mount of Council cuts the blue… I have only six and twenty, but the principle’s the same With my Sussex Cattle feeding in the dew! To a luscious sound of tearing, where the clovered herbage rips, Level-backed and level-bellied watch’em move – See those shoulders, guess that heart-girth, praise those loins, admire those hips, And the tail set low for flesh to make above! Count the broad unblemished muzzles, test the kindly mellow skin And, where your heifer lifts her head at call, Mark the bosom’s just abundance ‘neath the gay and clean-cut chin, And those eyes of Juno, overloocking all! Here is colour, form and substance! I will put it to the proof And, next season, in my lodges shall be born Some very Bull of Mithras, flawless from his agate hoof To his even-branching, ivory, dusk-tipped horn. He shall mate with block-square virgins – kings shall seek his like in vain, While I multiply his stock a thousandfold, Till a hungry world extol me, builder of a lofty strain That turns one standard ton at two years old!
There’s a valley, under oakwood, where a man may dream his dream, In the milky breath of cattle laid at ease, Till the moon o’ertops the alders, and her image chills the stream, And the river mist runs silver round their knees! Now the footpaths fade and vanish; now the ferny clumps deceive; Now the hedgerow-folk possess their fields anew; Now the Herd is lost in darkness, and I bless them as I leave, My Sussex Cattle feeding in the dew!
(Alnaschar und die Rinder Da ist eine Weide im Tal, wo die überhängenden Bäume sich teilen, Und eine Herde lagert da und käut in Frieden wieder; Wo der Fasan die Mittagsstunden beherrscht, und die Eule die Gezeiten der Dämmerung, Und die Kriegsschreie unserer Welt ersterben und weichen. Hier werfe ich die Bürden ab, die jeder ermüdende Wochentag bringt Und, befreit von den Schatten denen ich folge, Erwäge ich an friedvollen postlosen Samstagen Wichtige Dinge – Wie etwa Sussex-Rinder, die im Tau grasen! An dem Tor neben dem Fluß, wo der Forellenbach laut plätschert, Kenne ich den Stolz, den Lobengula fühlte, Als er befahl, die Torstangen des Königlichen Rinderkraals herabzunehmen, Und fünfzehn Meilen Rinder aufs Veldt hinaus zogen. Von den Mauern Bulawayos kamen sie in ungebrochener Reihe Bis dahin, wo der Berg des Rates in die Bläue schneidet… Ich habe nur sechsundzwanzig, aber der Grundsatz ist der Gleiche Bei meinen Sussex-Rindern, die im Tau grasen! Zu dem köstlichen Ton des Rupfens, wo das kleereiche Gras reißt, Sieh sie sich geraden Rückens, geraden Bauches bewegen – Sieh die Schultern, schätze das Rippenstück, lobe das Lendenstück, bewundere die Hüften Und den tief gesetzten Schwanz, daß darüber Fleisch ansetze! Zähle die breiten makellosen Mäuler, prüfe das freundlich sanfte Fell
Und, wo jene Färsen ihre Köpfe auf Zuruf heben, Beachte der Brüste reichen Überfluß unter dem fröhlichen und sauber geschnittenen Kinn, Und die Augen einer Juno, die alles überblicken! Hier ist Farbe, Form und Substanz! Ich will das auf die Probe stellen Und, in der nächsten Saison, soll in meinem Stall geworfen werden Ein wahrer Stier des Mithras, fehllos vom achatnen Huf Bis zum gleichmäßig ausladenden elfenbeinernen dunkelspitzigen Horn. Er soll massig-starke Jungfrauen decken – Könige sollen seinesgleichen vergeblich suchen, Während ich seinen Stamm vertausendfache, Bis eine hungrige Welt mich preist, den Züchter einer stolzen Rasse, Deren Zweijährige eine ganze Tonne bringen! Da ist ein Tal, unter Eichenstämmen, wo ein Mann seinen Traum träumen kann, Im milchigen Atem von ruhig lagernden Rindern, Bis der Mond über den Erlen steht und sein Abbild den Strom kühlt Und der Flußnebel silbern um ihre Knie fließt! Nun verblassen die Flußpfade und schwinden; nun täuschen Farngebüsche; Nun besitzt das Baumheckenvolk seine Felder erneut; Nun ist die Herde in der Dunkelheit verschwunden, und ich segne sie, als ich gehe, Meine Sussex-Rinder, die im Tau grasen!)
Anhang
Zu dieser Auswahl Diese Auswahl wurde von M. M. Kaye nach sehr persönlichen Gründen zusammengestellt, über die sie in ihrem Vorwort ausführlich Rechenschaft ablegt. Um die Chronologie, in der die hier versammelten Erzählungen entstanden sind, und die thematische Zusammenstellung, in die sie Kipling in der von ihm selbst veranstalteten endgültigen Ausgabe seiner Werke gebracht hat, sichtbar zu machen, sei zunächst die folgende Übersicht vorangestellt:
Titel der Erzählung
Ohne Kirchenrecht Imrays Rückkehr Moti Guj, Meuterer Mündliche Botschaft Toomai von den Elefanten Roter Hund Das Wunder des Purun Bhagat Im Rukh Die verlorene Legion Die Brückenbauer »Sie« Der Stier, der dachte
Jahr der Erstveröffentlichung
Titel der Sammlung
1890 1891 1891 1887 1893 1895 1894
Life’s Handicap Life’s Handicap Life’s Handicap Plain Tales from the Hills »Dschungelbuch« »Das zweite Dschungelbuch« »Das zweite Dschungelbuch«
1893 1893 1898 1904 1924
»Vielerlei Schliche« »Vielerlei Schliche« The Day’s Work Traffics and Discoveries Debits and Credits
Kiplings Leben Joseph Rudyard Kipling wurde am 30.12. 1865 in Bombay geboren. Sein Vater war John Lockwood Kipling (die Namen Joseph und John wechseln in der Familie immer wieder ab, werden aber nicht gebraucht; Kiplings Rufname »Rudyard« stammt von einem kleinen See in Staffordshire, an dem die Eltern Verlobung feierten), seine Mutter Alice Macdonald. Der Vater hatte Kunst und Bildhauerei studiert, am Bau des Victoria-and-Albert-Museum mitgearbeitet und 1862 die Stelle eines Designers in einer Porzellanmanufaktur in Burslem übernommen (wo er die Familie Macdonald kennenlernte). 1865 wurde er kurz vor der Hochzeit zum Leiter der Mayo School of Arts in Bombay berufen, die das vom Aussterben bedrohte indische Kunsthandwerk retten sollte. Mutter Alice galt als witzigste und geistreichste Frau Indiens; Vater Lockwood wurde einer der besten Kenner des Landes, dem der Sohn in der Gestalt des Kurators in »Kim« ein liebevolles Porträt widmete. Der ältere Bruder von Alice brachte die später berühmten Künstler und Literaten Edward Burne-Jones (der Georgiana Macdonald heiratete), William Morris, Swinburne und die Rosettis in die Familie; Schwester Louisa heiratete den Industriellen Alfred Baldwin und wurde Mutter des späteren Premierministers Stanley Baldwin; Schwester Agnes heiratete den Maler und späteren Präsidenten der Royal Academy Edward Poynter. Rudyard und seine Schwester Alice (genannt »Trix«) wurden nach dem Brauch der Angloinder nach England in die Schule geschickt und einer Pflegefamilie anvertraut, mit der Trix gut zurechtkam, während Rudyard entsetzlich litt, aber stoisch schwieg. Lichte Momente waren lediglich die Ferien im Haus der Burne-Jones’, oft in Gesellschaft von William Morris, der ihm seine Privatversionen nordischer Sagas erzählte, während
er mit Edward Burne-Jones malen und modellieren durfte. Erst ein zufälliger Bericht von Trix über die Leiden des Bruders brachte Änderung. Ab 1878 besuchte Rudyard das United Services College in Westward Ho!, Devon. 1881 ließ Kiplings Mutter ohne sein Wissen in Lahore seine Schoolboy Lyrics privat drucken, 1881/82 gab Rudyard das United Services College Chronicle heraus, dem er später aus Indien Balladen und Erzählungen kostenlos zum Druck überließ. 1882 kehrte er nach Indien zurück und wurde mit knapp siebzehn Jahren Journalist bei der Tageszeitung Civil & Military Gazette in Lahore: die Redaktion bestand aus ihm und dem Chefredakteur Stephen Wheeler. 1884 erschien in der CMG seine erste Kurzgeschichte, 1886 folgten dort seine ersten Balladen und Gedichte. 1888erschien dann die erste Sammlung seiner Erzählungen und Szenen aus dem indischen Leben in sechs Bänden der Indian Railways Library. 1889kehrte er nach England zurück, lernte den USLiteraturagenten Wolcott Balestier und dessen Schwester Caroline kennen, die er 1892 heiratete und mit der er in die USA zog. Verschiedene Reisen nach Südafrika brachten das Material für seine Südafrikageschichten, die ihn als scharfen Gegner der britischen Kolonialpolitik erwiesen, aber so mißverstanden wurden, als setzte er sich für den britischen Imperialismus ein. Nach dem Tod der Tochter Josephine (1899) kehrten die Kiplings nach England zurück. Trotz aller Kontroversen um ihn galt er als der berühmteste angelsächsische Autor seiner Zeit; man schätzt, daß bis zu seinem Tode 1936 insgesamt mindestens fünfzehn Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft wurden. 1899 lehnte er den ersten der vielen ihm angetragenen Adelstitel (wie später auch die anderen) ab, nahm aber das Ehrendoktorat der kanadischen McGill-
Universität ebenso an wie 1907 die Ehrendoktorate der Universitäten Durham und Oxford. Ebenfalls 1907 erhielt er als erster englischsprachiger Autor den Nobelpreis für Literatur; 1908 den Ehrendoktor von Cambridge. Ab 1912 engagierte Kipling sich immer intensiver in der Politik und warnte vor der Politik der liberalen Regierung sowie vor einem Krieg mit Deutschland. 1915 fiel sein Sohn John als Leutnant der Irish Guards in Flandern; 1917 begann Kipling mit der Arbeit an seinem einzigen Sachbuch, The Irish Guards in the Great War. 1920 wurde er Ehrendoktor der Universität Edinburgh, 1921 der Sorbonne und von Straßburg, 1922 Rektor der St. Andrew’s University, 1924 Ehrendoktor der Universität Athen. 1927 wurde in London die »Kipling Society« gegründet, deren Treiben er mit »düsterer Abscheu« betrachtete. 1933 veröffentlichte Kipling nach Hitlers Machtergreifung immer wieder Warnungen vor einem falsch verstandenen Pazifismus. 1935 erschien seine letzte Erzählung, begann er mit der Arbeit an seiner Autobiographie. Er starb am 18.1.1936 an den Folgen eines Blutsturzes. Drei Jahre später, 1939, starb auch seine Frau Caroline. Kipling wurde in der »Poets’ Corner« in der Westminster Abbey zwischen Charles Dickens und Thomas Hardy beigesetzt. Die Kontroversen um ihn sind fast ausschließlich auf unaufmerksames Lesen seiner Gegner und auf ideologisch begründete »Mißverständnisse« zurückzuführen, sowie auf die Einzigartigkeit seiner Kunst, die sich weitgehend den üblichen Schemata entzieht.
