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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 2
'Dunkelwelten' ist ...
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Geschichten aus dem Fantastik Magazin WARP-online
Das Mystery & Horror Spezial
Dunkelwelten 2
'Dunkelwelten' ist eine kostenlose Mystery & Horror Anthologie von www.WARP-online.de, dem Fantastik Magazin. Alle Rechte der Geschichten und Bilder verbleiben bei den jeweiligen Autoren und Künstlern.
Dunkelwelten 2 Copyright 2003 WARP-online Herausgeber: www.WARP-online.de Satz und Layout: Bernd Timm Alle Texte und Bilder sind bereits jeweils einzeln bei www.WARP-online.de erschienen und zur Veröffentlichung durch WARP-online freigegeben. Die Magazin-Reihe ist eine Sammlung von Beiträgen, die zusätzlichen Kreis interessierter Leser anspricht und die Namen der Autoren und Künstler bekannter macht. Weder das Fehlen noch das Vorhandensein von Warenzeichenkennzeichnungen berührt die Rechtslage eingetragener Warenzeichnungen.
1000 Seiten Fantastik www.WARP-online.de bringt das ganze Spektrum der Fantastik: Bilder, Geschichten, Artikel, Projekte, Reportagen, Interviews, Wissenschaft, Comic, Kostüme, SF-Kabarett, Lyrik, Film-& TV-Projekte, Modelle und mehr!
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Inhalt Cover von Matthew Goodsell Fürchte nicht den Tod
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von Frank Schröder Man kann sich viele Vorstellungen vom Leben nach dem Tode machen. Manche sind falsch...
Ein paar Wochen im Frühling
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von Andrea Tillmanns Es ist nur eine Hautkrankheit. Nichts weswegen man sich große Sorgen machen müßte, aber auch kein Grund für Glücksgefühle. Jedenfalls schien es am Anfang so...
Gotische Nacht
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von Danny Darkness Jeden Samstag geht es auf die Jagd, frei nach dem Motto: "Es muß wieder junges Blut spritzen...
Magnatic
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von Hannes Mayer Ein einfaches Blatt Papier und doch mehr. Ein seltsamer Schwindel erfasst Dich und wird zu einem Sog...
Die Fratze
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von Roland Roth Eine einsame Straße. Ein seltsames Leuchten. Ein Phänomen, mehr Sein als Schein?
Das Bild des Magiers
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von Alfred Bekker Eine junge Frau gerät an einen Guru und lernt sehr eifrig von ihm. Nicht nur Güte...
Hoffnung
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von Dakini Eine surreale Geschichte: Maja begegnet der Hoffnung und ihren Begleitern.
Die Braut von Montalban
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von Angelika Oehrlein Eine Hochzeit unter Schatten.
Der Heiler
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von Dakini Er macht sich auf eine lange Reise. Womöglich ist es schon zu spät?
Nachtflüge von Angelika Oehrlein Lehrzeit einer Hexe.
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Die letzten sechs Minuten von Xaver Matthias Was würden Sie in den letzten sechs Minuten ihres Lebens machen?
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Fürchte nicht den Tod von Frank Schröder
Man kann sich viele Vorstellungen vom Leben nach dem Tode machen. Manche sind falsch...
Prolog: In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt ist wohl ungefähr so viele Kleinstädte wie es Sterne im Weltall gibt. Eine dieser vielen Städte liegt, wie es der Zufall will, mitten im Südwesten von Iowa: Oakland. Nun ja, bei der Namensgebung waren die Bewohner nicht besonders einfallsreich, denn jeder der 50 US Amerikanischen Staaten hat sein eigenes Oakland, fast jeder. Aber dafür hat jedes Oakland seinen eigenen Charakter, der ihm durch seine Einwohner verschafft wurde. Dieses ganz spezielle Oakland zeichnet sich für seine malerischen Eigenheimanlagen aus. Diese netten gemütlichen Häuser, mit den gemusterten Gardinen in den Gitterfenstern. Diese wunderbaren Vorgärten, die selbst im Winter mit den schönsten Blumen geziert waren. Diese einladenden Verandas mit den großen Hollywoodschaukeln. Und als krönender Rahmen diese gepflegten Lattenzäune mit ihren verzierten Eingangstüren. Ja, durch diese Wohngebiete zu fahren, deren Straßen mit uralten und schön geformten Eichen gesäumt sind, ist wahrlich ein Ereignis. Doch vor nicht all zu langer Zeit, um genau zu sein, im letzten Sommer, wurde dieses schöne Abbild durch eine ganz grausame Angelegenheit beschmutzt. Heut zu Tage würde kein einziger Bewohner des idyllischen Oaklands mehr darüber ein Wort verlieren, daß zu dieser Zeit der blanke Horror vorherrschte. Denn zu dieser Zeit machte ein gefährlicher Serienmörder die Straßen der Kleinstadt unsicher. Eigentlich war gefährlich ein viel zu schmeichelhafter Ausdruck für diesen Killer. Brutal und bestialisch kämen der ganzen Sache schon etwas näher. Aber die Bewohner von Oakland hatten ihre eigene Bezeichnung für diesen Mörder. Sie nannten ihn schlicht den Tod... Part 1 Jessica Leighton war ein hübsches blondes Mädchen. Sie liebte das Leben, sie liebte den Tag, sowie die Nacht. Eines ihrer täglichen Rituale war es, sich abends vor dem Schlafengehen ans offene Fenster zu stellen, und sich den sanften Wind um die Ohren wehen zu lassen. Am heutigen Abend war es nicht anders. Als sie aus dem Bad kam, ging sie gleich in ihr Zimmer und klappte das Dachfenster auf, um dann den Oberkörper heraus zu strecken. Mit vollem Genuß sog sie die kühle Luft auf und schloß die Augen. Sie spürte wie ihre langen Haare leicht wehten, und wie ihr Nachthemd leise flatterte. Ein Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie dachte nach, über ihren Tag, über ihre Freunde, über ihre Pläne. Schließlich öffnete sie die Augen wieder und sah sich in der Dunkelheit um. Die Gegend war leer und ruhig. Das Nachbarhaus war dunkel, nur ein paar Häuser in der Ferne hatten noch Licht an. Die Nächte hier in Oakland waren herrlich, dachte sie, so unschuldig... Plötzlich fiel ihr etwas auf dem Dachsims auf. Eine dunkle Gestalt hockte gute anderthalb Meter von ihr entfernt. Eine unheimliche Gestalt, zu unheimlich. Ihr Herz fing an von Null auf Hundert zu rasen. Sie erkannte, daß die Gesichtszüge der Gestalt, die in einem schwarzen Umhang gekleidet und dadurch leicht in der Finsternis zu übersehen war, nicht einem Menschen, sondern einem Totenschädel gleich waren. Vor Angst gelähmt stand sie da, zitternd. Sie versuchte zu schreien, doch sie konnte nur ein gequältes Stöhnen von sich geben. Eben ging ihr durch den Kopf, wie lange diese Gestalt da wohl schon gesessen hatte, und was sie wohl vorhatte, da richtete sie sich schon in voller Größe auf. Jessica verfolgte mit entsetzten Blicken das Antlitz des kahlen Schädels, mit seiner fehlenden Nase und seinen 5
leeren starren Augenhöhlen. Auf einmal sah sie etwas aufblitzen, etwas langes, metallenes ...eine Sense. Sie wollte aufschreien, doch da holte die Gestalt aus und... Merlyn Leighton fuhr in ihrem Bett auf. Ein seltsames Poltern hatte sie aufgeweckt. Es hörte sich beinahe so an, als kullerte ein Ball über das Dach. Vorsichtig schlich sie aus dem Bett, um ihren Mann Jeff nicht zu wecken, ging zum Fenster und öffnete es. Draußen konnte sie nichts erkennen. Die Nachbarschaft war genauso ruhig wie immer. Dann warf sie einen Blick nach unten. Plötzlich erstarrte sie. Entsetzt verzog sie das Gesicht und brach in ein ohrenbetäubendes Geschrei aus, als sie das Gesicht ihrer Tochter Jessica zwischen den Sträuchern ihres Blumenbeetes erblickte... Part 2 Kathy Sloane stand mit aufgelehnten Ellenbogen am Fensterbrett und blickte nach draußen in den warmen sonnigen Tag. Doch das schöne Wetter war nicht der Grund für ihrer Beobachtungen. Ihre Aufmerksamkeit war vielmehr drüben bei den Hammiltons, die gerade dabei waren, ihr Haus auszuräumen. Die dreiköpfige Familie war eifrig beim packen, sie hatten es scheinbar sehr eilig, von hier wegzuziehen. In Windeseile stürmten sie mit großen Umzugskartons nach draußen und beluden ihr Auto damit. "Wußtest du, daß die Hammiltons ausziehen?" fragte das junge Mädchen ihre große Schwester Sidney, die auf der Couch saß und im Fernsehen die Nachrichten sah. "Nein, das wußte ich nicht. Ist mir aber so ziemlich egal. Ich konnte Lisa noch nie leiden." erwiderte sie, ohne vom Fernseher weg zu schauen. "Aber weißt du denn gar nicht, was das heißt? Jetzt haben wir keine Nachbarn mehr. Wir sind die letzten, die noch nicht aus der Forreststreet weggezogen sind. Und um ehrlich zu sein, fühle ich mich ziemlich unwohl dabei." erklärte Kathy unruhig. "Ich weiß nicht, was dich daran stört. Jetzt haben wir endlich Ruhe hier." meinte Sid. "Was ich damit meine, ..." begann sie, da viel ihr der Nachrichtenbericht im Fernsehen auf. "Sie es dir selbst an, Sid!" sagte sie und deutete auf das TV-Gerät. "... In der gestrigen Nacht hat der Tod wieder zugeschlagen. Die junge Jessica Leighton ist nun schon das achte Opfer, das von einem Unbekannten auf brutale Art und Weise ermordet wurde. Die Polizei hat von dem Serienmörder, der immer nachts zuschlägt, noch immer keine Spur. Aufgrund der Hilflosigkeit der örtlichen Behörden hat man sich dazu entschlossen, Hilfe beim FBI anzufordern. Bis der Mörder geschnappt wird, bittet die Polizei die Bewohner von Oakland, abends und nachts ihre Häuser und Wohnungen auf keinen Fall mehr zu verlassen..." berichtete die Fernsehsprecherin. "Siehst du, was ich meine? Für diesen irren Serienmörder sind wir hier draußen ein gefundenes Fressen. Wenn er hier her kommt, dann ist niemand in der Nähe, der uns helfen kann. Verstehst du?" "Kathy, du brauchst keine Angst haben. Mom und Dad sind doch da. Außerdem glaube ich nicht, daß der Tod ausgerechnet zu uns kommt." beruhigte Sid ihre Schwester. Das schien nicht viel zu nützen, denn Kathy lehnte sich verängstigt an Sidneys Schulter . "Ich will noch nicht sterben..." jammerte sie. "Oh Kathy, du brauchst keine Angst vor dem Tod haben. Die meisten Menschen glauben, daß der Tod etwas ganz schreckliches ist, aber das ist vollkommen falsch. Der Tod ist etwas wundervolles, etwas unglaublich schönes." erzählte Sidney mit einfühlsamer Stimme. "Aber wenn ich tot bin, dann kann ich nicht mehr bei Mom und Dad sein, und bei dir." Kathy ließ sich nicht so leicht überzeugen. "Nein, du irrst dich. Wenn du tot bist, dann bist du überall, du kannst überall hingehen. Nach dem Tod wird alles viel besser. Du tauchst in eine Welt aus Licht ein. Dort gibt es Tausende wundervolle Blumenfelder, glitzernde Wasserfälle und schnee-weiße Wolken. Du wirst dann nie wieder Schmerz oder Kummer empfinden. Nur noch Liebe und Freude. Und vielleicht
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kannst du sogar unsere Großmutter wieder treffen." Sidney war scheinbar fest von ihren Vorstellungen überzeugt. "Glaubst du das wirklich?" zweifelte Kathy. "Woher weißt du das überhaupt alles?" "Ich habe viel darüber gelesen." antwortete Sidney. Ihre kleine Schwester stieß sich auf einmal von ihr ab und stand von der Couch auf. "Ich hoffe nur, du hast recht." sagte sie und verließ das Zimmer... Part 3 Jennifer Sloane gab ihrer Tochter Sidney und ihrem ältesten Sohn Correy einen Abschiedskuß, bevor sie mit ihrer jüngsten Tochter Kathy und ihrem Mann Cliff ins Auto einstieg. "Bis dann Kinder. Und paßt gut auf euch auf!" rief sie den beiden noch zu. Dann klappten alle Wagentüren zu und der Wagen fuhr davon. Kathy saß auf dem Rücksitz und winkte ihren Geschwistern mit einem traurigen Blick nach. Sie hatte Angst um die beiden. Sie ärgerte sich innerlich, daß ihre Eltern ihrer Geschwister so einfach allein daheim ließen. Obwohl sie doch wußten, wie gefährlich das war. Aber Sidney hatte mal wider das letzte Wort gehabt. Sie hatte keine Angst. Und außerdem hatte sie genauso wenig Lust, mit nach Benton zu Onkel Jack zu fahren. "Endlich sind sie weg!" sagte Correy erleichtert. "Erwartest du jemanden?" fragte Sid grinsend. "Nein..." schmunzelte er und ging ins Haus zurück. Sidney sah noch einmal dem Wagen hinterher und ging dann ebenfalls rein... Abends: Sidney schaute zum vierten Mal auf die Uhr. Es war jetzt fast zehn Uhr. Ihre Eltern hätten schon längst wieder da sein müssen. "Wo bleiben die bloß?" murmelte sie. Sie saß auf dem kleinen Sofa neben ihrem Zimmer und laß ein Buch mit dem Titel Field of the dead, der neuste Stephen King-Hit. Gerade hatte sie sich wieder in den dicken Wälzer vertieft, da ging Correys Zimmertür auf. Ein Schwall von lauter Musik und stinkendem Qualm begleitete ihren 18jährigen Bruder aus seinem Reich. "Rauchst du etwas wieder in deinem Zimmer?" mahnte sie ihn. "Mom und Dad haben es doch verboten." "Mom und Dad sind nicht da." erwiderte er nur und verschwand im Bad. "Aber wer weiß wie lange noch..." sagte sie, jedoch so leise, daß Correy es kaum noch gehört haben dürfte. Hustend wirbelte sie den Rauch aus ihrer Umgebung. "Dieser Gestank..." stöhnte sie und stand auf, um das Fenster zu öffnen. Erleichtert atmete sie auf, als der Qualm nach draußen wich. Ein leichtes Durstgefühl kam in ihr hoch, also entschied sie, nach unten zu gehen, um ein Glas Saft zu trinken. Ohne ein Gedanken zu verschwenden hüpfte sie die Treppe hinunter, das Fenster ließ sie jedoch offen... Part 4 Sidney stand im Lagerraum vor dem Kühlschrank und trank mit großen Schlucken aus einer Flasche Orangensaft. Nachdem sie fast die halbe Flasche geleert hatte, setzte sie schließlich ab und stellte den Saft zurück in den Kühlschrank. Dann ließ sie einen lautstarken Rülpser los und machte sich auf, den Raum wieder zu verlassen, um oben weiterzulesen. Doch plötzlich lenkte sie ein seltsames Geräusch ab. Sie drehte sich wieder um und sah zum Fenster des kleinen Lagerraums. Durch das geriffelte Glas konnte sie noch gerade erkennen, wie ein Fuß sich von der Scheibe abstieß und dann auf dem Dach verschwand. Ihre Augen weiteten sich. "Oh mein Gott, jemand versucht ins Haus einzudringen!" gab sie panisch von sich. Dann fiel ihr etwas noch viel beunruhigendes ein. "Das Fenster!" schrie sie auf. Mit einem Satz sprintete sie zur Treppe und hechtete hinauf. Sie hoffte, daß es noch nicht zu spät war, daß sie 7
das Fenster noch rechtzeitig schließen konnte. Doch als sie oben ankam und auf dem Fensterbrett einen Fanghaken sah, wußte sie, daß sie doch zu spät war. "Correy!" rief sie lauthals. Beinahe wäre sie in Panik ausgebrochen, da kam ihr Bruder aus dem Bad gestürzt. "Was ist?" wollte er wissen. Sein Gesicht verzog sich zu einer besorgten Miene, als er seine Schwester an der Treppe stehen sah, zitternd und blaß wie eine Leiche. "Jemand ist im Haus!" antwortete sie, fast flüsternd. Dabei zeigte sie auf den Fanghaken. Correy schüttelte den Kopf. "Oh man..." stöhnte er verzweifelt. "Okay, bleib' ganz ruhig, ja?" ordnete er an und kam auf seine Schwester zu. "Du gehst jetzt runter und rufst die Polizei, klar? Ich werde jetzt den Baseballschläger aus meinem Zimmer holen." erklärte er und ließ sie allein stehen. "Laß mich nicht allein!" flehte sie. Dann faßte sie sich wieder und tat, wie ihr geheißen. Als sie wieder unten war, schnappte sie sich das Telefon und wählte den Notruf 911. Doch da war kein Freizeichen in der Leitung. Die Leitung war tot! "Scheiße!" fluchte sie und ging zurück nach oben. Doch wo war ihr Bruder? Vorsichtig ging sie durch das dunkle Studio zum Zimmer ihres Bruders. Doch noch bevor sie den Türknauf erreichen konnte, schnellte eine lange scharfe Klinge an ihr vorbei und schnitt ihr direkt in den Unterarm. "Au!!!" schrie sie auf und faßte sich an die Wunde. Schockiert sah sie sich in der Dunkelheit um. Und als sie das Gesicht eines Totenschädels nicht weit entfernt von ihr erkannte, verwandelte sich ihr Schrei in ein schrilles Kreischen. Der Tod!!!, dachte sie bei diesem grausigen Anblick. Und als der Schädel ihr auch noch näher kam, überkam es sie wie ein Regenschauer. Zu Tode geängstigt stürzte sie in die entgegengesetzte Richtung und kam schließlich in ihrem Zimmer an. Als sie sich umdrehte, sah sie die ganze Gestalt, die zu dem Totenkopf gehörte: ein großer dunkler Umhang, der scheinbar wie von Geisterhand über den Boden schwebte. Als sie genauer hin sah, konnte sie auch die Waffe sehen, die sie verletzt hatte: eine große Sense, an deren Schneide sie sogar ihr eigenes Blut erkennen konnte. Nach einem Fluchtweg suchend hetzte sie weiter. Die Balkontür!, dachte sie und riß die große Glastür auf. Mit einem heftigen Ruck kam sie an der Brüstung des kleinen Balkons zum Stehen und blickte hinunter. Nein, sie konnte nicht springen. Sie würde sich nur etwas brechen und könnte dann nicht weiter flüchten. Als sie sich erneut umdrehte, konnte sie sehen, daß der Tod schon an ihrer Zimmertür war. Sie stieß einen lauten Schrei aus. "Hilfe!!!" rief sie durch die Nachbarschaft. Da kam ihr wieder die Rede ihrer kleinen Schwester in den Sinn: Alle waren weggezogen! Jetzt blieb ihr nur noch eine Möglichkeit: Sie schnappte sich den Liegestuhl und schleuderte ihn durch die zweite gläserne Balkontür, die zu Kathys Zimmer führte. Die Gestalt trat gerade auf den Balkon, als Sid durch die zersplitterte Scheibe sprang und in Kathys Zimmer verschwand. Doch dort blieb sie nicht lange, denn sie lief sofort durch die Zimmertür zurück ins Studio. Dort knallte sie die Tür hinter sich zu und verschloß sie. Sie verschwendete keinen Augenblick und lief zu ihrer Zimmertür und verschloß sie ebenfalls. Kaum hatte sie den Schlüssel umgedreht, fiel ihr ein Stein vom Herzen. Erleichtert ließ sie sich gegen die Tür fallen. Sie hatte den Tod ausgesperrt, dachte sie. Denn sie konnte ja nicht sehen, daß der Schädelkopf in diesem Moment im Badezimmer verschwand... Part 5 Mit geschlossenen Augen lehnte Sidney an ihrer Zimmertür und atmete tief durch. Ihr Herz pochte so stark, daß sie ihren Puls in jedem einzelnen Körperteil spüren konnte. Schließlich besann sie sich und öffnete die Augen. Sie verspürte wieder den Schmerz in ihrem Unterarm, den sie auf dieser Hetzjagd vollkommen vergessen hatte. Sie winkelte den Ellenbogen an und betrachtete die klaffende Wunde. Sieben Zentimeter lang muß der Schnitt gewesen sein, schätzte sie. Das Blut quoll noch immer aus der offenen Stelle hervor und verteilte sich über ihren ganzen Arm, über ihre Kleidung, und tropfte dann schließlich auf den Boden. Langsam 8
war ihr der Anblick genug, und als sie wegsah, fiel ihr wieder ein, daß ihr Bruder gar nicht aufgetaucht war. "Correy!" rief sie wieder. Ihre Stimme zitterte noch immer. Auf wackeligen Beinen ging sie wieder zur Zimmertür ihres Bruders. Als sie die Hand zum Knauf ausstreckte zuckte sie kurz zusammen, als sie die Blutspritzer an der Wand sah. Doch dann überwand sie sich und ging in das Zimmer. Innen war es dunkel, so wie im ganzen Haus. Vorsichtig sah sie sich um, von ihrem Bruder war jedoch keine Spur. "Correy? Wo bist du?" fragte sie. Keine Antwort. Plötzlich hörte sie ein Rascheln. Es kam aus dem Kleiderschrank. Hatte er sich dort versteckt? Mit leisen Schritten ging sie rüber zum Schrank und klappte beide Türen auf. "Correy..." sagte sie, als ihr Bruder ihr entgegen fiel. Erleichtert nahm sie ihr in die Arme. "Correy, ich hab schon gedacht..." begann sie. Doch dann konnte sie das Gewicht ihres großen Bruders nicht mehr halten. Mit einem Stöhnen fiel sie nach hinten weg und landete auf dem Bett. Und als Correy schlaff auf ihr liegen blieb, fing sie langsam an, sich Sorgen zu machen. Sie spürte plötzlich eine warme klebrige Flüssigkeit an ihrem Hals. Behutsam schob sie ihn von sich, so daß er auf den Rücken rollte. Mit einer bösen Ahnung richtete sie sich auf. Und dann erkannte sie, daß ihre Brust voller Blut war, und als sie ihren reglosen Bruder betrachtete, erblickte sie eine riesige Wunde an seinem Hals, aus der das Blut aus Strömen hervorkam. Mit einem entsetzten Schrei krümmte sie sich zusammen und fiel auf die Knie. Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihr Gesicht färbte sich rot. Hin und her gerissen von Schmerz und Entsetzen hielt sie ihre Hände vor ihr Gesicht und vergoß noch mehr bitterliche Tränen. Was war nur für ein Unheil über sie gekommen? ... Der Tod war in ihr Leben gedrungen! Part 6 Mit errötetem Gesicht und aufgequollenen Augen kam Sidney die Treppe des dunklen Hauses hinunter. Den Tod hatte sie längst vergessen, ihre Gedanken schwirrten jetzt in irgend einem Alptraum. An ihren toten Bruder dachte sie jetzt auch nicht mehr, sie wollte nur noch weg hier, weit weg. Die Tränen aus dem Gesicht wischend ging sie auf den Flur zur Ausgangstür. Als sie sie öffnen wollte, fiel ihr wieder ein, daß sie die Tür ja verschlossen hatte. Also fing sie an, den Schlüssel am Schlüsselbrett zu suchen. Doch während sie mit den vielen Schlüsseln klapperte, ertönte plötzlich ein dumpfes Stampfen. Abgelenkt hielt sie inne. Und als sie sich umdrehte, erkannte sie durch die offene Flurtür, wie die dunkle Gestalt die Treppe hinunter kam. Panisch hielt sie sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Dann nahm sie beide Beine in die Hand und rannte durch den Lagerraum in das Wohnzimmer. Dort eilte sie zum Erker und öffnete die Terrassentür. Zu ihrer Beunruhigung mußte sie feststellen, daß die Rolläden herunter gelassen waren. Schnell ergriff sie den Riemen, um sie hochzuziehen, doch der war durchgeschnitten. Verängstigt drehte sie sich um. Das Zimmer war leer. Das war ihre Chance! Leise ging sie zu Boden und versuchte die Rolläden per Hand hoch zu drücken. Mit aller Kraft rüttelte sie an den Plastikgriffen, doch nichts bewegte sich. Langsam wurde Sid wieder unruhig. Sie rüttelte und drückte und zog noch kräftiger, doch die Lade schien zu klemmen. Nach einer Weile gab der Plastikgriff endlich nach und die Lade öffnete sich mit einem Ruck. Jedoch nur ein kleines Stückchen, so daß sie gerade mal ihren Arm hindurch stecken konnte. Sie durfte nicht aufgeben! Verzweifelt fing sie wieder an, an dem Griff zu rütteln. Doch plötzlich hörte sie abrupt auf. Etwas war auf ihren Arm getropft. Ohne eine Regung lag sie auf dem Boden und starrte auf den dunklen Fleck auf ihrer nackten Haut. Wegen der Dunkelheit konnte sie die Farbe des Fleckes nicht erkennen, aber sie wußte, daß es Blut war. Ihr Herz fing wieder an zu pochen. Der Atem blieb ihr aus. Vorsichtig ließ sie ihren Blick nach oben lenken. Direkt über ihr, konnte sie die lange silberne Klinge der Sense sehen, von deren Spitze das Blut tropfte. Und als sie noch weiter nach oben sah, erkannte sie das schreckliche Antlitz der dunklen Gestalt, den Totenkopf. Die Blicke, die aus den leeren 9
Augenhöhlen des Schädeln kamen, durchdrangen sie förmlich. Plötzlich erhob die der Tod seine Sense. Sid bekam einen solchen Schreck, daß sie sich mit aller Gewalt durch die Öffnung der Rollade quetschte. Doch ihr Kopf paßte einfach nicht durch. Sie schaffte es nur, ihre Arme und ihr Gesicht durch den Spalt zu drücken. Dann war es für ein paar Sekunden ruhig. Vollkommene Stille. Sidney konnte zum letzten mal die Blumenkästen auf der Terrasse des Hauses sehen. Dann spürte sie auf einmal, wie der Tod mit seiner Sense zum ersten Mal auf sie einhackte. Ihre Arme, die sie die ganze Zeit krampfhaft ausgestreckt hatte, erschlafften und ihre verängstigte Miene entspannte sich. Ihre Augen waren noch immer offen, doch ihre Blicke waren leer und starr. Im Innern des Hauses stand der Tod über dem Körper des jungen Mädchens. Und obwohl Sidney Sloane längst tot war, hackte er weiter mit seiner langen Sense auf ihren blutigen Körper ein... Part 7 Das Tageslicht gab dem kleinen Oakland seine Unschuld wieder. Aber nur scheinbar, denn im Haus der Sloanes waren die Spuren des Terrors noch immer sichtbar. Das Anwesen der Familie wimmelte gerade nur so vor Polizisten und FBI Agenten. Der leitende Ermittler Officer Grand und die FBI Spezialistin Agent Walker standen vor der Terrassentür des hübschen Einfamilienhauses. Zu ihren Füßen lag der blutige Leichnam eines 16jährigen Mädchens, abgedeckt mit einem Leichentuch. "Die Eltern haben das Mädchen heute morgen gefunden. Sie sind gerade aus Benton zurückgekehrt. Sie waren dort mit ihrer jüngsten Tochter Kathy bei Verwandten. Eigentlich wollten sie schon gestern abend wiederkommen. Als sie versucht haben, ihren Kindern telefonisch mitzuteilen, daß sie ihre Pläne geändert haben, war die Leitung unterbrochen. Wir haben herausgefunden, daß das Kabel gekappt wurde." erklärte Grand der FBI Agentin. "Es war unverantwortlich von den Eltern!" meinte sie. Grand nickte. "Das hilft den beiden jetzt auch nicht mehr. Mrs. Sloane hatte einen Nervenzusammenbruch, sie liegt im Krankenhaus. Das Kind wird vermutlich einen bleibenden Schaden zurückbehalten." sagte der Officer. "Ich will noch mal die Leiche des Jungen sehen, dann können sie die Körper von mir aus in Leichensäcke packen und ins Labor schicken." ordnete sie Agentin an. "Wird gemacht." erwiderte Grand. Walker ging davon und ließ den Polizisten allein. Der kniete neben dem Mädchen nieder, hob das weiße Tuch an und legte den Kopf und die Schulter frei. Nachdenklich betrachtete er sie. Ein hübsches junges Ding, dachte er. Dann drehte er den Arm des Körpers um, so daß die Handfläche zum Vorschein kam. Vorsichtig öffnete er die Faust, ein Finger nach dem anderen. Seine Augen weiteten sich, als eine kleine weiße Blume auf der Handfläche fand... Mrs. Sloane stand mit zitternden Händen und tränenden Augen vor dem Sarg ihrer Tochter. Sie konnte es immer noch nicht begreifen. Sie konnte es sich einfach nicht vorstellen, daß ihre geliebten Kinder tot war. Sie wollte es nicht. Plötzlich spürte sie eine warme Hand an ihrem Arm. Als sie sich umdrehte, sah sie ihre kleine Tochter Kathy. Auch in ihren Augen standen Tränen. "Mom, du mußt dich nicht um Sidney und Correy sorgen. Sie sind jetzt an einem schönen und friedlichen Ort, wo es ganz viele Blumenfelder gibt und wo nur die Sonne scheint." erzählte Kathy. "Sie werden immer bei uns sein... Bis in alle Ewigkeit." Auf einmal kam Sidney wieder zu Bewußtsein. Sie konnte wieder klar denken, sich erinnern. Sofort kamen ihr die Bilder ihrer letzten Nacht wieder ins Gedächtnis. Die Bilder des Todes. Sie versuchte ihre Augen zu öffnen, um das Tageslicht wiederzusehen. Doch irgendwie gelang es ihr nicht. Ihre Augenlieder blieben verschlossen, so als hätte sie keine Macht mehr darüber. Sie versuchte ihren Körper zu bewegen, ihre Arme, ihre Beine. Aber es ging nicht, sie konnte 10
ihren ganzen Körper nicht mehr spüren. Was war nur passiert? War sie jetzt ein Engel? Ein Geist? Wo waren die Blumenfelder? Wo waren die Wasserfälle? Wo war das helle Licht? Wo waren die anderen? Da war nichts, nur schwarze Finsternis und Stille. Sidney konnte ihren Atem nicht hören, und ihr Herz schien nicht zu schlagen. Sie versucht zu sprechen. Aber da war keine Stimmbänder, die einen Laut erzeugten, keine Zunge, die ein Wort formte. Sie war stumm. Nur ihre geistige Stimme war zu hören. Aber das waren doch nur Gedanken. Wo ist das Tageslicht?!? Wo ist meine Familie? Was ist mit dem Leben nach dem Tod? Sidney war verzweifelt. Sollte das ihr Ende sein? Angst erfüllte sie. Sie versuchte zu schreien, doch das war unmöglich. Sie konnte nur ihre geistige Stimme schreien lassen. Ahhhhhhhhhhhhhhhh...!!! Plötzlich versagte auch diese Stimme. Ihre Gedanken verzerrten sich, ihr Bewußtsein schien sich aufzulösen. Und dann war da nichts mehr... nur Finsternis.
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Ein paar Wochen im Frühling von Andrea Tillmanns
Es ist nur eine Hautkrankheit. Nichts weswegen man sich große Sorgen machen müßte, aber auch kein Grund für Glücksgefühle. Jedenfalls schien es am Anfang so...
„Ach, Peter, was ich dich noch fragen wollte: Kennst du vielleicht einen guten Hautarzt? Möglichst in der Nähe, mein Roller springt immer noch nicht an.„ Na klar. Alle anderen unterhielten sich köstlich, rissen Witze über diverse Profs und lästerten über die wenigen Auserwählten, die die letzte Theorieklausur tatsächlich geschafft hatten. Und Monika fragte mich nach einem Hautarzt. Typisch. „Was hast du denn nun schon wieder?„ fragte ich belustigt nach – der Wein hatte wohl schon zu wirken begonnen, normalerweise war ich nämlich nicht so gehässig. Aber Moni hatte schon immer zu den Leuten gehört, die gerade diejenigen Krankheiten geradezu anzuziehen schienen, von denen die meisten Menschen noch nie etwas gehört hatten. Andererseits, obwohl sie sich immer gerne und ausführlich über ihre Wehwehchen zu unterhalten pflegte, arrangierte sie sich erstaunlich schnell mit jedem neuen Übel, das sie befiel, weshalb wohl die meisten von uns sie als Hypochonderin betrachteten. Was, zugegeben, keine gute Entschuldigung dafür ist, sie damals nicht ernst genommen zu haben. Obwohl es wohl auch keinen Unterschied gemacht hätte. Sie hielt mir ihre Hände hin, und als ich sie ins Licht zog, sah ich sofort die kleinen Wasserbläschen, die sich in den Fingerzwischenräumen vereinzelt niedergelassen hatten. „Fing gestern abend an„, sagte sie, „da war’s nur ein einziges von diesen Mistdingern. Und jetzt schon so viele – faß sie lieber nicht an, solange ich nicht weiß, ob das ansteckend ist.„ Ziemlich ruhig war sie, schien ja auch nichts Schlimmes zu sein. Ich hatte schon mehr als nur eine Hautkrankheit am eigenen Leibe testen dürfen, und diese Bläschen sahen zwar so aus, als könnten sie einen ziemlichen Juckreiz verursachen, waren aber nicht rot oder entzündet, so daß ich mir keine Sorgen machte und sie beruhigte: „Wird schon nichts Besonderes sein. Irgendeine Allergie vielleicht? Du bist doch gegen alles und jedes allergisch. Schon mal überlegt, was du gestern so gegessen und angefaßt hast?„ „Nichts, was ich sonst nicht auch essen oder berühren würde. Aber du wirst schon recht haben, ist sicher bald wieder weg.„ Eine leichte Unsicherheit blieb in ihrer Stimme, und doch war sie wie immer recht gelassen, in der Gewißheit, auch diesen neuen Streich ihres Körpers unbeschadet zu überstehen, wie schon viele zuvor. Es dauerte ein paar Tage, bis ich Monika wiedersah. „Und, was hat der Doc gesagt?„ begrüßte ich sie. Und fügte, aus dem unerklärlichen Bedürfnis heraus, einen dummen Witz zu reißen, hinzu: „Wie lange gibt er dir noch?„ „Laß den Quatsch„, grinste sie. Also erwartungsgemäß nichts Schlimmes. Zur Entschuldigung – und vielleicht auch einfach nur, weil ich sie irgendwie ganz gern mochte – lud ich sie zu einem Eis ein. Sie trug Handschuhe, wie ich erst jetzt bemerkte, als sie nach dem kleinen Löffel griff. „So schlimm kann’s doch nicht sein„, ermunterte ich sie, „zieh sie doch aus.„ „Lieber nicht„, entgegnete sie entschieden, „solange ich nichts Genaues weiß. Der Doc hat einen Abstrich gemacht, wollte noch schauen, ob’s nicht vielleicht doch ein Pilz ist. Er meinte zwar, solange ich nur auf den Händen Bläschen hätte, könne es schon nichts Schlimmes sein, aber trotzdem...„ „Sind es denn mehr geworden?„ fragte ich neugierig. „Ach, frag’ nicht„, seufzte sie. „Die Fingerzwischenräume sind inzwischen fast vollständig bedeckt, und von diesem Gerbsäurezeugs, in dem ich täglich meine Hände baden darf, haben 12
sich die ganzen Fingerspitzen gepellt; selbst an anderen Stellen beginnt die Haut schon einzureißen.„ Ich schwieg einen Moment lang, weil mir keine aufmunternden Worte einfielen, und rettete mich dann in einen Witz: „Du weißt doch, worin du deine Hände baden solltest, wenn du keine Spülhände haben willst...„ „Heiß’ ich Tilli?„ entgegnete sie brüsk, um dann wieder ruhiger fortzufahren: „Schon gut, vergiß es. Die ganze Sache ist nur so lästig, weißt du – außerdem will ich endlich wissen, ob ich nicht vielleicht schon andere Leute angesteckt habe. Morgen werde ich es ja erfahren, dann geht’s mir auch sofort wieder besser, versprochen!„ Dabei hatte doch ich sie beleidigt. Aber wenn sie meinte, sich entschuldigen zu müssen... Auf alle Fälle schien sie mir nicht böse zu sein, und das war schließlich die Hauptsache. Es war ein Freitag, als ich sie in der Uni wiedersah. Sie hatte keinen Helm dabei, ihr Roller schien also immer noch nicht fahren zu wollen. Entsprechend genervt wirkte sie – kein Wunder nach der langen Parkplatzsuche, die vorausgegangen sein mußte. „Hallo, Monika!„ lächelte ich sie unangemessen freudestrahlend an. „Oh, hi, Peter„, entgegnete sie müde. „Sorry, aber ich hab’ ein wenig schlecht geschlafen. Und eben mal wieder stundenlang...„ An meinem Grinsen sah sie, daß ich das Problem kannte, und brach mitten im Satz ab, jetzt auch zumindest mit einem leichtem Lächeln. „Was machen die Finger?„ fragte ich endlich, nachdem ich gesehen hatte, daß sie diesmal keine Handschuhe trug. „Och, denen geht’s ganz gut„, antwortete sie ausweichend, „ist zumindest nicht ansteckend, hat der Doc gesagt„, um dann mit unvermuteter Begeisterung fortzufahren: „Das hättest du sehen sollen, ich war anfangs eine ganze Zeitlang allein in dem Behandlungszimmer, und da standen Dutzende von diesen Schälchen mit Abstrichen, dahinter Photos von allen möglichen Pilzsorten – du glaubst ja gar nicht, was es da alles gibt! Wenn ich mir vorstelle, ich hätte auch so ein merkwürdiges Wesen unter der Haut sitzen... Richtig unheimlich, meinst du nicht? Ich war wirklich froh, als der Arzt endlich mein eigenes Schälchen mitbrachte und darin überhaupt nichts zu sehen war.„ „Und was ist es dann, wenn es kein Pilz sein kann?„ fragte ich neugierig nach. „Irgend so eine vegetative Störung des Lymphsystems, meinte der Doc. Jetzt müsse er nur noch herausfinden, warum mein Lymphsystem plötzlich durchdreht. Aber da es ja nichts Schlimmes ist, wird es wohl bald verschwinden; ich habe jetzt eine noch stärkere Tinktur bekommen, die auch die letzten Hautfetzen von meinen Fingern pellt„, sie seufzte leise, auch wenn sie insgesamt sehr zufrieden schien – wohl eher Eitelkeit als Angst. „Na dann geht’s ja„, atmete ich auf. „Laß mich doch mal sehen – schimmern die Knochen schon durch?„ Wie auch beim letzten Versuch schaffte es gerade dieser dumme Spruch, ihren Widerstand sichtbar aufzulösen, und grinsend hielt sie mir ihre Hände hin, wenn auch nicht ohne ein kurzes Zögern. Als ich ihre Finger sah, begriff ich ihre Zurückhaltung schnell. Hätte ich nicht gewußt, daß ich mich nicht anstecken konnte, wäre ich wahrscheinlich zurückgeschreckt vor den unzähligen Wasserblasen, die ihre rissigen und spröden Hände bedeckten. Wahrhaftig kein schöner Anblick. Zum Glück verstand Monika meinen Blick falsch. „Ist nicht so schlimm„, sagte sie rasch mit einem aufmunternden Lächeln, „an das Jucken kann man sich gewöhnen. Außerdem wird dieser ganze Spuk ja bald vorbei sein.„ Es dauerte fast eine Woche, ehe ich ihr wieder begegnete. In der Studentenkneipe war es recht dunkel, so daß ich ihre Hände nicht genau sehen konnte, auch wenn mein Blick unwillkürlich sofort zu diesen glitt.
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„Hi Moni!„ brüllte ich ihr zu, um die Musik zu übertönen. Sie lächelte mir zu, irgendwie leicht abwesend, wahrscheinlich war sie gerade in eine Unterhaltung mit einem der jungen Männer vertieft gewesen, die sie umringten. Aus einem unerklärlichen Gefühl heraus stellte ich mich zu der Gruppe, stand einfach nur und hörte zu, ohne zu begreifen, warum ich mich plötzlich so glücklich fühlte. Es mußte an Monis Gegenwart liegen, irgendwie schien sie mich anzuziehen, ebenso wie die anderen Jungen, die ihr zuhörten oder sie auf verschiedene Arten zu beeindrucken versuchten. Für einen Moment kam es mir merkwürdig vor, daß gerade sie, die eigentlich gar nicht besonders attraktiv war, nun plötzlich von so vielen Männern umgeben war, aber darüber dachte ich nicht besonders lange nach, jedenfalls nicht, solange ich so in ihrem unerklärlichen Bann stand. Warum nur war mir vorher nie aufgefallen, wie sehr ich sie mochte, nein, mehr noch, begehrte? Mit der Zeit jedoch ließ dieser Bann nach, ich sah es in den Augen der anderen, auch in Monikas, wie sie scheinbar aus einem Traum erwachten, sich noch ein wenig wehrten, ihn festzuhalten schienen, bevor sie sich unter vagen Entschuldigen in alle Richtungen zerstreuten. Nur Moni blieb stehen, und natürlich ich, die ich sie ebenso verwundert ansah wie sie mich. „Woher hattest du die ganzen Verehrer?„ fragte ich endlich mit einem schlecht gespielten Grinsen. „Keine Ahnung„, entgegnete sie lächelnd, als hielte sie den Traum noch an einem letzten Zipfel fest. „Die haben sich irgendwie alle hier gesammelt, obwohl ich die meisten gar nicht kannte. Waren wahrscheinlich alle schon betrunken. Und, wie geht es dir so?„ Irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, daß sie wesentlich mehr wußte oder zumindest ahnte, als sie mir zu sagen bereit war. Dennoch ließ ich mich fast erleichtert auf ihre Ablenkung ein: „Wie immer, ganz gut. Und was machst du so? Läuft dein Roller endlich wieder?„ „Nö, noch immer nicht. Ich muß mir einfach mal einen ganzen Tag Zeit nehmen, um ihn komplett auseinanderzunehmen, dann finde ich bestimmt auch den Fehler. Vielleicht hättest du ja auch mal ein paar Minuten dafür übrig – es wäre sicher wesentlich einfacher, wenn du zum Beispiel einfach die Prüfspitzen übernehmen und das Meßgerät ablesen würdest, während ich den Rest festhalte. Ist eben ziemlich blöd, an so einem Roller zu arbeiten – irgendeinen entscheidenden Teil der Verkleidung kann man grundsätzlich nicht ganz abmontieren...„ Sie verstummte im gleichen Moment, als ich es auch spürte. Und dann kam die Welle, die mich einfach umwarf, bildlich gesprochen natürlich, ich starrte sie einfach nur an und liebte sie, oh, wie ich sie liebte, mehr als je eine andere, heftiger als jemals für möglich gehalten. Und sie – auch ihre Augen versanken in dem wiedergekehrten Traum und dennoch nicht in den meinen, was mich in diesem Moment nicht einmal verwunderte, und um uns herum drängten sich die anderen, Insekten, die unwiderstehlich von der Farbe einer Blüte angezogen wurden, und mittendrin ich und sie, ja, nur sie, Licht unter schwärmenden Motten. Ich wußte nicht, wie lange es dauerte, bis ich sie nicht mehr verklärt anstarrte, bis ihre Augen endlich auch wieder mich sahen und die anderen sich schnell, ein wenig irritiert und fast verlegen, in den Gängen und Räumen verloren. Erstaunlicherweise schien sie mir nicht einmal mehr besonders anziehend, fast hätte ich sie zu hassen gewünscht für das, was sie irgendwie mit mir gemacht hatte, wären da nicht die Reste dieser unerklärlichen Leidenschaft gewesen, die noch immer durch meine Adern pulsierten. Und doch, obwohl ich den unergründlichen Ausdruck ihrer Augen in den vorangegangenen Minuten, die lang wie Stunden waren, noch immer als pure Verzückung deutete, so war mir doch im gleichen Augenblick klar, daß diese Gefühle nicht mir galten. Schließlich ließ ich sie allein zurück, zu beängstigend war mir dieser völlige Verlust jeglicher Kontrolle erschienen, als daß ich ihm noch einmal ausgesetzt sein wollte. Und ohne zu wissen, wissen zu können, ob sie dafür
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verantwortlich war, befahl mir mein Instinkt doch den sofortigen Aufbruch, und blindlings befolgte ich diese Anweisung. Man sieht stets, was man sehen will. Mein Blick war seit jenem Abend geschärft für unerklärliche Menschenansammlungen, für in verzückenden Fernen verlorene Augen, für – ja, auch für unscheinbare Frauen, die von schönen Männern begleitet wurden. Und gleichzeitig schämte ich mich, Monika nicht zu gönnen, was manch andere Frau schon immer hatte und wohl auch nie verlieren würde, diese unerklärliche Ausstrahlung, die auf mehr als bloßer Schönheit beruhte und an der kein Mann vorübergehen konnte. Dennoch bemerkte ich gewisse Veränderungen, ohne sie genau beschreiben zu können. Dinge passierten, die nur mir aufzufallen schienen. Mit der Zeit wuchs in mir das Verlangen, sie wiederzusehen, bis ich mich endlich entschloß, sie zu besuchen. Sie öffnete mir in dichten, weißen Handschuhen, doch noch zuvor stieg mir der schwere Moschusduft in die Nase, der sie wie in eine Wolke hüllte. Das unerwartete, viel zu übermäßig aufgetragene Parfum zwang mich zum Husten, bevor ich mich beherrschen konnte. „Puh, du hast’s aber gut gemeint„, keuchte ich, als ich mich wieder halbwegs unter Kontrolle hatte – sie würde es mir nicht verübeln, dazu waren wir schon zu lange befreundet. Sie zwang ein Grinsen auf ihr blasses Gesicht, als sie mich hereinbat. „Es ist nur so eine fixe Idee„, erklärte sie, „wenn du es aushalten kannst, komm herein und erzähl’ mir etwas, ich war in letzter Zeit nicht so oft draußen.„ „Ich dachte, es sei nicht ansteckend„, fragte ich verwundert nach einem zweiten Blick auf ihre Hände. „Nein nein, ist es auch nicht„, erwiderte sie sofort. „Sagt zumindest der Doc. Aber irgendwie...„ Sie mußte nicht weitersprechen. Auch sie konnte sich wohl nicht des merkwürdigen Gefühles erwehren, das mich bei dem Gedanken an den gemeinsamen Abend in der Studentenkneipe sofort wieder beschlich. Dennoch konnte ich nicht umhin, meinen Verstand wieder einzuschalten und nachzuhorchen: „Aber es ist doch ganz eindeutig kein Pilz, oder?„ „Nein, das sicher nicht„, entgegnete sie. „Aber...„ Sie schien mir etwas sagen zu wollen, was sie selber für zu unglaubwürdig hielt, als daß ich es nicht als bloße Spinnerei abtun würde, und so versuchte ich sie zu ermuntern: „Laß mich raten, dir wachsen kleine Aliens aus den Fingern, die nur darauf aus sind, die Weltherrschaft zu erringen, oder?„ Merkwürdig, wie sie mich ansah, bevor sie schließlich lächelnd antwortete: „Den Unsinn glaubst du doch wohl selber nicht! Nein, jetzt im Ernst... da sind so kleine, braune Pünktchen in den einzelnen Bläschen, und der Doc meinte, so genau wisse er auch nicht, was das sein könne... sicher nichts Schlimmes, und doch...„ „Laß mich mal sehen„, sagte ich so sicher, als wisse ich genau, was ich tue. Wir setzten uns in ihre Küche, und bedächtig, vorsichtig entledigte sie sich eines Handschuhs. „Sieht übel aus„, sagte sie schließlich, während ich nur auf ihre Hand starrte, „deswegen versuche ich schließlich auch, sie zu bedecken. Muß ja nun wirklich nicht jeder sehen.„ „Ähm – tut das nicht weh?„ versuchte ich mich herauszureden. „Nein, das nicht. Ich muß nur aufpassen, daß ich nicht im Schlaf oder auch tagsüber, weil es einfach zu sehr juckt, die Bläschen aufkratze.„ „Aber wenn es nicht ansteckend ist, dann darfst du doch ruhig...„ wandte ich ein. „Nein!„ entgegnete sie so entschieden, daß ich erstaunt aufsah. „Lieber nicht„, fügte sie versöhnlicher hinzu, „davon bekomme ich garantiert nur Narben, und das muß ja nun wirklich nicht sein.„
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Wir redeten noch ein wenig über die Uni und ihren Roller, wobei ich ihr auch versprach, am Anfang der nächsten Woche vorbeizukommen und ihr bei der Reparatur ihres Zweirades zu helfen, bevor wir uns verabschiedeten. „Blöder Plastikhaufen!„ murrte Monika gar nicht damenhaft. Beide waren wir bis zu den Ellenbogen mit Öl und Dreck verschmiert, und dieser Roller war offensichtlich noch immer nicht gewillt, uns zu verraten, wo sich ein Defekt befinden könnte. Wichtige Kabel verschwanden auf mysteriöse Weise hinter Verkleidungen oder unter dem Motorblock, schienen plötzlich ihre Farbe zu verändern, und die Bezeichnungen in dem immerhin vorhandenen Schaltplan warfen mehr Rätsel auf, als sie lösten. Mit anderen Worten: Um die Funktion verschiedener Bauteile zu erkennen, mußten sie zunächst ausgebaut oder geöffnet werden. „Du hast’s erfaßt!„ stimmte ich ihr zu und versetzte dem abgenommenen Koffer samt noch angeschraubtem Gepäckträger einen Tritt. „Was ist denn das da...„ murmelte sie, während sie mir keinerlei Beachtung schenkte und sich statt dessen tief in das Innenleben des Rollers versenkte. „Schau mal nach, was dieses Kabel... au, verdammt!„ „Was ist, hast du dir wehgetan?„ fragte ich sofort besorgt, wie es wohl von einem Mann erwartet wird. „Schon gut, es ist nur...„ Wir schwiegen und standen unbewegt, während der ach so köstliche Traum wiederkehrte, unbegreifliche Gefühle, stärker als alle je gekannten, keine Gegenwehr möglich, oh, wie ich liebte, wie hatte ich es nur vergessen können, und da stand sie, die Erfüllung all meiner Wünsche, durch ihr bloßes Dasein, kein Gedanke an Berührung, nur keine Sekunde verlieren, jeden Augenblick auskosten... Wer kann schon sagen, wie lang es dauerte, bis wir endlich wieder zu uns kamen, vielleicht durch ein Geräusch, eine aus den Augenwinkeln wahrgenommene Bewegung, den auffrischenden Wind – was es auch war, es genügte, um uns beiden die Unmöglichkeit dieser Situation ins Bewußtsein zu rufen. „Du, sag mal...„, begann ich zögernd, „hast du das... auch gemerkt?„ Sie nickte leicht, ohne mich anzusehen, doch die Röte ihres Gesichtes konnte ich selbst von ihren Ohren ablesen. „Das ist es ja, warum ich...„ Sie verstummte wieder. „Hat das irgend was zu tun mit...„ Auch ich sprach es nicht aus, da ich es selber für zu unglaublich hielt. „Ja, es passiert immer, wenn so ein Bläschen auf... – aber das kann doch nicht sein! Der Arzt hat doch auch nichts bemerkt!„ Wir bauten den Roller, soweit nötig, eilig zusammen, ohne viel miteinander zu reden, bevor wir uns in ihrer Wohnung in diverse Lexika vertieften. „Hier„, sagte Monika endlich, „Pheromone – Sexuallockstoffe.„ „Gibt’s die nicht nur bei Tieren?„ fragte ich erstaunt nach. „Das sagt auch der Text hier. Aber wenn es das nicht sein kann – was ist es dann? Was passiert dann mit uns?„ Ihre Stimme zitterte. „Gib mal her.„ Ich nahm ihr das aufgeschlagene Lexikon aus der Hand. „Siehst du„, sagte ich endlich, „hier steht es: Ektohormone, die das Verhalten anderer Individuen der gleichen Art beeinflussen. Hast du gehört? Was auch immer es ist, es kann nur von deinem eigenen Körper produziert worden sein, ansonsten würden wir gar nichts davon merken.„ Sie war sehr blaß, als sie sich endlich zu einem befreienden Scherz aufraffte: „Also können keine kleinen Tierchen in den Bläschen leben, die unbedingt hinauswollen und mich durch diese Duftstoffe nur dazu bringen wollen, mir die ganzen Finger aufzukratzen?„ Fast klang es, als wolle sie mich ihre Worte bestreiten hören, um glauben zu können, daß sie sich umsonst sorgte. 16
„Was hätten sie denn davon?„ fragte ich möglichst fröhlich zurück. „Wenn diese kleinen braunen Pünktchen, die du entdeckt hast, wirklich irgend eine Art von Lebewesen darstellen würden, warum sollten sie denn dann danach trachten, deinen Körper zu verlassen? Von Parasiten, die alles versuchen, von ihrem Wirt wegzukommen, habe ich noch nie gehört. Du etwa? Wo sollten sie denn sonst leben?„ Monika lächelte zaghaft, offensichtlich dankbar für meine Vernunft, die keinen Platz für solch unlogische Gedankenspiele ließ. Dennoch, obwohl ich es ihr gegenüber nie zugegeben hätte, wurde mir bei dem Gedanken an die unerklärlichen Gefühle, die mich noch vor kurzer Zeit so unerwartet zum zweiten Mal überfallen hatten, ein wenig mulmig. Andererseits konnte ich nicht wirklich annehmen, daß die ganzen kleinen Wasserblasen, die ihre Hände bedeckten, mit diesen Pheromonen gefüllt sein sollten. Und selbst wenn Moni an einer extrem seltenen Krankheit leiden sollten, ihr Arzt hatte schließlich festgestellt, daß die Bläschen nicht ansteckend waren. Für einen Moment fiel mir auf, daß der Abstrich, den sie erwähnt hatte, sicherlich gemacht worden war, bevor eine der Blasen hatte aufplatzen können, aber darüber dachte ich nicht mehr nach, als wir uns zum zweiten Male an diesem Tage ihrem Roller widmeten. Es dauerte fast eine Woche, ehe ich mich überwand, sie zumindest anzurufen. Ein merkwürdiges Gefühl hielt mich davon ab, sie persönlich zu besuchen – mochte es durch die Tatsache hervorgerufen worden sein, daß meine Hände an einigen Stellen zu kribbeln begonnen hatten und sich erste kleine Bläschen zeigten, oder weshalb auch immer, ich konnte mich einfach nicht zwingen, ihr gegenüber zu stehen; zu groß war wohl die Angst, wieder in diesen rauschartigen Zustand zu verfallen, der bei unserer letzten Begegnung mein Hirn vernebelt hatte. Sie klang irgendwie komisch, als sie sich meldete, etwas verschwommen, wenn auch recht gelöst und sorglos. „Hallo Monika„, begrüßte ich sie mit schlecht verhohlenem Unbehagen, „und, wie geht es dir so?„ „Wunderbar!„ säuselte sie, als wäre sie gerade aus einem Traum erwacht. „Habe ich dich etwa geweckt?„ fragte ich erstaunt – sicher schlief sie gerne lange, doch am frühen Nachmittag hätte auch sie schon längst aufgestanden sein müssen. „Nein nein„, summte sie fröhlich, „ich bin schon lange wach. Mir geht es ja so gut...„ „Ähm, ja, und dein Roller, läuft der inzwischen wieder?„ Mein Erstaunen über ihr Verhalten konnte ich nicht mehr verbergen, doch schien sie es nicht zu bemerken – oder es interessierte sie einfach nicht. „Aber ja doch, es war nur eine Kleinigkeit, frag mich bitte nicht, jetzt fährt er wieder wunderbar, wohin ich auch will...„ Sie kicherte haltlos, bevor sie den Hörer mit einiger Mühe auflegte, ohne sich zu verabschieden, und mich mit meiner Verwunderung alleine ließ. Aus noch ungeklärter Ursache geriet gestern die Zweiradfahrerin Monika A. auf einer vielbefahrenen, gut ausgebauten Landstraße auf die Gegenfahrbahn, wo sie von einem herannahenden LKW erfaßt wurde. Sie erlag noch am Unfallort ihren schweren Verletzungen. Monika A. ist bereits das vierte Opfer, das in dieser Woche bei einem selbstverschuldeten Verkehrsunfall ums Leben kam. Wie auch in den anderen Fällen berichteten die Zeugen übereinstimmend, der Gesichtsausdruck der Toten sei äußerst friedlich, wenn nicht gar glücklich gewesen. Nach Angaben der Polizei fielen die ersten Alkohol- und Drogentests negativ aus, sie sollen jedoch wiederholt werden, da ein Fehler nicht ausgeschlossen wird. Monikas Beerdigung war außergewöhnlich ruhig, niemand weinte. Schnell fanden sich einzelne Gruppen zusammen, auch um mich herum sammelten sich ein paar Leute, die das absolute Glück noch bei anderen suchen mußten. Bei einigen jungen Frauen sah ich auch 17
Handschuhe, die jedoch bald schon abgelegt werden würden, wie ich genau wußte. Meine Nachbarn und Nachbarinnen rückten näher zu mir, doch genau wie die Mittelpunkte der anderen Gruppen scherte ich mich keinen Deut darum – was sollte ich denn auch mit noch so schönen Frauen? Ich selber war es, den ich liebte, begehrte, sobald eines der Bläschen aufplatzte und den so köstlichen Duft freisetzte, nach dem ich schon fast süchtig war; in diesem alles umfassenden Rausch aus Lust, in dem kein anderer Platz hatte. Und plötzlich begriff ich die Mechanismen der Ausbreitung und Vernichtung. Menschen wanderten schneller als bloße Erde. Ein Parasit, der seinen Wirt nicht benötigt, sondern gar als lästig empfindet – was wäre einfacher für ihn, als zu warten, während die Jahre der Fruchtbarkeit bei jungen Menschen ungenutzt vergingen? Was zählten schon die Jahrhunderte, in denen die ungeliebten Herren dieses Planeten langsam ausstarben, wenn ihnen Jahrmillionen ungestörten Lebens in warmer, nährstoffreicher Erde folgen würden? Oh, wie schlau sie doch waren! Gerade, als ich meine Erkenntnis hinausschreien wollte, platzte ohne mein Zutun eines der Bläschen auf, und die Anklage verlor sich in diesem wundervollen Duft, der alle Sinne benebelte und die Welt um mich auflöste. Ja, so sehr liebte ich, begehrte ich, nie wieder würde ich etwas anderes tun, mein ganzes Leben lang, der Preis war nicht zu hoch für diesen überirdischen Rausch, was kümmerte mich der Rest der Welt, was interessierten mich noch andere Menschen, nie wieder würde es vergehen, nie wieder, bis zum nächsten Morgen und dann immer weiter.
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Gotische Nacht von Danny Darkness
Jeden Samstag geht es auf die Jagd, frei nach dem Motto: "Es muß wieder junges Blut spritzen...
Die Neonröhren flackerten blutrot. Der Club hieß "Cherry Bomb". Es war Samstag, und natürlich ging hier die Post ab. Seit fast zwei Stunden kamen sie alle durch die laue Nacht daher: Junge Kerle, pubertär und notgeil, und dralle Tussis mit schwarzen Tops und Hot Pants. Die Straße schien zu dampfen, ebenso die Blicke. Ich stand im Schatten gegenüber. Es war wieder Jäger-Nacht. Der Mond gab mir Kraft, die Hölle ihre Glut. Also würde ich auf meine Kosten kommen. Wie immer ließ ich mir Zeit. Sicher, der Drang in mir war groß - es mußte endlich wieder junges Blut spritzen! - aber es machte doch mehr Spaß, die Sache ganz ganz langsam anzugehen. Das war einfach erotischer... Ich tastete die Brut im Geiste ab. Wilde Herzen in einsamer Nacht, das war perfekt. Wie sie turtelten, wie sie lachten, oder auch gröhlten. Die Kerle machten auf Schwarzenegger, die Mädels auf Madonna. Sie konnten mir fast leid tun. Alle waren sie auf der Suche nach Etwas, das ihrem Leben Dramatik und Intensität geben würde! Lachhaft. Ihr Leben würde schneller enden, als sie glaubten.- Umgeben von der vertrauten Clique dachte in dieser Nacht niemand an mich. Recht so. Ich würde der Einzige sein, der bekommen würde, was er brauchte. Ich war nicht naiv. Ich hatte keine Seele, die unsterblich sein wollte. Ich war unsterblich! Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß es Zeit zum Gehen war. Es war nun Mitternacht. Die Jagd begann. Gut so. Also verließ ich den Schatten, überquerte mit wenigen Schritten die Straße und drängte mich in das Gewühl der Leiber, deren Lebensenergie elektrisch in meinen feinen Ohren knisterte. "Ey, vorsicht, Mann!" beschwerte sich ein Jüngling, aber als ich ihm mein Gesiocht zuwandte verstummte er. Fassungslos glotzte er auf meine schwarze Brille, sah sich selbst fett und klein in der Spiegelung und schluckte. Ich lächelte zynisch. Ihn würde ich leben lassen. Sein Verfallsdatum lag noch in der Zukunft. Er war Reserve! Ich bahnte mir den Weg zur Kasse. Meine breiten Schultern und mein langer Ledermantel beeindruckten die Kids genug, und mich laberte niemand mehr an. Im Gegenteil, man wich mir aus. Nur drei, vier Tussis leckten sich ihre grell-geschminkten Lippen. Meine Höllenglut flackerte... Ich löhnte und drückte mich durch die Schwingtür, am Kontroletti vorbei und hinein in die schweißige Luft des Schuppens. Die Bässe dröhnten, Laserlicht zuckte. Es brausten unzählige Stimmen. Meine Augen liebten das Halbdunkel. Ich nahm meine Brille ab, steckte sie in die Brusttasche und begann mir die Gesichter anzusehen. Gesichter waren wichtig. In ihnen konnte ich ablesen, wen ich töten würde. Nur die Besten. Die mit dem gewissen Extra im Blick, mit dem besonderen Mund. Und bewegen können mußten sie sich. Das Sterben war immerhin ein süßer Tanz. Ich kicherte. An mir war ein Poet verloren gegangen. 19
Sicherlich würde ich einmal eine ´Ode an den Tango´ schreiben... Ja, es war wirklich wie Tango, wenn ein Mensch starb. Das Zucken, das Ausschlagen der Arme und Beine. So rhytmisch, so tief empfunden. Das hatte Wahrheit. Ich fühlte die kalte Kraft des Mondes. Eine Weile stand ich nun da und taxierte die Gesichter in der wogenden Menge. Die meisten waren unbrauchbar. Sie waren unterentwickelt, unreif. Sie würden nicht schön sterben. Und auf bloßes Verrecken hatte ich keine Lust. Töten war ein Handwerk, aber Sterben war Kunst! Ich wartete geduldig, und die Zeit verrann. Der Strom der Gesichter verebbte nicht. Ich ließ ihn gleiten, gleiten, gleiten... Und endlich durchfuhr es mich: Da war meine Künstlerin für diese Nacht! Sie hatte rotes(!) langes Haar, das wild ihr stolzes Gesicht umwehte, wenn sie tanzte. Und wie sie tanzte! Sie wirbelte mit glitzernden Augen und halbgeöffnetem Mund über das Parkett, die Arme hoch erhoben. Sie schritt aus, vollführte weltentrückte, aber doch energische Drehungen und federte jeden Schritt mit durchtrainierten Waden ab. Ihre halbgeöffnete Bluse beherbergte einen wogenden Busen, und die langen Beine ließen so manches Männerherz in die Hose fahren. Ich lächelte. Sehr schön. Sie war würdig. Sie würde das Morgenlicht nicht mehr sehen. Ich beobachtete sie eine Zeit lang. Wie sie tanzte, wie sie sich steigerte, zu explodieren schien, verlangsamte, in Trance zu fallen schien und dann sachte hin und her wogte, wie ein Blatt im Wind. Dann, wenn der Takt härter und schneller wurde, erregte sie sich, beschleunigte, griff um sich, stampfte mit ihren hochhackigen Schuhen auf. Als Furie gefiel sie mir am besten. Und sie brauchte keine Pause. Sie tanzte und tanzte und schwitzte und blieb im Takt. Ungeheuerlich! Sie war es auf jeden Fall. Also wollte ich nicht länger warten. Ich stieß mich aus den Schatten ab und strebte über die Tanzfläche hin zu ihr. Zwei Meter neben ihr blieb ich stehen und begann mich von der Musik aufnehmen zu lassen. Ich schwang hin und her, ganz langsam, und fixierte sie. Die Rothaarige zuckte wie unter Stromschocks, schien vom Stroboskoplicht zu Höchstform aufgepeitscht zu werden. Sie war so sehr im Rausch, daß sie nichts mehr in ihrer Umgebung sah. Ich selbst kannte diesen Zustand nur zu gut. Man fühlte nur noch Hitze, Leben und pumpendes Blut. Tanzen und Sterben. Ich lächelte. Da sah sie auf, ihre Blicke streiften für Sekundenbruchteile mein Gesicht, und ihre Augen leuchten auf. Sie fing sich in der Bewegung ab, verlangsamte und wandte mir den Rücken zu. So blieb sie eine Weile, aber schließlich drehte sie sich mit der Geschmeidigkeit einer Katze zu mir um. Ich nickte sachte, und sie verzog ihren vollen, dunkelroten Mund zu einem angedeuteten Lächeln. Jetzt hatte ich sie! Ich tanzte näher an sie heran, sie wich nicht fort. Nach wenigen Minuten waren wir Seite an Seite. Der Tanzclub wurde unwichtig, die wilde Kulisse blendete sich aus. Nun tanzten nur noch wir zwei. Sie streichelte mich mit Blicken, ich ließ meine Höllenglut blitzen. Und es wurde noch heißer. Sie legte Tempo zu, ihre Füße wirbelten dahin. Ihre Bluse drohte zu platzen, so wogte es. Ich beschleunigte ebenfalls. Mein Ledermantel schien wie ein paar Flügel zu flattern. Er warf einen Fledermaus-Schatten auf den Boden, und sie tanzte hinein. 20
Beute. Gefangen. Ich lachte, sie lächelte. Wie ahnungslos sie war. Fast konnte ich sie lieben. Fast! Endlich legte ich meine Hand auf ihre Schulter, und sie erschauerte leicht. Genauso war es bei der zweiten Hand. Sie drängte sich rückwärts an mich, und meine Flügel schlossen sich. Ich hatte ihren Nacken direkt vor mir. Vorsichtig senkte ich meine Lippen darauf. Ich roch ihre süße Haut, spürte ihren Puls. Ihr Leben, das ich nehmen würde. Gleich!!! Sanft zog ich sie an den Rand der Tanzfläche, und sie ging mit. Schritt für Schritt näherte ich mich mit ihr im Arm den Schatten. Und dann tauchten wir ein. Ich hörte nun ihr Herz, ihren Atem. Ohne etwas zu sagen drehte sie sich zu mir um und schaute direkt in meine Augen. Ihr Blick war unendlich weit und willig. Sie leckte ihre Lippen und wandte ihren Kopf zum Ausgang. Dabei umschloß sie meine Hand und zog mich mit. Schon waren wir an all den Schemen und Geräuschen vorbei und miteinander auf der Straße. "Komm!" flüsterte sie mir erregt zu und drückte meine Hand. Wir strebten am Rande der Dunkelheit an den Häuserwänden vorbei und einer Seitengasse zu. Das war perfekt! Schon bogen wir um die Ecke. "Dort drüben, in den Torweg!" hauchte ich in ihr Ohr, "Komm, Baby!" Sie nickte atemlos. Ihre Augen blitzten im Mondlicht, das in den Schacht der Straße hinabschien, weil der Trabant direkt über uns stand. Er war blutrot und riesig. Wie ein höllisches Auge, so sah er aus. Ich packte sie jetzt fester bei der Hand und ging voraus. Sie stolperte, aber ich fing sie. "Wir sind da!" verkündete ich und zog sie heran, um sie mit dem Rücken gegen die rauhe Wand zu drücken, auf die jemand "Fuck" gesprüht hatte, ein anderer "Kill". Die Jagd war endgültig vorbei. Ich lächelte sie an, und sie öffnete ganz langsam ihre feuchten Lippen. "Baby, ich will Dich. Hier und jetzt!" keuchte ich. "Ich will Dich auch!" flüsterte sie. Für wenige Sekunden schien die Zeit auszusetzen. Zwei Gestalten standen lautlos umklammert in einer Seitenstraße der Großstadt und badeten in Schatten. Zwei Herzen schlugen lebendig beieinander. Dann riss ich meinen Schlund auf, entblößte meine Fangzähne und schlug sie in ihren heißen Hals. Blut schoß mir in den Mund. Endlich. Ein unvermuteter Schlag trieb mich zurück. Und dann fuhr sie heran, ihr Gesicht war nun eine Fratze, und sie biss mir in die Halsschlagader. "Was...?" Ich strauchelte, und sie warf sich mit ungeheurer Kraft über mich. In meinem Mund brannte es fürchterlich. Nun schrie auch sie auf. Ein bitterer Geschmack legte sich auf meine Zunge. Das kannte ich nur zu gut. "Vampir-Blut!" rief ich, "Du bist ein Vampir!" "So wie Du!" rochelte sie und spie immer wieder aus. Wir beide keuchten, und für eine Weile war es uns unmöglich zu sprechen. Schließlich hörte das Husten und Spucken auf, und wir kauerten erschöpft nebeneinander am Boden. "Das ist mir noch nie passiert", gestand ich. 21
"Mir auch nicht. Dabei war ich so sicher." "Und ich dachte, Vampire erkennen einander drei Meilen gegen den Wind!" Sie lächelte schwach. "Das war wohl früher so. Weißt Du, ich habe darüber gelesen. Da war so´n Artikel im ´Transilvanian-Kurier´." "Ja?" "Das ist alles die Schuld der Entfremdung, verstehst Du?" Ich schüttelte den Kopf, und sie sah mich mit großen Augen an. "Na, die vampirischen Traditionen werden nicht mehr richtig gelehrt. Wir sind zu angepaßt geworden. Wir sind fast schon Menschen. Und wir ernähren uns falsch!" "Und deshalb wittern wir uns nicht mehr?" "Kann passieren!" nickte die Vampirin, "Wir verlieren unsere Identität und unsere Aura. Eigentlich traurig, oder?" "Auf jeden Fall. Das bedeutet heute immerhin, daß wir hungrig bleiben." "Tja. Das bedeutet es wohl. Es ist zu spät für eine zweite schöne Jagd. Und ich bin nicht der Typ für Quickies!" "Ich auch nicht", stöhnte ich. "Also Blut-Orangensaft!" "Falsche Ernährung, wie ich sagte!" lachte sie. Sie war wirklich süß. Ich könnte mich fast verlieben... Wir saßén noch eine Weile da, warteten bis unsere Halsschlagadern verheilt waren und machten uns noch vor dem Morgenlicht aus dem Staub. Aber vorher hatten wir die Adressen unserer Gräber getauscht. Wer wußte schon, was daraus noch werden konnte? Die Hölle gebe mir Glut und der Mond die Kraft! Ende
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Magnatic von Hannes Mayer
Ein einfaches Blatt Papier und doch mehr. Ein seltsamer Schwindel erfasst Dich und wird zu einem Sog...
Ein Ausschnitt aus dem laufenden Projekt von Hannes M. .......................– so schloß ich meinen Mund. Nun fiel mir auch wieder ein, was ich vorhin tun wollte – ich wollte aus dem Weg gehen! So tat ich wenige Schritte nach hinten und beehrte wieder die dicke Frau. Einladend lächelte sie mich an und folgte mit ihrem Blick meiner Bewegung beim Niedersitzen. Kurz und kalt, ließ ich ein kleines Lachen für sie über mein Gesicht wandern. Danach wandte ich mich ab und drehte meinen Kopf zur Einladung in meinen nun warmen Händen. Diesmal hielt ich das Papier etwas weiter weg, denn ich lachte es aus > ja, was da stand konnte auch "nur ein Scherz" sein. Gerade soviel, daß ich die Buchstaben nicht auszulachen begann. Mit einem mal verging’s mir: Irgend etwas packte mich und ich wußte, es war nicht die Dicke Frau neben mir auf der Bank – ich konnte nicht einmal nachschauen ob sie’s war, ich brachte meine Blicke von diesem Schriftstück nicht mehr los. Doch was sah ich da? Bewegten sich die Zeichen? Mein Blick verschwamm und undeutlich war das, was ich lesen wollte – ich gab mir Mühe, doch die Wörter die ich aneinander fügte schienen einer anderen Sprache zu entstammen. Und die Buchstaben erst: sie sahen plötzlich anders aus. Sie waren Zeichen, nein, Symbole, deren Herkunft ich mir weder erklären noch vorstellen konnte, trotzdem gab ich mir Mühe, sie zu deuten. Mein Blick strich über sie hinweg, wie über unsere altbekannten Buchstaben und meine Lippen formten Laute > halblaut hörte ich mich sie sagen. Meine Stimme klang für mich selbst fremd, ganz ob, als würde ein Priester sie in mein Ohr sprechen. Mit einer ernsten, betonten Stimme, wie bei einer Messe in der Kirche. Abstrus erschien mir mit einem Mal die Situation und ich lies das Papier sinken. Meinen Blick konnte ich dennoch nicht abwenden > wie durch einen Tunnel blickte ich hinab auf das gar sonderbare Blatt. Von hier "oben" (in der Tat kam mir die Entfernung zwischen Auge und Papier enorm groß vor), erkannte ich die Symbole nicht mehr, doch die vormalige Einheit bildete nun, auf Grund der Entfernung, eine Mehrheit. Und in dieser Mehrheit entfaltete sich ein wundervolles Bildnis. Das Bildnis des Gesichtes einer Frau – ich hatte nichts vergleichbares gesehen in meinem Leben. Ich meine nicht dieses wundersame Schriftstück – dies allein war schon seltsam genug. Ich meine dieses scheinbar perfekte Gesicht! Volle Lippen, zum Küssen gemacht, geschmeidige Wangen, feine Wimpern, wie von Künstlerhand gebogen – Himmel hilf, ihr Augenaufschlag muß ein Bild für Götter sein. Weiter strich mein entzückter Blick: Ich dachte mir: "Alles gleicht sich aus und alles paßt zusammen, nichts scheint an ihr aus dem Gleichgewicht – und ihre Nase ist allerliebst." Bei dem Anblick, verspürte ich plötzlich das Bedürfnis, sie zu berühren: Ich war mir nicht sicher, ob ich das tun sollte, doch lies ich meine Phantasie über das Aussehen ihres Körpers durch meinen eh schon verwirrten Geist streifen............. und da konnte ich nicht widerstehen. Langsam löste ich den Griff von dem Papier und zog die Hand zurück. Es veränderte sich nichts, also schob ich die Hand zaghaft wieder nach vorne. Jeden Millimeter, den ich nach Vorne kam, schlug mein Herz einen Takt schneller. Mein Herz raste also, als ich die Oberfläche des Bildes schon fast spüren konnte – es war mir sowieso, als würde von dieser "Erscheinung" eine unbeschreibliche Energie ausgehen > ich war wie magnetisiert. Das Bild stellte einen Gegenpol dar, der mich in meinem gesamten Wirken aufhob. Es wunderte mich also nicht, daß mir die wenigen Sekunden, die ich die Erscheinung sah, vorkamen, als wären es Stunden gewesen > sie zu erleben war wie in einem absolut leeren Raum zu stehen, gegenüber nur dieses Bild und um uns herum, die pure Erfüllung. Nur war alles zu kurz 23
gewesen: Ich hätte das Bild nicht berühren dürfen, nachher ist man ja bekanntlich immer schlauer. Denn als ich den letzten zehntel Millimeter überwunden hatte und statt der sicherlich Pfirsich – weichen Haut, die rauhe Struktur des Papiers spürte, entstanden rund um meinen Finger konzentrische Kreise, die sich nach außen hin fortpflanzten > ähnlich einer Wasseroberfläche, in die man einen Stein hinein wirft. Ich erschrak, denn mit so einem Effekt hatte ich nicht gerechnet. Ich riß also den Finger zurück und knallte mit meinem Ellbogen gegen die Bank, auf der ich noch immer saß. Dann gab es nur noch einen hellen Blitz, der durch meinen Kopf fuhr, als würde es diesen gleich zerreißen. Alles war vorbei. Traurig und nichts wissend blickte ich auf das Papier: Es war intakt, doch war da nur noch die Vorladung zu sehen – nun wollte ich erst recht zu dem besagten Treffpunkt.
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Die Fratze von Roland Roth
Eine einsame Straße. Ein seltsames Leuchten. Ein Phänomen, mehr Sein als Schein?
Die Videokamera, die er sich gerade gekauft hatte, war wirklich toll. Es war bereits dunkel geworden, als er sich auf den Heimweg machte. Zudem war Neumond und wären die Straßenlaternen nicht gewesen, hätte man kaum die Hand vor Augen gesehen. "Die könnten in dieser armseligen Stadt ruhig mal für bessere Beleuchtung sorgen." Seine Gedanken streiften umher, als er in einer dunklen, einsamen Straße angelangte. Da bemerkte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Büschen ein helles Flackern und Blitzen. "Welch ein Zufall", dachte er, "so ein Naturphänomen habe ich auch noch nicht gesehen." Kurzentschlossen packte er seine Videokamera aus und nahm diese "Naturerscheinung" - so glaubte er in seinem jugendlichen Leichtsinn - auf und ging fröhlichen Tatendrangs nach Hause. Da angekommen spielte er den aufgenommenen Film sogleich auf seinem Videogerät ab. Er stutzte. Das was auf dem Film war, hatte er nicht aufgenommen und noch nicht einmal gesehen: Im Flackern dieser Lichterscheinung stand ein dämonisches Wesen, das ihn mit einer höllischen Fratze hämisch angrinste. Später beschor er unter Eid, dass dieses Wesen beim Filmen nicht da war...
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Das Bild des Magiers von Alfred Bekker
Eine junge Frau gerät an einen Guru und lernt sehr eifrig von ihm. Nicht nur Güte...
Wir machten uns alle zeitweilig große Sorgen um Sigrid. Man hört heute so viel von obskuren Sektenführern, Magiern aller Art und Wunderheilern, die natürlich nichts anderes heilen können, als die klaffende Wunde in ihrem leeren Portemonnaie. Und wenn jemand in die Hände eines solchen Seelenfängers gerät, ist das ja wohl Grund genug, sich Sorgen zu machen. Wir kannten Sigrid immer als eine vernünftige, intelligente junge Frau, von der niemand einen Hang zum Okkultismus erwartet hätte. Gemeinsam machten wir uns über die Wichtigtuer lustig, die seit neuestem die Talk-Shows übervölkern und dann von sich behaupten, eine sogenannte neue Hexe oder ein weißer oder schwarzer Magier zu sein oder mit gequirltem Wasser Krebs heilen zu können und so weiter und so fort. Wenn ich jemanden für immun gegenüber solchem Quatsch gehalten hätte, dann Sigrid. Aber das war wohl ein Irrtum, wie sich herausstellte. Wie sie diesem Scharlatan mit dem indisch klingenden Künstlernamen genau auf den Leim ging, weiß ich nicht, aber irgendwann muss sie damit angefangen haben, ihm monatlich 400 DM zu überweisen. "Bist du denn verrückt?" fragte ich sie völlig fassungslos. Sie sah mich an wie einen dummen Schuljungen, obwohl nach meinem Gefühl ihr dieser Blick gebührt hätte. Schließlich war sie doch die Dumme! "Wieso?" meinte sie. "Weißt du, dieser Mann ist ein Magier. Ein weißer Magier. Er hat ein Foto von mir und übertragt über dieses Foto seine mentale Energie auf mich." "Ach, nee!" "Du glaubst gar nicht, wie kreativ und frisch ich mich seitdem fühle!" "Früher hast du so etwas für Humbug gehalten!" "Früher war ich eine Närrin!" Sie war einfach nicht davon zu überzeugen, dass dieser Magier, der sich Swami Soundso nannte, nur an ihrem Geld und nicht an ihrem Wohlbefinden interessiert war. Auch als ich Sigrids Foto in der Anzeige eines dubiosen Heiratsinstituts wiederfand, schien ihr das nicht verdächtig. "Der hat dein Foto einfach verkauft!" sagte ich ihr, aber sie hatte eine naheliegendere Erklärung. "Das war bestimmt jemand in der Bundesdruckerei, die die Personalausweise herstellt!" Ihr war einfach nicht zu helfen. Eines Tages verlangte der Swami dann Nacktfotos von Sigrid, was die junge Frau nicht im mindesten zu verwundern schien. Schließlich solle der mentale Energietransfer seinen positiven Einfluss auch auf den ganzen Körper ausüben und dazu war das unerlässlich. Sigrid schlug alle Bedenken in den Wind und zeigte mir ein Buch, dass sie sich besorgt hatte. "Hier, es ist wirklich etwas dran an dieser Heilmethode! In diesem Buch wird die Methode der Fernbeeinflussung per Foto detailliert beschrieben!" "Hat es zufällig dein Swami geschrieben!" "Es ist eine Wissenschaft, kein Hokuspokus! Das solltest du akzeptieren!" "Glaube ich nicht!" "Ach, nein?" Sie deutete auf das Buch und meinte, dass sie sich bereits eingehend mit der Methode der Fernbeeinflussung befasst habe. "Es funktioniert wirklich! Ich habe es ausprobiert!" war sie überzeugt. "Da kann ich ja nur hoffen, dass du kein Foto von mir besitzt!" Meine Erwiderung darauf war damals witzig gemeint. Wenn ich heute daran denke, bleibt mir das Lachen im Halse stecken. Sie lächelte milde und erklärte mir, dass sie bislang lediglich mit ihrem Meerschweinchen und der Katze der Nachbarin experimentiert habe. Allerdings erfolgreich, wie sie behauptete. In 26
diesem Moment erwog ich ernsthaft, ob sie nicht bereits ein Fall für die Psychiatrie war. Ein paar Wochen später erhöhte der Swami seinen Preis für den Energietransfer um hundert Mark im Monat. Kein Wunder, schließlich bekam Sigrid nun ja auch eine Ganzkörperglücksbehandlung. "Alles wird teurer. Der Strom, das Gas, das Öl - warum nicht auch die mentale Energie?" meinte sie dazu. Ihr freier Fall in den finanziellen Ruin war wohl nicht mehr aufzuhalten. Es war nur eine Frage der Zeit. Der geheimnisvolle Magier wurde immer dreister. Nach ein paar Monaten erzählte Sigrid mir, sie habe ihm ihre Eigentumswohnung überschrieben. "Ist das nicht einleuchtend? Der positive Einfluss des Mentalenergietransfers soll schließlich..." "die ganze Wohnung erfassen. Und das geht nur, wenn sie dem Swami gehört!" vollendete ich ihren Satz. Inzwischen konnte mich nichts mehr wundern. Und dann sagte sie noch etwas, was mir damals als nicht so wichtig erschien, über dessen Bedeutung ich aber heute noch im Zweifel bin. "Er hat mir übrigens ein Foto von sich geschickt. Willst du es mal sehen? Er hat so gütige Augen..." "Wie nett!" erwiderte ich und sah mir aus reiner Höflichkeit das Bild an. Wir lebten inzwischen offenbar in verschiedenen Welten. Eine ironische Bemerkung konnte ich mir dann aber doch nicht verkneifen: "Wenn du noch einen Funken Verstand hättest, würdest du diese magische Fernbeeinflussungs-Methode mal am Bild deines Swamis testen. Wenn du mit deinem Meerschweinchen so viel Erfolg hattest, dann könntest du ihn doch vielleicht dahingehend beeinflussen, dir wenigstens einen Teil deines sauer verdienten Geldes zurückzuzahlen!" Ihre Erwiderung bestand lediglich aus einem milden Lächeln. Einem Lächeln, das schon beinahe so milde wie das ihres Swamis war. Wir verloren uns in der Folgezeit etwas aus den Augen und ich hörte nur über Dritte von ihr. Ein halbes Jahr später starb der Swami eines plötzlichen, allzu frühen Herztodes. Die Boulevardpresse gab exzessiven Gruppensex-Orgien die Schuld an seinem Ableben. Außerdem hatte er es mit der von ihm selbst entwickelten mentalenergetischen Diät, bei der auf Fett, Kohlenhydrate und Eiweiß verzichtet werden sollte, wohl nicht so genau genommen, wie seine beträchtliche Leibesfülle belegte, zu der er in seinen letzten Lebensjahren angeschwollen war. Seine Jünger hingegen erklärten den Tod ihres Gurus damit, dass der Swami sich mentalenergetisch verausgabt und damit für die Menschheit gewissermaßen geopfert habe. Wie dem auch sei, jedenfalls hatte er zu Lebzeiten ordentlich Geld gescheffelt und hinterließ daher ein recht ansehnliches Vermögen. Das Erstaunliche war, dass er ausgerechnet Sigrid zu seiner Alleinerbin bestimmt hatte, aber ich persönlich weigere mich bis heute einfach anzunehmen, dass dies in irgend einem Zusammenhang mit einem gewissen Buch über Fernbeeinflussung und einem Foto stand, das den Swami mit sehr gütigen Augen zeigte. Zur Zeit residiert Sigrid in der südamerikanischen Hazienda des Swami, aber wenn sie mal wieder nach Deutschland kommt, werde ich sie mal nach ihrer Meinung dazu fragen. Nachtrag: Sicherheitshalber verschenke ich übrigens keinerlei Fotos mehr, und bei Bekannten, die bereits Bilder mit meinem Antlitz besitzen, fordere ich diese nach und nach unter dem Vorwand zurück, ich besäße keine Negative mehr und hätte das Bild gerne für mein Familienalbum. Eine reine Vorsichtsmaßnahme.
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Hoffnung von Dakini
Eine surreale Geschichte: Maja begegnet der Hoffnung und ihren Begleitern.
Die Hoffnung war heute wieder besonders penetrant. Sie trug ein schillerndes meergrünes Kleid aus einem fließenden, enganliegendem Stoff. Um die Schultern glitzerten Hunderte von kleinen Vielleichts, bunt und vielversprechend. Sie hatte sich außerdem jede Menge Träume auf dem Kopf drapiert, so daß es aussah wie ein schriller Hut mit imaginären Pfauenfedern, die bei jedem ihrer Schritte Form und Farbe veränderten. Die Angst schlich ein paar Schritte hinter ihr, wie ein Schatten. Beide versuchten krampfhaft, sich zu ignorieren. Die Hoffnung kam leise näher, beschwingten Schritts, und summte eine sentimentale Melodie leise vor sich hin. Maja fühlte, wie das Lied sie berührte und war sich der Versuchung bewußt, die von der Musik ausging. Sie konnte das Verlangen spüren, einfach hinzugehen, sich umarmen zu lassen und zu versinken in Welten, die bunt waren und ekstatisch. Doch der Schatten, der der Hoffnung folgte, kam immer unvermittelt und verwandelte das Paradies in die Hölle, von einem Augenblick zum anderen, und es gab keine Flucht. Maja schüttelte heftig den Kopf und versuchte aufzustehen. Es fiel ihr schwer, sie war wie betäubt von dem schweren sinnlichen Duft, den die Hoffnung ausströmte und den kleinen unhörbaren Lockrufen der Vielleichts. Du gehst mir entsetzlich auf die Nerven, sagte sie zur Hoffnung und vermied dabei, sie anzusehen. Sieh doch, erwiderte die Hoffnung völlig unbeeindruckt, mein neues Kleid..... Du weißt doch, wie es heißt, nicht wahr, sagte die Hoffnung und kicherte. Sie fing an zu lachen. Ihr Lachen hatte einen schrillen Unterton und Maja sah, wie der Schmerz plötzlich um die Ecke geschossen kam und die Hoffnung mit einer unwirschen Handbewegung zur Seite stieß. Soll ich Dir helfen, sie loszuwerden? fragte der Schmerz und setzte sich neben sie, so dicht, daß es ihr unangenehm war. Die Angst hatte sich an der Hoffnung vorbeigeschlichen und stand lauernd vor ihr. Maja fing an zu laufen. Die Hoffnung lief ein Stück hinter ihr her, aber all die Vielleichts und Träume hinderten sie daran, das Tempo zu halten. So blieb sie zurück und sah Maja aus ihren dunklen, verhangenen Augen nach, wartend... Maja rannte noch ein Stück, bis sie ihren Atem spüren konnte und ihr Herz schlagen hörte, dann setzte sie sich auf einen großen warmen Stein und ruhte einen Moment lang aus. Der Schmerz stand hinter ihr und legte ihr seine Arme sanft um den Hals. Sie ließ es einfach geschehen. Irgendwann öffnete sie die Augen und sah ihn vor sich sitzen. Er war alt, uralt, und nur manchmal sah er jung aus, doch bei näherem Hinsehen erkannte sie ihn immer. Warum läßt du mich nicht endlich zufrieden, fragte sie ihn. Ich bin hier, um dir zu helfen, sagte er. Er sah sie an, und in diesem Augenblick wußte sie, daß er recht hatte. Sie mochte ihn trotzdem nicht. Wann immer es ging, versuchte sie ihm aus dem Weg zu gehen, aber er tauchte oft so unvermittelt auf, daß sie es nicht schaffte. Aber du tust mir weh, sagte sie und sah ihn an. Die Traurigkeit setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Würdest du sonst verstehen? fragte der Schmerz. Seine Stimme war auf einmal ganz weich und liebevoll. Sie lehnte sich an die Schulter der Traurigkeit und schloß wieder die Augen. Leise erhob sich der Schmerz und ging. Soll ich dich ein bißchen begleiten, fragte die Traurigkeit, als sie aufstand. Ja, antwortete sie, komm, wir gehen.... Sie gingen Hand in Hand durch die Nacht, lange Zeit, bis der Horizont sich langsam rot zu 28
färben begann. Ich muß dich jetzt verlassen, sagte die Traurigkeit und blieb stehen. Sie liebte die Nacht. Ich weiß, sagte Maja leise, auf Wiedersehen. Sie setzte sich in ein kleines Restaurant am Wegrand, das einladend nach frischem Kaffee roch. Der Ober kam aufgeregt und fragte nach ihren Wünschen. Sie müssen sich beeilen, sagte der Ober und wedelte nervös mit der Speisekarte. Der Film fängt gleich an. Er verschwand, leise vor sich hinmurmelnd, und kam kurz darauf mit dem Kaffee wieder. Erwartungsvoll sah er sie an. Ich möchte keinen Film, sagte sie und hielt ihre Kaffeetasse mit beiden Händen fest. Ich bin auf der Suche nach der Wirklichkeit. Haben Sie sie zufällig irgendwo gesehen? Der Ober sah sie irritiert an. Was ist Wirklichkeit, fragte er, der Film fängt doch gleich an. Kopfschüttelnd ging er nach drinnen. Sie trank ihren Kaffee aus und ging langsam auf den Hafen zu. Dort lagen eine Menge Boote und Yachten vertäut an den Stegen. Sie kletterte in ein kleines Boot, das ganz hinten sachte auf den Wellen hin- und herschaukelte. Als sie gerade Platz genommen hatte und auf das Wasser hinaussah, hörte sie, wie der Dieselmotor gestartet wurde. Neugierig ging sie nach vorne. Am Steuer stand die Hoffnung und kicherte vor sich hin. Sie hatte sich eine alte Kapitänsmütze aufgesetzt, aus der nun die Träume aus allen Seiten herausquollen. Du siehst völlig albern aus, sagte sie zur Hoffnung. Die Hoffnung hob ihr Kleid ein wenig und sagte: Aber wenn du erst meinen Original-Kapitänsschlüpfer sehen könntest, und kicherte noch mehr, so sehr, daß ihr all die kleinen Vielleichts herunterfielen und auf dem Deck umhertanzten und hüpften. Maja schüttelte ein paar von ihnen von ihrem Arm. Dann wandte sie sich wortlos um und ging hinunter in die Kajüte. Sie setzte sich an den kleinen Holztisch und betrachtete den liebevoll ausgestatteten Raum. Eines der Vielleichts hatte sich die Treppe heruntergeschlichen und tanzte jetzt aufgeregt um sie herum. Sie nahm es in die Hand und setzte es vorsichtig in den Zuckertopf. Das Vielleicht quirlte begeistert im Zucker hin und her. Als sie nach einer Weile wieder nach oben stieg, war die Hoffnung verschwunden. Willst du nicht vielleicht das Steuer übernehmen, fragte der Wind. Wer weiß, wo du sonst landest... Vielleicht kann ich ja gar nicht steuern, sagte sie. Da bemerkte sie plötzlich, daß das kleine Vielleicht sich an ihrem Ärmel festgebissen hatte. Sie schüttelte es weg. Dann stellte sie sich ans Steuer. Aye, aye, Captain, sagte sie fröhlich zum Wind. Und wohin gehts? fragte er und zerrte am Segel. Zum Regenbogen, sagte sie lächelnd. Vor ihr glitzerte das offene Meer.
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Die Braut von Montalban von Angelika Oehrlein
Eine Hochzeit unter Schatten.
Die Jungfrauen der ewigen See hatten Don Rodericks Tochter nicht aufnehmen können. Lebte doch in ihrer Verbannung die Königin mit ihnen. Sie den Hüterinnen der Flamme zu geben, verbot sich von selbst. Wirklich konnte der Herr der Stadt den Heiligen Frauen nicht gut das Kind einer Kebse anvertrauen, die immerhin als Hexe verbrannt worden war, wenn auch unschuldig. So war Donna Flor bis in ihr fünfzehntes Jahr von dem gelehrten Kaufmann Palo erzogen worden, und seitdem dem Infanten von Montalban anverlobt. Die Verhandlungen der Ehe hatten sich den ganzen heissen Sommer lang hingezogen. Endlich zu Mittwinter war die Mitgift zu aller Seiten Zufriedenheit ausgeredet, war des Prinzen Tochter linker Hand auf dem Weg zu ihrem Gemahl. Aber der Morgen war kalt und die Fuhrleute murrten, als die Versprochene Herrin von Montalban schon unterhalb der Burg vor dem Haus des Kaufmanns die Hand hob. Haltet an, Ihr Fuhrleute, sprach die junge Braut und stieg von ihrem Zelter, auf daß mich der Meister in meinem Glück sehe. Ich will dem guten Lehrer ein letztes Lebewohl sagen. Allein, der Majordomo, von seinem Herrn ausgeschickt die Infantin heimzuholen nach Montalban, schüttelte den Kopf. Lasst gut sein, Madonna, sagte der Haushofmeister, das Gesicht höfisch abgewandt, dafür ist nicht Zeit. Wir müssen noch heute zur Furt. Auch schickt es sich nicht mehr für Euch in Eurem neuen Stand, dass Fremde und vorzüglich Männer Euer Gesicht sehen. Vergesst Euren Lehrer. Weint besser um Eure Tugend. Wird sie Euch doch bald im Sturm von unserem Herrn genommen werden. Der Haushofmeister hiess der Kammerfrau absteigen, und der Versprochenen Braut zurück in den Sattel helfen. Durften sie doch nur ihre Frauen besorgen, ehe ihr Gemahl sie nicht erkannt. Die Kammerfrau war rot im Gesicht, Donna Flor hingegen blass wie der Wintermorgen, als der Zug wieder aufbrach. Hinten im Tross schwatzten die Mägde. Habt ihrs gesehen? sagte die Eine, die Bäume im Hof des Kaufmanns stehen winterkahl. Dennoch tanzten Schatten wie von Blättern an der Hauswand. Sie stand dort in den Schatten, ganz ohne Zweifel. Das mag wohl sein, antwortete ihr eine Andere, weisst du nicht, wer gestern Nacht bei dem Alten gewesen? Wüsste sie es nur, die Hexentochter. Schweigt besser davon, sagte die Dritte. Im Haus lag der alte Palo auf den Tod. Er war in Wahrheit Donna Flors eigener Großvater, dem freilich bei Strafe des Leibes und Lebens verboten worden war, der königlichen Enkelin je das Geheimnis ihrer Herkunft von Mutterseite zu entdecken. Der Kaufmann hatte dem Gebot seines Herrn gehorcht. Wohl wissend, daß wer immer die Augen zu einer Jungfrau aus dem Hause Don Rodericks erhob, dafür die gerechte Strafe der Königin erleiden musste. In der Nacht von Donna Flors Verlobung hatten die Schergen das Werkzeug des Henkers in das Haus am Marktplatz getragen, hatten den alten Palo auf seinem Bett geblendet und entmannt. Allein, die Versprochene Braut von Montalban ahnte davon nichts. Donna Flor sah die Schatten nicht. Sie ritt den Kopf stolz erhoben durch das Flusstor, und aus der Stadt. Einsam war ihr Weg über die Felder, einsam der Fluß. Schäumend toste er neben der Uferstraße. Winterregen hatten den Weg ausgewaschen. Steigt lieber ab, Madonna, sprach darum bald der Haushofmeister, nicht, dass Euer Pferd fehltrete. Zu teuer seid Ihr, Versprochene Braut von Montalban, als dass ich meinem Herrn ohne Euch vor Augen treten dürfte. Der Weisse geht sicher, sagte Donna Flor, doch gleichviel. Wie ihr wollt. 30
Der Majordomo bat die Linke Tochter hinter sich, in den Tross zu den Mägden. Dort schritt die Versprochene Braut sicher aus. Die Mägde hinter den Wagen flüsterten. Ich meine, jetzt folgt uns auch noch der Alte, sagte die Eine, die Schatten werden dichter, hier unter den Bäumen am Fluss. Ach was, sagte wiederum die Andere, was gilt das uns! Mögen sie Hexentochter holen, wenn sie wollen! Hüte deine Zunge, Mädchen, sagte die Dritte und die Mägde verstummten. Hatte doch keine Don Rodericks Strafgericht über Sela vergessen, die ihre lose Zunge an der Herkunft der Tochter Linker Hand gewetzt. Geschrien und geheult hatte Sela, auf dem ganzen Weg durch die Stadt, obwohl ihr der Henker im Hof der Mädge zuerst vor Aller Augen die Zunge herausgeschnitten und sie dann an Brüsten und Scham gebranntmarkt hatte, bevor er sie nackt und blutend ins Hurenhaus geführt, unterhalb der Mauer dicht am Fluss. Donna Flor achtete der Reden nicht. Sie sah nicht, wie sich hinter den Wagen Schatten sammelten. Nicht, wie die vorwitzige Magd strauchelte. Doch hörte sie die Unglückliche schreien. Aufspritzend versank sie im Fluss. Werft Seile, Ihr Fuhrleute, befahl da die junge Braut, auf dass die Arme sich rette. Noch schwimmen die Röcke ihr oben! Einmal schien es, als könne die Ertrinkende das Seil greifen. Allein, das Ufer gewann sie nicht. Dort, wo die Wasser donnernd in die Klamm eintraten, die Strasse den Weg über die Hügel nahm, verschlang sie der Fluss. Drei Wegstunden später fand der Kundschafter die Tote im seichten Teich der Furt. Zweimal gebrochen hatte der Mahlstrom der Magd das Rückrat. Kopf und Hüften lagen verrenkt. Lasst mich die Totenklage für sie hersagen, bat Donna Flor. Doch der Majordomo schüttelte den Kopf. Madonna, dafür ist nicht Zeit, sagte der Haushofmeister, schon stehen auf der anderen Seite der Furt die Fuhrleute Eures Gatten bereit, abzulösen die Diener Eures Vaters. Und überdies eine Magd! sagte die Kammerfrau. Traurig ritt Donna Flor durch den Fluß. Traurig dankte sie dem jungen Fuhrknecht, der ihren Zelter am Zügel hindurchgeführt. Freundliche Augen hatte er, lachend sah er sie an. Die linke Tochter band versonnen den Schleier neu. Hatte sie doch noch nie ein Mann auf diese Weise angesehen. Dass sie ihn hinter ihr seitwärts führten, merkte sie nicht. Aber sie hörte wohl den Schrei von unten am Fluss. wo ihn die Fuhrmeister an einem Baum gebunden. Später zeigte ihr der Schinder die Augäpfel. Ums Gemächt stritten nahebei die Hunde. Warum tatet Ihr ihm dies? fragte die Versprochene Braut. Wie? sagte die Kammerfrau erstaunt, war es nicht Euer Wille? Oder warum sonst hättet Ihr den Schleier vor ihm fallen lassen! Aber Donna Flor sah die Augen der Zofe glitzern. Don Rodericks Tochter fragte nicht mehr. Die Versprochene Braut von Montalban hielt fortan ihr Gesicht verborgen hinter dem Schleier vor Jedermann, ritt stumm bis zum Abend. Der Himmel war rot, als der Zug der Braut die Waldgrenze erreichte. Dort liess der Majordomo anhalten. Hört, Madonna, die Botschaft Eures Vater, sprach der Haushofmeister von Montalban, solches wünscht der Prinz: möge meine Tochter Linker Hand Donna Flor an der Waldgrenze Kleid und Schleier tauschen mit der Kaummerfrau. Auf dass sie unerkannt reise durch das Reich des Sultans. Der Brautzug biege derweil nach Osten. Streit hatte die Königin mit dem Sultan. Nicht um freies Geleit für die einzige Tochter bitten lassen hatte sie den Prinzen, ihren Gemahl. Deshalb legte die Versprochene Braut von Montalban Schmuck und Schleier ab, und die Zofe stieg aus ihren Röcken. Nun noch Euer Ross, sagte zuletzt die Kammerfrau, auf daß sich die Täuschung vollende. Allein, der Weisse wollte die falsche Braut nicht tragen. So ritt Donna Flor auf dem Zelter in die Nacht hinein. Finster war es dort im Wald, und still. Immer öfter sah die Zofe sich um. 31
Oheim, sind wir noch nicht bald an der Brücke? fragte die Kammerfrau, unheimlich ist es unter den Bäumen. Auch folgen uns Schatten. Immer stehen sie zwei Schritte hinter uns, zwei Männer und eine Frau, wenn ich mich wende. Nichte, das bildet Ihr Euch ein, sagte der Haushofmeister, dort vor uns liegt schon die Schlucht und auf der anderen Seite steht Haus Montalban. Seht ihr nicht den Feuerschein, jenseits der Brücke? Rot und Golden wehte die Standarte des Infanten über dem Abgrund. Der junge Herr war mit Kavalieren und Knechten zur Jagd aufgebrochen. Gekommen, schon vor der Hochzeit heimlich zu sehen seine Braut. Ist sie das, süsse Base? fragte der Infant die Kammerfrau, stieg vom Pferd und fasste Donna Flor am Kinn. Öffentlich vollzogen werden muß die Ehe, ihr Herren seid mir Zeugen. Schreiten wir also zur Tat! Sprachs, führte die Linke Tochter zum Feuer und hob ihr ohne Umschweife von hinten den Rock. Wohlbehütet erzogen worden war Donna Flor, doch nicht unwissend. Sie hatte gesehen, wie man die Kuh zum Stier geführt. Wusste, was das Gesinde zu Paaren trieb ins Heu. Dass sie der Infant von Montalban aber nahm, wie es manche Knechte untereinander taten, oder der Sieger im Krieg oft zur Schmach dem Besiegten, machte sie vor Schmerz und mehr noch Empörung stumm. Nun, sagte der Infant kurz darauf, sich säubernd an Donna Flors Rock, damit gehört die Mitgift rechtens mir. Danach stiess er die Linke Tochter grob von sich, und lachte, als sie fiel. Schatten wuchsen über dem Feuer. Wind klang wie Klagen durch die Nacht. Donna Flor sass im Staub. Haushofmeister und Kavaliere sahen sie nicht an. Nun gut, sagte schliesslich der Infant, wandte sich zu seinem Jagdmeister, nimm einen Gehilfen. Führt mir die Metze zurück in den Wald. Dort mögt ihr sie nach eurer Laune gebrauchen. Aber dann tut sie ab, bringt mir Zopf, Herz und Leber. Schicklich trauern werde ich um den herben Verlust. Hat mir die Jungfer doch wenigstens etwas Vergnügen bereitet! Und damit spuckte der Infant Donna Flor vom Pferd herab noch in den Schoss. Wie, sagte die Kammerfrau, du hattest mir sie als Magd versprochen! Das kann nicht sein, liebes Herz, sagte der Infant, Rache zu nehmen für die Verbannung schwor ich meiner Schwester, der Königin. Und geschehen ists. Aber auch wenn sie, die mir als Gattin zugeschworen, nicht im rechten Bett geboren, so ist der Prinz doch von edlerem Blut als du. Immerhin magst du heute Nacht ihre Pflichten noch auf dich nehmen in meinem Bett. So lernte Donna Flor das hässliche Gesicht dessen kennen, der ihr zum Gemahl bestimmt. Dass sie der Jagdmeister am Rock über die Brücke zurück in den Wald des Sultans zog, merkte sie kaum. Auch als er ihr den Zopf schnitt, wehrte sie ihm nicht. Willst du sie zuerst? fragte derweil der Jagdgehilfe, stieg lüstern schon aus Wams und Hose, wenn nicht, dann will ich. Gibt uns der Herr doch kaum noch einmal solche Freiheit! Du redest, wie du es verstehst, sagte der Jagdmeister, stiess dem Gehilfen das Messer in den Bauch und schlitzte ihn bis zur Kehle auf. Der sank ohne Laut. Schlecht beraten war mein Herr, dass er der Königin, seiner Schwester, gehorcht und Don Roderick diesen üblen Streich gespielt. Krieg wird es geben zwischen der Stadt und Montalban. Ist das so? fragte zitternd Donna Flor, aber was wird aus mir? Einerlei, sagte der Jagdaufseher, folgen kann die Frau mir nicht. Aber man sagt, dass der Sultan zu jungen Männern freundlich. Ich sehe, was du meinst, sagte die Linke Tochter, vergelten kann ich es dir jetzt nicht. Doch danke ich dir mein Leben. 32
Danke die Frau mir nicht, sagte der Jagdmeister, so oder so wird es viele den Kopf kosten. Und zu vörderst mich. Den Toten zog er noch ins Dickicht. Die linke Tochter wartete eine Weile. Dann stieg Donna Flor aus Zofenkleid, nahm Hose und Wams des Jagdgehilfen. Aber zuerst sagte sie die Totenklage. Für die tote Magd und für den Fuhrknecht, auch für den Jagdgehilfen. Zuletzt für sich selbst. Den nächsten Tag irrte sie durch den Wald. Weglos war er und kalt. Als die Nacht kam, fanden sie des Sultans Späher. Die Farben von Montalban trägt er, meldeten sie ihrem Herrn, aber jung ist er und hübsch. Blond, ohne Bartflaum, fast noch ein Knabe. Da gefiel es dem Herrn der Nacht, den Fremden zu sich holen zu lassen. Neue Kleider hatte man dem Gast hingelegt, zubereitet ein Bad. Aber als die Diener dem falschen Jagdgehilfen Wams und Hose abforderten, weigerte sich Donna Flor. Wie? sagte der Bademeister, behält man etwa das Hemd an auf Montalban, sogar noch im Bad? Schüchtern bist du Junge, wie eine Jungfrau! Das hörte der Henker, der gerade vorbeikam. Schärfere Augen hatte dieser Schinder, als mancher ehrliche Mann. Er packte Don Rodericks Tochter linker Hand im Genick, führte sie so vor den Thron des Sultans. Wen bringst du mir da, Scharfrichter? fragte der Herr der Nacht. Nackt erlitten Übeltäter von der Hand des Nachrichters Folter und Tod, und entkleidet war Donna Flor, eh sie es gedacht. Unerbittlich untersuchten sie die Finger des Henkers. Doch tat er ihr nicht weh. Ein unschuldig Mädchen also, sagte der Herr der Nacht, erzähle mir deine Geschichte Kind, damit ich ahne, wer zu mir da kam. Und der Sultan wickelte Donna Flor in seinen Mantel, derweil sie sprach. So steht es also, sagte der Herr der Nacht, nachdem die Tochter Don Rodericks geendet. Nur wundern kanns mich leider nicht. In sein Bett geholt hat der Prinz deine Mutter, nachdem in sieben Jahren unfruchtbar geblieben die Königin. Und geboren hat ihm die Kaufmannstochter dich. Erbin bist du der Stadt nach dem Prinzen und Herrin von Montalban. Jedoch um beides und doppelt betrogen, da dich der Infant nicht in Wahrheit als sein Weib erkannt. Aber sorge dich nicht. Süssen Wein gab der Sultan Donna Flor, duftende Kräuter legte er ins Feuer. Sieh in die Zukunft, sagte der Herr der Nacht und die linke Tochter sah Schatten tanzen an der Wand. Sah den Prinzen der falschen Braut den Schleier vom Antlitz reissen. Sah den Brautvater den Bräutigam am Hals ergreifen. Einer von Beiden wird den Kampf nicht überleben, und der Andere wird lahm, so sprach der Sultan, betrogen bist du, aber noch betrügen kannst du den Betrüger. Aber wie? fragte sie. Helfen will ich dir, antwortete der Herr der Nacht, trink, Liebe, dies. Und schlafe süss. Sieben Nächte, so schien es Donna Flor, schlief sie im Palast. Sieben Monde waren es indes. In ihrer Verbannung bei den Jungfern der See trauerte als Witwe des Prinzen die Königin. Den Heiligen Frauen bei der ewigen Flamme übergeben lag stumm, vom Hals abwärts lahm, der Infant von Montalban. Hoffnung gab dem Volk allein seine Gemahlin, Donna Flor. Im siebten Monat schwanger ging die Erbin der Stadt, die Herrin von Montalban.
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Der Heiler von Dakini
Er macht sich auf eine lange Reise. Womöglich ist es schon zu spät?
Zögernd stand er in der Tür. Er sah prüfend in den Himmel, betrachtete die grauen Wolken, die schnell gen Osten zogen, atmete tief die klare, kalte Morgenluft ein. Eine Weile stand er noch still da, bis die Ruhe wiederkehrte und er fühlte, was zu tun war. Entschlossen wandte er sich um und betrat ein letztes Mal das Haus. Irgendetwas in ihm sagte ihm, daß er nicht wiederkommen würde, doch er schenkte der Stimme keine Beachtung. Mit ein paar zielsicheren Handgriffen machte er sich bereit. Bereit zu einer Reise, über deren Ausgang er selbst nichts zu sagen vermocht hätte, ja noch nicht einmal das Ziel war etwas, was er in Worte fassen konnte - falls es überhaupt ein Ziel gab. Bevor er das Haus verließ, öffnete er den Kaninchenstall und ließ die Kaninchen frei. Die Katze war ohnehin freies Leben gewöhnt, sie würde jemand anderen finden, der sie ab und zu mit frischer Milch oder anderen Köstlichkeiten versorgte. Sie strich um seine Beine, als spürte sie den Abschied, und er kniete sich kurz zu ihr nieder und streichelte sie sanft. Dann ging er entschlossen zum Stall und sattelte sein Pferd. Das hier war nicht sein Zuhause. Er hatte ein Zuhause gesucht, und glaubte, es gefunden zu haben - bis ihm klar wurde, daß es für ihn kein Zuhause gab, keines im üblichen Sinn. Seine Heimat war die Wildnis, der Weg, die Weite..... Er ritt davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Lange Zeit ritt er, ohne an irgendetwas zu denken, er ritt und ritt und ließ alles hinter sich, was vergangen war. Das Abenteuer hatte begonnen. An einer tiefen Schlucht machte er halt. Ein wilder Gebirgsfluß bahnte sich donnernd seinen Weg durch den Fels, und er setzte sich ans Flußufer, unter einen riesigen uralten Baum und wartete. Er betrachtete die flachen, glatten Kiesel am Ufer, und er sah am Himmel über sich die Wolken dahinziehen, leicht und mühelos, und es klarte sich auf. Ein Sonnenstrahl berührte sanft sein Gesicht. Er schloß die Augen für einen Augenblick. Die Sonne zauberte ein Lächeln auf sein Gesicht, und der würzige, erdige Geruch des Herbstes strömte in ihn ein, bis er ihn ganz erfüllte, bis in alle Poren seiner Haut, in alle Winkel seines Wesens. Langsam stand er auf, mit geschlossenen Augen zuerst, dann öffnete er sie und betrachtete wieder den Himmel. Eine Schar Zugvögel suchte sich kreischend und tanzend den Weg nach Süden. Er fühlte die Erde unter seinen Füßen, die ihn trug wie immer. Langsam begann er sich zu drehen, nach links, immer weiter und weiter, bis die Bewegung aufhörte und die Stille kam und umfing ihn sacht und die Freude strömte aus seinem Herzen und löste alles auf, was dazwischen lag. Lange Zeit später, als er am Feuer saß und das Spiel der Funken und Flammen betrachtete, geschah es plötzlich. Es geschah immer plötzlich und noch nie war es ihm gelungen, mehr darüber herauszufinden. Es kam einfach, und es war sofort wieder verschwunden, in dem Augenblick bereits, da er es spürte. Es war wie ein Rufen aus einer unbestimmten Wirklichkeit, von fern, wie ein Signal in seinem Herzen, und er fühlte die Dringlichkeit. Vorsichtig erspürte er die Richtung des Rufes, bis er sicher war, dann erhob er sich. Er löschte sorgfältig das Feuer, streichelte sein Pferd sanft an den Flanken und ritt los. Nach kurzer Zeit wurde der Weg sehr steinig, und sie kamen nur schleppend voran. Wildes 34
Gestrüpp durchzog die kärglichen Hügel, es wurde kälter, und der Wind pfiff durch die Bäume. Die Wolken waren wieder aufgezogen. Er ritt, solange der Mond ihm genug Licht bot. Schließlich mußte er anhalten, denn Tiefe Dunkelheit umgab ihn und sein Pferd brauchte Erholung. Bei Anbruch der Dämmerung machte er sich wieder auf den Weg. Noch immer war der Himmel bedeckt mit dicken, schweren grauen Regenwolken und er wußte, es würde ein stürmischer Tag werden. Bald hatten sie das unwegsame Gebirge verlassen, und nun jagten sie durch die Steppe, weiter und weiter. Er gönnte sich nur kurze Pausen. Er wußte, daß jede Stunde zählte. Das Gewitter brach unvermittelt los. Es blitzte und donnerte, und das Pferd scheute zuweilen, doch er spürte, er konnte nicht warten. Sie ritten durch den peitschenden Regen in die beginnende Nacht. Der Sturm nahm ihm fast den Atem, doch er ließ nicht locker. Lange ritten sie so dahin, und das Pferd und sein Reiter verwoben sich zu einem Ganzen, das rhythmisch durch die Dämmerung jagte, bis es keine Zeit mehr gab. Irgendwann legte das Gewitter sich allmählich, der Sturm wurde schwächer, und er machte eine kurze Rast unter einem Felsvorsprung. Sie befanden sich nun nahe bei einem dichten Wald in hügeligem Gelände, und die Wolken rissen auseinander. Der Mond ging auf. Er versorgte das Pferd mit frischem Wasser und wechselte die Kleidung. Er ritt langsam jetzt, sorgsam auf den Weg achtend, in die Richtung, die sein Herz ihm wies. Der Wald wurde langsam lichter und war nun von Feldern und Wiesen durchzogen. Unvermittelt stand er vor einer uralten, mächtigen Festung. Er wußte augenblicklich, daß dies der Ort war, wo er gebraucht wurde. Etwas Schweres umgab diesen Platz. Die Ruhe war eine trügerische Ruhe, sie barg Gefahr und Dunkelheit. Er stand abwartend vor dem Eingang, atmete tief durch und sammelte seine Kräfte. Schließlich trat er ein. Man versorgte ihn mit frischem, kräftigem schwarzem Tee, und er trank ihn langsam in kleinen Schlucken. Sie fragten ihn nach seinem Namen und er wählte einen, der ihm gefiel und nannte ihn ihnen. Sie waren freundlich, wenn auch vorsichtig und scheu. Er stieg die steilen Stufen empor zur Zinne der Festung. Oben sah er über die Brüstung auf das weite Land unter ihm, und der Mond stand ruhig und schön am Himmel wie immer. Die Wolken hatten sich fast völlig verzogen, und die Luft war nach dem Regen klar und rein. Im Mondlicht sah er einen Falken auf Jagd. Er schickte sein Herz zu ihm, und für einige Augenblicke verschmolz sein Geist mit dem Falken, sie wurden eins, und mit mit einem schrillen Schrei zogen sie kreisend ihre Bahn, hoch oben. Jäh ließ der Vogel sich fallen, um eine Beute zu erlegen. Er verließ den Falken und kehrte zu seiner innersten Quelle zurück. Noch einmal sammelte er seine Kräfte, er wußte, er würde sie brauchen heute nacht. Nach einem letzten Blick auf den monddurchfluteten Wald wandte er sich um und begann seine Arbeit. Langsam öffnete er sein Bewußtsein, machte sich leer und weitete seine Wahrnehmung aus, immer weiter, bis alles in seinem Bewußtsein war, was es zu erfahren gab. Er fühlte eine namenlose Dunkelheit in einem Winkel. Er wußte, daß es tödlich wäre, würde er seine Aufmerksamkeit diesem Dunkel gezielt zuwenden. Schnell entschied er, was getan werden mußte. Er begann mit der Reinigung; er nahm das Dunkel, das Elend, den Staub aus jedem verborgenen Winkel auf und mit jedem Atemzug verwandelte er alle Energie in reines Licht, das er aussandte, vordringen ließ, vorsichtig, um niemanden zu erschrecken. Dies war der gefährlichste Augenblick. Behutsam und sacht berührte er Finsternis und Angst, und die grauen Gestalten der Dunkelheit verschwanden durch das Licht, das ausströmte, und er füllte die Räume mit Liebe. 35
Als er erschöpft aufstand, wurde es bereits hell. Silberne Nebelschwaden zogen durch den frühen Morgen und verzauberten die Bäume und Sträuche in geheimnisvolle Wesen aus einer anderen Welt. Nach der rituellen Reinigung verließ er die Festung. Sie hatten eine Unterkunft für ihn bereitgestellt, aber er konnte nicht bleiben. Er sattelte das Pferd, das erwartungsvoll in der dampfenden Stallbox stand, und ritt los. Er fühlte sich leer und kraftlos, doch der junge Morgen schenkte ihm Frische, und als er am Waldrand angekommen war, wußte er, warum sein Herz voll Freude sang. Sie saß an einer Lichtung und stocherte in ihrem Feuer herum. Der Feuerschein spiegelte sich in ihrem Haar und in ihrem Gesicht. Sie sah nur kurz auf, als hätte sie auf ihn gewartet. Dann schaute sie ihn lange an, und er fand zurück zur Stille... Er setzte sich dicht zu ihr, ans Feuer, und barg seinen Kopf in ihrem Schoß. Sie sprachen kein Wort, und sie strich ihm sanft und unendlich liebevoll durchs Haar. Er spürte ihre Wärme und fühlte, wie sein Körper sich entspannte und die Müdigkeit war angenehm und friedvoll. Irgendwann wachte er auf, aus tiefem Schlaf. Die Sonne wärmte ihn, und es duftete angenehm nach Essen. Er hörte sie singen und mit den Töpfen klappern, und er lauschte eine Weile dem Lied der Vögel und dem Rascheln der Blätter im Wind. Als sie sein Erwachen bemerkte, setzte sie sich zu ihm und sie umarmten sich voll Zärtlichkeit. Sie nahmen gemeinsam ihre Mahlzeit ein und für eine Weile umgab sie nur Frieden wie eine helle Wolke. Sie sahen sich in die Augen, lange, und ihre Herzen tanzten das Lied der Freude. Sachte zog er sie an sich und sie öffneten sich füreinander und für das Licht, und Liebe erfüllte sie wie ein klarer Quell aus einem verborgenen Garten. Sie tauchten in ihn ein, in die Wärme, die Sanftheit, in alle Tiefen, bis sie verschmolzen mit dem Meer.... Viel später erhob er sich sanft. Er küßte seine schlafende Gefährtin, vorsichtig, um sie nicht zu wecken, und hinterließ eine Botschaft der Liebe. Er spürte die Vertrautheit, die Verbindung zwischen ihnen wie einen hellen silbernen Faden, unsichtbar, der ihre Herzen miteinander verwob, wo auch immer sie sich befanden.... Er packte seine Sachen und führte sein Pferd langsam aus der Lichtung, bis sie auf einen größeren Weg trafen. Die Nachmittagssonne tauchte alles in bunte Farben, und sie ritten langsam los, weiter in die Ferne. Er mußte zum Meer, und der Weg war noch weit.
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Nachtflüge von Angelika Oehrlein
Lehrzeit einer Hexe.
Nachtflüge Zwingt mich nicht, den Sturm zu wecken. Stutzt nicht meine Flügel.
Mit Sonnenuntergang hatte sich hauchdünner Nebel wie ein Schleier über die Niederung vor dem Haus gelegt. Sie konnte ihn dort fliessen sehen, schweben. Schweben. Kälte war ein Hilfemittel. Kälte und Hunger. Aber noch war es nicht an der Zeit. Noch war es im Haus zu unruhig, kein Stern über den Bergen aufgegangen. Sie wartete geduldig. Die Hitze in allen Räumen war ihr noch ungewohnt. Onkel und Tante konnten sich das viele Holz leisten, aber sie hatte in den letzten beiden Wintern selbst mit dem Reisig für das Kochfeuer sparen gelernt. Die Kühle ihres Schlafzimmers machte ihr nichts aus. Sie hatte die beiden Fenstertüren zum Balkon geöffnet, die kalten Abendwinde willkommen geheissen. Mehr konnte sie, durfte sie nicht tun. Später vielleicht. Unten sassen sie beim Abendessen, tranken Wein. Sie hatte gesagt, dass sie keinen Hunger habe. Zum Glück hatte ihr der Onkel geglaubt und sie gehen lassen. Sie hatte seit Tagen nichts gegessen. Es war ihr schwer gefallen. Das Essen roch gut, besser als Alles, das sie vorher gehabt hatte. Trotzdem, wenn sie es gegessen hätte, wäre sie gezwungen gewesen, es anschliessend wieder auszuspucken. Kälte war ein Hilfsmittel, Kälte und Hunger. Und ihr Hunger war gross. Unter ihr im Tal, wo sich der Nebel immer mehr verdichtete, erwachten allmählich die Geschöpfe der Nacht. Kleine, pelzige Wesen, harmlos und hungrig. Sie konnte ihren Hunger spüren, neben ihrem eigenen. Hunger nach Wurzeln und Beeren, Hunger nach Paarung. Mordlust. Aber nein, nicht einmal der Nachtweih, der Meister der Wüste, tötete zum Vergnügen. Hunger trieb sie alle. Hunger trieb auch sie. Eine andere Art von Hunger. Schweben. Fliegen. Hexen fliegen mit der Nacht. Der Nebel war jetzt eine breite, silberne Strasse. 37
Sie hatten ihr die Kräuter weggenommen. Der Onkel hatte gesagt, sie seien Gift. Aber es würde auch so gehen. Kräuter machten es nur leichter. Kälte und Hunger taten es genauso. Hunger machte den Kopf leicht. Nicht mehr lange. Sie war schon lange bereit. Puls und Atmung wurden langsam, schwangen mit der Nacht. Sie entschloss sich. Es ging ganz leicht. Sie liess sich fallen. Der Nachtwind trug sie hinauf, fast bis zu den kalten Sternen. Jetzt nur keine Angst bekommen. Angst, das wusste sie, holte sie augenblicklich zurück. Aber sie wollte nicht zurück. Die Nacht lockte. Der Onkel hatte ihr verboten, das Haus zu verlassen. Sie sei zu zart, leichte Beute aller Gefahren der Wüste. Vielleicht später, wenn sie kräftiger geworden sei ... Als ob sie auf der Alm, bei der Grossmutter, nicht mit den Ziegen gegangen wäre. Über Stock und Stein. Sie hatte Kraft. Die Kraft und die Macht. Hexen fliegen mit der Nacht. Sie wünschte sich die Wüste. Das offene Land zog sie magisch an. Der Onkel nannte es Wüste, aber es war nicht wirklich tot und leer. Es gab spärliches Gras, Büsche, sogar niedrige Bäume. Tiere lebten auch hier, suchten nach Futter, gingen nächtlich auf Beute aus. Jäger und Gejagte, das alte Spiel. Irgendwo lebte der Nachtweih. Sie fand einen kleinen Tümpel. Merkwürdig, wie nass sich Wasser anfühlte, das ihre Füsse doch gar nicht wirklich berührte. Sie setzte sich auf einen grossen Stein am Ufer, genoss das leichte Grausen, als sie sich über das Wasser beugte. Kein Spiegelbild. Nichts. --Die Tante fand sie am andern Morgen kalt und steif auf den Steinen der Balkonterrasse liegen. »Daran ist nur deine Mutter schuld«, sagte der Onkel, »was hat sie dem Kind diesen Unsinn in den Kopf setzen müssen! Eine Schlafwandlerin im Haus!« Von da an wurde sie verfolgt. Mit Essen und guten Absichten. 38
Sie weinte sich in den Schlaf. Sie nahm zu. Sie lernte. Kochen, putzen, nähen. Ein bißchen tanzen. Für alle Fälle. Zu Spätwinter stellte sich der Sohn des Pächters vom Nachbarhof ein. Er taxierte sie mit den Augen, wie eine Kuh. Sie mochte ihn nicht. »Du hast keine grossen Aussichten«, sagte die Tante, »er würde dich auch ohne Mitgift nehmen.« Der Onkel sagte, das Jahr sei sehr schlecht gewesen. Sie wusste, es war nicht wahr. Scheunen und Vorratsschränke quollen über. Sie erbat sich Bedenkzeit. Bis zum Frühling. --Im Tal scholz der Schnee. Die Tante sagte, sie sei gross geworden, richtig zur Frau erblüht. Aber immer noch so blass. Und: das sei manchmal so, bei jungen Mädchen mit dem Übel des Frauseins. Dafür seien Kräuter erlaubt. Die Bergwiesen hinter dem Haus wurden grün. Auf der Alp lag noch Schnee. Die Hütte der Grossmutter stand seit einem Jahr leer. Sie arbeitete viel. In Haus und Hof, schliesslich auch auf den Wiesen. Der Vorrat der Tante ging zur Neige. Sie kannte alle Kräuter, die Grossmutter hatte sie ihr gezeigt. Die Tante liess sich alles geben, roch, schneckte sogar an Einigen. Die unter der Schürze versteckten fand sie nicht. Es war schwierig. Es ging nur, wenn alles schlief. Sie wurde noch blasser von den heimlichen Nachtwachen, und müder. Sie sagte der Tante, dass sie nicht schlafen könne. Es stimmte sogar. Nur die Gründe nicht. »Es wird Zeit, dass du heiratest«, sagte die Tante, »zu Mittsommer, und keine weiteren Ausreden.« Bis dahin erlaubte der Onkel einen Schlaftrank. Nach dem Rezept der Grossmutter, von der Tante gebraut und ans Bett gebracht. Damit sie nicht auf dumme Gedanken käme. Was sie unter der Matraze hervorholte, dazu noch kaute, sah die Tante nicht. Die toten Kräuter schmeckten bitter. 39
Hexen fliegen mit der Nacht. Ihr erster Ausflug war fast der letzte. Sie war wie im Rausch, versäumte die Zeit. Flog weiter, sah mehr. Die Tante fand sie hoch am Morgen noch im Bett, rüttelte sie wach. Danach war sie vorsichtig. Sie war noch ein Kind gewesen, als die Grossmutter sie eingeweiht hatte. Sie ein Geheimnis gelehrt hatte, das die eigenen Töchter belächelt, oder als Altweibergewäsch abgelehnt hatten. Jetzt war sie erwachsen. Hexen fliegen mit der Nacht. Sie konnte alles sehen, jedes Geheimnis ergründen. Der Onkel schlich sich aus dem Haus, sobald die Tante schlief. Er hielt es im Heu mit den Mägden. Es war nicht schwierig, den Nachtweih zu finden. Schwieriger, ihn zu überreden. Dann, am Tag vor Mittsommer, ging der Onkel auf die Jagd. Oh, wie alt und grau die Tante plötzlich aussah, als sie ihn ihr abends brachten. »Totgebissen«, sagte einer der Männer, die den Onkel auf der Bahre trugen, »das Vieh war wie rasend.« Tot auch der Nachtweih. Die Hochzeit fiel aus. Nach der Beerdigung sagte der Sohn des Pächters, dass für ihn wohl schon eine gute Mitgift herausschauen müsse, wenn er die Junge heiraten solle, die bei der alten Hexe aufgewachsen sei. Man wisse ja nie. Hexen fliegen mit der Nacht. Es war nicht schwierig, den Bullen dazu zu bringen, den Weidezaun niederzuwalzen. Der Rest erledigte sich wie von selbst. Die Leute sagten, die Tante habe den Stier verhext und auf den Sohn des Pächters losgelassen. Weil er mit ihr nicht über die Mitgift für die Nichte habe einig werden können. Und: schliesslich sei die Alte die Tochter einer Hexe. Sie war im Wald, pflückte Pilze, als die Büttel die Tante holten. Haus und Hof fielen an den Vogt. Ihr blieb das nackte Leben. Und die Hütte. Die Leute im Dorf sahen ihr schweigend zu, wie sie ging. Einige spuckten auch hinter ihr her. Sie zog zurück auf die Alm. »Du kannst nichts dafür«, sagten die Hirten, »du bist ist nur ein Mädchen.«
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Sie machten ihr kecke Angebote. Aber heiraten wollte sie keiner. Der Winter war hart. --Als der Schnee schmolz, kamen die ersten Frauen aus dem Dorf. »Du redest doch nicht?« Sie gab Allen Kräuter. Sie hatte kommen sehen, dass sie kommen würden. Sie wusste jeden Kummer im Dorf, kannte alle Geheimnisse. Hexen fliegen mit der Nacht. Sie hatte schon im Herbst mit dem Sammeln begonnen.
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Die letzten sechs Minuten von Xaver Matthias
Was würden Sie in den letzten sechs Minuten ihres Lebens machen?
Gleich nach der Ankündigung der Notlandung hatten die Stewardessen den Passagieren die Tablette mit dem Abendessen weggenommen. Karl J. hatte noch gewitzelt: "Aber lassen sie mich doch fertig essen. Mit vollen Bauch stirbt‘s sich leichter!" Die Stewardeß hatte nichts gesagt, ihm nur das Tablett entrissen. Nun kommt die zweite Durchsage. Der Flugkapitän bemüht sich kaum die Panik in der Stimme zu unterdrücken. "Leider erreichen wir den Flughafen Halifax nicht mehr. Wir werden auf offener See notwassern. Legen sie bitte ihre Schwimmweste an! Sofort! Die Landung auf dem Wasser wird sehr hart sein, stecken sie Kopf zwischen die Knie und legen sie Hände über den Kopf. Wir werden in etwa sechs Minuten unten sein." Karl legt seine Schwimmweste an. Sein Sitznachbar, ein Geschäftsmann im dunkelblauen Anzug, stiert mit glasigen Augen den Sitz vor ihm an. "Vater unser, der du bist im Himmel.", stammelt er. Mit rasendem Tempo wieder und wieder – immer nur diesen einen Satz. "Das ist die alte Fassung. Vater unser im Himmel- heißt es heute!", denkt Karl. "Vater unser, der du bist.." hatte ihm seine Oma auch noch beigebracht. Karl legt seine Schwimmweste an. Da sein Nachbar keine Anstalten macht, auch der Anweisung des Piloten Folge zu leisten, holt Karl die Schwimmweste unter dem Sitz hervor und streift sie dem Nachbarn über den Kopf. Dieser löst die im Gebet verkrampften Finger und fährt durch die Armlöcher. "Danke", murmelt er. "Sie sollten auch den Kopf zwischen die Knie stecken!", sagt Karl. Er kommt der Aufforderung sofort nach. Sein Gebet geht in ein leises Murmeln über. Irgendwo schreit ein Baby, einige Sitzreihen weiter hört er eine Frau in einer fremden Sprache schreien - französisch wahrscheinlich. Es stinkt furchtbar. Einige Passagiere haben Darm und Blase entleert. Wäre nicht schlecht, wenn ich auch in die Hose scheissen könnte, bei inneren Verletzungen hat man mit leerem Darm bessere Überlebenschancen. Das Flugzeug baut mit einer steilen Rechtsspirale schnell Höhe ab. Bevor auch er die crash-Haltung einnimmt, sieht er sich noch mal um. Das fahle Licht der 42
Notbeleuchtung läßt nicht viel erkennen. Neben ihm, auf der anderen Seite des Ganges, ein altes Ehepaar. Aufrecht, die Schwimmwesten angelegt, halten sie sich die Hände und starren ins Dunkle. Sie haben ihr Leben gelebt, Kinder groß gezogen, ein halbes Dutzend Enkelkinder warten auf Oma und Opa. Für die ist es leicht, dem Tod ins Angesicht zu schauen. Aber vielleicht sind sie nicht gefaßt, vielleicht ist es auch nur das blanke Entsetzen. Karl denkt an seine eigenen Kinder, die Lebensversicherung, hoffentlich findet Christine die Police gleich, wenn ... Er wagt es nicht mal in Gedanken, das Wort auszusprechen. Vor dem Ehepaar sitzen eine Mutter und ihr Kind. Die Mutter deckt mit ihrem Oberkörper des Kopf des Kindes. Wenn meine Kinder hier wären, ich würde durchdrehen. Das Baby schreit immer noch. Weiter vorne sieht er den Typ mit dem Cowboyhut. Vor dem Einsteigen ist er ihm schon aufgefallen, mit seinem vom Saufen roten Gesicht. Leicht angetrunken hatte er dümmliche Witze gerissen. Nun raucht er ein Zigarette. "Die anderen schissen in die Hose, ich habe ganz cool eine geraucht." So wird er vor seinen Kumpels am Tresen angeben, wenn alles gut geht. Dieses Arschloch! Hoffentlich fliegt ihm bei der Landung ein Trumm in die Fresse. Ein neuer Gedanke schießt ihm durch den Kopf. Hinten im Heck sind die Chancen besser. Vielleicht ist dort noch ein freier Platz - oder ich kann mir einen freien Platz schaffen. Eine Frau, ein Kind oder einen alten Mann aus dem Sitz reißen und in den Gang stoßen. Nachher wird niemand mehr danach fragen. Doch statt dessen steckt Karl nun auch den Kopf zwischen die Knie und beginnt auch zu beten. "Vater unser, der du bist im Himmel. .." Wieder und wieder betet er das Vaterunser. So schnell, daß es seine ganze Aufmerksamkeit braucht und er an nichts anderes denken kann. Sterbende und Menschen in höchster Lebensgefahr sollen ihr Leben wie einen Film sehen. Doch Karl sieht nur ein Bild. Er, der kleine Junge, lernt im Zimmer seiner Oma das Vaterunser. Sein jüngster Sohn ist jetzt im gleichen Alter. Nur nicht an die Familie denken! Weiterbeten! Heftiges Rütteln erzwingt sein Aufblicken. Das Flugzeug rollt um die Längsachse und ist steil nach vorne geneigt.
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Der Pilot versucht, die Maschine möglichst flach auf dem Wasser aufschlagen zu lassen. Doch die Neigung wird nicht flacher, nur das Rollen wird immer heftiger – die Maschine droht jeden Moment über einen Flügel seitwärts ab zu kippen. Als seine Seite unten ist, sieht Karl durch das Fenster das Meer - so nahe, so schnell näher kommend. Den Mond als Lichtstreifen im bewegten Wasser. Einige Sekunden später ist Karls Seite wieder oben - Sterne am klaren Himmel. "Das ist ein Absturz! Gleich werde ich tot sein. Warum bin so ruhig?", denkt er. Er schließt die Augen. Als letzten den Anblick des Sternenzeltes mitzunehmen.
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