Elissa Ambrose
Nur dich hab ich immer geliebt
Becky hat jede Sekunde auf der Hochzeit ihres Bruders David genossen. Au...
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Elissa Ambrose
Nur dich hab ich immer geliebt
Becky hat jede Sekunde auf der Hochzeit ihres Bruders David genossen. Auch die leidenschaftliche Nacht danach in Carters Armen bereut sie nicht. Lange hat sie Davids besten Freund, der damals ihr ganz großer Schwarm war, nicht gesehen. Noch immer ist er für sie der attraktivste Mann auf der Welt, aber sie weiß genau, dass es keine gemeinsame Zukunft mit Carter geben wird: Demnächst geht er nach Neuseeland! Auch als Becky merkt, dass sie ein Kind von ihm erwartet, will sie keine Verbindung zu Carter aufnehmen. Aber irgendwer muss ihn informiert haben, denn plötzlich steht der Mann ihrer Träume vor ihrer Tür…
© 2004 by Elissa Harris Ambrose Originaltitel: „The Best Of Both Worlds“ erschienen bei: Silhouette Books,Toronto in der Reihe: SPECIAL EDITION Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V. Amsterdam © Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA Band 1433 (19/2) 2004 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Übersetzung: M. R. Heinze Fotos: gettyimages
1. KAPITEL „Na, toll“, empörte Becky sich. „Warum haben Sie Christina angeschrien? Jetzt sitzt sie im Vorratsraum und heult sich die Augen aus dem Kopf. Was Feingefühl ist, das wissen Sie wohl überhaupt nicht, oder?“ Der Besitzer von Merlin’s Fine Diner zog die buschigen Augenbrauen finster zusammen und stützte sich auf die Theke. „Christina hat die Bestellung falsch ausgeführt“, behauptete er gereizt. „Der Gast hat immer Recht.“ „Aber dieser Gast nicht. Er hat ein Schinken-Salat-Tomaten-Sandwich bestellt, aber ohne Schinken und mit extra Tomate. Und genau das hat er bekommen!“ „Ach ja? Wer bestellt schon ein Schinken-Salat-Tomaten-Sandwich ohne Schinken?“ „Ich zum Beispiel“, antwortete Becky. „Allerdings bin ich noch nie auf die Idee gekommen, in dieser Kaschemme zu essen.“ Allein schon vom Fettgeruch bekam Becky ein flaues Gefühl im Magen. „Ich sehe nach Christina“, entschied sie und schluckte schwer. „Ihr seid doch alle gleich“, schimpfte Merlin. „Ihr macht nur Ärger.“ „Ihr? Wer?“ Becky drehte sich blitzartig wieder um. „Was soll das denn heißen?“ „Ihr Vegetarier! Ihr bildet einen Geheimbund, und das ist unamerikanisch! Geradezu subversiv! Und Sie arbeiten jetzt weiter!“ „Sie kennen nur Arbeit und haben kein Herz. Christina weint, und Sie denken an Arbeit! Was sind Sie für ein Mensch?“ „Ich sage Ihnen, was ich für ein Mensch bin!“ Merlin reckte drohend den Zeigefinger in die Luft. „Ich bin ein Mensch, der im Geschäft bleiben will und keinen Widerspruch von einer Angestellten duldet. Es reicht, Rebecca. Wollte ich eine Köchin haben, die ständig an mir herumnörgelt, hätte ich meine Frau eingestellt. Sie sind gefeuert! Ab sofort koche ich wieder selbst.“ Großartig gelaufen, dachte Becky, nachdem sie sich von Christina verabschiedet hatte. Wieder mal arbeitslos, und wofür? Silberglöckchen klingelten, als sie die Tür des Diners öffnete und die kalte Dezemberluft ihr entgegenschlug. Sie zog den Schal bis übers Kinn hoch und trat ins Freie. Es war nicht ihre Schuld, dass sie keine Stelle länger halten konnte. Sie hatte eben noch nicht ihren Platz in der Welt gefunden. Allerdings dachte sie nicht über Arbeitslosigkeit oder Wetter nach, während sie sich enger in die Jacke hüllte. Viel wichtiger war das, was sie ihrer Familie beim Abendessen beichten wollte. Aufschieben brachte nichts, weil es früher oder später ohnedies an den Tag gekommen wäre. Da konnte sie auch die Katze aus dem Sack lassen, wenn die ganze Familie versammelt war – die ganze Mischpoke, wie Bubbe sagte. Noch nie hatte ein Familienmitglied am Freitagabend zum Essen bei Ma gefehlt. Als Entschuldigung hätte nur gegolten, dass man von einem Lastwagen überfahren worden war oder gerade ein Kind bekam. In der Zeit ihrer Ehe war Becky jeden Freitag von New York mit dem Zug nach Middlewood gefahren, allerdings immer allein. Ihr Mann Jordan war stets entschuldigt gewesen, weil er schon fast Arzt war. Und laut Beckys Mutter galten für Ärzte eigene Regeln. Becky malte sich aus, wie sie heute Abend mit der Neuigkeit herausrücken würde. Auf dem Tisch stand Mutters liebste Kristallvase mit einem gekauften Strauß. Vater klagte, die Blumen wären bei weitem nicht so schön wie die Rosen, die er im Sommer im Garten züchtete. Mutter verdrehte die Augen. „Gib mir bitte die Knisches“, würde Becky ihren Bruder David bitten. „Ach ja, Ma, ich habe heute meine Stelle verloren. Und übrigens, ich bin im dritten Monat schwanger.“
„Schon wieder arbeitslos?“ würde ihre Mutter höchstwahrscheinlich fragen. Gertie Roth hörte stets nur, womit sie ohnehin rechnete, und sie rechnete bestimmt nicht damit, ihre geschiedene Tochter könnte schwanger sein. Und weil sie nie nachrechnete, würde sie erst recht nicht hören wollen, dass ihr ehemaliger Schwiegersohn Dr. Jordan Steinberg nicht der Vater war. Becky geriet ins Schwanken. Vielleicht sollte sie doch nicht sofort mit der Sprache herausrücken, weil zweifellos ein unbeschreibliches Chaos über sie hereinbrechen würde. Sobald ihre Mutter begriff, was los war, würde sie sich ans Herz fassen und einen Infarkt vortäuschen. Gertie Roth war zwar kerngesund, behauptete jedoch immer, jung zu sterben. „Dafür ist es sowieso schon zu spät“, antwortete Beckys Vater dann jedes Mal scherzhaft. Nach der Neuigkeit seiner Tochter würde er jedoch nicht zu Scherzen aufgelegt sein, sondern verlangen, dass sie zu einem Arzt ging, um sich untersuchen zu lassen. Und er würde jammern: „Was haben wir bloß falsch gemacht?