Zu den Ausgaben seiner Werke Kiplings lyrisches Werk erschien ab 1892 in 5 Bänden bei Methuen & Co. London; ab 1940 als einbändige
Gesamtausgabe {Definitive Edition) bei Hodder & Stoughton, London. In Deutschland ist der Lyriker Kipling bisher praktisch unbekannt geblieben, bis auf Einzelstücke, die meist im Zusammenhang mit seinen Erzählungen mehr oder minder schlecht übertragen wurden. (Die seit 1987 entstehende Zürcher Edition bereitet einen vorläufigen Auswahlband Lyrik vor und will ihn später durch zweisprachige Einzelbände ersetzen.) Seine Prosa – ebenfalls meist zunächst in Zeitungen und Zeitschriften publiziert – erschien zu Kiplings Lebzeiten im angelsächsischen Sprachraum in einer kaum zu überblickenden Vielzahl legaler und illegaler Ausgaben, wobei sich weiterhin Standard-, Sonder-, Luxus-, Geschenk- und sonstige Ausgaben unterscheiden lassen. Bis zur Regelung der Urheberrechtsfrage in den USA kam es dort ferner immer wieder dazu, daß Kipling billige autorisierte Ausgaben drucken ließ, um unautorisierte vom Markt zu verdrängen. Ab 1899 erschien bei Macmillan & Co. in London die von Kipling selbst eingerichtete Uniform Edition; diese Ausgabe wurde 1949 neu gesetzt, desgleichen 1965, als sie zu seinem 100. Geburtstag als Centenary Edition in rotem Leinen sowie als Paperback herausgebracht wurde. Diese Ausgabe wird nach wie vor gedruckt und ausgeliefert; auf ihr basiert die hier vorgelegte neue Übertragung ins Deutsche. (Eine Übersicht über alle Ausgaben – z. B. School Edition, Edition De Luxe, Bombay Edition usw. – bietet der Kipling Companion der Zürcher Ausgabe.) In Deutschland wurde Kipling früh entdeckt und ab 1894 übersetzt, zunächst in verschiedenen Verlagen und den unterschiedlichsten Ausstattungen (einer seiner ersten deutschen Übersetzer und Verleger war der nachmals so berühmte Karl-May-Verleger Ernst Friedrich Fehsenfeld in Freiburg/Breisgau). 1899 erwarb der Verlag Vita-Deutsches
Verlagshaus (Berlin-Charlottenburg) die deutschen Rechte, die später der List-Verlag (damals Leipzig, heute München) übernahm, der ab 1925 Kipling in Deutschland verlegte und dessen zehnbändige Auswahl (herausgegeben von Hans Reisiger) bis heute die Grundlage der Gesammelten Werke in drei Bänden ist. Diese Ausgabe ist – schlicht – unbrauchbar. Die Übersetzungen sind erbärmlich, strotzen von Fehlern, sind barbarisch verstümmelt, in Sprachduktus und Tonfall ebenso falsch und Kipling-fern wie die meisten Titel: aus Captain’s Courageous (etwa Kühne Kapitäne) machte Vita Brave Seeleute und List Fischerjungs; zu Stalky & Co. – »Stalky« ist der Spitzname eines Schülers und bezieht sich laut Kipling auf »to stalk« = pirschen – schlug man bei Vita ohne Rücksicht auf Kiplings Hinweis im Wörterbuch »stalk« nach und fand = Stiele/Stengel, also Lange Latte und Genossen, woraus List »verbessernd« Staaks und Genossen machte, usw. usf. Außerdem übersah man, daß die von Kipling den einzelnen Erzählungen vorangestellten Verse integraler Teil der jeweiligen Geschichte sind, und verzichtete ganz auf sie (in der hier vorgelegten Auswahl wird nicht versucht, Kiplings höchst kunstvolle Dichtung nachzuahmen, sondern jeweils eine ProsaÜbersetzung als eine Art Inhaltsangabe dem englischen Wortlaut nachgestellt). Von allen deutschen Ausgaben ist bisher lediglich die seit 1987 erscheinende Zürcher Ausgabe, übersetzt und herausgegeben von Gisbert Haefs, vollständig und dem technisch vielleicht perfektesten Erzähler der Weltliteratur überhaupt angemessen, dessen Kunst jedes Wort und jede Schattierung bewußt einsetzt. Das bedeutet, daß die in der vorliegenden Auswahl präsentierten Erzählungen Ohne Kirchenrecht, Imrays Rückkehr, Moti Guj – Meuterer, Mündliche Botschaft, Die Brückenbauer, Sie und Der Stier, der dachte überhaupt
erstmals vollständig in Deutsch veröffentlicht werden; aber auch die übrigen Texte wurden aus dem Original völlig neu übertragen.
Übersetzungsfragen Auf die Fehlerhaftigkeit der List-Ausgaben wurde bereits hingewiesen. Es handelt sich hierbei im wesentlichen um vier Fehlergruppen: a) Unkenntnis des richtigen deutschen Wortes; b) Unkenntnis des englischen Satzbaus; c) Unverständnis für Kiplings Sprachpräzision, die zu überflüssigen Aufblähungen im Sinne eines »schöneren« Deutsch führt; d) Unverständnis für die Rolle von Dialekten, Jargons, Argots und daher ihre völlig unmögliche Übertragung in deutsche Dialekte: einen Iren mit einem Schotten in Afghanistan bayerisch oder ostpreußisch reden zu lassen ist schlichtweg lächerlich. Beispiele für die Mängel der Reisiger-Ausgabe sind in Gisbert Haefs’ Kipling Companion zu seiner Zürcher Edition angeführt (S. 65 ff.), und sie könnten hier beliebig vermehrt werden. Angesichts solcher fehlerhafter Übertragungen sind die unglaublich falschen Urteile über Kipling wenigstens zum Teil verständlich. Allerdings fragt sich, warum sich denn kein Rezensent je die Mühe gemacht hat, die Übersetzung mit dem Original zu vergleichen, warum kein Anglist je seinen Studenten eine Seminararbeit über Kipling englisch und Kipling deutsch aufgetragen hat. Und auch wenn man in Rechnung stellt, daß die Vorstellungen von »gutem Deutsch« zu Zeiten Reisingers gewiß anders waren als heute, wo sich
unter dem Einfluß des Zustroms englischer und vor allem USamerikanischer Literatur nach 1945 die Maßstäbe für Übersetzungen aus dem Englischen und besonders Angloamerikanischen erheblich verändert haben, so ist doch zu fragen, ob man das deutsche Publikum für dermaßen ungebildet hielt, daß man glaubte, ihm den wahren Kipling nicht zutrauen zu dürfen, sondern ihm einen »erklärenden« und für deutsche Unkenntnisse zurechtredigierten Kipling an die Hand geben zu müssen. Die hier vorgelegte Neuübertragung bemüht sich, Kiplings Sprache so exakt wie möglich nachzubilden, ohne der deutschen Sprache Unverträgliches zuzumuten. Das bringt insbesondere im Bereich der Interpunktion das Problem mit sich, daß laut Duden erheblich viel mehr Kommata gesetzt werden müßten, als Atem- und Sinnrhythmik der Kiplingschen Sätze erlauben – auch im Deutschen. So wurde denn ohne Bedauern auf viele überflüssige Kommata verzichtet. Und noch eines: angeblich soll das »Du« der Anrede als kleines »du« richtiger sein, obwohl niemand auf die Idee käme, in einem Brief den Adressaten, falls man sich duzt, mit kleinem »du« anzuschreiben, sondern selbstverständlich das höfliche »Du« verwendet. So verfährt auch diese Übertragung, zumal Kipling durchaus bewußt immer wieder neben dem »you« das »thou« verwendet.
Anmerkungen Die nachfolgenden Anmerkungen zu jeder Geschichte nennen zunächst den Ersterscheinungsort und geben dann solche Sachhinweise, die zum besseren Verständnis möglicherweise nötig sind. Sie beruhen auf den Anmerkungen der englischen Ausgabe, ziehen aber auch die der sehr gründlichen
französischen Ausgabe (Rudyard Kipling, Oeuvres, bei Gallimard in der Pleiade-Reihe, Paris 1988) sowie die Anmerkungen der »Zürcher Ausgabe« heran. Außerdem wurden die Encyclopedia Britannica und andere verläßliche Lexika (u. a. The Oxford Universal Dictionary) verwendet.
