BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 39
NOTRUF DER CIRR von Manfred Weinland
Die RUBIKON hat die Große Magel...
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BAD EARTH Die große Science-Fiction-Saga Band 39
NOTRUF DER CIRR von Manfred Weinland
Die RUBIKON hat die Große Magellansche Wolke erreicht. Von dort flohen die Foronen vor Jahrzehntausenden an Bord der SESHA-Arche vor den übermächtigen Virgh. John Cloud gelingt es mit seinen Gefährten, die Macht über das Schiff an sich zu reißen. Ein historischer Moment, denn Sobek und Siroona, die bisherigen Herren an Bord, werden zu Gefangenen. Dennoch ist eine Rückkehr zur Milchstraße vorerst ausgeschlossen. Die RUBIKON ist beschädigt, und so bleibt nur der weitere Vorstoß in die sehr viel näher gelegene alte Heimat der Foronen. Und während in der heimatlichen Milchstraße Zukunftsweisendes geschieht, der Konflikt zwischen Erinjij, Jay'nac und den Völkern der Allianz CLARON offen ausbricht, findet die RUBIKON in der Urheimat der Foronen erste Spuren der gefürchteten Virgh. Damit einher
geht die Begegnung mit den Satoga, die aus der Kleinen Magellanschen Wolke stammen. Ihr Anführer Artas zerstört einen ganzen Planeten samt darin entdeckter Virgh-Brut. Und dann, nach einer kurzen Phase trügerischer Ruhe, überschlagen sich die Ereignisse...
1. In der Ödnis des Alls trieben die Trümmer einer ganzen Welt. Der Anblick... nein, wohl eher das Gefühl für die Katastrophe, die sich hier ereignet hatte, rief in John Cloud ein beklemmendes Gefühl hervor. Es war sehr viel stärker als die Anspannung, die ihn ohnehin jedes Mal befiel, sobald er sich in den Sarkophag zurückzog. Der Sarkophag: einer von insgesamt sieben Kommandositzen in der Zentrale der RUBIKON. Eine Einrichtung, so über allem stehend, was er als Mensch des 21. Jahrhunderts auf der Erde kennen gelernt hatte, dass sie ihm immer Unbehagen verursachen würde – was daran liegen mochte, dass sie nie für Menschen geschaffen worden war, sondern für Außerirdische. Foronen wie Sobek, Siroona, Mont, Mecchit, Sarac, Ogminos und Epoona – der Herrscherrat, der einst über zahllose Welten der Großen Magellanschen Wolke geherrscht hatte. Bevor die Virgh aufgetaucht waren. Bevor die Virgh ihre Macht brutal demonstriert, das foronische Reich überrannt und sämtliche Welten verglast hatten. Verglast... Schon der Begriff rief einen Schauder hervor. Umso mehr bei jemandem, der das Resultat gesehen hatte. Cloud hatte es gesehen – auf Galvaur. Und auf Zentalo, dem Planeten, dessen Reste jenseits des Stahls der RUBIKON durch den Permafrost des Weltraums
trieben – eine ehemalige Foronenwelt, von den VirghAggressoren vor langer, langer Zeit – einer halben Ewigkeit – nicht nur unbewohnbar gemacht, sondern... Sondern was? Cloud spürte mit den künstlichen Sinnen des Schiffes nach einem viele Kilometer durchmessenden schroff zerklüfteten Felsen, der wie eine Klippe in der Samtschwärze des Vakuums aufragte. Artas' Bombe hatte den Himmelskörper zerrissen, der von einer glasartigen Schicht mit psionischer Ausstrahlung umhüllt gewesen war – und in dessen Innern sie etwas entdeckt hatten, wonach sie zwar gesucht, das sie so aber nie zu finden erhofft hatten. Virgh! Schlafende, seltsam – gespenstisch! – verpuppte Virgh, die dort im Innern Zentalos geschlafen hatten. Oder konserviert gewesen waren. Oder schlicht begraben...? Umschlossen vom Sarkophag, der ihn von der Bordzentrale abschirmte und ihm ermöglichte, sich ganz auf das Schiff, ganz auf dessen feinfühlige Steuerung einzulassen, schüttelte er den Kopf. Nein. Nicht begraben, dachte Cloud. So wie Jarvis und Artas es beschrieben hatten, war die entdeckte Brut noch sehr lebendig gewesen, nur inaktiv, wie abwartend... wie auf den Tag, die Stunde zudämmernd, da sie schlüpfen, erwachen durfte... Oder musste. Artas hatte diesem Zustand ein rigoroses Ende bereitet – ein gewiss anderes Ende, als es sich die schlafende Brut erhofft hatte. Falls sie bereits des Hoffens und Denkens fähig gewesen sein sollte.
Zentalo war durch die Gewalt einer Megabombe zerrissen worden, und seine Eingeweide trieb jetzt dort draußen – Splitter, Scherben, von kilometergroß bis staubfein. Die gewaltigsten Trümmer untersuchten sowohl die RUBIKON als auch die PERSPEKTIVE der Satoga, dem Schiff, das Artas führte. Cloud schüttelte die Gedanken an das Geschehene ab und konzentrierte sich allein auf das Manöver, das ihn noch näher an den Berg im All heranführen sollte. Die Sensoren des Schiffes tasteten über die Bruchstellen des toten Giganten, der bald von dem Muttergestirn eingefangen werden würde. Sein Schicksal würde es sein, in der Systemsonne zu verglühen. Dem verheerten Brocken, diesem aus dem Planetenkörper herausgerissenen Batzen, war es vermutlich gleichgültig. Aber vielleicht... Vielleicht nicht dem, was in ihm ruht und immer noch lebt, überlegte Cloud. Dies herauszufinden, war Sinn und Zweck dieses Unternehmens, das sie immer noch ans Zentalo-System band. Obwohl nicht auszuschließen war, dass bereits eine Vergeltungsflotte hierher unterwegs war. Um zu bestrafen, was Menschen und Satoga den Virgh angetan hatten. Und falls sie auch nur andeutungsweise dem entsprachen, was die Foronen über sie berichtet hatten, würden sie in diesem Falle auch nicht unterscheiden, wer die Bombe gezündet hatte. Die Gefahr schweißte Satoga und Menschen zusammen. Und so hielt ein Teil John Clouds auch unaufhörlich Ausschau nach dem geringsten Anzeichen, dass sich ihre Befürchtungen bewahrheiteten. Dass Virgh im Zentalo-System erschienen – wache, agile und kompromisslos zurückschlagende Virgh! Aber solange
sich dafür noch kein Anhaltspunkt ergab, wollte Cloud die Chance nutzen, mehr über den einstigen Gegner der Foronen herauszufinden – das mutmaßliche Herrschervolk dieser Kleingalaxis. Näher und näher heran rückte die gewaltige Klippe, in deren Innern die Ortung der RUBIKON einen künstlichen Hohlraum und ebenso schwache, wie fremdartige Vitalimpulse geortet hatte... *** Das Zentalo-System... Sechs Planeten unterschiedlicher Größe, die weiterhin ihre Bahnen um das Zentralgestirn zogen. Einige besaßen Monde, einige hatten Atmosphären. Aber keine dieser Welten war in der Lage, Leben, wie Cloud es kannte, hervorzubringen oder auch nur zu bewahren. Im Gegensatz dazu das Trümmerstück, auf dessen Parallelkurs sich die RUBIKON gesetzt hatte. Nachdem die geschlossene Struktur der einst Planeten umspannenden PSI-Kruste aufgeplatzt war, waren Lebensimpulse, mochten sie auch noch so fremdartig sein, angemessen worden. Plötzlich, noch während er die eingehenden Daten für sich verarbeitete, wurde das Verlangen fast übermächtig, selbst in diesen zersprengten Teil der einstigen Planetenkruste vorzustoßen. Selbst dort nach dem Rechten zu sehen. Aber es war unmöglich. Er war gefesselt. Mit der seltsamsten Fessel, die einen
Menschen je in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt hatte. Das Schiff – präziser ausgedrückt: die Schiffs-KI – ließ es nicht zu, dass er die RUBIKON verließ. Aus Gründen, die sie ihm bislang nicht völlig offen gelegt hatte, akzeptierte sie ihn seit den Geschehnissen im Sonnenhof als einzige Autorität an Bord, von der sie Befehle entgegennahm. So hatte er Sobek und Siroona abgelöst, die im Gegensatz zu ihren Artgenossen im Schmelztiegel der Schwarzen Sonnen zwar nicht getötet, aber verändert worden waren. Ihre Gehirne hatten Schaden genommen – nicht in dem Umfang, dass sie zu lallenden Idioten verkümmert wären, wohl aber so weit, dass die Schiffs-KI sie offenbar nicht mehr erkannte. Oder zumindest in dieser Verfassung nicht mehr akzeptierte. Offenbar hatte die Schiffs-KI den psychischen Schaden der beiden überlebenden Foronen als irreparabel eingestuft. Jedenfalls hatte sie keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, die Mitglieder des Herrscherrats zu heilen. Was Cloud auch nicht ohne weiteres zugelassen hätte – in der Position, in der er sich nun befand: Kommandant und Gefangener in einem. Welch abstruse Situation. Wir schleusen Roboter aus, befahl er SESHA, der künstlichen Intelligenz des Schiffes. Ich will niemanden gefährden. Die KI setzte Clouds Befehl unverzüglich in Taten um... *** Der zerstörte Planet hatte zahllose dieser Kavernen enthalten. Hohlräume, in denen »eingesponnene« Kreaturen ruhten, die wie eine Mischung aus irdischem Spinnen- und
Krabbengetier wirkten – nur um ein Vielfaches größer. Andere, kathedralenartige Bereiche hatten Schiffe beherbergt, Raumschiffe, auf ebenso gespenstische Weise »eingemottet« wie die Virgh selbst. Beides hatte den Anschein vermittelt, als warteten die Schläfer nur darauf, den Weckimpuls zu erhalten, ihre zeitlose Starre abzustreifen und die bereit stehenden Schiffe zu bemannen. Als hätten sie vom Plan der Foronen gewusst, durchrann es Cloud. Und ihre Gegenstrategie dazu entwickelt. Vieles sprach tatsächlich dafür, dass die Virgh damals sämtliche Welten der Foronen überrannt, die Bewohner getötet, die Städte und sonstigen Bauten zerstört und dann die nackten Planeten für ihr weiteres Vorgehen präpariert hatten. Obwohl Cloud sich ermahnte, keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, musste er sich eingestehen, dass diese Einschätzung bereits fest in ihm verwurzelt war. Die Satoga hatten bestätigt, weitere Welten – abseits von Galvaur, abseits von Zentalo – im gleichen Zustand vorgefunden zu haben: verglast und höchstwahrscheinlich mit Virgh-Brut verseucht! Dadurch ergab das Vorgehen der Virgh damals immer weniger Sinn. War es denkbar, dass sie die Große Magellansche Wolke nur erobert hatten, um die Saat einer Folgegeneration auszubringen – oder sich in die Tiefen psionisch ummantelter Planeten zurückzuziehen? Der Gedanke, sie könnten dies nur getan haben, um in ferner Zukunft – der jetzigen Gegenwart – da zu sein, falls es den Foronen einfiel, wieder in ihre Urheimat zurückzukehren, war... Cloud stockte. Es fiel ihm schwer, das passende Wort für diese Möglichkeit zu finden. Andererseits sprach die künstliche Formation von Sonnengebilden draußen im Halo der GMW für die These, mochte sie auch noch so aberwitzig klingen. Die Schwarzen Sonnen hatten einen gezielten Lockruf in
Richtung Milchstraße abgestrahlt – auf Foronisch. Dorthin, wo die SESHA – die jetzige RUBIKON – einst mit den letzten Foronen an Bord geflohen war. Es gab keine Anzeichen dafür, dass auch die Virgh jemals die Distanz zur großen Nachbargalaxie überbrückt hatten. Daran zu glauben, dies wäre ihnen technisch nicht möglich gewesen, war mehr als nur illusorisch. Nicht nur der Sonnenhof bewies, wozu sie fähig waren – letztlich bezeugte dies allein schon die Tatsache, dass sie die hoch entwickelten Foronen damals offenbar mühelos aus deren Heimat hatten vertreiben können. Außerdem stand nach wie vor die Frage im Raum, von wo die Virgh stammten. In Gesprächen mit Sobek war eines völlig klar geworden: Bei den Virgh handelte es sich um keine Spezies, die sich allmählich in der GMW entwickelt hatte und irgendwann außer Kontrolle geraten war. Sie kam von außerhalb. Und außerhalb bedeutete offenbar weder die Kleine Magellansche Wolke – dann hätte Artas sie kennen müssen –, noch die Milchstraße, wo es sicherlich auch die ein oder andere Spur von ihnen hätte geben müssen, auf die zumindest die Foronen einst gestoßen wären. Cloud rief eine generierte Darstellung der lokalen Gruppe ab, zu der außer der Milchstraße auch noch Andromeda als Großgalaxie gehörte, darüber hinaus etliche kleinere Sterneninseln, angefangen von Sculptor über Fornax bis hin zur fernen Triangulum-Galaxis. War eine dieser Galaxien die Urheimat der Virgh? Oder lag deren Herkunft noch viel tiefer im Dschungel des Kosmos verborgen? Die einzige Möglichkeit, dies herauszufinden – was nicht einmal den Foronen von damals gelungen war –, bestand darin, einen oder mehrere Virgh lebend in die Hand zu
bekommen. Und ihnen ihr Wissen abzupressen. Als Clouds Gedanken an diesem Punkt angelangt waren, erreichte der ausgeschleuste Roboterschwarm durch ein Labyrinth von Gängen, die wie zerrissene Adern im Torso eines Giganten anmuteten, einen intakt gebliebenen Bereich im Innern des Planetentrümmers. Es kostete Cloud nur einen knappen mentalen Befehl, dann wechselte er im Geiste hinüber und sah mit den Augen der Maschine... *** Eine bizarre Umgebung. Ein seltsames, den Atem selbst über die Entfernung hinweg erschwerendes, ihn beinahe abschnürendes Licht. Cloud regte sich auf seinem Sitz. Unbewusst. Er war dort, wo die Augen des Spinnenroboters schauten, in den er geglitten war. Die Wände, die sich glatt und schlauchförmig durch das Erz wanden, atmeten diesen erstickenden, lähmenden Schein aus. Abrupt endete der Tunnel vor einem rubinrot glimmenden Schott. Es strahlte, als wohnte ihm Kraft, spielerisch gezähmte, unbekannte Energie inne. Cloud lenkte die Maschine näher. Ganz nahe. Ein Ausleger, ein Gliedmaß seiner fernen Körperprothese berührte die Barriere – und etwas brannte, bohrte, fraß sich sengend in Clouds Geist! Er prallte zurück.
Als er sein Bewusstsein erneut in den Robot leiten wollte, stellte er fest, dass es nicht möglich war – nicht in denselben Robot jedenfalls... Also wählte er einen anderen. Andere Augen, anderer Körper. Insektenhaft näherte er sich dem zerschmolzenen Klumpen, der einmal er – nein! – der einmal das Ding gewesen war, in dem er sich zuvor eingenistet hatte. Noch während er es musterte, schickten die anderen Robots ihre Informationen zur RUBIKON, und die KI wertete sie aus und machte Cloud die Daten zugänglich. Ein Fenster öffnete sich in seinem Verstand. Ein Nebenschauplatz, auf dem er alle relevanten Daten des Zwischenfalls abrufen konnte. Gleichzeitig näherte er sich erneut der Barriere. Das Rubinrot war zu einem fast absoluten Schwarz geronnen. Eine Reaktion auf den Zwischenfall? Cloud wusste nun, dass es sich um kein materielles Hindernis handelte, sondern um ein energetisches. Die ebenfalls anwesenden Maschinen hatten die Energieausschüttung in dem Moment festgehalten, in dem der Spinnenrobot zerstört worden war. Die Drohne, in der Cloud diesmal steckte, baute auf seinen Befehl hin eine Aura auf, die dem eruierten Energieniveau eins zu eins entsprach. Im Schutz dieser Hülle berührte Cloud das Hindernis erneut und... Wieder fand er sich im Sarkophag-Sitz der RUBIKON wieder. Erneut wechselte er die Maschine – neue Augen, neuer Körper.
Die Barriere schimmerte nun blau. Kobaltblau und giftig. Cloud hatte begriffen, noch bevor ihm die KI neue Daten übermittelte. Der Energie-Level war nicht konstant, sondern variierte nach jeder Attacke. Diesmal ging Cloud anders vor. Nacheinander schickte er die ihn begleitenden Robots gegen die Wand. Sie zerschmolzen, einer nach dem anderen. Jedes Mal wechselte das Energieniveau, ersichtlich an der veränderten Färbung der Barriere. Wie erhofft kehrte das Rubinrot nach einigen Versuchen wieder. Auch die begleiteten Messungen bestätigten Clouds Verdacht. Er passte das ihn umgebende Feld an und jagte im nächsten Augenblick auf seinen Spinnenbeinen wie ein Geschoss auf die Barriere zu. Unwillkürlich erwartete er das Aus, die Blindheit, das abermalige Scheitern. Aber die Maschine trug ihn durch die Schwärze hindurch, als wäre sie kein Hindernis, nur ein Vorhang aus gefärbter Luft, und dahinter – war Luft! 83,8 % Stickstoff, 12,9 % Sauerstoff, 3,3 % Kohlenstoffdioxid, übermittelten die Sensoren, die längst auf irdische Parameter eingestellt waren. Clouds Geist in der Maschine befand sich in einer Höhlung, einer Kaverne, wie er sie bereits kannte, wenn er sie auch nie betreten hatte. Und überall waren Virgh! Eindeutig lebende, sich regende Virgh...
*** Die Bombe des Satoga Artas hatte nicht ganze, hatte nicht perfekte Arbeit geleistet. Nun war es sicher. Und auch wenn Cloud dies für sein Vorhaben begrüßte, wenn es ihm entgegenkam, so barg es doch die Möglichkeit in sich, dass dieses Zentalo-Trümmerstück nicht das Einzige war, in dem Virgh-Brut überlebt hatte. Virgh-Brut... Nicht zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie bereitwillig er sich immer wieder auf das Gleis begab, das Sobek und die anderen Foronen zeichneten: die Virgh, das Grundböse. Keine denkenden, fühlenden Geschöpfe, sondern Monstren! Eine Vorstellung, die er – wann immer er sich dabei ertappte, sie kritiklos übernehmen zu wollen – sofort von sich wies. Ein Reflex, über den er dankbar war, denn: Was wussten sie schon wirklich über diese Spezies, die zur Nemesis der Foronen geworden war? In Tovah'Zara, aus dem Mund des Protowesens Taurt, hatte Cloud erfahren, wie Sobeks Volk kosmische Geschichte geschrieben hatte. Wie es seine Heimat hatte verlassen und in der Milchstraße ein Versteck vor seinen Vertreibern hatte finden müssen – so war der Aqua-Kubus entstanden. Aber Taurt hatte stets aus dem Blickwinkel der Foronen geschildert, ebenso wie Sobek oder Siroona. Wann in diesem »Anklage-Plädoyer« war der Anwalt der Gegenseite zu Wort gekommen? Nie... Die Virgh, wie sie von den Foronen gezeichnet wurden, waren stumpfsinnige Bestien, zum Töten und Kämpfen geboren. Sie waren von keiner Religion oder kulturellem
Schöngeist beleckt, von keiner Moral in Schranken gewiesen. Cloud betrachtete dieses Profil der Virgh zunehmend als viel zu simpel gestrickt. Insbesondere seit er die Foronen in Aktion erlebt hatte. Bereits die Entstehungsgeschichte Tovah'Zaras hatte kein positives Licht auf die Mentalität der Foronen geworfen. Kaltblütig und skrupellos hatten sie andere Spezies unterdrückt und missbraucht, um sich selbst eine Zukunft zu sichern. Aber Sobeks Verhalten bei den Jaroviden hatte dem Ganzen die Krone aufgesetzt. Spätestens da waren nicht nur Cloud die Augen aufgegangen. Spätestens da hatten die Zweifel an der Foronen-Version ihrer Leidensgeschichte die Oberhand gewonnen. Er hatte mit Scobee darüber diskutiert, mit Jarvis, Jelto und Aylea. Selbst mit dem rätselhaften Saskanen Boreguir. Keiner hatte sich bemüßigt gefühlt, die Foronen und ihr Verhalten verteidigen zu wollen. Und nun stand Cloud im Körper der Maschine denen gegenüber, die – nachdem Sobek und Siroona aller Macht enthoben waren – vielleicht fähig waren, die Virgh-Version der Geschichte darzulegen. Falls ein Kontakt, falls eine Kommunikation zustande kam... Es war ein kritischer Moment. Schließlich war es möglich, dass eine erfolgreiche Verständigung mit den Virgh dramatische Folgen für die RUBIKON-Besatzung haben würde. Vielleicht hatten Taurt, Sobek und andere Foronen die Menschen von Anfang bis Ende belogen und über die Motive der Virgh im damaligen Krieg getäuscht. Dann würde es schwer sein, vor ihnen – und vor sich selbst
– zu verantworten, was auf Zentalo geschehen war. Die Zerstörung dieser Welt und die Massentötung der darin schlafenden Virgh würde eine völlig neue Betrachtungsweise erfordern. Wenn das so ist, sind wir Mörder, dachte Cloud, und wir haben maßlose Schuld auf uns geladen. Allen voran natürlich Artas von den Satoga... Aber auch wir – weil wir es nicht verhindert haben... *** Cloud drang tiefer in die gespenstischen Hallen des Planetentrümmers vor. Er registrierte jedes Pochen von Energie, das die vermutlich uralten Anlagen am Laufen hielt, die wiederum organisches Leben bewahrten, es hegten und pflegten. Leben ohne Hoffnung... Cloud wusste, dass er ein Risiko einging. Aber ihm war auch klar, welche Verantwortung er trug. Er konnte nicht länger auf Foronen-Geschwätz bauen. Er musste sich eine eigene Basis für Wissen schaffen. Die Satoga schieden aus. Ihre Kenntnisse über die GMW waren mehr als begrenzt. Sie befanden sich selbst zum ersten Mal auf diesem Territorium. Sie waren nur Kundschafter und Forscher. Wie wir... Wenn wir klug sind, schickte Cloud seinem ersten Gedanken nach einer kurzen Pause hinterher. Er erreichte die erste und nächstgelegene Apparatur, in der
es sich rührte. Der Virgh darin war eingesponnen wie in einem Kokon. Er hing etwas seitlich, sodass es Cloud möglich war, die Unterseite des absonderlichen und durchaus Grauen erweckenden Körpers zu betrachten. Die sechs äußeren und dominierenden Extremitäten waren jeweils etwa anderthalb Meter lang und besaßen an der dicksten Stelle einen Durchmesser von gut vierzig Zentimeter. Diese Gliedmaßen waren segmentiert wie bei einem Wurm, was auf eine enorme Flexibilität und Beweglichkeit schließen ließ. Sie liefen spitz aus und endeten in einer Art Dorn, der ganz leicht gekrümmt war und eine gefährliche natürliche Waffe sein musste. Aber ein Geschöpf wie die Virgh bedurfte anderer Extremitäten, feingliedriger, um die Stufe auf der Leiter der Evolution zu erklimmen, die er offensichtlich erreicht hatte. Mit den handwerklichen Möglichkeiten des dominierenden äußeren Kranzes von Gliedmaßen ließ sich keine Technik entwickeln – nicht einmal nach primitivsten Maßstäben. Aber es gab noch einen zweiten, inneren Kranz, der diese Erfordernisse zu erfüllen schien. Er ordnete sich um eine Art Scheibe, die die Nabe der äußeren Gliedmaßen bildete. Die davon ausgehenden Ärmchen waren nicht segmentiert, dafür aber mit fingerartigen Gelenken ausgestattet, die fast zerbrechlich wirkten. Waren die mächtigen Gehwerkzeuge des Außenkranzes grün in ihrer Färbung, so war das Fleisch der Unterseite, in unmittelbarer Nähe der zweiten, wie nachträglich aufgesetzt wirkenden Extremitäten blassrot. Verletzlich, dachte Cloud. Hier scheint der wunde Punkt, die Schwachstelle eines Virgh zu liegen. Sicher konnte er sich dessen nicht sein. Er suchte nach Augen. Er suchte nach Mund und Ohren – oder deren Äquivalent.