“ Bubbe würde traurig nicken, wie Großmütter das nun mal so tun, und Gott dafür danken, dass Beckys Großvater Chaim bereits von ihnen gegangen war. Wäre er nämlich nicht schon tot, würde ihn diese Neuigkeit bestimmt umbringen. Nein, Becky entschied, an diesem Abend doch nichts zu sagen. Eine solche Bombe durfte sie nicht zwischen Suppe und Gefiltem Fisch platzen lassen, selbst wenn sie als Vegetarierin keinen Fisch aß. Am Besten schwieg sie für immer und schob den wachsenden Umfang ihres Bauchs auf Depressionen. Und wenn es so weit war, konnte sie… Ja, was konnte sie dann? Das Baby zur Adoption freigeben? Ausgeschlossen. Das kam so wenig in Frage wie eine Abtreibung. Den Entschluss hatte sie bereits gefasst, als sie vor einigen Stunden im Waschraum des Diners auf das Ergebnis des Schwangerschaftstests gewartet hatte. Sie bog um die nächste Ecke und erreichte den älteren Teil der Stadt mit schönen, herrschaftlichen Häusern. Hier war Carter aufgewachsen. Vor einer altmodischen Frühstückspension blieb sie stehen. Es war ein ganz reizendes Haus. Die Eckpfeiler und Dachfirste waren hübsch verziert, und neben dem Schild Starr’s Bed & Breakfast hing ein weiteres Schild, auf dem Zimmer frei stand. Außerdem wurde ein Hilfskoch beziehungsweise eine Hilfsköchin gesucht. Entschlossen ging Becky zur Haustür, zögerte jedoch, als sie den Türklopfer aus Messing berührte. Im Garten stand eine mächtige, mit bunten Lichtern geschmückte Tanne. Seit Thanksgiving sah man in der Stadt immer mehr Weihnachtsschmuck. Überall gab es Kerzen in den Fenstern, Kränze hingen an den Türen, und der Weihnachtsmann machte sich mit seinen Rentieren in Vorgärten breit. Becky zog die Hand zurück. Das ist nicht meine Welt, dachte sie und ging weiter. Der Auftrag in Phoenix hatte zehn Monate in Anspruch genommen, war jedoch harmlos gewesen im Vergleich zu dem bevorstehenden Projekt. Endlich würde Carter die volle Partnerschaft bei Sullivan & Walters erreichen, einem angesehenen Architekturbüro in Middlewood. Erst vor wenigen Minuten hatte Joe Sullivan ihn über Handy informiert, dass der Auftrag in Neuseeland unter Dach und Fach war. Trotzdem dachte Carter im Moment nicht an Neuseeland. Er ließ den Blick über das fleckige Plastiktischtuch und die zerrissenen Kunststoffbezüge der Sitze wandern. Bisher war er noch nie in diesem Diner gewesen, und das aus gutem Grund. Ein Schild behauptete, dass man das Essen hier nie vergessen würde. Wenn die Qualität des Essens der des erbärmlich schlechten Kaffees entsprach, dann traf die Ankündigung bestimmt zu, wenn auch in negativem Sinne.
Carter hatte einen langen Tag hinter sich, angefangen von dem fünfstündigen Flug von Phoenix nach New York bis zur ebenfalls stundenlangen Fahrt mit einem Leihwagen nach Middlewood in Connecticut. Danach wäre er am liebsten zu Hause geblieben, aber seine Mutter erwartete ihn. Also hatte er nur das Gepäck in seiner Wohnung abgestellt und den Wagen aus der Garage geholt. Doch dann sah er das Schild und hielt am Diner. Wieso auch nicht? Becky hatte auf seine Anrufe nicht reagiert, und er war es leid, dass sie ihm die kalte Schulter zeigte. Sie waren beide erwachsene Menschen, und da passierten eben gewisse Dinge. Es war höchste Zeit, dass sie das klärten. Trotzdem kam er sich vor wie ein Schuft. Vor drei Monaten war er von Übersee angereist, um bei Davids Hochzeit als Zeuge des Bräutigams aufzutreten, und am Morgen nach dem Fest musste er gleich wieder abfliegen. Gegen Ende der Hochzeitsfeier hatte Mrs. Roth die Gäste aufgefordert, alles mitzunehmen, was sie haben wollten. Damit hatte sie natürlich die Süßigkeiten und die Blumen gemeint, aber Carter hatte die jüngere Schwester des Bräutigams gewählt. „Bei der Einrichtung kriegt man nicht gerade Appetit, was?“ Neben dem Tisch stand eine vielleicht zwanzigjährige Frau mit einer Kaffeekanne. Sie hatte ein frisches Gesicht, und das lange blonde Haar war zum Pferdeschwanz gebunden. „Der einzige Vorteil des Diners ist, dass er gegenüber von der Buchhandlung liegt. Noch Kaffee?“ „Ja, warum nicht?“ Wenn Carter an der ersten Tasse nicht gestorben war, überlebte er alles. Nach einem Blick auf das Namensschild der jungen Frau fragte er: „Christina, wann kommt Becky aus der Pause zurück?“ „Tut mir Leid, Mister, Rebecca ist vorhin gegangen. Sie ist gekündigt worden. Wahrscheinlich will sie nach Hause. Hoffentlich ist alles in Ordnung“, meinte sie besorgt. „Das Wetter ist reichlich ungemütlich, und sie ist zu Fuß unterwegs.“ „Christina!“ rief in diesem Augenblick ein massiger Mann hinter der Theke. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du nicht mit den Gästen quatschen sollst! Los, an die Arbeit!“ „Ich quatsche nicht, ich arbeite!“ Sie griff nach dem Bestellblock und tat, als würde sie schreiben. „Die ganze Sache tut mir Leid. Sie ist meinetwegen hinausgeflogen.“ „Wohl kaum“, erwiderte Carter. „Becky wird ständig hinausgeworfen. Darin hat sie ohne fremde Hilfe eine Kunst entwickelt.“ Er legte einen Fünfdollarschein auf den Tisch und stand auf. „Danke, ich verzichte auf den Kaffee. Vielleicht hole ich Becky noch ein.“ „Der Kaffee macht nur einen Dollar fünfzig. Sie kriegen noch Geld heraus.“ „Behalten Sie es.“ Er deutete auf den Mann hinter der Theke, der finster zu ihnen herübersah. „Wenn Sie für den arbeiten, haben Sie es mehr als verdient.“ Sein Wagen war bereits mit einer leichten Schneeschicht überzogen. Carter fegte die Windschutzscheibe mit bloßen Händen frei. Es war die erste Woche im Dezember und eigentlich noch zu früh für so viel Schnee. Zu dumm, dass er keine Handschuhe dabei hatte. Das kommt davon, wenn man nicht vorausdenkt – wie zum Beispiel in der Sache mit Becky. Das hätte nie passieren dürfen. Früher hatten sie völlig unschuldig miteinander geflirtet. Becky war niedlich, lustig und charmant gewesen – und total verwöhnt. Ihr Bruder hatte sie „Prinzessin in Ausbildung“ genannt. Später war sie dann nicht mehr niedlich, sondern strahlend schön, nicht mehr lustig, sondern bezaubernd, und nicht mehr charmant, sondern hinreißend gewesen. Dunkelbraunes gelocktes Haar fiel ihr auf den Rücken und schien förmlich darum zu bitten, von einem Mann