Ohne Kirchenrecht Erschien als Without Benefit of Clergy erstmals in Macmillan’s Magazine, Juni 1890, und in Harper’s Weekly, 7./14. Juni 1890. Die Erzählung gehört zum Band Life’s Handicap (Macmillan 1891), in den auch Erzählungen aus der Sammlung Mine own People (New York 1891) aufgenommen wurden (daher der jetzige Gesamttitel Life’s Handicap, being Stories of Mine Own People). ZUM TITEL: »Without Benefit of Clergy« ist mehrdeutig; »Benefit of Clergy« war ursprünglich das nur Priestern eingeräumte Privileg, vor der weltlichen Gerichtsbarkeit geschützt und nur der kirchlichen Gerichtsbarkeit unterworfen zu sein; später wurde dieses Privileg auf alle ausgedehnt, die lesen konnten, und somit zu einem Privileg der »Gelehrten«; das entsprechende Gesetz Englands wurde 1827 aufgehoben. Heute wird »Benefit of Clergy« meist so verstanden, daß einer Eheschließung die »Wohltat priesterlicher Mitwirkung« zuteil wird, also eine kirchliche Eheschließung stattfindet. »Ohne Kirchenrecht« versucht, beide Aspekte anzudeuten: daß hier keine kirchlich geschlossene Ehe vorlag und daß Holden sich mit allem, was seine Beziehungen zu Ameera angeht, außerhalb aller Privilegien befindet. • DIE VORGESTELLTEN VERSE entstammen einem siebenstrophigen Gedicht Kiplings mit dem Titel Bitter Waters, das in der Gesamtausgabe seines lyrischen Werkes enthalten ist. • PATHANEN sowohl Eigenname
des afghanischen Hauptvolks, heute meist Paschtu genannt, wie auch Name des islamischen Volks der Rohilla in Nordwestindien mit indoarischer Sprache. • AMEERA, gesprochen »Amira«, dürfte eine Bildung zu »amir« = Herr (Emir) sein. • MIT »STATION« bezeichnete man sowohl die Örtlichkeit, an der sich die britischen Verwaltungszentren und die Wohnbereiche der Zivilbeamten wie der Offiziere (außerhalb der Militäranlagen) befanden, wie auch ihre britischen Bewohner. • BACHARI (KLEINE FRAU): Erläuterungen in Klammern im Text stammen von Kipling selbst. • YA ILLAH = mein Gott. • EIN »GELEHRTER«: bei Kipling »pundit« (gesprochen pandit) – indischer Ehrentitel für gelehrte Brahmanen, insbesondere für Kenner der Sanskritliteratur (man erinnere sich an »Pandit« Nehru). • GLÄUBIGER: Ameera ist eine Tochter des Islam, daher beziehen sich hier alle Begriffe um das Wort »Glaube« auf den muslimischen Glauben. • GEBURT AM FREITAG: dem Islam ist der Freitag der Ruhetag. • BABA = Vater, Herr: von indischen Dienern üblicherweise als Bezeichnung für den Sohn der Herrschaft verwendet (»Kleiner Herr«). • IN BALTIMORE…: Zeile aus W.E. Henleys Gedicht O Falmouth is a fine town; Henley (1849-1903) war Chefredakteur des Scots Observer, in dem er die Barrack-Room Ballads von Kipling, der sich mit ihm nach seiner Rückkehr aus Indien befreundet hatte, erstmals abdruckte. • AND IF IT BE A GIRL…: Kipling variiert hier, auf seine Situation bezogen, Rosemary Lane, einen Schlager anonymer Herkunft (auch als Home dearest Home bekannt), der die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das ein Soldat verführt hat. • GRÜN DER NÄCHSTE: man spielt eine Art Pool-Billard, bei der die Reihenfolge der Spieler durch die Farbe ihrer Spielkugel festgelegt ist, in der Sequenz Weiß – Rot – Gelb – Grün – Braun – Blau – Rosa. • WINTERREGEN… JAHRESZEIT: gemeint sind die starken
Monsun-Regenfälle nach dem Ende des Sommerhalbjahres; Monsun, von arabisch »mausim« = Jahreszeit, bedeutet ein großräumiges Windsystem vor allem über dem Indischen Ozean mit halbjährlich wechselnder Windrichtung: im Sommerhalbjahr strömt der Wind landein und bringt so die Regenzeit, im Winterhalbjahr landaus und bringt so die Trockenzeit. • ARE KOKO…: indisches Wiegenlied. • MUNGO: Kurzform zum englischen »mongoose« (französisch »mangouste«) = Manguste oder Zibetkatze; ein Angehöriger der Raubtierfamilie der Schleichkatzen oder Viverriden; die asiatische eigentliche Zibetkatze ist bräunlichgelb mit dunkelrostroten Flecken, bis zu 100 cm lang, bekannt für das starke Drüsensekret Zibet (aus arabisch »sabad« = Schaum, vgl. italienisches »zabaione«), das moschusartig riecht und als alkoholische Zibettinktur vor allem als Fixateur von Duftstoffen in feinen Parfüms gebraucht wird; zur Untergruppe der Herpestinen gehört der indische und srilankaische Mungo (Ichneumon oder Manguste), 40-50 cm Körperlänge, silbergrau bzw. silberdurchsprenkeltes Grau, oft als Haustier gegen Ratten und Schlangen gehalten; von Kipling in seiner herrlichen Geschichte Rikki-Tikki-Tavi liebeund verständnisvoll besungen. • MANDELN: der Vater Kiplings, John Lockwood Kipling, beschreibt in seinem heute noch lesenswerten Buch Beast and Man in India diesen Brauch: »Mehrere Tage nacheinander teilt die Mutter eine Mandel zwischen ihrem Papagei und ihrem Kind. Das soll das Kind daran hindern zu plappern und es befähigen, mit Leichtigkeit und Überzeugungskraft zu sprechen.« • SITAR: indisches Saiteninstrument in der Art einer Gitarre (das Wort ist Urdu). • RAJAH RASALU: einer der großen Helden des Punjab, Hauptperson eines reichhaltigen Sagenkranzes. • LOWER TOOTING heißt eigentlich Tooting Graveney und ist ein südlicher Vorort Londons, anhand dessen Kipling jene absolut
ignoranten Abgeordneten vor allem liberaler Couleur ironisiert (»Unter-Tooting«), die nach wenigen Tagen eines Besuchs in Indien, der die ganze Verwaltung belästigte, idealistische Reformkonzepte für alle nur vorstellbaren Übel des Landes propagierten, ohne eine Ahnung von deren Auswirkungen auf die indische Bevölkerung zu haben. • DHAK-BAUM: der Dhakoder Lackbaum (Butea frondosa) stammt aus Ostindien, berühmt wegen seiner leuchtenden Blüten im Frühjahr, liefert ein adstringierendes Harz. • SALZGARTEN: Anlage in Meeresnähe, die aus Gruben besteht, in die bei Flut das salzige Meerwasser einströmt, das unter der heißen Sonne verdampft und so schließlich Salzschichten zurückläßt, die dann abgebaut werden. Nicht mit Verdunstungssalinen im Binnenland oder der »Salzlecke« zu verwechseln: der Stelle, wo Wild oder Vieh das Bedürfnis nach Salz durch Lecken an natürlichen Salzvorkommen oder an vom Menschen deponierten Salzbrocken befriedigen kann. • BERGSTATIONEN: wegen des erdrückenden Klimas vor dem Einsetzen der Regenzeit war es üblich, daß die Europäer in den heißesten Monaten Frauen und Kinder in die kühleren Bergregionen am Himalaya schickten, wo dadurch berühmte Sommerorte wie z. B. Simla heranwuchsen. • … DIE REGIERUNG, DIE ANGEORDNET HATTE : die angloindische Regierung hatte nach der verheerenden Hungersnot 1866 in Orissa angeordnet, daß entsprechende organisatorische Vorbereitungen getroffen würden, damit sich eine solche Katastrophe nie mehr wiederhole (vor allem auch, weil dadurch Ruf und Stabilität der Verwaltung gravierend gelitten hatten). • AI, JANEE = o mein Liebster! • Wo Du BIST…: siehe das Buch Ruth im Alten Testament 1,16. • ICH BEZEUGE…: streng genommen eine Blasphemie für eine Muslimin, da es sich um eine Paraphrase des Gebets der Muslime handelt: »Ich bezeuge, daß es keinen Gott gibt außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet!« • DANN WILL ICH
KLAGEN…:
gemeint ist hier und im folgenden mit Klage bzw. klagen die orientalische Sitte des lauten Klagegeschreis für Verstorbene (nicht also die persönliche Trauer).