Er fand nichts dergleichen. Vielleicht waren sie unter Hautwülsten oder anderweitig verborgen. Aber immer wieder wanderte sein Blick zur Nabe zurück. Sie war dunkel, fast schwarz auf ihrer pizzatellergroßen Oberfläche und erinnerte ihn entfernt an die Membran im Gesicht eines Foronen – die auch keinen Mund, keine erkennbaren Augen besaßen. War dieses Prinzip auch den Virgh zu Eigen? Besaßen sie überhaupt eine Lautsprache, oder waren sie Telepathen? Die Vorstellung, dass – während Cloud selbst ganz nah bei ihm stand – der Virgh in seinen Gedanken espern könnte, ohne dass er es bemerkte, schürte Clouds Unbehagen noch mehr. Er zwang sich zur Eile und rief die anderen, noch verbliebenen Spinnenroboter herbei. In Zusammenarbeit mit SESHA analysierte er den Aufbau der Anlage. Die Kaverne durchmaß gut fünfzig Meter und hatte sich im Moment der Planetensprengung und der damit verbundenen Zerstörungen im Umfeld offenbar augenblicklich zu schützen gewusst. Die geborstenen Gänge waren mit Energiebarrieren »abgedichtet« worden. Die Höhle selbst war allem Anschein nach völlig autark und besaß ihre eigene Stromversorgung. Sie war ein Mikrokosmos in sich, der nahe legte, dass es noch mehr Überlebensbereiche wie diese geben mochte, weit über das Zentalo-System verstreut. Eine Zählung ergab, dass sich fast tausend Virgh-Kokons in dem Hohlraum des Planetentrümmers befanden – auf relativ winzigem Raum also. Über die Gesamtzahl, die sich einmal über die gesamte, damals noch unzerstörte Welt verteilt hatte, mochte Cloud nicht einmal spekulieren. Aber Scobee und Jarvis hatten noch weit größere Höhlen entdeckt. Cloud mochte auch nicht an die anderen Kavernen denken, in denen sich einsatzfähige Raumschiffe befunden hatten, die
nur darauf warteten, mit ihren Besatzungen bemannt zu werden... Er tat, was getan werden musste. Das, wovon er glaubte, es tun zu müssen. Die Virgh-Technik ähnelte der Foronen-Technik nur rudimentär. Aber es gab grundsätzliche Gesetzmäßigkeiten, die sich auch hier im Bauch des Planetentrümmers wieder erkennen ließen. Und es gab ein paar wenige Informationen, die Cloud in den Tiefen der RUBIKON-Datenbänke ausfindig machte. Gemeinsam mit der KI, die in permanenter Verbindung mit ihm stand, entwarf er eine Methode, einen der Virgh-Kokons samt seinem fremdartigen Lebenserhaltungssystem zu isolieren. Die verbliebenen Spinnenroboter widmeten sich zwei Stunden lang dieser gemeinschaftlichen Bemühung. Endlich war es geschafft, und Cloud befahl den Rückzug – mitsamt ihrer Beute. Lassen wir eine Bombe zurück?, fragte SESHA. Cloud verneinte. Sie stellen keine Gefahr dar – selbst wenn sie nach und nach erwachen. Es sind so wenige. Wir wissen nicht, wie viele Welten von ihnen ähnlich präpariert wurden wie Zentalo, aber wir können davon ausgehen, dass ihre Zahl immens ist. Sie besitzen keine Raumschiffe in diesem abgesprengten Teil, das hätten wir geortet. Sie werden erwachen, um zugrunde zu gehen – oder sich wieder in den Schlaf zurückziehen. Ich will mich nicht zum Richter über sie erheben. Aber es sind Bestien!, verdeutlichte die KI den von ihrer Programmierung geprägten Standpunkt. Es bleibt dabei. Cloud war fest entschlossen, sich zu den Virgh eine eigene Meinung zu bilden.
Der in diesem Moment von den Robotern hertransportiere Gefangene konnte dabei helfen – wenn er die RUBIKON lebendig erreichte. Und sich zur Kooperation überreden ließ... Cloud versuchte, sich Sobeks Reaktion vorzustellen. sobald er erfuhr, dass der Feind an Bord gelangt war. Aber er würde mit dem Foronen ebenso wenig darüber diskutieren wie mit einer KI. Was ihn nicht aus der Erklärungsnot rettete. Es war unwahrscheinlich, dass diejenigen an Bord, die er als seine Freunde betrachtete, wegen seiner Entscheidung in Begeisterungsstürme ausbrechen würden. Zu tief verwurzelt war inzwischen die Vorstellung, dass die Virgh furchtbare, gnadenlose Monster waren. Was nach Scobees und Jarvis' Abenteuer im Inneren von Zentalo ja auch kein Wunder ist, überlegte Cloud. Aber sind die Virgh furchtbarer und gnadenloser als die Foronen? Er schüttelte in seinem Sarkophag den Kopf. Zu frisch war die Erinnerung an den Untergang der Jaroviden durch Sobeks Befehl. Cloud beobachtete die anderen Spinnenroboter, während sie den Virgh-Kokon zu dem Energieschott transportierten. Sie hatten es noch nicht erreicht, als sich etwas ereignete, das deutlich zeigte, dass es eine Kontroll- oder Wächterinstanz der Virgh gab, die dem Treiben der Eindringlinge lange zugeschaut, es möglicherweise erst analysiert hatte – und die nun zuschlug, als Cloud mit keinem Zwischenfall mehr rechnete. Warnungslos und beinahe gleichzeitig begannen die Virgh aus ihren Kokons hervorzubrechen – alle, bis auf den, den die Roboter in ihren Besitz gebracht hatten.
Und schon in der nächsten Sekunde leistete Cloud Sobek Abbitte. Der Mächtigste im Herrscherrat der Foronen mochte in vielem übertrieben, in vielem gelogen haben. Aber nicht, was die Virgh betraf. Die Virgh, vor denen sich Cloud nicht einmal in seinem geliehenen Körper sicher fühlen durfte... *** Er war die Maschine. Er war der Robot. Aber nur, weil er es wollte. Weil er sein Bewusstsein gezielt in die Spinnenkonstruktion transferiert hatte. Aus freien Stücken. Weil er diese Möglichkeit nutzen und sich gefahrlos der Expedition ins Innere des Planetentrümmers hatte anschließen wollen. Er hätte sich auch als Hologramm in die Virgh-Kaverne projizieren lassen können, doch dann wäre er zum reinen Beobachter degradiert gewesen. So konnte er wenigstens etwas tun. Aber dies war nicht Clouds dringlichstes Problem. Denn während die Kokons hinter ihm Virgh über Virgh gebaren, wurde ihm die tatsächliche Gefahr, in der er schwebte, noch immer nicht bewusst. Und als er sie erkannte – war es zu spät. Die unsichtbare Einheit, die Instanz, die über diesen Schlaf- und Stasispool der Virgh wachte, hatte offenbar so lange abgewartet, weil sie die Eindringlinge bis ins letzte Molekül durchleuchtet und ausgespäht hatte.
Selbst die Seele der einen Maschine, die alles befehligte. Cloud! Der sofort Ziel sämtlicher Attacken wurde... *** Er hatte vieles gesehen, seit die ursprüngliche Marsmission gescheitert und sie mit dem eroberten Äskulap-Schiff ins Jupiter-Wurmloch gestürzt waren. Unzählige Wunder hatte er geschaut, Wunderbares – aber auch völlig Monströses. Er hatte Planeten fernab des irdischen Sonnensystems betreten, hatte mit Wesen kommuniziert, war vor Wesen geflohen, die nur entfernt Menschenähnlichkeit besessen hatten. Oder gar keine... Doch die Virgh, die hier im Innern des Zentalo-Restes schlüpften, übertrafen alles. Schlafend hatten sie nur fremd gewirkt. Vielleicht hatten sie auch die eine oder andere Urangst angesprochen, den einen oder anderen Auslöser für Ekel. Aber das hatte Cloud zu beherrschen gelernt. Inzwischen abstrahierte sein Verstand, was er in den Weiten des Alls sah und erlebte, und machte es erträglich. Diese Mechanismen aber funktionierten plötzlich nicht mehr. Nicht hier im Gewimmel der erwachenden Brut! Als er als Hologramm gemeinsam mit Scobee und Jarvis in der VirghHöhle gewesen war, war er genau das gewesen – eine 3DProjektion. Diesmal war sein Bewusstsein anwesend. Und plötzlich wusste er, warum Scobee diesen seltsamen Ausdruck in den Augen gehabt hatte, nachdem sie den Virgh entkommen war.
ZURÜCK! Die mentale Verbindung zur KI war zur Normalität geworden, die er nicht hinterfragte, solange er im Sarkophag saß. Sie funktionierte. Immer! Aber plötzlich – hier und jetzt – funktionierte sie nicht! Es gab keinen Kontakt mehr zur RUBIKON, wo er atmete und selbst wie in einem Kokon eingeschlossen ruhte. SESHA meldete sich nicht, und eine furchtbare Kälte, eine furchtbare Taubheit begann sich in Clouds Geist auszubreiten. Hinter ihm tobten die Virgh heran, und ein Vor ihm gab es plötzlich nicht mehr – jedenfalls nicht in Gestalt eines Auswegs. Jetzt waren die vielbeinigen Verfolger da. Sie hatten keine Sekunde zur Orientierung, keine Sekunde zum Begreifen der Situation benötigt. Clouds Lähmung erreichte die Vorstufe des Todes... *** »Was geht da drüben vor?«, rief Scobee. »SESHA? Bilder! Warum gibt es keine Bilder mehr?!« Sie atmete tief durch. Die Worte waren wie von selbst über ihre Lippen gekommen. Vor ihr gähnte der Abgrund des Alls – täuschend echt von der Holosäule zwischen den Kommandositzen in die Bordzentrale der RUBIKON getragen. Sieben Sitze, die die fantastische 3-D-Ansicht des Alls wie ein Kranz umgaben. Sechs waren offen, einer geschlossen. Der geschlossene beherbergte John Cloud, über die offenen verteilten sich neben Scobee noch Jelto und Aylea. Boreguir war wie vom Erdboden verschluckt, Jarvis war irgendwo im Schiff unterwegs. Sobek und Siroona hielten sich in ihren
Quartieren auf – die inzwischen eigentlich Arrestzellen waren. In den offenen Sitzen saßen die Beobachter. Nur der Sarkophag desjenigen, der das Sagen hatte, war geschlossen. Cloud hatte sein Vorhaben mit ihnen besprochen. Den Versuch, einen Virgh aus dem Innern des Planetentrümmers zu bergen – vielleicht sogar lebend. Scobee konnte nicht sagen, dass sie von dieser Idee begeistert war. Eher im Gegenteil. Andererseits unterstützte sie Clouds Auffassung, dass es an der Zeit war, eigene Wissensressourcen anzulegen. Insbesondere traf diese Einstellung auf die Virgh zu, in deren Reich sie gelandet waren – und wo sie vielleicht den Rest ihres Lebens verbringen mussten, wenn der RUBIKON nicht die Selbstreparatur gelang oder sie irgendwo von irgendjemandem Hilfe bei der Behebung der Schäden erhielten. Cloud hatte den Holokanal geöffnet. Sie hatten die Bemühungen der Spinnenroboter von Bord aus verfolgen können. Gut zwei Stunden lang. Und dann... War es zur Katastrophe gekommen – zumindest was ihr Vorhaben anging. Scobee spürte immer noch den Schauder auf ihrer Haut, der mit den letzten Szenen gekommen war, welche die Kamerasysteme der Roboter zur RUBIKON übertragen hatten. Schlüpfende Virgh. Erwachende und augenblicklich angreifende Virgh! Sie wusste noch genau, wie es war, von dieser wimmelnden Horde umgeben zu sein... Dann war der Bildausfall erfolgt, und seither zeigte die Holosäule nur noch die Außenansicht des gewaltigen Planetentrümmers. »Verbindung abgebrochen«, meldete die KI mehrere
Sekunden nach Scobee erregt ausgestoßener Frage das Offensichtliche. »Meine Frage war: Warum?« Scobee schrie beinahe. Sie schwenkte ihren Sitz leicht nach links, um Jelto besser ins Auge fassen zu können. Der Florenhüter wirkte mindestens so angespannt wie sie selbst. Und Aylea, die neben ihm saß, stand die nackte Furcht ins Gesicht geschrieben. »Im Innern des Hohlraums wurde ein Feld aktiviert, das den Kontakt unterbrochen hat«, erklärte SESHA. »Ein Schild?« »Negativ. Es liegen keine genauen Informationen vor. Aber es handelt sich definitiv um ein Störfeld, das jeden noch so starken Impuls abschirmt, der von drinnen nach draußen zu gelangen versucht – oder von außen nach innen.« Scobee schwieg kurz, um das Gehörte zu verarbeiten. Dann schwenkte sie nach rechts, wo der immer noch geschlossene Sitz stand. »Kann ich mit John sprechen?«, fragte sie. »Negativ.« »Ich muss aber mit ihm reden. Er muss einsehen, dass es keinen Sinn hat. Die Virgh lassen sich nicht bergen. Diese Biester scheinen an allem anderen als an einem Plausch mit uns interessiert zu sein. Vielleicht bringen sie die RUBIKON zu sehr mit denen in Verbindung, gegen die sie einst Krieg geführt haben. Vielleicht...« »Negativ«, sagte die KI. »Was ist negativ?« Scobee spürte, wie ihre Abneigung gegen die Stimme, die ihnen das Leben an Bord mehr als einmal erschwert hatte, durch ihre aufgesetzte Ruhe brach.
»Du kannst mit John Cloud nicht kommunizieren, weil er dich nicht hört.« Sie seufzte. »Und warum...?« Die KI wartete die Vollendung von Scobees Frage nicht ab. Offenbar kannte sie den Wortlaut im Voraus. »Weil«, sagte sie mit derselben Unaufgeregtheit, die ihr in allen Situationen zu Eigen war, »sein Bewusstsein nicht anwesend ist. Nicht mehr. Und ich sehe auch keine Möglichkeit, ihn zurückzuholen, solange die Störquelle aktiv ist.« Scobee erstarrte. Sie ließ die Erklärung der KI bis in jene Schicht ihres Verstandes sickern, wo das Begreifen, das tatsächliche Verstehen des Gehörten lagerte. Ihre Miene wurde steinern. Dann sprang sie aus ihrem Sitz, verschwand halb im Schauer der Bildteilchen, die sich säulenartig bis zur Decke der Zentrale spannten – und forderte dann so kalt, wie sie sich selbst noch nie hatte sprechen hören: »Öffnen! Sofort das Ding öffnen!« Sie stürmte auf Clouds geschlossenen Sitz zu. »Aufmachen! Sofort aufmachen!« Sie hatte keinerlei Befehlsgewalt. Weder über relevante Schiffseinrichtungen im Allgemeinen noch über die KI im Speziellen. Aber offenbar war die RUBIKON selbst der Meinung, dass es Sinn machte, den Sarkophag zu öffnen. Wie im Zeitraffer und als würde ein Trickfilm vor Scobee ablaufen, baute sich der Sitz zurück, verschwand der obere Teil. Es sah aus, als würde Teilchen um Teilchen im Nichts verschwinden.
Als würden unsichtbare Hände Puzzle um Puzzle entfernen. Schon einen Atemzug später war der Blick auf Cloud frei. Kein wirklich erfreulicher Anblick, wie Scobee fand – in der Sekunde, bevor Aylea zu schreien anfing... *** Während Jelto das Mädchen – das bei aller Intelligenz im Herzen immer noch ein Kind war – zu beruhigen versuchte, trat Scobee so nahe an Cloud heran, dass sie nur noch den Arm ausstrecken musste, um ihn zu berühren. Er hatte die Augen weit offen und starrte ihr entgegen. Falsch, korrigierte sie sich. Sein Blick war in weite Ferne gerichtet. Auf einen Punkt noch jenseits der Wände dieses Schiffes. Auf einen Punkt am Ende des Universums. Die Augen wirkten tot. Der Körper lebte, zumindest hoben und senkten Atemzüge den Brustkorb. Aber das, was einen Menschen ausmachte – einen gesunden Menschen – war so unkenntlich geworden, dass die Worte der KI nachträglich einen Sinn erhielten. »Weil er nicht da ist«, flüsterte Scobee. Vor ihr saß ein Mann, der an ein Gefäß erinnerte, das man um den ihm zustehenden Inhalt betrogen hatte. Oder..., dachte Scobee. Sie musste schlucken, fühlte sich wie hinter Glas. Oder wie ein Sohn, der seinem Vater gefolgt ist. Ins Labyrinth des Irrsinns...
*** Die Flut der Körper kannte kein Erbarmen. Lebende Körper gegen totes Metall. Vielbeinige Virgh gegen vielbeinige Roboter – und einer davon war beseelt... ICH! Cloud sehnte sich nach dem Moment, da die Maschine ihn freigeben und sein Bewusstsein zurück in den eigenen Körper schleudern würde. Er würde noch einmal eine Abart des Todes sterben, wie zwei Stunden zuvor, als er die Systematik des Energieschotts ausgelotet hatte. Aber dann wäre er wieder er selbst und keine Maschine. Er wollte nicht mehr länger nur sehen und hören, sondern wieder fühlen. Mit all seinen Sinnen Mensch sein! Das Grauen war unbeschreiblich, und erstmals, seit Jarvis den Amorphen – Monts ehemalige Rüstung – beseelt hatte, streifte ihn der Hauch einer Ahnung, was für ein schreckliches Los sein Freund gezogen hatte. Jarvis' Geist hatte überlebt, hatte den Tod der Hülle überdauert – aber um welchen Preis? Dieses Begreifen, dieses sich Hineinfühlen in den Freund, war nur eine flüchtige Impression, die einen Gedanken lang dauerte und dann fortgespült wurde von immer wahnsinnigeren Bildern, an denen der Roboter ihn teilhaben ließ. Virgh! Sie füllten das Wahrnehmungsfeld der Maschine jetzt komplett aus. Sie attackierten die Spinnenroboter ohne erkennbare Waffe, ohne erkennbares Werkzeug – und zerfetzten die Maschinen mit ihren in Klauen endenden äußeren Extremitäten! Auch Cloud – der Spinnenrobot, in dem er steckte – war außerstande, den Gewalten zu trotzen. Die Virgh wüteten wie Berserker, wie ein aufgeschreckter Insektenstock, der sich vereint auf unvorsichtige Eindringlinge stürzte, um ihnen den Garaus zu machen.