verwuschelt zu werden. Die großen braunen Augen wirkten rätselhaft, und ihr Mund war unverschämt verlockend. Allerdings kam sie aus einer anderen Welt. Und Carters Familie hatte stets dafür gesorgt, dass er die Grenzen kannte und respektierte. Jahrelang hatte er es dennoch als Fehler betrachtet, keine Beziehung zu ihr gesucht zu haben. Vor drei Monaten, nach Davids Hochzeit, hatte er dann aber einen weiteren Fehler begangen. Seither konnte er nicht mehr schlafen und versuchte vergeblich, nachts die Erinnerungen zu verscheuchen. Auch wenn er es sich nur ungern eingestand, war Becky ihm doch tief unter die Haut gegangen. Allerdings hatte er nur vor, sich zu entschuldigen, nichts weiter. Wieso hatte er sie bloß in seine Wohnung mitgenommen? Mittlerweile betrachtete er die unterschiedliche Herkunft zwar nicht mehr als Hindernis, aber nach einer gescheiterten Ehe und auf Grund seines hektischen Lebensstils strebte er keine Beziehung an. Becky hingegen war eine Frau, die einen Ehemann brauchte und sich nicht mit einer Affäre begnügen würde. Ihn konnte sie nicht mit ihrer sorglosen und scheinbar ungezwungenen Art täuschen. Sie sah wie eine Verführerin aus und verhielt sich auch so, doch er kannte die Wahrheit. Becky Roth war bodenständig und häuslich wie Apfelstrudel – oder in ihrem Fall „Apfelkugel“. Tatsache war aber auch, dass sie ihn verführt hatte. Und genau deshalb kam er sich wie der letzte Schuft vor. Er hätte sie abweisen sollen. Drei Jugendliche in Mänteln und mit Schals und Handschuhen kamen aus einem Haus gelaufen. Einer der ungefähr Sechzehnjährigen warf einen Schneeball nach dem etwas jüngeren Mädchen. Das Mädchen kreischte, die beiden Jungs lachten. „Ihr kommt euch wohl stark vor, was?“ rief das Mädchen und revanchierte sich mit einem Schneeball gegen die Schulter des größeren Jungen. „Deine Schwester wirft wie ein Profi!“ rief der Junge seinem Freund zu. Einen Moment lang war Becky dieses junge Mädchen, und der größere Junge war ihr Jugendschwarm Carter, der beste Freund ihres Bruders. Sie schloss die Augen und versuchte, sich an die sorglose Jugend zu erinnern, als man noch tat, was von einem erwartet wurde. Ein Schneeball traf sie an der Stirn. Sie verlor das Gleichgewicht, rutschte aus, und im nächsten Augenblick saß sie auf dem Bürgersteig. Die Strumpfhose war gerissen, und am Schienbein hatte sie eine Schürfwunde, die ziemlich schmerzte. Es blutete zwar nicht, aber die Haut brannte. „Ist was passiert?“ fragte er größere Junge besorgt. „Tut mir Leid, Ma’am, ich habe Sie nicht gesehen.“ Ma’am? Hatte er sie soeben Ma’am genannt? Da dachte sie, es könnte heute gar nicht mehr schlimmer kommen, doch dann wurde sie durch einen Schneeball von den Füßen geschossen, und zu allem Überfluss nannte der Junge sie nun auch noch „Ma’am“. „Er wollte mich treffen“, erklärte das Mädchen entschuldigend. „Randy, du Dummkopf, steh nicht herum. Hilf ihr!“ Becky schloss die Augen, um den Schmerz zu verdrängen. Der Trick hatte gewirkt, als Jordan sie verließ. Sie hatte nicht geweint und hinterher weitergemacht, als wäre nichts passiert. Letztlich war auch nichts weiter passiert, als dass sie aus dem Bereich ihres Mannes in den ihrer Eltern zurückgekehrt war, in dem sie nun schon seit neun Monaten wie in der Schwebe lebte. „Nisch ahir un nisch aher“, wie Bubbe immer sagte – weder hier noch dort. Dieses Mal wirkte der Trick nicht. Becky lief eine Träne über die Wange. „Mein
Bein“, stöhnte sie, „verdammt, tut das weh.“ „Ich kümmere mich um sie“, sagte eine tiefe Männerstimme. Becky riss die Augen auf und zuckte zusammen, aber nicht vor Schmerz. Carter! Vor ihr stand Carter Prescott III. der beste Freund ihres Bruders, ihr Jugendschwarm. Carter Prescott III. der Vater ihres ungeborenen Kindes! Vor ihren Augen drehte sich alles, doch nicht von dem Sturz. Breite Schultern, schmale Taille, ein muskulöser Körper, perfekt in den Proportionen – dazu kamen graue Augen, helles Haar und ein attraktives Gesicht. Bei seinem Anblick hatte sie stets Herzklopfen bekommen, und zu allem Überfluss trat er auch noch so energisch und stolz auf, als würde ihm die ganze Welt gehören. Becky hatte stets eine Schwäche für bestimmende Männer gehabt, und Carter Prescott III. bildete darin keine Ausnahme. Als Jugendliche hatte sie unschuldig mit ihm geflirtet. Damals war sie die kleine Schwester gewesen, fünf Jahre jünger als ihr Bruder David und zu jung für Carter. Und was hatte der Dummkopf getan? Er hatte eine ältere Frau geheiratet. Gut, sie war nur zwei Jahre älter gewesen als er, doch es hatte sich um die hochwohlgeborene Wendy St. Claire gehandelt, deren Blut blau wie Tinte war. „Nimm meine Hand, Becky“, verlangte Carter. „Ich helfe dir beim Aufstehen.“ Sie mochte stets eine Schwäche für bestimmende Männer gehabt haben, doch das würde von jetzt ab anders sein. Auf keinen Fall ließ sie sich jemals wieder von ihm anfassen. Darum stieß sie seine Hand weg und stemmte sich alleine hoch. „Au!“ Das Bein tat so weh, dass sie fluchend gegen Carter fiel. „Was für Ausdrücke aus dem Munde eines netten jüdischen Mädchens“, bemerkte er und hielt sie fest. „Deine Mutter wäre entsetzt.“ „Lass mich los“, verlangte Becky und wagte einen Schritt. „Es ist nur ein Kratzer. Nichts gebrochen, nicht mal verstaucht.“ Die Jugendlichen waren sichtlich erleichtert. „Da hast du Glück gehabt“, sagte das Mädchen zu Randy. „Sie hätte dich verklagen können. Wenn sie klug ist, verklagt sie dich trotzdem wegen tätlichen Angriffs.“ „Ich zeige dir gleich einen tätlichen Angriff!“ Randy scharrte Schnee zusammen und warf ihn nach dem Mädchen, das kreischend weglief. „Schönen Tag noch, Ma’am!“ rief der andere Junge und folgte den beiden. Das sollte ein schöner Tag sein? Becky wandte sich seufzend an Carter. „War ich auch mal so jung?“ „Ich sage dir etwas, du alte Frau“, erwiderte er und legte ihr den Arm um die Taille. „Betrachte mich als Pfadfinder, der dir über die Straße hilft. Mein Wagen steht dort drüben.“ „Gut, du darfst mich nach Hause fahren“, lenkte sie erschöpft ein. „Aber ich kann alleine gehen. Ich dachte, du wärst irgendwo in der Wildnis und würdest dort mit Bauklötzen spielen. Was machst du denn hier?“ „Wir sind heute wohl leicht gereizt, was? Nur zu deiner Information: Phoenix ist keine Wildnis, und der Bau eines Hotels hat nichts mit Bauklötzen zu tun.“ Dank ihres Bruders wusste Becky sehr genau, was Carter die ganze Zeit getan hatte. Das gab sie allerdings nicht zu. „Und wieso bist du nun ausgerechnet hier?“ fragte sie und hinkte neben ihm her. „Verfolgst du mich?“ „Ob ich dich verfolge? Du hast vielleicht Nerven. Hältst du mich für so verzweifelt, nur weil du mich nach der Nacht verlassen und dann meine Anrufe nicht beantwortet hast? Tut mir Leid, Prinzessin, aber ich bin nicht hinter dir her. Ich wollte zu meiner Mutter und habe einen kurzen Abstecher zum Diner gemacht. Chrissy hat mir erzählt, dass dir gekündigt worden ist. Also bin ich weitergefahren, wurde Augenzeuge deines Sturzes und bin dir als barmherziger Samariter zu Hilfe geeilt.“
Chrissy? Meinte er Christina? Bestimmt hatte Carter sie erst vorhin kennen gelernt, aber er hatte bereits einen Kosenamen für sie. Christina – Chrissy – war schließlich eine hübsche Frau, noch dazu eine Blondine, und Carter hatte schon immer für große vollbusige Blondinen geschwärmt. „Nicht mir wurde gekündigt, sondern ich habe gekündigt“, entgegnete sie gereizt. Daraufhin sah er sie skeptisch an. „Ja, gut, nicht ich habe gekündigt. Sagen wir, der Besitzer des Diners und ich haben uns getrennt.“ „Aha. Er hat sich nicht nach dir gerichtet, und du hast dich von ihm getrennt.“ Carter öffnete ihr die Wagentür und ließ sie einsteigen. „Bestimmt frierst du mit den dünnen Strümpfen. Wieso bist du zu Fuß gegangen?“ „Vielleicht, weil ich mir kein Auto leisten kann“, fauchte sie ihn an. „Und weil Middlewood keinen hervorragenden öffentlichen Nahverkehr zu bieten hat. Außerdem sind es vom Diner bis zu meiner Wohnung nur knapp zwei Kilometer, und heute Morgen schneite es noch nicht.“ Er zog sein Jackett aus, legte es ihr über die Beine und streifte dabei die aufgerissene Stelle. „Tut mir Leid“, entschuldigte er sich, als Becky zusammenzuckte. Sie merkte, dass sie rot wurde, weil sie nicht aus Schmerz zusammengezuckt war, sondern wegen der aufregenden Wärme, die sich bei der Berührung in ihr ausbreitete. Sie hatte allerdings nicht die Absicht, sich diesem herrlichen Gefühl ein zweites Mal hinzugeben. An den Folgen des ersten Fehlers würde sie ihr Leben lang zu tragen haben. „Du hast mir nicht wehgetan. Es geht mir schon besser.“ „Dann hast du also vor Widerwillen gezuckt. Ich kann dich beruhigen. Bisher ist noch keine Frau an meiner Berührung gestorben. Trotzdem wird es nicht mehr vorkommen. Den Fehler wiederhole ich nicht.“ Sie wartete mit der Antwort, bis er sich ans Steuer setzte. „Wie waren deine genauen Worte? ‚Hoffentlich glaubst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat.’ Ein wundervoller Satz. Für wen hältst du dich eigentlich?“ „Ich gebe zu, dass das ziemlich hart war, und es tut mir Leid. Ich hätte mich schon viel früher entschuldigt, aber du hast mir keine Gelegenheit dazu gegeben. Du bist diejenige, die mitten in der Nacht weggelaufen ist und sich geweigert hat, darüber zu sprechen.“ Und du bist derjenige, der mich allein und schwanger zurückgelassen hat, dachte sie. Dabei wusste sie, dass sie nicht fair war. Er hatte ihr erzählt, dass er nach Phoenix ging, und er hatte nicht gewusst, dass sie schwanger war. Es machte sie allerdings zornig, dass er so ruhig und gefasst wirkte. „Zuerst lockst du mich in deine Wohnung, dann verführst du mich, und danach schickst du mich wie ein Haremsmädchen weg. Und jetzt wirfst du mir auch noch vor, ich hätte dich verlassen!“ „Wovon sprichst du? Du hast mir praktisch im Aufzug die Kleidung vom Leib gerissen! Wir haben es nicht mal bis ins Schlafzimmer geschafft.“ Carter seufzte. „Ich wollte heute mit dir nicht streiten, sondern vernünftig mit dir reden, wie Erwachsene es tun. Ich habe dir schon gesagt, dass mir die schroffe Bemerkung Leid tut. Ich weiß, wie das auf dich gewirkt haben muss, aber ich kann es erklären.“ „Wieso stimmen Männer nach dem Sex immer das alte Lied von den Bindungen an, die sie nicht haben wollen? Ich verrate dir etwas. Dieses Lied kenne ich, und wenn du Verständnis erwartest, bist du bei mir an der falschen Adresse.“ Er murmelte etwas in sich hinein und fuhr los. Nach einer Weile blinkte er und bog in ihre Straße ein. „Wieso glauben Frauen, dass nur sie sich einen Moment der Schwäche erlauben dürfen? Ich weiß, dass du an dem bewussten Abend
verwundbar warst, und ich hätte dein Angebot nicht annehmen sollen, aber…“ „Mein Angebot! Du egoistischer, eingebildeter, egoistischer…“ „Du wiederholst dich.“ Na und? Spielte er sich jetzt auch noch als Sprachwächter auf? „Und ob ich verwundbar war. Du hast das ausgenutzt. Ich dachte, du bietest mir Trost. Bevor wir zu deiner Wohnung gefahren sind, habe ich klargestellt, dass ich nicht mit dir schlafen werde.“ „Dein Gedächtnis lässt dich im Stich, Prinzessin“, bemerkte er amüsiert. „Du hast gesagt, du würdest nur mit mir schlafen, wenn wir vor einem Schneesturm Zuflucht in einem alten Stall suchen müssten und sicher wären, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben. Dann würden wir uns aneinander schmiegen und uns der Leidenschaft überlassen.“ Offenbar genoss er die Situation. „Mach dich nicht über mich lustig, Carter. Ich war an diesem Abend extrem sensibel.“ „Ich würde es beschwipst nennen. Nur zwei Fragen“, fuhr er fort. „Wo steht denn dieser alte Stall genau?“ „Keine Ahnung. Irgendwo. Was spielt das für eine Rolle?“ „Eine große. Erstens, in der Nähe eines Stalls gibt es ein Farmhaus und einen Farmer, der uns ein Dach über dem Kopf bieten kann. Zweitens, warum sollten wir überhaupt in einem Schneesturm unterwegs sein?“ „Vielleicht kommen wir von einer Geschäftsreise zurück, aber ich verstehe nicht…“ „Welches Geschäft sollten wir denn wohl gemeinsam betreiben? Du bist damit beschäftigt, andauernd deine Arbeit zu verlieren, und ich bin meines Wissens nach Architekt.“ „Das ist schon die dritte Frage. Warum machst du das dauernd? Warum führst du alles weiter? Ich wollte mit der Geschichte nur sagen…“ „Ich weiß, was du sagen wolltest. Du hast von Leidenschaft gesprochen und davon, dass wir uns aneinander schmiegen. In Wahrheit hast du mich verführt. Ich bin nicht unschuldig. Ich hätte mich wehren sollen. Jetzt möchte ich, dass wir es hinter uns bringen, damit ich meine Freundschaft mit David nicht gefährde.“ Also ging es ihm nur um David. Männer! „Mach dir deshalb keine Gedanken“, sagte sie, als er in ihre Einfahrt bog. „Mein Bruder würde dich nie mit einem Gewehr jagen.“ Carter verzog das Gesicht. „Nein, aber vielleicht dein Vater.“ Beinahe hätte sie laut gelacht, als sie sich vorstellte, ihr sanftmütiger Vater könnte Carter mit vorgehaltener Waffe zur Heirat zwingen. Außerdem hätte sie sich auch mit einer Waffe nicht zwingen lassen, Carter oder einen anderen zu heiraten. Seufzend betrachtete sie ihn von der Seite. Er war und blieb der Vater ihres Kindes, das sie allein großziehen wollte. Trotzdem hatte er ein Recht, von der Schwangerschaft zu erfahren. Und den damit verbundenen Schock gönnte sie dem Mistkerl. Sie holte tief Atem. „Ich muss dir etwas sagen.“ „Entschuldigung angenommen.“ „Nein, du verstehst mich falsch.“ Ihre Haustür öffnete sich, und David trat auf die Veranda heraus. Carter kurbelte das Fenster herunter. „He, Roth, wie geht’s?“ David lief durch den Schnee zu ihm. „Pres, alter Junge! Wann bist du zurückgekommen? Komm auf ein Glas herein, und bleib zum Essen. Es ist schon lange her, dass du die Küche meiner Großmutter genossen hast. Entweder ziehst
du durchs Land, oder du hast eine Verabredung. Bubbe hat Hühnersuppe, Rostbraten und Kartoffelknisches gemacht, und du kannst ihren Gefilten Fisch nicht ablehnen.“ Becky krampfte sich der Magen zusammen. „Danke, ein anderes Mal“, lehnte Carter ab. „Ich muss zu meiner Mutter. Wenn ich mich nicht bei ihr zeige, bleibt sie wahrscheinlich die ganze Nacht wach und überlegt sich neue Methoden, um mich zum Wahnsinn zu treiben.“ So sind Mütter eben, dachte Becky und öffnete die Wagentür. Gertie kam in ihrem Lammfellmantel auf die Veranda. „David!“ rief sie und winkte hektisch. „Zieh eine Jacke an! Es ist kalt!“ Becky wandte sich an Carter. „Danke fürs Mitnehmen.“ „Warte, ich bringe dich zum Haus.“ „Ich schaffe das schon allein.“ Bevor Carter etwas einwenden konnte, war sie ausgestiegen und hinkte zur Veranda. „Wo sind deine Stiefel?“ tadelte Gertie. „Bei diesem schrecklichen Wetter trägst du keine Stiefel? Und warum hast du keinen Hut? Geh ins Haus, bevor du dir eine Lungenentzündung holst. Was ist los mit dir? Siehst du nicht, dass es schneit? Das ist kein Schneesturm, das ist eine Katastrophe!“ Becky folgte ihrer Mutter ins Haus. Du hast ja keine Ahnung, dachte sie, und hätte sie sich nicht so elend gefühlt, hätte sie wahrscheinlich gelacht.
2. KAPITEL „Endlich ein Enkelkind!“ Gertie breitete die Arme aus. „Aber das Wort ,schwanger’ klingt so direkt. Sprechen wir lieber von ,guter Hoffnung’. Oder noch besser von ,anderen Umständen’.“ „Wie man es auch nennt“, sagte Bubbe, „ein Baby ist ein Segen. Nimm noch etwas Suppe, Hannah. Du isst jetzt für zwei.“ Aaron stand auf und erhob sein Glas. „Eine bessere Schwiegertochter hat es nie gegeben. Möge euer Sohn stark und gesund werden. Mögest du noch viele Söhne bekommen und auch Töchter. Mögen alle eure Kinder Freude bringen. Mögen…“ „Setz dich, Aaron“, befahl Gertie. „Deine Suppe wird kalt. Also, Hannah, wann kommt das Kind?“ „Voraussichtlich in der letzten Maiwoche. Ich wollte es euch schon früher sagen, aber David wollte unser Geheimnis noch eine Weile wahren.“ „Man soll sieben Tage zum Datum der letzten Periode dazurechnen und drei Monate abziehen“, sagte Becky. Sie wusste schließlich Bescheid. In der Hoffnung, das Problem würde sich irgendwie von selbst lösen, hatte sie den Schwangerschaftstest aber noch zwei Monate aufgeschoben. Erst an diesem Morgen hatte sie den nötigen Mut gefunden. „Achte auf deine Sprache“, tadelte Gertie und reichte Hannah einen Teller mit geschnittener Challa. „Hier sind schließlich auch Männer.“ „Ich bin nicht aus einem Ei geschlüpft“, meinte David lachend. „Außerdem hat Becky Recht. Genauso hat der Arzt gerechnet. Die Ultraschalluntersuchung nächste Woche bringt dann Gewissheit.“ Er sah Hannah liebevoll an und hielt behutsam ihre Hand. „Wir haben jetzt die erste Dezemberwoche“, meinte Gertie nachdenklich. „Dann ist Hannah also im dritten Monat schwa… guter Hoffnung. Stimmt das?“ fragte sie David vorwurfsvoll. „Keine Sorge, Ma“, erwiderte er. „Das Baby wird sich erst zeigen, wenn genügend Zeit verstrichen ist.“ „Ich habe nichts gesagt“, wehrte Gertie ab. „Ich beklage mich auch nicht, aber ihr habt wirklich keine Zeit verloren.“ „Sie haben die Hochzeitsreise nicht gemacht, um Golf zu spielen“, bemerkte Aaron. „Schämen solltest du dich, Aaron, dass du so vor deinen Kindern sprichst.“ Gertie wandte sich an Becky. „Endlich bekomme ich ein Enkelkind. Und dabei habe ich gedacht, dass du mir den ersten Enkel schenken würdest.“ Kann durchaus sein, dachte Becky. Zwar kannte sie nicht das Datum ihrer letzten Periode, dafür das der Empfängnis. Es war am Abend von Davids Hochzeit gewesen. Das bedeutete, dass sie und Hannah ungefähr zur gleichen Zeit gebären würden. „Lass sie, Ma“, riet David. „Sie wird irgendwann wieder heiraten. Außerdem ist sie viel jünger als ich und hat noch Zeit. Wenn sie dazu bereit ist, wird auch sie Kinder haben.“ Und wie ich dazu bereit bin, dachte Becky. „Dein Wort in Gottes Ohr“, erwiderte Gertie. In ihrer Nervosität holte Becky tief Luft. Die Gelegenheit war günstig, aber sie musste den Schlag abmildern. „Ich glaube nicht, dass ich jemals wieder heiraten werde.“ Gertie winkte ab. „Natürlich wirst du. Jordan kommt zurück. Du musst nur Geduld haben.“ Wann würde ihre Mutter die Scheidung endlich akzeptieren? „Ich würde ihn nicht
mehr wollen, selbst wenn er auf allen vieren angekrochen käme. Er hat mich benützt – und euch auch. Ohne das Geld, das ihr ihm geliehen habt, hätte er nicht Medizin studieren können, und nur ich habe verdient. Es macht mir nichts aus, dass ich während seines Studiums gearbeitet habe, aber es ist doch komisch, dass er mich hat sitzen lassen, sobald er hatte, was er wollte.“ Gertie runzelte die Stirn. „Müssen wir am Freitagabend über solche Dinge sprechen? Der Sabbat ist ein Tag der Ruhe, und da soll auch der Groll ruhen.“ „Du hast das Thema angeschnitten“, erwiderte Becky. „Wenn du Jordan so magst, warum heiratest du ihn dann nicht?“ „So redest du mit mir? Hört, wie sie redet! Aaron, sag etwas!“ Aaron räusperte sich. „Als Erstes…“ „Als Erstes braucht sie einen Ehemann“, fiel Gertie ihm ins Wort. „Den hatte sie, aber sie hat ihn weggeschickt. Was für eine Tochter schickt einen solchen Mann weg?“ „Ich habe ihn nicht weggeschickt, Ma, er hat mich verlassen.“ „Ja, ich weiß. Er hat dich ausgenutzt und dann verlassen. Ich sage dir etwas. Mann und Frau sollen sich aufeinander stützen und in Zeiten der Not Hilfe beim anderen finden. Wolltest du vielleicht, dass er jemand anderen ausnutzt?“ Becky seufzte. „Jordan hat sich eine andere gesucht, oder hast du das schon vergessen?“ „Du meinst diese Schickse? Die wird er bald leid sein, und wenn er vernünftig wird, kommt er wieder. Wie war ihr Name? Bambi?“ „Barbie, Ma, und du solltest dieses Wort nicht benützen.“ „Schickse? Hast du Angst, es könnte sie beleidigen? Jetzt sagst du gleich noch, dass sie eine wunderbare Frau ist und ihr unter anderen Vorzeichen Freundinnen sein könntet. Welche Ehefrau freundet sich denn mit der Geliebten des Ehemannes an? Was ist los mit dir?“ Becky musste sich zusammenreißen. „Gar nichts ist los, und ich habe auch nichts Schlechtes getan.“ Allerdings war sie unverheiratet, schwanger und arbeitslos. „Warum kannst du nie zu mir halten? Erstaunlich, dass du nach der Trennung mich und nicht Jordan gebeten hast, zu euch zu ziehen.“ „Beruhige dich. Ich sage doch nur, dass Männer nicht fortgehen. Frauen lassen sie fortgehen.“ „Und Töchter gehen auch nie fort“, erwiderte Becky. „Mütter treiben sie fort.“ Sie stand auf. „Ich gehe spazieren. Mazel tov, Hannah“, sagte sie zu ihrer Schwägerin. „Ich freue mich für dich und David. Aber ich warne euch. Ihr werdet alles Glück dieser Welt brauchen, um in dieser Familie zu überleben.“ „Wohin willst du?“ fragte Gertie. „Bei diesem Wetter willst du spazieren gehen? Aaron, sag etwas!“ „Höre auf deine Mutter“, sagte Aaron gehorsam. Bubbe wandte sich an Becky. „Iss was, meine Kleine, wenigstens etwas Suppe. Die habe ich für dich gemacht. Hühnersuppe ohne Huhn, wie du es magst.“ „Tut mir Leid, Bubbe, es schmeckt bestimmt gut, aber ich habe keinen Hunger.“ Becky drückte ihrer Großmutter einen Kuss auf die Wange und drehte sich zu ihrer Mutter um. Wozu sollte sie den Schlag abmildern? Feuer frei! „Ach ja, ich habe ganz vergessen, euch zu sahen, dass ich entlassen wurde. Und dann ist da noch was. Ich bin… guter Hoffnung.“ „Natürlich haben wir erst Anfang Dezember“, meinte Eleanor, „aber wir sind in Connecticut. Hier schneit es eben. Wieso herrscht in der Stadt bei den ersten Schneeflocken stets Chaos? Schulen schließen, Straßen werden gesperrt, und Menschen stellen sich stundenlang an den Kassen der Geschäfte an, als würden
sie verhungern, wenn sie einmal keine Vorräte hamstern.“ Carter saß an einem Ende des langen Mahagonitisches seiner Mutter gegenüber. In der Mitte lagen Orchideen in einer Kristallvase. Die Platzteller waren aus Silber, das Geschirr edles Porzellan, die Weingläser aus feinstem Kristall. Sie waren zu zweit, aber es war gedeckt wie für die Queen. So war das schon gewesen, als Carters Vater noch lebte. Vermutlich speiste seine Mutter genauso, wenn sie alleine war. „Die Mentalität der Masse“, fuhr Eleanor pikiert fort. „Aufruhr, sobald etwas nicht perfekt läuft. Kommst du deshalb so spät?“ . „Wie bitte?“ „Ich spreche über den Verkehr, Carter.“ „Es gab keinen Verkehr, Mutter. Ich habe mich verspätet, weil ich Becky Roth nach Hause gebracht habe.“ „Ach, Rebecca. Ich habe gehört, dass sie wieder in Middlewood bei ihren Eltern wohnt. Ihr Bruder Daniel hat die Apotheke gekauft. Bestimmt geht es ihm gut – aber so ist das eben bei diesen Leuten, nicht wahr?“ „Er heißt David, und ihm und ,diesen Leuten’ geht es gut.“ „Bitte nicht in diesem Ton. Du weißt, was ich meine.“ Sie trank einen Schluck Wein. „Du hast deinen Coq au vin noch nicht gekostet. Soll Martine dir etwas anderes machen? Du kennst meine neue Haushälterin noch nicht. Ich glaube, ich werde sie behalten. Sie ist ein Juwel.“ Du hoffst, dass sie nicht wie die anderen kündigt, dachte Carter. „Das Huhn schmeckt gut, aber ich habe keinen Hunger.“ Carter hörte kaum, was seine Mutter noch sagte. Er dachte an Becky, die so getan hatte, als wäre er schuld an dem, was vor drei Monaten geschehen war. Dabei hatte sie gewusst, was sie tat. Sie war schließlich siebenundzwanzig und kein Schulmädchen mehr. „Sie will, dass du sie anrufst.“ „Wie bitte?“ fragte er seine Mutter. „Du hast mir nicht zugehört. Wendy hat angerufen. Sie wollte wissen, wann du zurückkommst.“ Eleanor nahm noch einen Schluck Wein. „Das ist ein 1976er Chateau d’Yquem, falls es dich interessiert. Ich habe ihn für eine besondere Gelegenheit aufbewahrt.“ „Welche besondere Gelegenheit?“ fragte Carter misstrauisch. „Ich feiere deine Rückkehr und den Auftrag in Neuseeland. Darf eine Mutter nicht zeigen, wie stolz sie auf ihren Sohn ist? Es gefällt mir nicht, dass du zwei Jahre fort sein wirst, aber du wirst endlich voller Teilhaber. Zu Weihnachten kann ich dich besuchen, wenn du willst. Dann ist dort Sommer, nicht wahr? Vielleicht bleibe ich länger.“ Himmel, war er denn nirgendwo auf der Welt vor seiner Mutter sicher? „Die Teilhaberschaft ist nicht der Hauptgrund, warum ich den Auftrag angenommen habe“, erklärte er schroff und bereute es sofort. Mit zweiunddreißig Jahren sollte er sich daran gewöhnt haben, dass Eleanor versuchte, sein Leben zu lenken. „Natürlich ist das nicht der Hauptgrund“, erwiderte sie. „Du magst deine Arbeit, aber du musst zugeben, dass volle Partnerschaft auch Prestige bedeutet.“ „Wozu brauche ich Prestige, wenn ich nie in Middlewood bin?“ Carter legte die Serviette auf den Tisch. „Ich sollte nach Hause fahren. Es ist spät, und ich habe noch nicht fertig ausgepackt.“ Eleanor warf einen Blick auf die Standuhr hinter ihm. „Es ist doch noch früh. Wie wäre es mit einem Dessert? Speziell für dich gibt es Creme caramel.“ „Tut mir Leid, Mutter, aber ich bin müde und habe noch viel zu tun. Ich lasse mich bei Martine bedanken.“
„Ich bestehe darauf, dass du bleibst“, verlangte Eleanor. „Was ist los, Mutter?“ erkundigte er sich noch misstrauischer. „Erwartest du jemanden?“ „Versprich mir, dass du nicht zornig wirst. Ich habe Wendy zum Kaffee eingeladen. Sie besucht zufälligerweise gerade hier ihre Eltern, und ich fand es einfach anständig, sie zu mir zu bitten.“ „Aber ja, sie ist zufälligerweise in der Stadt.“ Er stand auf. „Anständig? Das ist ja fast schon lächerlich. Wendy hat keine Ahnung, was anständig ist. Ich fahre nach Hause. Entschuldige mich bei ihr.“ „Komm zurück!“ rief Eleanor ihm nach. „Was soll ich ihr denn sagen?“ „Dir fällt bestimmt etwas ein – wie immer.“ Becky hätte nicht so mit der Neuigkeit herausplatzen dürfen. Sie stemmte sich gegen den Schneesturm und zog ihre Jacke eng zusammen. Das Bein schmerzte noch etwas unter der warmen Hose, die sie vor dem Essen angezogen hatte. Bei solchem Wetter sollte sie allerdings keine Stiefel mit fünf Zentimeter hohen Absätzen tragen, sondern Schneeschuhe. Bei Tisch hatte sie schon gefürchtet, Bubbe würde das Gebiss in die Suppe fallen. Dabei wollte sie der lieben Bubbe, die nur für die Familie lebte, bestimmt nicht wehtun. Es hatte Becky jedoch gereicht. Ihre Mutter trieb sie zum Wahnsinn. Becky war klar, dass sie in der Irrenanstalt enden würde, wenn sie nicht bald auszog. Außer ihr war niemand unterwegs, und so verlor sie sich in ihren Gedanken. Am College hatte sie griechische Mythologie studiert, doch leider bestand nach solchen Spezialisten heutzutage wenig Nachfrage, und schon gar nicht in einer kleinen Stadt wie Middlewood. Darum war sie von einer Arbeitsstelle zur nächsten gewandert. Nichts war richtig gelaufen. Sie hatte Jordan durchs Medizinstudium helfen wollen. Sobald er fertig war, hätte sie sich weitergebildet, hätte vielleicht ein eigenes Geschäft gegründet oder wäre als Mutter zu Hause geblieben. Doch die Träume waren geplatzt. Jordan hatte sie nach vier Jahren, acht Monaten und drei Wochen Ehe verlassen. Wie „entliebt“ man sich eigentlich? Die gefärbte Rothaarige mit dem künstlichen Busen hätte nichts damit zu tun, versicherte damals ihr Mann, während er seinen neuen eleganten Koffer packte. Becky hatte sogar geholfen, damit alles richtig gefaltet war, bis sie seine neue Unterwäsche entdeckte. Die Rothaarige hatte ihm nicht nur einen neuen Koffer, sondern auch Designerslips gekauft. „Deine Unterwäsche kannst du selbst falten!“ hatte Becky erklärt. Im Moment hatte sie allerdings andere Sorgen als die Vorliebe ihres Exmannes für vollbusige Rothaarige und Designerslips. Wie sollte sie das Kind allein großziehen? Sie wollte Carter nicht als Vater ihres Kindes haben. Er war schließlich die meiste Zeit nicht da. Und in ihrem Leben wollte sie ihn auf gar keinen Fall haben. Eine Frau hatte er bereits verlassen, und das kannte sie nun aus eigener Erfahrung, vielen Dank. Natürlich erwartete sie von ihm keinen Heiratsantrag. Er liebte seine Freiheit und wechselte die Frauen wie sie die Arbeitsstellen. Der Tag von Davids Hochzeit fiel ihr ein. Am Morgen war ein Brief vom Gericht gekommen – die Scheidung von Jordan. Becky hatte ihn in die Tasche des Bademantels gesteckt und war ins Haus zurückgegangen. „Du siehst vollkommen erledigt aus“, sagte Gertie. „Das liegt an diesem schrecklichen Diner, in dem du arbeitest. Der ist nicht mal koscher. Jordan wird bald Arzt sein. Wie sieht das denn aus, wenn die Frau eines Arztes in so einem
Lokal arbeitet?“ „Ich achte nicht auf koscher“, erinnerte Becky ihre Mutter, „und Jordan kommt nicht zu mir zurück.“ „Wenn du ein Hobby brauchst, versuch es mit Canasta. Bei den vielen Bakterien in einem so schmutzigen Lokal ist es kein Wunder, dass du elend aussiehst. Und halte dich von Hannah fern. Die Braut soll sich vor der Hochzeit nichts einfangen. Gibt es Post?“ „Nur Rechnungen“, erwiderte Becky. Wie sollte sie als Ehrenjungfer auftreten? Eine Frau, die soeben die Scheidungspapiere erhalten hatte, wollte eigentlich nichts mit Hochzeiten zu tun haben. Trotzdem trat sie vier Stunden später den bitteren Gang an. Sie war für ihren Bruder und Hannah glücklich. Die beiden passten perfekt zusammen, obwohl David sich lange gesträubt hatte, das Junggesellendasein aufzugeben. Becky folgte ihren Eltern sowie David und nahm ihren Platz unter der Chuppa ein. Davids Zeuge Carter wartete auf der anderen Seite des Baldachins. Becky war von seinem Anblick hingerissen, doch sie dachte daran, dass seine Ehe genau wie ihre gescheitert war. Vielleicht war es zu Bubbes Zeiten doch besser gewesen. Eine Freundin oder eine Heiratsvermittlerin brachte einen mit einem geeigneten Partner zusammen, und die Ehe basierte auf gegenseitigem Respekt. „Wir haben gelernt, einander zu lieben“, sagte Bubbe stets. „Chaim war ein guter Mann, möge er in Frieden ruhen. Warum hätte ich ihn nicht lieben sollen?“ „Hey, Fremde“, flüsterte Carter. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben. Du siehst gut aus, Prinzessin.“ „Du siehst selbst gut aus“, erwiderte sie befangen und kam sich wieder wie als Teenager vor. Hannahs Eltern erschienen, und der Organist stimmte den Hochzeitsmarsch an. Alle blickten nach hinten zu Hannah, die in einem Kleid aus mehreren Lagen Satin und Tüll die Synagoge betrat. Kristallperlen glitzerten an ihrem Mieder. Bubbe hatte gewünscht, dass die Braut nach orthodoxer Art mit ihren Eltern ging, aber David wollte nicht, dass seine Braut diesen Auftritt mit jemandem teilte. „Wir sind jetzt reformiert, Bubbe“, hatte er erklärt. „Wir suchen uns die Traditionen und Gesetze aus, die wir befolgen wollen.“ Bei Hannahs Anblick stiegen Becky Tränen in die Augen. Sie freute sich für Hannah, dachte aber auch an ihre eigene Hochzeit und die gebrochenen Schwüre. Becky bekam die Zeremonie kaum mit, weil sie den Kopf gesenkt hielt, um nicht zusammenzubrechen. Sie blickte nur hoch, als sie als Ehrenjungfer Hannahs Schleier anheben musste. Nachdem Braut und Bräutigam einen Schluck Wein getrunken hatten, wickelte der Rabbi das Glas in ein Tuch und legte es auf den Boden. „Mazel tov!“ jubelten die Gäste, nachdem David das Glas mit einem Tritt zerbrochen hatte. Diese Tradition sollte an die Zerbrechlichkeit des Lebens erinnern, doch nach der Zeremonie war es mit der ernsten Stimmung vorbei. „Es wird gefeiert!“ rief Aaron und führte alle in den Festsaal. Nach dem Essen wurde Platz zum Tanzen geschaffen. Die Gäste bildeten einen Kreis um das Brautpaar, das auf Stühlen saß und dem Brauch entsprechend ein Taschentuch an den Enden festhielt. „Auf den König und die Königin des Abends!“ rief jemand, und als Hannah und David mitsamt den Stühlen hochgehoben wurden, stahl Becky sich davon. Ihr war nicht nach feiern, andererseits konnte sie die Hochzeit ihres Bruders auch
nicht verlassen. Darum versteckte sie sich im Zimmer der Braut, trank ein Glas Sekt nach dem anderen, zeigte sich gelegentlich und nahm sich dabei jedes Mal gewaltig zusammen. Sie wollte nur allein sein, und nach dem Fest sagte sie ihren Eltern, sie wolle zu Fuß nach Hause gehen. „Mit diesen hohen Absätzen?“ hielt Gertie ihr vor. „Wir wohnen ganz nahe“, erinnerte Becky ihre Mutter. „Außerdem ist im Auto für mich kein Platz, wenn ihr alle Reste einpackt.“ Die Septemberluft war kühl. Becky hatte Kopfschmerzen vom Sekt. Ein Spaziergang tat ihr bestimmt gut. „Setzt du dich ab?“ Becky zuckte zusammen. „Carter! Du solltest dich nicht so leise an jemanden heranschleichen.“ „Kann man sich anders an jemanden heranschleichen?“ Er legte ihr die Hand unters Kinn. „Was ist los, Prinzessin? Das sind keine Freudentränen.“ Die zärtliche Berührung war einfach zu viel, und im nächsten Moment lag sie weinend an seiner Schulter. Tröstend umarmte er sie. „So schlimm kann es nicht sein. Wie sagt man? Du verlierst keinen Bruder, sondern gewinnst eine Schwester.“ „Falsch“, stieß sie hervor. „Man verliert keine Tochter, sondern gewinnt einen Sohn. So heißt es. Aber ich weine nicht deshalb.“ Sie löste sich verlegen von ihm und wischte über die feuchte Stelle an seinem Jackett. „Tut mir Leid.“ „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Den Frack kann man reinigen lassen. Mir tut es Leid, Prinzessin. David hat mir erzählt, was mit Jordan passiert ist. Ich verstehe, was du durchmachst.“ Ausgerechnet Carter Prescott III. tröstete sie? Er, gescheiterter Ehemann und Playboy der christlich-amerikanischen Welt? „Glaube ich kaum. Schließlich hast du deine Frau verlassen. Aber wieso rede ich überhaupt mit dir? Du bist der Letzte, der mich versteht.“ „Du vergisst, dass alles zwei Seiten hat“, erwiderte er leise. „Meinst du nicht, so könnte es auch in meinem Fall sein? Vielleicht bin ich nicht der große böse Wolf, als den du mich hinstellst. Ich halte Jordan für einen Dummkopf, weil er dich verlassen hat. Ein solcher Mann ist es nicht mal wert, dir die Schuhe zu putzen.“ Sie rang sich ein mattes Lächeln ab. „Weiter! Ich kann die Schmeichelei gut gebrauchen. Die Scheidungspapiere waren heute in der Post, und mir geht es entsprechend mies.“ „Also, wenn du einen Ehemann brauchst, heirate ich dich. Ist das nicht auf Grund irgendeines alten Gesetzes sogar meine Pflicht? Hat das nichts mit dem Zeugen und der Ehrenjungfer zu tun?“ „Du denkst an die biblische Geschichte von Ruth, aber du müsstest Jordans Bruder sein, und er müsste sterben. Doch selbst wenn Jordans Eltern dich adoptieren würden und du dann einen bezahlten Killer auf Jordan hetzt, werde ich nie wieder heiraten. Außerdem kannst du noch so viel vom Heiraten sprechen, mich täuschst du nicht. Du denkst genau wie ich.“ Er wickelte sich eine Locke ihres Haars um den rechten Zeigefinger. „Nachdem wir also Heirat ausgeschlossen haben, könnten wir zu mir fahren und uns meine Radierungen ansehen.“ Becky lachte. „Carter Prescott, bei der langen Liste deiner Eroberungen würde ich mit dir nicht ins Bett gehen. Und wenn du der einzige Mann auf Erden wärst.“ „Hey, ich habe nichts dergleichen vorgeschlagen.“ Er wurde ernst. „Spaß beiseite. Komm mit zu mir. Ich mache fantastischen Kaffee, und du kannst einen brauchen. Mir geht es auch nicht sonderlich gut. Ich war sieben Monate fort, und das ist niemandem aufgefallen.“
„Du gibst nie auf“, stellte sie kopfschüttelnd fest. „Ich glaube dir kein Wort. