Mein Schloss für dich Carole Mortimer Princess – Schön und Reich
Julia Exklusiv 71 - 1
10 1999
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Mein Schloss für dich Carole Mortimer Princess – Schön und Reich
Julia Exklusiv 71 - 1
10 1999
gescannt von suzi_kay korrigiert von Geisha0816
Das kesse Mädchen mit der lockeren Moral spielt die ernsthafte Dorothy dem attraktiven Thomas Bennett, Geschichtsprofessor und Schlossherr auf Castle Haven, nur vor, um ihrer Freundin Christi zu helfen. Die gibt sich nämlich als Kontrast zu Dorothy besonders reif und seriös, damit ihr Onkel Thomas ihr endlich ihr Vermögen überantwortet. Thomas durchschaut Dorothys Spiel allerdings schnell, als er heiß mit ihr flirtet und spürt, wie unerfahren sie ist. Nach einem Streit kehrt Dorothy traurig nach London zurück. Hier erfährt die begabte Illustratorin, dass ihre Lieblingsautorin ein Titelbild bei ihr in Auftrag geben will. Völlig sprachlos ist Dorothy, als sie dann Thomas bei ihrem Verleger trifft. Er beichtet Dorothy, dass er unter dem Pseudonym Claudia Laurence Romane schreibt, um sein Schloss unterhalten zu können. Mit einem innigen Kuss schließt er Dorothy in seine Arme und gesteht ihr seine Liebe. Geheimnisse soll nun keiner mehr vor dem anderen haben!
1. KAPITEL "Ich werde noch verrückt ... Wenn ich nicht bald hier wegkomme, werde ich noch zur Mörderin an meinem Onkel, dann kannst du mich im Knast besuchen!" Dorothy hielt den Telefonhörer etwas weiter von ihrem Ohr ab. Der Redeschwall ihrer Freundin nervte sie und das schon fünf Minuten lang. Erst als diese kurz Atem holen musste, kam Dorothy auch mal zu Wort: "Mir scheint, du bist bei deinem Onkel nicht allzu gut angekommen, hm?" Jetzt aber legte Christy erst recht los. "Es ist ja nicht nur, dass ich mich entsetzlich langweile. Ich habe das Gefühl, mich in einem schweren Examen zu befinden und dass der Prüfer, mein ach so werter Onkel, es regelrecht darauf anlegt, mich durchfallen zu lassen. Er wird mir bestimmt noch mein Erbe verweigern." Christy neigte zu hochdramatischen Ausbrüchen, sie war nicht umsonst Schauspielerin. Deshalb nahm Dorothy ihre Drohungen nicht sehr ernst, zumal Christy sonst immer ziemlich vernünftig handelte und bestimmt wusste, was auf dem Spiel stand. Zweifellos aber war dieser Thomas Bennett, das glaubte auch Dorothy, ein Scheusal. "Du musst doch nur noch einen Monat bis zu deinem Geburtstag durchhalten", tröstete sie die Freundin. Aber Christy verbesserte Dorothy sofort: "Es sind noch genau drei Wochen und fünf Tage." Und mit der Stimme einer Jeanne
d'Arc fuhr sie fort: "Zeit genug, um ihn umzubringen, die Leiche zu verscharren und in die Karibik zu fliehen!" Dorothy lachte kurz auf. Seit einer Woche hielt sich Christy bei ihrem Onkel im Lake District auf. Im Verlauf ihres Besuchs musste sie ihn davon überzeugen, dass sie reif genug war, ein Vermögen zu verwalten. Ihre Eltern waren vor drei Jahren tödlich verunglückt und seither kümmerte sich der Onkel um ihr Erbe. Laut Testament lag die Entscheidung bei ihm, ob Christy mit einundzwanzig oder erst mit fünfundzwanzig Jahren über ihr Geld verfügen konnte. Deshalb musste Christy kurz vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag einen guten Eindruck auf ihn machen. "Ist er denn so schlimm?", fragte Dorothy. "Er ist altmodisch und verknöchert und schreibt den ganzen Tag an seinen Geschichtsbüchern, die sowieso keiner lesen wird." "Da bin ich nicht so sicher", widersprach Dorothy. "Ich finde sein Buch über die Römer packend und gut." "Bei Büchern hast du ja deine eigenen Ansichten", erwiderte Christy trocken. "Ich weiß noch, wie du einmal eine halbe Stunde damit verbracht hast, ein Kinderbuch zu studieren." Dorothy erinnerte sich noch genau an diesen Vorfall. Das Buch hatte sie damals begeistert. "Ich wollte nur genau wissen, ob es für ein fünfjähriges Mädchen geeignet war", verteidigte sie sich. "Ich nehme an, es war für eines deiner Patenkinder bestimmt", vermutete Christy. "Wie viele hast du eigentlich inzwischen?" "Sechs", erklärte Dorothy stolz. "Und falls es dich interessiert, Sarah hat das Buch in eine m Zug durchgelesen." "Im Augenblick interessiert mich nur noch, wie ich hier fortkomme", jammerte Christy. "Wenn mein Onkel nicht arbeitet, liest er wissenschaftliche Bücher. Und Castle Haven ist ein riesiges, altes Schloss. Die dicken Mauern sind nicht warm
zu kriegen. Es liegt inmitten von Seen und Bergen. Ich komme mir hier vor wie in einem überdimensionalen Kühlschrank", fügte sie mit einem Schauder in der Stimme hinzu. "Hast du jemals davon gehört, dass jemand im Juni im Haus eine Strickjacke tragen muss?" "Dein Onkel lebt auf einem Schloss?", fragte Dorothy erstaunt. "Dorothy, es ist nur ein zugiger alter Kasten", meinte Christy abwertend. "Es ist sehr einsam hier. Ich habe noch keinen Menschen kennen gelernt. Stell dir vor, gestern bin ich um halb zehn ins Bett gegangen. Um halb zehn!", wiederholte sie mit Betonung. Das war wirklich ungewöhnlich, denn Christy war ein Nachtmensch. Sie pflegte erst abends richtig wach zu werden. Dorothy begriff immer mehr, dass die Situation für Christy wirklich ernst war. "Wie soll ich meinen Onkel davon überzeugen, dass ich erwachsen und verantwortungsvoll genug bin, mit meinem Geld umzugehen, wenn ich gleichzeitig der Versuchung erliege, ihn zu erdrosseln?", jammerte Christy nun wieder mit Bühnenstimme. Diesmal unterdrückte Dorothy ihr Lachen. "Das spürt er natürlich irgendwie", meinte sie ernst. "Er hält mich schon deshalb für leichtsinnig, weil ich das College verlassen habe, um auf die Schauspielschule zu gehen", erklärte Christy besorgt. Dorothy war empört. "Was, er hält dich schon deshalb für leichtsinnig? Was müsste er dann erst von mir denken!" "O je, es hat zum Essen gegongt", rief Christy aufgeregt. "Ich muss Schluss machen." Dann, mit schulmeisterlicher Stimme den Onkel nachahmend: "Ich hasse Unpünktlichkeit. Versuch, dir etwas auszudenken, was ich als Ausrede benutzen kann, um nach London zurückzufahren", flehte sie verzweifelt, "ehe ich völlig verrückt werde."
Nachdenklich legte Dorothy den Hörer auf. Vor sich hin grübelnd, bereitete sie ihr Abendessen zu: Sardinen auf Toast. Fisch schmeckte ihr so gut, dass sie ihn am liebsten morgens, mittags und abends essen würde. Zwei Katzen und ein Hund starrten sehnsüchtig auf ihren Teller und sie müsste acht geben, dass sie nichts stibitzten. Dorothy sah sich in der gemütlich eingerichteten Wohnung der Freundin um. Sie war Christy dankbar dafür, dass sie während ihrer Abwesenheit hier wohnen und die Tiere versorgen durfte. Glücklicherweise brauchte sie nicht so früh ins Bett zu gehen wie Christy. Ihr war es nie langweilig. Sie holte ein reichlich mitgenommenes siebenhundert Seiten dickes Buch aus ihrem prall gefüllten Rucksack, kuschelte sich in die Sofaecke und vergaß über dem historischen Abenteuerroman ihrer Lieblingsautorin ganz schnell die aufregende Gegenwart. Sie hatte das Buch schon ein paarmal gelesen, aber Claudia Laurence verstand es, eine Geschichte so hinreißend zu schreiben, dass man sie immer wieder lesen und jedesmal etwas Neues entdecken konnte. Auf Seite zweihundertundeins wurden Dorothy die Augenlider schwer und sie ging kurz entschlossen ins Bett. Kaum war sie eingeschlafen, da klingelte das Telefon auf dem Nachttisch. Sie setzte sich erschrocken auf und tastete schlaftrunken nach dem Hörer. "Ich habs", flüsterte eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sicher ein obszöner Telefonanruf, ging es Dorothy durch den Kopf. "Dann wissen Sie ja auch, was Sie dagegen tun können", entgegnete sie und wollte den Hörer auflegen. "Dorothy! Leg nicht auf!" Der Ausruf ließ sie verblüfft inneha lten. Anonyme Anrufer wussten gewöhnlich nicht, wie ihr Opfer hieß.
Plötzlich kam ihr die Stimme auch bekannt vor. Richtig: Es war Christy! Aber warum rief sie um Viertel nach sechs morgens an? Dorothy lehnte sich in die Kissen zurück und strich sich das lange Haar aus dem Gesicht. "Bist du 's, Christy?", fragte sie gähnend. "Natürlich bin ich es", zischte die Stimme der Freundin. "Wer sollte dich sonst um diese Zeit anrufen?" Darauf antwortete Dorothy nicht. "Warum flüsterst du?", fragte sie. "Damit mich niemand hören kann, du kluges Kind!" Dorothy war zu müde, um zu begreifen. "Warum soll dich niemand hören?" "Weil es erst sechs Uhr früh ist." Vor Ungeduld sprach Christy plötzlich laut und ärgerte sich gleich darauf hörbar. "Warum tust du es dann?", hakte Dorothy nach. "Weil ich mir einen ganz tollen Plan für meine Flucht aus diesem Gefängnis hier ausgedacht habe", sagte Christy nun auftrumpfend. "Gratuliere", meinte Dorothy trocken. "Hättest du mir dein Geheimnis nicht zu einer christlicheren Tageszeit anvertrauen können?" "Nein, denn du musst mir helfen." "Aha. Ich soll vermutlich eine Feile in einen Kuchen einbacken und ihn dir dann schicken?" Christy fand das gar nicht komisch. "Kannst du nicht einmal dann ernst sein, wenn ich in Schwierigkeiten bin?" "Entschuldige bitte. Ich soll dir also helfen, diesem alten verknöcherten Thomas zu entkommen? Sprich weiter, du hast meine volle Aufmerksamkeit." Christy bezweifelte das zwar, dennoch erklärte sie ihren Plan. "Du warst es übrigens, die mich auf diese Idee gebracht hat." Vor Begeisterung sprach sie schon wieder zu laut und senkte schnell die Stimme: "Ich denke, niemand kann mich für
verantwortungslos halten, angesichts der Tatsache, dass ich Tag und Nacht für meinen Beruf büffle, seit Jahren bescheiden hause, meine süßen Tiere pflege und ..." "Was solls, kannst du endlich zum Wesentlichen kommen?", fragte Dorothy ungeduldig. Sie war schließlich müde. "Natürlich. Das Problem liegt genau anders herum: Ich muss meinem Onkel keineswegs nachweisen, wie reif und verantwortungsbewusst ich bin, sondern ..." "Nein?" Dorothy wunderte sich. Sie hatte bisher angenommen, Christy wollte diesem ungläubigen Thomas gerade das beweisen. "Nein", versicherte Christy ungeduldig. "Ich muss ihm vielmehr klarmachen, dass ich nicht leichtsinnig bin." Christys Stimme klang triumphierend, aber Dorothy konnte der Argumentation der Freundin nicht folgen und schwieg deshalb. "Dorothy, du bist doch nicht etwa eingeschlafen?", empörte sich Christy. "Aber nein", beruhigte Dorothy. "Schrei nicht so, du weckst das ganze Haus auf", erinnerte sie Christy und fuhr dann fort: "Ich will nicht unfreundlich sein, aber ich verstehe nicht, was an diesen paar Wochen so schrecklich sein soll." "Gleich wirst du es verstehen." "Wie meinst du das?", Dorothy war jetzt hellwach. "Was hast du vor?" fragte sie argwöhnisch. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass ihr Christys Idee nicht gefallen würde. "Wer hat dir die Wohnung überlassen?", fragte Christy. "Wer passt auf deine Tiere auf?", konterte Dorothy. "Wer hat dir mitten in der Nacht das Fenster zum Schlafsaal der Schule geöffnet, damit du unbemerkt hineinklettern konntest?" "Wer hatte vergessen, die Tür aufzuschließen und mich dazu gezwungen?", erinnerte Dorothy.
"Also gut", gab Christy ungeduldig nach. "Das war mein Fehler, aber er hat dich davor bewahrt, die Nacht im Gefängnis zu verbringen, nachdem die Polizei dich in jenem illegalen Spielklub verhaftet hatte?" "Du weißt ganz genau, dass ich mich einem Reporter zur Verfügung ge stellt habe, der einen Artikel über illegales Glücksspiel in unserer Stadt schreiben wollte", protestierte Dorothy. "Aber wer hat die Polizei davon überzeugt? Und wer hat dich dort herausgeholt, bevor die Zeitungen davon erfuhren und dein Bild veröffentlicht wurde?", spielte Christy ihren letzten Trumpf aus. "Du", gestand Dorothy mühsam. "Und seither stehe ich also in deiner Schuld, so meinst du es doch?" "O nein, Dorothy." Christy war schockiert. "Ich verlange nicht von dir, dass du eine Schuld bezahlst. Ich wollte dich nur daran erinnern, dass wir wirklich Freundinnen sind und uns schon immer geholfen haben." Dorothy lächelte nachsichtig. Sie konnte sich gut vorstellen, wie verletzt Christy jetzt dreinschaute. In solchen Augenblicken bekamen ihre großen blauen Augen einen besonderen Glanz. Dorothy seufzte ergeben auf. "Was soll ich machen?" "Komm hierher und ..." "O nein", protestierte Dorothy und hatte schon das schlimme Bild vor sich, wie Christys alter Onkel auch sie um halb zehn Uhr ins Bett schickte. Das erinnerte sie fatal an ihre Kindheit. Alles in ihr wehrte sich dagegen. "... und zeig meinem Onkel, wie sich eine verantwortungslose Frau wirklich verhält", sagte Christy triumphierend und entschlossen, jeden weiteren Einwand einfach zu überhören. "Vielen Dank für das Kompliment." "Tu nicht so, als wärst du böse", schalt Christy. "Du stehst doch zu deinem Lebensstil, oder? Du bist froh, dass du kein festes Zuhause und kein geregeltes Einkommen hast und dass
dir nichts gehört außer den Dingen, die du in diesem unmöglichen Rucksack mit dir herumträgst." "Ich gebe zu, ich reise nicht gern mit viel Gepäck ..." "Das ist das Stichwort: Reise!", spottete Christy. "Ich kenne niemanden, der einen so abgewetzten Reisepass besitzt wie du. Du verkörperst überhaupt all das, was mein Onkel für leichtsinnig hält. Du lässt dich treiben, wohnst so oft wie möglich bei Freunden und niemand weiß, wo du dich in der Zwischenzeit aufhältst." Christys Stimme klang missbilligend, so als ahme sie bereits den verstaubten alten Onkel nach. Ähnliche Worte hatte Dorothy oft genug von ihrem Vater gehört. Einmal hatte sie Christy mit nach Haus gebracht, sozusagen als Verstärkung. Aber nicht einmal ihre Anwesenheit hatte den Vater davon abgehalten, die gleiche Predigt herunterzuleiern. Offensichtlich hatte Christy diese "Ansprache" nicht vergessen. "Von unserer langjährigen Freundschaft braucht mein Onkel ja nichts zu erfahren. Wir können ihm sagen, du seist eine alte Schulkameradin von mir, die gerade zufällig in der Gegend herumbummelt", schloss Dorothy ironisch. "Genau", stimmte Christy eifrig zu. "Natürlich bin ich trotzdem deine Freundin", verteidigte sie sich dann. "Wir beide wissen, dass alles andere dummes Geschwätz ist. Du bist großzügig, hilfsbereit, selbstlos ..." "Das reicht", unterbrach Dorothy schmunzelnd. "Wann soll ich als deine alte Bekannte auf den Stufen des Schlosses stehen und die Prinzessin um allergnädigste Aufnahme bitten?", fragte sie. "Heute!", platzte Christy heraus. Das hatte Dorothy erwartet, sonst hätte die Freundin sie nicht in aller Herrgottsfrühe angerufen. "Und wer wird auf deine Haustiere aufpassen, wenn ich weg bin?" "Lucas von nebenan wird das übernehmen." Damit war für Christy das Problem gelöst. "Sie mögen ihn und er hat es schon
öfter gemacht." Nach kurzer Pause fügte sie hinzu: "Wenn du meinen Hund und meine Katzen so wenig leiden magst, wie kommt es dann, dass sie jedesmal maßlos verwöhnt sind nach deiner Fürsorge? Letztes Mal haben Gladys und Josephine eine Woche lang im Schrank nach Sardinen geschnüffelt und ich möchte wetten, Henry liegt im Augenblick bei dir im Bett" Schuldbewusst sah Dorothy ans Fußende des Bettes, wo der junge Terrier, alle viere von sich gestreckt, schlief. "Er fühlt sich nachts in der Küche einsam", verteidigte sie sich. "Wenn er mich mit seinen treuen goldbraunen Augen ansieht, kann ich einfach nicht anders." "Braune Augen und Einsamkeit sind noch lange kein Grund, ihn mit ins Bett zu nehmen. Er ..., o Schreck, ich glaube, ich habe jemanden gehört", Christy flüsterte wieder schlagartig. "Bis später, okay?" Dorothy war überhaupt nicht von der Tatsache entzückt, noch am selben Tag in den Lake District fahren zu müssen. Die gute und gerissene Christy erwartete also von ihr, dass sie eine Herumtreiberin würde. Ob das wohl gut gehen würde? So genial war Christys Plan keineswegs. Es war sicher nicht leicht, dem Onkel, diesem alten Griesgram, vorzuspielen, dass sie und Dorothy sich nur oberflächlich von früher kannten. Dabei waren sie seit zwölf Jahren innig miteinander befreundet. Ob sie dieses Spiel ohne den kleinsten Ausrutscher durchhalten konnten? Mit sorgenvollen Kummerfalten auf der Stirn ließ sich Dorothy ins Bett zurückfallen. Vor diesem Abenteuer musste sie wenigstens noch etwas schlafen. Und sicherlich würde es auch nicht ganz leicht sein, den guten Lucas von nebenan so schnell für die Tierpflege anzuheuern. Es war schon helllichter Tag, als Dorothy endlich die letzten Sachen samt dem heißgeliebten Schmöker in den Rucksack stopfte. Sie war zwar das Trampen per Anhalter gewohnt, aber
in letzter Zeit war dieser Reisestil gefährlich geworden. Deshalb nahm sie den Zug. Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle. Auf dem kleinen Bahnhof erklärte ihr ein netter, sommersprossiger Bahnhofsvorsteher den Weg bis zum Schloss, das etwa acht Meilen entfernt lag. Castle Haven musste zuerst einmal zu Fuß erobert werden. Dorothy hatte schon viel vom berühmten Lake District gehört. Sie war also durchaus auf die schöne Landschaft vorbereitet, keineswegs aber auf diese Szene, die sich nach etwa sechs Meilen Fußmarsch vor ihr abspielte. Sie traute zunächst ihren Augen nicht: Wenige Meter vor ihr tummelte sich fröhlich und ungeniert ein nackter Mann in einem kleinen See! Auf einem kleinen Hügel am Weg setzte sich Dorothy ins Gras und blickte erstaunt und lächelnd zum See hinüber. Der Mann stieg jetzt das Ufer herauf und strich sich mit beiden Händen das Wasser aus dem Haar. Er sah gut aus. Obwohl er groß und muskulös war, bewegte er sich geschmeidig wie ein schönes Tier. Sein Körper war gleichmäßig gebräunt, was sein blondes Haar noch heller erscheinen ließ. Er besaß breite Schultern wie ein guter Schwimmer, während seine Hüften schmal wie die eines Jünglings waren. Dorothy spielte gedankenverloren mit einem Grashalm, neigte den Kopf zur Seite. Apoll konnte nicht schöner gewesen sein! Der Mann streckte sich nun im Gras aus und genoss sichtlich die Sonne. Langsam machte sich Dorothy wieder auf den Weg. Christy wartete sicher schon! Auf den letzten zwei Meilen pfiff Dorothy fröhlich vor sic h hin. Immerzu musste sie an jenen Mann denken. Die Welt schien ihr plötzlich so schön und verlockend. Vielleicht wohnte der Fremde in der Nähe und Christy wusste, wer er war. Aber hatte sie nicht gesagt, dass sie noch niemandem begegnet war? Schade, sie, Dorothy, wäre dem
griechischen Gott gern wieder begegnet. Auch hätte sie ihn recht gut in ihren Spiel einer oberflächlichen und leichtsinnigen Frau, die gleich beim ersten Auftauchen einen Frauenhelden mitbringt, brauchen können. In ihren alten geflickten Jeans und dem verwaschenen T-Shirt machte sie einen genügend heruntergekommenen Eindruck. Ihr langes, blondes, gewelltes Haar war im Nacken zu einem Zopf geflochten, stets aber machten sich einige Strähnen selbständig und gaben ihrer Frisur einen willkommenen zerzausten Eindruck. Sie hatte ein hübsches Gesicht, grüne Augen, sie war zierlich und schlank und besaß einen festen, vollen Busen. Ohne Zweifel stellte sie für den alten Bennett in seinem alten Schloss einen recht ungewöhnlichen Gast dar. Castle Have n sah genau so aus, wie Christy es beschrieben hatte. Mitten in einer sanften Hügellandschaft stand das graue Schloss. Im Gegensatz zu ihrer Freundin fand Dorothy es großartig und sie war schon neugierig auf seine Geschichte. Natürlich durfte sie das nicht zeigen, da so viel Geschichtsinteresse nicht zu ihrer Rolle passte: Sie musste dem strengen Onkel ja laufend beweisen, wie oberflächlich und ungebildet die heutige Jugend doch war - im Gegensatz zu seiner wunderbaren Nichte ! Thomas Bennett war ein bekannter Historiker. Dorothy hatte viele seiner Bücher gelesen und dieses Schloss passte so recht zu ihm. Es machte einen gut erhaltenen und gepflegten Eindruck. Geschichtsbücher zu schreiben war anscheinend ein einträgliches Geschäft. Dorothy zog an der Klingelschnur und nach einiger Zeit öffnete ein alter Butler mit schneeweißem Haar die Tür. Mit ausdruckslosem Gesicht und doch spürbar missbilligend betrachtete er die Person auf der Türschwelle vor ihm. Sicher ist er so alt wie das Schloss, überlegte Dorothy. Oder ist er gar Thomas Bennett persönlich? Vielleicht reicht das Honorar, das
er für seine Bücher bekommt, nicht aus, um einen Butler zu halten. "Hallo", grüßte sie und lächelte strahlend. "Mein Name ist Dorothy James und ich ..." "Das Schloss ist nicht zu besichtigen, Miss James", sagte der Mann eisig. Dorothy wollte gerade höflich erklären, dass sie eine Freundin von Christy sei, aber das herablassende Verhalten des alten Mannes reizte sie. "Schade", brummte sie. "Sie könnten glatt Tausende von Menschen hier herumstiefeln sehen." Unschuldig blickte sie in sein entsetztes Gesicht. Voll Abscheu zog er die Brauen hoch. "Ich zeige Ihnen, wie Sie zur Hauptstraße zurückfinden." "Aber dahin will ich nicht!" "Sie befinden sich hier auf privatem Boden, Miss James, und..." "Ich möchte Christy Bennett besuchen", erklärte sie fröhlich. "Sie wollen zu Miss Christy?" Jetzt verlor der Alte vollends die Fassung. Nicht einmal vorstellen konnte er sich, dass Miss Christy eine solche Person überhaupt kannte. Er war also doch der Butler. Dorothy nahm sich nun zusammen, denn sie war hergekommen, um Thomas Bennett zu schockieren und nicht, um den ganzen Haushalt in Aufruhr zu versetzen. Sie schenkte dem Butler ihr bezauberndstes Lächeln, mit dem sie schon immer viel erreicht hatte und tatsächlich, diesmal war sie besonders erfolgreich damit: Der Butler öffnete weit die schwere Eichentür und bat sie, hereinzukommen. "Ich werde Miss Christy sagen, dass Sie hier sind", erklärte er und bedeutete Dorothy, in der Halle zu warten. "Das ist nicht mehr nötig, Fredericks", erklang Christys Stimme in diesem Augenblick von oben. Aufgeregt kam sie die Treppe herunter und fiel Dorothy mit einem Seufzer der Erleichterung um den Hals.
Dorothy drückte die Freundin an sich und erkannte sofort, dass diese ziemlieh fertig war. Da sie jedoch nicht allein waren, flüsterte sie Christy ins Ohr: "Nicht so herzlich, bitte!" Christy verstand sofort. Sie ließ die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. Glatt und höflich erklärte sie: "Dorothy, wie nett, dic h einmal wiederzusehen." Das klang ganz nach der üblichen verlogenen Floskel, mit der Gastgeber einen ungebetenen Besucher begrüßten, aber Christys Augen funkelten dabei vor Vergnügen. "Es ist gut, Fredericks", wandte sie sich an den Butler. Christy war eine schöne Frau. Sie hatte braunes Haar, große braune Augen und die Figur eines Mannequins. Auf ihr gutes Aussehen bildete sie sich jedoch nichts ein, betrachtete es eher als brauchbare Grundlage für eine Schauspielerkarriere. Christy nahm ihren Beruf viel zu ernst, um sich nur auf ihr Äußeres zu verlassen. Endlich waren sie allein in der Halle. Lächelnd standen sich die beiden Freundinnen gegenüber. "Ich hatte solche Angst, du würdest nicht kommen", sagte Christy und atmete tief durch. "Umzug ist Umzug, ,auch wenn ich nur einen Rucksack habe", erklärte Dorothy, "aber nun bin ich hier. Wie könnte ich jemand im Stich lassen, der mich vor dem Knast bewahrt hat, hm?" Christy wurde verlegen. "Ich wollte doch nur ..." "Was ist hier los?" Auch ohne den erschreckten Ausdruck in Christys Gesicht wusste Dorothy sofort: Der Mann, der unbemerkt durch eine Seitentür in die Halle getreten war, musste der gefürchtete Thomas Bennett sein! Er sagte es ruhig, aber immer noch so gebieterisch, dass kein Zweifel darüber aufkommen konnte, wer hier der Herr im Haus war. "Onkel Thomas." Christy hatte sich wieder gefangen. Sie ging zu ihrem Onkel, der im Halbdunkel unter der Treppe stand.
"Erinnerst du dich, dass ich dich gefragt habe, ob eine ehemalige Mitschülerin mich hier besuchen darf?" Erstaunt sah Dorothy sie an. Sie hatte ihrem Onkel ihr Kommen angekündigt? Dann durfte sie, Dorothy, nicht "zufällig" in dieser Gegend aufgetaucht sein? Das entsprach nicht der Abmachung. Offenbar hatte Christy die abgesprochene Geschichte ohne Vorwarnung geändert. Doch Unsicherheit konnte sich Dorothy jetzt am wenigsten leisten. Denn jetzt trat der Onkel aus dem Schatten der Treppe heraus. Er trug eine ausgebeulte Kordhose, ein helles, zerknittertes Hemd und eine zu weite Tweedjacke. Diese Kleidung passte genau zu einem gelehrten Professor. Dann aber durchzuckte Dorothy eine Riesenüberraschung: Der "alte Onkel" hatte hellblondes Haar und braune Augen und unter seiner schlecht sitzenden Kleidung verbarg sich der griechische Gott, den sie vor einer halben Stunde noch beim Nacktbaden beobachtet hatte!
2. KAPITEL Hatte dieser Mann etwa einen Zwillingsbruder? Diese Idee war zu verrückt, außerdem wusste Dorothy von Christy, dass Thomas Bennett ihr einziger noch lebender Verwandter war. Auch ein Doppelgänger kam nicht in Frage. Es gab also nur eine Erklärung: Thomas Bennett und Dorothys griechischer Gott waren ein und dieselbe Person! Wer hätte gedacht, dass sich unter dieser miserablen Kleidung ein so schöner Körper verbarg? Auf keinen Fall ahnte Christy etwas davon, sonst hätte sie ihren Onkel nicht "altmodisch und verknöchert" genannt. Dorothy hatte aus den Berichten der Freundin den Eindruck gewinnen müssen, dass Thomas Bennett schon recht alt war. Er war jedoch höchstens Mitte Dreißig. Vielleicht kam er Christy nur deshalb alt vor, weil er ihr Onkel war. Dorothy jedenfalls wusste es genau: Dieser Mann war weder alt noch vertrocknet, sondern kräftig, männlich und schön. Christy hatte ihn natürlich noch nie nackt gesehen und so angezo gen, wie er herumlief, entsprach er genau den allgemeinen Vorstellungen von einem geistesabwesenden, schlampigen Professor. Dabei war sein Gesicht noch schön, wenn er streng blickte wie jetzt, eine senkrechte Linie zwischen Mund und Kinn deutete auf Energie. Seine Augen waren braun, das helle Haar, das vorher noch in nassen Locken in die Stirn fiel, war jetzt ordentlich zurückgekämmt. Es fehlen eigentlich
nur noch ein düsteres Studierzimmer, eine hohe Bücherwand und eine schwelende Pfeife, dachte Dorothy, und der Professor wird glaubhaft. In diesem Augenblick griff er in die ausgebeulten Taschen seiner Tweedjacke und zog tatsächlich eine Pfeife heraus. Kaum hatte er sie zwischen die Zähne gesteckt, tastete er sämtliche Taschen ab, um die Streichhölzer zu finden. Der Professor stimmte also. Schlimm war nur, dass Dorothy das schöne Bild des nackten Apoll nicht vergessen konnte, wie er aus dem Wasser stieg, wie er entspannt in der Sonne lag. Sie wollte dieses Bild auch gar nicht vergessen. Wenn sie genau hinscha ute, entdeckte sie noch jetzt mehrere feuchte Strähnen hinter seinem Ohr. Dieser Mann konnte sie wohl verwirren, aber nicht ängstigen, wie es offensichtlich Christy erging. Jetzt kam es jedoch darauf an, sich schnell etwas einfallen zu lassen für die miese Rolle, die Christy ihr zugedacht hatte. Sie durfte also nicht "zufällig" vorbeigekommen sein, was aber dann? "Die Arme", sagte Christy gerade zu ihrem Onkel. "Als Dorothy mir erzählte, sie wüsste nicht, wo sie hingehen sollte ..." Sie schüttelte traurig den Kopf. Dorothy fing Thomas Bennetts kühl prüfenden Blick auf. Sie fand, Christy trug ein bisschen dick auf, um Onkel Thomas zu zeigen, wie nett und hilfsbereit sie doch war. Die schäbige Rolle der Schmarotzerin, die sie hier aus Freundschaft spielte, gefiel Dorothy gar nicht. Unter anderen Umstanden hätte sie sich gefreut, diesen Mann kennen zu lernen, und hätte so viele Fragen an ihn auf dem Herzen gehabt. Sie lächelte Thomas Bennett an, wich aber sofort wieder seinem Blick aus, um ein schlechtes Gewissen zu simulieren. "Christy ist immer so freundlich", sagte sie. Es war ihr immer noch nicht ganz klar, worauf das alles hinauslaufen sollte.
Thomas Bennett schaute sie abweisend und fast verächtlich an. "Freundlichkeit ist nicht immer weise", erklärte er kalt. "Manchmal ist es besser, grausam zu sein." "O nein, Onkel Thomas", protestierte Christy und sah ihn unschuldig an. "Ich sagte dir doch, ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass Dorothy irgendwo auf einer Parkbank übernachten muss." Die letzten Worte sprach sie nur zögernd aus, so als erschüttere sie die bloße Vorstellung. Dorothy konnte es kaum fassen, dass Christy und ihr Onkel diese Möglichkeit ernstlich erwogen. Sie half der Freundin gern, aber dies ging ein bisschen weit. Schließlich hatte sie Christy ja auch einen Gefallen getan, indem sie ihre drei Tiere versorgte. Sie hätte genauso gut anderswo hingehen können. Dieser Thomas Bennett blickte immer verächtlicher, er glaubte seiner Nichte offensichtlich jedes Wort. "Ich wäre schon noch irgendwo anders untergekommen, wenn du mich nicht aufgenommen hättest", sagte Dorothy mit warnendem Unterton. Christy überspannte einfach den Bogen. "Davon bin ich überzeugt", mischte sich Thomas Bennett wieder ein, "aber meine Nichte möchte einer ehemaligen Schulkameradin gern behilflich sein." Christy blühte nur so auf bei diesem Lob. Sie strahlte selbstzufrieden. Dorothy hätte sie schütteln können! Nun wurde sie, Dorothy, auch noch zur wohnungslosen Herumtreiberin gemacht. Sobald Dorothy mit Christy allein war, wo llte sie ihr deutlich zu verstehen geben, was sie von diesem Plan hielt. Ihr Lebensstil war zwar ungewöhnlich, aber sie nutzte niemanden aus. Es gefiel ihr gar nicht, dass Thomas Bennett diesen Eindruck von ihr bekommen musste. Sonst machte sie, sich nichts daraus, was andere von ihr dachten, aber jetzt war dies plötzlich anders. "Da dies im Augenblick das Heim meiner Nichte ist", fuhr er fort, "möchte ich Sie gleichfalls einladen, bei uns zu wohnen",
fügte er herablassend hinzu. "Jetzt möchte ich mich jedoch zurückziehen, Christy, Miss ..." "James", ergänzte Dorothy. "Dorothy James." Christy hatte ihm also doch nicht alles erzählt. "Miss James", wiederholte er gelangweilt. Es war ihm endlich gelungen, seine Pfeife anzuzünden. "Ich lasse Sie nun allein. Es gibt sicher viel zu erzählen." "Onkel Thomas hat heute Nachmittag Vögel beobachtet", berichtete Christy bedeutsam. Dorothy bekam plötzlich einen Hustenanfall, dass sie nur so nach Luft schnappte. Tränen rannen ihr über die Wangen. Vögel beobachtet! Nannte man das jetzt so? Ein einsamer neugieriger Vogel hatte höchstens ihm zugeschaut! "Es geht schon wieder", japste sie schnell, als sie wieder sprechen konnte, denn Christy wollte nicht aufhören, ihr auf den Rücken zu klopfen. "Wirklich, Christy, es ist alles in Ordnung." Ergeben hob sie die Hände, denn ihre Freundin sah sie zweifelnd an. "Die Erwähnung von Vogelkunde scheint eine außergewöhnliche Wirkung auf Sie zu haben", stellte Thomas Bennett fest, nachdem Dorothy sich wieder beruhigt hatte. Sie nahm sich zusammen und schaute ihn erstaunt an. "Ganz und gar nicht, Professor Bennett, im Gegenteil, gerade deshalb bin ich zu spät hier angekommen, weil ich selbst einen Vogel beobachtet habe." "Wirklich", fragte er ein wenig zu scharf. Er glaubte wahrscheinlich, dass ihr Interesse vorgetäuscht sei, um sich bei ihm einzuschmeicheln. "O ja", bestätigte sie. "Christy weiß, dass ich gern Vögel beobachte." Christy sah sie warnend an. "Ich kenne deine Gepflogenheiten nicht so gut, Dorothy", bemerkte sie. "Wir haben uns schließlich sehr lange nicht mehr gesehen. Wie viel Jahre ist es jetzt her?"
Dorothy fand das Verhalten ihrer Freundin nicht sehr geschickt. Der Professor machte zwar, wie es sich gehörte, einen" zerstreuten Eindruck, aber dumm war er ganz bestimmt nicht. Sie mussten gut aufpassen, um sich nicht zu verraten. "Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben", erwiderte sie nachdenklich, "aber so lange ist es nun auch nicht her." Christy lachte affektiert auf. "Seit unserer Schulzeit ist Dorothy so viel herumgekommen, dass sie gar nicht gemerkt hat, wie die Zeit verging", belehrte sie den Onkel. "Komm, Dorothy, ich zeige dir dein Zimmer", lenkte sie dann ab und zog ein Gesicht, um deutlich zu machen, welch lästige Pflicht ihr das war. Sie drückte Dorothys Arm so kräftig, dass er schmerzte. Dorothy bemühte sich trotzdem, den Professor anzulächeln. "Haben Sie vielen Dank für Ihre freundliche Einladung", sagte sie höflich. Sein Blick sagte ihr, dass er nichts dagegen hätte, wenn sie doch auf einer Parkbank schliefe. Es war klar, er nahm sie nur seiner Nichte zuliebe auf. Er zog verbissen an seiner Pfeife, nickte kurz, drehte sich um und ging die Treppe hinauf. Sofort wandte Dorothy sich an Christy. "Was glaubst du ..." "Pst!", warnte die Freundin und sah sich vorsichtig um. "Wir können im Zimmer miteinander reden", flüsterte sie. Sie schien sehr nervös zu sein und Dorothy befürchtete, ihr Zustand würde sich weiter verschlimmern, wenn sie ihr erst gesagt hatte, dass sie ihren verrückten Plan für undurchführbar hielt. Warum nur hatte sie nicht vorher mit Christy sprechen können, bevor sie den Onkel kennen lernte! Nun ließ sich an der einmal eingeschlagenen Strategie kaum mehr etwas ändern, dabei war sie jetzt schon sicher, dass etwas schiefgehen musste, auch wenn Christy da ganz anderer Meinung war. Fredericks tauchte plötzlich wieder in der Halle auf und Dorothy hatte große Mühe, ihn davon zu überzeugen, dass sie
ihr "Gepäck" selbst tragen konnte. Dann stieg sie mit Christy zusammen die breite Marmortreppe empor. "Bis jetzt ist nur der Ostflügel bewohnbar", erklärte Christy. "Die übrigen Zimmer sind ständig verschlossen. Onkel Thomas lässt sie nach und nach renovieren, so wie eben das Geld hereinkommt. Er muss ziemlich gut verdienen, um das Schloss erhalten zu können", fügte sie leise hinzu. "Was er bisher hat machen lassen, ist wunderschön", fuhr sie mit normaler Stimme fort, damit der Professor sie hören sollte. Dorothy durchschaute das sofort. Wirklich, es gab keine Rolle auf dieser Welt, die Christy nicht glänzend gespielt hätte, und doch - so dachte Dorothy hätte sie am besten abgeschnitten, wenn sie nur ganz einfach sie selbst geblieben wäre. Die Renovierungsarbeiten waren mit sicherem Stilgefühl durchgeführt worden, der überholte Flügel sah so schön aus wie wohl damals als Neubau im fünfzehnten Jahrhundert. Aber diese Stiltreue hatte auch Schattenseiten: Thomas Bennett verzichtete sogar auf den Einbau einer Zentralheizung. Dorothy zitterte vor Kälte. Hoffentlich mussten sie nicht auch noch das Wasser vom Brunnen in Eimern herauf schleppen. Dorothy sehnte sich sehr nach einem warmen Bad. "Du hast das Zimmer neben meinem", sagte Christy und öffnete eine schwere Eichentür. Vom ersten Augenblick an war Dorothy von ihrem Zimmer begeistert. Ein wunderschöner Gobelin mit Jagdszenen hing an der einen Wand, an der anderen stand ein riesiges Himmelbett mit Brokatvorhängen. Durch hohe, schmale Fenster konnte man weit hinaus auf grüne Hügel, auf Berge und Seen blicken. Dorothy entdeckte gleich den kleinen Buckel, hinter dem jener See lag, in dem der unonkelhafte Thomas gebadet hatte. Vielleicht gehörte er noch zum Schloss. Sie blieb wie gebannt am Fenster stehen und dachte an den überraschenden Zwischenfall am See.
Dann sah sie sich weiter um. Sie war froh, nebenan ein Badezimmer zu entdecken, wenn auch die schönste Badewanne noch lange nicht mit einem Bad im See konkurrieren konnte. "Findest du nicht?" Erschrocken drehte sich Dorothy zu Christy um. Sie war in Gedanken versunken, in Gedanken an kleine Seen und schöne Schwimmer, sodass sie Christy nicht zugehört hatte,. "Ich sagte gerade", wiederholte Christy ungnädig, "dass bis jetzt alles gut gegangen ist, findest du nicht? Es wäre jedoch schön gut, wenn du ein wenig mehr mitspielen würdest." "Christy, ich befürchte, so wie du es dir vorstellst, wird es nicht gehen." Dorothy verdrängte Thomas Bennett aus ihren Gedanken und konze ntrierte sich auf Christy. Sie musste die Freundin davon überzeugen, dass ihr Plan undurchführbar war. "Du versuchst, deinem Onkel weiszumachen, dass ich eine faule Herumtreiberin bin, die auf Kosten anderer lebt", stellte sie fest. "Ich finde aber, du gehst zu weit. Es ist kein Wunder, dass er mich überhaupt nicht mag." "Oh, das hat nichts damit zu tun", versicherte Christy. "Das ist wegen Henry." "Wegen Henry?", wiederholte Dorothy erstaunt. "Welche Rolle spielt dein Hund dabei?" "Eigentlich keine", erklärte Christy lachend. Sie gab sich jetzt recht munter und zuversichtlich. "Was hat das nun wieder zu bedeuten?" Dorothy wurde ungeduldig. Christy konnte das Lachen kaum noch unterdrücken. "Oh, Dorothy, es könnte nicht besser gelaufe n sein, es passt genau zu unserem Plan", rief sie aufgeregt. "Das war keine raffinierte Idee von mir, hier hat Mr. Zufall mitgespielt." "Jetzt aber raus damit. Wovon sprichst du?", fragte Dorothy energisch und verspürte plötzlich ein höchst ungutes Gefühl. Christy machte einen Satz aufs Bett, wo sie sich im Schneidersitz niederließ. "Erinnerst du dich daran, dass ich
heute morgen unser Telefongespräch ganz hastig abschließen musste, weil ich jemanden kommen hörte?" "Ja, ganz schwach", seufzte Dorothy. "Um sechs Uhr früh bin ich nicht besonders aufnahmefähig." "Weißt du, mein Onkel ist um diese Zeit bereits hellwach, das haben Gelehrte so an sich. Er hat die Angewohnheit, schon früh am Morgen und noch vor der Arbeit lange Spaziergänge zu machen. Er kam also daher und fragte mich gleich, mit wem ich telefoniere." Bedeutungsvoll verzog sie das Gesicht. "Ich erklärte ihm, dass du meine Telefonnummer von einer anderen Freundin erfahren und mich eben gefragt hast, ob du mich hier besuchen kannst." Das also war die Vorgeschichte für diese verrückte Planänderung, nach der sie nicht "zufällig" vorbeikommen durfte. "Gut, ich sehe ein, du konntest nicht anders", pflichtete Dorothy der Freundin bei, "obwohl du mich hättest warnen können!" , "Ich war nicht einen Augenblick allein, seitdem wir heute Morgen miteinander gesprochen haben", verteidigte sich Christy beleidigt. "Onkel Thomas bestand darauf, dass ich mit ihm spazieren ging, und als wir zurückkamen, setzte er sich zu mir, und ich musste ein gewaltiges Frühstück verzehren." In Gedanken daran schüttelte sie sich. Normalerweise trank sie morgens nur Kaffee. "Weißt du, er findet, ich esse nicht genug. Dann erklärte er plötzlich, er hätte sich vermutlich zuwenig um mich gekümmert die ganze Zeit über. Also gings wieder los und er zeigte mir die ganze Umgebung. In meinem ganzen Leben habe ich mich noch nie so gelangweilt, Dorothy. Er ist wirklich ..." "Christy, das ist alles sehr interessant", unterbrach Dorothy ungerührt, "aber du hast Henry vergessen." "Henry?" Christy runzelte die Stirn. "Was bloß ... ach so, ja! "Sie brach wieder in Lachen aus. "Onkel Thomas war ehrlich
schockiert, dass du mit einem Mann ins Bett gehst, nur weil er treue blaue Augen hat und sich einsam fühlt." Entsetzt starrte Dorothy ihre Freundin an. "Von welchem Mann sprichst du eigentlich?", fragte sie wie vor den Kopf geschlagen. Christy lachte laut auf. "Weißt du nicht mehr, was du mir am Telefon gesagt hast?" "Ich habe gesagt, dass dein Hund am Fußende meines Bettes schläft", rief Dorothy aus. Sie erinnerte sich noch deutlich. "Willst du damit sagen, dass dein Onkel annimmt, Henry sei ein Mann?", fragte sie ungläubig. "Ja, ist das nicht köstlich?" Oh, verdammt, dachte Dorothy und erwiderte böse: "Gleich fange ich an zu schreien!" "Ach komm, Dorothy, das ist doch echt komisch." "Für mich nicht", wies Dorothy sie zurecht, lächelte aber schon wieder. "Um Henrys willen hoffe ich, dass seine Freundin am Ende der Straße nichts von dieser Unmoral erfährt." "Mir fällt da was ein." Christy tippte sich an die Stirn. "Vielleicht hat das mein Onkel nur deshalb so missfallen, weil er auch braune Augen hat und sich nachts in diesem Mausoleum auch immer so einsam fühlt." Dorothy ging wieder zum Fenster hinüber und blickte verträumt in die Ferne. Deutlich sah sie die haselnussbraunen Augen des Mannes vor sich. Christy fiel dabei nichts Besonderes auf, sie war viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Dorothy seufzte leise. Wie gut, dass Christy andere Dinge im Kopf hatte. Sie war so sehr mit ihrem Kriegsplan, mit ihrer neuesten "Rolle" und ihren "Auftritten" beschäftigt, dass sie wohl deshalb noch nicht gemerkt hatte, wie attraktiv dieser böse Onkel eigentlich war und sie hatte ihn ja auch nicht gesehen wie sie, Dorothy.
Entschlossen drehte sie sich um und kam wieder zurück. "Hättest du deinem Onkel nicht erklären können, dass Henry dein Hund ist?" "Aber nein." Christy klang ungeduldig. "Begreifst du denn nicht, dann hätte er gemerkt, dass du zur Zeit auf meine Tiere aufpasst. Wir haben uns doch seit Jahren nicht mehr gesehen, vergiss das nicht! Außerdem musst du mich heute Morgen angerufen haben, nicht ich dich." "Das habe ich bereits begriffen." Dorothy war unzufrieden. "Mit der Geschichte von der Parkbank hast du dich selbst übertroffen", warf sie der Freundin vor, "aber ich fürchte, dein Onkel hat auch noch mehr von unserem Gespräch mitbekommen, zum Beispiel das Wörtchen "Knast", und da hörts bei mir auf." "Es ist nicht meine Schuld allein", verteidigte Christy sich. "Du hast auch gelogen, als du dich mit dem Namen Dorothy James vorgestellt hast." "So heiße ich doch", erklärte Dorothy fest. "Meinst du, dein Onkel würde uns die ganze Geschichte überhaupt abnehmen, wenn er wüsste, wer mein Vater ist?", fügte sie mit bitterem Spott hinzu. "Du hast Recht." Christy war plötzlich nachdenklich geworden. "Ich habe ihm erzählt, dass deine Familie ihr Vermögen verloren hat, kurz nachdem du aus der Schule gekommen bist. Du hast also ganz richtig geschaltet." Dorothy fühlte sich missverstanden. Hatte sie doch den Namen "James" nicht deshalb angegeben, um Christys alberne Geschichte zu untermauern. Zu gewöhnlichen Zeiten hätte Christy das auch sofort kapiert, nur jetzt nicht in diesem Zustand ständiger Aufregung. Seit Jahren benutzte Dorothy den Namen ihres Vaters nicht mehr, denn sie mochte nicht mit ihm in Verbindung gebracht werden.
"Ich bin froh, es dir recht gemacht zu haben", meinte sie voller Ironie. "Wie sollen wir nun aus diesem Lügennetz wieder herauskommen?" Christy sah verletzt aus. "Also gut, in Zukunft werde ich erst nachdenken, bevor ich rede", versprach sie. "Aber sonst läuft alles bestens. Seitdem ich Onkel Thomas von dir erzählt habe und er die Umstände dieser plötzlichen Einladung kennt, hat er nicht einmal mehr versucht, mit mir über die Schauspielschule oder über meine ständig wechselnden Freunde zu sprechen." "Wie schön, dass ich dir zu Diensten sein konnte." Dorothy verbarg ihren Arger nicht. Christy überhörte jedoch den Sarkasmüs, denn sie war außerordentlich mit sich zufrieden. "Das dachte ich mir." Sie umarmte die Freundin. "O Dorothy, ich bin so froh, dass du da bist", erklärte sie voll Begeisterung. Christys Freude war so echt, dass Dorothy einlenkte. "Es ist auch für mich schön hier", gestand sie. "Von nun an wird es viel lustiger sein", sagte Christy zuversichtlich lächelnd. Arme Christy, dachte Dorothy. Es musste der Freundin wirklich schlecht gegangen sein, obwohl ihre großen blauen Augen schon wieder lebhaft funkelten. "Ich dachte, man kann hier nichts unternehmen", neckte Dorothy sie. "Stimmt, es ist nichts los hier", klagte Christy, "aber wenn du da bist, verfliegt jede Langeweile." "Na, die Rolle des Klassenclowns habe ich schon lange abgelegt." Dorothy war mit ihren Gedanken wieder ganz woanders. Sie blickte aus dem Fenster zum Berg hinüber, hinter dem der See lag. Wie schön, dass sie dieses Zimmer hatte. "Sag mal", wandte sie sich an die Freundin, "beobachtet dein Onkel oft Vögel?" "Er ist fast jeden Nachmittag unterwegs. Er behauptet, wenn ihm vor Arbeit der Kopf raucht, könnte er sich in der Natur am besten entspannen."
Nacktbaden entspannt bestimmt, dachte Dorothy. "Ich weiß allerdings nicht, warum er sich überhaupt entspannen muss. Wenn er zurückkommt, vergräbt er sich sofort wieder stundenlang hinter seinen Büchern." Nach dem Schwimmen fühlt er sich wahrscheinlich wie neu geboren, überlegte Dorothy. Und dann laut: "Es muss recht kostspielig sein, so ein Schloss zu erhalten." "Das nehme ich auch an", bestätigte Christy unlustig. "Wenn er mir mein Geld zur Verfügung stellte, würde ich ihm gern aushelfen." Dorothy sah die Freundin tadelnd an. "Ich habe das Gefühl, dein Onkel nimmt seine Rolle als Vormund sehr ernst. Deshalb tu mir den Gefallen und spiele nicht mit dem Gedanken, ihm Geld anbieten zu wollen. Er würde es ganz sicher als Bestechungsversuch ansehen." Dorothy konnte sich Thomas Bennett recht gut vorstellen, wie er bei solch einem Vorschlag die Augenbrauen vor empörtem Staunen immer höher zog. "Ich weiß", brummte Christy ungeduldig. "Das war nur so dahin gesagt. Das hätte ich ja schon am ersten Tag meiner Ankunft unternehmen können." "So schlimm kann es nun auch wieder nicht sein, hier ein paar Wochen auszuhalten." Dorothy war überzeugt davon, dass ein Mann wie Thomas Bennett eine große Bibliothek besaß und es zuckte ihr jetzt schon in den Fingern bei dem Gedanken, dort zu stöbern. "Wenn du erst ein paar Tage hier verbracht hast, sprechen wir uns wieder", versicherte Christy. "Unsere Schulzeit war das reinste Vergnügen im Vergleich zu dem Leben hier auf dem Schloss. Und du weißt ja, dass ich das Internat nicht gerade heiß geliebt habe." Mit acht Jahren schon war Christy ins Internat gekommen. Sie war todunglücklich damals, denn sie liebte ihre Eltern sehr. Aber es war die beste Lösung. Der Vater war Archäologe und dauernd auf der ganzen Welt unterwegs. Überall musste seine
Frau dabei sein. So blieb nichts anderes übrig, denn Christy sollte eine gute Schulausbildung bekommen. Dorothy war es damals ganz ähnlich ergangen, jedoch aus anderen Gründen. Beide waren gleich einsam und traurig, was sie von Anfang an zueinander trieb und eine dicke Freundschaft gründete. Im Lauf der Zeit waren sie beinah wie Schwestern geworden und hielten wie Pech und Schwefel zusammen. Dorothy tröstete Christy, wenn sie Heimweh nach den Eltern hatte. Sie selbst war gern in der Schule, viel lieber als zu Hause. Nein, nach Hause wollte sie auf keinen Fall. "Ich lasse dich jetzt eine Weile allein", sagte Christy. "Du kannst duschen und dich umziehen. Hoffentlich hast du noch mehr alte Sachen mitgebracht, du Rumtreiberin! Später zeige ich dir das Schloss. Es gibt allerdings nicht viel zu sehen."
3. KAPITEL In der Stille ihres Zimmere dachte Dorothy über die aufregenden Ereignisse der letzten Stunden nach. Dabei drängte sich immer wieder die Frage auf: Warum eigentlich hatte sie Christy nicht erzählt, dass sie Thomas Bennett beim Nacktbaden beobachtet hatte? Zeit dazu hatte sie genug und außerdem wusste sie genau, dass die Freundin darüber nur erleichtert, wenn nicht sogar erfreut gewesen wäre. Und dann: Es passte einfach nicht zusammen, dass der verstaubte Professor-Onkel angeblich so große Stücke auf Zurückhaltung, Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein hielt und gleichzeitig locker und in aller Öffentlichkeit nackt badete, auch wenn der See auf Thomas' eigenem Grund und Boden lag. Wollte sie Thomas vor Christy nicht bloßstellen? Schwieg sie etwa, deshalb? Etwas anderes kam auch noch in Frage: Dorothy hatte ganz bewusst einen Lebensstil gewählt, den sie insgeheim "Schmetterlingsstil" nannte, obwohl er nichts mit Schwimmen zu tun hatte. Sie flatterte ohne feste Bindungen heiter durchs Leben, alles, was sie besaß, trug sie in ihrem geliebten Rucksack mit sich herum. Es gab also keinen Mann in ihrem Leben, ganz zu schweigen von "vielen Männern" und Thomas Bennett lag total falsch, wenn er annahm, sie sei mit einem Henry so mir nichts dir nichts ins Bett gegangen.
Wüsste Christy über all dies Bescheid, hätte das süße Biest sofort Lunte gerochen. Wer so hingerissen einem Mann beim Baden zuschaute und dabei an einen griechischen Gott dachte, der war nicht mehr ganz "ohne Bindung", der hatte, so würde Christy vermuten, bereits Feuer gefangen. Und es störte Dorothy durchaus, dass Thomas sie so falsch einschätzte. Sie hatte nur wenige Freunde, auf die sie sich verlassen konnte und die ihr ebenso vertrauten. Zusammen mit Christy hatten sie alle den gleichen Wunsch, dass sie sich "ganz normal" verlieben, verloben und verheiraten sollte. Immer wieder versuchten sie, Dorothy "an den Mann zu bringen", aber sie ließ sich auf nichts ein. Doch jetzt fühlte Dorothy, dass mit Thomas Bennett alles anders war. Deshalb behielt sie die Erinnerung an diesen schönen Nachmittag für sich. Wie lange wohl konnte sie der Versuchung widerstehen, eines Nachmittags wieder an den See zu gehen und sich abwartend auf jenen kleinen Hügel zu setzen? Dorothy verschwand in der Nische neben der Waschecke und ließ eine kräftige Dusche auf sich nieder. Erfrischt stromerte sie dann mit Christy zusammen durchs Schloss, bis sie sich zum Abendessen umziehen mussten. Dorothy besaß nur zwei Kleider. Das eine brauchte sie ganz selten: Es war das knitterfreie "kleine Schwarze", das nie aus der Mode kam und heute Abend wieder einmal herhalten musste. Sie war froh, niemand in der großen Halle vorzufinden. So konnte sie den Raum noch einmal in Ruhe betrachten. Vor einem in dunklen Farben gehaltenen Gemälde blieb sie stehen. "Das ist Knollsley Hall in Cornwall", sagte plötzlich Thomas Bennetts Stimme hinter ihr. Dorothy drehte sich erschreckt um und beide betrachteten sich sekundenlang eindringlich. Dorothy trug ihr Haar offen. Mit den zerzausten blonden Locken konnte man sie fast für eine Herumtreiberin halten. Christy würde zufrieden mit ihr sein, doch dem Professor gefiel ihre Aufmachung natürlich nicht. Er schaute sie streng an.
Thomas Bennett hatte sich umgezogen. Er trug jetzt einen dunklen Abendanzug und ein weißes Hemd. Doch der Anzug saß schlecht und eine Ecke seines Hemdkragens war hochgebogen. Er hatte sein Haar offensichtlich frisch gewaschen und ordentlich aus der Stirn gekämmt. Wie immer steckte die Pfeife zwischen seinen Zähnen, aber sie musste vor langer Zeit ausgegangen sein. Natürlich gefiel Dorothy Thomas' nachlässige Art, sich zu kleiden. Die meisten Männer, die sie kannte, legten sehr viel Wert auf ihr Äußeres. Hätte sie nicht insgeheim gewusst, welch wohlgebauter Körper unter dieser Kleidung steckte, würde sie von ihm vielleicht das gleiche Bild haben wie Christy: das übliche Bild des weltfremden, gestrengen Herrn Professors. So aber war er für sie ein außergewöhnlich interessanter Mann. "Es ist das Haus des Parlamentsabgeordneten Martin Ellington-James", fügte er hinzu und brach damit das lange Schweigen. Das Lächeln schwand aus ihrem Gesicht. Sie wandte sich wieder dem Bild zu. Der Maler hatte die kalte Pracht eines Herrenhauses, umgeben von düsteren Bäumen, gut eingefangen. "Sehr eindrucksvoll", meinte sie knapp. "Valerie Sherman hat es gemalt", fuhr er stockend fort, als wäre ihm diese kurze höfliche Unterhaltung zu viel. Dorothy drehte sich zu ihm um und sah, mit welcher Bewunderung er das Gemälde betrachtete. Gebannt stellte sie fest, wie gut er aussah. Ob er eine Frau wohl auch so anschauen konnte?, überlegte Dorothy. Und ob sie wollte oder nicht: Schemenhaft erschien vor ihren Augen wieder Apoll und sie wurde unwillkürlich rot. "Ich glaube, sie hat einmal dort gewohnt", sagte er kurz angebunden. Statt des Bildes aber sah er plötzlich Dorothy an und es war zu spät für sie, schnell wegzublicken, und sie wurde verlegen
wie ein ertapptes Kind. Was ist denn an mir so faszinierend?, schien sein Blick zu fragen. "Ja, das habe ich auch gehört", bestätigte sie. Er war verblüfft. "Verstehen Sie etwas von Malerei?" "Ein wenig", antwortete sie. Sein Erstaunen wuchs. "Mögen Sie Valerie Shermans Bilder?" Er schien froh zu sein, ein Thema gefunden .zu haben, über das sie miteinander reden konnten, während sie auf Christy warteten. "Ich schätze gute Bilder", sagte Dorothy sachlich und abschließend, denn sie wollte gerade über dieses Gemälde nicht sprechen. "Zweifelsohne ist Valerie Sherman sehr begabt", fügte sie hinzu. "Die unglaubliche Hässlichkeit von Knollsley Hall hat sie jedenfalls gut eingefangen." Er sah wieder zum Bild hinauf. "Vielleicht ist es ein wenig..," "Überzogen", schlug Dorothy vor. "Mag sein", pflichtete er ihr bei, "aber es ist gleichzeitig beunruhigend." Dorothy hasste dieses Bild von Knollsley Hall, weil es eine so getreue Wiedergabe des Originals war. "Ich besitze noch weitere Bilder von Valerie Sherman", meinte der Professor. "Die anderen wirken nicht so wie dieses. Ich möchte sie Ihnen gern einmal zeigen." Es klang wie eine belanglose Höflichkeit dem Gast gegenüber. "Das wäre schön", erklärte sie ebenso belanglos und höflich und wandte sich von dem verwirrenden Bild ab. "Ich wollte .... oh, entschuldigen Sie bitte!" Es war nicht mehr zu verbergen: sie zitterte vor Kälte. Leider hatte Christy die Wahrheit gesagt. Das Schloss glich einem Kühlschrank. Dorothy fror in ihrem ärmellosen Kleid. Zwar brannte im Kamin ein Feuer, aber die Strahlungswärme reichte nicht bis zu ihnen in diesem großen Raum.
Die Andeutung eines Lächelns huschte über sein Gesicht. "Sie sind eben an diese Art Heizung nicht gewöhnt." Wollte er sie verletzen? Mit weit aufgerissenen unschuldigen Augen sah sie ihn an. "Es ist hier trotz der Kälte jedenfalls besser als auf einer Parkbank." Er trat einen Schritt zurück. "Kommen Sie näher ans Feuer", forderte er sie auf. "Sagen Sie, hätten Sie heute Nacht tatsächlich auf einer Parkbank geschlafen?" In Gedanken verfluchte Dorothy die Freundin, weil sie diese blöde Parkbank erfunden hatte. "Ich weiß nicht", wich sie der Frage aus. Er betrachtete sie abschätzend. "So weit wäre es bestimmt nicht gekommen", vermutete er. "Henry hätte sicher gern ausgeholfen." Dorothy atmete tief ein. Wo überhaupt steckte die Urheberin all dieser Komplikationen? "Das glaube ich nicht. Er schläft heute bei jemand anderem." Ich verwickle mich immer mehr, wie eine Fliege im Spinnennetz, dachte sie verzweifelt. "Ach so." Thomas Bennett war entsetzt. "Kommen Sie oft mit Christy zusammen, wenn Sie beide in London sind?" Aha, jetzt wollte er den Umfang ihres schlechten Einflusses erforschen. "Sie hat Ihnen doch erzählt, dass wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen haben", erinnerte sie ihn vorwurfsvoll. "Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich ich war, als ich hörte, dass Christy im Augenblick hier wohnt." Das war die volle Wahrheit. Ohne die Freundin hätte sie ihn und sein verwunschenes Schloss nie kennen gelernt! Sie standen jetzt am Kamin und Dorothy genoss die Wärme. Da fing Thomas wieder an: "Was hat Sie in diese Gegend geführt, Miss James?" "Sagen Sie Dorothy zu mir", bat sie, während sie verzweifelt nach einer plausiblen Erklärung für ihre Anwesenheit im Lake District suchte. Dann fiel ihr glücklicherweise etwas ein. "Ich
musste einfach eine Zeitlang aus London weg", erklärte sie fröhlich. Er dachte nach. "Ist Henry etwa verheiratet?", fragte er und sah sie durchdringend an. "Nein, damit hat es nichts zu tun. Ich wollte einfach eine Zeitlang woanders hin. Sicher geht Ihnen das auch manchmal so." Sie lächelte ihn strahlend an. "Nein, das kann ich nicht behaupten. Möchten Sie etwas trinken?", fragte er, und es sah ganz danach aus, als hätte er selbst einen Drink nötig. Zum Aufwärmen konnte sie jetzt glatt ein halbes Dutzend Schnäpse brauchen. Dabei war ihr eher nach einem Glas Whisky. Daraus aber würde Thomas Bennett bestimmt den Schluss ziehen, dass sie obendrein noch Alkoholikerin war und das wollte sie nicht auch noch auf sich nehmen. "Nur einen kleinen Sherry bitte", nahm sie seinen Vorschlag an. Wieder durchlief sie ein Kälteschauer. "Vielleicht sollten Sie Sich lieber eine Jacke überziehen", meinte er besorgt. "Ich empfinde keine Kälte hier, aber Christy beklagt sich auch immer. Sie leiht Ihnen bestimmt gern eine Jacke." Das ging zu weit, fand Dorothy. "Danke, ich besitze selbst eine. In den Nächten, in denen ich auf Parkbänken schlafe, kann ich gar nicht ohne sie auskommen." Hörte er den leisen Spott heraus? Er reichte ihr ein Glas Sherry. "Machen sich Ihre Eltern keine Sorgen um Sie?" "Nein", antwortete sie, und das entsprach der Wahrheit. Schon lange hielt ihr Vater keine Moralpredigt mehr, er hatte jegliches Interesse an ihr verloren. "Die haben ihre eigenen Probleme." "Ich verstehe", sagte er. Sicherlich dachte er an die Geschichte, die Christy ihm erzählt hatte. Danach befanden sich Dorothys Eltern in finanziellen Schwierigkeiten.
"Gibt es eigentlich keine Zentralheizung im Schloss?", fragte Dorothy, um das Thema zu wechseln. "Noch nicht", erwiderte er. "Sie besitzen ein wunderschönes Anwesen", Schwärmte Dorothy und ihre Augen leuchteten dabei. "Haben Sie ..." "Entschuldigt bitte, dass ich so spät komme", platzte in diesem Augenblick Christy fröhlich herein. "Dorothy, ich habe dir eine Strickjacke mitgebracht, falls du selbst keine hast." Sie hielt Dorothy eine helle Kaschmirjacke entgegen. Nachdenklich blickte Dorothy ihre Freundin an, während sie die Jacke überzog. Christy sah erhitzt aus, so als hätte sie einen Dauerlauf hinter sich, und Dorothy schloss haarscharf, dass Christy an der Tür gelauscht haben musste. Sie war schnell in ihr Zimmer gelaufen, um die Jacke zu holen, damit Thomas Bennett das Bild von der armen alten Bekannten festigen konnte. Das war gemein. Erst vorhin hatte sie die Freundin gebeten, weniger dick aufzutragen. "Ich danke dir", sagte Dorothy mit eindeutigem Unterton. Dennoch: Die Jacke war herrlich warm! "Gern geschehen", antwortete Christy und hakte sich bei ihrem Onkel ein. "Habt ihr beide euch etwas besser kennen gelernt?" Was für eine Frage, dachte Dorothy. "Ja", antwortete er unverbindlich. "Darf ich dir vor dem Essen einen Drink anbieten, Christy?" "Ich möchte wie immer nur einen Fruchtsaft haben", meinte sie sanft. Die bescheidene Christy.Soweit Dorothy sich erinnern konnte, hatte Christy in der Schule zum letztenmal Fruchtsaft getrunken. Damals hatten sie nur die Wahl zwischen Milch und Saft gehabt und Milch konnte Christy sowieso nicht ausstehen. Wenn sie so weitermacht, fährt sie noch mit einem Heiligenschein nach Hause, dachte Dorothy. "Dorothy?"
Sie zuckte zusammen, denn Thomas hatte sie zum ersten Mal mit ihrem Vornamen angesprochen. Sie mochte den heiseren Klang seiner Stimme. "Nein danke, ein Sherry ist genug", lehnte sie ab. Es hätte Christy natürlich in den Plan gepasst, hätte sie ja gesagt, aber da sie schon immer wenig trank, konnte sie das nicht einmal Christy zuliebe ändern. Normalerweise hätte sich Dorothy nichts aus all diesen Verwicklungen gemacht, ja, sie hätte das Spielchen sogar gern mitgemacht, zumal sie ehrlich überzeugt war, dass Christy wirklich erwachsen und verantwortungsbewusst genug war, um ihr Erbe anzutreten. Es gefiel ihr aber plötzlich gar nicht mehr, bei Thomas Bennett die Rolle der heruntergekommenen Aussteigerin zu spielen, obwohl ihr klar war, dass sie ihn nach diesem Besuch nie wiedersehen würde und ihr daher eigentlich alles gleichgültig sein konnte. Aber es war ihr eben nicht alles gleichgültig! "Lass es gut sein", flüsterte sie Christy zu, als der Professor zur Anrichte ging, um Saft zu holen. Christy stellte sich dumm. "Was meinst du?" "Alles, auch die Sache mit der Strickjacke." "Magst du sie nicht?" "Doch, aber es stört ungemein, wenn du ausgerechnet dann hereinplatzen musst, wenn ich gerade anfange, mich gut zu unterhalten." Christy war empört. "Was denkst du dir bloß dabei! Du kannst doch nicht klug und interessiert Fragen stellen, wo das gar nicht zu deiner Rolle passt." Dorothy behielt Thomas im Auge, während sie mit der Freundin flüsterte. "Da du anscheinend die ganze Unterhaltung vorhin abgehört hast, musst du doch gemerkt haben, dass er nicht das Geringste von mir hält. Das muss fürs Erste genügen, Christy, es sei denn, du willst deinen Onkel derart abschrecken, dass er mich hinauswirft." Christy wurde ängstlich. "Denkst du, ich treibe es zu weit?"
"O ja", versicherte Dorothy. "Und du hättest mich wegen der Shermans warnen können "Ich..." In diesem Augenblick kam Thomas mit dem Drink zurück. Er reichte Christy das Glas und wandte sich an Dorothy. "Bitte, nenn mich ebenfalls beim Vornamen. Nur meine Studenten reden mich mit Professor an." Dorothy war richtig erleichtert und lächelte ihn voller Wärme an. "Danke, Thomas." Er schien seinen spontanen Vorschlag schon wieder zu bereuen, denn er wechselte rasch das Thema. "Das Essen sollte inzwischen fertig sein." Er ging hinaus, um in die Küche zu schauen. "Das ist einfach toll", sagte Christy leise. Dorothy war jedoch mit ihren Gedanken ganz woanders. "Was, bitte?" "Hast du es nicht bemerkt?" Christy wunderte sich. "Als er dir das Du anbot, war er fast verlegen, gar nicht mehr so arrogant wie gewöhnlich. So habe ich ihn noch nicht erlebt." Arrogant? Der Professor? Dorothy hatte einen anderen Eindruck von ihm. "Du bist Familie und Verwandte einfach nicht mehr gewöhnt. Und das Du ist nichts Besonderes. Dein Onkel lehnt mich ab und das wolltest du ja erreichen. Alles Übrige ist reine Höflichkeit." Christy war empört. "Ausgerechnet du willst beurteilen, wie Familienmitglieder miteinander umgehen? Schließlich sind du und deine Eltern ..." "Lass meine Eltern bitte aus dem Spiel", warnte Dorothy sie. "Entschuldige bitte. Du hast natürlich völlig Recht, das war ein unmöglicher Ausrutscher. Dies Theater hier zerrt an meinen Nerven." Nachdenklich fuhr sie fort: "Aber ich habe jetzt ein ganz neues Bild von meinem Onkel. Dir gegenüber hat er sich ganz anders gezeigt." Doröthy lächelte nachsichtig. "Sollte ich vielleicht Onkel Thomas zu ihm sagen?"
Christy lachte herzlich. "Natürlich nicht." "Ist er eigentlich der jüngere Bruder deines Vaters?", fragte Doröthy. "Ja, er ist zehn Jahre jünger als Dad. Er sieht älter aus und verhält sich auch so, aber er ist erst fünfunddreißig." Auf Professor Bennett mochte das zutreffen, aber Dorothys griechischer Gott sah viel jünger aus. Mittlerweile bereitete es ihr Schwierigkeiten, die beiden auseinander zu halten. "... kann solche Folgen haben." Dorothy war so in Gedanken versunken, dass sie nichts von dem aufgenommen hatte, was Christy gerade gesagt hatte. "Wie bitte? Welche Folgen?", fragte sie unsicher. "Ich sagte, das tragische Ende einer Liebe kann solche Auswirkungen haben." Christy schenkte ihr einen strafenden Blick. "Es passierte allerdings schon vor langer Zeit. Ich bin sicher, er hat es inzwischen überwunden." "Was?", fragte Doröthy immer noch leicht abwesend. "Die Verlobte meines Onkels starb vor fast elf Jahren", erklärte Christy. "Es war ein trauriger Unglücksfall. Ich sehe sie noch deutlich vor mir. Sie war sehr nett. Manchmal nähte sie mir Kleider für meine Puppen." "Du legst deine Gefühle doch immer Gewinn bringend an", spottete Dorothy lächelnd. Und schon gingen ihre Gedanken wieder eigene Wege. Thomas Bennett war also schon einmal verlobt gewesen und seine Verlobte war durch einen tragischen Unfall umgekommen. Wenn er danach keine neue Verbindung eingegangen ist, überlegte Dorothy, muss er diese Frau sehr geliebt haben. "Ich wollte damit nicht sagen, dass sie nur deshalb nett war, weil sie mir Puppenkleider genäht hat", verteidigte sich Christy. "Es sollte nur ein Beispiel für ihre Freundlichkeit sein. Sie nahm sich viel Zeit für ein dummes, lästiges Ding, wie ich eines war. Ich muss ein schrecklicher Balg gewesen sein und viele Leute
behaupten, ich hätte mich seither nicht wesentlich verändert." Sie blickte übertrieben traurig drein. "Wirklich?", fragte Dorothy und bemühte sich, ernst zu bleiben. Christy schmunzelte. "Ich weiß nicht, wie du es in den letzten zwölf Jahren mit mir ausgehalten hast." "Es war nicht leicht", stöhnte Dorothy. "Aber du hast es immerhin geschafft", neckte Christy. "Jemand musste sich ja für dich opfern." Dorothy seufzte, als hätte sie schwer an dieser Freundschaft zu tragen. Christy lachte unterdrückt, bevor sie antwortete: "Es ist in all den Jahren kein Tag vergangen, an dem ich nicht vor Dankbarkeit dafür zerflossen bin." Ernsthaft fügte sie hinzu: "Ehrlich, Liebes, ich weiß wirklich nicht, was ich ohne dich angefangen hätte." Dorothy nahm Christy schnell in die Arme. Der Tod der Eltern vor drei Jahren war für Christy ein furchtbarer Schock gewesen. Nach dem Unfall verbrachte sie einige Wochen hier bei ihrem Onkel, doch erst nach ihrer Rückkehr nach London zeigte sich das ganze Unglück: Christy brach zusammen und versank in apathischer Traurigkeit. Damals wichen ihre Freunde und besonders Dorothy, nicht von ihrer Seite. Christy musste sich das Leid von der Seele reden. Sie erzählte Dorothy Tag und Nacht von ihren Eltern, die für die Freundin fast zu guten alten Bekannten wurden. Damals entstand ihre tiefe Freundschaft zueinander. "Du hast mir doch auch stets geholfen", sagte Dorothy ernst. Sie dachte daran, wie oft sie sich einsam und verlassen vorgekommen war. Da war Christy immer für sie dagewesen. Dorothy wechselte schnell das Thema. "Trotzdem hättest du mich wegen der Sherman-Bilder, auf die dein Onkel so stolz ist, warnen müssen." Christy wurde verlegen. "Ich dachte, du siehst sie gar nicht", entschuldigte sie sich.
"Diesen gewaltigen Schinken sollte ich nicht sehen!", rief Dorothy vorwurfsvoll und wies auf das Gemälde von Knollsley Hall. "Ziemlich unheimlich, nicht wahr? Er hat noch ein paar andere Bilder von ihr." "Das sagte er. Ich glaube jedoch nicht, dass die anderen auch so abstoßend düster und hart wirken wie dieses." Ehe Christy noch antworten konnte, erschien Thomas wieder in der großen Halle. "Das Essen ist endlich fertig", verkündete er. "Anscheinend hat es in der Küche ein ziemliches Durcheinander gegeben", entschuldigte er sich. "Etwas Ernstes?", fragte Christy besorgt. "Fredericks versicherte mir, dass jetzt alles unter Kontrolle ist." Das passte zum Professor: Etwas Unvorhergesehenes durfte die Ordnung seines Alltags nicht stören Dorothy schmunzelte. Ärgerte er sich wirklich darüber, dass das Essen später als gewöhnlich serviert wurde? Sie entdeckte ständig Neues an diesem Mann und alles machte ihn nur noch interessanter. Das machte sie sehr nachdenklich und still.
4. KAPITEL "Was machst du denn da?" Erschrocken hielt Dorothy inne und drehte sich dann schuldbewusst um. Thomas stand vor ihr und dem offenen Kühlschrank! Es war ihr entsetzlich peinlich. Sie standen sich einen Augenblick lang stumm in der hell erleuchteten Küche gegenüber. Sie musterten sich gegenseitig kurz und erstaunt und brachen dann in lautes Lachen aus: sie trugen beide die gleichen blau weiß gestreiften Schlafanzüge! Thomas hatte noch einen blauen Bademantel übergezogen und war jetzt sehr damit beschäftigt, den Gürtel zuzubinden. Sein Haar war so zerzaust, als hätte er sein Schlafzimmer in großer Eile verlassen. Dorothy kombinierte schnell. Sicher hatte er Geräusche in der Küche gehört und, dort einen Einbrecher vermutet. Thomas runzelte verärgert die Stirn und blickte sie fragend an. "Ich habe Hunger bekommen", erklärte sie stockend. Er sah zur Uhr an der Wand. "Es ist halb zwei", stellte er vorwurfsvoll fest. So, wie er sie jetzt mit seinen wunderschönen braunen Augen ansah, verwirrte er Dorothy. Sie antwortete nicht. "Dorothy?", forderte er sie zum Sprechen auf. Sie riss sich zusammen. "Ich habe trotzdem Hunger."
"Hast du denn abends nicht genug gegessen?" "O doch", versicherte sie, "aber ich bekomme immer nachts Appetit." "Was suchst du denn? Vielleicht kann ich dir behilflich sein." Es klang so, als wollte er möglichst schnell wieder ins Bett zurück. "Ich suche Sardinen", sagte sie. Er hob die Augenbrauen: "Wie bitte?" "Ich esse furchtbar gern Sardinen." "Wirklich?", fragte er, als zweifle er an ihrem Verstand. "Ja, wirklich", bekräftigte sie. Thomas verschränkte die Arme vor der Brust und sah Dorothy aufmerksam an. "Und die suchst du ausgerechnet in meinem Kühlschrank?" Dorothy war nicht sicher, aber für einen Augenblick meinte sie ein vergnügliches Funkeln in seinen Augen zu sehen. Gleich war es jedoch wieder verschwunden. "Du bist doch nicht schwanger?", fragte er dann finster. "Was?" Dorothy fuhr herum. Sie liebte Henry ganz bestimmt und würde ihn immer noch am Fußende ihres Bettes schlafen lassen. Aber musste sie deshalb all diese Verdächtigungen über sich ergehen lassen? "Nein", entgegnete sie gereizt, "ich esse seit Jahren nun eben sehr gern Sardinen." "Hier wirst du vergeblich danach Ausschau halten", meinte Thomas belehrend. "Warum siehst du nicht einmal im Kühlschrank nach. Vielleicht findest du dort ein gebratenes Hähnchen." "Wenn ich nachts irgendetwas anderes als Sardinen esse, kann ich danach nicht mehr einschlafen", lehnte Dorothy sein Angebot ab. "Dann kann ich dir leider auch nicht helfen." "Kann ich mir ein wenig Milch heiß machen?", fragte sie schüchtern.
"Natürlich", sagte Thomas schnell. "Soll ich sie dir warm machen?" "Nein, ich ..." Sie sprach den Satz nicht zu Ende, denn sie zitterte plötzlich. "Zu dumm, es ist kalt hier." Sie goss ungeschickt Milch in einen Topf. "Hier, nimm dies." Verblüfft spürte sie, wie er ihr seinen vorgewärmten Bademantel um die Schultern legte. Sie drehte sich ihm zu und plötzlich standen sie ganz dicht voreinander. Thomas schien zusammenzuzucken, blieb wie erstarrt stehen und schaute Dorothy groß an. Beide waren zu keiner Bewegung fähig. Nie zuvor war Dorothy sich der Nähe eines Mannes so deutlich bewusst geworden wie jetzt. Sie sah, dass er heftig atmete, und erkannte in diesem Augenblick, dass er genauso empfand wie sie. Die Milch riss sie beide schließlich aus ihrer Erstarrung. Gerade noch rechtzeitig vor dem Überkochen nahm Dorothy den Topf vom Herd. Mit zitternden Händen goss sie sie in einen Becher und füllte Wasser in den Topf. Dabei glitt der Morgenmantel von ihren Schultern. Thomas hob ihn vom Boden auf. Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, sagte er mit rauer Stimme zu Dorothy: "Dreh dich bitte um." Sie atmete tief durch und gehorchte. Er hielt ihr den Morgenmantel so hin dass sie nur hineinzuschlüpfen brauchte. "Du brauchst ihn nötiger als ich", sagte er, als sie zögerte. "Du bestehst ja nur aus Haut und Knochen", fügte er spöttisch hinzu. "Kein Wunder, dass du ständig frierst." Er war offensichtlich der Ansicht, dass sie bei ihrer derzeitigen Lebensweise nie genug zu essen bekam und daher nächtlicherweise Küchenschränke durchsuchen musste.
"Ich bin nicht überall mager", erklärte sie herausfordernd ihrem Gegenüber. Thomas, der ihr gerade die zu langen Ärmel des Bademantels hochkrempelte, hielt einen Augenblick inne und ließ den Blick kurz über ihren Busen gleiten. "So", sagte er dann und richtete sich erleichtert auf. "Du siehst wie ein Kind aus, das gern älter wirken möchte und deshalb die Sachen von Erwachsenen anzieht", stellte er höchst amüsiert fest. Seine herablassende Art ärgerte Dorothy. "Hältst du mich nach allem, was du von mir gehört hast, wirklich noch für ein Kind?" Daraufhin blickte er sie nur böse an. "Entschuldige bitte", sagte Dorothy müde. "Es war ein langer Tag und ich bin schlecht gelaunt, weil mir der Schlaf fehlt." "Wahrscheinlich bist du es nicht gewohnt, allein zu schlafen", bemerkte er kalt. Obwohl er jedes Wort ernst meinte, hätte sie am liebsten gelacht. Sie war einundzwanzig Jahre alt und noch unberührt, war noch nicht einmal richtig geküsst worden, wenn sie auch vor ein paar Minuten nahe daran gewesen war. Sie konnte sich jedoch nicht so schnell ergeben. Wieder ritt sie der Teufel und sie erwiderte spitz: "Hast du Lust, Abhilfe zu schaffen?" Herausfordernd hob sie das Kinn. Er verzog verächtlich den Mund. "Nein, danke." Seine braunen Augen drückten deutlichen Widerwillen aus. "Warum nicht?", hakte sie nach. "Reize ich dich etwa nicht?" "Ich lasse mich nicht mit frühreifen Kindern ein. Deine Milch wird übrigens kalt", fügte er hinzu. "Ich gehe jetzt wieder ins Bett, dann kannst du in Ruhe hier bleiben." "Hast du keine Angst, ich könnte das Familiensilber oder ein paar Gemälde stehlen und mich heimlich davonschleichen, wenn du mich allein lässt?"
Er drehte sich um. "Nein", antwortete er ungehalten. "Und warum nicht?" "Das Silber ist im Schrank eingeschlossen und die Bilder sind durch eine Alarmanlage gesichert." "Ich hätte mir denken können, dass du mir nicht vertraust." "Seit wann hasst du dich und die ganze Welt?", fragte Thomas müde. "Ich bin wahrscheinlich bereits so geboren worden." Dorothy wusste, dass sie anderen Menschen gegenüber immer schnell in Abwehrstellung geriet und dass sie niemanden so schnell an sich heranließ. Bei diesem Mann jedoch war alles anders gelaufen und das bereute sie nicht. Sie fühlte sich aber so sehr verunsichert und aufgewühlt, dass sie plötzlich wieder in Verteidigungsposition ging. "Darüber ließe sich wohl noch lange reden, aber nicht um diese Uhrzeit. Vergiss nicht, das Licht auszumachen, bevor du ins Bett gehst." "Du hast deinen Bademantel vergessen", rief sie ihm nach. "Du kannst ihn mir morgen zurückgeben", erklärte er und fügte noch schnell hinzu: "Vielleicht möchtest du morgen in die Stadt fahren, um Sardinen einzukaufen. Du scheinst ihnen ja regelrecht verfallen zu sein." Dorothy ärgerte Thomas verächtlicher Ton und sie konnte nicht widerstehen, ihn noch einmal vor den Kopf zu stoßen. Mit großen Augen blickte sie ihn an. "Ich habe aber kein Geld." Es sah fast so aus, als hätte er diesen Einwand schon erwartet. "Ein Geschäft in der Stadt gewährt mir Kredit. Du brauchst nur zu sagen, du kommst von Castle Haven, dann wird man dir alles geben, was du möchtest." "Du bist zu gütig", spottete sie leise. "Ich bin aber immer noch der Ansicht, dass es manchmal besser ist, grausam zu sein", sagte er und verließ endgültig die Küche.
Dorothy musste sich hinsetzen, denn sie zitterte am ganzen Leib. Es stand eins zu null für Thomas. Diese Runde ging an ihn. Sie hatte sich so sehr in alles hineingesteigert, war verletzend und böse geworden. Hatte sie etwa Angst, sich zu verlieben? Oder wollte sie das Spiel, das ihr Christy aufgezwungen hatte, nur recht überzeugend durchspielen? Thomas hatte die Frau, die er liebte, verloren. Er brauchte bestimmt keine Frau wie sie, Dorothy. Am nächsten Morgen stand Dorothy früh auf, denn sie war nicht mehr eingeschlafen. Auch ihr sonst so bewährtes Schlafmittel Milch hatte nicht gewirkt. Von Christy wusste Dorothy, dass Thomas jeden Morgen um halb sieben Uhr einen Spaziergang machte. Er musste das Haus also bereits verlassen haben und sie brauchte keine unliebsame Begegnung zu fürchten. Im Vorbeigehen blickte sie kurz ins Zimmer der Freundin. Doch Christy schlief noch tief und fest. Dorothy betrachtete sie und musste zugeben, dass Christy selbst im Schlaf sehr schön war. Dorothy trug das Haar wieder zu einem langen Zopf geflochten, doch einige Strähnen an der Stirn und im Nacken hatten sich schon wieder wie gewöhnlich selbständig gemacht. Sie trug dieselben mit Flicken besetzten Jeans wie gestern, ein neues T-Shirt, das aber genauso verwaschen und ausgebleicht war wie das gestrige. Nachdem sie Christys Zimmer verlassen hatte, machte sich Dorothy auf die Suche nach der Bibliothek. Christy hatte Dorothy von einem Bild berichtet, das dort hing und sie brennend interessierte. Dorothy ging gerade den Flur entlang, der zur Küche führte, da hörte sie plötzlich ein Kind weinen. Erschrocken blieb sie stehen und vernahm das klägliche Weinen jetzt ganz deutlich.
Dorothy lief kurz entschlossen den Gang hinunter und riss die Eichentür auf. Sie sah zuerst das kleine Mädchen, halb verdeckt vom schützenden Arm der Köchin, die neben dem Kind am Tisch saß. Das Mädchen mochte etwa fünf Jahre alt sein und blickte mit verweinten Augen und schluchzend zu ihr hinüber. Dorothy kümmerte sich nicht um den verstörten Blick der Köchin. Sie setzte sich behutsam neben das Mädchen, dessen rundes Gesichtchen, "blaue Augen und dunkle Locken sie an einen kleinen Barockengel erinnerten. "Hallo", begrüßte sie die Kleine leise. "Komm, hör mal auf, ich muss dir was sagen." Schlagartig hörte das Kind zu weinen auf und Dorothy fuhr fort: "Hast du auch solchen Hunger wie ich?" Sie deutete auf die Scheibe Toast, die vor dem Kind auf einem Teller lag und bat die Köchin: "Kann ich auch so einen wundervollen Toast haben?" Gleichzeitig schnitt sie die Scheibe in kleine Stückchen und schob diese dem Mädchen, das jetzt gehorsam den Mund öffnete, zwischen die Lippen. "Ich heiße Dorothy und wie heißt du?" "Du heißt Dorothy?", wiederholte das Kind lispelnd und Dorothy entdeckte dabei zwei große Zahnlücken in dem Mund der Kleinen. "Ja, stimmt." Dorothy lächelte. "Ich wette, du hast einen besonders hübschen Namen, wie Annabel oder Melissa ..." Da heulte das kleine Wesen wieder los. "Ich will zu Melissa", und Tränen rannen über sein Gesichtchen. "Ich will zu Melissa, zu Melissa ..." Dorothy blickte fragend zur Köchin hinüber. "Sie ist in der Nacht aufgewacht und hat nach Melissa gerufen", sagte die Köchin verzweifelt. "Ihre Mutter, ich meine meine Tochter, ist gestern überraschend ins Krankenhaus eingeliefert worden. Seitdem ist Catherine bei mir. Ihr Vater befindet sich auf einer Geschäftsreise und kommt erst morgen
zurück. Ich habe Catherine zu erklären versucht, dass sie all ihre Freunde bald wiedersehen wird, aber sie lässt sich nicht beruhigen." Die Köchin seufzte hilflos. Dorothy wandte sich dem kleinen Mädchen wieder zu, das erneut in Tränen ausbrach, dann aufsprang und schluchzend aus der Küche rannte. "Ich weiß nicht, was ich tun soll", erklärte die Köchin Dorothy. "Catherines Mutter wurde mit einer akuten Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Es musste alles sehr schnell gehen. Ich erfuhr noch, dass die Operation erfolgreich verlaufen ist und nahm dann das Kind einfach mit hierher." Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr. "In der Nachbarschaft meiner Tochter wohnen einige Kinder. Vielleicht ist diese Melissa ja darunter. Sie wohnen allerdings dreißig Meilen von hier entfernt. Da ic h aber für den Professor kochen muss und meine Tochter im Krankenhaus besuchen möchte, habe ich keine Zeit, zu Catherines Freundinnen zu fahren." Jetzt war Dorothy plötzlich klar, weshalb sie gestern Abend so lange auf das Essen gewartet hatte und Thomas in der Küche verschwunden blieb. Arme Catherine! Dorothy wusste aus eigener Erfahrung, wie schrecklich es war, plötzlich von den Eltern getrennt und aus der gewohnten Umgebung herausgerissen zu werden. "Ich könnte mich um Catherine kümmern, wenn es Ihnen recht ist", bot sie an. "Oh, das kann ich nicht zulassen", lehnte die Köchin fassungslos ab. "Sie sind schließlich Gast des Professors und ..." "Eigentlich bin ich bei seiner Nichte zu Besuch", entgegnete Dorothy. "Außerdem will ich heute ohnehin in die Stadt fahren. Ich kann gut einen Umweg machen. Wenn Sie mir Catherine allerdings nicht anvertrauen wollen, Mrs ...?" Fragend sah sie die Köchin an.
"Scott", sagte die Köchin verlegen. "Entschuldigen Sie bitte, ich hätte mich Ihnen früher vorstellen müssen. Es ist nur so früh und..." "Das verstehe ich", versicherte Dorothy freundlich. "Es ist bestimmt nicht leicht für Sie, plötzlich zu aller Arbeit ein noch kleines Kind betreuen zu müssen." "Ich habe hier so viel zu tun, dass ich kaum noch Zeit habe, meine Familie zu besuchen. Verstehen Sie mich nicht falsch", fügte sie rasch hinzu. "Ich beklage mich nicht, ich mache die Arbeit gern, seitdem mein Mann tot ist und ich allein bin. Damals war meine Tochter Maureen schon einige Jahre verheiratet. Ich habe mein Enkelkind nicht gerade häufig besuchen können und Catherine fühlt sich deshalb etwas fremd bei mir." "Das ist doch ganz natürlich." Dorothy konnte die Situation gut verstehen. "Was halten Sie von meinem Vorschlag, Catherine heute mitzunehmen? Vielleicht vergisst sie Melissa ganz, wenn wir zusammen einkaufen gehen." Die Köchin war davon zwar nicht überzeugt, nahm aber trotzdem Dorothys Angebot an. "Es ist einen Versuch wert. Macht es Ihnen aber auch wirklich nichts aus?" "Aber nein." Dorothy lächelte sie ermutigend an und stand auf. "Ich unterhalte mich mit Catherine, während Sie das Frühstück für den Professor zubereiten. Müssen Sie nicht noch Schinken für ihn braten?" "Lieber Himmel ja", rief Mrs. Scott erschrocken aus und blickte zur Küchenuhr. "Er wird gleich zurück sein und ich habe nicht einmal angefangen, das Frühstück zu richten." Schnell stand sie auf und machte sich am Herd zu schaffen. Auch ohne Enkelin hatte die Köchin wirklich genug zu tun. Dorothy machte sich auf die Suche nach dem kleinen Mädchen und es war nicht schwierig, es zu finden. Catherine schlief bei der Großmutter im Zimmer. Hier war ein Reisebett für sie aufgestellt worden. Sie lag
zusammengerollt wie ein Kätzchen auf dem Kissen, das Gesicht von Tränen nass. Sie wirkte ausgesprochen hilflos. Dorothy setzte sich auf die Bettkante und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. "Catherine, hast du Lust, heute mit mir einkaufen zu gehen?" . Das kleine Mädchen blickte sie erstaunt an. "Holen wir dann Melissa?", fragte sie hoffnungsvoll. "Erst muss ich etwas einkaufen, aber hinterher könnten wir Melissa besuchen", fügte Dorothy schnell hinzu, als sie Catherines Enttäuschung bemerkte. Das Kind wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Warum können wir sie nicht mit hierher nehmen?" Dorothy überlegte. Es war möglich, dass Catherines Vater seine Tochter morgen nach Hause holte, es war aber auch denkbar, dass er sie bei der Großmutter ließ, weil er arbeiten musste. In dem Fall war es nicht gut, Catherine glauben zu lassen, Melissa könnte mitkommen. "Meinst du nicht, dass sie dann Heimweh bekommt?", fragte sie sanft. "Ihre Mummy und ihr Daddy wären vielleicht traurig, wenn sie keine Melissa mehr haben." "Aber sie hat keine Mummy und keinen Daddy", widersprach Catherine heftig. Nun war Dorothy am Ende ihrer Künste. Da kam ihr ein Verdacht. "Catherine, wer ist Melissa?" "Das habe ich dir doch gesagt. Sie ist meine beste Freundin." Catherine verzog das Gesicht und wurde offenbar wegen der vielen Fragen ungeduldig. "Ist sie groß oder klein?" "Klein natürlich", erklärte Catherine voll Verachtung über diese dumme Frage. "Hat sie blondes oder schwarzes Haar?" Catherine betrachtete Dorothy nachdenklich. "Es hat dieselbe Farbe wie deins", entschied sie dann. "Es ist nicht ganz so lang,
aber Melissa ist so lieb und so süß", beteuerte sie voller Zärtlichkeit. "Hat sie blaue oder braune Augen?" Jede Antwort, die sie von dem Kind erhielt, bestärkte Dorothy in ihrer mittlerweile gehegten Vermutung. "Blaue natürlich." Catherine hatte allmählich genug von der Fragerei. "Alle meine Puppen haben blaue Augen", erklärte sie in überheblichem Ton, so als hätte Dorothy das selbstverständlich wissen müssen. Erleichtert schloss Dorothy das kleine Mädchen in die Arme. Melissa war also eine Puppe. Jetzt sah alles so einfach aus. Sicher konnten Kinder ihre Freunde vermissen, wenn sie von zu Hause fort waren. Aber sie wachten deshalb nicht mitten in der Nacht auf, um zu weinen. Catherine war aus ihrer Welt herausgerissen. Es fehlten ihr Mutter und Vater. In der Nacht erst überkam sie das Heimweh nach der geliebten Puppe, sie brauchte sie doch zum Drücken und Liebhaben, damit sie im Bettchen nicht so allein war. Und ausgerechnet diese Puppe Melissa war in der Aufregung um ihre plötzliche Abreise vergessen worden. Das erinnerte Dorothy an eine Begebenheit aus ihrer eigenen Kindheit. Als sie ins Internat kam, vergaß sie ihren' alten Kusche lhasen, den sie schon als Baby geschenkt bekommen hatte. Sie schrieb ihrem Vater und bat ihn, den Hasen nachzuschicken. Er reagierte nicht darauf. Über ein Vierteljahr lang schrieb sie ihm jeden Sonntag und jedesmal erinnerte sie ihn an den Hasen. Erst als sie zu Weihnachten nach Hause fuhr, konnte sie das Schmusetier heimlich mitnehmen. Zuvor jedoch hatte sie sich vierzehn Wochen lang jede Nacht in den Schlaf geweint vor Einsamkeit. Deshalb konnte Dorothy Catherines Kummer besonders gut verstehen. "Weißt du was? Wir holen Melissa gleich nach dem Frühstück her", beruhigte sie das kleine Mädchen.
"Wirklich?" Catherine sah sie groß an. "Aber ja", versicherte Dorothy ihr. "Weißt du, Mummy hatte gestern große Schmerzen, deshalb hat sie nicht an Melissa gedacht", erklärte sie dem Kind und wiegte es in ihren Armen. "Und deine Grandma wusste doch überhaupt nichts von Melissa. Komm, wir waschen dir jetzt das Gesicht. Dann gehst du in die Küche und isst etwas, bevor wir in die Stadt fahren und Melissa holen." Catherine kletterte vom Bett herunter und lief zur Tür. Dort wandte sie sich noch einmal an Dorothy und fragte zögernd: "Holen wir Melissa ganz bestimmt?" "Ich verspreche es dir." "O fein", rief Catherine und lachte. Sie zappelte vor Ungeduld, als Dorothy ihr das Gesicht wusch und aß ihr Frühstück im Eiltempo. "Wenn wir Mummy heute Nachmittag besuchen, darf Melissa auch mitkommen." Als Dorothy mit Catherine in die Küche zurückkehrte, roch es dort nach gebratenem Speck mit Eiern. Wahrscheinlich saß Thomas bereits im Esszimmer und frühstückte. Hoffentlich, dachte Dorothy, zieht er sich nicht zu bald in sein Arbeitszimmer zurück. Sie wollte ihn doch bitten, ihr seinen Wagen zu überlassen. Mrs. Scott staunte, dass ihre kleine Enkeltochter nun plötzlich brav ihren Toast aß und sie wehrte sofort entsetzt ab, als Catherine triumphierend erklärte: "... und Melissa darf mit ins Krankenhaus!" "Melissa ist Catherines Puppe", klärte Dorothy Mrs. Scott auf. "Eine Puppe!" "Melissa ist nicht nur irgendeine beliebige Puppe", flüsterte Dorothy ihr zu. "Sie ist die Schönste und Liebste auf der ganzen Welt!"
"Oh, ich verstehe." Mrs. Scott war froh, dass wenigstens dieses Problem gelöst war. "Ich hatte ja keine Ahnung", beteuerte sie. "Das konnten Sie auch nicht wissen. Nach dem Frühstück holen wir Melissa übrigens ab." "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll", sagte die Köchin herzlich. "Dabei kannten Sie Catherine nicht einmal und ich ..." Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick ertönte eine Glocke. "Das wird der Professor sein, der sicherlich seine zweite Kanne Kaffee haben möchte. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, Miss James ..." "Gern geschehen", antwortete Dorothy. An Catherine gewandt erklärte sie: "Bis nachher also. Iss schön auf." Catherine nickte eifrig mit vollem Mund. Plötzlich schien ihr alles zu schmecken. Dorothy stand schon in der offenen Küchentür, als ihr wieder einfiel, was sie, bevor sie in die Küche kam, eigentlich dort gesucht hatte. "Wo ist eigentlich die Bibliothek?", fragte sie Mrs. Scott. "Sie finden sie am Ende des Flurs auf der rechten Seite. Sie können sie gar nicht verfehlen."
5. KAPITEL Es war ein schwerer Gang für Dorothy, aber sie wusste: Sie musste sich damit auseinandersetzen, es war unvermeidlich. Zögernd drückte sie die Klinke der Tür herunter und betrat dann einen wunderschönen Raum, der Atmosphäre ausstrahlte. Ein dicker dunkelroter Teppich, Bücherregale an drei Wänden und ein Kamin, in dem ein anheimelndes Feuer brannte, gaben dem Raum etwas Vornehmes. Dorothy entdeckte das Bild sofort. Es hing direkt über dem Kamin und stellte ein Kinderzimmer dar, in dem überall soviel wunderschönes Spielzeug verstreut lag, wie ein Kinderherz es sich nur wünschen konnte. Das Mädchen jedoch, das im Vordergrund stand, zeigte kein Interesse dafür. Es blickte anwesend und zutiefst gelangweilt aus dem Fenster. Das puppenhafte Wesen mochte etwa sieben Jahre alt sein, trug blanke Lackschuhe und weiße Söckchen. Das rosafarbene Kleid und die Rüschenschürze darüber wirkten wie frisch gebügelt, das blonde Haar der Kleinen war zu strammen Zöpfen geflochten, die an den Schläfen leicht abstanden. "Gefällt dir dieses Bild von Valerie Sherman besser?", fragte da plötzlich jemand mit tiefer Stimme hinter Dorothy. Allmählich war es auffallend und beunruhigend, dass Thomas immer wieder so überraschend auftauchte. Besonders in diesem Augenblick war es ihr unangenehm. Sie richtete sich tief atmend auf und versuchte möglichst gleichgültig auszusehen. Dann drehte sie sich um.
Thomas trug wie am Tag zuvor eine ausgebeulte Kordhose und einen Pullover. Zwar schien draußen bereits die Sonne, im Schloss war es jedoch noch kühl. Trotzdem hatte Thomas kein Jackett übergezogen. Der Anblick des Bildes hatte Dorothy schon tief ange rührt, Thomas' Gegenwart aber brachte sie noch mehr durcheinander. "Ist dieses, Bild auch von Valerie Sherman?", fragte sie mit gespieltem Erstaunen. Thomas bejahte. "Ich sagte dir doch, dass ich noch andere Bilder von dieser Künstlerin besitze." Er trat näher und betrachtete das Gemälde anerkennend. "Ich finde, dies ist eines der Besten." "Ein armes kleines, reiches Mädchen, tief vereinsamt inmitten der schönsten Spielsachen", sagte Dorothy leise und nachdenklich. Überrascht sah er sie an. "Ist das dein Eindruck von diesem Bild?" Vor Verlegenheit wurde Dorothy rot. "Ist es nicht genau das, was auf dem Gemälde zu sehen ist?", fragte sie. "Er schüttelte den Kopf. "So sehe ich das nicht." "Ich erinnere mich", fuhr Dorothy hartnäckig fort, "bei einem Kritiker gelesen zu haben, dass er dieses Werk ablehnt, weil darin keine Gefühle zum Ausdruck kommen." "Für mich ist es voller Gefühle", widersprach Thomas ungeduldig. "Sieh dir die Augen des Kindes an." Er trat ganz dicht an das Bild heran. "Kannst du die Tränen sehen? Schau auf den Mund. Hinter dem trotzigen Ausdruck verbirgt sich großer Kummer. Und auch der Titel bestätigt, dass es ein Bild voll verhaltener Gefühle ist. Es heißt "Verlorenes Kind"." Dorothy kannte den Titel des Bildes, hatte auch schon Fotos von dem Gemälde gesehen, es aber nie als Original gesehen. Thomas hatte Recht, es standen Tränen in den Augen des
Kindes und sein Mund ließ ahnen, dass es nahe davor war loszuweinen. Nur Dorothy wusste, dass alle Gefühle, die hier zum Ausdruck kamen, auf eine andere Person übertragen, also verfremdet worden waren. In diesem Kind war sie, Dorothy, dargestellt, doch ihre Mutter, die berühmte Malerin, hatte sie nie so erlebt. Damals war die Mutter schon seit drei Jahren verschwunden. Auch das Kinderzimmer hatte es nie gegeben. Nur Dorothy war es möglich, dieses Gemälde richtig zu deuten: In dieses Kind, das ihre Züge trug, hatte Dorothys Mutter ihre eigenen Gefühle hineininterpretiert, die Gefühle einer verwöhnten Frau, die alles haben konnte, nur keine Freiheit. Diese Freiheit, so zeigte es das Bild, lag draußen vor dem Fenster Fünf Jahre lang war Dorothys Mutter Valerie Sherman mit Martin Ellington-James auf Knollsley Hall verheiratet. In dieser Zeit wurden ihr die dicken Schlossmauern zum Gefängnis. Sie ertrug die Einsamkeit, das Leben voller Schein und Lügen, das sie als Frau eines Politikers führen musste, einfach nicht mehr. Eines Tages ging sie "einkaufen" - und kehrte nie mehr zurück. Dorothy war damals vier Jahre alt und wartete Tag für Tag, Jahr für Jahr immer schmerzvoller auf die Rückkehr der Mutter, obwohl der enttäuschte Vater Dorothy in aller Härte klarmachte, dass er ihre Mutter nie mehr aufnehmen würde. Dorothy wartete vergebens. Jahre später stieß sie auf Fotos von diesem Gemälde. Jetzt schloss sich die Tochter dem Vater an: Sie hasste die Mutter dafür, dass sie ihre kleine Tochter dazu benutzt hatte, die eigenen Gefühle loszuwerden. Im Augenblick empfand Dorothy es als lästig, dass Thomas den Kummer des Kindes entdeckt hatte. Sie fühlte sich dabei durchschaut. Ungewöhnlich heftig bemerkte sie deshalb: "Auf mich macht das Kind keinen verlorenen Eindruck. Es ist nur einfach verwöhnt. Bitte, entschuldige, ich muss noch schnell mit
Christy reden", und schon riss sie die Tür auf. Sie würde diesen schönen Ra um nicht wieder betreten, trotz all der lockenden Bücher. "Dorothy!", rief Thomas ihr verwirrt nach. "Ja?" Sie drehte sich um, hielt den Blick aber vom Bild abgewandt. Thomas war sichtlich fassungslos. Es fiel ihm offensichtlich wieder einmal schwer, die gegensätzlichen Eindrücke, die er von ihr haben musste, zusammenzubringen: die gefühlsstarke Kennerin guter Gemälde und das oberflächliche Mädchen, das mit jedem Mann ins Bett ging. Aber verdammt, sie konnte sich nicht auch noch dann verstellen, wenn sie so sehr aufgerührt war. "Wenn du immer noch vorhast, in die Stadt zu fahren, kannst du gern meinen Wagen haben", bot Thomas ihr an. "Christy wird dich bestimmt gern begleiten." "Ich dachte, es wäre dir daran gelegen, sie möglichst fern von mir zu halten", sagte sie spöttisch. "Dorothy!" "Entschuldigung." Abwehrend und zugleich abbittend hob sie die Hände. Schließlich konnte er nicht ahnen, wer und wie sie wirklich war. Angesichts des Zerrbildes, das er von ihr hatte, war sein Verhalten in der vergangenen Nacht auch nicht gerade leicht zu verstehen. "Ich wäre dir sehr dankbar, wenn ich das Auto bekommen könnte." Sie musste also deshalb nicht mehr mit Christy reden. "Wenn es dir recht ist, bitte ich Christy, mitzufahren." Erstaunt blickte er sie an. "Christy ist erwachsen. Sie braucht mich nicht um Erlaubnis zu fragen. Sie trifft ihre Entscheidungen selbst." "Ja, aber ..." Sie war so erschrocken, dass sie den Satz lieber nicht zu Ende sprach. "Ja?"
Dorothy wusste nicht, was sie sagen sollte, beinahe hätte sie Christy mit einer achtlosen Bemerkung verraten. Wusste Thomas, dass sie, Dorothy, die Bedingungen, die Christys Vater an sein Testament geknüpft hatte, kannte, dann müsste er ihren Besuch gerade zu diesem Zeitpunkt ziemlich verdächtig finden. "Wir waren nie sehr eng miteinander befreundet", meinte sie ausweichend. "Und du hast mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich nicht der geeignete Umgang für Christy bin." Er wehrte betroffen ab. "Wie gesagt, das ist Christys Sache." "Gut, dann frage ich sie, ob sie mitkommt." "Tu das und frühstücke, bevor du gehst." "Ja, Sir!" Er lächelte reumütig und sah in diesem Augenblick um Jahre jünger aus. "Es tut mir Leid, dass wir dir keine Sardinen servieren können, aber ..." Dorothy lachte. "Christy ist jetzt wichtiger." Fröhlich verließ sie die Bibliothek. Thomas besaß also auch noch Humor. Eine Tatsache, die in Anbetracht seines sonstigen Auftretens ebenso irreführend war wie seine schlecht sitzende Kleidung. Ob er wohl heute Nachmittag wieder nackt baden würde? Diese Vorstellung war einfach aufregend. "Das bringst nur du fertig", sagte Christy. Sie saß neben Dorothy im Auto und blickte zu Catherine zurück, die hinten im Wagen saß und Melissa glücklich an sich drückte. "Jeder andere hätte schnell eine neue Puppe gekauft, anstatt so weit zu fahren!" "Aber Melissa ist unersetzbar", gab Dorothy zu bedenken. "Darauf wären die anderen nicht gekommen." "Mach keine große Sache daraus", wehrte Dorothy ab. "Nun wird es im Schloss wieder geordnet zugehen und dein Onkel bekommt rechtzeitig sein Abendessen." "Du kannst mir nichts vormachen, Dorothy. Du bist gar nicht so kühl, wie du immer tust." .
Dorothy seufzte erleichtert und entspannte sich zunehmend. Jetzt konnte sie endlich auch über das Bild sprechen. "Ich habe es mir angesehen." Christy blickte besorgt nach hinten, aber Dorothy beruhigte sie. "Catherine schläft bereits, in der letzten Nacht ist sie ja kaum zur Ruhe gekommen." Mit Melissa im Arm war Catherine auf dem Rücksitz friedlich eingeschlafen. "Sie ist ein kleiner Schatz", flüsterte Christy und kam dann wieder auf Dorothys Bemerkung zurück. "Ich dachte' mir schon, dass du inzwischen das Bild angesehen hast, habe aber o nicht gewagt, das Thema anzusprechen." "Aber das Schlimmste weißt du noch nicht, Christy. Dein Onkel kam nämlich genau in dem Augenblick in die Bibliothek, als ich vor dem Bild stand." "Hat er gemerkt, dass du das kleine Mädchen bist?" "Ich bin es nicht", beteuerte Dorothy. "Es ist die Erfindung meiner Mutter. Dieses Kind existiert nur in Valerie Shermans Fantasie." Besorgt blickte Christy die Freundin an. "Hast du immer noch keinen Versuch unternommen, sie zu finden?" "Warum sollte ich sie suchen?" "Sie ist deine Mutter." "Weißt du", erklärte Dorothy nachdenklich, "ich glaube, dein Onkel hat Recht damit, dass es manchmal besser ist, grausam zu sein. Es wäre einfacher für mich gewesen, hätte Dad mir vorgemacht, Mom sei tot. Die Tatsache nämlich, dass sie mich, ihr Kind, so ohne weiteres verlassen konnte, war viel schwerer zu ertragen." Dorothys Stimme klang immer noch verbittert. "So kann es doch nicht gewesen sein, Dorothy ..." "Gibt es dafür vielleicht eine andere Erklärung? Mom ist fortgegangen und hat mich bei diesem Unmenschen von Dad zurückgelassen." Dorothy umklammerte das Lenkrad und blickte stur geradeaus. "Keine", gab Christy zu.
"Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass die Briten an Wahltagen zu Tausenden für ihn stimmen", sägte Dorothy verständnislos. "Das Merkwürdige ist nur, dass er tatsächlich ein guter Abgeordneter zu sein scheint. Man spricht sogar davon, dass er der nächste Parteivorsitzende werden könnte." "Er ist in seinem Beruf sehr erfolgreich, aber als Vater hat er auf der ganzen Linie versagt", stellte Christy fest. "Nicht alle Eltern lieben ihre Kinder", bemerkte Dorothy abschließend und konzentrierte sich dann lieber wieder auf die Straße. "Ein Vater kann doch gar nicht anders. Er muss sein Kind lieben", sagte Christy mit einem Blick auf die schlafende Catherine auf dem Rücksitz. "Dabei warst du doch ein besonders liebes und hübsches Kind mit deinen blonden Locken, den großen grünen Augen und den Sommersprossen auf der kleinen Stupsnase." Verlegen tippte Dorothy auf ihre Nase, wo die Sommersprossen seit gestern wieder zum Vorschein gekommen waren. "Mein Vater war einfach nicht fähig, mich zu lieben." Christy lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Sie blickte in die Ferne und dachte angestrengt nach. "Es ist so entsetzlich schwierig, den richtigen Mann zu finden", überlegte sie laut. "Du musst mit ihm übereinstimmen, dieselben Dinge wichtig finden, dieselben Ziele im Leben haben." Dorothy lächelte ihre Freundin liebevoll an. "Am besten wird sein, wenn deine Freunde vorher einen Fragebogen ausfüllen, bevor du mit ihnen ausgehst." "Ich könnte auch eine Anzeige aufgeben und genau anführen, was ich mag und was nicht und was der Mann meines Herzens alles bieten muss, damit ich mich so richtig in ihn verlieben kann", erklärte Christy lachend, froh, dass die traurige Unterhaltung beendet war. "Ist das so einfach?", fragte Dorothy erstaunt. "Ich dachte, das wäre nur in gewissen zweideutigen Zeitungen möglich."
"Doch nicht so etwas!", rief Christy empört. "Es gibt ganz seriöse Zeitungen, die solche Anzeigen veröffentlichen." Sie überlegte. "Obwohl ich zugeben muss, dass ich solch eine noch nicht entdeckt habe." "Wäre es nicht einfacher, zu einer Partnervermittlung zu gehen? Dort geben sie alle deine Daten in einen Computer ein und..." "... und dann empfehlen sie dir den bestgeeigneten Mann, den sie gerade in ihrer Kartei haben", fiel Christy entsetzt ein. "Da ist die Auswahl doch sehr begrenzt. Eine Anzeige finde ich besser. Die lesen mehr Leute. Du musst natürlich die Zeitung, in der du annoncierst, sorgfältig auswählen." "Wie wäre es mit dem Playboy?", fragte Dorothy betont unschuldig. "Nur das nicht!", rief Christy empört. "Hast du eine Ahnung, wie da die Antworten ausfallen würden!" "Das wäre vielleicht ganz interessant", erklärte Dorothy schmunzelnd. "Allerdings", stimmte Christy zu. "Aber jetzt mal im Ernst, Dorothy ..." "Wenn du schon so anfängst, bin ich sofort skeptisch", unterbrach Dorothy sie sofort. "Unterbrich mich doch nicht so dumm und bleib beim Thema", schalt Christy. "Alle deine Freunde, und ganz besonders ich, machen sic h schon lange Sorgen um dich. Was ich zu viel habe, hast du zu wenig oder gar nicht: Männer!" Solche Bemerkungen parierte Dorothy von jeher lachend und mit einer schlagfertigen Antwort. Seit ihrer Ankunft in Castle Haven aber war alles anders. Erstens: Sie hatte einen Mann getroffen, und zweitens: Sie war mit dem Alleinsein nicht mehr zufrieden. Sie fand Thomas Bennett nicht nur interessant, sondern geradezu aufregend. Ein solcher Gefühlsaufruhr war ihr ganz neu und daher nicht geheuer. Deshalb versuchte sie erst gar
nicht, darüber nachzudenken, was nicht so leicht war, da sie ständig mit Thomas zusammentraf, Christy beobachtete sie aufmerksam. Dorothy versuchte zu lächeln, um die Freundin zu täuschen. Die aber kannte Dorothy viel zu gut. "Hast du vielleicht jemanden kennen gelernt?", fragte Christy aufgeregt. "Hat sich während meiner Abwesenheit etwas ereignet? Gibt es einen Mann in London?" "Nein." "In New York? In Toronto?" "Nein." Dorothy lachte. Christy war jedoch nicht so leicht zu entmutigen und ließ daher nicht locker. "Hast du irgendwo sonst einen Mann gefunden?" Dorothy wollte auch das verneinen, aber sie sah ihrer Freundin an, dass sie etwas ahnte und die Situation genoss. Deshalb wehrte sie ab. "Es ist nichts Ernstes, Christy ..." "Wenn du zugibst, dich für jemanden zu interessieren, dann ist das schon ernst genug", entgegnete Christy. "Wer ist es? Was macht er? Bist du ...?" "Hör auf", unterbrach Dorothy sie lachend. "Es ist überhaupt nicht spruchreif. Dieser Mann ist nur mir aufgefallen, aber er beachtet mich nicht", fügte sie leise hinzu. "Oh." Christy war enttäuscht. "Aber das ist wenigstens ein kleiner Fortschritt. Es ist zwar schön, dass du so viele Patenkinder hast, aber eine Frau wie du braucht eigene Kinder, Dorothy." "Ich kenne den Mann kaum und schon redest du, als wäre ich bereits verheiratet und dächte nur ans Kinderkriegen", spottete Dorothy. "Ich vertraue dir nie wieder etwas an. Konzentriere dich lieber auf dein eigenes Liebesleben." "Spielverderberin", schmollte Christy. Dorothy lächelte nachsichtig und lenkte das Gespräch von sich ab. "Weißt du was? Wir schließen einen Pakt: Sobald du
dich richtig verliebt hast, werde auch ich mir Gedanken über meine Zukunft machen." "Das klingt, als wäre ich ein flatterhaftes Wesen", beschwerte sich Christy. "Ich bin überzeugt", und jetzt wurde sie fast andächtig, "irgendwo wartet ein Mann auf mich. Ich muss ihn nur erst finden. Wenn meine Finanzen geregelt sind und ich beruflich fest im Sattel sitze, fange ich an, mich ernsthaft umzusehe n", verkündete sie entschlossen. "Dann habe ich ja noch einige Jahre Zeit, ehe es ernst wird für mich", sagte Dorothy schmunzelnd. "Sehr lustig", meinte Christy sarkastisch. "Es ist durchaus möglich, dass mir gleich nach Beendigung der Schauspielschule eine Bombenrolle angeboten wird, die mich sofort zum Star macht." "Das wünsche ich dir wirklich", erklärte Dorothy ernsthaft. "Du arbeitest hart und du bist gut, und es war nicht leicht, in diesen Beruf einzusteigen." "Mom und Dad wären stolz auf mich", sagte Christy voller Überzeugung. Damit hatte Christy bestimmt Recht. Michael und Diana Bennett waren der Ansicht gewesen, dass ein jeder aus seinem Leben das machen durfte, was ihm gefiel, ungeachtet dessen, was "die Leute" davon hielten. Dorothy war als Kind viel häufiger bei Christys Eltern gewesen als zu Hause beim Vater. So übernahm sie diese Lebensphilosophie ganz von selbst und war überzeugt davon, dass es wichtig war, sich selbst zu erkennen und sich und ändern treu zu bleiben. Michael und Diana Bennett, das wusste Dorothy genau, hätten ihrer Tochter nur zugestimmt. Es war still geworden im Auto. Beide, Dorothy und Christy, hingen, jede für sich allein, ihren Gedanken nach. Christy unterbrach schließlich das Schweigen: "Schluss jetzt mit dem
Trübsinn! Catherine hat ihre Puppe wieder, du bist heimlich verliebt und ..." "Also gut, es ist kein Geheimnis mehr." Dorothy gab das Leugnen auf. "Mit dir kann ich sowieso niemals Poker spielen", murmelte sie. "Nicht ich war es, die damals einen gewissen illegalen Spielklub besucht hat", erinnerte Christy sie an den Vorfall während der Schulzeit, bei dem Dorothy von der Polizei festgenommen worden war. "Aber durch dich habe ich Jason, den Journalisten, kennen gelernt." "Mich hat er nie in einen solchen Klub mitgenommen. Warum eigentlich nicht?" "Er wusste wahrscheinlich, dass du kein Geheimnis für dich behalten kannst." "Da irrst du dich", erklärte Christy hochmütig. "Wirklich?" "O ja." Eifrig begann Christy: "Ich weiß etwas über ..." Sie stockte plötzlich, denn sie merkte, dass Dorothy ihr mit ihren Sticheleien eine Falle gestellt hatte. "Da hast du mich ja schön hereingelegt!" Dorothy lachte leise. "Nur ein wenig." "Tu das nicht wieder", beschwerte sich Christy. "Onkel Thomas wäre wütend, ahnte er, dass ich Geheimnisse von ihm weiß und die vielleicht weitererzähle." Bei dem Namen "Thomas" wurde Dorothy plötzlich hellhörig. Jetzt ärgerte sie sich, dass sie Christy gehänselt und unterbrochen hatte. Neugier quälte sie nun. Sie wollte alles wissen, was Thomas Bennett betraf. Doch dann pfiff Dorothy vergnügt vor sich hin, trug sie doch ihr eigenes Geheimnis um Thomas mit sich herum. Sie blickte verstohlen auf die Uhr. Es war beinahe halb drei. Um diese Zeit ging Thomas "Vögel beobachten", wie Christy meinte. Doch heute war es noch wärmer als gestern und Dorothy war doppelt
überzeugt davon, dass er nichts anderes tat," als nackt im See herumzuschwimmen.
6. KAPITEL "Ihr müsst mich wahrhaftig für herzlos halten!" Thomas stürmte in die Halle, wo Christy und Dorothy auf ihn warteten. Beide blickten erschrocken auf. Seit dem Gespräch in der Bibliothek am Morgen hatte Dorothy ihn nicht mehr gesehen. Nach der Autofahrt war sie mit Christy ausgiebig spazieren gegangen, um nicht der Versuchung zu erliegen, Thomas beim Baden aufzulauern. So wusste Dorothy, dass auch Christy den Onkel in der Zwischenzeit nicht gesehen haben konnte. Was also war geschehen? Dorothy musterte Thomas. Wieder trug er den dunklen Anzug und das Hemd, und beides verbarg seinen durchtrainierten, kräftigen Körper nur schlecht. Wieso war es der flinken Christy bis jetzt entgangen, wie gut und männlich ihr Onkel aussah? "Was habt ihr euch dabei gedacht? Warum habt ihr mir nicht erzählt, dass Mrs. Scotts Tochter ins Krankenhaus eingeliefert worden ist und ihre Enkeltochter nun bei uns ist?", fragte er unwirsch. "Habt ihr befürchtet, dass ich beide hinauswerfe?" Christy begriff als Erste, wovon er sprach. Vielsagend blickte sie Dorothy an. "Natürlich nicht, Onkel Thomas", sagte sie dann besänftigend. "Mrs. Scott schien gut zurechtzukommen, und ich .... wir nahmen an, dass Fredericks dir berichtet hat." "Fredericks fand es offensichtlich nicht wichtig genug", schimpfte Thomas, "aber Mrs. Scott berichtete mir voller
Begeisterung, dass meine Nichte und Miss James sich heute um ihre Enkeltochter gekümmert hätten. Ihr seid sogar dreißig Meilen weit gefahren, um die Lieblingspuppe der kleinen Catherine zu holen." "Das war ..." "... Christys Idee", warf Dorothy ein und schaute ihre Freundin warnend an. "Es war einfach nett von ihr, denn Catherine war ziemlich traurig, weil sie ihre Puppe zu Hause vergessen hatte." "Oh, aber..." "Findest du das nicht auch, Thomas?", fragte sie schnell und schickte einen zweiten Warnblick in Richtung Christy. "Sehr", antwortete er knapp. "Ich bin überzeugt, dass Mrs. Scott ihr ebenso dankbar ist wie das kleine Mädchen." Er sah seine Nichte vo ller Zuneigung an. "Aber", fuhr er dann schroff fort, "wenn sich eine von euch die Mühe gemacht hätte, mich zu unterrichten, hätte Mrs. Scott frei bekommen. Dann hätte sie Catherine zu Hause versorgen und im Krankenhaus einen Besuch machen können." Er hatte natürlich Recht. Er war der Hausherr und Mrs. Scotts Arbeitgeber, er musste über alles, was sich im Schloss zutrug, informiert sein. Christy war noch immer überrascht, sich plötzlich in die Rolle des guten Samariters versetzt zu sehen. Von ihr also konnte Dorothy keine Hilfe erwarten. "Wir wollten dir keine Mühe machen", sagte Dorothy. "Es war alles gut geregelt. Christy und ich hatten etwas zu tun und Mrs. Scott konnte ihrer Arbeit nachgehen, denn sie wusste Catherine bei Christy in guten Händen." Inzwischen war es Christy ganz offensichtlich schon zu viel, immer neue Lorbeeren zu ernten. Sie blickte Dorothy unwillig an. "Catherine war jedenfalls sehr glücklich", fügte Dorothy schnell hinzu.
"Wahrscheinlich hast du Recht", gab Thomas zu, "aber ihr scheint dabei alle vergessen zu haben, dass ich hier der Hausherr bin." In den vergangenen Jahren hatte Dorothy es im Zusammenleben mit dem Vater bestens gelernt, wie man mit einem entrüsteten Mann umgehen musste. "Du bist immer so beschäftigt, Thomas", meinte sie, "dass keiner von uns dich mit einer solchen Kleinigkeit belästigen wollte." Er sah sie abweisend an. "Ich bezweifle, dass Mrs. Scotts Tochter die Angelegenheit auch für eine Kleinigkeit hielt." "Nein, aber ..." "... oder Catherine, als sie in der vergangenen Nacht in der fremden Umgebung aufwachte und weinte oder Mrs. Scott, als sie versuchte, das Kind zu beruhigen." Er steigerte sich wieder erneut in seinen Ärger hinein. Bei Thomas verlief die Sache jedoch überhaupt nicht nach Plan, wie Dorothy gedacht hatte. Bei ihrem Vater reichte es meist aus, ihm zu versichern, wie bedeutend seine Arbeit sei und darüber vergaß er sofort, worüber er sich eigentlich ärgern wollte. Thomas reagierte ganz anders. Dorothy steckte zurück. Sie sah, dass sie mit Schmeicheleie n bei ihm nichts erreichte. Zugleich erkannte sie, dass Thomas durchaus fähig war, mit anderen Menschen mitzufühlen. Mrs. Scotts Schwierigkeiten berührten ihn ebenso sehr wie die Enttäuschung darüber, dass niemand ihm davon erzählt hatte. Dorothy glaubte ihm ohne weiteres, dass er Mrs. Scott großzügig beurlaubt hätte. "Wir haben es nicht absichtlich getan", erklärte Dorothy nun ziemlich verunsichert. "Ihr wart eben der Ansicht, es würde mich nicht interessieren." Sie lächelte verlegen. "Ja, ich meine ..." Ungeduldig wandte sich Thomas an seine Nichte: "Ist das auch deine Ansicht?"
Christy wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. "Nun, ich..." "Sie ist natürlich anderer Meinung", kam Dorothy der Freundin zu Hilfe, denn sie sah, wie sich Thomas' Blick bereits verdüsterte. "Christy ..." "... kann sicherlich für sich selbst sprechen", unterbrach Thomas entschieden. "Hast du etwas dazu zu sagen, Christy?" Seine Stimme bekam einen weicheren Klang, als er sich der Nichte zuwandte. "O ja." Christy hatte sich jetzt gefangen. "Wir haben nichts Unrechtes getan, Onkel Thomas. Unser einziger kleiner Fehler besteht darin, dich nicht informiert zu haben", verteidigte sie sich. "Wir haben eben vor allem an Catherine gedacht." Sie sprach energisch, fast hitzig. Dorothy starrte die Freundin verblüfft an. Sie kannte Christy gut genug, um zu wissen, was in ihr vorging. Christy geriet nicht schnell in Wut, war sie aber einmal richtig verärgert, konnte sie ganz schön in Fahrt geraten. Einerseits wollte sie bei ihrem Onkel den Eindruck erwecken, sanft zu sein, andererseits aber musste Thomas doch einsehen, dass der Kummer eines Kindes viel wichtiger war als seine Eitelkeit. Dorothy stimmte mit Christy überein und wäre ihr gern zu Hilfe gekommen, aber ihr waren die Hände gebunden. Sie durfte nicht aus der Rolle fallen. Die liebevolle Sorge um das Kind passte nicht zu der wohnsitzlosen Herumtreiberin namens Dorothy. Die energischen Worte seiner Nichte überraschten Thomas. Er unterdrückte seinen Ärger und gab sich versöhnlich. "Nichts für ungut", sagte er seufzend, "wichtig ist schließlich nur, dass das Problem zur Zufriedenheit aller gelöst worden ist. Catherine war eben in der Küche draußen jedenfalls sehr fröhlich." "Ich wusste, dass du Verständnis hast, Onkel Thomas." Christy atmete erleichtert auf; Sie war froh, die Situation gerettet zu sehen und umarmte Thomas herzlich.
Dorothy beneidete Christy darum, dass sie sich solche spontanen Gefühlsregungen leisten konnte. Wahrhaftig, sie sehnte sich selbst danach. In solchen Augenblicken begann sie zu ahnen, was eigentlich in ihr vorging, obwohl sie sich im nächsten Moment sofort wieder dagegen wehrte und vor sich selbst versteckte. "Übrigens", sagte Thomas gerade zu Christy, "ich habe Mrs. Scott heute Abend freigegeben, damit sie mehr Zeit für Catherine hat. Könntet ihr euch ein wenig um das Abendessen kümmern?" Er tat übertrieben sanft und schaute dabei richtig hilflos drein. Christy und Dorothy brachen in schallendes Gelächter aus. "Du benimmst dich ja fast wie ein Softie, Onkel", erklärte Christy begeistert und umarmte ihn noch einmal. "Hattest du denn jemals Grund, anders von mir zu denken?", fragte er erstaunt. "Nein, natürlich nicht", versicherte Christy schnell. "Komm, Dorothy, wir gehen jetzt in die Küche und machen uns an die Arbeit." Mrs. Scott hatte bereits die Suppe, Hähnchen mit Reis und einen Nachtisch vorbereitet. Deshalb gab es für Christy und Dorothy nicht mehr viel zu tun. Sie mussten das Essen nur hübsch auf Platten und in Schüsseln anrichten, dann konnte Fredericks servieren. Dorothy war eben dabei, ein Hähnchen mit der Geflügelschere zu teilen. Mit leicht verhaltener Stimme meinte sie: "Das wäre beinahe daneben gegangen. Ich hatte schon Angst, du würdest die Geduld verlieren." "Ich war nahe daran", stimmte Christy zu. "Natürlich ist mir klar, warum du mich zu Catherines Wohltäterin gemacht hast, aber diese Rolle gefiel mir nun auch wieder nicht besonders. Die ganze Situation kam mir unmöglich vor." Nach kurzer Pause
fügte sie nachdenklich hinzu: "Jedesmal, wenn ich glaube, ihn gut zu kennen, entdecke ich wieder eine neue Seite an ihm." "Mm", murmelte Dorothy vor sich hin. Gerade in diesem Punkt wollte sie keine weitere Diskussion. Sie fürchtete, sich zu verraten. Denn es ging ihr ganz genau wie Christy, auch sie entdeckte immer neue Züge an Thomas. Er schien ihr großmütig, begabt, klug und gut aussehend zu sein und faszinierte sie immer mehr. Christy schmunzelte. "Eines hat sich jedenfalls wieder einmal bestätigt", meinte sie und stellte dabei die Teller im Ofen warm, "wo du bist, da gibt es keine Langeweile. Was ist in der kurzen Zeit, seit du da bist, nicht schon alles passiert! Wir haben das Schloss besichtigt, eine Puppe herbeigeschafft, das Regiment in der Schlossküche übernommen und du hast außerdem noch einen sehr starken Eindruck auf ..." "Ja?", hakte Dorothy eifrig nach, denn Christy brach plötzlich ab und betrachtete sie mit großen Augen, so als hätte sie ihre Freundin nie zuvor gesehen. "Christy, was wolltest du sagen?", drängte Dorothy. Christy lächelte nur übermütig. "Nichts", behauptete sie und schlug in einem ganz anderen Ton dann vor: "Komm, wir gehen ins Esszimmer." Dorothy konnte es nicht leiden, wenn Christy geheimnisvoll tat. Dann führte sie stets etwas im Schilde und das ließ Dorothy Böses ahnen. "Christy", begann sie warnend. "Fredericks ist schon dabei, die Suppe zu servieren", unterbrach Christy sie und der Butler balancierte auch bereits mit einem Tablett an ihnen vorbei. Dorothy bedeutete ihr mit einem Blick, dass die Sache noch nicht erledigt war und folgte ihr ins Speisezimmer. Das ganze Essen über war ihr leicht unbehaglich zumute, denn Christy beobachtete sie ununterbrochen.
Absichtlich unterhielt sich Dorothy nur über Belanglosigkeiten. Christy beteiligte sich kaum am Gespräch und blickte nur schweigsam kauend von einem zum andern. Nach dem Abendessen fühlte Dorothy ein leichtes Kribbeln in den Händen. Diese komisch verstockte Christy hatte sie ziemlich nervös gemacht. Dorothy war überzeugt davon, dass Christy wieder einmal etwas ausheckte. Diesmal wollte sie aber auf der Hut sein, bevor sie wieder so mir nichts dir nichts eine neue Rolle aufgehalst bekam. Später, in Christys Zimmer, forderte Dorothy ganz offen eine Erklärung. "Ich weiß nicht, wovon du sprichst", behauptete Christy und sah sie scheinheilig an. "Christy!" "Es war sehr anständig von Onkel Thomas, uns beim Abwaschen zu helfen", lenkte diese ab. Dorothy hatte es zu dritt in der Küche zwar ziemlich eng gefunden, war aber überrascht gewesen, dass der Hausherr seine Hilfe beim Abtrocknen angeboten hatte. Ihr Vater hätte in derselben Situation weder Mrs. Scott freigegeben noch sich zu irgendeiner Hausarbeit herabgelassen. Dorothy war leicht verwundert und gleichzeitig verärgert über sich selbst. Warum nur verglich sie immer wieder insgeheim ihren Vater mit Thomas? Wenn ihr Vater Schuld daran war, dass sie sich bislang vor jeder engen Bindung an einen Mann scheute, dann mochte Thomas Schuld daran sein, dass diese Vorbehalte allmählich schwanden. Nach dem Verschwinden der Mutter hatte ihr Vater nicht wieder geheiratet. Dorothy schien es damals manchmal, dass er die Rolle des unschuldig verlassenen Ehemannes ganz gern spielte. Immer wieder ließ er im richtigen Moment durchblicken, dass er nie über den Verlust seiner Frau hinweggekommen sei und das brachte ihm viele weibliche Wählerstimmen ein. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert,
nacheinander die üblichen heimlichen Affären zu haben. Gleichzeitig berichteten damals die Zeitungen über die Affären ihrer Mutter, die immer wieder irgendwo auf der Welt auftauchte. Wenn man diesen Zeitungen glauben konnte, so hatte ihre Mutter einen Liebhaber nach dem anderen und ihre Männer wurden immer jünger. Geprägt von diesen Erfahrungen und Erkenntnissen, war Dorothy aufgewachsen. Deshalb fürchtete sie sich vor jeder festen Bindung, deshalb konnte sie nicht an die ewig währende Liebe glauben, obwohl einige ihrer Freunde seit Jahren glücklich verheiratet waren. Liebe barg für sie die Gefahr von Schmerz, Enttäuschung, Verlassensein. Und jetzt trat Thomas in ihr Leben und mit ihm die Angst vor der Liebe. Warum lief sie nicht weg, so schnell sie konnte? Warum blieb sie stattdessen und freute sich jeden Tag auf Thomas? Die Freundschaft zu Christy allein war kein Grund zu bleiben. Dorothy war fest entschlossen, hart zu bleiben in dieser leicht hinterhältigen Diskussion mit Christy. "Ja, es war sehr nett von ihm, zu helfen, aber versuch bitte nicht, das Thema zu wechseln. Was führst du im Schilde?" "Also gut", gab Christy schließlich nach. "Ich habe gar nichts Bestimmtes vor, obwohl die Dinge sich so entwickeln, dass mein Erfolg bei Onkel Thomas dafür ins Wasser fällt." "Was meinst du damit?", fragte Dorothy nervös. Christy legte Dorothy die Hand auf die Schulter und sah die Freundin liebevoll an. Langsam und bedeutungsvoll sagte sie: "Zwischen dir und Onkel Thomas funkt es gewaltig. Während des Essens war es ganz deutlich zu spüren." Vor Verlegenheit wurde Dorothy rot. "Unsinn", behauptete sie barsch und dachte dabei: Wie recht sie hat! Christy hatte also beobachtet, dass auch er, Thomas, von ihr angetan war! Christy ergriff Dorothys Hand und drückte sie fest. "Er darf nicht länger so schlecht von dir denken", entschied sie.
"Du bildest dir das alles nur ein", erklärte Dorothy schroff. "Was soll das? Der verstaubte Professor und ich?" Sie schüttelte ablehnend den Kopf. Christy jedoch ließ sich nicht täuschen. "Du hältst ihn doch schon lange nicht mehr für einen verstaubten Professor", schalt sie leise. Dorothy lenkte ein. "Also gut, ich sehe in ihm nicht den verschrobenen Professor, aber ich bringe ihn auch nicht mit Ehe und Familie in Verbindung. Bitte, lass mich jetzt in Ruhe, Christy." "Dorothy, ich frage mich, ob du die Liebe überhaupt erlernen kannst, wenn sie dir begegnet." "Und wie ist es mit dir? Kannst du immer gleich sagen, wenn du jemanden liebst?", erwiderte Dorothy aufgebracht. Christy nahm ihr diesen Ton nicht übel. "Ich war schon ein paarmal verliebt, aber es war niemals so wie zwischen dir und Onkel Thomas, es knisterte nicht." "Du hast zu viele Liebesromane gelesen", behauptete Dorothy. "Im wirklichen Leben ist es anders." "Nein, nicht immer." "Bei mir schon." Dorothy ging zur Tür. "Bitte hör auf, mich zu verkuppeln." "Also gut", stimmte Christy zu. "Ich meine es ernst", hakte Dorothy nach. Sie traute der schnellen Zustimmung ihrer Freundin nicht. "Wenn du versuchst, mich mit deinem Onkel zusammenzubringen, fahre ich sofort ab. Es wird dir dann schwer fallen, diese plötzliche Abreise zu erklären." "Ist ja schon gut, ich gebe nach. Dennoch bin ich überzeugt: Ihr beide würdet gut zueinander passen. Mach mir später aber keine Vorwürfe, wenn du diese einmalige Chance zum Glücklich werden verpasst hast." Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, da schlug sie auch schon die Badezimmertür hinter sich zu.
Betrübt ging Dorothy hinaus. Zu dumm, dass Christy bemerkt hatte, dass ihr Thomas nicht gleichgültig war. Stimmte es wirklich, dass auch Thomas mehr für sie empfand, wie Christy glaubte? Sicher, es gab etwas zwischen ihnen, das sie nicht in Worte fassen konnte und sie fragte sich, ob auch Thomas dies so sah. Ruhelos lief sie im Zimmer auf und ab. Gern hätte sie einige ihrer "Beruhigungs-Sardinen" gegessen, die sie am Nachmittag eingekauft hatte und ein Glas Milch dazu getrunken, aber sie zögerte, in die Küche zu gehen. Sie befürchtete, Thomas könnte dort auftauchen. So setzte sie sich ans Fenster und blickte nach draußen. Die Berge und Seen waren im hellen Mondlicht deutlich zu erkennen. Vielleicht fand sie beim Anblick dieser wunderbaren Nachtstimmung die Ruhe wieder. Doch vergeblich: Im Mondlicht glänzte hell ein kleiner See, der ihr nur allzu bekannt war, er brachte nur die Erinnerung an Thomas zurück. Und sie sah ihn wieder vor sich, wie er ihr am Ankunftstag draußen am See begegnet war. Dorothy wusste nicht, wie lange sie dort gesessen und vor sich hin geträumt hatte, als es plötzlich zaghaft an der Tür klopfte. Was wohl Christy so spät noch von ihr wollte? Dorothy öffnete die Tür und erstarrte: Vor ihr im hellen Flurlicht stand Thomas! Sekundenlang glaubte sie, Hirngespinste zu sehen, da sie sich die ganze Zeit über mit ihm beschäftigt hatte. Viel eher hatte sie Christy erwartet, die vielleicht auch nicht schlafen konnte. Doch nein, hier stand Thomas leibhaftig vor ihr und lächelte verlegen. Wie in der vergangenen Nacht trug er den gleichen Bademantel über dem Schlafanzug. Auf dem Tablett, das er leicht schief trug, entdeckte Dorothy ein Glas Milch und einen Teller mit Keksen. Er stellte das Tablett auf einem kleinen Tisch ab und meinte entschuldigend: "Ich habe es einfach nicht geschafft, eine Dose mit Sardinen zu öffnen." Er drehte sich zu Dorothy um, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.
Jetzt erst löste sich Dorothy aus ihrer Erstarrung. "Das war doch wirklich nicht nötig", sagte sie total verwirrt. "Ich sah noch Licht unter deiner Tür", erklärte er, "und da dachte ich, du kannst möglicherweise wieder nicht schlafen und ich könnte dir mit diesem Betthupferl vielleicht helfen." Das war zu viel für Dorothy. Seit vielen Jahren hatte sich kein Mensch in dieser liebevollen Weise um sie gekümmert und das mitten in der Nacht. Niemand hatte ihr bisher Milch und Kekse gebracht, weil sie nicht schlafen konnte. Sie schaute Thomas groß an und war machtlos gegen die Tränen, die ihr plötzlich übers Gesicht liefen. Schlagartig wurde Thomas ernst. Er ging schnell zu ihr. "Soll ich lieber Sardinen holen?" Dorothy lächelte unter Tränen. "Ich will keine Sardinen. Ich möchte ..." Sie konnte nicht weitersprechen und sah ihn hilfesuchend an. Dann war alles ganz einfach, ganz selbstverständlich. Er nahm Dorothy einfach in die Arme. "Kleines Mädchen, wie sehr hab' ich mich nach dir gesehnt." Er vergrub das Gesicht in ihrem Haar und sagte leise und andächtig: "Dorothy!" Sie standen fest umschlungen reglos da und Dorothy glaubte zu träumen, während ihr Herz wie wild klopfte. In Thomas' starken Armen fühlte sie sich wie ein zarter Schmetterling, der vor einer drohenden Gefahr beschützt wird. Thomas umfasste ihr Kinn und blickte ihr tief in die Augen. Dann beugte er sich zu ihr hinunter und küsste sie auf den Mund. Dorothy war noch nie geküsst worden. Für all ihre Freunde war sie immer nur der gute Kamerad, mit dem man Pferde stehlen konnte, dem man aber nicht zu nahe kommen durfte. Sie war einundzwanzig Jahre alt und noch nie verliebt gewesen. Jetzt war alles anders. Vergessen war alle Scheu, alle Angst vor dem großen Abenteuer Liebe. Nie wieder wollte sie sich aus diesen Armen lösen. Eine unbekannte, tiefe Erregung erfasste
ihren Körper, ihr Fühlen und Denken. Sie klammerte sich an Thomas' breite Schultern während er sie immer fordernder küsste. Thomas glitt mit heißen Lippen über ihr ganzes Gesicht und über den Hals bis zur Schulter. Die Berührung ließ Dorothy erzittern und all ihre Sinne erwachten. Sie fühlte sich voll heißen Lebens und zugleich völlig verzaubert. "Dorothy, ich ..." Er sprach den Satz nicht zu Ende, denn in diesem Augenblick schrie jemand laut auf. "Catherine!", rief Dorothy erschrocken und befreite sich aus Thomas' Armen. Ihr Gesicht war erhitzt und sie konnte Thomas nicht in die Augen sehen. "Sie muss einen schrecklichen Traum haben. Ich schaue mal nach ihr." Thomas richtete sich auf. Der Glanz in seinen Augen erlosch. "Ja, geh nur", stimmte er mit gepresster Stimme zu. "Ich komme mit dir." "Nein", rief Dorothy, doch als sie seinen verständnislosen Blick sah, verbesserte sie sich schnell. "Wenn du möchtest, kannst du natürlich mitkommen." Mit unsicheren Schritten ging sie zur Tür. "Ich komme mit", erklärte er fest. Dorothy lief voran, erstaunt, dass ihre Beine sie überhaupt trugen, nach allem, was geschehen war. Als sie an Christys Tür vorbeiging, regte sich in ihrem Zimmer nichts. Wenn sie einmal eingeschlafen war, konnte die Welt untergehen, Christy schlief weiter! Vor der Tür zu dem Zimmer, in dem Catherine untergebracht war, zögerte Dorothy einen Augenblick, bevor sie anklopfte. Die Köchin war sichtlich froh, Dorothy zu sehen, doch als sie Thomas erblickte, der Dorothy folgte, wurde sie verlegen. "Dorothy", rief Catherine, befreite sich aus den Armen ihrer Großmutter und legte die dünnen Ärmchen um Dorothys Nacken. "Ich will zu Mummy", schluchzte sie und umklammerte Dorothy fest.
Dorothy nahm das Kind zu sich auf den Schoß und sprach leise auf Catherine ein und erinnerte sie daran, dass ihre Mutter im Krankenhaus lag und sich erst erholen musste, ehe sie nach Hause kommen konnte. Thomas stand währenddessen an der Tür und beobachtete die Szene. Mrs. Scott zog sich rasch einen Morgenmantel über. Die Anwesenheit des Professors machte sie offenbar unsicher. "Ich hoffe, wir haben Sie beide nicht aufgeweckt", sagte sie verlegen. "Es ist alles so fremd hier für Catherine", meinte Thomas verständnisvoll. Dorothy drehte sich nach ihm um. Die Hände tief in den Taschen vergraben, stand er da, das Haar fiel ihm unordentlich ins Gesicht. Dorothy wurde rot in Gedanken daran, dass sie diesen Mann erst vor wenigen Minuten heftig umarmt hatte. Schnell wandte sie sich ab. Thomas ging auf Mrs. Scotts Frage nicht ein. Ob die Gute wohl ahnte, dass Dorothy und Thomas aus ein und demselben Zimmer herbeigestürzt waren? Ich tue am besten so, als wäre nichts geschehen, überlegte Dorothy. Allmählich beruhigte sich Catherine in Dorothys Armen. Beinah schon fielen dem kleinen Mädchen die Augen zu, da schreckte es noch einmal auf, klammerte sich an Dorothy und bat: "Bleib bei mir." "Natürlich bleibe ich bei dir", versicherte Dorothy ohne Zögern. "Grandma und ich, wir sind bei dir. Du brauchst dich nicht zu fürchten." Dorothy schaute auf. Thomas ging auf die Tür zu und sein Blick sagte nichts anderes als: dann kann ich ja gehen! Und nach allem, was in ihrem Zimmer geschehen war, hielt Dorothy es auch für besser, wenn er ging. "Wir schaffen das hier schon, Professor", sagte sie förmlich.
Es schien, als wollte er widersprechen, dann nickte er schnell. "Gut, aber ich möchte morgen früh mit dir sprechen, Dorothy." Seine Stimme klang leise, aber bestimmt. "Ja, natürlich", sie schluckte unsicher, sie fürchtete sich vor diesem Gespräch. "Wir sehen uns um zehn Uhr in der Bibliothek." "Nein, nicht in der Bibliothek!" Mrs. Scott und Thomas sahen Dorothy erstaunt an und sie beeilte sich, ihren Ausrutscher wieder gut zu machen. "Die vielen Bücher sind so bedrückend. Mir wäre es lieber, wir könnten uns bei einer Tasse Kaffee in der Halle unterhalten." Missbilligend blickte er sie an. Genauso hatte er sich am ersten Tag verhalten, als Christy sie vorgestellt hatte. War das wirklich erst gestern gewesen?, fragte sich Dorothy. Seither war so viel geschehen. "Also gut", stimmte er dann doch zu, "Gute Nacht, meine Damen." Er nickte Mrs. Scott kurz zu und ging hinaus. Dorothy würdigte er keines Blickes mehr. "Oje", meinte die Köchin, "hoffentlich ist er nicht verärgert." Sie sah besorgt aus. Dorothy deckte Catherine liebevoll zu. "Er ist bestimmt nicht böse wegen Catherine", versicherte sie mit Nachdruck. Sicher war er verärgert, weil er sich vorhin in ihrem Zimmer dazu hatte hinreißen lassen, sie in die Arme zu nehmen. Zweifellos wollte er sie deshalb am nächsten Morgen sprechen, um ihr klarzumachen, dass sie auf keinen Fall Christy etwas davon erzählen durfte. Ausgerechnet Christy! Darüber brauchte er sich wahrhaftig keine Sorgen zu machen. "Legen Sie sich ein wenig hin", schlug Dorothy der Köchin vor. ,,Sie müssen sich ausruhen. Schon in der letzten Nacht haben Sie nicht richtig geschlafen. Wenn es Sie nicht stört, bleibe ich noch eine Weile bei Catherine.
Mrs. Scott betrachtete ihre friedlich schlafende Enkeltochter zärtlich. "Ich glaube, das ist jetzt nicht mehr nötig", sagte sie leise. "Jetzt schläft sie bestimmt bis in den Morgen hinein." "Dennoch möchte ich noch bleiben, wenn es Ihnen nichts ausmacht, ich habs Catherine ja versprochen." "Ich habe nichts dagegen", versicherte Mrs. Scott lächelnd. "Versprechen bedeuten für Kinder sehr viel." Die Köchin stand schwerfällig auf. "Aber jetzt muss ich schnell noch ein paar Stunden schlafen, damit ich morgen ausgeruht bin." "Tun Sie das nur schnell." Mrs. Scott hatte Recht. Für Kinder waren Versprechen etwas Besonderes. Wie oft hatte Dorothy als Kind erfahren, dass Erwachsene nicht hielten, was sie versprachen. Das tat sehr weh. Sie wollte nicht denselben Fehler machen. Außerdem fürchtete Dorothy sich davor, in ihr Zimmer zurückzugehen. Zu deutlich stand ihr noch vor Augen, was dort vor wenigen Minuten geschehen war. Später konnte sie das alles vielleicht wie einen schönen Traum abtun. Catherine wachte bis zum frühen Morgen nicht wieder auf. Dorothy huschte leise aus dem Zimmer und ging nach oben. Dort verflog der Traum sehr schnell. Denn in ihrem Zimmer stand auf einem kleinen Tisch ein Tablett mit einem Glas kalter Milch und einem Schälchen mit Keksen, Zeugen dafür, dass alles Wirklichkeit gewesen war. Und in wenigen Stunden sollte sie, Dorothy, Thomas gegenübertreten und so tun, als hätten die nächtlichen Ereignisse in ihrem Zimmer nichts zu bedeuten gehabt.
7. KAPITEL Die beiden Freundinnen saßen beim Frühstück und aßen gerade Toast mit Ingwermarmelade. Christy sah ausgeschlafen und munter aus und hatte offensichtlich großen Appetit. Dorothy dagegen wollte es nicht so recht schmecken. Plötzlich setzte Christy ihre Tasse so heftig ab, dass der Tee leicht überschwappte. "Hör mal, Mädchen, was ist los mit dir? Du hast dunkle Ringe um die Augen und sitzt da, als könntest du nicht bis drei zählen!" Jetzt blieb Dorothy nichts anderes übrig, sie musste Farbe bekennen und berichtete Christy, was nachts geschehen war. Was sich in ihrem Zimmer zugetragen hatte, unterschlug sie natürlich. "Klar, dass ich danach nicht gleich einschlafen konnte", meinte sie gähnend, "und zu allem Überfluss will mich Thomas nachher noch sprechen." Christy war wie elektrisiert, Neugier glänzte in ihren Augen. "Was, er will dich sprechen?" "Vielleicht will er mich als Köchin einstellen, solange Mrs. Scott weg ist." Dorothy verzog den Mund. "Mach keine Witze", schimpfte Christy. "Vielleicht will er mich auch bitten zu gehen, dann hat er einen Esser weniger zu versorgen", fuhr Dorothy unbeirrt fort. "Du wirst immer blöder", sagte Christy ärgerlich.
Dorothy betrachtete sie lächelnd. Christy sah heute Morgen besonders gut aus. Sie trug ein blaues Sommerkleid, das in der Farbe genau zu ihren Augen passte. Neben ihr kam sich Dorothy in ihren Jeans und dem verblichenen T-Shirt schäbig vor. Dorothy trank einen Schluck Tee, um Zeit zu gewinnen. "Dann tappe ich ebenso wie du im Dunkeln." Christy überlegte eine Weile. Dann kam ihr eine Erleuchtung. "Vielleicht sollte ich erst einmal mit ihm sprechen." "Nein!", rief Dorothy heftig. Erstaunt blickte Christy die Freundin an. Dorothy musste sich mehr zusammennehmen, sonst holte Christy noch das letzte Geheimnis aus ihr heraus. Dann hielt die Freundin nichts mehr davon ab, sie mit ihrem Onkel zu verkuppeln. "Es handelt sich bestimmt um nichts Wichtiges", versicherte sie lächelnd und erhob sich schnell, um zur Tür zu gehen. Das machte Christy noch misstrauischer. "Ich erwarte hinterher einen vollständigen Bericht", rief sie Dorothy nach, Vor der Tür zur Halle blieb Dorothy zögernd stehen. Mrs. Scott wollte heute mit Catherine zum Flughafen fahren, um ihren Schwiegersohn abzuholen. Sie musste schon Kaffee serviert haben, es duftete danach im Flur, also wartete Thomas bereits. Dorothy atmete tief durch und öffnete dann entschlossen die Tür. Thomas sah auf. Er sah Dorothy so durchdringend an, dass sie vor Schreck beinahe gestolpert wäre. Thomas trug wie immer sein ausgebeultes Tweedjackett. Das Hemd darunter jedoch war neu und sah ausnahmsweise nicht so aus, als hätte er darin geschlafen. Bei seinem Anblick setzte Dorothys Herz einen Schlag lang aus. Dieser neue Thomas sah unglaublich gut aus. Er kam ihr entgegen und schloss sorgfältig die Tür hinter ihr. "Dorothy, komm, setz dich", sagte er lächelnd. "Es ist mir klar, dass ich mich wegen der vergangenen Nacht bei dir
entschuldigen muss, aber unter diesen Umständen kommt mir eine schnelle Entschuldigung ein wenig schwach vor." Jetzt war Dorothy doppelt erstaunt. Er wollte sich entschuldigen? Das musste sie doch tun! Thomas schien mit sich unzufrieden. "Du bist Gast in meinem Haus und es war unmöglich von mir, diese Situation zu missbrauchen." Dorothy war sprachlos. Sie hatte doch alles ins Rollen gebracht. "Es wundert mich nicht, dass du mir nichts zu sagen hast. Ich kann mich selbst im Augenblick nicht leiden. Ich möchte dich noch einmal um Verzeihung bitten und dir versichern, dass so etwas nicht wieder vorkommen wird." Dorothy war immer noch sprachlos. Das war das Letzte, was sie erwartet hatte. Sie schaute ihn mit großen Augen verdutzt an und schwieg. "Das ist alles", erklärte Thomas kurz und ging zur Tür. "Bitte, glaub mir, es wird nicht noch einmal geschehen", und schon war er draußen. Dorothy blieb verwirrt zurück. Er war also keineswegs böse auf sie, erinnerte sich nicht mehr, dass sie ihn ermutigt hatte! Es war unfassbar, aber er hatte die ganze Verantwortung für das nächtliche Geschehen übernommen. Dann war es also doch kein Zufall gewesen, dass er zärtlich geworden war. Das würde alles zwischen ihnen ändern. Auch Thomas hatte viel durchgemacht in der Vergangenheit, überlegte Dorothy. Er wusste, wie weh es tat, jemanden zu verlieren, den man liebte. Seit dem tragischen Tod seiner Verlobten war er jeder Verbindung ausgewichen. Gestern Nacht hatte er zum ersten Mal seine beherrschte Haltung aufgegeben, hatte Gefühle gezeigt, hatte sie, Dorothy, geküsst. Jetzt war es an ihr, den nächsten Schritt zu tun, wenn es überhaupt so etwas gab wie einen "nächsten Schritt".
"Was ist los?" Christy stürzte ins Zimmer und platzte beinah vor Neugier. "Wir haben über den Haushalt gesprochen." "Ist das alles?" Christy war enttäuscht. "Ich habe mindestens erwartet, dass er mich zum Essen einlädt." "Wie kommst du denn darauf?" "Bei unserer miesen Versorgungslage hier hätte ihm schon so etwas einfallen können. Er hätte uns beide einladen müssen", sagte Christy. "Es macht mir zwar nichts aus, Frühstück und Lunch zuzubereiten, aber dann bin ich reif für eine nette AbendEinladung!" "Fredericks hat bei einer Agentur eine Aushilfsköchin angefordert", informierte Dorothy sie. "Trotzdem hätte Onkel Thomas uns zum Abendessen ausführen können", meinte Christy verträumt. Und dann ganz nebensächlich: "Glaubst du, er wird mir erlauben, ihn Thomas zu nennen, wenn ihr beide verheiratet seid?" Nach Christys Andeutungen vom Tag zuvor war Dorothy durchaus auf eine solche Frage vorbereitet. Deshalb antwortete sie gefasst: "Da muss schon die Sonne im Westen aufgehen, bevor wir heiraten!" Christy ließ sich nicht beirren. "Ich habe jedenfalls nicht vor, meine beste Freundin mit Tante anzureden." Dorothy schüttelte den Kopf. "Du bist unverbesserlich." Christy lächelte zuversichtlich. "Ich bin fest davon überzeugt, dass hier demnächst etwas Aufregendes passiert." "Christy", sagte Dorothy ernst, "misch dich bitte nicht ein." "Ich brauche dir ja wohl nicht zu sagen, dass ich verrückt werde vor Freude, wenn es mit euch beiden klappt", meinte Christy leise. "Ich würde dann bei der Hochzeit den Bräutigam übergeben." "Der Bräutigam wird nicht übergeben, es ist nur üblich, die Braut dem Bräutigam zuzuführen", verbesserte Dorothy ihre
Freundin. "Mein Vater hätte das zu gern bereits vor Jahren mit mir gemacht." "Denk nicht an ihn", riet Christy. "Vergiss nicht, deine Freunde lieben dich - und ganz besonders ich." "Dann wirst du nichts tun, was Thomas und mich in eine peinliche Lage bringen kann, ja?" "Ich werde ein Muster an Takt sein", versprach Christy. "Lass mich nur nicht zu lange warten." Es fiel ihr offensichtlich schwer, sich in Geduld zu üben. An diesem Nachmittag plagte Dorothy die Versuchung besonders stark, zum See zu gehen. Lange stand sie am Fenster ihres Zimmers und wünschte diesen kleinen Hügel, der ihr die Sicht versperrte, zum Teufel. Wollte sie sich wirklich ernsthaft mit Thomas einlassen? Darüber musste sie sich natürlich erstmal klar werden, bevor sie etwas unternahm. Niemals hatte sie geglaubt, jemanden wie Thomas zu finden. Sie hatte sich von Anfang an zu ihm hingezogen gefühlt, empfand Liebe und Achtung für ihn. Gleichzeitig aber sehnte sich jede Faser ihres Körpers nach ihm, dass sie sich wie verzaubert vorkam. Auch ihre Mutter musste einmal ähnliche Gefühle für Dorothys Vater empfunden haben und was war aus dieser Ehe geworden? Dorothy hatte Angst vor einer festen Bindung, vor ihren eigenen starken Gefühlen. Sie stützte den Kopf auf die Hand und ahnte, dass es bereits zu spät war. "Ist es nicht einfach hübsch hier?" Christy schlug die Beine übereinander und blickte zufrieden um sich. Obwohl am Nachmittag eine Aushilfsköchin im Schloss eingetroffen war, hatte Christy ihren Willen durchgesetzt und den Onkel überredet, sie und Dorothy zum Essen auszuführen. Zunächst war Dorothy Thomas gegenüber recht befangen, aber Christys fröhliches Geplapper überbrückte die ersten kritischen Minuten. Auf der Fahrt zum Restaurant ging es schon recht locker zu.
Trotzdem fand Dorothy Thomas Nähe beunruhigend. Er saß ihr gegenüber und jedesmal, wenn sie den Kopf hob, begegnete sie Thomas Blick. Um ihre Verlegenheit zu verbergen, betrachtete sie angestrengt seine Hände. Wie kräftig und wohlgeformt sie sind, stellte sie insgeheim fest. Christy tat ihr Bestes. Sie erzwang überhaupt nichts. Das entsprach genau Dorothys Wunsch, denn sie musste ihre Gefühle auf die Probe stellen und das konnte sie nur, wenn sie Thomas noch besser kennen lernte. Gute, liebe Christy, dachte sie. Das Restaurant war sehr hübsch eingerichtet. Die Tische standen in kleinen Nischen, das Licht war gedämpft. Es war das richtige Lokal für Verliebte, die sich ansehen, bei den Händen halten und nicht viel miteinander reden wollten. Zu dritt passten sie eigentlich nicht so recht hierher. "Ein Mann und zwei schöne Frauen ..., das wird dein Ansehen aber mächtig steigern, Onkel Thomas", neckte Christy. Thomas schmunzelte. "Ich wusste gar nicht, dass ich mein Ansehen steigern muss." Er sah sehr gut aus im dunklen Anzug, weißem Hemd und Krawatte. Alles gefiel ihr so gut an diesem Mann, gestand sich Dorothy, und das machte ihr angst. "Jeder Mann braucht ab und zu einen kleinen Auftrieb für sein Selbstbewusstsein", erklärte Christy vergnügt. "Oh, mein Selbstbewusstsein wird dadurch nicht größer, wenn ich mit meiner Nichte und ihrer Freundin zum Dinner ausgehe", antwortete er trocken. Ich bin also für ihn Christys Freundin, dachte Dorothy und wusste doch, dass sie noch etwas anderes für ihn war. Heute Abend konnte sie seit langem wieder einmal ihr schönstes Kleid tragen. Es war grün und passte wunderbar zu ihren Augen. Sie sah darin sehr gut aus. Als sie vorhin die Treppe heruntergekommen war, hatte Thomas, der schon in der
Halle wartete, sie bewundernd angesehen. Das Haar trug sie offen. "Ich finde es schick, in Begleitung eines attraktiven Mannes gesehen zu werden", behauptete Ghristy. "Geht es dir nicht ebenso, Dorothy?" Verstohlen blickte Dorothy zu Thomas hinüber. Es war ihm offensichtlich peinlich, als attraktiv bezeichnet zu werden. Dabei sah er von allen anwesenden Männern am besten aus. Sie beugte sich leicht vor und sagte leise und ernst: "O ja, du unterschätzt dich, Thomas." Er sah ihr tief in die Augen und sie hielt seinem Blick stand. Plötzlich kam es Dorothy so vor, als wären sie ganz allein im Lokal und würden sich mit Blicken ihre Liebe eingestehen. Aber sie war immer noch unsicher und blickte schnell zur Seite. "Ja", beantwortete sie endlich Christys Frage und wechselte dann schnell das Thema, indem sie sich an Thomas wandte. "Kommst du oft hierher, Thomas?" Er schaute sie immer noch eindringlich an. "Ich war noch nie hier", erklärte er. "Onkel Thomas hält nicht so viel von einem geselligen Leben, nicht wahr?" Christy sah ihn fragend an. Dorothy warf der Freundin einen warnenden Blick zu. Vermutlich wollte Christy erfahren, ob ihr Onkel eine Freundin hatte. Sie wusste noch nicht viel über Thomas, aber das Wenige, das ihr bekannt war, reichte, um zu wissen, dass er sie nie so geküsst hätte, wenn es eine andere Frau in seinem Leben gab. "Meine Arbeit lässt mir nur wenig Zeit für solche Dinge", meinte er kurz. "Ich fürchte, ich bin eben nur ein ziemlich langweiliger Professor der Geschichte und nicht mehr." "Dorothy findet Geschichte überhaupt nicht langweilig", versicherte Christy eifrig. "Sie interessiert sich sehr dafür. In der Schule war es ihr Lieblingsfach."
Wieder sah Dorothy scharf zu Christy hinüber. "Es wundert mich, dass du dich daran erinnerst. So eng waren wir doch gar nicht befreundet", rief sie ihr ins Gedächtnis. Christy hatte sich von dem Wunsch, die Freundin mit ihrem Onkel zusammenzubringen, hinreißen lassen. Dabei übersah sie ganz, dass sie damit ihre eigenen Pläne durchkreuzte und sie bei Dorothys Ankunft ganz anderes berichtet hatte. "Ich weiß das ja nur deshalb noch so genau", verteidigte sie sich verlegen, "weil Geschichte mein schlechtestes Fach gewesen ist." Dorothy richtete sich entschlossen auf und gähnte allzu deutlich hinter vorgehaltener Hand, "Wollt ihr noch mehr Kaffee?" Die Unterhaltung wurde ihr zu gefährlich. "Ich bin ziemlich müde nach der letzten schlaflosen Nacht." Sie vermied es, Thomas anzusehen. Schließlich war er der Hauptgrund für die gestörte Nachtruhe gewesen. "Mrs. Scott sagte mir, du wärst noch lange bei Catherine geblieben, nachdem ich ins Bett gegangen bin", sorgte sich Thomas. "Ich hab' es doch dem Kind versprochen", verteidigte sich Dorothy. "Aber es war doch längst eingeschlafen." Jetzt sah Dorothy ihn direkt an. "Es hätte wieder aufwachen können und hätte dann gemerkt, dass ich mein Wort gebrochen habe." Bis sieben Uhr war Dorothy bei Catherine geblieben. Erst als Mrs. Scott aufstand, ging sie in ihr Bett zurück und konnte noch zwei Stunden schlafen. Thomas blickte sie besorgt an. "Du musst sehr müde sein", sagte er schließlich sanft und bat den Kellner um die Rechnung. Dorothy wusste, dass sie wieder nicht einschlafen konnte, auch wenn sie noch so müde war. Die beiden Bücher, die sie mitgebracht hatte, waren schon mehrmals gelesen. Aus der Bibliothek im Schloss konnte sie sich keinen Lesestoff
besorgen, denn sie mied diesen sonst so verlockenden Raum wegen des Bildes, das dort über dem Kamin hing. Während Thomas die Rechnung bezahlte, begleitete Dorothy die Freundin, die ihr Make-up auffrischen wollte, zu den Toiletten. "Du hast dich gut gehalten", lobte sie. "Nur zum Schluss hast du dummes Zeug geredet." Christy wurde rot vor Verlegenheit. "Ich wollte euch beiden ja nur einen kleinen Schubs vorwärts geben. Es ist einfach verrückt, Dorothy! Dieser Mann blickt dich die ganze Zeit voller Verlangen an, und wenn er zu dir spricht, klingt es höflich, kühl und fremd!" Der Freundin waren also seine Blicke nicht entgangen! "Ich kenne ihn erst seit drei Tagen", gab Dorothy lächelnd zu bedenken. "Geduld ist zwar nicht deine Stärke, aber ich glaube, weder Thomas noch ich gehören zu den Menschen, die sich schnell verlieben." "Du hättest das Zeug für eine Nonne und er könnte jederzeit auch in ein Kloster eintreten, so wie ihr euch anstellt", rief Christy verzweifelt aus. "Dabei sprühen nur so die Funken zwischen euch!" "Das ist alles die fantasievolle Theorie eines ungeduldigen Mädchens", entgegnete Dorothy. Christys Vergleich amüsierte sie jedoch. "Ich glaube auch nicht, dass Thomas die geringste Begabung zum Mönch hat." "Woher willst du das wissen?", fragte Christy lauernd. Sie war hellhörig geworden. Dorothy hatte nicht aufgepasst und war ihr tatsächlich in die Falle gegangen. Auf der Fahrt zurück ins Schloss wollte Christy unbedingt hinten im Auto sitzen, weil es dort angeblich bequemer war. So blieb Dorothy keine andere Wahl, sie musste neben Thomas Platz nehmen.
Christy verhielt sich ganz still und Dorothy betrachtete Thomas heimlich von der Seite. Dabei stellte sie sich vor, dass er jetzt auf dieser schnurgeraden Straße eine Hand auf ihren Arm legen würde und dass sie nachher zum Abschied einen Gute-Nacht-Kuss bekäme. Verträumt lehnte sie sich zurück, schloss die Augen und seufzte tief. "Das war aber ein tiefer Seufzer", sagte er lächelnd und wandte sich ihr einen Augenblick zu. Dorothy drehte sich verstohlen nach hinten um. Christy schien eingeschlafen zu sein. Sie hatte den Kopf gegen das Polster gelehnt und hielt die Augen geschlossen. So wagte Dorothy ein vertrauliches Gespräch mit Thomas. "Ich habe an die vergangene Nacht gedacht", gestand sie leise. Er verstand nicht gleich, wovon sie sprach. "An Catherine?" "Nein, nicht an Catherine." Thomas sah sie aufmerksam an, riss aber im gleichen Augenblick heftig das Steuer herum: ein Kaninchen hockte geblendet mitten auf der Fahrspur. Das war noch einmal gut gegangen, und Thomas hielt jetzt den Blick stur auf die Straße gerichtet. "Du hast nicht an Catherine gedacht?", fragte er enttäuscht. "Nein." Er atmete heftig durch. "Dorothy ..." "Schon gut." Sie legte ihm die Hand auf den Arm. "Du brauchst nichts zu sagen. Ich habe nur laut gedacht." Thomas nahm den Fuß vom Gaspedal und fuhr langsam. Dann sagte er heftig: "Und wenn ich nun den ganzen Abend dasselbe gedacht habe? Und dies trotz aller Versprechungen von heute Morgen!" Mit großen Augen blickte sie ihn an. "Thomas?" "Thomas!" Er verhöhnte sich selbst. "Ich bin zu alt für solche Gedanken und - für dich! Jetzt weißt du, was du von meinen guten Vorsätzen zu halten hast."
"Christy!", erinnerte sie ihn sanft. Dorothy war inzwischen klargeworden, dass ihre Freundin einen der besten Horchposten dieser Welt eingenommen hatte. "Ja, ja." Er verstand Dorothys Warnung. Wütend gab er wieder Gas und umfasste das Lenkrad so krampfhaft, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie schwiegen, bis sie am Schloss vorfuhren. Christy machte geradezu eine Show daraus, angeblich aus tiefem Schlaf aufzuwachen, als der Wagen anhielt. Zwar hatten Dorothy und Thomas sich leise unterhalten und Christy konnte nicht alles verstanden haben, aber - so dachte Dorothy insgeheim bestimmt immer noch genug. Thomas lud die beiden noch zu einem Gute-Nacht- Trunk in die Halle ein. Christy tat ahnungslos und vermied es hartnäckig, Dorothy in die Augen zu blicken. Thomas bot seiner Nichte einen Brandy an, die aber lehnte ab. "Vielen Dank, Onkel Thomas, aber ich möchte nichts trinken. Ich gehe lieber gleich ins Bett. Wir sehen uns dann morgen früh wieder. Gute Nacht", fügte sie hinzu und verschwand fröhlich. Nachdem Christy sie verlassen hatte, herrschte zwischen Dorothy und Thomas plötzlich angespanntes Schweigen. Im Halbdunkel des Autos war Dorothy mutig gewesen, jetzt aber, in der hell erleuchteten Halle, wurde sie unsicher. Christy hatte sie in eine schwierige Lage gebracht: sie mussten bekennen. "Es ist wahr, ich habe den ganzen Tag an dich gedacht, Dorothy", sagte Thomas endlich, sah sie jedoch nicht an, sondern starrte in sein Whiskyglas. "Ich bin zu keinem Entschluss gekommen, aber ... verdammt noch mal!" Er fuhr herum, ergriff ihr Glas, stellte es zusammen mit seinem hart auf den Tisch, und noch ehe Dorothy richtig begriff, was geschah, stand er schon dicht vor ihr. "Dorothy, ich weiß, ich habe so viel versprochen, aber ich ... ich kann nicht anders!" Er riss sie in seine Arme und küsste sie.
Es war noch viel schöner als beim ersten Mal. Sie presste sich an ihn und legte die Arme um seinen Nacken. Sie dachte an nichts mehr, fühlte nur noch Thomas' Liebkosungen. Dies war Liebe. So musste sie sein. Es war göttlich, wie er küsste, es war Apoll selbst, der sie leidenschaftlich umfasst hielt. Das ganze Rollenspiel, das Sichverstellen, das Zögern und Zweifeln ... alles, alles war vergessen. Thomas war der einzige Mann, den sie lieben konnte und immer lieben wollte. Sie schloss die Augen und küsste ihn, atemlos, immer wieder und voll Verlangen. Thomas ging nicht mehr so sanft wie am vergangenen Abend mit ihr um. Als wäre er von unsichtbaren Fesseln befreit, ließ er seiner Leidenschaft freien Lauf. Er brauchte Dorothy und zeigte es ihr. Schließlich, ohne die Lippen von ihrem Mund zu lösen, hob Thomas Dorothy hoch und trug sie hinüber zum Sofa. Dorothy fühlte sich schwach vor Verlangen und klammerte sich an Thomas. Während er sie mit den Lippen liebkoste, streichelte er sie. Sacht berührte er ihre Brust. Dorothy atmete heftig und drängte sieh an ihn. Sie hatte sich wegen ihrer Brüste oft geschämt, weil sie sehr voll waren. Als Thomas jetzt jedoch ihr Kleid aufknöpfte und voller Bewunderung ihren Busen betrachtete, fühlte sie plötzlich keine Scham mehr. Er schob das Kleid von ihren Schultern und vergrub das Gesicht zwischen ihren Brüsten. Dorothy genoss jeden Augenblick. Langsam sank sie aufs Sofa und zog Thomas mit sich. Plötzlich löste er sich jedoch fast grob aus ihren Armen und richtete sich auf. Dorothy sah ihn erschrocken an. "Was ist los, Thomas?", fragte sie. "Es ist einfach unbeherrscht von mir, mich jemandem gegenüber, der bei mir zu Gast ist, so zu benehmen." Er küsste Dorothy flüchtig auf die Wange und verließ schnell das Zimmer.
8. KAPITEL Dorothy stand am Fenster ihres Zimmers und schaute nachdenklich hinaus, während Christy auf dem Bett saß und sich bitterlich beschwerte, dass sie über die Ereignisse von gestern Abend keinen Bericht bekam. Dorothy wollte jedoch zunächst mit sich ins Reine kommen, bevor sie der Freundin etwas anvertraute. Gut, ich liebe Thomas, dachte Dorothy, und bin jetzt auch so weit, mir dies einzugestehen. "... meinst du nicht?", hörte sie Christy in diesem Moment fragen. Erschrocken drehte sich Dorothy um. "Was hast du gesagt?" Christy war beleidigt. "Es ist sehr unhöflich, von der letzten Nacht zu träumen, wenn du mir mit keinem Wörtchen erzählst, was in dieser Nacht passiert ist." Dorothy lächelte nachsichtig über den schmollenden Ton ihrer Freundin. "Tut mir Leid, Christy!" "Ich sagte, dass es unfair von dir ist, wenn du dich mir nicht anvertraust. Schließlich habe ich es doch geschickt eingefädelt, dass du gestern Abend mit Onkel Thomas allein sein konntest." Dorothy ließ sich nicht beirren. Sie war sich über ihre Gefühle jetzt völlig im Klaren und das verlieh ihr eine ungeahnte Sicherheit. "Glaub ja nicht, dass wir das nicht anerkennen", neckte Dorothy.
"Wie sehr, bitte?", hakte Christy sofort nach. "Das kann ich nicht sagen. Wir haben den ganzen Tag noch nicht miteinander gesprochen." Thomas war wie immer früh spazieren gegangen, hatte danach allein gefrühstückt und dann bis zum Mittag gearbeitet. Das Mittagessen ließ er sich ins Arbeitszimmer bringen und blieb dort bis zum Nachmittag verschwunden. Dorothy hatte noch keine Gelegenheit gefunden, allein mit ihm zu sprechen. "Ich halte euch beide für unglaublich dickköpfig", erklärte Christy. "Ihr passt so gut zueinander." "Meinst du wirklich?", fragte Dorothy erstaunt. "Aber ja." Christy lief jetzt ungeduldig im Zimmer auf und ab. Vielleicht hatte Christy Recht, dass sich Thomas immer ein wenig übertrieben korrekt benahm. Das war aber nur allzu begreiflich, wenn man bedachte, welche Rolle Dorothy ihm vorspielte. Er zweifelte wahrscheinlich an seinem Verstand, weil er sich in eine Frau verliebt hatte, die seines Wissens nach sofort mit jedem Mann schlief. Thomas musste die Wahrheit erfahren. Dorothy hielt den jetzigen Zustand einfach nicht mehr aus, auch wenn dadurch für alle Beteiligten eine peinliche Situation entstand. "Möglicherweise hast du Recht", meinte Dorothy. "Auch wenn Thomas wirklich von mir angetan sein sollte, dann doch sicher nur, um ein schnelles Abenteuer mit mir zu haben. Mit Liebe hat das nichts zu tun." "Das werden wir ja sehen", warf Christy ein. "Er bekommt es mit mir zu tun, wenn er es wagen sollte ..." Sie sprach diesen Satz nicht zu Ende. "Lieber Himmel, welch ein Durcheinander habe ich da nur angerichtet", stöhnte sie. "Du konntest ja nicht ahnen, wie alles kommt", entschuldigte Dorothy. "Keiner von uns hat es gewusst." "Also, ich werde ihm sofort die Wahrheit sagen", entschied Christy, "gleichgültig, was dann geschieht."
"Lass mich das lieber machen." Christy blieb an der Tür stehen. "Ich bin doch die Einzige, die..." "Bitte", drängte Dorothy leise. "Ich muss auch noch etwas anderes mit ihm besprechen. Es ist an der Zeit, dass er erfährt, was es mit dem Bild in der Bibliothek auf sich hat und was für Eltern ich habe." "Dafür kannst du nichts", verteidigte sie Christy. Wir können uns unsere Eltern nicht aussuchen." "Nein", pflichtete Dorothy bei, "und sie können auch ihre Kinder nicht auswählen." "Die meisten Eltern wären stolz, dich zur Tochter zu haben", sagte Chr isty überzeugt. "Meine Eltern sind aber nicht wie die meisten Eltern." Dorothy lachte bitter auf. "Oh, das weiß ich." Christy wurde zornig. "Manchmal könnte ich ..." "Es ist reine Kraftverschwendung, wenn du rückwirkend wütend auf sie bist", sagte Dorothy ruhig. "Das habe ich jahrelang getan. Es macht nur unglücklich und unzufrieden und führt zu nichts." "Vielleicht hast du Recht", stimmte Christy zu, "aber Onkel Thomas wird erstaunt sein, wenn er hört, dass Martin EllingtonJames dein Vater und Valerie She rman deine Mutter ist." "Ob ich dadurch in seiner Achtung steige?", überlegte Dorothy laut. "Oder ob es nicht einfach besser ist, eine alte Schulbekanntschaft von dir zu bleiben?" "Wie du denkst. Jeder trägt schließlich ein kleines Geheimnis mit sich herum", sagte Christy lächelnd. "Auch Thomas?", fragte Dorothy ungläubig. "Auch er", bestätigte Christy. "Aber die Enthüllung deines Geheimnisses dürfte ihn eigentlich nicht schockieren. Meine Güte, du kannst doch nicht ernstlich in Erwägung ziehen, ihn weiterhin glauben zu lassen, du wärst eine Herumtreiberin?"
"Er soll mich so lieben können, wie ich bin. Vielleicht glaubt er dann nur, er könne der Tochter des Abgeordneten EllingtonJames nicht so leicht den Laufpass geben wie der mittellosen Dorothy James." "Onkel Thomas ist nicht so. Er handelt immer anständig", versicherte Christy. "Außerdem mag er dich, davon bin ich überzeugt." Eigentlich war Dorothy sicher, dass Thomas mehr für sie empfand als nur rein körperliches Verlangen. Sonst hätte er sie gestern Nacht ohne jeden Skrupel genommen. Was Dorothy jedoch nicht aus dem Kopf ging, war die Geschichte von Thomas' erster Liebe, er musste seine Braut sehr geliebt haben. Sollte sie nun ein billiger Ersatz werden? Das war zu wenig für sie. "Wir werden es ja sehen." Sie lächelte Christy zuversichtlich an. "Wann?" Christys Drängen behagte ihr nicht. "Was wann?", stellte sie sich dumm. "Wann wirst du es ihm erzählen?", forderte Christy mit Nachdruck. "Nun, wenn ich ihn das nächste Mal sehe", gab Dorothy zögernd nach. "Warum nicht gleich?", drängte Christy. "Er kann noch nicht weit weg sein. Er ist erst vor wenigen Minuten aus dem Haus gegangen." Wenn Christy wüsste!, dachte Dorothy. Thomas musste gar nicht weit gehen. Es war für sie immer dieselbe große Versuchung, Thomas an "seinen" See zu folgen. Vielleicht fiel es ihr dort leichter, ihm alles zu beichten? "Geh nur", ermunterte Christy die zögernde Freundin. "Er geht meistens zum kleinen See. Wahrscheinlich gibt es da besonders viele Vögel zu beobachten." Man konnte wirklich nicht behaupten, dass Christy ihren Onkel gut kannte, solange sie an das Vogel-Märchen glaubte.
"Also gut", entschied Dorothy, "sollte ich aber nicht mit ihm zusammen zurückkommen, dann schicke einen Suchtrupp los", versuchte sie zu scherzen. Christy umarmte sie liebevoll. "Viel Glück!" "Erwarte nicht zu viel." "Ich bin auf alles gefasst." Christy schmunzelte spitzbübisch. "Ich habe sowohl ein Brautjungfernkleid als auch ein Büßerhemd im Schrank hängen. Onkel Thomas wird mir bestimmt gehörig die Leviten lesen für die Lügen, die ich über dich verbreitet habe." "Es sind doch nur Halbwahrheiten", beschwichtigte Dorothy. "Es sind alles glatte Lügen", bekräftigte Christy. "Aber vielleicht ist er so erleichtert, die Wahrheit zu erfahren, dass er darüber vergisst, mir böse zu sein", fügte sie hoffnungsvoll hinzu. Das wünschte sich auch Dorothy. Schließlich hatte sie Christys Schwindelei unterstützt, auch wenn sie nicht einverstanden gewesen war. Dorothy ließ sich viel Zeit auf dem Weg zum See, denn sie hatte es nicht eilig, ihr Geständnis abzulegen. Sie sah heute fast genauso aus wie am ersten Tag. Das Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, einige freiheitsliebende Strähnen fielen ihr ins Gesicht. Sie trug ein weites T-Shirt und ihre ausgewaschenen Jeans. Schon von Weitem sah sie Thomas, der im See schwamm. Jetzt entdeckte er sie, winkte kurz und hielt auf das Ufer zu, wo seine Sachen lagen. Bei seinem Anblick wurde Dorothy verlegen: Zum einen fühlte sie noch seine Liebkosungen von gestern Nacht auf der Haut, zum andern wusste sie, was sie erwartete, wenn er jetzt gleich aus dem Wasser kam. Er blieb jedoch nicht weit entfernt im Wasser stehen und was er sagte, machte sie sprachlos: "Ich wusste doch, dass du hier eines Tages auftauchen würdest.".O Dorothy starrte ihn an.
"Weißt du, auch ein weltfremder Professor hört manchmal das Gras wachsen. Der Weg zum Schloss führt hier vorbei und dein überraschter Blick, als wir uns zum ersten Mal gegenüberstanden, der sprach wirklich Bände." Vor Verlegenheit wurde Dorothy rot. "War es denn so deutlich?" "Schon!" Er lächelte überlegen. "Außerdem hast du dich fast vor unterdrücktem Lachen verschluckt, weil Christy erzählte, ich würde Vögel beobachten." Er schwieg kurz und fragte dann leise: "Warst du zufrieden mit dem, was du gesehen hast?" "J... ja", sagte sie leise, und trat von einem Fuß auf den ändern - und wollte doch eigentlich weglaufen! Langsam, den Blick auf sie gerichtet, stieg er aus dem Wasser. Dorothy hielt vor Schreck den Atem an. Und da sah sie auch schon: Er trug eine schwarze Badehose! Er warf ihr einen triumphierenden Blick zu, bevor er mit dem Handtuch sein Haar durchrubbelte. "Na, was hast du denn erwartet, du kleiner Globetrotter, hm?" Er hielt mit Abtrocknen kurz inne. "Die ganze Zeit schon habe ich auf eine entsprechende spöttische Bemerkung von Christy gewartet." "O nein, ich habe ihr nichts gesagt, das wäre mir wie eine Art Vertrauensbruch vorgekommen", erklärte Dorothy schnell. Er legte sich jetzt das Handtuch über die Schultern und blickte Dorothy liebevoll an. "Schön von dir, dass du aus diesem Grund geschwiegen hast. Dorothy war immer noch verlegen. Er war heute anders als sonst, plauderte und neckte sie und meinte nichts ernst. Flirtete er mit ihr? Dann jedoch wurde Thomas plötzlich ernst und betrachtete sie forsche nd. "Was hat Christy eigentlich vor, Dorothy?", fragte er schließlich. "Und warum machst du bei diesem Spiel mit?" Dorothy blinzelte geistesabwesend. Langsam hob sie den Blick, schaute Thomas direkt in die Augen und - schwieg.
"Dorothy!" Mit einem Schritt war er bei ihr. "Es stimmt doch alles nicht, was sie von dir behauptet. Schon beim ersten Kuss war mir klar, dass du mit Männern noch keine Erfahrung hast", erklärte er leise. "Woher willst du das wissen", fragte sie trotzig. "Deshalb." Er beugte sich auch hinunter und küsste sie zärtlich auf den Mund. Dorothy legte die Arme um seinen Nacken. Es war wunderbar, Thomas' samtene Haut zu spüren. Er küsste sie auf die Wangen, auf die Nasenspitze, die Schläfen, die Stirn. Mit erstickter Stimme feuerte er sie an: "Ja, gut so, Dorothy, gut! Berühr mich, bitte, überall ..." Er besaß einen makellosen Körper. Dorothy ertastete ihn, die Augen dabei geschlossen. Doch nach einer Weile schob Thomas sie von sich und betrachtete sie voll Wärme. "Wir müssen miteinander reden", sagte er entschuldigend. Dorothy hörte seine Stimme von weit her, wie im Traum. Sie brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. Warum hörte er plötzlich auf, sie zu liebkosen? "Hier bin ich doch nicht dein Gast, Thomas!" Ihre Stimme zitterte vor Enttäuschung. Er lächelte zärtlich. "Doch, immer noch,, du stehst auf meinem Grund und Boden", erklärte er. "Ich muss viel mit dir besprechen, es geht, nicht anders. Komm, mach dirs bequem." Er drückte sie behutsam auf den Rasen nieder. Ernüchtert schaute Dorothy zu, wie Thomas sich anzog, und seufzte tief auf. Als er dann angezogen und mit sorgfältig gekämmtem Haar vor ihr stand, konnte Dorothy sich kaum noch vorstellen, ihm vor nur wenigen Minuten noch so nahe gewesen zu sein. Er hatte absichtlich Distanz zwischen ihnen geschaffen. Thomas stopfte umständlich seine Pfeife und zündete sie an. Dann erst nahm er ein Stück weit von Dorothy entfernt Platz im Gras. Schweigend blies er ein paar Rauchwolken in die Luft. Dann fragte er plötzlich: "Sag mal, wer ist Henry?"
Dorothy verblüffte diese Frage so sehr, dass sie Thomas nur groß anstarrte. "Henry?", wiederholte sie dann gedehnt. "Ja", bestätigte er. "Ich weiß nicht, wer er ist, aber er ist ganz bestimmt nicht dein Liebhaber." , "Habe ich das jemals behauptet?" "Bitte,, weiche mir nicht aus", sagte er kühl. "Ist Henry ein Freund von Christy, von dem ich nichts wissen soll?" "Ganz bestimmt nicht." "Meine liebe Nichte verbirgt aber etwas vor mir!" "Warum fragst du sie dann nicht selbst danach?", sagte Dorothy verstimmt ,,nahm einen Grashalm zwischen die Finger und zerzupfte ihn erregt in kleine Stückchen. Thomas sah Dorothy prüfend an. "Weil du genauso viel damit zu tun hast wie sie", behauptete er ruhig. "Ihr beide kennt euch recht gut und viel besser, als ihr mir weismachen wolltet. Ihr seid seit langem miteinander befreundet und keineswegs nur ehemalige Schulkameradinnen, die sich eigentlich nicht so recht leiden mögen und nur durch alte Zeiten miteinander verbunden sind." Dorothy legte die Hände um ihre angezogenen Knie und atmete tief durch. Sie hatte es ja vorausgesagt, dass alles schiefgehen würde. Sie hatten in den vergangenen Tagen schon so viele Fehler gemacht und waren buchstäblich aus der Rolle gefallen. Und Thomas war keineswegs der tolpatschige Professor, der nur seine Bücher kannte und niemals etwas merkte, wie Christy es gern gehabt hätte. "Wenn du nicht so schulmeisterlich wärst, hätte Christy das verrückte Spiel gar nicht nötig gehabt. Sie wollte dich davon überzeugen, dass sie erwachsen und reif genug ist, ihr eigenes Geld zu verwalten. Zu diesem Zweck sollte ich ein Gegenbeispiel dafür abgeben und musste die verantwortungslose, leichtlebige und verlotterte Frau spielen", sprudelte Dorothy angriffslustig hervor. "War das euer gemeinsamer Plan?", fragte Thomas.
Dorothy tat gleichgültig. "Nun, du musst doch wirklich zugeben, dass ich außerordentlich leichtsinnig bin." "Nicht so ganz", sagte er zögernd und musterte sie intensiv. "Wer bist du?" Herausfordernd hob sie das Kinn. "Ich bin Dorothy James." "Wer bist du wirklich?", beharrte er. "Eine Freundin von Christy", antwortete sie nun schon le icht verunsichert. "Es ist unverkennbar, dass du ihre beste Freundin bist, aber danach habe ich nicht gefragt." Er war ärgerlich, viel ärgerlicher als sie und sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen. Dieser dumme Streich, den sie und Christy ihm gespielt hatten, war schlimm genug. Sie nahm all ihren Mut zusammen und erklärte: "Ich weiß nicht, ob es dir weiterhilft, wenn ich dir sage, dass Martin Ellington-James mein Vater ist", sagte sie schließlich und es klang wie ein Angriff. "Thomas zog überrascht die Brauen hoch. "Ich wusste nicht, dass er wieder geheiratet hat." "Das hat er auch nicht", sagte sie verächtlich, "und ich bin auch nicht unehelich geboren", fügte sie hinzu, weil er sie fragend ansah. "Dann ist deine Mutter Valerie Sherman?", fragte er ungläubig. "Ganz recht, Professor." Wie immer, wenn, das Gespräch auf ihre Eltern kam, ging Dorothy in Verteidigungsstellung. Es war ihr unangenehm, über sie zu reden, sie hatte dabei immer das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. Deshalb reagierte sie aggressiv und überdeckte damit nur ihre wahren Empfindungen. Sie fühlte sich von Thomas in die Enge getrieben, aus ihrem Geständnis war plötzlich ein Verhör geworden. Das konnte doch zwischen Liebenden niemals geschehen. "Dann war Knossley Hall dein Zuhause?", fragte er ungläubig.
O nein, sie hatte sich in Knollsley Hall nie zu Hause gefühlt, sie betrachtete es eher als Gefängnis. Sie war vier Jahre alt, als die Mutter sie dort im Stich ließ. Danach hatte sie nur noch den Wunsch gehabt, fortzulaufen. Nur wenige Menschen kannten diesen Hintergrund und verstanden sie. Jetzt, wo sie Thomas so fremd gegenüberstand, fühlte sie voll Bitterkeit, er würde nie zu diesen wenigen Menschen zählen. "Es ist nur das Haus meines Vaters", erklärte sie kühl. "Dann hast du nach der Scheidung bei deiner Mutter gelebt?", forschte Thomas weiter. "Ich glaube, es ist völlig uninteressant, wo ich meine Kindheit verbracht habe." Thomas räusperte sich und fasste zusammen: "Deine Eltern haben also nicht ihr Vermögen, verloren und du bist auch nicht allein auf der Welt. Dein Vater ist einer der reichsten Männer des Landes, ein angesehener Abgeordneter des Parlaments und deine Mutter ist eine wohlhabende Künstlerin", stellte Thomas fest. "Du berichtest mir von deiner privilegierten Herkunft, verweigerst mir aber eine Auskunft über deine Kindheit. Warum?" Er nannte ihre Herkunft privilegiert! War es ein besonderes Vorrecht, vom Vater ignoriert zu werden? Als Baby hatte er sie überhaupt nicht beachtet und nachdem ihre Mutter weggegangen war, hatte er sie zum Ziel seines Ärgers und seiner Enttäuschung gemacht. Mit acht Jahren schickte er sie ins Internat, damit er sie nicht mehr ansehen musste, denn sie wurde ihrer Mutter äußerlich immer ähnlicher. Sogar die Ferien musste sie in der Schule verbringen, weil ihn ihr Anblick zu sehr an die untreue Frau erinnerte. Sie war dann immer mit Christy nach Hause gefahren, wo sie jederzeit herzlich willkommen war. Wenn das besondere Vorrechte sind, wie müssen dann Benachteiligungen aussehen, fragte sich Dorothy. Tränen traten in ihre Augen, aber sie unterdrückte sie schnell und sah Thomas trotzig an. "Ich bin einundzwanzig Jahre alt und
meine Eltern sind nicht mehr für mich verantwortlich. Wie du siehst, lebe ich so wie ich will", erklärte sie hitzig. "Meine privilegierten Eltern ändern nichts an der Tatsache, dass ich aus dem Rucksack lebe und bei Freunden wohne, wann immer es möglich ist. Christy hingegen ..." "Christy wird mir selbst einiges erklären müssen", unterbrach Thomas und stand auf. "Nachdem ich nun die Wahrheit kenne, brauchst du nicht länger hier zu bleiben. Du musst dich nicht mehr verstellen und so tun, als wäre ein ziemlich begriffsstutziger Professor der Geschichte der aufregendste Mann, dem du je begegnet bist." "Ich finde dich wirklich so ... aufregend", sagte Dorothy leise. Er glaubte ihr nicht. "Bitte, du musst dich nicht auch jetzt noch für deine Freundin opfern." "Es war kein Opfer." Wieder sprach sie leise und hob kaum den Kopf. Er steigerte sich immer mehr in Ärger und Bitterkeit hinein, "Henry wartet bestimmt bereits sehnsüchtig darauf, dass du endlich zurückkehrst", rief er. "Ihm gefällt dein unschuldiges Getue wahrscheinlich besser als mir." "Ja, das ist anzunehmen", sagte Dorothy schwerfällig, stand ebenfalls auf und klopfte sich das Gras von der Hose. Sie ließ die Arme müde hängen und blickte abwesend auf den See hinaus: "Muss ich sofort abreisen?" "Je eher, desto besser", erwiderte Thomas rau. "Ich werde dafür sorgen, dass du mir nicht mehr begegnen musst", versprach Dorothy. "Darüber wäre ich froh." "Das dachte ich mir." . "Und jetzt werde ich mir deine Komplizin vornehmen." Thomas' Stimme bekam einen harten Klang, den Dorothy nicht an ihm kannte. "Aber du sollst wissen, dass ihr euch die Mühe hättet sparen können."
Dorothy blickte ihn verwirrt an. Was wollte er damit sagen? Er lachte verbittert auf. "Ich habe Christy nach Castle Haven eingeladen, damit wir uns besser kennen lernen. Ich wollte mit ihr Freundschaft schließen, bevor meine Vormundschaft endet und dann jeder seiner Wege geht, was doch doppelt schade ist, da wir beide sonst keine anderen Verwandten mehr haben." Verächtlich sah er Dorothy an. "Ich hatte ohnedies immer die Absicht, Christy das Erbe auszubezahlen, sobald sie einundzwanzig Jahre alt ist."
9. KAPITEL Dorothy hatte das künstlerische Talent ihrer Mutter geerbt. Ihr Vater hatte diese Begabung nie ernst genommen. Wenn sie als Kind malte, beachtete er die Bilder kaum. Sie waren für ihn nur Kritzeleien gewesen. Auch in der Schule hatte man keine Notiz von ihrem Können genommen. Dort zählten nur gute Noten in den traditionellen wissenschaftlichen Fächern. Ihre spezielle Begabung wurde nicht gefördert. Im Gegenteil, die Lehrer waren von ihren Karikaturen wenig begeistert, ihre Mitschülerinnen hatte sie jedoch damit oft zum Lachen gebracht. Dorothy war dankbar für ihr Talent und mit achtzehn Jahren hatte sie beschlossen, dass sie einen Beruf wählen würde, der mit Zeichnen zu tun hatte. Da sie nicht ständig mit ihrer Mutter verglichen werden wollte, kam die Malerei nicht in Frage. Sie musste es auf einem anderen Gebiet versuchen. Christy war es, die sie damals einem Freund vorstellte, der Inhaber eines Verlages war. Er suchte ständig nach Illustratoren für seine Bücher. Dorothy interessierte sich schon immer für geschichtliche Themen und so fiel es ihr leicht, für romantische historische Romane Einbände zu entwerfen, die den Leser neugierig auf den Inhalt des Buches machten. Ein Jahr lang arbeitete sie für "Astro Publishing" und in dieser Zeit hatte sie sich als D. James einen Namen als Illustratorin gemacht. Seit zwei Jahren war sie nur noch
freiberuflich tätig. Sie bekam Angebote aus England und aus Nordamerika und jede interessante Aufgabe, die mit Reisen zu tun hatte, nahm sie an. Es gab jedoch einen Auftrag, der sie besonders gereizt hätte und von dem sie bis jetzt vergeblich träumte: Zu gern hätte sie einen der historischen Romane von Claudia Laurence illustriert! Entweder war diese bekannte Autorin noch nicht auf sie, Dorothy, gestoßen oder aber die originellen und oft gewagten Entwürfe gefielen ihr einfach nicht. Dorothys Atelier, befand sich im obersten Stockwerk eines ehemaligen Lagerschuppens, der in ein Apartment umgebaut worden war. Hier hatte sie ausreichend Platz und genügend Licht zum Arbeiten. Im Augenblick entwarf sie den Umschlag für einen RegencyRoman. Um eine Vorlage zu schaffen, fotografierte sie ein Paar, das im Stil jener Zeit gekleidet war. Heather trug ein rosafarbenes langes Kleid mit weitem Ausschnitt, wie es damals modern gewesen war. Jim sah wie ein Herzog aus. Hochmütig blickte er auf das junge Mädchen herab, das er am Ende der Geschichte heiraten wollte. Dorothy brachte es fertig, aus jedem Bild etwas Besonderes zu machen und erntete viel Lob dafür. Jeden Tag erhielt sie Briefe, die ihr zeigten, wie gut ihre Bucheinbände ankamen und das machte sie glücklich. Heute jedoch war sie nicht zufrieden mit sich, denn sie war nicht so recht bei der Sache. Es gelang ihr nicht, Thomas aus ihren Gedanken zu verbannen. Wenn sie das Paar betrachtete, das dort dicht nebeneinander stand und sich verliebt in die Augen sah, drängte sich sofort Thomas in ihre Erinnerung, wie er sie festhielt, wie er sie küsste. Wenn Christy sie nicht bald anrief und ihr berichtete, was geschehen war, sollte sie es mit ihr, Dorothy, zu tun bekommen! Die Freundin musste doch wissen, wie durcheinander sie war. Vielleicht aber war Christy nach der Unterredung mit ihrem Onkel genauso verwirrt.
Warum wollte Thomas nicht erkennen, dass sie, wenn auch halbherzig, bloß der Freundin helfen wollte? So schlecht war das doch auch wieder nicht. Viel schlimmer aber traf Dorothy die Erkenntnis, dass Thomas, der reifere, ältere, erfahrene Mann, nicht sofort spürte: Diese leidenschaftliche Hingabe des kleinen Hippie-Mädchens konnte nur wahr und echt sein! Der berufliche Erfolg war Dorothy leicht gefallen und sie hatte viel Glück dabei. Sie wurde gut bezahlt, innerhalb kurzer Zeit hatte sie ein kleines Vermögen verdient. Ihr Vater würde sich wundern, wie wohlhabend seine Tochter war, wie hoch ihr Ta lent eingeschätzt wurde. Er wusste jedoch nichts von ihrer Tätigkeit und auf Künstlernamen achtete er sowieso nicht. Er wäre sicher erleichtert darüber, dass sie ihren Lebensunterhalt selbst verdiente. Eine künstlerische Begabung hatte für ihn jedoch nichts Achtbares, nichts, auf das man stolz sein konnte. Dass seine Frau mit Malen Geld verdiente, hatte er als skandalös empfunden, auch dann noch, als sie berühmt und in der Fachwelt anerkannt war. Wer weiß, was er erst zu den Büchern sagen würde, die Dorothy illustrierte! Wahrscheinlich dachte Thomas ebenso wie ihr Vater. Für einen Geschichtsprofessor war es unmöglich, eine Frau zu haben, die einem "brotlosen" Beruf nachging. Und überhaupt: Ihre Gedanken machten die reinsten Purzelbäume, Thomas dachte nicht daran, sie zu heiraten. Sie waren sich zwar sehr nahe gekommen, aber Thomas hatte sich Stück für Stück wieder zurückgezogen, je mehr sie ihm von sich erzählte. Zum Schluss hielt er sie nur noch für eine hervorragende Schauspielerin und perfekte Lügnerin. "Was ist mit dir, Dorothy?" Aus weiter Ferne drang plötzlich Heathers besorgte Stimme an ihr Ohr. Dorothy blickte erschrocken auf. Während der letzten Minuten hatte sie tatenlos dagestanden und auf den Boden gestarrt. Sie lächelte entschuldigend. Was war nur los mit ihr?
Sie hatte noch nicht einmal halb so viele Fotos gemacht, wie sie benötigte, um erste Entwürfe für den Einband anzufertigen. "Es tut mir Leid, aber ich bin heute nicht ganz bei der Sache", bat sie um Verzeihung. "Habt ihr etwas dagegen, wenn wir schon Schluss machen?" "Aber nein", antwortete Jim. Heather und Jim waren Schauspieler, die ab und zu mit Modell stehen noch ein kleines Honorar verdienten. "Ist wirklich alles in Ordnung?", fragte Heather nach. "Du bist heute so anders als sonst." Wenn sie nur wirklich "anders" wäre! Dann hätte sie sich Thomas' Vorwürfe ruhig angehört, um ihm hinterher ebenso ruhig zu erklären, dass sie aus keinem anderen Grund als aus Liebe in seinen Armen gelegen hatte. Nun aber beschlich sie die Angst, ihre Chance zum Glücklichwerden verpasst zu haben. "Mein kurzer Urlaub hat mir nicht gut getan", sagte sie und lächelte gezwungen. "Könntet ihr beide morgen wiederkommen?" Es blieb ihr nicht mehr viel Zeit, das Umschlagbild fertig zustellen. Sie konnte sich diesen Aufschub eigentlich nicht leisten. "Passt es dir am Vormittag?", fragte Heather. "Nachmittags muss ich nämlich für Carla Modell stehen." Carla Fortune machte Illustrationen für Kriminalromane und Heather und Jim arbeiteten auch mit ihr zusammen. Die beiden Schauspieler waren als Modelle sehr gefragt, denn sie verstanden es, eine wesentliche Szene aus dem Text, die ihnen nur kurz geschildert wurde, überzeugend darzustellen. "Ja, das ist mir recht", stimmte Dorothy zu. In diesem Augenblick klingelte es an der Tür. Dorothys Herz begann heftig zu klopfen. "Ihr könnt euch umziehen, ich gehe solange zur Tür", sagte sie hastig. "Wir sehen uns dann morgen wieder." Schnell lief sie aus dem Zimmer.
Christy sah aus wie immer, hübsch und selbstsicher. Sie erkannte sofort, dass Dorothy gearbeitet hatte. "Das hab' ich mir schon gedacht, dass du dich auf deine Arbeit stürzt", schalt sie, zog ihren Leinenblazer aus und ließ sich auf eines der ledernen Sitzkissen sinken, die Dorothy als Sessel benutzte. "Ich bin völlig erschöpft", erklärte sie und hielt sich die schmerzenden Schläfen. Dorothy empfand zu gleicher Zeit, Neugier und Angst vor dem, was Christy ihr erzählen würde. "Bist du vor deinem Onkel davongelaufen?'', erkundigte sie sich vorsichtig. Anklagend blickte Christy sie an. "Na, du doch auch!" Verlegen beschäftigte Dorothy sich damit, die Scheinwerfer auszuschalten. "Er hat mich aufgefordert zu gehen", sagte sie. "Das ist nur zu verständlich", meinte Christy. "So, wie du vorgegangen bist, hast du bei ihm den Eindruck erweckt, dass wir dich als Köder ausgelegt haben, damit er in die Falle geht und ich auf diese Weise leichter an mein Geld komme." Empört drehte Dorothy sich um. "Das habe ich nicht getan", rief sie aufgebracht. "Er war es, der diesen Schluss nur zu gern gezogen hat!" "Und du warst zu stolz, ihm das Gegenteil zu beweisen", ergänzte Christy trocken. "Er hat mir dazu gar keine Gelegenheit gegeben." Dorothy wurde immer aufgeregter. "Er wollte mir nicht mehr zuhören, nachdem er erfahren hatte, wer meine Eltern sind. Er fand meine hervorragende Herkunft privilegiert, wie er sagte, passend zu dem raffinierten kleinen Luder, das ihn zum Narren gehalten hat." "Oh, Dorothy", stöhnte Christy zerknirscht. "Bemitleide mich nur nicht", warnte Dorothy, bemüht, die Fassung zu wahren. "Das ist zu viel, das ertrage ich nicht auch noch."
Christy schaute sie groß an. "Du liebst ihn", stellte sie fest. Sie war der Freundin so verbunden, dass sie sofort merkte, wie es um sie stand. "Und was habe ich davon?", seufzte Dorothy. "Ich war immer der Ansicht, dass um die Liebe viel zu viel Getöse gemacht wird. Aber jetzt ..." Ihre Stimme brach, mit feuchten Augen blickte sie ins Leere. "Oh, Dorothy ..." Christy hielt verlegen inne, denn Heather und Jim kamen aus dem Nebenzimmer, wo sie sich umgezogen hatten. "Hallo", begrüßte sie die beiden und lächelte gezwungen, um sie von Dorothy abzulenken. "Was hast du heute dargestellt, Jim?", fragte sie scherzhaft. "Einen bekehrten Gesetzlosen oder einen wilden Wikinger?" Jim schmunzelte. "Keins von beiden, heute war ich ein zynischer Herzog." "Aha, dieser Typ ist ja bekannt", sagte Christy wissend: "Dann musst du die süße Unschuld vom Lande dargestellt haben, Heather." Heather löste gerade ihr langes rotes Haar und kämmte es aus. "Keine von Dorothys Heldinnen ist unschuldig", antwortete sie lachend. "Obwohl ihre Personen immer vorschriftsmäßig angezogen sind, strahlen Dorothys Titel immer so viel Erotik aus, dass jeder Betrachter hingerissen ist." "Das machst du doch daraus, Heather", sagte Dorothy. Sie hatte sich jetzt wieder gefangen. "Aber du übertreibst wohl ein wenig." Alle lachten und die Situation war gerettet. Heather und Jim verabschiedeten sich. Als sie allein waren, fragte Dorothy: "Ist Thomas richtig böse geworden? Hat er dir angedroht, dass du jetzt auf dein Geld warten musst, oder ist er immer noch bereit, es dir an deinem einundzwanzigsten Geburtstag zu überlassen?" Gespannt wartete sie auf die Antwort.
"Wirklich, er war sehr zornig", bestätigte Christy. "Als er ins Schloss zurückkam, sah er ganz blass und mitgenommen aus und ich fürchtete schon ..." Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment klingelte das Telefon. Die Unterbrechung ärgerte Dorothy. "Heute gehts hier zu wie am Piccadilly Circus zur Hauptverkehrszeit." Sie nahm den Hörer ab und meldete sich brummig. Alles hatte Dorothy erwartet, nur das nicht. Die Überraschung war perfekt! Dick Crosby, ein langjähriger Freund, der gleichzeitig ihr Agent war, hatte eine wunderbare Nachricht für sie. "Claudia Laurence möchte, dass du das Titelbild für ihren nächsten Roman entwirfst", erklang Dicks triumphierende Stimme aus der Muschel. War das der Lauf der Dinge? Ein Traum zerrann und ein anderer wurde wahr? Sie hatte Thomas verloren, aber nun durfte sie für Claudia Laurence arbeiten. Dorothy stand wie erstarrt, den Hörer ans Ohr gepresst. "Dorothy, Mädchen, du hast diesen tollen Auftrag in der Tasche!" Dicks Stimme klang noch lauter. Dorothys Schweigen wunderte ihn. "Hast du nicht verstanden? Du sollst den neuen Roman von Claudia Laurence illustrieren, hörst du!", wiederholte er. Was war nur los mit ihr? Seit Jahren hatte sie von diesem Augenblick geträumt, seit Jahren wünschte sie sich, endlich auch einmal für ihre Lieblingsautorin arbeiten zu dürfen, das müsste der Gipfel ihrer Karriere werden. Und jetzt? Jetzt schien alles nicht mehr wichtig. Dorothy rührte sich nicht und Dick wurde ungeduldig. Christy bemerkte, wie geistesabwesend ihre Freundin war. Rasch nahm sie ihr den Hörer aus der Hand und führte die Unterhaltung stellvertretend fort. Auch Christys Erstaunen war groß, als sie die Neuigkeit hörte. "Was sagen Sie?", rief sie in die Muschel. Aber anscheinend bekam sie von Dick am anderen Ende des Drahtes
sofort einen Dämpfer, denn sie fuhr wesentlich sanfter fort: "Ja, wirklich? Das ist wunderbar, doch selbstverständlich klappt das, ich werde es weiterleiten." Dorothy wandte sich ab. So lange schon hatte sie diesen Wunschtraum mit sich herumgetragen. Nun nahm ihr die unglückliche Liebe zu Thomas alle Freude an der Arbeit, die bis dahin das Interessanteste in ihrem Leben gewesen war. Sollte es von nun an immer so sein? Wie konnte sie das aushalten? Oder brachte sie es eines Tages doch fertig, ihren Stolz zu überwinden und zu Thomas zu gehen: "Hier bin ich, ich liebe dich?" Immer deutlicher wurde Dorothy bewusst, wie verzweifelt sie war. Verzweifelt über Thomas und seinen großen Irrtum und verzweifelt über sich selbst, über ihren Stolz und ihren vielleicht zu schnellen Rückzug. Sie stand tatenlos im Atelier und hörte Christys Stimme wie aus weiter Ferne. Während Dorothy über all dies nachdachte, unterhielt sich Christy eifrig mit Dick. "Sie wird kommen, ganz bestimmt", sagte sie jetzt und, legte dann den Hörer auf. "Ich nehme an, du hast von mir gesprochen", meinte Dorothy spöttisch. "O ja", bestätigte Christy. Sie sprühte förmlich vor Unternehmungslust. "Und wohin komme ich, wenn ich dein Versprechen einhalte?", wollte Dorothy wissen. "Zu Empire Publishing, sie erwarten dich heute Nachmittag um zwei Uhr." "Meinst du nicht, du hättest mich vorher fragen müssen, ob mir das recht ist?", murrte Dorothy. Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie blickte auf die Uhr. "Heute Nachmittag um zwei Uhr?", rief sie ungläubig aus. "Das ist unmöglich, das ist ja schon in zwei Stunden." "Genau. Deshalb musst du dich jetzt umziehen und sofort losgehen. Dabei kannst du natürlich keine Jeans tragen", entschied Christy.
"Christy, ich bin einfach nicht in Stimmung, heute Nachmittag mit einem Verleger zu verhandeln." Christy eilte bereits voraus ins Schlafzimmer und öffnete gebieterisch die Türen des Kleiderschranks. Auf den ersten Blick fand sie nichts Passendes für Dorothy. "Du bist ja gar nicht mit dem Verleger verabredet, obwohl der wahrscheinlich auch da sein wird." Jetzt holte sie ein grünes Kostüm aus dem Schrank und betrachtete es kritisch. Es gefiel ihr aber nicht. "Du triffst die Autorin höchstpersönlich", verkündete sie siegessicher und hielt ein mintgrünes Sommerkleid hoch. "Das geht auch nicht", meinte sie resignierend. "Du siehst darin aus wie sechzehn. Ich könnte dir ja mein Kleid leihen, aber das reicht dir wahrscheinlich knapp bis zu den Knöcheln." Christy wiegte unschlüssig den Kopf hin und her. Ihr blaues Kleid und der naturfarbene Leinenblazer schienen tatsächlich passend für diese Gelegenheit. Christy zog. Dorothy das T-Shirt flink über den Kopf, half ihr aus den Jeans und betrachtete Dorothy abschätzend, nachdem diese Christys Kleid übergezogen hatte. Mit einem anerkennenden Blick auf Dorothys schön geformte Brust meinte sie dann lächelnd: "Nein, wie sechzehn siehst du dann doch nicht aus." Dann löste sie Dorothys Zopf und kämmte ihr das lange Haar. "Christy, ich bin dir wirklich sehr dankbar für deine Hilfe", sagte Dorothy zögernd, "aber ich mag heute Nachmittag wirklich nicht mit dieser Autorin zusammentreffen." "Es handelt sich nicht um irgendeine Autorin", wies Christy sie zurecht. "Du wirst Claudia Laurence kennen lernen, das ist es!" "Auch sie will ich nicht sehen", trotzte Dorothy. Christy starrte Dorothy an, als wäre sie verrückt. Sie ließ den Einwand einfach nicht gelten. "Du gehst auf jeden Fall hin", entschied sie. "Hast du zu diesem Kleid passende Schuhe?"
"Christy, ich möchte wirklich nicht hingehen", wandte Dorothy noch einmal schwach ein. "Du gehst!", befahl Christy und ließ keine Widerrede aufkommen. "Claudia Laurence hat darum gebeten, dich persönlich kennen zu lernen." "Das ist ja ganz schön, aber nicht heute Nachmittag." "Doch, Claudia Laurence scheint sehr zurückgezogen zu leben. Sie ist nur für einen Tag nach London gekommen und fährt heute Abend bereits wieder nach Hause." "Das wusste ich nicht. Es ist mir bekannt, dass sie den ganzen Publicity-Rummel nicht liebt, aber mir ist neu, dass sie Menschen regelrecht aus dem Weg geht." "Dick sagt, es ist eine große Ehre; dass sie für dich Zeit hat. Und außerdem", ermunterte Christy Dorothy, "ist es eine gute Ablenkung für dich, dann vergisst du deinen Kummer." "Also gut. Die Schuhe stehen hinten im Schrank", sagte Dorothy, Christy suchte lange im dunklen Schrank herum und entdeckte ein paar schwarze Ballerinas, die dort ziemlich vergessen neben einem Paar ausgelatschter Joggingschuhe standen. "Aha, die Abendschuhe der gnädigen Frau", spottete sie. Dorothy musste lachen. Christy besaß für jedes Kleid passende Schuhe. Sie legte großen Wert auf ihr Äußeres und Dorothy tat es gut, wieder zu lachen, auch wenn es nur über ihre Schuhe war. Kurz darauf saßen Dorothy und Christy im Taxi und fuhren zum Empire-Publishing-Bürohaus. Christy musterte die Freundin von der Seite. Wenigstens hatte sie es durchgesetzt, dass sie ihr blondes Haar offen auf die Schultern fallen ließ. David Kendrick, der junge Verleger, dem Empire Publishing gehörte, kannte Dorothy gar nicht anders als in Jeans und TShirts. Dorothy konnte sich vorstellen, dass ihn auch heute ihr Aussehen nicht unbedingt vom Stuhl reißen würde.
Dabei dachte sie an Christy und lächelte vor sich hin. Christy an ihrer Stelle hätte keine Gelegenheit ausgelassen, den Millionär für sich zu interessieren. Sie würde es sicher unverzeihlich finden dass Dorothy solche Chancen einfach ausließ, weil sie sich selbst und ihrem einfachen Leben treu bleiben wollte. Nur Christy zuliebe hatte sie sich also heute so zurechtgemacht. "Ich bin gegen acht Uhr wieder in deinem Atelier, dann besprechen wir alles", sagte Christy, als Dorothy vor dem Empire Publishing-Gebäude ausstieg. "Viel Glück", rief sie der Freundin noch durchs offene Taxifens ter nach. Dorothy lächelte zuversichtlich. Im Fahrstuhl redete sie sich selbst noch einmal gut zu, vernünftig zu sein. Dies war die Gelegenheit, auf die sie lange gewartet hatte. Sie durfte sie nicht ungenutzt lassen, nur weil sie eine Enttäuschung in Sachen Liebe erlebt hatte. Als Dorothy wenig später David Kendricks Büro betrat, forderte die Sekretärin sie freundlich auf: "Gehen Sie nur hinein, er. wartet schon auf Sie." David Kendrick hatte den Verlag vor zehn Jahren gegründet. Inzwischen war Empire Publishing ein bedeutendes Unternehmen geworden. David besaß ebenso viel Gespür und Begeisterung wie einen gesunden Geschäftssinn für das Verlagswesen. Alles, was er in Angriff nahm, führte zum Erfolg. Seine Mitarbeiter, wählte er sorgfältig aus und trennte sich gnadenlos von denen, die seinen Ansprüchen nicht genügten. Dorothy wunderte sich nicht, dass Claudia Laurence vor fünf Jahren auf diesen Verlag umgestiegen war. Für beide Seiten hatte sich ein lohnendes Geschäft daraus entwickelt. Und nun bot sich Dorothy hier die Chance ihres Lebens. Deshalb musste sie jetzt einen klaren Kopf behalten und durfte nicht an Thomas denken. Doch als Dorothy das Büro betrat, sah sie eine bekannte Gestalt am Fenster stehen: Thomas!
Dorothy schloss für einen Moment die Augen, überzeugt davon, dass sie träumte. Doch Thomas stand noch immer dort, als sie die Augen wieder öffnete. Die Sonne glitzerte in seinem Haar. Er glich jedoch nicht mehr dem geistesabwesenden Professor. Vor ihr stand ein elegant gekleideter Mann, dessen Haar kurz geschnitten war. Er wirkte jung und dynamisch und blickte ernst zu ihr herüber. Sie war nicht sicher, was sie von diesem so ganz anderen Thomas halten sollte. Was tat er hier? Sie war hergekommen, um David Kendrick zu treffen, der ihr Claudia Laurence vorstellen wollte. Dies war sein Büro und doch war Thomas ganz allein hier. Dorothy wurde verlegen. "Hier muss ein Irrtum vorliegen", sagte sie schließlich zögernd. "Nein, Dorothy", antwortete Thomas. Seine Stimme klang rau. Er kam ihr entgegen, schloss die Tür hinter ihr und blickte Dorothy wieder stumm an. Es war ganz still im Raum. Das Büro befand sich im obersten Stockwerk eines Hochhauses. Wenn man aus dem Fenster blickte, war nur der Himmel zu sehen. Es kam Dorothy vor, als wäre sie mit Thomas ganz allein auf der Welt. "Ich bin hergekommen, weil ich eine Verabredung mit David Kendrick habe", meinte sie unbeholfen. Allmählich zweifelte sie an ihrem Verstand. Was tat Thomas in diesem Büro, das doch David gehörte! "Er sagte mir, du wolltest dich mit Claud ia Laurence treffen." Thomas betrachtete Dorothy immer noch unverwandt. Sie wich seinem Blick aus. Wenn sie ihm jetzt in die Augen sehen musste, dann war sie verloren. "Was machst du hier, Thomas?" "Ich.möchte mit dir reden ..." Sie unterbrach ihn empört, denn sie hatte plötzlich den Verdacht, dass er sie unter falschem Vorwand hierher gelockt hatte. "Wäre es nicht einfacher gewesen, in mein Atelier zu
kommen, als dieses Theater aufzuführen? Christy hat dir bestimmt erzählt, wo ich arbeite." Sie sprach nun laut vor Erregung.' "Reicht es dir nicht, mir deine Verachtung deutlich gemacht zu haben? Bist du immer noch so verärgert über das, was Christy und ich getan haben, dass du mich auch noch beruflich unmöglich machen willst?" Was wurde hier gespielt? Es machte ihr nichts aus, dass sich nun ihr Wunschtraum, ein Titelbild für Claudia Laurence zu entwerfen, in nichts auflöste. Aber dass Thomas sie offenbar so sehr hasste, dass er diese ausgefallenen Wege ging, das schmerzte sie tief. "David Kendrick ist ein Freund von mir", erklärte Thomas leise, ohne auf ihren Vorwurf einzugehen. "Was in diesem Büro geschieht, wird unter gar keinen Umständen nach außen dringen", versicherte er. "Im übrigen ist Ärger auch nicht das richtige Wort für das, was ich empfand, als du gestern die Wahrheit sagtest." "Dann hat vielleicht Christy dir etwas gesagt, was dich noch mehr verärgert hat?" Dorothy konnte einfach nicht glauben, dass Thomas derart nachtragend war. "Christy hat mir nichts erzählt." "Das glaube ich nicht." "Christy hat nur gut von dir gesprochen. Ich verstehe jetzt, dass du ernste Gründe hast, die Tatsache, dass Martin EllingtonJames und Valerie Sherman deine Eltern sind, zu unterschlagen. All das hat aber nichts damit zu tun, dass Christy dich zu diesem verrückten Plan überreden konnte, der uns alle jetzt so in Bedrängnis bringt." "Hat sie dir wirklich nicht mehr über mich berichtet?", fragte Dorothy, immer noch zweifelnd. "Christy hat dich doch gern", versicherte Thomas, "und sie hat mich davon überzeugt, dass all deine Freunde, deine sechs
Patenkinder eingeschlossen, ebenso empfinden, wie sie selbst es tut." Dorothy schüttelte den Kopf und nach kurzer Pause fuhr er fort: "Sie muss es gespürt haben, dass ich nach dieser Enttäuschung im ersten Augenblick nur den Wunsch hatte, dich übers Knie zu legen, um dir jene Hiebe zu verabreichen, die du als Kind zu wenig erhalten hast." Tränen traten Dorothy in die Augen, als er sie an ihre Kindheit erinnerte. "Es gibt andere Möglichkeiten, ein Kind zu bestrafen." Diese Bemerkung erschütterte ihn offensichtlich. Wie viel Traurigkeit verbarg sich dahinter. "Dorothy" sagte er sanft, "du musst mir einmal mehr aus deiner Kindheit erzählen, aber vorher möchte ich dir einiges erklären. Vielleicht hast du dann mehr Vertrauen zu mir", fügte er hinzu als Dorothy einen Schritt zurückwich. "Da gibt es überhaupt nichts zu erklären", sagte Dorothy mit unbewegter Stimme. "Gestern erst ist mein Vertrauen zu dir hart bestraft worden." "Ich habe es verdient, dass du dich verschließt", gestand er. "Ich hätte dir mehr Glauben schenken sollen. Inzwischen weiß ich aber, dass meine Verdächtigungen einfach falsch waren." "Weil Christy dir alles erklärt hat ..." "Ich sagte dir doch, sie hat mir nichts erzählt", unterbrach er sie entschieden. "Sie erinnerte mich nur daran, dass wir alle Geheimnisse haben, die wir nicht ohne weiteres preisgeben möchten." "Du bist natürlich die rühmliche Ausnahme!", meinte Dorothy spöttisch. "O doch, ich bin ganz besonders davon betroffen", gab er verlegen lächelnd zu. "Wenn du über den Tod deiner Verlobten sprichst, dann musst du wissen: Davon hat Christy mir schon alles erzählt." Entschuldigend blickte sie ihn an, denn es war ihr plötzlich doch
etwas peinlich, zuzugeben, dass sie mit ihrer Freundin darüber gesprochen hatte. "Ich weiß", meinte er. '"Es fällt mir jedoch nicht schwer über Julie zu reden." Er überlegte eine Weile. "Es ist jetzt elf Jahre her und auch wenn ich sie sehr geliebt habe, kann ich sie doch nicht mehr zurückholen! Das Leben ist seitdem weiterge gangen, Dorothy." Er sprach ganz leise. "Ich habe mich weiterentwickelt, mich sehr verändert. Heute glaube ich, dass Julie und ich uns vielleicht nichts mehr zu sagen hätten, wenn sie noch lebte. Jedenfalls nicht so viel wie, du und ich." Dorothy hörte ihm aufmerksam zu. Er konnte sie jedoch nicht überzeugen. Was hatten sie schon gemeinsam bei diesem gegensätzlichen Lebensstil? Sie besaß kein Zuhause, arbeitete, wann sie Lust hatte, vagabundierte in der Welt herum und ging jeder festen Bindung aus dem Wege. Thomas hingegen führte ein geordnetes Leben. Er wohnte in einem großen Schloss, das ihm offensichtlich viel bedeutete. Er hatte feste Grundsätze und eine solide Lebensweise, obwohl das musste sie zugeben - er heute weniger gelehrt und viel jünger aussah als sonst. Dorothy stand traurig vor ihm und Thomas fühlte ihre stumme Ablehnung. Er ging einen Schritt auf sie zu und legte die Hand auf ihren Arm. "Dorothy", sagte er eindringlich und suchte ihren Blick. "Hier hast du mein Geheimnis: Ich bin Claudia Laurence."
10. KAPITEL Dorothy stand reglos vor Schreck. Sie starrte Thomas an wie eine Erscheinung und schluckte schwer: "Du ... du bist...?" "Claudia Laurence", wiederholte er. "Ich schreibe unter diesem Pseudonym." Er ergriff ihre Hände und führte Dorothy zum Sofa hinüber wie ein krankes Kind. "Komm, setz dich, bevor du noch umfällst." Sie gehorchte und ließ sich aufs Sofa sinken. Immer noch schaute sie ihn mit offenen Augen ungläubig an. "Wartet David nicht darauf, dass sein Büro wieder frei wird?", fragte sie. Thomas setzte sich neben sie und nahm beruhigend ihre Hand. "Wir können so lange in seinem Büro bleiben, bis alle Missverständnisse zwischen uns geklärt sind." Bei dem Wörtchen "uns" wurde Dorothy wieder von den altbekannten Gefühlen heimgesucht, von Angst und Hoffnung. Mit der freien Hand strich Thomas ihr sanft übers Haar, über die Wange, und seine Worte klangen ganz selbstverständlich: "Ich liebe dich so, Dorothy James." "Ellington-James", verbesserte sie kurz, immer noch starr wie eine Puppe. Aber Thomas bemerkte sofort, dass bei diesem Namen all die unglücklichen Kindheitserinnerungen in ihr wach wurden. Thomas zog Dorothy eng an sich und drückte ihren Kopf an seine Schulter. "Du sperrst dich, wenn nur der Name Ellington
James fällt. Es gibt jedoch durchaus eine Lösung für dieses Problem." "Welche?" Dorothy hob nur leicht den Kopf. "Wie wärs mit einer schlichten Namensänderung?" Thomas gab sich betont kühl. "Das ist viel zu umständlich", meinte sie und machte eine müde, abwehrende Handbewegung. Jetzt drehte sich Thomas ihr so weit zu, dass er in ihre Augen blicken konnte: "Wie gefiele dir zum Beispiel der Name Dorothy Bennett?" Erschrocken setzte sich Dorothy auf und sah ihn genau an. Wahrhaftig, seine Augen blickten tief ernst! Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. War das ein Heiratsantrag? Auch in den schönsten Stunden auf Castle Haven hatte sie noch nie ernsthaft darüber nachgedacht, ihn zu heiraten. Sie schwieg immer noch und Thomas war enttäuscht. "Wenn dir dieser Gedanke so zuwider ist, möchtest du dann vielleicht lieber..." "O nein, nichtig anderes möchte ich lieber!" Sie legte mit einer innigen Geste die Hände um sein Gesicht. "Es kommt nur alles so überraschend. Hast du dir das auch gut überlegt? Du kennst mich doch kaum." "Ich weiß sehr genau, dass du ein guter Mensch bist. Wie aufopfernd und liebevoll kannst du mit Kindern umgehen, mit Kindern, die du nicht einmal kennst und ..." "Meinst du Catherine?" "Ja. Mrs. Scott war sehr enttäuscht, dass du so schnell verschwunden bist und sie dir nicht einmal mehr danken konnte." "Was solls!" Dorothy lächelte verlegen. "Und da musstest du das Biest und Christy durfte die gute Samariterin spielen bei eurer dummen Rollenverteilung!" Thomas' schüttelte lächelnd den Kopf. "Sie hätte zu jeder Zeit das gleiche getan."
"Siehst du, das habe ich vorhin gemeint: Du bist zu allen gütig und liebevoll. Gut, vielleicht hätte sie genauso gehandelt. Aber du warst es, die den Schmerzensschrei gehört hat, du warst es, die sich ohne Zögern aus meinen Armen befreit hat, um einem Kind zu helfen!" "Ach was, das hätte jeder so gemacht", wehrte sie ab. "Da haben wir die nächste angenehme Eigenschaft!", stellte Thomas lächelnd fest. "Du bist auch noch bescheiden." "Also gut, ich bin liebevoll und bescheiden." Dorothy setzte sich auf, das Spiel machte ihr allmählich Spaß. "Und das ist jetzt alles, was du von mir weißt?" "Ist das nicht genug?" "Nicht genug, um eine Ehe zu gründen." Plötzlich kam ihr ein Einfall. Sie rückte etwas von Thomas ab, in ihren Augen glitzerte ein Lachen. Mit übertrieben strenger Stimme sagte sie: "Gestehe, du hast noch mehr an mir entdeckt. Du hast zum Beispiel entdeckt, dass die billigste und schnellste Malerin für Buchtitel diejenige ist, die man heiratet!" Dorothy wurde immer fröhlicher. Thomas ging auf ihren scherzhaften Ton ein. "Daran habe ich noch gar nicht gedacht", erklärte er unschuldig. "Arbeitest du als Ehefrau für mich umsonst?" "Nein." "Als Geliebte?" "Nein." Dorothy prustete lachend heraus. Mit jeder Minute, die verging, fühlte sie mehr, wie sie geliebt wurde. "Als Ehefrau und Geliebte?", verbesserte er sich. "Nun ..." Dorothy begann schwach zu werden. "Du musst mich doch nicht heiraten, wenn du lieber ..." "Von müssen ist nicht die Rede." Thomas lachte laut auf. "Dein Professor ist keineswegs so altmodisch und verstaubt, um nicht genau zu wissen, dass er dich noch ein wenig heftiger lieben müsste, um ein Baby zu machen."
Dorothy wurde rot vor Verlegenheit. Allein der Gedanke an ein Baby und was seiner Zeugung vorausging genügte dazu. "Hast du das von Christy?" Die Erwähnung von Christy brachte Thomas wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurück. Sicher, sie war eine gute Schauspielerin, ein kleines Biest, aber liebevoll und treu war sie auch. Er blickte nachdenklich zu Boden und erlebte noch einmal die riesengroße Szene, die Christy ihm in seinem Arbeitszimmer gemacht hatte, weil er Dorothy wegschickte. Dann sah er zu Dorothy hinüber. "Altmodisch und verstaubt. Das waren die ersten Worte, die sie mir nach deinem Weggehen in meinem Arbeitszimmer entgegenschleuderte." Dorothy konnte sich diese Szene sehr gut vorstellen. "Weißt du, Christy verliert nicht so schnell die Geduld, aber wenn, dann ist der Teufel los!" "Genau so war es. Nach dem ersten Ausbruch wurde sie ruhiger und erklärte mir dann mit hervorragenden Argumenten, dass ich mich wie der berühmte Elefant im Porzellanladen benommen hätte. Und nicht nur das: sie überzeugte mich auch auf Anhieb einmal vom Ele fanten und dann auch davon, dass eine junge Frau sehr wohl allein auf ihr Geld aufpassen könnte." "Sie wird also ihr Erbe bekommen?" "Daran gab es nie einen Zweifel, ich sagte dir das doch schon gestern. Vor lauter Arbeit habe ich versäumt, Christy gleich von Anfang an über den wahren Hintergrund dieser Testamentsbestimmung aufzuklären. Christys Eltern wollten doch nur, dass sich die beiden letzten Glieder der Familie - wir beide - miteinander anfreunden sollten, um im weiteren Leben nicht allein zu sein. Es sollte nie eine "Reifeprüfung" durch den gestrengen Onkel daraus werden." "Dann ist ja alles gut." Dorothy lehnte sich wieder zufrieden an Thomas' Schulter. "Ja schon. Aber gleich darauf hat deine herzallerliebste Freundin Bedingungen gestellt. Sie gab mir in aller Strenge zu
verstehen, dass sie sofort die neuen Familienbande durchschneiden würde, wäre ich nicht fähig, dich zurückzuholen." Er legte Dorothy den Arm um die Schultern. "Deshalb, mein Liebes, habe ich dieses Versteckspiel veranstaltet." Dorothy lächelte ihn zärtlich an. "Noch nie, Thomas, bin ich so aus allen Wolken gefallen wie heute", sagte sie leise und glücklich. "Und dabei fühle ich mich so benebelt, als säße ich immer noch auf einer Wolke." "Aber das ist nicht alles. Ebenso streng ist Chr isty mit mir umgesprungen, als ich den Einwand wagte, ich könnte vielleicht zu alt für dich sein, und du könntest in mir unbewusst die Vaterfigur sehen, weil du zum eigenen Vater keine Beziehung hattest." Dorothy fuhr hoch. "Das hast du gedacht? Habe ich dich so geküsst, wie man einen Vater küsst!" Dann aber trat ein verführerisches Lächeln auf ihre Lippen. "Hast du dir deshalb die Haare schneiden lassen, das schicke Jackett und die neue Hose angezogen?" "Ich dachte, es könnte nicht schaden, wenn du mich auch einmal von einer anderen Seite kennen lernst. Seit Jahren habe ich mich nicht um Kleidung gekümmert." "Du weißt ja, dass wir da den gleichen Geschmack haben: leicht, locker, bequem - und ein wenig abgetragen, wenn du so willst. Auch wenn du noch so schäbig gekleidet warst, habe ich immer deinen durchtrainierten, schönen Körper erkannt, den vollkommenen Körper eines Apoll." "Eines - was?" "Diesen Namen habe ich dir gegeben, als ich dich zum ersten Mal nackt aus den Wellen steigen sah. Seither bist du mein griechischer Gott." Thomas küsste sie sanft auf den Mund, hielt dann ihren Kopf auch weiterhin umfasst und fragte: "Willst du deinen griechischen Gott heiraten?"
"Ich gebe mit Sicherheit eine schlechte Ehefrau ab." "Für mich bist du die einzig Richtige, vergiss nicht die Entwürfe für die Claudia- Laurence-Romane !" Er lachte und holte dann tief Luft. "Noch einmal: Willst du Thomas Bennett, willst du deinen griechischen Gott, willst du Claudia Laurence heiraten?" "Du musst Geduld haben", sagte Dorothy bittend. "Weißt du, gestern hast du mich noch hinausgeworfen und jetzt, Simsalabim, begegnest du mir mit so viel Liebe. Die reinsten Wechselbäder der Gefühle!" "Ich kann warten", sagte er leise. "Aber du musst in meiner Nähe bleiben, ich lasse dich nicht mehr fo rt." Er zog sie fest an sich. "Hat Christy von deinem Pseudonym gewusst?" "Ja, leider. Sie kam eines Tages in mein Arbeitszimmer und wollte mich etwas fragen, aber ich war gerade nicht da. Du weißt, Christy ist neugierig. Sie entdeckte ein Manuskript auf meinem Schreibtisch mit diesem anderen Namen. Er setzt sich aus den Vornamen meiner Eltern zusammen: Claudia und Laurence." "Eine schöne Idee", sagte Dorothy weich. . "Nach dem Erfolg des ersten Buchs schrieb ich weiter wie besessen. Castle Haven, das Schloss meiner Träume, war ja nicht gerade billig." "Wir beide, Christy und ich, haben das auch schon überlegt." Thomas lachte. "... und bei der schlechten Meinung, die ihr von mir gehabt habt, wart ihr sicher überzeugt, dass ich mindestens einen Bankraub verüb t haben musste." Dorothy legte Thomas einen Finger auf den Mund. "Bankraub, das könnte das Stichwort für andere Kriminelle sein. Christy ist an allem Schuld! Sie hat dein Geheimnis gewusst und sie kennt auch meine Geheimnisse." "Du und Geheimnisse?" "O ja, mein Lieber. Christy hat zum Beispiel verhindert, dass ich wegen illegalen Glücksspiels ins Gefängnis musste."
Jetzt fuhr Thomas doch zurück. "Illegales Glücksspiel?" "Und was sagst du zu Henry, der mit mir im Bett lag? Hat Christy dich nicht aufgeklärt?" "Na... nein." Thomas runzelte die Stirn. "Eigentlich musste ich dich nun auch ein Weilchen zappeln lassen, geliebter Professor!" Dorothys Augen funkelten vor Vergnügen. "Das habe ich verdient", sagte Thomas ernst. Aber Dorothy lachte erlöst auf. "Meine Geheimnisse sind schnell gelüftet. Ein guter Bekannter ist Reporter und hatte den Auftrag, über illegales Glücksspiel eine Reportage zu schreiben. Er schleppte mich in eine Spielhölle mit und da hat es mich erwischt. Aber Christy holte mich raus." Thomas atmete tief durch. "Ich hoffe, dass es das einzige Mal war., dass Christy dich vorm Gefängnis bewahren konnte." "Ehrenwort!" "Und Henry?" "Ich muss zugeben, dass Henry sogar mehr als einmal mit mir ins Bett ging." Thomas wurde immer verwirrter und Dorothy konnte kaum noch ernst bleiben. "Henry lebt in Christys Wohnung und ... ist ein kleiner, süßer Hund, den ich versorgen musste, solange sie bei dir ist!" "O Dorothy!", rief Thomas. "Sind nun wirklich alle Geheimnisse und Missverständnisse geklärt? Auch du bist wahrhaftig ein kleines Biest!" Er riss sie heftig in die Arme und küsste sie, dass ihr die Luft ausging. Sie waren so ineinander versunken, dass sie das vorsichtige Klopfen an der Tür nicht hörten. David Kendrick betrat leise sein Büro, blieb jedoch gleich stehen und blickte stumm zu Dorothy und Thomas hinüber. "Hm, hm", räusperte er sich schließlich. "Ich bitte sehr um Verzeihung, dass ich in meinem Büro auftauche, aber
schließlich habe ich einen Verlag zu leiten und kann dies nicht um Mitternacht tun." Thomas fing sich als erster wieder. "Ich danke dir, David. Aber ich habe noch keine Antwort auf meinen Heiratsantrag erhalten." "Aber selbstverständlich hast du das", antwortete David. "Du hältst die Antwort sozusage n in den Armen!" Thomas schaute Dorothy zärtlich an. "Ja?" Leise und glücklich antwortete sie "Ja." "Nachdem ich nun schon zum Zeugen eures Glücks geworden bin, melde ich mich als Trauzeuge an", sagte David und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. In geschäftlichem Ton wandte sich Thomas an den Verleger: "Übrigens, in meinem Vertrag steht, dass ..." "Ich weiß, worauf du hinaus willst", unterbrach David ihn. "Du möchtest dein Honorar sobald wie möglich haben, damit du eine Zentralheizung in deinem Schloss einbauen lassen kannst. Ich finde das sehr vernünftig, oder ..." und er zwinkerte mit den Augen, "haltet ihr das Feuer eurer Liebe für ausreichend?" "Für eine Weile wird es wohl ausreichen." Thomas küsste Dorothy. "Oh, länger als nur eine Weile", flüsterte Dorothy. "Jetzt macht aber, dass ihr hier rauskommt, sonst fängt mein Büro noch zu brennen an", schimpfte David theatralisch und öffnete zugleich lachend die Tür. Im Aufzug waren sie allein. Mit seinem ganzen Körper drückte Thomas Dorothy leidenschaftlich gegen die vibrierende Fahrstuhlwand und presste die Lippen so lange auf ihren Mund, bis der Aufzug hielt. Hand in Hand gingen sie zu Thomas' Wagen. Bevor Thomas den Motor anließ, legte er die Hand auf Dorothys Knie und sagte rau: "Dorothy, ich halte es fast nicht mehr aus, es zerreißt mich vor Sehnsucht nach dir. Aber ich weiß einen schöneren Platz für die Erfüllung unserer Liebe als dein Atelier. Ich werde
im Auto sitzen bleiben und du holst die wenigen Sachen, die du brauchst, herunter. Machst du mit?" Auf Londons Straßen war der Teufel los um diese Zeit. Dorothy und Thomas kamen nur langsam vorwärts. Sowie der Wagen wieder einmal stand, küssten sie sich. Um sie herum schien die lärmende, hupende Welt zu bersten vor Eile und Nervosität, aber weder Thomas noch Dorothy empfanden Ungeduld. Sie waren sich ihrer Liebe jetzt so sicher, es konnte immer nur noch schöner werden. Endlich parkten sie auf dem Hof beim Atelier. Dorothy fuhr leicht zusammen: "Ich habe fast vergessen, dass Christy oben auf mich wartet. Natürlich muss ich ihr den neuesten Stand der Dinge mitteilen und vielleicht kommt sie auch gleich mit." "Warum nicht, mein Liebes? Auch David hat uns schon seinen Segen gegeben, jetzt fehlt noch der von Christy. Und auf Castle Haven wird jetzt sowieso nur noch gefeiert." Thomas half ihr aus dem Wagen und küsste sie schnell. "Ich warte hier und lasse euch Freundinnen zuerst einmal allein." Dorothy lief auf den Eingang zu, winkte zurück und rief: "Ich beeile mich!" Christy tat höchst überrascht, als sie die Tür öffnete. "Ach, du bist es schon! Bist du zufrieden mit dem Nachmittag, ist alles gut gegangen?", fragte sie ahnungslos. Dorothy schaute sie mit einem streng prüfenden Lehrerinnenblick an. "Gestehe, Christy, du weißt längst Bescheid, oder nicht? So gut wie an Türen kannst du auch an Fenstern stehen und lauern. Du hast gesehen, wie Thomas mich küsste!" "Juhuuh", schrie Christy lachend, warf die Arme in die Luft und warf sich auf eines der großen Lederkissen. "War es Thomas oder Claudia Laurence?", fragte sie verschmitzt. "Heute Nacht noch werde ich eine Meldung für die Times durchgeben: Die berühmte Illustratorin Dorothy James ist in den Hafen der ... nein, nicht Ehe, in den Hafen der Liebe eingefahren."
Dorothy lachte kurz mit, dann wurde sie ernst. "Schnell, pack deine Sachen, Thomas wartet unten, wir fahren gleich zurück." Da entdeckte Christy wieder einmal die Schauspielerin in sich. Sie stellte sich mitten in den Raum und sprach mit rollendem R und der dunklen Stimme einer Tragödin: "Derrr Schmerrrz überwältigt mich, aberrr ich kann nicht mitkommen!" Beide lachten lauthals und Christy fuhr mit normaler Stimme fort: "Weißt du, Schätzchen, ich muss morgen unbedingt noch nach Lucas und meinen süßen Tierchen schauen, das verstehst du doch, nicht?" Dorothy verstand sofort. "Du bist eine ganz Süße, Christy, du willst uns allein lassen. Aber wie kommst du dann nach Castle Haven?" "Lucas wird mich sicher hinausfahren. Es ist schon gut, wenn ich nach dem Rechten schaue. Und außerdem", ihre Augen blitzten, "fühle ich mich geradezu verpflichtet, dem lieben Henry einen Extragruß von Thomas zu überbringen!" Sie küsste Dorothy feierlich auf die Stirn und fragte leise: "Bist du glücklich?" "Ja, alles ist gut. Ich werde dir noch viel erzählen müssen." "So, und jetzt los!" Christy drehte die Freundin ah den Schultern herum. "Dort liegt dein Rucksack, er ist schon gepackt. Du kannst starten." Aufatmend ließ sich Dorothy auf den Beifahrersitz fallen und berichtete Thomas alles. Langsam verließen sie London und fuhren in den wunderschönen Spätnachmittag dieses Sommertags hinein. Dorothy lehnte sich gelöst im Sitz zurück, die Hand leicht auf Thomas' rechten Oberschenkel gelegt. Wie um sich zu befreien, sprach sie wieder von ihrer schweren Kindheit und Thomas hörte stumm zu. "Armes, kleines Mädchen", sagte Thomas zärtlich und drückte Dorothy die Hand. "Kein Wunder, dass du beim Anblick des Bildes von Knollsley Hall gefroren hast. Das kleine Mädchen darauf sollst wohl du sein, nicht wahr?"
"Nein, es ist eher ein Selbstbildnis. Mich vor Augen, hat meine Mutter sich als Kind gemalt, um in versteckter Form ihr Unglück auszudrücken. An der Seite meines Vaters wurde Knollsley Hall zum Gefängnis für sie und sie sehnte sich nach der Freiheit hinter dem Fenster. Da ich meiner Mutter sehr ähnlich bin, kann man natürlich auch mich auf dem Bild entdecken." "Das musst du jetzt alles vergessen, du wirst nie mehr verlassen sein, mein Liebes." Noch einmal kam alle Trauer in Dorothy hoch. "Kann irgendjemand auf der Welt dies überhaupt verstehen: Eine Mutter verlässt ihr einziges Kind, obwohl sie weiß, dass es beim Vater verloren ist?" "Wir beide werden damit zusammen fertig werden. In der ersten Zeit unserer Ehe werden wir das traurige Bild einfach umdrehen und außer Christy braucht niemand zu erfahren, warum." "Und irgendwann einmal werden wir es wieder umwenden. Und es wird mir nichts mehr ausmachen, wenn ich es betrachte. Einverstanden?" "Einverstanden." Thomas ging kurz vom Gas herunter und tippte mit dem Zeigefinger seiner rechten Hand auf seinen Mund und dann auf ihren. Inzwischen durchführen Thomas und Dorothy eine bekannte Gegend. Das grüne hügelige Land da draußen war der schöne Lake District und Dorothys Herz begann ahnungsvoll zu klopfen. Nach kurzer Zeit bog Thomas auf die kleine Landstraße ab, die zum Schloss führte und brachte den Wagen zum Stehen. Dorothy wurde immer aufgeregter: Hier in der Nähe musste der See sein! Thomas führte sie an der Hand den Hügel hinauf und da sahen sie ihn auch schon, ihren Schicksalssee. Glitzernd lag er vor ihnen.
Thomas drehte Dorothy sanft um und zog sie an seine Brust. Er neigte den Kopf zu ihr hinunter und sagte feierlich: "Weißt du, was für ein Tag heute ist? Es ist Sommersonnenwende, der längste Tag des Jahres, der Tag unserer Liebe, und alles um uns her wird diesen Tag mit uns feiern." "Wie schön, Thomas, dass du an den See gedacht hast." Dorothy legte die Arme um seinen Nacken. "Hab noch Geduld, warte, ich bin sofort wieder da", sagte Thomas lächelnd. Er verschwand in Richtung Auto und erschien kurz darauf mit einer Decke wieder. Er sah sich um und musterte die Wiese, als suche er etwas. Dann breitete er wenige Schritte ent fernt die Decke aus. "Hier ist die Stelle, wo du am unglücklichsten warst. Komm her, kleine Malerin, hier will ich alles wieder gut machen, hier sollst du heute am glücklichsten werden." Er zog sie wieder an sich, küsste sie wild und begann dann langsam, ihr Kleid zu öffnen. Dorothy atmete schnell, als sie seinen nackten, festen Körper fühlte. Er aber riss sich los und sagte: "Komm ins Wasser, Liebes, der See wartet!" Zum ersten Mal erlebte Dorothy das, was Thomas schon lange kannte: das Nacktbaden. Kein Badezug spannte, keine Träger drückten. Das weiche Wasser umspielte köstlich ihren nackten Körper. "Ist das nicht schön?", fragte Thomas mit gedämpfter Stimme. "Es ist einfach herrlich!" Sie ließ ein glucksendes Lachen hören. Sie schwammen langsam zurück und als ihre Füße wieder Boden fassten, stiegen sie eng umschlungen aus den Wellen. Thomas hob Dorothy hoch und trug sie zur Decke, wo er sie sanft niederlegte. Er legte sich neben sie und sie streichelten einander wortlos.
"Nixe, süße Nixe", sagte Thomas und blickte bewundernd auf sie hinab. "Apoll, schöner Apoll", erwiderte Dorothy. Er setzte sich auf und kniete nun über ihr. Mit beiden Händen zeichnete er die Linien ihres Körpers nach: Schultern, Arme, Hüften, Schenkel... und dann langsam zurück zu ihren festen Brüsten. Dorothy stöhnte tief auf und schloss die Augen. Er neigte sich hinunter und küsste ihre Lippen, den Hals und die Brustspitzen. "Komm, bitte komm ...", flüsterte Dorothy und presste sich ihm entgegen. Er ließ sich ganz über sie gleiten und umarmte sie so fest, dass sie erneut aufstöhnte. Seit drei Monaten waren Dorothy und Thomas nun verheiratet. Der See mit dem sanften grünen Hügel war zu ihrem geheimen Paradies geworden. An warmen Spätsommernachmittagen gingen sie noch oft hinüber, um ein kleines Bad und ihre große Liebe zu genießen. Inzwischen war es September geworden. Dorothy saß an der Uferböschung und schaute zu, wie Thomas winkend und lächelnd langsam aus dem Wasser stieg. Es war wie am ersten Tag, als sie Thomas zum ersten Mal gesehen hatte. Und auch diesmal klopfte ihr Herz wie am ersten Tag. Wie sie Thomas liebte, seine breiten Schultern, seinen gebräunten Körper, seine selbstsicheren Bewegungen! "Schön, dass du noch gekommen bist", rief Thomas. "Warum kommst du nicht ins Wasser?" "Ich weiß nicht, ich bin ein wenig müde." Er setzte sich neben sie und schaute sie zärtlich an. "Wie schön du bist. Du bist in diesem Vierteljahr noch keinen Tag älter geworden." Er zog sie sanft zu sich hinunter auf die Decke und schob ihr T-Shirt hoch. Dorothy wehrte ihn sanft ab. "Sei nicht böse, aber ich bin dazu heute nicht in der rechten Stimmung. Komm, rück ganz
dicht zu mir heran und lass uns diesen wunderschönen Abend genießen." An diesem Abend gingen sie früher ins Bett als gewöhnlich. Doch Dorothy konnte vor Glück nicht einschlafen. Sie fühlte sich so wunderbar geborgen an der Seite des ruhig atmenden Thomas. "Was ist, Liebes?' Thomas erwachte spät in der Nacht und erkannte im blassen Mondlicht, dass sie die Augen geöffnet hatte. "Ich kann nicht schlafen, Thomas", antwortete Dorothy ruhig. "Es ist einfach alles zu schön, um wahr zu sein." Thomas überlegte kurz, stieg dann aus dem Bett und verschwand. Fünf Minuten später stand er wieder vor ihrem Bett, im Schlafanzug ein Tablett balancierend. Sie ahnte, was er brachte, und knipste die Wandleuchte an. "O Liebling, ich kann diese Fische wirklich nicht mehr riechen. Jetzt bin ich ganz sicher: Wir bekommen ein Kind!"
-ENDE