Jetzt, in diesem Moment, wirkten die Virgh wie die eigentlichen Maschinen. Die wahren Roboter. Cloud hatte noch niemals so Skrupel- und bedenkenlos agierende intelligente Lebewesen gesehen. Aber das mussten sie sein – intelligent. Sie mussten es sein, sonst könnten sie keine Raumschiffe führen, keine ganze Galaxis fast im Handstreich erobern! Warum werde ich nicht zurückgeholt? Der Kontakt zur KI war immer noch unterbrochen. Also blieb Cloud nichts anderes, als abzuwarten, bis sein Wirt auf Zeit restlos zerstört war. Spätestens dann musste sein Geist wieder zur RUBIKON zurückfließen... Wirklich...? Kalt wie ein gefrorener Schatten legte sich der plötzliche Zweifel um ihn. Es war der Moment, in dem sich die Stimme in seinem Geist meldete. Eine Stimme, die nicht der KI gehörte. »DU BIST MEIN! DU... BIST... MEIN!« Es war eine Stimme wie aus Dutzenden, Hunderten Einzeltönen zusammengesetzt. Aus Einzelgedanken. Und sie schaffte das, was Cloud aus eigenem Bemühen nicht gelungen war. Er fing an zu verstehen. Was geschehen war – und was ihm drohte... Die Stimme, die wie das Aneinanderschaben unzähliger Chitinbeinchen klang – obwohl sie nur in seiner Vorstellung existierte – wiederholte immer und immer wieder den einen Satz. »... MEIN! DU BIST MEIN! DU...« Da wusste er, dass etwas die Mittel gefunden hatte, seinen
Geist nie wieder dorthin zurückkehren zu lassen, wohin er gehörte – in seinen Körper. Da wusste er, um wie viel schrecklicher noch, als die Foronen sie beschrieben hatten, die Virgh tatsächlich waren. Das Band war zerrissen. Es gab keinen Weg mehr zurück in seinen entseelten Leib! Doch dann, eine vermeintliche Ewigkeit später, wurde auch diese Überzeugung wieder hinfällig. Er schlug die Augen auf – seine Augen – und tat den süßesten Atemzug seines Lebens. *** Sie umstanden ihn. Ihre Gesichter waren voller Sorge, in die sich nur zögernd und allmählich Erleichterung mischte. Cloud nahm sich die Zeit, die Situation auf sich einwirken zu lassen. Er musste erst noch verkraften, was hinter ihm lag. Liegt es wirklich hinter mir? »Was«, keuchte er, »ist passiert? Es... es hatte mich! Wollte mich nicht mehr...« »Es?«, fragte Scobee. Er begriff, dass sie nicht wussten, was in der Virgh-Höhle passiert war. Zumindest nicht alles. »Wie konnte ich... doch noch entkommen?«, wollte er wissen. Scobee stand ihm am nächsten. Räumlich und auch sonst. Sie musste sich ein Lächeln abringen, das erkannte er ganz genau, als sie antwortete: »Deine Intimfreundin bewies mal
wieder ihren Sturkopf – und ihre Unberechenbarkeit.« Jetzt gelang auch ihm ein Schmunzeln. »Du? Redest du von dir?« Scobee schüttelte den Kopf. »Ich rede von SESHA.« Cloud stützte die Handflächen auf die breiten Armlehnen und versuchte, sich aus dem Sitz zu stemmen. Es gelang wider Erwarten gut. Hinter Scobee ragte die Holosäule auf, in der sich nachtschwarzes All spiegelte. »Und die KI tat was?«, drängte er. »Sie ballerte auf den Brocken«, sagte Aylea. Sie drückte es in ihrer Sprache aus und schnitt dazu eine Grimasse. Es war einer der Momente, in denen Cloud fühlte, wie verdammt stark sie an ihm hing – seit er sie im Erdgetto aufgegabelt hatte. Er mochte sie ebenfalls. Dem Alter nach hätte sie seine Tochter sein können. Er grinste schief. »Es geht ihm wieder gut.« Das war Jelto. Er war ein Florenhüter, eine Art personifizierter »grüner Daumen«. Er brachte allein kraft seiner Präsenz, seiner Persönlichkeit – und einer winzigen Dosis Psikraft – jedes Pflänzchen zum Erblühen. Selbst außerirdische Botanik. Diese Fähigkeit hatte ihnen schon einige Probleme bereitet – und ihnen das Leben gerettet. Jeltos Haut leuchtete leicht von innen. Seine Kirlianaura kam nur schwach zum Vorschein, es zeigte aber, dass ihn die Situation nicht kalt ließ. Er war eine Seele von Mensch. Wie Scobee ein Klon, aber – ebenfalls wie sie – dennoch in vielem menschlicher als die meisten der »Normal-Geborenen«, denen
Cloud begegnet war. »Gut wäre übertrieben.« Cloud seufzte. »Aber ich war noch nie so froh, euch zu sehen... RUBIKON?« »John Cloud?« Der Ursprung der Stimme war nicht lokalisierbar. Er schien aus allen Richtungen gleichzeitig zu dringen. Es machte keinen Unterschied, ob derjenige, zu dem sie sprach, sich hier oder zehn Meter entfernt befand. Die Lautstärke war immer gleich, überall an Bord, wohin ihr Einfluss reichte. »Erklärung!«, verlangte der Kommandant der RUBIKON. »Hast du irgendeine Erklärung für das, was da passiert ist?« »Du warst gefangen.« »Ich war hier.« »Dein Körper war hier. Dein Geist wurde festgehalten.« »Das ist nicht dein Ernst!« Er ballte die Fäuste. Erneut staute sich Erinnerung wie hinter einem Damm in ihm an. Er musste an sich halten, um nicht sämtliche Emotionen, die aus ihm herausdrängten, in einem schrecklichen Schrei freizulassen. »Wie kann... wie kann er festgehalten werden, wenn ich hier bin? Seit wann ist der Geist etwas, das sich beliebig von A nach B schieben lässt?« Noch während er sprach wurde ihm bewusst, dass die Foronen dafür berüchtigt waren, genau dies zu beherrschen. Jarvis... Er war und blieb das beste Beispiel. »Die Virgh waren offenbar imstande, deinen Geist, den ich in den Robot transferiert habe, zu erkennen – und dann Maßnahmen zu ergreifen, ihn an einer Rückkehr in deinen Körper zu hindern«, sagte SESHA. »Aber ich benötige dich. Am Ende half nur noch eines.« »Die totale Zerstörung des Trümmers«, führte Scobee aus.
»Sie hat das aus eigenem Entschluss getan. Keiner von uns wusste, wie die Folgen sein würden. Ob du endgültig so bleiben würdest, wie du warst.« Sie stockte kurz. »Aber es ging alles gut. Als die Kaverne mit der Virgh-Brut zerstört war, wurde dein Blick wieder wach. Wurdest du dir wieder deiner selbst bewusst. Versprich, dass du das nie wieder tun wirst! Dass du dich nie wieder einem solchen Ding anvertraust!« Für einen Moment, für den Bruchteil eines Augenblicks schien die Fassade mühsamer Beherrschung in sich zusammenzusinken, und er meinte zu erkennen, wie viel Angst und Sorge er ihr – und den anderen – tatsächlich bereitet hatte. Und nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob da mehr war zwischen ihnen, ihr und ihm. Mehr als sie und mehr als er sich eingestehen wollten. Er verneinte das und war sich seiner Sache, zumindest was ihn anging, völlig sicher. Seit ihrem Aufbruch aus der Milchstraße hatte sich immer wieder Zeit zum Nachdenken gefunden. Auch für tief schürfendere Gedanken. Er mochte Scobee – Scob, wie er sie nannte –, aber mehr als Freundschaft war da nicht. Er war sich sicher. Wie er sich oft im Leben sicher gewesen war – um im nächsten Moment hinzunehmen, dass er sich geirrt hatte... »Wie dem auch sei«, schloss er das Thema für sich ab. »Der Versuch, einen Virgh zu bergen – einen lebendigen noch dazu – ist damit gescheitert. Hat sich Artas gemeldet? Die Satoga müssen den Zwischenfall bemerkt haben. Sie werden...« »Artas wurde bereits informiert. Bei dieser Gelegenheit...« »Ja?«
»... hat er mich auf sein Schiff eingeladen. Ich sagte, das könne ich nicht entscheiden, da ich nicht wüsste, wie unsere weiteren Pläne aussehen. Immerhin bist du der Commander. Wieder einmal...« Sie zwinkerte ihm zu. Von den Anwesenden verstand nur er, worauf sie anspielte. Auf eine andere Zeit, eine andere Situation, eine andere RUBIKON. 212 Jahre zuvor. Er lächelte... 2. Das Magnetschiff der Satoga war ein ungastlicher Ort. Für Menschen. Vielleicht der ungastlichste, den Scobee jemals betreten hatte. Was allerdings nicht an den Gastgebern lag, sondern an den extremen Bedingungen an Bord. An den extremen Kräften, die hier wirkten. Sie stand neben Artas, ihrem Entführer vom Planeten Galvaur – dem ersten der verglasten Planeten, die die RUBIKON in der Großen Magellansehen Wolke vorgefunden hatte. Inzwischen waren die gröbsten Missverständnisse zwischen den Satoga und den Menschen beseitigt – geblieben waren Fragen... Immerhin, dachte Scobee, betrachten wir uns nicht mehr als Feinde. Wir haben die Ebene der Verständigung erreicht – und das könnte überlebenswichtig in dieser Sternenballung sein, die einst den Foronen gehört hat.
Denn das war lange her. Damals waren die Virgh erschienen und hatten mit der ebenso systematischen wie brutalen Zerschlagung des Foronen-Reiches in Samragh, der Großen Magellanschen Wolke, begonnen. Sie hatten die zentralen Planeten zerstört, sie verglast. Nur der SESHA war es seinerzeit gelungen, Nachstellung und Vernichtung zu entkommen. In einem dramatischen Akt war diese Abart der Arche Noah mit der Essenz des foronischen Volkes zur Milchstraße geflüchtet. Die Führung ihres Volkes, der Herrschaftsrat der Hohen Sieben, hatte dort einen Langzeitplan ausgearbeitet, der den ihren eine Zukunft schenken und ein dauerhaftes Entkommen vor den Virgh ermöglichen sollte. So war der Aqua-Kubus entstanden – auch ein unheimlicher Ort, erinnerte sich Scobee –, und die letzten Foronen hatten sich im Innern von SESHA in einen langen, langen Schlaf zurückgezogen... Aus dem wir sie wieder erweckt haben. Wie lange ist das her? Erst wenige Monate, erkannte sie zu ihrer eigenen Verblüffung. Ein Jahr zuvor hatte sie noch ein völlig anderes Leben gelebt – ebenso wie John Cloud, ebenso wie Jarvis und der inzwischen verstorbene Resnick... Sie konzentrierte sich gewaltsam auf das Geschehen vor ihren Augen – was ihr nicht wirklich schwer fiel, da sie es mit all ihren Sinnen wahrzunehmen schien. »Grundgütiger!«, rann es über ihre mit schützendem Magnetstaub bedeckten Lippen. »Wer ist das?« Die Ähnlichkeit der schwebenden Geschöpfe mit anderen Satoga mochte unverkennbar sein, doch war ihre Grundstatur zierlicher und hatte etwas Kindlich-Zerbrechliches.
Die Vorstellung, es tatsächlich mit Satoga-Kindern zu tun haben zu können, weckte ein Unbehagen in Scobee, für das sie selbst keine Erklärung fand. Aber da waren noch die Köpfe dieser Wesen. Sie waren gigantisch und verstärkten das Düstere, Unheimliche, das dieser Raum an Bord der PERSPEKTIVE ohnehin schon ausstrahlte. Kopfhaut und Schädeldecke waren transparent und erlaubten einen Blick auf das darunter liegende Gehirn. Es war sogar möglich, der Zirkulation des schwach leuchtenden Blutes zu folgen, das die Ganglien durchwanderte. Das Faszinierendste aber waren die Entladungen von Elektrizität, die zwischen den Hirnen der hier Versammelten hin und her tanzten wie gezielte Blitze. Sie sprangen von Schädel zu Schädel, von Gestalt zu Gestalt und drohten dabei niemals irrtümlich auf Artas oder Scobee überzugreifen. Scobee wusste selbst nicht, woher sie dieses Gefühl von Sicherheit nahm, das sie die ganze Zeit hindurch empfand. Endlich antwortete Artas. »Das ist eine Loge«, erklärte er. »Sie lenkt und bändigt das Schiff. Ohne sie würden wir die Kräfte, die ihm innewohnen, niemals nutzbar machen können. Ohne sie hätten wir den Sprung in diese unsere Nachbargalaxie, die ihr Große Magellansche Wolke nennt, niemals geschafft.« »Eine Loge?« »Die Loge der Magnetmeister«, erläuterte Artas. In seinen pechschwarzen Augen irrlichterte ein Feuer, von dem Scobee nur mutmaßen konnte, dass er Ausdruck grenzenloser Ehrfurcht war. »Es gibt davon mehrere über das Schiff verteilt. Sie halten die hier wirkenden Kräfte in der Balance, sonst wäre dies auch für uns Satoga ein unerträglicher, uns zugrunde
richtender Ort... »Das klingt dramatisch.« »Es wäre dramatisch, in der Tat. Du machst dir keine Vorstellung davon.« »Warum habt ihr ein solches Schiff konstruiert, wenn es nur unter beträchtlichen Gefahren beherrschbar ist?« Artas gab einen Ton von sich, der an ein spöttisches Auflachen erinnerte. Scobee wurde daran erinnert, wie wenig sie bislang über die Mentalität der Satoga wusste. Sie empfand eine schwer zu begründende Sympathie für Artas – und damit automatisch für alle Satoga –, konnte aber nicht ausschließen, dass sie ihn immer noch völlig falsch einschätzte. Er war fremd. In mancherlei Hinsicht zu fremd. Und auch das wie modellierte, wie aufgesetzt wirkende Dauerlächeln um seinen Mund war... gewöhnungsbedürftig. »Und ihr?«, erwiderte Artas. »Warum reist ihr in eurem Schiff? So weit ich es mitbekommen habe, ist es dort auch nicht so ganz ungefährlich.« Er besaß nur rudimentäre Kenntnis über die Situation an Bord der RUBIKON. Aber ein paar Andeutungen über die »Schwierigkeiten«, die die menschliche Besatzung mit der ursprünglichen Befehlsgewalt an Bord hatten, waren gefallen, und offenbar hatte er sich daraus ein gar nicht einmal so unpräzises Bild der Verhältnisse zusammengezimmert. Als Scobee längere Zeit schwieg, weil sie für sich selbst eine Antwort auf Artas' Gegenfrage suchte, fuhr der Satoga fort: »Manchmal muss man Hindernisse überwinden, Herausforderungen annehmen, auch wenn sie gewaltige Risiken bergen. Ich gehe davon aus, dass auch die Geschichte deines Volkes geprägt ist von Leistungen einzelner, die weiter gingen, als alle anderen vorher und dadurch neue Horizonte eröffneten...«
»Pioniere«, unterbrach ihn Scobee. »Wir nennen sie Pioniere.« »Pioniere... Du bist ein Pionier, ich bin es. Ihr kommt aus der Milchstraße, wir aus einer kleinen Galaxie, die ihr Magellansche Wolke nennt. Kleine Magellansche Wolke. Für uns war der Sprung hinüber zur Großen ein Wagnis, das einen enormen Kraftakt erforderte. Die PERSPEKTIVE ist das Resultat der gemeinschaftlichen Anstrengung meines Volkes.« »Wie viele Schiffe dieser Art gibt es?«, fragte Scobee. »Eines. Die PERSPEKTIVE.« Scobee dachte darüber nach. Das Schiff hatte nicht nur etwas Erdrückendes – für sie als Mensch –, es übte auch eine unglaubliche Faszination aus. Keine gewöhnliche Raumschiffform hätte dies in vergleichbarer Weise vermocht. Die Ähnlichkeit zu einem von Elektronen umlaufenen, ins Gigantische vergrößerten Atomkern war geschickt gewählt. Lange Zeit hatte auf der Erde das Atom als Sinnbild für den Eintritt in ein neues Menschheitszeitalter gedient. Großer Schrecken, aber auch enormer Nutzen war damit verbunden. Auch wenn die Menschheit dieser Epoche – die Erinjij – sich daran kaum noch erinnern mochten. »Erzähl mir mehr von deinem Volk«, bat Scobee. »Ich bin an allem interessiert. Und betrachte es bitte nicht als AushorchVersuch. « Artas hob eine Hand und berührte damit seinen Hals. Eine Geste, die offenbar ausdrückte, was er auch noch in Worte fasste. »Ich glaube dir. Und es freut mich, dass du dich aufrichtig für andere interessierst. Ich spüre deinen Durst nach Wissen. Wir sind uns sehr ähnlich, ihr Menschen und wir Satoga. Wo immer wir eine Herausforderung erkennen, ruhen wir nicht eher, bis wir sie bewältigt haben.«
Scobee musterte ihn mit leichter Beklemmung. Sie wünschte, Artas' Einschätzung der Menschen hätte noch so vorbehaltlos auf die Erinjij zugetroffen, die die halbe Milchstraße in Angst und Terror stürzten. Der Satoga hatte eine offenkundig viel zu gute Meinung von »den Menschen« – die es so nicht mehr gab. Die es so nie gegeben hat, korrigierte sich Scobee. Nicht erst die Erinjij haben Furcht und Schrecken gesät. Sie sind nur die ersten Erdgeborenen, die die Furcht und den Schrecken hinausgetragen haben zwischen die Sterne. »Artas...«, setzte die GenTec an. Aber er sprach bereits weiter. »Die PERSPEKTIVE ist ein Experimentalschiff. Wir alle an Bord sind uns der Gefahr bewusst, der wir uns aussetzen. Ich meine nicht nur die Gefahr, die da draußen lauert, sondern vor allem auch die, die das Schiff selbst in sich birgt. Eure RUBIKON benutzt ein uns unbekanntes Prinzip der Umwandlung Dunkler Materie zu Antriebsenergie. Ihr könnt damit schneller als das Licht reisen. Um ein Beträchtliches schneller. Was unabdingbar ist für jeden, der interstellare oder gar intergalaktische Entfernungen überbrücken will. Wir Satoga verkehren in unserer Heimat mittels Luminium-Antrieben zwischen den Welten, die wir im Laufe vieler Dekaden an unsere Mutterwelt angeschlossen haben. Aber dieser Antrieb ist sehr... hungrig. Er ermöglicht das Durchstoßen der Lichtmauer, aber die Substanz, die ihn speist, ist rar. Und es wird immer rarer. Um hierher, in unsere unmittelbare Nachbargalaxie vorzustoßen und unsere Forschungen, unsere Suche hier aufzunehmen, bedurfte es eines elementar neuen Antriebskonzeptes. Das Ergebnis siehst du in Gestalt der PERSPEKTIVE... und der Magnetmeister vor dir.« »Was ist dieses Luminium?«, fragte Scobee.
»Ein seltenes Erz. Mit Eigenschaften, die an Magie grenzen.« Er hielt kurz inne, und sein Blick strich über die Loge wie über eine Abordnung höchster Würdenträger. Dann fuhr er fort: »Du weißt, wie das Universum entstanden ist?« Scobee musste unwillkürlich schmunzeln. Was für eine Frage, mal eben wie beiläufig eingestreut! »Es gibt die Theorie vom Big Bang, vom Urknall…« Sie fasste sie in ein paar stichpunktartigen Sätzen zusammen. »Allerdings weiß ich nicht, inwieweit die Satoga darin mit uns konform gehen. Es ist immer noch nur eine Theorie.« »Wir haben andere Begriffe dafür – aber: natürlich. Wie anders sollte der Kosmos entstanden sein?« Scobee schmunzelte immer noch. »Wir sprachen von Luminium. Du wolltest mir erklären, was es damit auf sich hat. Welche Eigenschaften dieses Erzes würdest du als ›beinahe magisch‹ bezeichnen?« »Seine vordergründigste Eigenschaft ist die – und damit kommen wir auf den von dir so genannten Big Bang zurück –, dass es in hoher Dosis Strahlung in sich ablagert, die auf den Urknall zurückgeht. Singulare Partikelströme, die Luminium bindet, und die mit einer komplizierten Methode kontrolliert wieder freigesetzt werden können. Sie sind die Grundlage unseres Raumschiffverkehrs... der in der Heimat hauptsächlich dafür genutzt wird, immer weitere, immer neue Luminiumvorkommen aufzuspüren. Aber die Vorräte gehen rapide zur Neige. In wenigen Sonnenumläufen unserer Zentralwelt Sogral wird der interstellare Verkehr zum Erliegen kommen. Die Kolonien werden mittelfristig von ihrer Urheimat abgeschnitten werden. Rettung aus dieser Misere kann nur auf zwei Arten erfolgen...« »Ihr müsst ein neues Antriebsprinzip etablieren«, erriet Scobee mit Blick auf die Magnetmeister. »Oder neue,
gewaltige Luminiumvorkommen erschließen. Hier, in eurer Nachbargalaxis.« »Am besten«, pflichtete Artas bei, »wäre natürlich beides. Und das ist die Mission, mit der wir in die Große Wolke gekommen sind: Es gilt die Zukunft der Kleinen zu sichern.« »Welchen Namen habt Magellansche Wolke?«
ihr
selbst
für
die
Kleine
»Mara Forna.« »Mara Forna...« Scobee ließ sich den Klang auf der Zunge zergehen. Dann nickte sie. »Ihr seid also... Sucher. Forscher. Pioniere. Auf friedlicher Mission.« »Das ist korrekt.« Artas wiederholte die Geste von zuvor. Eine Hand am Hals. »Das unterscheidet uns. Oder?« Scobee nickte fahrig. »Wahrscheinlich«, räumte sie unverblümt ein. »Allerdings wünschte ich, es wäre anders. Im Gegensatz zu euch haben wir unsere Heimat nicht freiwillig verlassen. Wir waren lange, lange Zeit Spielbälle der Foronen – oder anderer Fremdwesen. Es würde zu weit führen, dir alles schildern, was hinter uns liegt. Vielleicht ein anderes Mal...« »Du weichst aus.« »Es würde zu lange dauern«, beharrte sie. »Wir Satoga sind sehr kommunikativ«, sagte Artas. »Bei denen, denen wir vertrauen.« Das war deutlich, dachte Scobee. »Vertrauen muss wachsen. Es ist die Basis von allem, darin stimmen wir überein. Aber diese Dinge sollten wir im Beisein von John erörtern.« »John Cloud.« Sie nickte. »Ihr steht euch nahe?«, fragte Artas.