Imrays Rückkehr Erschien als The Recrudescence of Imray erstmals in der Sammlung Mine own People 1891 (New York). Sie wurde später in die Sammlung Life’s Handicap aufgenommen (Macmillan 1891). DIE EINGANGSVERSE stammen von Kipling, sind aber von Longfellows Ballade The Baron of St. Castine (in Tales of a Wayside Inn, Teil 2) angeregt. • TOTENGEIST: englisch »wraith« = Erscheinung einer im Sterben liegenden oder bereits gestorbenen Person. • JAGDGIG, englisch »dogcart«: leichter Einspänner mit zwei Sitzen Rücken an Rücken. MAHSEER: riesiger indischer Süßwasserfisch (barbus tor), der Barbe ähnlich. •… IHRER MAJESTÄT DER KÖNIGIN von England und »Kaiserin« von Indien, also der Königin Victoria (18371901). • GRENZGEBIET: gemeint sind die damals mehr oder minder sich der Botmäßigkeit entziehenden »Stammesgebiete« an den Grenzen vor allem im Nordwesten, in denen sich die Autorität der britischen bzw. angloindischen Behörden kaum durchzusetzen vermochte. •… zu DEN ANDAMANEN SCHICKEN: die Andamanen-Inseln im Golf von Bengalen südlich von Burma dienten als Strafkolonie für Schwerverbrecher, meist auf Lebenszeit (wobei die Lebenszeit durch Klima und Arbeitsbedingungen meist ziemlich kurz bemessen blieb). • ST. PAUL: die größte Kathedrale Londons, dem Petersdom in Rom nachempfunden. • LANDSTREICHER: englisch »loafer« dieser Begriff bedeutete in Indien einen herabgekommenen Weißen (desertierter Soldat oder entlaufener Zivilbeamter), der als
Landstreicher mit den »Eingeborenen« der niedrigsten Kasten lebte, meist geschwätzig und versoffen. •… ZUSÄTZLICHEN MANN: im Englischen kann »man« auch Diener bedeuten und ein »extra man« einen zusätzlichen Diener, den man etwa für einen großen Abendempfang oder ein großes Abendessen zusätzlich engagiert hat. •… IN EINER KLEINEN ANGELEGENHEIT UNTERSTÜTZT…: geschildert in der Erzählung The Mark of the Beast in der Sammlung Life’s Handicap. • SCHWARZBÖCKE: eine Antilopenart. •… 360 EXPRESS = Kaliber 9 mm. • KARAIT: eine der giftigsten Schlangen überhaupt (nicht mit der jüdischen Sekte der Karaiten zu verwechseln).
Moti Guj – Meuterer Erschien erstmals in der Sammlung Mine own People 1891 (New York) unter dem Titel Moti Guj – Mutineer. Sie wurde später in die Sammlung Life’s Handicap aufgenommen (Macmillan 1891). ARRAK wird aus fermentiertem Reis und Melasse destilliert (in Israel auch aus einer bestimmten Kaktusart des Westjordanlandes). • PALMENTODDY oder Palmenwein wird von der Kokosnuß- oder der Dattelpalme gewonnen. • MIT EINEM LIED AUS DER SEE ist eine etwas kühne Paraphrase eines Verses aus Tennysons Drama Becket (Akt II, Szene 1): »Love that is born of the deep, coming up with the sun from the sea« (Liebe, aus der Tiefe geboren, kommt herauf mit der Sonne aus der See). • KALA NAG ist bekannt aus Toomai von den Elefanten: siehe Seite 76. • NAZIM ist eine ehrende Anrede wie Maharaja (Maharadscha) = Großer bzw. Hoher Herr.
Mündliche Botschaft Erstmals erschienen in der Civil Military Gazette am 10. Juni 1887 unter dem Titel By Word of Month. Später aufgenommen in die Sammlung Plain Tales from the Hills (Einfache Geschichten aus den Bergen). SIEBENSCHLÄFER: der Name Dumoise spricht sich im Englischen so ähnlich aus wie »dormouse« = Siebenschläfer (dor – vom französischen »dormir« = schlafen); Dumoise spielt auch in der Erzählung The Mark of the Beast in der Sammlung Life’s Handicap eine Rolle. • MATSCH: im Englischen »Squash«, also etwas Weiches, Quetschbares usw. etwas Matschiges, Teigiges. • BERARS: ein erfundenes Regiment, benannt nach der Region Berar in Zentralindien. • TAL DER SCHATTEN: aus Psalm XXIII, Vers 4. • GROSSE PLATTENKAMERA: heute etwa dem Format 21,5X16,5 entsprechend. • DAK-BUNGALOW = Gästehaus. MEMSAHIB: der Ausdruck bedeutet »Frau des Herrn«, zu Sahib (wie einst »frowa« – woraus Frau wurde – Herrin bedeutete zu »fro« = der Herr – vgl. Fronleichnam, Frondienst usw.). • LOCUM TENENS: lateinisch = Statthalter, also die Vertretung. • TUTICORIN: Hafen an der Südspitze der indischen Halbinsel, auf der Ostküste, im 16. Jh. von den Portugiesen gegründet, ca. 1600 Meilen von Meridki entfernt.
Toomai von den Elefanten Erstmals erschienen 1893 in St. Nicholas unter dem Titel Toomai of the Elephants und sodann in The Jungle Book 1894 bei Macmillan & Co. London. Der Vers zu Beginn sowie der Einschub standen bereits bei der Erstveröffentlichung, das
ganze (Abschluß-)Gedicht erschien erstmals in The Jungle Book. KALA NAG ist einer der Elefantennamen, die John Lockwood Kipling in seinem Buch erwähnte, dem Kipling viel verdankt. • HATTE DER INDISCHEN REGIERUNG… GEDIENT… RUND SIEBZIG: zur Zeit, da die Erzählung geschrieben wurde, wurden laut J. L. Kipling lediglich Elefantinnen in Dienst gestellt, zur angegebenen Fangzeit Kala Nags galt das noch nicht; J. L. K. gibt an: ein fünfundzwanzigjähriger Elefant könne einem Menschen von Achtzehn verglichen werden, er komme in seine volle Kraft mit etwa Fünfunddreißig und könne bis zu hundertzwanzig Jahre alt werden (anderen Quellen zufolge in Freiheit bis zu 150). • AFGHANEN-KRIEG VON 1842: bekannt als der Erste Afghanen-Krieg; Großbritannien hatte 1839 den Einmarsch nach Afghanistan befohlen, um Schah Shuja, den von der Ostindischen Gesellschaft unterstützten Thronprätendenten, auf den Thron zu setzen; 1841 erfolgte eine antibritische Erhebung, 1842 wurde Generalmajor Elphinstone mit seiner Truppe auf dem Rückmarsch am Kyber-Paß überfallen und vernichtet; 1842 zog eine Strafexpedition unter George Pollock nach Kabul und warf die antibritische Erhebung nieder; doch zog Großbritannien sich bald darauf aus Afghanistan zurück. • RADHA PYARI: ebenfalls ein Name aus J. L. K.s Buch. • SEINE KLEINEN MILCHZÄHNE: heute sind Experten der Ansicht, daß Elefanten keine ausfallenden kleinen Milchzähne haben, sondern sofort den endgültigen Zahn entwickeln. ZWÖLFHUNDERT PFUND AN ZELTEN: zwölfhundert englische Pfund, also etwas über tausend Pfund (= eine halbe Tonne) waren laut J. L. K. das Standardgewicht, das ein Elefant erster Klasse im Regierungsdienst zu transportieren fähig sein sollte. • IN EINEM SELTSAMEN UND FELSIGEN LAND: I867/68 drang die NapierExpedition nach Abessinien ein als Strafe dafür, daß Kaiser
Tewodros II. (= Theodor) britische Missionare und Gesandte als Gefangene festhielt; Tewodros wurde bei Magdala geschlagen und beging drei Tage nach der Schlacht Selbsttötung. • ALI MUSJID: eine Festung in Afghanistan: also hat Kala Nag auch am Zweiten Afghanen-Krieg 1878/80 teilgenommen, der zur Rückdrängung des russischen Einflusses in der Region geführt wurde (ein oft wiederkehrendes Thema in Kiplings Indiengeschichten; vergleiche vor allem Kim). • MOULMEIN ist ein burmesischer (bzw. birmanischer) Hafen. • GARO-BERGE: in Assam, nahe der heutigen Grenze zwischen Indien und Bangladesch (also »Ostpakistan« bzw. noch früher Bengalen). • ZEHN FUSS HOCH: das gilt heute als die größte Größe eines indischen Elefanten. • DEN GRÖSSTEN UND WILDESTEN BULLEN: bei Kipling »tusker« – als »tusker« wird ein Elefant mit voll entwickelten Stoßzähnen bezeichnet. • GOLDENE HOWDAH: die in den verschiedensten Ausführungen vorkommende Plattform, die der Elefant auf dem Rücken trägt und die dann Sitzgelegenheiten oder mit Zelten überdeckte Frauensitze oder Lasten unterzubringen ermöglicht. • EINHEIMISCHER SCHREIBER: bei Kipling »native clerc« – das Kipling’sche »native« habe ich (fast) durchgehend mit »einheimisch« übersetzt, während es sonst immer mit »eingeboren« übersetzt worden ist, da ich zwischen »einheimisch« und »eingeboren« einen erheblichen Bedeutungsunterschied und vor allem Wertungsunterschied sehe, beide Übersetzungen möglich sind und mir »einheimisch« eher zu Kiplings Indienverständnis zu passen scheint als das herablassende kolonialistische »eingeboren«. • VIER ANNAS: eine Rupie hat zwölf Annas. BALLSÄLE DER ELEFANTEN: die vor allem im Osten Indiens (Assam, Bengalen usw.) kursierende Saga von den Ballsälen der Elefanten wurde erst nach Kiplings Tod widerlegt; 1953 schrieb J. H. Williams, daß es sich bei den großen Lichtungen
mit festgestampftem Boden nicht um Ballsäle, sondern um »Kinderstuben« der Elefanten handele, wo ganze Herden wilder Elefantinnen ihre neugeborenen Kälber gehütet hätten. • DIHANG: Fluß, der im Himalaya entspringt und,’ dann Brahmaputra genannt, durch Assam, allerdings nicht durch die Garo-Berge fließt. • GUDDEE: auf hindustani »der Thron«. • LIPPENBÄREN: einige englische Forscher bezweifeln die Form »hog-bear«, die hier als Lippenbär übersetzt ist, und behaupten, es handele sich um einen nie korrigierten Schreiboder Setzfehler für »hog-boar« = wilder Eber.
Roter Hund Erstmals erschienen unter dem Titel Red Dog im Juli 1895, und zwar nahezu gleichzeitig in der Pall Mall Gazette, der Civil & Military Gazette; im August 1835 in McClure’s Magazine und sodann in The Second Jungle Book im Oktober 1895 bei Macmillan & Co. London. Der Versbeginn begleitete die Erzählung von Anfang an. SAMBHUR: indische Antilopenart. • DEN DSCHUNGEL IN SICH EINGELASSEN: Anspielung auf eine frühere Geschichte des zweiten Dschungelbuchs: Laßt den Dschungel ein. Da die vorliegende Erzählung in Namen und Anspielungen Bezüge zu vielen früheren Geschichten aus dem ersten und dem zweiten Dschungelbuch enthält, die der englischsprachigen Welt von Kindesbeinen an vertraut sind, der deutschsprachigen weniger, sei kurz referiert: Im ersten Dschungelbuch wird in der ersten Erzählung MOWGLIS BRÜDER berichtet, wie ein kleines elternloses Kind auf der Flucht vor Shere Khan, dem Tiger, in das Lager der Wölfe stolpert und vor allem von Mutter Wolf gegen den Anspruch des Tigers auf die leichte Beute verteidigt wird; nun ist es so, daß, wenn Wölfe sich zu Paaren
zusammentun, sie sich sozusagen ins Privatleben zurückziehen können, bis der Wurf alt genug ist, um bei der monatlichen Musterung dem Rudel vorgestellt zu werden, das dann darüber befindet, ob der Jungwolf ins Rudel aufgenommen wird; wenn ein anderer ins Rudel aufgenommen werden will oder soll, müssen außer dem zum Rudel gehörenden Antragsteller zwei unabhängige Fürsprecher für die Aufnahme eintreten, oder es kann die Aufnahme durch einen nicht dem Rudel angehörenden Fürsprecher erkauft werden; im Falle des Kindes stellt Vater Wolf den Antrag und melden sich Balu, der große braune Bär und Lehrer der Jungwölfe und daher Ehrenmitglied des Rudels, sowie Bagiera, der schwarze Panther, als Fürsprecher, wobei Bagiera als Nichtmitglied die Mitgliedschaft für das Kind mit einem toten Bullen erkauft, den er erlegt hat und dem Rudel zahlt; Führer des Rudels der Seoni-Wölfe ist zu jener Zeit Akela; das Kind erhält den Dschungelnamen Mowgli, wächst bei den Wölfen auf, steht in besonders engen Beziehungen zu seinen vier Geschwisterwölfen und wird nach und nach mit allen wichtigen Persönlichkeiten des Dschungels gut Freund, darunter dem riesigen Python Kaa. Zu den Namen: »Mowgli« bedeutet nach Rudyard Kipling »Frosch«, und die Wölfe gaben dem Kind diesen Namen, weil es so glatt und weich und klein wie ein Frosch war; »Shere Khan«, ausgesprochen Schier Chan, kommt vom persischen bzw. Urdu-Wort »sher, shere« = Tiger, hier also »Herr der Tiger«, »Akela« ist Hindustani = »Einsam«; »Balu« bzw. Baloo ist Hind. = »Bär«; »Bagiera« bzw. Bagheera ist eine Art Zärtlichkeitsverkleinerungsform zu »bagh«: Hind. = Tiger und bedeutet dann Panther, Leopard; »Kaa« ist der von Kipling für den Riesenpython erfundene Name; »Hathi« oder Hatti, Hind. = »Elefant«; »Chil« – gesprochen Tschiel, Hind. = »Geier«. Hier sei ferner darauf hingewiesen, daß die Dschungelbücher die weitestreichenden
und merkwürdigsten Wirkungen auslösten: erwähnt seien lediglich die fünfundzwanzig Tarzan-Bände von E. R. Burroughs und die Riten der Boy Scouts, die deren Gründer Baden-Powell bei der Gründung der »Wolf Cubs« (= Wöflinge) 1911 mit Billigung und Mitwirkung von Rudyard Kipling reichlich aus den Dschungelbüchern schöpfte. • NIE ERZÄHLT WERDEN: Rudyard Kipling hatte eine Reihe weiterer Mowgli-Erzählungen geschrieben, sie aber dann unveröffentlicht vernichtet, da er nie einen »Nachzieher« zu einem Erfolg schreiben bzw. veröffentlichen wollte. • DER GESTREIFTE: gemeint ist der Tiger. DER VORLÄUFER: gemeint ist der Schakal. • DER DEKKAN: die großen wüstenähnlichen Steppenlandschaften im Inneren Mittelindiens. BANDAR-LOG: das Affenvolk (spielt vor allem in der Geschichte Kaas Jagd im ersten Dschungelbuch eine Rolle). • MIT HAAREN ZWISCHEN JEDEM ZEH: der rote Wildhund des Dekkan hat große Pfoten mit behaarten Ballen. • DÜSTERE UND BLUTIGE SANDBÄNKE: nicht zu überhörende Anspielung auf die düsteren und blutigen Gründe des Wilden Westens, jedem Karl-May-Leser bestens bekannt (engl. »dark and bloody grounds« bzw. »dark and bloody sands«).
Das Wunder des Purun Bhagat The Miracle of Purun Bhagat; erstmals erschienen als A Miracle of the Present Day am 14. Dezember 1894 in World (New York) sowie am 18. Dezember in Pall Mall Gazette und Pall Mall Budget und sodann in The Second Jungle Book im Oktober 1895 bei Macmillan & Co. London. Die Eingangsstrophen begleiten den Text von Anfang an. HALBUNABHÄNGIGE EINHEIMISCHE STAATEN (»Native States«; üblicherweise als »Eingeborenenstaaten« übersetzt):
sie machten ca. die Hälfte des angloindischen Territoriums aus; in ihnen war die britische bzw. angloindische Regierung meist nur durch einen politischen »Berater«, den »Residenten«, vertreten. • MAHARAJA: Fürstentitel in den arischen Gebieten Indiens; »maha« urverwandt mit lateinisch »magnus« = groß, »raja« mit lateinisch »rex« oder germanisch »-rich« (wie in Dietrich, Theode-rich) = König; hier wie auch bei fast allen Namen wurde die originale Schreibweise Kiplings beibehalten, vor allem, damit ,z. B. die Benutzung von Atlanten und Lexika aus der Zeit Kiplings möglich bleibe. • AUSSTELLUNG LANDWIRTSCHAFTLICHEN GERÄTS: als Instrument der Hebung landwirtschaftlicher Kenntnisse unter den Bauern. • AUSSENMINISTERIUM: das der britischen Krone in London, das zugleich das Ressortministerium für das angloindische Imperium war. • VON VIZEKÖNIGEN UND GOUVERNEUREN, VON STELLVERTRETENDEN GOUVERNEUREN, VON MEDIZINISCHEN MISSIONAREN…: der Vizekönig war im Angloindischen Empire als Vertreter der Krone Staatsoberhaupt; der Gouverneur eines Staates oder Gebietes war der Inhaber der militärischen Befehlsgewalt (meist ein Offizier); der Stellvertretende Gouverneur war der Leiter der zugehörigen Zivilverwaltung (meist ein Zivilbeamter); MEDIZINISCHE MISSIONARE bedeuteten Kipling jene europäischen Ärzte, die die Fortschritte der abendländischen Medizin mit größtem persönlichem Einsatz zu verwirklichen suchten, ohne daran zu denken, daß die Kehrseite ihres Wirkens zu jener Bevölkerungsexplosion führte, unter der der indische Subkontinent bis heute leidet. • TOURISTEN bedeutet hier nicht normale Ferienreisende, sondern die von Kipling besonders geliebten Polittouristen in der Gestalt englischer Abgeordneter usw. die in der für Europäer erträglichen kühlen Jahreszeit nach Indien kamen und dort »Verbesserungen« ohne die geringste Ahnung von den wirklichen Problemen
vorschlugen bzw. später als »Männer mit Indienerfahrung« in London jene Gesetze berieten und verabschiedeten, nach denen Angloindien zu verwalten war, ohne daß ihnen die Probleme der heißen Jahreszeit auch nur andeutungsweise bekannt waren: Dürre, Hungersnöte, Seuchen, Versorgungslücken, Geldmangel, Personalmangel, Wirkungslosigkeit unverändert auf Angloindien übertragener britischer Vorstellungen usw. PIONEER: an dieser damals wichtigsten Tageszeitung, die in Allahabad erschien, arbeitete Kipling selbst vom November 1897 an, bis er Indien im März 1889 verließ. • SCHWARZE SEE = Ozean, nach dem Hindu-Begriff »kala pani« = schwarzes Wasser. • GROSSMEISTER…: Knight Commander of the Order of the Indian Empire bedeutete u. a. den persönlichen Adel, der durch das dem Namen vorgestellte Adelsprädikat »Sir« zum Ausdruck gebracht wurde (Anrede: Sir+Vorname, also hier: Sir Purun). • DEWAN: von persisch »divan« = Ratsversammlung, dann Hof, Hofrat, Minister, Premierminister. • SANYASSIN, von Sanskrit »samnyasin« = ablegen: einer, der der Welt entsagt und in Besitzlosigkeit die Befreiung vom Kreislauf der Wiedergeburten sucht. • MEERESKOKOS: eine besonders große Kokosart, die vor allem von den Seschellen importiert wurde (lodoicea sechellarum). • PURUN BAGHAT = Purun, der heilige Mann. • ROHTAK… KURNOOL… SAMANAH… GUGGER…: von Delhi aus ist Rohtak nach Norden etwa fünfzig Meilen entfernt, Kurnool etwa hundertfünfundzwanzig, Samanah etwa hundertfünfundneunzig; der Gugger ist ein Nebenfluß des Sutlej. • KULU: eine Stadt, in Himachal Pradesh, ca. siebzig Meilen nördlich von Simla, etwa fünftausend Fuß hoch gelegen. SEWALIK-BERGE: eine Bergkette südlich von Simla. • SIMLA eine Stadt in Himachal Pradesh, etwa siebentausend Fuß hoch, wurde ab 1820 zu einer der beliebtesten Kurstädte bzw. Aufenthaltsstädte der Engländer während der heißen Jahreszeit
und bis zur Unabhängigkeit Indiens 1947 inoffizieller Heißwettersitz der britischen Verwaltung. DEN LIEBENSWÜRDIGSTEN… VIZEKÖNIG: Lord Dufferin; er war 1885, zu der Zeit, als Kipling seine zweite Saison in Simla verbrachte, ein persönlicher Freund der Familie. • SALAAM: der muslimische Gruß des »Salaam« ist eine tiefe Verneigung, wobei die rechte Hand an die Stirn geführt ist. • CHOTA SIMLA = Klein-Simla: die »Eingeborenenviertel« Simlas. • HIMALAYA-TIBET-STRASSE: Kipling kannte sie sehr genau und ließ viele seiner Erzählungen, vor allem aber Kim, an und auf ihr spielen. • BORAX: das persische Wort bezeichnet wasserhaltiges Natriumborat, das sich kristallisiert an den Ufern bzw. gelöst im Wasser der großen Tinkalseen Tibets und in den USA im »Death Valley« findet; es dient, heute zumeist künstlich hergestellt, in der chemischen Analyse zum Nachweis von Metallen und wird in Heilkunde und Industrie vielfältig verwandt; in Indien seinerzeit überwiegend als Desinfektionsmittel bekannt. • MUTTEEANEE-PASS: der Paß liegt ca. zehntausend Fuß hoch nahe der gleichnamigen Stadt, etwa vierzig Meilen nordwestlich von Simla, an der Straße nach Narkanda und Kotgarh. KALI… DURGA… SITALA: unterschiedliche Aspekte der Gemahlin Shivas, des großen Hindu-Gottes, die zugleich Gebärerin wie Zerstörerin allen Lebens ist; für Purun Bhagat ist wichtig, daß Kali die NichtErkenntnis zerstört, die Weltordnung (die sich im Gesetz ausdrückt) aufrechterhält und die segnet und befreit, die nach transzendentaler Erkenntnis streben; auf vielen Darstellungen macht sie eine Gebärde, die in der Hindu-Symbolik »Furchtlosigkeit« bedeutet. • LADAKHISCHER HÄNDLER: Ladakh ist ein Teil des Gebietes von Jammu und Kaschmir, die Bevölkerung vorwiegend tibetischer Herkunft. • BHAI! BHAI!: »bhai« heißt hindustanisch »Bruder«. • D. C. L. = Doctor of Civil Law bzw. Doktor des Zivilrechtes. • PH. D. = Dr. phil. •
MOHINIWALA ist ein Phantasiename. • KABIR: ein indischer Mystiker und Dichter (ca. 1440-1518), der versuchte, muslimisches und hinduistisches Denken einander näherzubringen oder gar zu vereinigen; er predigte die wesentliche Einheit aller Religionen und die wesentliche Gleichheit aller Menschen und ist ein Vorläufer des von seinem Schüler Nanak entwickelten Sikh-Denkens; Kiplings »Lied« spiegelt Kabirs Gedanken, ist aber keine Übersetzung, sondern ein selbständiges Gedicht Kiplings. • GUDDEE: hindustanisch = Thron. BAIRAGI: der fromme Bettler in der Nachfolge Kabirs. • SAL: ein Teak-ähnlicher Nutzholzbaum. • KIKAR: eine Akazienart, von der z.B. Gummiarabicum gewonnen wird. •…DEN WEG: Kipling hebt manchmal Begriffe durch im Englischen unübliche Großschreibung hervor, hier »the Path«, was im Deutschen nur durch Großschreibung des Artikels angedeutet werden kann (so z.B. in Roter Hund verschiedentlich »… Das Wort«).
Im Rukh In the Rukh, erstmals erschienen 1893 in der Erstausgabe der Sammlung Many Inventions (= Mancherlei Schliche) bei Macmillan & Co. London; die vorangestellten Verse wurden 1912 als The Only Son in die Sammlung der Gedichte Songs from Books aufgenommen, wo sie insgesamt sechsunddreißig Zeilen umfassen. Da es sich um die erste Mowgli-Erzählung handelt, seien einige Vorbemerkungen gestattet. Wer die Zeilen Der Einzige Sohn nach der Lektüre der Erzählung noch einmal aufmerksam liest, wird erkennen, wie genau sie auf die Geschichte abheben, bestimmte Passagen der Erzählung besonders akzentuierend. Ähnlich kann man bei sorgsamer zweiter Lektüre bemerken,
wie exakt Kipling mit sparsamsten Mitteln die Geschichte aufbaut: Schon früh in der Bekanntschaft Gisbornes mit Mowgli sagt der: »Doch ja, ich mag gekochtes Essen. Niemand sage, daß ich nicht Gekochtes und Gebratenes esse wie jeder andere Mann.« Ein Satz, der sich, wie auch die sehr frühe Bemerkung über das Prügeln der Tochter, erst nachträglich als Teil des nur mit solch indirekten Mitteln geschilderten Werbens Mowglis um die Tochter Abdul Gafurs zu erkennen gibt. ZUR ÜBERSETZUNG: Auch hier bereitet Kipling dem Übersetzer immer neue erhebliche Schwierigkeiten dadurch, daß er durch den Einsatz unauffälliger, aber nur schwierig nachzuahmender Mittel die unterschiedlichsten Stimmungen sprachlich auszudrücken vermag. Da ist einmal das so zeit- wie makellose Englisch der berichtenden Passagen; dann wird mit Hilfe weniger altertümlicher Wort- und Sprachformen in Gesprächen mit den »Eingeborenen« der eigentümlichen Würde solcher Menschen Ausdruck verliehen und zugleich dem Respekt, den Kipling ihrer Würde zollt; schließlich – in dieser Geschichte das schwierigste – die Sprache Müller Sahibs. Im Kontext des Englischen hat Kipling es relativ leicht, mit wenigen Kunstgriffen Müllers Aussprache zu karikieren und damit zu charakterisieren – als das Englisch eines Deutschen, der es schnell und mühelos, aber mit deutlich deutscher Aussprache und vielen grammatischen Fehlern spricht. (Genauer: da im Sächsischen durch die sogenannte Konsonantenschwächung die Unterschiede in der Aussprache von b/p, g/k, d/t usw. aufgehoben sind – aus »Pater« wird »Bader« –, den Sachsen also die Gewöhnung an solche Unterscheidungen in der Aussprache fehlt, neigen sie manchmal, wenn sie Hochdeutsch oder fremde Sprachen sprechen, zu sogenannter hyperkorrekter Aussprache: sie machen dann nicht nur aus harten weiche Konsonanten – aus
»antik« wird »andiek« sondern aus normalerweise –, weichen plötzlich harte – aus »Brot« wird »Prot«. Ebendiese Erscheinungen sind nun bei Müller festzustellen, der also möglicherweise Sachse oder Thüringer war.) Nun ist es unmöglich, diese Dinge im Deutschen mit gleicher Wirkung nachzubauen, ohne zu absurd-grotesken Formen zu kommen; deshalb habe ich versucht, eine Art Schlabberjargon zu entwickeln, durch den Müller seiner Respektlosigkeit vor den üblichen Usancen feinen Umgangs Ausdruck verleiht. Müller übrigens, im Original »Muller«, ist dem deutschen Forstbeamten in gleicher Position im Angloindischen Reich namens Ribbentrop nachgebildet, und Gisborne wurde nach dem Muster eines Forstbeamten in der nämlichen Position namens »Gibson« geschrieben. • NANCY: damals befand sich dort die bedeutendste europäische Forstakademie. • Der BLAUE EUKALYPTUS oder Fieberbaum wird gerne in sumpfigen Gegenden angepflanzt, da er wegen seines hohen Wasserverbrauchs zur Trockenlegung beiträgt und damit auch das Fieber zurückdrängt. • SHIKAR = hind. »Jagd«. • KOS = indisches Längenmaß, nach Regionen verschieden zwischen drei und dreieinhalb Kilometern. • SHIKARRI = hind. »Jäger«. • NILGHAI: die blaue Antilope. • SICH JEDEN ABEND ZUM ABENDESSEN UMZUZIEHEN: sich den Smoking als damals gesellschaftsüblichen Abendanzug anzulegen, mitsamt der gestärkten Hemdbrust. LUSUS NATURAE: lateinisch = Spiel bzw. Laune der Natur. • IZZAT: Ehre bzw. »Gesicht«. • HUZRUT: (auch hazrut und hazur) Herr, »Erlauchte Gegenwart«, »Anwesenheit«. • RUKH VON CHANGAMANGA: ein Waldgebiet im heutigen Uttar Pradesh. • BIKANEER-WÜSTE oder: Große Indische (Thar-)Wüste, heute Grenzgebiet zwischen Indien und Pakistan. • JA ICH TUE WUNDER: Kipling behauptet, Müller zitiere sich hier Heine. Ich weiß nicht, ob Müller im Dschungel, durch Mowgli verwirrt, seine Dichter
durcheinanderwarf oder ob man Kipling falsch berichtet hat, oder ob ich mich irre: mich erinnert diese Zeile eher an Goethes Zauberlehrling, der mit Geisteskräften auch Wunder tun wollte. • DIEBSDIENER: im Engl. »thief-servant« – Kipling spielt mit der Sprache – »thief-servant« ist dem »chiefservant«, dem Hauptdiener oder Butler, sehr nahe, und zugleich deutet die ungewöhnliche Form auf Müllers unenglisches Englisch hin. • SCHWARZES WASSER = Ozean; gemeint sind hier vor allem die Waldungen in Burma. IBLIS = Teufel. • MLECH: Verworfener, Unreiner. • SHADI: muslimische Hochzeitsfeier.
Die verlorene Legion Erschien erstmals als The lost Legion in Strand, London, und Sun, New York, im Mai 1893 und sodann in der Sammlung Many Inventions (Vielerlei Schliche) bei Macmillan&Co. London 1893. Nach 1857 entstanden im Zusammenhang mit der Großen Meuterei, dem »Sepoy«-Aufstand (ausgelöst vor allem durch neue Gewehrmunition, wobei die Kartuschen, die mit dem Mund aufzubeißen waren, mit einer Mischung aus Rinderfett – den Hindus widerlich – und Schweinefett – den Muslimen unerträglich – gefettet waren: eine Meisterleistung sacheffizienter menschenverachtender Verwaltung!), viele Geschichten um vernichtete bzw. aufgelöste Einheiten, die dann zu »Geisterverbänden« wurden. Wer in den letzten Jahren aufmerksam die Presseberichte über die Vorgänge in Afghanistan verfolgt hat, vor allem in der angelsächsischen Presse, könnte sie mühelos bei Veränderung einiger Namen in diese Erzählung Kiplings einfügen, was zeigt, daß sich an den Grundgegebenheiten dort wenig geändert hat. Offiziere der
Roten Armee sollten im Stande sein, heute die Richtigkeit dieses Berichtes über »Die verlorene Legion« zu bestätigen. JOHN LAWRENCE wurde später als »Lord Lawrence of the Punjab« geadelt: dem Offizier war es gelungen, während des Aufstandes von 1857 den Punjab ruhig zu halten und binnen kürzester Zeit sechzigtausend Mann loyaler »native troops« (vor allem Sikhs und Gurkhas) aufzustellen; zum damaligen Zeitpunkt zählten die englischen Eingreiftruppen in ganz Indien, weit verstreut, knapp fünfzehntausend Mann. GRENZMORD ALS KUNSTFORM: ironische Anspielung auf das berühmte Buch de Quinceys Mord als schöne Kunst betrachtet. • RISSALA: ein Kavallerieregiment aus einheimischen Soldaten. • UNGLÄUBIGE/ VOM WAHREN GLAUBEN: folglich handelte es sich bei dem im Tal von Sheor Kot vernichteten Verband um eine Hindu-Einheit. • SAG: hind. = Hund.
Die Brückenbauer Erschien erstmals als The Bridge-Builders in der Sammlung The Day’s Work (Des Tages Arbeit) bei Macmillan&Co. London 1898 (obwohl die Geschichte bereits rund zwanzig Jahre früher geschrieben wurde). Da sie als die Schlüsselgeschichte zu Kiplings Indienerzählungen angesehen werden kann, seien einige Vorbemerkungen erlaubt: Der englische Ingenieur Findlayson kann gesehen werden als Vertreter des verständnisvollen, aber immer auf höchste Effizienz ausgerichteten Europäers; als Repräsentant des Britischen Empires in seinen wohlgemeinten Bemühungen um den Brückenschlag zum indischen Teil des Imperiums; als Symbol des Abendländers insgesamt gegenüber dem Orient. Während Brückenbau und drohender Katastrophe bleibt
Findlayson Herr der Situation, wenngleich er ohne den Laskaren Peroo oftmals keinen Erfolg erzielen würde, der ihm auf effiziente, aber höchst uneuropäisch improvisierende Weise dient. Die Hilflosigkeit abendländischen Verhaltens gegenüber unabendländischen Vorgängen symbolisiert dann in der Schlußphase der drohenden Katastrophe Findlaysons Reaktion auf die Dosis Opium, die Peroo nur in angenehm gleichmütige Haltung gegenüber dem Drohenden versetzt. Sein tiefstes Urteil über die Wurzeln des abendländischen wie des orientalischen (hier: indischen) Verhaltens beschreibt Kipling durch das Gespräch der Götter. Und durch die Haltung Findlaysons ihm gegenüber: der sich nur schwach und ungern erinnert, und Peroos: der es vollkommen mithört und begreift und sofort seine Folgerungen zieht (was sich im Bild des zu prügelnden guru-Rückens ausdrückt). Kipling macht das noch auf andere Weise deutlich: bis zu einer bestimmten Stelle ist Peroo der Begleiter Findlaysons, ab dieser Stelle wird Findlayson Begleiter Peroos. C. I. E.: Companion of the Indish Empire = Träger des Ordens vom Indischen Reich (Verdienstorden). • C. S. I.: Companion of the Star of India = Träger des (hohen) Ordens ›Stern von Indiens • C.E.: Chief Engineer = Chefingenieur. • KASHI-BRÜCKE: Kashi ist eine der vielen indischen Bezeichnungen für Benares; diese Brücke gab es zu Kiplings Zeiten nicht; Kipling hat den Bau von mindestens drei großen Brücken in Reportagen beschrieben, wobei die Einzelheiten des Baus der Brücke über den Sutlej den Daten zur KashiBrücke so genau entsprechen, daß man in ihr wohl das Vorbild sehen darf (manche Passagen der technischen Beschreibungen in der Reportage sind fast wörtlich in die Erzählung von den Brückenbauern übernommen worden). • ACHTZIG Fuss: in der Vorlage (Ausgabe von 1908) heißt es »eight feet«, doch kann das angesichts der übrigen Dimensionen nicht stimmen; im
Bericht über die Sutlej-Brücke wird an dieser Stelle von achtundsiebzig Fuß gesprochen, so daß ein übersehener Setzfehler wahrscheinlich ist (entsprechend haben die frühen deutschen und französischen Übersetzungen an dieser Stelle »achtzig Fuß«); diese Überlegung wird bestätigt durch die Tatsache, daß während der sich anbahnenden Katastrophe, als Findlayson im Kopf noch einmal die Daten berechnet, tatsächlich richtig von achtzig Fuß die Rede ist: daher wurde hier auf »achtzig Fuß« verbessert. •… DASS SEIN WERK GUT WAR: Paraphrase zur entsprechenden Stelle in der Schöpfungsgeschichte, wo Gott sieht, daß sein Werk gut sei. • PUKHA: hind. = richtig, gut, sicher, gewiß, gründlich, durchund-durch, »koscher« usw. • COOPER’S HILL: das Königlich Indische College für Ingenieurwesen befand sich in Cooper’s Hill, Englefield Green, Surrey. • LASKARE: von Urdu »lashkar« = Heer; im Angloindischen als Bezeichnung für Inder im Dienst als Matrosen auf Schiffen verwendet. • SERANG: hind. von persisch »sarhang« = Befehlshaber; im Angloindischen Bezeichnung für »eingeborene« Matrosen mit dem Rang eines Bootsmanns. KUMPANI = Company (nämlich die Gesellschaft, die das Dampfschiff reedert). • DUNGAREE: hind, »dungri«, Bezeichnung für leinenbindiges Baumwollgewebe aus der indischen Stadt Calicut = Kaliko; im Angloindischen Bezeichnung für einen groben minderwertigen Stoff dieser Machart, aus dem die Dienstanzüge z. B. der indischen Matrosen gefertigt wurden. • MUTTER GUNGA: der Ganges. • SAS-SAS-PENSCHEN: aus Halbkenntnis gestottertes »suspension« = Hängebrücke. • VERDAMMTER AFFENKERL: im Original »dam jiboonwallah« = Verballhornung aus »Gibbon« (eine Affenart) und hind, »wala«, einem Suffix, das die Beziehung von etwas anzeigt, im Angloindischen mißbraucht als pejorative Bezeichnung »Mann, Kerl« sowie in Zusammensetzungen gebraucht wie z.B. »howdah-wallah« =
der Elefant, der die Howdah (den Sitzkorb) trägt. • DINGHI: aus dem Bengalischen, ein leichtes zweirudriges Boot. • POOJAH: hind. = ehrfurchtsvolle Verneigung, Anbetung. • TAR: hind. = Botschaft, Telegramm. SCHANDECKEL: seemännischer Ausdruck für das Halbverdeck über dem Vorderteil eines Bootes. • DIE SPRACHE DER SEE = saftiges Fluchen. PUNCHAYET: hind. = Ratsversammlung. Die Tiere dieser göttlichen Ratsversammlung stehen für die Embleme der Hindugottheiten. Im einzelnen sind: Der Bulle = Shiv, einer der drei höchsten Götter des Hinduismus, der Zerstörer und Wiedererschaffer; der Papagei – Kharma, der selbst eine Inkarnation von Vishnu, dem Bewahrer ist; Krischna, der dunkle und hübsche Junge, ist eine volkstümliche, beliebte Gottheit; der Schwarzbock = Indra, der Gott des Krieges und des Sturmes, dessen Verehrung auf sehr alte Zeiten zurückgeht; die Tigerin = Kali, die Gemahlin Shivs, die Göttin des Krieges, der Zerstörung und Epidemien; der Affe = Hanuman, das Oberhaupt der Affen, steht für große Betriebsamkeit; der trunkene Mann = Bairon, der Dorfgott, der von den Bauern des Nordens mit Opfergaben von Alkohol verehrt wird; der Elefant = Ganesh, der elefantenköpfige Gott, der für Glück und Wohlstand steht. • KOTWAL: hind. = Burgoder Schloßverwalter, Beamter; im Angloindischen der Polizeichef einer indischen Stadt oder ein einheimischer hoher Stadtbeamter, daher auch Kotwalee = Polizeistation. • DASS AUCH ICH EINE NICHT KLEINE BRÜCKE BAUTE: Hanuman soll eine Brücke zwischen Indien und Ceylon errichtet haben. LANKA = Ceylon (heute Sri Lanka, also wieder die alte Bezeichnung). HÄLT DIE ZAHL MEINER PILGER FEST: im Original »keeps tally of my pilgrims« – »to keep tally« bedeutet wörtlich: durch Kerben im Stab etwas zählen, hier also die Pilger. • GOPIS: Hirtenmädchen. LOTAH: hind. = Krug. • TUFAN: hind. = Taifun.
»Sie« Erschien erstmals als »They« in Scribner’s Magazine im August 1904 und wurde danach in die Sammlung Traffics and Discoveries (Reisen und Entdeckungen), Macmillan&Co. London 1904, aufgenommen. Gedicht wie Geschichte sind vor einem speziellen Hintergrund zu lesen: 1899 erkrankten Rudyard Kipling und seine Lieblingstochter Josephine, damals sechs Jahre alt, in New York an Lungenentzündung so schwer, daß über Kipling bereits Nachrufe erschienen, da man ihn gestorben glaubte; der Vater erholte sich wieder, die Tochter starb; dieser Verlust machte Kipling noch lange zu schaffen. DOWNS (= Dünen): eine Hügellandschaft an der Ostküste Kents (also im Südosten der britischen Insel; South Downs finden sich ferner an der Südküste zwischen Brighton und Southampton. • UR-EI: im Original »the Egg« – gemeint ist das orphische Ur-Ei. • BARSOIS: russ. Windhunde. • USHANT: eine Insel vor der französischen Westküste, dem britischen Bewußtsein deshalb geläufig, da dieser Insel mitten im Seeweg aus der Themse-Mündung in den Atlantik zur Segelschiffzeit immer besondere Bedeutung zukam. • IN DEM SCHÖNEN OBSTBAUM-GARTEN: es handelt sich um das Gedicht The Lost Bower von Elizabeth Barrett Browning; die ausgelassene fünfte Zeile lautet: »Listen, gentle – aye, and simple! Listen, children on the knee!« (Etwa: Lauschet, sanft – ja, und einfach! Lauschet, Kinder auf dem Knie!). KEIN UNDURCHLÄSSIGES EISEN: uralter ländlicher englischer Glaube weiß, daß Eisen Geister verscheucht – hier hätten also Eisenroste im oder am Kamin die Geister der Kinder vertrieben, vor allem aber auch den Geist des toten Töchterchens, das er soeben am vertrauten Kuß in die Handfläche wiedererkannt hat.
Der Stier, der dachte Erschien erstmals als The Bull that Thought im Cosmopolitan Magazine im Dezember 1924; das Gedicht Alanschar erstmals zusammen mit der Erzählung in der Sammlung Debits and Credits (etwa: Soll und Haben) bei Macmillan & Co. London 1926. Zu dieser Erzählung ist vorab zu bemerken, daß Kipling im Alter immer intensiver daran arbeitete, mit den knappsten Mitteln die höchsten und umfassendsten Ziele anzustreben, so sehr, daß 1966 Lord Radcliffe in einer Ansprache an die Kipling Society feststellte: »Kiplings später Stil… verfehlt oftmals seine Wirkung… durch die Komplexität der Struktur… Schließlich soll Prosa eine Kunst der Mitteilung bleiben… Der Künstler hat nicht das Recht, sich so weit zurückzuziehen, daß seine Stimme nur noch durch Beten und Fasten gehört werden kann.« Der Stier, der dachte gehört zu diesen späten Erzählungen und zeigt doch zugleich aufs schönste, wie deutlich die Stimme Kiplings zu vernehmen ist, wenn man nur gewillt ist, ihr zuzuhören, und sich nicht durch Lehrmeinungen irritieren läßt, wie der Dichter eigentlich hätte schreiben müssen. BLUE DE LUXE: der französische »train bleu« ist ein Expreßzug von Paris nach Spanien. • TABLE D’HOTE: Gasttisch in einem Restaurant/Hotel. • ANNAM UND TONKING: Nord- und Südvietnam. LEICHTEN SCHAUMWEINE: im Original »tisanes« – das französische Wort bedeutet einen Kräutertee auf Lindenblütengrundlage, einen Kräuteraufguß o. ä.; wird aber in der Zusammensetzung »tisane de Champagne« auch in (offenbar ursprünglich spöttischem Sinne) für »leichter Champagner« gebraucht (Kipling verwendet nur das Wort »tisane« ohne den Zusatz). • CRAU UND CAMARGUE: die Crau ist eine weite Kieslandschaft, die Camargue eine noch weitere
Sumpflandschaft im Rhône-Delta. • CARPENTIER: Georges Carpentier (1894-1975), französischer Boxer. • APIS: der Name des ägyptischen Sonnengottes in Tiergestalt, aber auch der Name der serbischen Offiziersverschwörung gegen die Habsburger Monarchie, aus der u. a. das Attentat zu Sarajewo entstand. • APACHE: hier ist der Pariser Unterweltler romantisierter Gestalt gemeint (dem man diesen Spitznamen nach den angeblich so blutrünstigen Apachen-Indianern gegeben hatte, in welches Bild aber auch noch Vorstellungen vom »edlen Wilden« hineinspielen, also eine Art Robin Hood der Großstadt). • HÖRNER ES QUÄLEN: im Original »whose horns fret him« – »to fret« bedeutet quälen, reizen usw.: wenn beim Kalb die Hörner sich zu schälen beginnen, entstehen starke Juckreize, die das Tier quälen – diesen ganzen Gedankengang zieht Kipling hier in diesem einen Wort zusammen; ein deutliches Beispiel für das, was Lord Radcliffe meinte. • VOR DER REPUBLIK: der Dritten Republik Frankreichs 1871-1940. • SOULT… BERESFORD: Nicolas Jean Soult (17691851), ab 1807 Herzog von Dalmatien, war unter Napoleon ab 1804 Marschall von Frankreich, wurde 1814 von Wellington geschlagen und war 1815 Napoleons Generalstabschef; Beresford war zur gleichen Zeit britischer Heerführer. • FOCH: Ferdinand Foch (1851-1921), Marschall von Frankreich und Oberbefehlshaber im Ersten Weltkrieg. • RABELAISSCHE UNGEZWUNGENHEIT: Francois Rabelais (1494-1553), bedeutendster französischer Satiriker, Humanist, Mönch, Arzt und Weltgeistlicher, verfaßte die Romane um den Riesen Pantagruel und dessen Vater Gargantua. • CYRANO DER CAMARGUE: Cyrano de Bergerac (1619-1655), französischer Soldat, bedeutender Dramatiker und Novellist, berühmt aber auch durch seine Riesennase. • DER ÄLTERE DUMAS: Alexandre Dumas pere (1802-1870), bedeutender französischer Dramatiker und Schriftsteller, von riesiger Gestalt, Lebenslust
und Ungeduld, schuf u. a. Die drei Musketiere und den Grafen von Monte Christo. • ALNASCHAR: das ist in den englischen Übersetzungen der Name des fünften Bruders des Barbiers in Tausendundeine Nacht (deutsche vollständige Übersetzung nach dem arabischen Urtext der Calcuttaer Ausgabe von 1839 von Enno Littmann, Insel Verlag 1953, Band I, S. 385 ff. – hier sind die Brüder allerdings namenlos); Alnaschar träumt vor den für sein Erbteil gekauften Glaswaren davon, wie er sie günstig verkaufen und zu einem Riesenvermögen verwandeln und wie er das dann für ein luxuriöses Leben ausgeben werde, als er sie in der Erregung seines Träumens durch einen Fußtritt zerstört; da kommt eine schöne Frau des Weges, schenkt ihm Gold, lockt ihn in ihren Palast, läßt ihn auf das schauerlichste verprügeln, verwickelt ihn in eine Intrige, die ihn um das Letzte bringt und außerdem vor den Kadi, der ihn ebenfalls beraubt und ihn der Stadt verweist; auf der Flucht fällt er schließlich unter die Räuber, die ihm auch sein Hemd ausziehen, nachdem sie ihn verprügelt und ihm beide Ohren abgeschnitten haben; in diesem Zustand findet ihn sein Bruder, der Barbier, und gewährt ihm ein Taschengeld, auf das er wenigstens zu essen habe. • SUSSEX-RINDER: Kipling war 1902 mit seiner Familie nach Sussex gezogen; vermutlich zieht er außer der Selbstironisierung auch einen ironischen Vergleich zu den Kampfstieren der Camargue, von denen die Geschichte handelt. • LOBENGULA : König der Matabele (1833-1894), ein Zulureich im damaligen Südrhodesien (heute Simbabwe) mit der Hauptstadt Bulawayo; die südlicheren Zulureiche waren 1838 von den Buren besiegt, 1879 von den Briten endgültig niedergeworfen, 1887 zur Kolonie gemacht und 1897 der Provinz Natal angegliedert worden; hingegen konnten sich die rinderzüchtenden Matabele bis 1896 halten, ehe auch sie das Schicksal ereilte. Die Kiplings, die Cecil Rhodes gut kannten, verbrachten zwischen 1898 und 1908 manchen Winter in
Südafrika; Rudyard Kipling lernte dort die Lage genau kennen und wandte sich angesichts des wachsenden Einflusses der Buren und ihrer »primitiven Gier nach rassischer Vorherrschaft« angewidert ab, um nie mehr nach Südafrika zurückzukehren, wohl aber den proburischen Kolonialismus auf das entschiedenste zu bekämpfen. MITHRAS: persischer Sonnengott, den ab 70 vor Christus vor allem auch Roms Legionen anbeteten bis hinauf nach Britannien; in den sogenannten »Mithraeen« wurde als heiligste Handlung ein Stier geschlachtet, mit dessen Blut Neubekenner getauft wurden, denn Mithras galt als der Töter des das Böse verkörpernden Urstiers; Kipling beschäftigte sich in einigen seiner Erzählungen mit Mithras, dem Mithraskult und dessen späten Einflüssen aufs Freimaurertum.