»Sicher.« »So nahe, wie sich Satoga-Mann und Satoga-Frau stehen, wenn sie beschließen, einen oder mehrere Zyklen unter einem Dach zu verbringen. Nachwuchs zu zeugen?« Sie merkte, wie unangenehm seine Direktheit werden konnte. »Wir sind Freunde. Freunde. Gibt es das bei den Satoga? Ich erkenne gerade, wie wenig ich wirklich über dein Volk weiß.« »Und über mich«, sagte Artas. »Freundschaft ist das heiligste Gut bei uns, aber...« »Aber?« »Es wäre verrückt zu glauben, etwas so Kosmisches wie Freundschaft könne zwischen unterschiedlichen Geschlechtern funktionieren. Du...« Er wollte noch mehr sagen. Und Scobee wollte ihrer Empörung Luft machen. Doch dazu kamen sie beide nicht mehr. Ihre gesamte Umgebung – der Raum, Artas und die düster wirkenden Magnetmeister – begann sich von einem Moment auf den anderen zu verändern. Zu... entarten. *** Das Quartier war nur matt erhellt. Das träge Licht erinnerte Sobek an die visuelle Wahrnehmung seiner Umgebung während des Erweckungsprozesses aus der Stasis, als er bereits mit der Bord-KI in geistiger Verbindung gestanden hatte, aber immer noch umschlossen von der konservierenden Substanz gewesen
war, mit deren Hilfe er und die anderen Foronen die Zeit betrogen hatten. Die Erinnerung an die Umstände, die dazu geführt hatten, drehte ihm noch heute die Organe um. Die Erinnerung an den Krieg gegen den übermächtigen Feind – die Virgh... Und nun war eine neue, beinahe noch desillusionierendere Erinnerung hinzugekommen. Denn die Foronen, die er zurück nach Samragh geführt hatte, um die dortigen Verhältnisse zu überprüfen... Sie waren dort draußen gestorben, an der Grenze der Alten Heimat im Einflussbereich der Schwarzen Sonnen. Sie waren zugrunde gerichtet worden von einer furchtbaren Strahlung, die auch ihn und Siroona nicht völlig verschont hatte. Seither waren sie die einzigen Überlebenden an Bord. Die Einzigen, die zählten. Denn da gab es noch die, die sie aus einer Laune heraus mitgenommen hatten. Es handelte sich um Bewohner Bolcrains oder – wie diese selbst ihre Heimat nannten – der Milchstraße... Sobek wusste immer noch nicht schlüssig, was ihm im Sonnenhof widerfahren war, als die von keinen Rüstungen geschützten Artgenossen ihr Leben aushauchten. Seither aber hatten er und Siroona – die zweite Angehörige des Herrschaftsrats ihres Volkes – die Autorität über die SESHA verloren und wurden von der Künstlichen Intelligenz, die sämtliche Funktionen des Schiffes überwachte, nicht mehr als weisungsbefugt anerkannt. Diese Rolle war – und nun entglitt die Situation vollends ins Absurde – ausgerechnet auf eines jener Wesen übergegangen,
die zuvor den Status bekleidet hatten, mit dem nun Sobek und Siroona gestraft waren: Geduldete. Geduldet auf ureigenem Territorium, dachte er bitter. Er vermisste seine Gefährtin. Aber mehr noch sehnte er die Macht zurück, die Möglichkeiten Einfluss auszuüben. Wir sind zurückgekehrt. Nach all der Zeit sind wir wieder daheim... Und wozu? Zwei Foronen in einer Galaxis, die vor Virgh nur so wimmeln mag... Das alles hatte er sich anders vorgestellt, aber letztlich trug er selbst die Schuld an der Entwicklung. Möglicherweise wäre alles anders gekommen, wenn er doch gleich mit der ganzen Armada – den in der Ewigen Stätte duplizierten SESHA-Kopien – nach Samragh aufgebrochen wäre. Dann wären vielleicht alle umgekommen, hielt er selbst gegen diese Idee. Dann hätte der Sonnenhof unter Umständen alle Foronen verschlungen, ausgenommen nur die Rüstungsträger... Das vor seinem geistigen Auge entstehende Szenario bereitete ihm noch mehr körperliche Qual als es das Gefühl der Hilflosigkeit ohnehin schon tat. 88 Monumentalschiffe, hilflos an der Peripherie Samraghs treibend, waren ein Albtraum, den er rasch wieder zu verdrängen versuchte. Dass er sich dazu entschieden hatte, Samragh mit nur einem Schiff – als Kundschafter – anzusteuern, erwies sich auch im nachhinein für sein Volk als die glücklichere Lösung, ganz gleich wie die Ereignisse hier weitergehen würden. Immerhin existierten die 87 über Bolcrain verteilten Schiffe
weiter. Die Foronen waren der Verfolgung durch die Virgh so weit entkommen, dass sie die Chance für einen Neuanfang hatten. Dennoch... Für Sobek machte es einen Unterschied, ob dieser Neuanfang in der alten Heimat oder im Exil in Angriff genommen wurde. Er hasste die Virgh. Sie existierten offenbar immer noch, wie seit der Entdeckung auf dem Planeten Zentalo befürchtet werden musste. Die Zeit hatte die Virgh nicht ausrotten können. Nicht nur der Sonnenhof, auch andere Hinweise sprachen dafür, dass sie noch immer existierten. Auch wenn sie bislang auf kein einziges Raumschiff, auf keine von ihnen bewohnte Welt getroffen waren. Nur jene sonderbare schlafende Brut im Innern einer verglasten ehemaligen Foronenwelt hatten sie gefunden... Plötzlich ging ein Ruck durch Sobek. Das Licht der Kabine schien mit einem Mal heller zu werden, sich aufzublähen und sengend in seine Sinnesrezeptoren zu brennen. Er stöhnte auf. Die Membran in seinem knöchernen Gesicht begann zu zittern, regelrecht zu flattern. Im nächsten Moment verlor er die Kontrolle über seinen Körper. Er kippte aus der sitzenden Position nach vorne und schlug schwer auf dem Boden auf, wo er hilflos zuckte, um sich schlug, Furcht erregende Töne ausstieß. Der Anfall dauerte exakt siebzehn Sekunden. Danach erlangte Sobek das Bewusstsein zurück und – ebenso wichtig – die Herrschaft über seinen Körper. Mühsam richtete er sich auf und schleppte sich auf die Sitzkonstruktion zurück, die seinen Foronenkörper optimal
stützte. Niemand, der nicht Zeuge des Geschehens war, hätte ihm in diesem Moment noch ansehen können, dass er von etwas Besorgnis erregendem befallen gewesen war. Er wirkte wieder ruhig und gefasst wie zuvor. Aber es gab Augen, die Zeuge des Zwischenfalls geworden waren. Und es gab Sobek selbst, der in sich lauschte und spürte, dass sich etwas verändert hatte, dass nichts mehr war wie zuvor. Er empfing etwas. Von weit, weit draußen... Die nächste Stufe foronischer Verdammnis hatte begonnen. *** Für einen Moment überkam Cloud ein Gefühl, das ihm weismachte, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jeglichen Halts beraubt zu werden. Er stürzte – scheinbar. Im nächsten Augenblick hatte er die RUBIKON verlassen. Auch nur: scheinbar! Denn die winzige Insel, umspült von einem schwarzen, öligen Meer, war völlig unwirklich. Ebenso wie die Ansammlung von Gestalten darauf. Personen, die verschieden aussahen, aber alle er waren. Mehr oder weniger. Mit denen er ein Gehirn teilte, und die ihn eine Zeit lang in Ruhe gelassen hatten. Das war nun vorbei. Sie wirkten aufgebracht.
Verwirrt und... ja: ratlos. Dann erst schienen sie ihn zu bemerken, kamen auf ihn zu. Ihre Umrisse zerliefen. Tropften wie jäh verflüssigtes Wachs in den Sand. Das teerige, zähe Wasser schwappte über das kleine Eiland und nahm die unförmigen Klumpen mit. Alle. Auch ihn... Cloud schrak aus dem Schlaf hoch. Er war immer noch an Bord der RUBIKON, natürlich. In seiner Kabine, in die er sich für zwei Stunden zurückgezogen hatte, um sich einen ebenso kurzen wie intensiven Schlaf zu gönnen. Dann hatte er offenbar geträumt. Geträumt...? Er schüttelte den Kopf, war schweißgebadet. »Ich dachte, ich wäre euch los«, murmelte er gepresst. »Ich dachte, ihr hättet verstanden, dass ihr mich in Ruhe lassen sollt...« Er war sich sicher, dass sie ihn hörten. Er hätte seine Gedanken nicht einmal aussprechen müssen. Seine Gespenster wussten, was er wusste – genauso, wie er sich ihr Wissen zu Eigen gemacht hatte. Wissensimplantate. Noch vor seiner Begegnung mit dem ersten Außerirdischen hatten irdische Wissenschaftler ihn mit fremden Prionen geimpft, um das destillierte Wissen fremder, verstorbener Genies auf ihn zu übertragen. Es hatte funktioniert – mit Nebenwirkungen. Er war ein Allrounder, fühlte sich auf vielen Wissensgebieten heimisch, als hätte er sie ein Leben lang studiert... Aber es gab etwas, was weder die behandelnden Ätzte ihm gesagt hatten, noch er selbst vorausgesehen hatte. Das Verfahren steckte in den Kinderschuhen. Den Prionen hatte
mehr als nur das Wissen der Spender angehaftet. Eben jene »Gespenster«, wie er sie nannte: Bewusstseins- oder Seelenfragmente jener Toten, auf deren pures Know-how er hatte zurückgreifen wollen. Splitter, die immer wieder in den Vordergrund drängten und ihm vorgaukelten, jene anderen Menschen zu sein. Eine Zeitlang hatte er gefürchtet, daran geistig zugrunde zu gehen. Bis er den Schlüssel zu einer friedlichen Koexistenz gefunden hatte – seinerzeit im Aqua-Kubus. Von dem Moment an, da er aufgehört hatte, sich instinktiv gegen die »Anderen« zu sträuben, hatten sie ihn in Ruhe gelassen – weil er sie ruhen ließ. Ihr Wissen stand ihm nach wie vor zur Verfügung. Aber er wurde noch mehr von Realitätsverlusten und multiplen Anwandlungen geplagt. War das alles nur ein Kompromiss auf Zeit gewesen? Hatten sie nur darauf gelauert, wieder aktiv zu werden? Hatte er unbewusst gegen ihr Abkommen verstoßen? Er schüttelte den Kopf. Oder konnte es mit dem Zwischenfall in dem Planetentrümmer zu tun haben? Damit, dass sein Geist vorübergehend regelrecht durch die Mangel gedreht worden war? »Licht!«, sagte er. Die Dunkelheit wich. Er war allein. Auch in seinem Kopf waren keine Stimmen, keine Bilder, die nicht hineingehörten. Keine Gedanken, von denen er zweifeln musste, dass er tatsächlich von John Cloud stammte. In diesem Moment sagte eine Stimme: »Es gibt Probleme. Ernsthafte Probleme.« Die KI.
Cloud legte innerlich einen Schalter um. Er war fast dankbar, daran gehindert zu werden, sich länger den Kopf über seine Befindlichkeit zu zerbrechen. »Konkreter!«, verlangte er ungeduldig. »Es gibt Besorgnis erregende Entwicklungen.« Die KI sprach im Plural. Da sie nie etwas grundlos tat, gab es also mehrere Vorkommnisse, die Anlass zur Beunruhigung gaben. »Entwicklungen – wo?«, fragte er. »Und welcher Natur? Virgh?« Die Antwort der KI fiel weit weniger klar, weit komplexer aus als erwartet. Und in ihrer Summe noch dramatischer als befürchtet. Sekunden später war er auf dem Weg zur Zentrale. *** Eine zentrale Kugel von 212 Metern Durchmesser, auf elliptischen Bahnen umlaufen von 16 kleineren, die wie stählerne Perlen anmuteten und das Ganze wie ein gigantisches Atommodell erscheinen ließen. Das war die PERSPEKTIVE. Jedenfalls so lange die komplizierten Kräfte, die das absolut fremdartige Raumschiff zusammenhielten, ungestört walten konnten. Doch genau damit schien es vorbei zu sein, mit dem Zusammenhalt. Von einem Atemzug zum anderen. Komplett vorbei. Und inmitten des ausufernden Chaos... Scobee! Und Artas. Er lag vor ihr am Boden, wand sich wie unter
Höllenqualen. Zuckte, trat und boxte um sich, während wimmernde Laute aus seiner Kehle drangen. Laute, die sich mit dem Ächzen des leidenden Schiffes vermischten, mit dem unwetterartigen Tumult unter den Magnetmeistern, die noch sehr viel heftiger von dem unsichtbaren Sturm betroffen schienen, der über die PERSPEKTIVE hinwegtobte. Scobee stand wie angewurzelt da. Ihre Gedanken überschlugen sich, Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten. Sie stand ganz im Bann der visionären Eindrückte, die auf sie einhagelten. Im Bann der Blitze, die jetzt von den Schädeln der Magnetmeister auch auf sie und Artas übergriffen – Entladung um Entladung. Und ein jedes Mal war ihr, als würde ihr Geist gespalten, unter einem titanischen Hieb durch die festen Wände des Schiffes in Nachbarräume getrieben. Sie schaffte es, ihr Gleichgewicht zu wahren, stehen zu bleiben, aber sie nahm an den Bildern teil, die ihr die Loge schickte. Diese war nach wie vor mit jedem Punkt der PERSPEKTIVE verflochten. Ein abstrahiertes Bild des komplexen Schiffes entstand vor Scobees geistigem Auge. Eine Art dreidimensionales Schema, von Linien durchwoben, die das bloße Auge nicht wahrzunehmen vermochte, die darauf geeichten Sinne dieser besonderen Satoga aber sehr wohl. Ich muss etwas tun! Eigene Gedanken in diesem Tohuwabohu von Eindrücken zu formulieren, war fast unmöglich. Alles dominierend war das Schiff in ihrem Hirn – und wie es die Magnetmeister sahen. Wie sie versuchten, gegen die Strömung, die unsichtbare Wellenfront, die über es hinwegschwappte, anzukämpfen. Gegenzusteuern. Scobee spürte – obwohl nicht einmal latent telepathisch veranlagt – Ratlosigkeit, spürte Furcht an der Grenze zur Panik...
Sie selbst blieb ruhig. Zumindest im Vergleich zu den Satoga, die sich immer wilder wanden, den Verbund ihres Schiffes zerbrechen sahen und nichts dagegen zu tun vermochten. Artas, dessen Schreie wie ein Wirbel mikroskopisch kleiner Rasierklingen in ihr Gehör schnitten. Artas, der unter den anbrandenden Störkräften ebenso litt wie unter den Entgleisungen der Loge. Denn diese unterschied nicht mehr zwischen ihresgleichen, sondern suchte mentale Verbindung selbst zu ungeschulten Hirnen wie dem von Artas oder Scobee. Ich ertrage das... nicht mehr lange... Irgendwie schaffte sie es, das Kornmunikationsmodul ihres Anzugs zu aktivieren. Fast blind hieb sie auf den entsprechenden Sensor. Eine Verbindung zur RUBIKON kam jedoch nicht zustande. Schon die »normalen« Verhältnisse an Bord des SatogaSchiffes reichten aus, um Funkverkehr nach draußen ohne die wohlwollende Unterstützung der Außerirdischen zu unterbinden. Verdammt! Sie ging in die Hocke, musste dabei gegen Widerstände ankämpfen, die an den Versuch erinnerten, zwei negativ gepolte Magnete zusammenzufügen. Aber es gelang ihr. Irgendwie. Indem sie jeden Muskel ihres Klonkörpers aufs äußerste anspannte. Sich nur noch auf die Absicht konzentrierte, sich um Artas kümmern zu wollen... Plötzlich war sie neben ihm in der Hocke, berührte seine Schulter... ließ die von winzigen Magnetpartikeln bestäubten Finger über seine ungewöhnliche Haut gleiten... fühlte die Hitze, die ihr daraus entgegenschlug... Oder kochte die Luft? War das Gemisch, das die Satoga
atmeten und das auch ihr nicht mehr schadete, seit man sie entsprechend konditioniert hatte, plötzlich doch unverträglich geworden? Sie füllte ihre Lungen. Es bereitete ihr keine Mühe. Sie bemerkte keinen Unterschied gegenüber vorher, kein Gefühl von Schwindel, das über die Torturen hinausging, die die Loge ihr zufügte. »Artas!«, schrie die GenTec. Er reagierte nicht, hielt auch nicht in seinen spasmischen Zuckungen inne. Er röchelte. Seine Augen standen weit offen und quollen aus den Höhlen. Augen, die noch nie so blind gewirkt hatten. Als wären sie von innen beschlagen. Scobee schauderte. »Artas!« Er bäumte sich ihr entgegen. Sein Körper verbog sich in einer Art und Weise, dass sie nicht ausschloss, im nächsten Moment Zeuge zu werden, wie er einer überspannten Feder gleich brach. Wieder schlug eine Art Blitz aus einem der MagnetmeisterHirne in ihrem Schädel ein. Brachte Bilder, die Entsetzen, Angst und Hilflosigkeit ausdrückten. Die zeigten, wie die PERSPEKTIVE aufhörte, jene PERSPEKTIVE zu sein, die Scobee bislang kennen gelernt hatte. Die nächste Welle, die nächste Flut schwappte gegen den künstlichen Mikrokosmos, gegen das Raumschiff, in dem die Satoga die Kluft zwischen Kleiner und Großer Magellanscher Wolke überwunden hatten. Hatte Scobee zunächst an eine Naturgewalt geglaubt, so zog sie nun doch mehr und mehr eine sehr viel wahrscheinlichere Erklärung für dieses Inferno in Betracht. Die PERSPEKTIVE, daran hatte sie in diesen Sekunden kaum noch Zweifel, erlebte einen ebenso offensichtlichen wie
katastrophalen Angriff. *** Der Türtransmitter spie ihn aus. Nur kurz war Clouds Blick getrübt. Die Ent- und Rematerialisierung stresste sein Hirn nicht mehr so stark wie beim ersten Mal, aber immer noch spürbar. Er schüttelte sich einmal wie ein nasser Hund, dann setzte er seinen Weg fort. Nicht Jelto oder Aylea erwarteten ihn in der Bordzentrale, sondern lediglich der Mann, den ein grausames Schicksal einerseits vor dem Tod bewahrt hatte, dem es aber andererseits auch alles Lebendige geraubt worden war. Ein hoher Preis – nur weiterleben zu können, indem das Bewusstsein in einen Kunstkörper transplantiert wurde... »John«, begrüßte Jarvis den Kommandanten der RUBIKON. »Die KI hat mich hierher bestellt. Ich war eigentlich unterwegs, um das Schiff weiter auszuloten. Du weißt, dass ich dem Braten nicht traue. Das alles hier – meinen Körper eingeschlossen – wurde nicht für Menschen gemacht. Und wo immer Foronen ihre Finger im Spiel haben, sollten wir permanent mit einem Haken rechnen, der uns...« »Du wurdest hierher beordert? Von der KI? Ich auch – mehr oder weniger. Es klang ernst...« »Es ist ernst«, tönte die künstlich modulierte Stimme von überall her zugleich. »Drei Dinge.« Cloud zog die anthrazitfarbene, humanoide Gestalt – Jarvis – mit sich zu den Kommandositzen und knurrte an die KI adressiert: »Leg schon los!«
Die KI gehorchte. Das Erste, womit sie Cloud und Jarvis konfrontierte, war die Tragödie, die sich in direkter Nähe der RUBIKON abspielte. Sie betraf die PERSPEKTIVE, auf der zu diesem Zeitpunkt auch Scobee weilte. Cloud und Jarvis wurden Zeuge, wie etwas nach dem faszinierenden Satoga-Schiff griff – eine Art unsichtbare Turbulenz, die den Magnetverbund, den Zusammenhalt der einzelnen Segmente zunächst nur empfindlich störte. Die kleineren Kugeln umliefen das Zentralelement nicht länger geordnet. Und auch die Zentrumskugel führte Rotationsbewegungen aus, die selbst auf Uneingeweihte grundfalsch und... grundgefährlich wirkten. Die Katastrophe, deren Vorboten niemand hatte kommen sehen, war da. Die PERSPEKTIVE verging unter den unsichtbar auf sie einbrandenden Gewalten! Gewalten, die in keiner Sekunde an der RUBIKON rüttelten... *** »Sie zerbricht!« Es war Clouds Gedanke, den Jarvis gerade aussprach. Noch schärfer fassten beide Betrachter von ihren Plätzen aus das Geschehen in der Holosäule ins Auge. Mit wenigen Berührungen der Sensorfelder, die in die Enden der SitzArmlehnen eingelassen waren und die manuelle Bedienung von Teilbereichen der RUBIKON ermöglichten, vergrößerte Cloud das Geschehen in unmittelbarer Nähe des eigenen Schiffes noch. Die PERSPEKTIVE rückte wie im Sprung heran.
Sämtliche ihrer Trabanten hatten sich aus den elliptischen Führungsbahnen gelöst und bewegten sich nun scheinbar willkürlich vom Hauptkörper fort. Wie Quecksilberperlen auf einem samtigen Untergrund stoben sie auseinander. Während die Zentralkugel immer schneller um die eigene Achse rotierte und dabei Besorgnis erregende Begleiteffekte schuf. Messbare Verzerrungen der Raumzeit. Verwirbelungen im Kontinuum. Die KI meldete: »Die abgespaltenen Einzelsegmente sind stabil. Keine Lecks in der Neodym-Panzerung feststellbar. Der Verbund hat sich aus unbekannten Gründen aufgelöst. Eine Verbindung zu den Satoga kommt nicht zustande. Niemand beantwortet entsprechende Anfragen.« »Bemühung fortsetzen. Wie sieht es in der weiteren Umgebung aus?« Cloud spürte, wie er in die Situation hineinwuchs. Wie es ihm von Mal zu Mal leichter fiel, die Position eines Schiffsführers auszufüllen. »Irgendwelche Hinweise auf ungebetene Neuankömmlinge? Oder haben wir nach dem Vorfall in den Planetentrümmern etwas übersehen? Du hattest vorhin von drei Dingen gesprochen, die fast gleichzeitig eingetreten sind. Wenn das dort Nummer eins ist, was sind dann zwei und drei?« »Zwei betrifft die Betrüger, die unter Arrest stehen.« »Betrüger« nannte SESHA nur zwei Geschöpfe an Bord, und auch das erst seit der Sonnenhof sie auf immer noch nicht restlos geklärte Weise verändert hatte und ihre Heilversuche fehlgeschlagen waren – Sobek und Siroona. »Was ist mit ihnen?«, fragte Cloud. »Mindere Priorität«, beschied ihm die KI. »In Hinblick auf das Satoga-Schiff erscheint drei brisanter – eventuell gibt es eine Verbindung.« Selten hatte sich SESHA umständlicher ausgedrückt.
Cloud beherrschte seinen Ärger nur mühsam. Seine vorrangige Sorge galt Scobee und den Satoga, bei denen das helle Chaos ausgebrochen zu sein schien. Für den Betrachter von außen war nicht einmal abschätzbar, wie es zurzeit im Innern der Kugeln aussah. Was dort vorging. Oder, dachte Cloud aufs Höchste alarmiert, um es auf einen simplen Nenner zu bringen: Ob dort überhaupt noch jemand lebt. *** Sie lebte, was fast einem Wunder gleichkam. »Artas!«, schrie Scobee wieder. »Komm endlich zu dir!« Alles um sie herum verzerrte sich wie in einem Spiegelkabinett. Nur das hier nicht nur optische Effekte zum Tragen kamen, Scobee spürte die Veränderung ihrer Umgebung und ihrer selbst. Die Satoga – insbesondere die offenbar für die Navigation und Schiffsbeherrschung zuständigen Magnetmeister – waren davon in weit stärkerem Maße betroffen. Aber auch Scobee fühlte, wie etwas nach dem molekularen Zusammenhalt ihres Körpers griff, wie etwas diese eigentlich unlösbare Verbindung attackierte und zu lösen trachtete – was zwangsläufig ihren Tod zur Folge gehabt hätte. »Artas!« Sie rüttelte unentwegt an seiner Schulter. Der Kopf des Satoga schlenkerte so schlaff hin und her, dass sie fürchten musste, ihm das Genick zu brechen – oder das, was einen Satoga-Schädel auf dem Rumpf festhielt. Sieht eher so aus, als wäre es bereits gebrochen...
Sie weigerte sich, das zu glauben. Weiter wüteten absonderliche Kräfte an ihr. Ihrem eigentlich gegen Umwelteinflüsse hochgradig resistenten Klonkörper wurden seine Grenzen aufgezeigt. Der Schmerz, der ihn durchlief, schwoll von Sekunde zu Sekunde an und erschwerte mehr und mehr jegliches Denken. Jegliches Planen. »Ar... Artas!« Es gab einen Knall, dem Dunkelheit folgte. Schwärze, die sich wie eine zähe Flüssigkeit über alles ergoss, was den Raum ausmachte, in dem sich Scobee aufhielt. Eine Flüssigkeit, die alles darin Befindliche ertränkte. Scobee blieb nicht einmal mehr Zeit für einen Seufzer. Oder einen Schrei. Zeit und Raum mutierten zu einem unendlich zornigen, unendlich hungrigen Monstrum, das sie blitzschnell verschlang. *** »Du hast was festgestellt?« Cloud konnte es nicht fassen. »Eine Veränderung der Konstante«, wiederholte die KI lapidar. »Welcher Konstante?« »Der galaktischen Hintergrundstrahlung.« »Wann hat sie sich verändert? Vorhin, bevor die PERSPEKTIVE in diesen... Zustand geriet?« »Es begann, als Zentalo vernichtet wurde.« Cloud spürte, wie sich seine Finger um die Enden der
Lehnen krallten. »Ach? Und das erfahre ich erst jetzt?« »Es war zunächst unauffällig. Aber dann erfuhr es eine sprunghafte Steigerung.« »Lass mich raten: Kurz bevor das Satoga-Schiff sich ein klein wenig ›merkwürdig‹ zu verhalten begann?« »Korrekt.« Cloud wünschte sich mehr denn je eine KI mit einem substanziellen Hals zum Würgen. »Was genau verstehst du unter einer Veränderung der Konstante?« Statt auf seine Frage zu antworten, berichtete SESHA: »Achtung! Umkehrung der Ereignisse. Die PERSPEKTIVE zieht sich wieder zusammen!« Einmal darauf aufmerksam gemacht, sah Cloud sofort, was mit »Zusammenziehen« gemeint war. Die scheinbar planlos in unterschiedliche Richtungen abgedrifteten Kugel-Trabanten hatten ihr Expansionsstreben eingestellt und bewegten sich nun wieder sichtbar auf die Hauptkugel zurück. Diese wiederum hatte ihre aberwitzige Rotation beendet. Abrupt. Ruhig und majestätisch schwebte sie wieder vor dem Hintergrund des Alls. »Kontakt!«, meldete die KI. »Der Satoga Artas verlangt dich zu sprechen, Kommandant.« Clouds Zorn gegen die KI verrauchte binnen eines einzigen Herzschlags. Im nächsten Augenblick öffnete sich auch schon ein Fenster innerhalb des Holofeldes, das einen mehr als lädiert aussehenden Artas zeigte. Clouds erste Frage galt dennoch nicht ihm. »Wie geht es
Scobee? Und was zur Hölle ist da bei euch los, Artas?« »Sie lebt. Und ich denke, dass sie sich wieder erholen wird. Ich bringe sie persönlich zu euch zurück.« Cloud kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Das klang nicht, als müsste er sich keine Sorgen machen. »Was ist passiert?«, wiederholte er den Teil der Frage, den Artas bislang ignoriert hatte. »Die Analyse ist im Gange. Sobald die PERSPEKTIVE wieder hergestellt ist, wechsele ich mit Scobee zur RUBIKON. Wir werden über alles sprechen.« Cloud nickte widerstrebend. »Ich will mit Scobee sprechen.« »Das ist derzeit nicht möglich.« »Warum nicht?« »Sie ist in besten Händen.« Mit diesen Worten beendete Artas die Verbindung. »Was bildet dieser Typ sich ein?«, ächzte Jarvis. Er beherrschte die Stimmmodulation seines Ersatzkörpers inzwischen in Perfektion. Cloud blieb eine Antwort schuldig. Die Holosäule zeigte, wie sich die einzelnen Trabanten wieder mit dem Zentralkörper des Raumschiffes verbanden. Ein Vorgang, der insgesamt fast eine Stunde beanspruchte. Danach löste sich die vertraute Silhouette eines SatogaJägers aus einer der Hauptschleusen der PERSPEKTIVE und hielt auf die RUBIKON zu. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Cloud nicht mehr in der Zentrale, sondern widmete sich bereits dem nächsten Problem. Jener Angelegenheit, die von SESHA auf der Prioritätenliste an
den Schluss geschoben worden war... *** Scobees Erwachen war anders als jedes Zu-Sich-Kommen davor. Es war, als wollte die dunkle Tiefe des Vergessens, des kurzzeitigen Nicht-Seins, sie nie wieder hergeben. Irgendwie aber schaffte sie es, ihr zu entfliehen. Zurückzukehren in das, was sie als das eigentliche Leben empfand. Das bewusste Sein. Ihre Existenz. »Wo...« Die GenTec musste schlucken. »Wo bin ich?« Die Sprache kehrte in dem Moment zurück, da sie die Augen aufschlug. Auch sah sie sofort – klar und scharf. Es bedurfte keiner Phase der Besinnung. Artas war bei ihr. Er war ihr vertraut geworden, unterscheidbar von anderen Satoga. Von denen mehrere ebenfalls anwesend waren und Scobee umstanden. Sie waren mit Instrumenten ausgerüstet, die sie nie zuvor gesehen hatte. Ihre Kleidung war von anderem Schnitt und von einem fast schmerzhaften Rot. »Du würdest es Krankenstation nennen«, sagte Artas mit volltönender Stimme. Er vermittelte keinerlei Besorgnis. Alles an ihm strömte Optimismus aus – was Scobee angesichts des gerade Erlebten seltsam falsch, ja gekünstelt vorkam. Insbesondere deshalb, weil sie keinerlei Nachwehen der Marter an ihm feststellte, die ihn in ein hilfloses Bündel verwandelt hatte, lange bevor auch sie selbst davon niedergestreckt worden war.
»Dann sind das eure Ärzte?«, fragte die GenTec. »Du kannst sie so nennen.« »Was... was ist passiert? Du und die Magnetmeister...« »Es betraf alle Satoga an Bord«, unterbrach er sie. »Und: Nein, wir wissen noch nicht sicher, was es war. Fest steht nur, dass es zur Katastrophe geführt hätte, wenn es noch länger auf diesem Niveau angedauert hätte. Die Logen verloren jede Kontrolle über das Schiff. Es... verlor seinen Zusammenhalt. « »Woher kam es? Ich dachte an einen Angriff...« »Vielleicht war es einer. Vielleicht gibt es aber auch eine natürliche Ursache. Wir werden es herausfinden.« »Wie?«, wollte Scobee wissen. »Wir haben Möglichkeiten.« Es war offensichtlich, dass er ihr nicht alles verraten wollte, wozu Satoga fähig waren. Was wiederum verständlich war. »Wie lange war ich weg?«, fragte die GenTec. »Weg?« »Ohne Bewusstsein.« »Vier deiner Stunden.« »So lange?« Sie richtete sich auf der unsichtbaren Unterlage auf, von der sie getragen wurde. Etwa in Hüfthöhe der behandelnden Satoga. »Ich muss sofort...« »Deine Leute wissen Bescheid. Ich habe versprochen, dich persönlich zur RUBIKON zu überführen.« »Überführen...« Scobee grinste ein wenig leidend. »Wir Menschen benutzen diesen Begriff in Zusammenhang mit anderen Menschen vorzugsweise für den Transport von
sterblichen Überresten. Tu mir einen Gefallen und sag einfach: ›Ich bring dich rüber.‹« Sie hatte den Eindruck, dass das alte ewige Lachen noch nicht wieder völlig auf sein Gesicht zurückgekehrt war. Litt er also doch auch unter nachwirkenden Stresssymptomen? »Ich bring dich rüber«, sagte er. Von seinem Mund gesprochen, erkannte sie, wirkte der Satz noch bizarrer als die Vorstellung ihrer Überführung, die sie mit Tod und Ende assoziierte. Tod und Ende – erst ganz allmählich wurde ihr klar, wie knapp sie alle wahrscheinlich genau daran vorbeigeschrammt waren. Ganz gleich, was letztlich nach ihnen gegriffen hatte. *** Er saß da wie ein kalter, unbarmherziger Götze. Und genau so hatte Cloud ihn auch kennen gelernt. Sobek wirkte noch so monströs wie am ersten Tag. »Dir geht es nicht gut?« Mit dieser Frage betrat Cloud die Kabine des Foronen. Der nicht antwortete, sich nicht einmal rührte. Worauf Cloud noch einen Schritt tiefer in die Zelle ging. Jarvis blieb wie ein Schatten hinter ihm, bereit, im Fall der Fälle einzuschreiten. Mein persönlicher Bodyguard. Cloud wünschte sich nicht zum ersten Mal, er könnte die Gedanken des Foronen lesen. Sobek kauerte in einer Konstruktion, die perfekt auf seine Anatomie zugeschnitten war. Er hatte zwei Arme, zwei Beine
und einen Kopf – aber darin erschöpfte sich seine Ähnlichkeit zu einem Menschen auch schon. Wo diese ein Gesicht mit Mund und Augen, Ohren und Nase hatten, existierte bei ihm nur die schwache Andeutung solcher Details. Alles in allem wirkte er wie die »Vorskizze« eines Bildhauers, bevor er sich ans Modellieren der Feinheiten machte. Foronen schienen nicht aus Fleisch und Blut zu bestehen, sondern aus Knochen. In den angedeuteten Zügen dominierte eine handtellergroße, kreisrunde Fläche. Sie wirkte wie von einem grauen Pilz befallen. Was Sobek insgesamt krank wirken ließ. Cloud hütete sich dennoch davor, ihn auch nur eine Sekunde lang zu unterschätzen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit suchte der Forone unablässig nach Auswegen aus seiner persönlichen Misere. Nach einer Möglichkeit, seinen verlorenen Status zurückzuerlangen. Er wollte aus der RUBIKON wieder das machen, was das Schiff in seiner Vorstellung nur sein durfte: Sein Herrschaftsgebiet. Seine Basis, mit der er die Verhältnisse in Samragh erkunden konnte, und um das Geheimnis der Virgh zu lüften, das seit dem Auffinden ihrer Brut im Bauch Zentalos nicht kleiner geworden war. Als Cloud schon glaubte, Sobek würde überhaupt nicht mehr reagieren, entwichen der Membran im »Gesicht« des Foronen doch noch Worte. »Nicht gut?« Sobeks Stimme klang kalt wie immer. »Wie kommst du darauf?« Cloud wusste nicht, ob er über die Gesprächsaufnahme des ihn selbst sitzend noch überragenden Wesens erleichtert sein sollte. »Du willst nicht darüber sprechen?« »Es gibt nichts, worüber ich zu sprechen hätte. Jedenfalls
nichts, was meine Befindlichkeit angeht.« Nur die Membran flatterte. Sobeks Körper, von der Rüstung entblößt, die ihn lange Zeit als Mitglied des Herrscherrats ausgewiesen und praktisch unangreifbar gemacht hatte, schien weiterhin mit der Sitzkonstruktion verwachsen zu sein. Er trug einen tunikaartigen Überwurf, den ihm die KI nach der Sicherstellung seiner Panzerung ausgehändigt hatte. Auch die in der Nachbarkabine arrestierte Siroona war auf diese schmucklose und unspektakuläre Weise eingekleidet worden. Kobaltblau. Ein Blau, das zur Kälte in Sobeks Wesen passte. »Du lügst.« Cloud erwartete eine heftige Reaktion, die jedoch ausblieb. »Und es ist nicht der Umstand als solcher, der mir zu denken gibt – ich bin es längst gewohnt, dass Lüge zu deinem Handwerkszeug gehört –, sondern vielmehr die Frage nach dem Warum.« »Wann kann ich die Kabine wieder verlassen?«, fragte Sobek, ohne auf Clouds Worte einzugehen. »Zurzeit gar nicht«, erwiderte dieser. »Wir befinden uns noch im Zentalo-System?« »Ja.« »Du hast deine Ankündigung wahr gemacht und einen...« Kurze Pause. »... einen Virgh geborgen? Lebendig?« Cloud war nicht bereit, mit Sobek den Vorfall zu erörtern, der ihn fast seinen Verstand gekostet hätte. »Was ist hier passiert?«, kam er auf den eigentlichen Zweck seines Besuches zurück. »Warum leugnest du den Anfall, den du hattest?« »Ich weiß wirklich nicht, wovon du...« Cloud ließ den Foronen nicht ausreden.
Er öffnete seine bislang geschlossene Faust. Ein Daumendruck aktivierte das darin befindliche, münzgroße Etwas, und über der offenen Handfläche bildete sich ein Hologramm. Es zeigte Sobek in seiner Zelle. Es zeigte Sobek, wie er sich unkontrolliert am Boden wand. Sekundenlang. Wie sich die Sinnesrezeptoren, die über die Fläche seiner knöchernen Physiognomie verteilt waren, in etwas verwandelten, das an glühende Pigmente erinnerte... Plötzlich war der holografische Sobek wieder ganz ruhig. Er zog sich in seinen Sitz zurück, in dem er auch jetzt noch ruhte, und verfiel in jene Starre, die ihn seither auszeichnete. »Hast du erwartet, dass du auch nur ein Fingerglied rühren kannst, ohne dass es unserer Aufsicht entgeht?« Cloud gab sich Mühe, herablassend zu klingen. So herablassend, wie sonst nur Sobek zu sprechen gewohnt war. Sobek, der in diesem Moment hervorpresste: »Ich habe nichts zu sagen.« Cloud nickte. Im Grunde hatte er nie eine Kooperation erwartet. »Vielleicht interessiert es dich, dass deine Gefährtin eine absolut identische Reaktion zeigte – in denselben Sekunden wie du?« Sobek schwieg. »Und dass sie sich genau so unkooperativ verhält wie du...« Cloud machte aus seiner wachsenden Verärgerung keinen Hehl. Er gab Jarvis ein Zeichen, und gemeinsam verließen sie die Kabine. Sobek unternahm nicht einmal den Versuch, sie aufzuhalten
– oder anzugreifen. Als sich SESHA bei Cloud meldete, änderte er die eingeschlagene Richtung und suchte den Hangar auf, in dem soeben der Jäger der Satoga gelandet war... *** Die Erleichterung, sie gesund zurückkehren zu sehen, überwog die Neugier. Dennoch machte sich Cloud auch nach einer herzlichen Begrüßung – die auch Artas mit einbezog – keine Illusionen: Der Vorfall – beziehungsweise die Häufung der Vorfälle – ausgerechnet hier im Zentalo-System, war Besorgnis erregend. Sie war nicht einfach als Kette von Zufällen abzutun. »Fassen wir also zusammen«, sagte er, den Blick in die Runde geworfen, der sich neben Jarvis auch Jelto und Aylea angeschlossen hatten. Der Ort der Zusammenkunft war die Zentrale der RUBIKON. Vor ihnen befand sich die Holosäule, in die SESHA – die Künstliche Intelligenz – immer wieder neue Daten einspielte. Daten, die sich mit Nachforschungen befassten, die Cloud in Auftrag gegeben hatte. Und die, natürlich, mit den jüngsten Ereignissen zusammenhingen. Artas saß mit einer zur Schau gestellten Selbstverständlichkeit in einem der sieben Kommandositze, als wäre er ganz speziell für ihn hergestellt worden. Scobee machte einen eher verwirrten denn lädierten Eindruck. Jelto und Aylea waren einfach neugierig. Sie hatten längst nicht alles mitbekommen, das sich an Bord und beim SatogaSchiff abgespielt hatte.
Cloud legte eine kurze Pause ein, in der sein Blick von Sitz zu Sitz tastete und er das Bild auf sich wirken ließ. Was sind wir nur für ein erbärmlicher Haufen?, dachte Cloud. Er meinte es fast liebevoll, denn er hatte sich an diesen »Haufen« gewöhnt. An die zehnjährige Aylea und den Florenhüter Jelto ebenso wie an Jarvis und Scobee. »Fassen wir also zusammen«, wiederholte er in die Stille hinein, die den hohen Raum prägte. »Nach Zentalos Vernichtung treibt eine Unzahl von Trümmern durch das hiesige System. Es ist nicht auszuschließen, dass sich noch in weiteren Kavernen ähnlich der befinden, in die ich... in die unsere Roboter eingedrungen sind. Es gibt also immer noch eine Chance, Virgh zu bergen – lebendig – und von ihnen Wissen zu erlangen. Das könnte überlebenswichtig in dieser fremden Umgebung fernab der Heimat werden.« Er nickte den anderen zu. »Das ist das Eine. Das andere betrifft den noch ungeklärten Ausbruch einer unbekannten Kraft, die nicht nur Sobek und Siroona zusetzte, sondern offenbar auch zeitgleich für den Zusammenbruch des Schiffverbunds der PERSPEKTIVE verantwortlich war. Und der«, seine Stimme wurde eine Spur leiser, »auch mir zusetzte.« »Dir?«, fragte Scobee. Ihre Augen, überwölbt von verspielt anmutenden Tätowierungen, die ihre Brauen ersetzten – und darüber hinwegtäuschten, wie hart diese Frau auftreten und sich Respekt verschaffen konnte –, musterten ihn eindringlich. Er lächelte unfroh. »Sie haben mich wieder.« Außer Scobee hätte von den Anwesenden nur noch Jarvis ahnen können, worauf er hinauswollte. Er wartete nicht ab, bis sich das Unverständnis der anderen artikulierte, sondern erzählte in knappen Sätzen von seinem
Erlebnis mit den Prionen-Gespenstern. Artas zeigte sich beeindruckt. Auf Ayleas Gesicht lag nackter Schrecken. Obwohl sie selbst fast Übleres erlebt hatte – auf der Erde der Erinjij; in einer Familie, die ihre einzige Tochter auf MasterBefehl einfach aufgegeben hatte... Obwohl ihre Eltern noch leben, ist sie eine Waise, dachte Cloud. Was den Schluss nahe legte, dass auch ihm und den übrigen Besatzungsmitgliedern eine besondere Rolle zufiel: die von Ersatzeltern. »Ich dachte, du hättest sie überwunden«, sagte Scobee. »Ich hatte mich mit ihnen arrangiert. Und ich hoffe, dieses Arrangement besteht noch immer. Aber mein Traum fiel absolut zeitgleich mit Sobeks und Siroonas Ausrastern zusammen – und mit dem, was die PERSPEKTIVE in Bedrängnis brachte. Es muss einen Zusammenhang geben. Artas? Wie sieht das Ergebnis eurer Untersuchungen aus?« »Es war eine psionische Kraft, die uns überrollte – wellengleich. Sie konnte nicht verfolgt werden. Weder in die Richtung, in die sie entwich, noch in die, aus der sie kam.« »Wellengleich. Bist du sicher? Die KI dieses Schiffes fand etwas anderes heraus. Etwas, das noch immer da ist. Das immer da ist. Und das sich lediglich merkbar verändert hat in dem Moment, da Zentalo zerbarst.« »Wir haben nichts dergleichen festgestellt. Wovon redest du? Wovon redet eure KI?« Artas wirkte wie stets: interessiert, aber beherrscht. Cloud gab weiter, was SESHA ihm erklärt hatte. Dazu forderte er die KI auf, es mit ihren – sehr viel präziseren –
Worten zu untermauern. Mit Diagrammen und Simulationen, die sie ins Gewebe der Holosäule einflocht. Artas blieb, was er auch schon zu Beginn gewesen war: interessiert, aber nicht überzeugt. »Ich werde die Daten von meinen Bordwissenschaftlern prüfen lassen. Abgleichen lassen. Noch vor unserem Start.« »Start?« Cloud gab nicht nur vor, verblüfft zu sein. Er war es. »Wir werden uns in Kürze von euch verabschieden. Es gibt keinen vertretbaren Grund, unsere Weiterreise noch länger hinauszuschieben. Scobee weiß, weshalb wir von Mara Forna nach Mara Styga kamen.« Clouds Blick wechselte zu Scobee, die zu seiner Rechten saß, während Artas, der ihm gegenüberhockte, nur leicht unscharf durch die Holosäule hindurch zu erkennen war. Sie wirkte erstaunt, mehr noch: regelrecht perplex. Cloud erkannte sofort, dass sie die Ankündigung des unmittelbar bevorstehenden Abschieds ebenso unerwartet traf wie ihn. »Ich hatte gehofft, dass«, er stockte kurz, »wir ein Bündnis eingehen könnten. Wenigstens so lange, bis wir mehr Klarheit über die Verhältnisse in – wie sagtest du gerade? – Mara Styga gewonnen haben.« Artas strahlte noch genauso viel Freundlichkeit aus wie in dem Moment, da er zusammen mit Scobee dem Satoga-Jäger entstiegen war. Aber sein Entschluss, daran ließ er keinen Zweifel, stand fest. »Wir haben eine Mission«, erklärte er. »Eine, die von überlebenswichtiger Bedeutung für mein Volk ist. Sollte es uns gelingen, mit der PERSPEKTIVE reiche Luminium-Lager innerhalb unserer Nachbargalaxis zu entdecken – Vorkommen, auf die kein anderes Volk mit Fug und Recht Anspruch erhebt
–, müssen wir unverzüglich heimkehren und den Startschuss für den Bau weiterer Schiffe nach dem Muster der PERSPEKTIVE geben. Es wird Jahre dauern, bis eine genügend große Flotte von Schürfschiffen zusammengestellt ist, eskortiert von einer noch stärkeren Flotte von Schiffen, die ihren Schutz garantieren kann. Was ihr uns über die Virgh gesagt habt... was wir selbst an zerstörten Welten fanden... Das alles gibt zu der Befürchtung Anlass, dass uns die möglichen Luminium-Vorkommen, die wir hier erschließen könnten, streitig gemacht werden.« Cloud hörte den Begriff Luminium zum ersten Mal. »Was genau ist das, Luminium?« Artas wiegelte ab. »Scobee wird es dir erklären. Ich habe ihr von unseren Nöten erzählt. Lasst mich nun zurückkehren zu meinem Schiff. Die Logen erwarten mich. Sie drängen zum Aufbruch.« Scobees Nicken verriet Cloud, dass sie ihm auch zu den gerade erwähnten Logen etwas sagen konnte. »Ihr hattet bereits Erfolg?«, wandte er sich an Artas. »Dieses Luminium betreffend?« »Möglicherweise. Die Ortungen sind widersprüchlich. Aber ich glaube, es ist ratsam, schnellstmöglich zu den ermittelten Koordinaten aufzubrechen.« »Verrätst du uns diese Koordinaten?« »Ihr wisst mit Luminium nichts anzufangen.« Und falls doch wollte Artas offenbar nicht teilen. »Ich dachte auch weniger an Luminium als an ein Zusammentreffen. Eine Wiederbegegnung – irgendwann. Niemand kann sagen, wie lange wir die GMW noch durchkreuzen. Falls wir keine Möglichkeit zur Reparatur unseres Antriebs finden, ist nicht auszuschließen, dass wir uns
eine geeignete Welt unter einer der Sonnen von... Mara Styga suchen müssen.« Insgeheim hoffte er darauf, dass Artas ihm anbot, die PERSPEKTIVE nach Mara Forna zu begleiten, sobald das Magnetschiff selbst die Heimreise antrat – aber nichts dergleichen kam dem Satoga über die Lippen. Stattdessen überraschte er Cloud mit etwas anderem. Aus einer Umhängetasche, der Cloud bislang keine weitere Beachtung geschenkt hatte, nahm er ein würfelförmiges, absolut schwarzes und schmuckloses Gebilde. Seine Kantenlänge betrug nicht mehr als 15 Zentimeter. Was es wog, ließ sich aus der Art, wie Artas es hob und bewegte, nicht abschätzen. Erst als der Satoga aufstand, durch die Holopixel auf Cloud zutrat und ihm den Würfel überreichte, bekam er ein Gefühl dafür. Es war viel schwerer als erwartet. Fünf bis sechs Kilogramm. »Danke«, sagte der Kommandant der RUBIKON. »Was soll ich damit? Was ist das?« »Ein Zeichen.« »Ein Zeichen?« »Unserer Verbundenheit. « Clouds Verunsicherung blieb beharrlich. Artas fuhr fort: »Scobee und ich sprachen heute kurz über Freundschaft – etwas, das uns Satoga heilig ist. Betrachte diese Box als Ausdruck meiner Wertschätzung für euch Menschen. Ich bin froh, euch begegnet zu sein. Und es wäre mir eine Ehre, wenn ihr mein Angebot zur Freundschaft unserer Völker annehmen würdet. Satoga und Menschen – so unterschiedlich unsere Lebensweisen und sonstigen Werte auch sein mögen, so
unverbrüchlich soll doch unsere Freundschaft sein. Willst du das, John Cloud von der Erde? Ein Freund der Satoga sein?« Er machte eine ausholende Geste. »Und wollt auch ihr anderen das?« Cloud wog den Würfel in der Hand und sagte: »Ein Zeichen also. Ein Symbol unserer Freundschaft...« »Und doch mehr, viel mehr«, ergänzte Artas. »Mit diesem Gerät könnt ihr Verbindung mit uns aufnehmen. Wo immer ihr seid – und wann immer ihr es für nötig erachtet. Wir werden euch damit empfangen können, selbst wenn wir zu diesem Zeitpunkt bereits wieder daheim sind.« »Eine Art Funkgerät also?« Cloud hob die Brauen. »Wie funktioniert es? Wie kann es eine solche Reichweite haben? Es ist... winzig!« »Stärke ist keine Frage von Größe«, erwiderte Artas. Klang es spöttisch? Oder war es einfach eine universelle Wahrheit, die der Satoga ganz ohne Hintergedanken zum Besten gab? »Darf ich?« Scobee war aufgestanden und streckte nun die Hände nach dem Würfel aus. Cloud reichte ihn an sie weiter. Sie wirkte gedankenverloren, fast traurig. Selbst wenn Artas dasselbe empfand, ging er nicht darauf ein. Er unterwies sie im Gebrauch seines Geschenkes und verließ die RUBIKON. Er hielt Wort und meldete sich noch einmal, bevor die PERSPEKTIVE Fahrt aufnahm. »Unsere Wissenschaftler können eure Beobachtung nicht bestätigen«, sagte er. »Das galaktische Hintergrundrauschen innerhalb von Mara Styga ist unseren Tests zufolge unverändert und liegt absolut im Rahmen des Normalen.«
Cloud, der nichts anderes als SESHAs Behauptung entgegenzusetzen hatte, ließ es dabei bewenden. »Ich habe kein Geschenk für dich zum Abschied«, sagte er. »Geschenke verlieren an Bedeutung, wenn sie zwanghaft mit Gegengeschenken aufgewogen werden«, erwiderte Artas. »Wusstest du das nicht, John Cloud?« *** Das Satoga-Schiff nahm Fahrt auf. Es beschleunigte mittels seines konventionellen Antriebs auf etwa halbe Lichtgeschwindigkeit. Von Bord der RUBIKON aus wurde alles akribisch aufgezeichnet. Cloud legte Wert darauf, so viel wie möglich über die Art und Weise zu erfahren, mit der sich die PERSPEKTIVE durch den Weltraum bewegte – insbesondere, wenn sie auf Überlicht ging. Artas und seine Mannschaft hatten darüber nichts preisgegeben, einerseits verständlich, andererseits auch so wenig zufrieden stellend wie das eingeschränkte Begreifen des RUBIKON-Antriebs bis heute geblieben war. SESHA hüllte sich über Details ebenso in Schweigen wie die Satoga es bezüglich ihrer PERSPEKTIVE taten. Manchmal hatte Cloud sogar den Eindruck, die KI seines Schiffes kenne selbst nicht alle Einzelheiten des Prozesses, mit dessen Hilfe es dem Rochenschiff gelang, schneller als das Licht zu reisen – nach seinem Wissen eine physikalische Unmöglichkeit in diesem Universum, dessen Parameter exakt festlagen –, dabei aber Bestandteil des regulären Kosmos zu bleiben. Die RUBIKON »schwamm« regelrecht auf den unsichtbaren Gravitationsfeldern des Weltraums. Dabei nutzte
und verarbeitete sie einen Treibstoff, der auf der Erde, der Cloud entstammte, als Dunkle Materie oder Dunkle Energie vage bekannt gewesen, aber in seiner Existenz letztlich noch nicht nachgewiesen worden war. Die Foronen hatten sich dieses »Dunkle«, Rätselhafte als Energie erschlossen – was der RUBIKON bei den Jaroviden beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Die kurze Erinnerung an Sobeks eiskalten Mordbefehl, der ein ganzes Volk in den Untergang gerissen hatte, bestärkte ihn in seiner zwar differenzierten, insgesamt aber eher negativen Meinung über die Erbauer dieses Raumschiffs. Die Foronen hatten sich ihm gegenüber bislang nicht anders präsentiert als selbstverliebt und egoistisch. Die ureigene Tragik dieses Volkes – ihr verlorener Krieg gegen die Virgh – verblasste beinahe angesichts solcher charakterlichen Grundschwächen. Clouds Überlegungen fanden wieder zu den Satoga zurück. Innerhalb der Holosäule wurde deutlich, wie die PERSPEKTIVE ihre Überwindung existierender physikalischer Gesetze plante. Die Zentralkugel des Schiffes begann während des »Normalflugs« – ab der abgemessenen etwa halben Lichtgeschwindigkeit – plötzlich ähnlich schnell zu rotieren, wie sie es auf dem chaotischen Höhepunkt nach dem Auseinanderdriften ihrer Komponenten getan hatte. Nur blieb diesmal der Verbund erhalten – und rotierte mit. Die PERSPEKTIVE erinnerte an einen gigantischen Bohrkopf, der... SESHA begleitete sämtliche Beobachtungen Ortungsergebnissen und Kommentaren.
mit
... urplötzlich begann, eine Art Loch in den Raum zu fräsen. Eine Art Schacht, als wühle er sich durch losen Sand.
In den entstandenen Tunnel tauchte die PERSPEKTIVE ein. Sie blieb weiterhin mittels der Ortungssensoren verfolgbar. Bis zu einer bestimmten Distanz jedenfalls. Ein Lichtjahr war der Knackpunkt. Ab dieser Entfernung versiegten die verfolgbaren Impulse. Die PERSPEKTIVE hatte ihre Suche nach Luminium wieder aufgenommen. Geblieben war ein kleiner, schwarzer Würfel, von dem Cloud in diesem Moment, als er die Satoga aus der Ortung verlor, bezweifelte, dass er ihnen den Kontakt zu Artas jemals wieder zurückbringen würde. Der »Alltag« kehrte auf die RUBIKON zurück. Und dazu gehörte die permanente Gefahr, in der sie alle unverändert und ungemindert schwebten. Noch lange nachdem die PERSPEKTIVE von den optischen und Fernortungssystemen der RUBIKON verschwunden war, hallte Artas' Lachen – oder was es gewesen war, das seine letzte Bemerkung während ihrer persönlichen Begegnung begleitet hatte – in Cloud nach. Er lauschte in sich hinein. Prüfte seine Empfindungen. Vielleicht war es nicht Trauer, auf die er in Gedenken an Artas stieß – aber er fand es schade, dass die Satoga so früh wieder ihrer Wege gezogen waren. Unendlich schade... SESHA indes sorgte bereits wenige Stunden später für Ablenkung und neue Prioritäten. »Ich empfange einen Notruf«, meldete die KI. »Er dürfte jedoch von keiner akuten Dringlichkeit sein.« »Und warum nicht?«, fragte Cloud verwundert.
»Weil er aller Voraussicht nach alt ist...« »Wie alt? Und kannst du ihn übersetzen?« »Ich konnte das Signal zu seinem Ursprung zurückverfolgen. Ein System, etwa sieben Lichtjahre entfernt. Die Dechiffrierung ist im Gange.« »Bedeutet das, dass der Ruf sieben Jahre alt ist?« Auch Scobee schien dankbar für die Ablenkung zu sein. Es war offensichtlich, dass auch sie den Abschied von den Satoga bedauerte. Cloud zuckte die Achseln. »Anzunehmen, oder?« »Entschlüsselung beendet«, sagte SESHA in diesem Moment. »Der Spruch ist schadhaft. Ich beginne mit der Verlesung der rekonstruierten Teile...« *** »... uns hört. Helft uns! ... unser stärkster Sender... Mor'Kol'Ta unser Beschützer. Aber Mor'Kol'Ta schweigt... seinen Kindern nicht helfen... Abwehr verpufft... zu stark... Wer immer uns hört. Helft uns! ...« Aylea spürte eine Enge ums Herz, die ihr nur allzu bekannt war. Sie hatte damit zu kämpfen gehabt, als ihr das Geheimnis des Packa-Spiels klar geworden war und, später, als die Master sie ihrer Familie entrissen hatten. Als sie durch das Getto irrte. Als sie in die beklemmende Welt des Aqua-Kubus reiste. Als Jelto fast ein Opfer seiner eigenen Gabe geworden wäre. Und als die Merimden in die RUBIKON einfielen. Und in hundert anderen Situationen davor, danach oder dazwischen...
Die Stimme, die in der Bordzentrale aufklang, gehörte keinem derer, die ihren Hilferuf ins All entsandt hatten. SESHA modulierte den empfangenen Spruch in der Art und Weise, wie sie es für geboten hielt. Aber irgendwie schaffte die KI es, echte Not in den Klang zu legen. Echte Verzweiflung, sodass eine unbekannte Zivilisation Aylea plötzlich so nahe war, dass sie um sie trauern konnte. Tränen stiegen in ihren Augen auf. Sie war klug genug, um zu ahnen, was es bedeutete, dass der Hilferuf nicht aktuell, sondern Jahre alt war. Jelto bemerkte ihre Verfassung vor allen anderen. Seit sie einander begegnet waren, gab es eine natürliche Affinität zwischen ihnen. Der eine ahnte das Befinden des anderen – selbst durch Wände hindurch und über Distanzen hinweg. Aylea war inzwischen so weit, dass sie sich selbst gegenüber eingestand, in dem ehemaligen Florenhüter eine Vaterfigur zu sehen. Sie ließ sich von der Hand trösten, die er ihr auf die Schulter legte. Gleichzeitig hörte sie John Cloud, den Mann, der sie im Getto aufgelesen und vor einem ungewissen Schicksal bewahrt hatte, sagen: »Wie alt auch immer dieser Spruch sein mag – wir werden zu seiner Quelle aufbrechen. Was wir hören, ist vage und lässt unterschiedlichste Schlüsse zu. Die Angegriffenen müssen nicht zwangsläufig vernichtet worden, sein. Sieben Jahre... Erinnert euch, was Artas sagte: Auch die Satoga haben nirgends Spuren aktiver Virgh gefunden. Sie fanden verglaste Planeten, die ehemals die Zentren des Foronen-Reiches markierten. Auch Zentalo war eine Foronenwelt. Und unter der ›Verglasung‹ schlief eine Virgh-Brut, eine Virgh-Population – weshalb wir momentan davon ausgehen, dass sämtliche verglasten Welten in ihrem Innern schlafende, ruhende Virgh
beherbergen könnten.« »Worauf willst du hinaus«, fragte das Ding, in dem ein Mensch steckte. Die Gedanken eines Menschen. Seine Seele. Jarvis. »Dass wir dort, woher der Hilferuf kam, eventuell erstmals Spuren aktiver Virgh finden könnten. Sieben Jahre... Die Tragödie der Foronen liegt Jahrzehntausende zurück. Wie lange die Brut in der Rinde Zentalos lagerte, ist unbekannt, aber im Extremfall könnten es ebenfalls Jahrzehntausende sein. Was hieße, dass die Virgh die Foronen nur besiegten beziehungsweise vertrieben, um sich unmittelbar danach ins Innere speziell präparierter Welten zurückzuziehen.« »Was reine Spekulation ist«, sagte Scobee. »Natürlich. Wie alles. Nun, das Meiste jedenfalls.« Cloud sah sich um. Hatte für jeden einen kurzen Blick, ehe er wieder zur Holosäule zeigte. »Welchem Zweck diente der Sonnenhof? Wir wissen es bis heute nicht. Er liegt zwischen der GMW und der Milchstraße. Er strahlte einen Lockruf – ich interpretiere es mal so – in foronischer Sprache aus. Schiffe mannigfacher Völker wurden ebenfalls Opfer der Verlockung, die die Schwarzen Sonnen als gigantisches Bauwerk, als Phänomen und als Zeugnis einer hoch entwickelten Technologie ausüben. Aber die Konstellation sendete auf Foronisch. Was Sobek zu der Annahme veranlasste, es könnte der Versuch wieder erstarkter Foronen in der alten Heimat sein, die Exilanten von einst wieder nach Samragh zurückzurufen.« Er schüttelte den Kopf. »Nach allem, was wir erlebt und erfahren haben, liegt der Verdacht näher, dass es eine Falle war. Eine unglaublich aufwändige Fälle, speziell für den Fall gestellt, dass es die Foronen aus der Milchstraße eines Tages wieder heimwärts ziehen könnte.« »Vieles spricht für eine solche These«, sagte Jarvis, der
Aylea manchmal noch regelrecht unheimlich war. »Aber uns stehen zu wenige Fakten zur Verfügung, um dies zweifelsfrei sagen zu können. Unser großes Manko ist und bleibt der Mangel an Wissen.« »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als zu versuchen, dieses Defizit aufzuarbeiten«, stimmte Cloud ihm zu. »Fangen wir gleich damit an. Ich werde SESHA anweisen, die Koordinaten anzusteuern, von denen uns der Ruf erreichte. Dort wird sich erweisen, ob die Rufer von einem bislang unbekannten, namenlosen Feind attackiert wurden. Oder ob es Virgh waren, die ihnen zum Verhängnis wurden. Wenn die Virgh dahinter stecken...« »... finden wir eine weitere Welt aus Glas.« Alle Augen richteten sich auf Aylea. Als sie begriff, dass sie es war, die gesprochen hatte, rann es ihr eiskalt über den Rücken. Sie schloss die Augen und dachte an die Erde. Manchmal gab es Momente, in denen sie sich wünschte, wieder dort zu sein. Unter sternenlosem Himmel. In einer Metrop. Unter ganz vielen Menschen. Selbst unter solchen, die irgendwann aufgehört hatten, es sich zu verdienen, ihre Eltern genannt zu werden. 3. Die RUBIKON legte die sieben Lichtjahre in wenigen Stunden zurück, flog bei weitem nicht Höchsttempo. Die Besatzung nutzte die Gelegenheit zum Ausruhen, aber nur wenige fanden Schlaf. Scobee besuchte unter Einhaltung aller Sicherheitsmaßregeln Siroona, wurde von dieser aber ebenso
schroff abgewiesen wie Sobek sich gegenüber Cloud verhalten hatte. Auch Siroona bestritt nach wie vor, gesundheitliche Probleme über das hinaus zu haben, was ihr im Sonnenhof zugefügt worden war – weder mental noch physisch, so behauptete sie strikt, leide sie unter irgendetwas. Sie war nicht bereit, Schwäche zu zeigen. Scobee hatte das Gefühl, dass die Foronin während des kurzen Gesprächs in Gedanken ganz woanders weilte. In Absprache mit Cloud versagte Scobee ihr jegliche Information über die aktuelle Situation. Dabei wurde ihr zum ersten Mal bewusst, wie groß das Problem war, das Sobek und Siroona auch in dieser Verfassung darstellten. Das Problem war ihre Existenz. Ihr bloßes Dasein. Nach Verlassen der Zelle suchte Scobee deshalb Cloud auf. Er war in seiner Kabine – nicht um zu schlafen, sondern einfach um ein wenig er selbst sein zu können. Unbeobachtet von allen, außer von den Augen, denen er auch hier niemals entfliehen konnte und die SESHA gehörten. »Was ist?«, begrüßte er sie. Er wirkte überrascht, und sie glaubte zu erkennen, dass ihm ihr Besuch unangenehm war. Schon seit längerem stellte sie eine Veränderung in ihrem Verhältnis fest. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass er ihr immer noch ihren Verrat auf der Erde nachtrug. Die Tage, als sie sich von Reuben Cronenberg hatte benutzen und einspannen lassen, um diesem die Flucht zu ermöglichen. Sie fand das unfair, schließlich hatte sie nicht anders handeln können, und obwohl Cloud dies wusste, schien es ihm Schwierigkeiten zu bereiten, sie wieder so wie vor ihrem Verrat zu betrachten.
Er gab sich eindeutig Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen, sie nicht anders zu behandeln als vorher. Doch manchmal... Sie hasste sich wegen ihrer damaligen Schwäche selbst am meisten. Deshalb konnte sie ihm sein Misstrauen nicht einmal verdenken. »Welche Pläne hast du mit den Foronen?«, fragte sie. Als er keine Anstalten machte, sie hereinzubitten, betrat sie seine Kabine – sein winziges privates Reich – ohne Aufforderung. Wie alle an Bord hatte auch er noch keine Gelegenheit gefunden, sich wirklich in einer Weise einzurichten, die seinen Geschmack widergespiegelt hätte. Alles wirkte provisorisch. Wie eine Übergangslösung, und als wollte sich keiner so recht eingestehen, dass sie vielleicht ihr ganzes restliches Leben auf diesem Schiff verbringen mussten. »Pläne?«, echote er. »Momentan sind sie Gefangene. Aber dieser Status birgt die permanente Gefahr in sich, dass sie Möglichkeiten ersinnen und irgendwann auch umsetzen werden, sich zu befreien. Sich wieder in die Position zu bringen, die sie innehatten, bevor der Sonnenhof sie schädigte.« Er verzog das Gesicht, offenbar nicht bereit, gerade jetzt über ein solch schwieriges und weit reichendes Thema zu diskutieren. Und erst recht nicht, eine verbindliche Entscheidung zu treffen. »Was schlägst du vor?«, wollte er wissen. »Soll ich sie exekutieren? Damit wäre die Gefahr beseitigt.« Sie wusste, dass er es nicht ernst meinte. Gleichzeitig wusste
sie auch, dass Sobek oder Siroona an seiner Stelle solche Skrupel kaum gekannt hätten. »Wir sollten sie jedenfalls loswerden.« Es erstaunte sie selbst, wie leicht ihr die Worte über die Lippen kamen. Wie um sie selbst abzuschwächen, fügte sie sofort hinzu: »Es gibt andere, aber ebenso nachhaltige Möglichkeiten wie den Tod.« »Woran denkst du?« »An die Koordinaten, die wir gerade ansteuern.« »Und weiter?«, hakte er nach. »Falls nicht die Virgh als Gefahr hinter dem Notruf stecken, und falls die Welt, die wir finden, nicht verglast ist, sondern immer noch bewohnbar – für Wesen wie uns, für Wesen wie die Foronen... »Ja?« »Wäre es dann nicht das Eleganteste, die beiden dort auszusetzen?« Er schien wirklich keine Sekunde lang selbst an diese Möglichkeit gedacht zu haben. »Auszusetzen?« Sie wandte sich zur Tür. »Es war nur eine Idee. Etwas – ich denke, darin stimmen wir überein – muss geschehen. Bald.« »Bleib«, forderte er sie auf. »Bitte!« Aber sie wollte nicht mehr. Es war eine sonderbare Begegnung mit John Cloud, mit dem sie ein immer ambivalenter werdendes Gefühl verband. Als sie bald darauf allein durch die Gänge des Schiffes schritt, hoffte sie, dass die Probleme, die sie momentan wieder im Umgang mit ihm spürte, nicht die komplizierteste aller denkbaren Ursachen haben mochte.
Sie hatte schon einmal geglaubt zu lieben. Und es hatte in einem Desaster geendet... *** SESHA sagte: »Boreguir ist nicht mehr an Bord.« Cloud, der seine Kabine gerade verlassen wollte, um die Ankunft an den Zielkoordinaten von der Bordzentrale aus zu überwachen, sah darin nichts, was Anlass zur Beunruhigung hätte bieten können. »Das weiß ich doch bereits.« »Nein, dabei handelte es sich um eine Vermutung«, korrigierte die KI. »Jetzt ist es Gewissheit.« »Hast du eine Möglichkeit entdeckt, seine ›Vergessenheit‹ zu durchdringen?« »Das nicht. Aber ich habe kürzlich ein neues Programm geschrieben, das sämtliche Masse an Bord erfasst. Auch Boreguir – selbst Artas bei seinem Besuch – konnte ich auf diese Weise belegen. Dieses Programm ist nicht in der Lage, Aufenthaltsorte einzelner Personen zu erkennen – aber ihre generelle Anwesenheit.« Nun wurde Cloud doch hellhörig. Er wandte sich einer Wand zu, die er willkürlich ins Auge fasste – es hätte auch jede andere sein können, denn SESHA durchpulste das gesamte Schiff. »Was genau willst du mir also sagen?« »Dass ein Raumanzug fehlt«, berichtete die KI noch einmal, was Cloud bereits wusste. »Und dass ich durch Zugriff auf ältere Daten festgestellt habe, dass es bei einem Rückflug des Satoga Artas zu seinem Raumschiff zu einer MasseAbweichung seines Gleiters kam. Diese Abweichung entspricht der Masse von Boreguir.«
»Du meinst: Der PERSPEKTIVE?«
Saskane
ist
jetzt
an
Bord
der
»Ich will damit sagen, dass auch Boreguirs Masse mit dem Start des Jägers von Bord verschwand. Alle weiteren Schlussfolgerungen überlasse ich dir.« Cloud hatte plötzlich einen trockenen Mund. »Bist du absolut sicher? Begreifst du, welchen Verdacht du damit in den Raum stellst?« »Es gibt keine absolute Sicherheit. Nicht in Bezug auf Boreguir. Allerdings lässt die Tatsache, dass wir überhaupt von ihm wissen, darauf schließen, dass seine seltsame Fähigkeit nicht aktiv ist.« »Dann schwebt Boreguir in akuter Lebensgefahr! Der Aufenthalt auf dem Magnetschiff ist nur möglich, wenn die Satoga Angehörige einer anderen Spezies entsprechend dafür präparieren!« »Auch dafür gilt«, widersprach SESHA, »bei Boreguir ist das nicht sicher. Er hat in der Vergangenheit bewiesen, wie perfekt er sich selbst widrigsten Bedingungen anzugleichen vermag. Außerdem hilft ihm wahrscheinlich auch darin seine Fähigkeit. Er entzieht sich damit nicht nur der optischen Wahrnehmung. Er gaukelt selbst der Umwelt vor, nicht da zu sein. Somit könnte er sich auf diese Weise auch der Umwelt an Bord der PERSPEKTIVE wenigstens so weit entziehen, dass sie ihm nicht mehr bedrohlich wird...« »Wie kannst du dann seine Masse registrieren?«, äußerte Cloud Zweifel. »Ich konnte es. Soll ich dir Einblick in die Befehlskette geben, die die Bordsensoren dazu befähigte, auch sein Gewicht mitzuzählen?« Cloud verzichtete dankend. Gleichzeitig überlegte er, ob
dies schon der Moment war, in dem er die Black Box zum Einsatz bringen musste. Wie würde Artas reagieren, wenn er Boreguirs Anwesenheit auf der PERSPEKTIVE entdeckte und Cloud ihn nicht schon vorher darauf hingewiesen hatte – wenigstens auf die Eventualität? Er würde uns nie wieder trauen. Er müsste meinen, wir hätten vorsätzlich einen Spion zu ihm an Bord geschleust... SESHAs Entdeckung erwies sich als noch sehr viel heikler, als zunächst abzusehen war. Dennoch entschied Cloud, sich erst mit den anderen zu besprechen. Mitten hinein in seine Überlegungen sagte SESHA: »Wir haben soeben die Koordinaten des Notrufs erreicht.« *** »Nummer zwei hat ein Klima und eine Atmosphäre, die alle Voraussetzungen erfüllen, um hoch entwickeltes Leben hervorzubringen, dass mit unserem annähernd vergleichbar ist«, erklärte Cloud seinen Gefährten. Die RUBIKON schien über der Achse des Systems zu schweben. Die Simulation innerhalb der Holosäule zeigte es in seiner Gesamtheit: insgesamt zwölf Planeten, davon die Hälfte von mindestens drei, maximal 52 Monden umwandert, und unzählige Asteroiden, die massiert in sechs ausgedehnten Gürteln auftraten. »Er ist zugleich der einzige der Planeten, der diese Bedingung erfüllt...« Cloud stutzte. »Moment: Es gibt da noch einen Mond, fast so groß wie die Erde, der den Riesen des Systems umläuft. Auch er bietet diese Voraussetzungen...«
Er verstummte, nachdem er die Schrifteinblendungen für alle anderen laut vorgelesen hatte. So wie er es sich ganz zu Beginn seiner Schiffsübernahme angewöhnt hatte. Inzwischen war es nicht mehr nötig, da er SESHA befohlen hatte, sämtliche Werte auf menschliches Alphabet, Zahlen und Größenordnungen umzurechnen, kurzum: Daten nicht länger auf Foronisch wiederzugeben. »Von wo kommt das schadhafte Dauersignal?« »Von einem der kleineren Monde Riesenplaneten«, beantwortete er Jeltos Frage.
desselben
Nach kurzer Diskussion mit den anderen entschied sich Cloud, nicht, wie zuerst beabsichtigt, den zweiten Planeten anzusteuern, sondern den Großmond, der seinen Planeten auf der vierten von zwölf Bahnen umlief. Weder Fern- noch Nahortungssysteme offenbarten eine akute Bedrohung. Sämtliche Himmelskörper wirkten ab der Schwelle tot, die eine höhere, technisierte Zivilisation auszeichneten. Schon jetzt war klar, dass die RUBIKON um Jahre zu spät eintraf. Der Feind der Systembewohner, wer immer es gewesen sein mochte, hatte keine moderne Infrastruktur überdauern lassen – weder auf dem zweiten Planeten noch auf dem Mond, dem die RUBIKON entgegensteuerte. »Aber keine der Welten ist verglast«, rang Jarvis der Situation das einzig Positive ab, was man über sie hätte sagen können. »Das spricht gegen die Virgh. Oder?« Cloud verzichtete auf vorschnelle »Möglicherweise, aber...« Weiter kam er nicht.
Zustimmung.
Die Holowiedergabe des Weltraums zeigte das Aufgrellen von Licht, das den Schutzschild der RUBIKON sichtbar
werden ließ. Gleichzeitig meldete SESHA die Neutralisierung eines Projektils, das vom Zielmond aus abgefeuert worden war. *** Gab es doch noch intelligentes Leben auf der Welt, in deren Orbit die RUBIKON eingeschwenkt hatte? Erneut schlug etwas im Schmiegschirm des Rochenschiffs sein, ohne die geringste Gefahr darzustellen. »Abschussbasis »Gegenschlag?«
lokalisiert«,
teilte
die
KI
mit.
Cloud, der sich von seiner kurzzeitigen Überraschung erholt hatte, verneinte. »Es gibt keinen Grund, mit Kanonen auf Spatzen zu schießen. Ich möchte Bilder der Stellung. Kannst du mir die geben?« In der Holosäule sprang ein bestimmter Oberflächenpunkt heran. Ein Hochgebirge, das 29 Kilometer weit in den wolkenarmen Himmel reichte. Fast auf dem Gipfel befand sich die Gefechtsstellung, die in der Lage war, mit ihren Projektilen die Schwerkraft des Mondes zu überwinden und selbst im freien Raum operierende Gebilde zu erreichen. »Sagte die erste Analyse nicht, es Hochtechnik?«, wandte sich Cloud an SESHA.
gäbe
keine
»Richtig. Die Abschussvorrichtung basiert auf Geschossen mit Flüssigstoffantrieb. Das entspricht nicht meinen programmierten Maßgaben für Hochtechnik. Der eigentliche Sprengkörper macht nicht einmal ein Zehntel des Geschosskörpers aus. Er ist nuklearer Natur – aber so schwach, dass er lediglich einem völlig ungeschützten Objekt gefährlich werden könnte.«
»Was wir nicht sind«, stellte Cloud fest. »Was mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht die Vernichter waren.« »Die Vernichter?« Als Antwort tauchten neben dem Bild der Geschützstellung plötzlich fast hundert kleinere Fenster auf, die allesamt Momentaufnahmen eines anderen Teilstücks der Mondoberfläche zeigten. »Grundgütiger«, flüsterte Scobee. Aylea fing an zu weinen. Cloud war dankbar für das Mädchen als »moralischen Gratmesser«. Durch ihr Schluchzen gewannen die Bilder erst jene fühlbare Eindringlichkeit, die ihnen gebührte. *** Stunden später hörte die Hochgebirgsstellung mit ihrem Beschuss auf – ein Direktscan hatte ergeben, dass sich keinerlei Leben hinter dem Stahlmantel der Gefechtsanlage verbarg. Ein Automatismus war zum Einsatz gelangt, hatte die Annäherung der RUBIKON erkannt und emotionslos gehandelt. Bis die Munition ausging oder ein Defekt den Spuk beendete. Wie auch immer, in der Zwischenzeit hatte die RUBIKONBesatzung ein Bild der aktuellen Verhältnisse auf dem Mond gewonnen, und der Eindruck war – Katastrophe! Sie entdeckten Leben, auch intelligentes Leben, bei dem es sich offenbar um Überlebende jener Spezies handelte, auf die der Notruf zurückging...
Aber sie alle fristeten ein Dasein, das tagtäglicher Kampf um die nackte Existenz bedeutete. Sie sahen beinahe aus wie die Skylla aus Homers Ilias. Drei Köpfe saßen auf langen, schlangenartigen Hälsen, und der kurze gedrungene Körper ruhte auf insgesamt zwölf Gliedmaßen, von denen die Hälfte wahlweise zum Gehen oder zum hantieren benutzt wurde. Die Haut war braun und schorfig. Lippenlose Münder umkränzten die Schädel in ihrem vollen Umfang. Und die Augen – sieben pro Kopf – erinnerten an die Saugnäpfe eines Tintenfisches. Kleidungsreste bezeugten, dass dies die Ureinwohnerschaft des Mondes war. Aber nichts von ihren Errungenschaften war geblieben. Eine einst stolze – die filigranen Ruinenreste ihrer Städte und sonstigen Bauten bewiesen es – Zivilisation lag am Boden, war in steinzeitliche Verhältnisse zurückgebombt worden, die Bevölkerung auf einen Bruchteil reduziert! Cloud versuchte, mit SESHAs Hilfe zu analysieren, welche Waffen zum Einsatz gekommen waren. Es gelang nicht. Und somit fehlte auch jegliches Indiz darauf, ob die Virgh oder irgendein anderes Volk dahinter steckten. »Wer sagt uns, dass sie sich nicht selbst vernichtet haben?«, warf Jarvis ein. »Auch der Spruch ließe sich so oder so deuten. Auch die Erde stand mehrfach davor, von den Menschen selbst verwüstet zu werden...« »Warum hätten sie dann den Notruf abschicken sollen?«, hielt Scobee dagegen. Jarvis schwieg. Nach einer Weile sagte er: »Und warum haben sie die offenbar einzige Geschützstellung von Bedeutung unangetastet gelassen, wenn sie aus dem Weltraum kamen?« Cloud hatte sich darüber ebenfalls seine Gedanken gemacht, nur noch nicht in die Diskussion eingebracht. »Vielleicht
gerade um zu demonstrieren, wie überlegen sie sich fühlten. Sie zerstörten die Waffe nicht, weil sie ihnen nichts anhaben konnte – so wenig wie uns. Gleichzeitig ließen sie mondweit die Vernichtung vom Himmel regnen. Seht euch die Städte an... die Landschaften... Hier wurden ganze Gebiete mittels Laserbeschuss oder ähnlichem umgepflügt. Das geschah in aller Seelenruhe während die Kanone auf sie feuerte. Der Feind, der hier zuschlug, hatte keine eigenen Verluste.« »Es entspricht nicht dem Muster der Virgh, wie wir es kennen«, stellte Jelto fest. »Nein«, sagte Cloud. »Aber wir wissen auch nichts über die Motive, die zur Zerstörung einer ganzen Kultur führten.« »Wer mag Mor'Kol'Ta gewesen sein, von dem der Notruf sprach?«, fragte Scobee. »Vielleicht der Gott, an den sie glauben«, schlug Cloud vor. »Oder einer ihrer durchaus fleischlichen Führer«, sagte Jarvis. Spekulation. Pure Spekulation. »Gibt es Möglichkeiten, den Überlebenden zu helfen?« Die Frage kam von Aylea. Cloud dachte nach, entschied sich für die schonungslose Wahrheit – und verneinte. Im nächsten Moment ortete SESHA etwas, das den Zeugnissen einer Jahre alten Zerstörungsorgie neue Brisanz... und eine unerwartete Aktualität verlieh. »Ich registriere gewaltige Energie-Emissionen in rund zehn Lichtjahren Entfernung!« »Worum könnte es sich handeln?«, fragte Cloud. »Um eine Schlacht«, sagte die KI. »Um eine Raumschlacht,
bei der Hyperenergien freigesetzt werden – und die genau in diesem Moment stattfindet.« Cloud fragte sich, was dem Scan-Netz, dass die RUBIKON bei ihrer Ankunft ausgeworfen hatte, noch alles entgangen war... 4. Die anderen waren Zeuge, als Cloud die Black Box in seine Hände nahm, die Augen kurz schloss und sich konzentrierte. Dann glitten seine Finger über kaum erkennbare, leicht erhaben hervortretende Symbole – die Glyphenschrift der Satoga. Artas hatte demonstriert, in welcher festgelegten Reihenfolge die Markierungen zu drücken waren. Cloud tat es, während Scobee mitkontrollierte, ob er auch keinen Fehler beging. Schließlich warteten sie, dass die Box ihr Potenzial entfaltete und eine Kommunikationsbrücke zur PERSPEKTIVE schlug. Tatsächlich baute sich ein statisch knisterndes Feld um den Würfel herum auf. Wie eine Seifenblase umgab es den Quader. Über seine Oberfläche huschten glitzernde Glyphen, halb transparent wie Wasserzeichen, und eine Stimme forderte Cloud auf zu sprechen. Er sagte: »Artas! Wenn du mich hören kannst... Ich habe eine wichtige Mitteilung für dich. Bitte antworte, wenn du mich hörst.« Cloud hatte das Gefühl, dass ihm die Worte vom Mund weggerissen und von der Blase aufgesogen wurden. Worte, die die Glyphen in einen irren Tanz, einen regelrechten Taumel
versetzten. Aber vergeblich wartete er auf eine Reaktion, die er Artas oder einem anderen Satoga zuordnen konnte. Er wiederholte seine Ansprache. Nichts. »Wir wissen nicht, wie lange die Nachricht braucht, um die PERSPEKTIVE zu erreichen«, sagte Scobee. »Doch, wissen wir.« Cloud schüttelte enttäuscht den Kopf. »Artas sprach von Nullzeit. Von Kommunikation in Nullzeit – selbst über Galaxien hinweg... Nein. Es muss einen anderen Grund geben, warum er nicht antwortet. Vielleicht habe ich auch etwas nicht ganz richtig verstanden...« »Wir könnten versuchen, mit Bordmitteln Verbindung zum Satoga-Schiff herzustellen«, sagte Jarvis. »Und alle Virgh der Umgebung auf uns ziehen?« »Womöglich fliegen wir gerade Virgh entgegen«, erwiderte Jarvis säuerlich. Cloud schüttelte den Kopf. »Mag sein. Trotzdem. Ich versuche es später noch einmal.« »Darf ich?« Aylea blickte ihn treuherzig an. Cloud zwang sich, mehr als ein kleines Mädchen in ihr zu sehen – schon weil sie mehr war. »Du hast Artas bei der Unterrichtung beobachtet?« »Ich habe mir alles gemerkt.« Cloud nahm keinen Blickkontakt mit Scobee auf, sondern nickte und reichte die Box an Aylea weiter. »Versuch es. Sollte sich etwas ergeben, verständige mich sofort.«
»Natürlich.« Aylea schien aufzublühen. Vielleicht, weil sie endlich eine Aufgabe hatte. Mit dem Würfel in der Hand verließ sie die Zentrale. Niemand hielt sie auf. »Du triffst in letzter Zeit viele einsame Entscheidungen«, sagte Scobee leise. Ihr Vorwurf traf ihn – aber es änderte nichts. »Bereiten wir uns auf die Situation am Ort der Schlacht vor«, sagte er. »Wenn sie das ist, was ich denke, wird sie uns unseren vollen Einsatz abverlangen.« »Und was denkst du, was es ist?« Er schwieg, weil er sicher war, dass sie das Gleiche vermutete wie er. Eine Schlacht in dieser Galaxie... Damit assoziierte er vorrangig eines. Virgh! Aber es konnten auch völlig andere Parteien sein, die sich dort, bei dem nur noch drei Lichtjahre entfernten Stern bekriegten. Lichtjahre – bei der Geschwindigkeit mit der die RUBIKON durch das All jagte, schwanden sie dahin wie die berühmten Tropfen auf dem heißen Stein. *** Manchmal schwindelte ihn, wenn er bedachte, wie sich alles verändert hatte. Es war, als wäre sein altes Leben nur ein Traum gewesen.
Und das neue? Manchmal schien sich jedes Gefühl für die Wirklichkeit in Cloud zu verlieren. Unter vollem Ortungsschutz erreichte die RUBIKON die Kampfzone, die sie über zehn Lichtjahre hinweg angemessen hatten. Ein neues Sonnensystem, neue, ungewisse Gefahren, streitende Parteien... Würden sie je wieder die Sternkonstellationen sehen, wie sie von der Erde aus zu beobachten gewesen waren – früher, vor dem Auftauchen der Keelon-Master und deren Rückzug hinter den Schattenschirm? Würden sie je wieder die Milchstraße erreichen? Cloud hatte sich neuerlich in den Sarkophag zurückgezogen, von der Umgebung – und den Freunden – abgekapselt, um das Schiff in einer Intensität zu führen, die ihm anders nicht möglich war. Herr über einen Giganten. Herr über die RUBIKON – bis auf den einschränkenden Makel, von ihr auf dem Schiff festgehalten zu werden und es körperlich keine Sekunde verlassen zu dürfen. Was die geistigen Ausflüge anging, so hegte Cloud die Befürchtung, dass die KI auch diese nach dem BeinaheDebakel im Zentalo-System rigoros beschneiden könnte. Auf Dauer gesehen, keine akzeptable Situation. Weshalb er in »freien« Minuten immer wieder daran arbeitete, die Misere zu beheben. Bislang vergebens. Schräg auf die Systemachse zuhaltend näherte sich die RUBIKON dem Kriegsschauplatz. Zwei Parteien, präzisierte die Stimme der KI dabei in Clouds Kopf hinein. Es erreichten ihn fast zeitgleich Bilder, die das angesteuerte Sonnensystem simulierten – und solche, die die Schlacht in einer Weise vor Clouds geistigem Auge aufleben ließen, wie es
eine visuelle Betrachtung allein über diese Distanz hinweg nie gestattet hätte. Zunächst das Sonnensystem: Es ähnelte dem irdischen, ein Zentralgestirn vom G-Typ, drei innere Gesteinsplaneten, vier äußere Gasriesen von Neptun-Größe. Erster Planet eine kleine heiße, atmosphärenlose Welt. Zweiter Planet etwas größer als die Erde, zwei Monde. Planet Nummer drei schien eine trostlose Eiswelt von ebenfalls Erdgröße zu sein. Die äußeren Gasplaneten besaßen eine Vielzahl unterschiedlich großer Trabanten. Von zentraler Bedeutung schien allein der zweite Planet zu sein, denn in dessen Nähe tobte der Raumkrieg. Die Parteien waren in ihrer Bedeutung schon nach kurzer Beobachtung in Angreifer und Verteidiger zu unterscheiden. Die Schiffe der Angreifer hatten mit den bekannten Dreizack-Raumern der Virgh nichts gemein. Sie waren rund vierhundert Meter lang, erinnerten an Federbüschel, wenn das Material, aus dem sie beschaffen waren, auch zweifelsfrei eine hochwertige Legierung darstellte. Die Analyse der RUBIKON erbrachte keine genauen Werte über die Zusammensetzung, was aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch eher zweitrangig war. Vorrangig waren Antrieb, Wendigkeit und Bewaffnung der unbekannten Konstruktionen – und was all diese Punkte anging, demonstrierten sie eine verheerende Schlagkraft. Zugleich strahlte alles an ihnen bis hin zur Lackierung etwas aus, was man bei den Verteidigern vergeblich suchte. Souveränität... Ein Selbstverständnis von Macht. Die Verteidiger hatten einen Schiffswall vor ihrem mutmaßlichen Heimatplaneten gebildet, gegen den die
Federschiffe anrannten. Ihre Schiffe waren in drei unterschiedliche Bauklassen unterteilt, insgesamt aber kleiner – selbst die größten besaßen maximal die Hälfte der Masse eines der gegnerischen –, leicht oval und flach. Die großen Einheiten waren etwa 250 Meter lang und ein Drittel so dick. Die mittleren maßen zirka ein Drittel und die kleinsten etwa ein Achtel davon. Ihre Defensivbewaffnung setzte vorrangig auf einen zweifach gestaffelten Schutzschirm und war erkennbar anfällig. Bei der Offensivbewaffnung sah es besser aus. Sie bot den Federschiffen durchaus Paroli und brachte sie hier und da in Bedrängnis. Cloud registrierte den Einsatz von relativ schwachen Lasergeschützen, etwas imposanteren Raketen, die mit Fusionsbomben bestückt waren, und einer wirklich durchschlagskräftigen Waffe, die Neutroniumgeschosse abfeuerte. Dabei handelte es sich um winzige Partikel hochverdichteter Masse, die aber nur dann Schaden anrichteten, wenn sie sensible Bereiche eines gegnerischen Schiffs trafen und dessen Schutzschirm zuvor kollabiert war. Das allerdings geschah beinahe nur dann, wenn eines der Verteidigerschiffe in einer atomaren Kettenreaktion in zu großer Nähe eines Angreifers verging. In dem Fall konnten frei werdende Gewalten Federschiffe angreifbar machen. Und selbst im Idealfall zeigten die Neutroniumgeschosse nur Wirkung, wenn sie Energiemeiler oder Waffendepots der Federschiffe trafen. Trotz ihrer deutlichen Überlegenheit schienen die Federschiffe gegenwärtig nicht einmal ernsthaft einen Durchbruch zum Planeten zu versuchen. Ihre Taktik scheint sich auf das Aufreiben der Verteidiger zu beschränken, dachte Cloud. »Was hast du vor?«, erreichte ihn eine Stimme, die nicht der
KI gehörte. Scobee suchte den Kontakt zu ihm, was ihr nur möglich war, indem sie sich selbst in einen Sarkophag zurückzog. Cloud wusste, wie sehr sie dieses Gefühl hasste. Dass sie es trotzdem auf sich nahm, zeigte, was sie noch mehr hasste: das Gefühl, nicht aktiv ins Geschehen eingreifen zu können. Er verstand sie nur zu gut und wünschte sich, SESHA hätte noch andere als Autorität akzeptiert, nicht nur ihn. Seine Rolle machte einsam. »Wir greifen ein«, antwortete er. »Wer immer die Federbüschel sind – es sind ganz klar die Überlegenen.« »Und damit automatisch die Bösen?«, fragte sie mit leichtem Vorwurf in der Stimme. »Die Analyse ergab, dass die flachen, diskusartigen Schiffe, die dem Planeten am nächsten stehen, über keine überlichttauglichen Antriebe verfügen. Demnach gibt es nur einen Aggressor, der als ›der Böse‹ auszumachen ist. Bist du anderer Meinung?« »Haben wir eine Chance, den bösen Aggressor zu vertreiben? Gibt es Hinweise auf Virgh?« »Zu eins: ja. Zu zwei: nein, bislang nicht. Was uns aber nicht abhalten sollte...« Mit diesen Worten beendete Cloud den Dialog mit Scobee. Er verschmolz endgültig und absolut mit dem Schiff. Im Volltarnmodus setzte sich die RUBIKON hinter die Federschiffe, sodass deren Flotte zwischen ihr und den Diskusschiffen – und dem Planeten – lag. Dann eröffnete sie das Feuer!
*** Die konventionellen Waffen der RUBIKON spien Tod und Vernichtung. Konventionell bedeutete: Kontinuumswaffe.
nicht
Torrel,
nicht
die
Torrel griff die Psyche eines Gegners an, durchdrang die meisten bekannten Schutzschilde und schaffte es im »Idealfall«, einen Gegner dazu zu treiben, dass er sich selbst vernichtete. Die Kontinuumwaffe war die stärkste, zugleich aber auch tückischste und unberechenbarste Offensivwaffe der RUBIKON. Um sie auszulösen, bildete der Rochenkörper eine schweifartige Verlängerung aus, an deren Spitze sich Kräfte entluden, die in der Lage waren, das Raumzeitgefüge zu verletzen. So entstand ein Riss im Universum und ein unwiderstehlicher Sog für andere Objekte in der Nähe. Die RUBIKON selbst konnte nur mittels spezieller Schwerkraftanker verhindern, selbst in das molochartige Loch gezogen zu werden, das wahrscheinlich eine Verbindung zu einem fremden Kontinuum darstellte. Die K-Waffe in der Nähe von Freunden oder bewohnten Planeten einzusetzen, war unverantwortlich und kam auch jetzt nicht in Frage. Und Torrel... Torrel war Cloud suspekt. Er hatte eine natürliche Abneigung gegen die – in seinen Augen – pervertierte Idee, die dahinter stand. Nur im Extremfall war er zu ihrem Einsatz bereit. Zunächst wütete die RUBIKON also nur konventionell – was nichts daran änderte, dass sie wütete.
Das Kräfteverhältnis Angreifer-Verteidiger kippte binnen Minuten... *** Es gab insgesamt 25 Federschiffe, als die RUBIKON in die Schlacht eingriff – ihnen gegenüber stand rund die zehnfache Zahl an Raumern unterschiedlicher Größe, die den Planeten verteidigten. Sie wandten sich verzweifelt und todesmutig gegen die Aggressoren, um ihnen den Weg zu ihrer Welt zu verstellen. Und dann kam die RUBIKON über sie, das Seelenschiff der Foronen... Schirmbelastung bei 57 Prozent, meldete die KI. Das war zu einem Zeitpunkt, als SESHA bereits drei Feindraumer durch konzentrierten Laserbeschuss eliminiert hatte. Und zu einem Zeitpunkt, da der Angriff der Federschiffe ins Stocken geraten war, sie sich neu ordneten und wenig später geballt ihrem neuen Ziel entgegen warfen – dem für sie offenbar immer noch unsichtbaren, hinter seinen Tarnfeldern verborgenen Rochen, der aber anhand seines unablässigen Feuerns verfolgbar wurde. Immer mehr Treffer musste der Schmiegschirm hinnehmen. In diesen Momenten versagte die Tarnung, und die RUBIKON wurde zeitweilig wie eine flirrende Fata Morgana vor pechschwarzer Wüste sichtbar. Mit dem bloßen Auge war sie kaum auszumachen, doch für die Instrumente der Federschiffe reichte es aus. Die
Schildbelastung stieg rapide an. 88 Prozent, erklärte SESHA. Zu diesem Zeitpunkt waren drei weitere Feindschiffe in der Glut ihrer getroffenen, überlasteten und explodierten Energiemeiler vergangen. 19 Federschiffe waren noch übrig. Und während die Schildbelastung nur noch in einzelnen Prozentpunkten im eng bemessenen Radius der höchsten Einschlagzahl anstieg, nahm sich SESHA ein Federschiff nach dem anderen vor. Die KI agierte eiskalt. Sie hing nicht an einem Leben, das sie nie besessen hatte. Sie war und blieb nichts anderes als ein kybernetischer Geist, der die RUBIKON erfüllte, all die vielen Rädchen in Gang hielt, die ein Leben an Bord erst ermöglichten... oder die Reise durch den Weltraum... oder die Vernichtung eines Feindes... Irgendwann war da wieder eine Stimme, die nicht SESHA gehörte und sich doch in Clouds Bewusstsein drängte. »Du hast es geschafft – sie ziehen ab!« Scobee, erkannte er. Tatsächlich brach die Angriffswelle, die der RUBIKON gerade entgegenrollte, jäh ab – und die Federschiffe stoben nach allen Seiten davon. Sie sammelten sich in mehreren Millionen Kilometer Entfernung zu einer traubenartigen Formation und nahmen Kurs auf die Systemgrenze. Dreizehn hatten die Schlacht überstanden. Meine Glückszahl, dachte Cloud. Dann wandte er sich an die KI: Konnte die Kommunikation
zwischen den Verteidigern entschlüsselt werden? Gibt es eine Basis zur Verständigung? Positiv, antwortete SESHA. Daraufhin deaktivierte Cloud die Tarnung. Für die Wesen in den Diskusschiffen musste es aussehen, als öffne sich ein Vorhang, um den Hauptprotagonisten des Sieges sichtbar werden und vor das applausbereite Publikum treten zu lassen. Aber war es tatsächlich so? Würden die Bewohner des Systems die RUBIKON dadurch, dass sie sich ihren Feinden entgegengestellt hatte, automatisch als Freund willkommen heißen? Cloud war auch darauf gespannt. Auch. Zunächst aber... SESHA? Ja? Scanne den Raum. Wonach? Wrackteile, erwiderte er. Leichenteile. Überreste der Aggressoren, die mit ihren Schiffen starben... *** Das Ding war fast zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Fast! Doch dank Rekonstruktion.
SESHA
gelang
eine
verlässliche
Cloud schauderte, als er mit den anderen zusammen das
Ergebnis in der Holosäule präsentiert bekam. Die sterblichen Reste des toten Aggressors waren in einem der Hangars deponiert, der Leichnam selbst mittels Traktorstrahl an Bord geholt worden. Niemand verspürte den Drang, ihn sich mit eigenen Augen und aus nächster Nähe anzusehen. »Aber...«, sagte Jarvis seltsam tonlos. »Die Schiffe...« »Waren unbekannter Bauart«, stimmte Cloud ihm zu. »Aber was besagt das schon – nach all der Zeit?« »Nach Jahrzehntausenden« Scobee nickte zustimmend. Die Rekonstruktion des Geschöpfes drehte sich, sodass sie von allen Seiten betrachtet werden konnte. Es gab nicht nur eine vage Ähnlichkeit – dieser Tote war im Aussehen identisch mit der schlafenden Brut in den Planetentrümmern! Virgh... Virgh hatten angegriffen...
die
Bewohner
des
zweiten
Planeten
Cloud kämpfte noch immer mit dieser Erkenntnis und den daraus resultierenden Konsequenzen. Auf der einen Seite verglaste Planeten, die ehemalige Hoheitswelten des Foronen-Imperiums gewesen waren, mit schlummernder Virgh-Brut – auf der anderen Seite wache Virgh, die technologisch unterlegene Spezies angriffen.. ... wie passte beides zusammen? Klar schien nach dieser Erkenntnis nur: Die Virgh hatten sich nicht, wie nach ihrer Entdeckung im Innern Zentalos zunächst angenommen, unmittelbar nach der Vertreibung in die Stasis begeben. Sie waren aktiv. Ununterbrochen seit damals? Oder
aufgeschreckt durch das Eintreffen der RUBIKON und die Zerstörung einer ihrer Brutwelten? »Die Anrufe werden immer drängender«, meldete SESHA. Natürlich, dachte Cloud, der die Kontaktversuche der Systembewohner so lange ignoriert hatte, wie die Identifikation des geborgenen Aggressors noch nicht abgeschlossen war. »Das ist vielleicht die Chance, auf die wir gewartet haben«, übte sich Scobee in Optimismus. »Wenn nicht sie, wer sollte dann wissen, warum die Virgh ihnen ans Leder wollten. Wenn wir behutsam zu Werke gehen, können wir wertvolle neue Kontakte knüpfen.« Cloud sah ihr an, dass sie meinte, was sie sagte. Ihren Optimismus aber teilte er nicht. Dass die Besatzungen der Federschiffe leibhaftige Virgh waren – das erkannte er erst jetzt –, damit hatte er nie ernsthaft gerechnet. Dementsprechend heftig wirkte der Schock in ihm nach... *** Wie sich herausstellte, wussten die Cirr nichts über die Beweggründe der Virgh. Cirr... So nannten sich die Bewohner des zweiten Planeten, mit deren Vertretern an Bord ihres Flottenflaggschiffs Cloud kurz darauf sprach. Die KI fungierte als Übersetzungseinheit. Die Cirr zeigten sich dankbar, wünschten aber Aufklärung über die Identität des ihnen zu Hilfe geeilten Schiffes.
Cloud sprach mit einem Einheimischen namens Olov'shar. Ob Mann oder Frau – oder etwas ganz anderes – ließ sich rein optisch nicht bestimmen. Die Cirr hatten Ähnlichkeit mit Krebsen – und mit ihren Raumschiffen: Ihr Körper war leicht oval geformt und flach und ruhte auf zehn Gliedmaßen. Er war mit einer ledrigen Haut bedeckt, die kastanienbraun schimmerte und mit schwarzen Punkten übersät war. Um den äußeren Rand des Körpers verteilt waren rund ein Dutzend grüner Augen mit längs geschlitzten Pupillen erkennbar, die an Katzenaugen erinnerten. Irritierend war, dass der Cirr, mit dem Cloud sprach – beziehungsweise die Cirr allgemein – an den flachen Enden des ovalen Körpers zwei einander gegenüberliegende Köpfe hatten. Daher konnte Cloud bei ihnen nicht zwischen hinten und vorne unterscheiden. Die Köpfe waren wie bei Krebsen zum größten Teil in den Körper eingebettet und verfügen über zahllose Zangen, Scheren und Greifwerkzeuge, was ihnen ein gefährliches Aussehen verlieh. Die Sprache des Cirr war ein melodisches Zirpen und Zwitschern. Auch Clouds Worte wurden adäquat umgesetzt. Folgendes stellte sich heraus: Die Cirr hatten bis zum heutigen Tag ein friedliches, fast beschauliches Dasein geführt. Sie hatten die Raumfahrt nicht eben zur Perfektion entwickelt und konnten keine interstellaren Entfernungen überwinden, wohl aber interplanetare. So hatten sie sich nach und nach das eigene System erschlossen. Basen existierten auf sämtlichen – aus ihrer Sicht – wichtigen Planeten und Monden. Es handelte sich um Kolonien, die der Forschung und dem Abbau von Bodenschätzen dienten. Von extrasolaren Zivilisationen wussten die Cirr seit längerem. Ihre Geräte hatten Signale von außerhalb
aufgefangen, aber nicht zu entschlüsseln vermocht. Auch sie selbst hatten Signale in die Unendlichkeit gesandt, um in Kontakt mit fremden Intelligenzen zu treten. Antwort hatten sie nie erhalten. Keine verständliche jedenfalls. Bis heute! Heute war ihre erste Begegnung mit Fremden erfolgt – in unmissverständlicher Weise. »Möglicherweise haben wir sie selbst auf uns aufmerksam gemacht«, schloss Olov'shar seinen kurzen Exkurs in die CirrGeschichte. »Aber wir wissen nicht, womit wir sie erzürnt haben könnten. Wir wissen nichts über das Motiv ihres Angriffs, dem wir nur dank eines gut ausgebauten Verteidigungssystems rechtzeitig begegnen konnten.« Cloud wunderte sich über die Wehrhaftigkeit der CirrSchiffe, erst recht nachdem er erfuhr. dass sie nie zuvor in Konfrontation mit anderen Spezies lagen. »Wir sind vorsichtig. Uns ist immer bewusst, was passieren kann. Unsere eigene Geschichte zeigt, dass Frieden ein Geschenk ist, das einem nicht in die Schale fällt. Man muss dafür arbeiten, manchmal muss man dafür kämpfen. Wir wissen uns zu wehren. Aber vorhin...« Der Cirr gab ein Geräusch von sich, dass die RUBIKON nicht übersetzte. »Wir hätten keine Chance gehabt. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Ihr hättet keinen Zerl später einschreiten dürfen... Wer seid ihr?« Während Cloud in den Dialog mit den Cirr trat, behielt Jarvis unentwegt die Ortungseinblendungen der RUBIKON im Auge. Im Auge... Bei ihm bedeutete das, dass er sich in den offenen Datenstrom einloggte. Er besaß keine Befehlsgewalt, aber Nutzungsbefugnis, was bestimmte Schiffseinrichtungen anging.
Die Nahortungssysteme zeigten weiterhin den Aufmarsch der Cirr-Schiffe, die ihre Heimatwelt umschwärmten und offenbar bestrebt waren, wieder die Positionen einzunehmen, in denen sie die Aggressoren empfangen hatten. Jarvis bewunderte die reibungslose Präzision, die Ordnung, mit der sich alles vollzog. Als hätten sie nicht eben noch vor dem Untergang gestanden. Der Gedanke war kaum gedacht, als ihn die Wellenfront erreichte, ausgelöst durch eine ganze Serie von Erschütterungen des Raumzeitgefüges. Rund um den Planeten der Cirr entblößten sich binnen weniger Momente Hunderte von Objekten von ihren Tarnvorrichtungen. Hunderte! Noch während Jarvis seine Warnung an die anderen artikulierte – SESHA zu warnen war natürlich unnötig –, erreichten ihn erste Details der Ankömmlinge. Es handelte sich ausnahmslos um denselben Schiffstyp, der in die Flucht geschlagen worden war. Die Flüchtenden hatten keine Zeit verloren und waren zurückgekehrt. Mit zermalmender Übermacht! Jarvis war tatsächlich eine Idee schneller mit seiner Warnung als SESHA. Letztlich spielte es keine Rolle. Es hätte nichts, gar nichts an der Situation geändert, wenn die KI um jene Nuance rascher Alarm geschlagen hätte. Absolut beschissen!, wertete es Cloud. »Wir haben ein Problem«, wandte er sich an Olov'shar. Olov'shars Instrumente arbeiteten träger. Er ahnte offenbar noch nicht, dass der Krieg jetzt erst begann...
Die Virgh-Federschiffe ließen weder der RUBIKON noch den Cirr-Einheiten Zeit und Muse, sich auf die veränderte Situation einzustellen oder gar eine neue Strategie zu entwickeln. Wie Heuschrecken fielen sie über die Diskusschiffe und über den Rochenraumer her.
Flotte
der
Cloud glitt hinter die Abschirmung des Sarkophags, verschmolz mit dem Schiff und ließ neuerlich die Waffen sprechen. Die Treffer, die gleichzeitig in den Schmiegschirm hagelten, ließen jedoch nicht den Hauch eines Zweifels, dass sich ein Erfolg wie bei der ersten Auseinandersetzung nicht wiederholen würde. Schildauslastung 89 Prozent! Das war SESHAs Mitteilung nach drei Sekunden Feuer, das aus der Hälfte der Angriffsflotte gleichzeitig gegen den Rochen brandete. Verdammt!, fluchte Cloud – und vollzog das einzige Manöver, das ihm noch blieb. Er verdrängte, wie sich Scobees Protest zu ihm vorkämpfte. Er ignorierte die eintreffenden Cirr-Sendungen, die nicht länger nur vom Flaggschiff mit Olov'shar verschickt wurden, sondern von einem halben Dutzend der großen Cirr-Einheiten gleichzeitig. Die Kommandanten dieser Schiffe hatten begriffen, was passierte. Aber noch glaubten sie an ein Wunder. Daran, dass das fremde Schiff – die RUBIKON – sich abermals gegen die Federraumer würde behaupten können. Sie würden ihren Irrtum begreifen. Und wahrscheinlich, dachte Cloud wie betäubt, wird es das
Letzte sein, was sie überhaupt erkennen. Er leitete sämtliche verfügbare Energie in Antrieb und Schild. Die Waffen verstummten, während die RUBIKON sich mit aberwitzigen Werten vom Zentrum des Kampfgeschehens entfernte. Hilflosigkeit erfasste den Mann im Sarkophag, Bitterkeit und Verzweiflung angesichts der grausamen Realität, mit der sie gerade konfrontiert wurden. Doch die Tatsachen sprachen für sich: Ein weiteres Volk wurde Opfer der Virgh. In diesem Augenblick! Zumindest in dieser Hinsicht hatte Sobek also nie übertrieben. Die Virgh waren Monster. Von Zerstörungswut und Mordgier geleitete Bestien, denen ein dunkler Gott die Fähigkeit verliehen hatte, zwischen den Sternen zu reisen, und so die Saat der Vernichtung in jeden Winkel dieser Galaxis zu tragen. Und während hinter ihnen die Flotte der Cirr zerrieben wurde, beschlich Cloud erstmals ein Gedanke, der die gescheiterte Kontaktaufnahme zur PERSPEKTIVE erklärt hätte. Antwortete Artas nicht, weil er nicht mehr existierte? Weil ihn der Abschied von der RUBIKON geradewegs in die Würgearme einer Virgh-Flotte geführt hatte...? ENDE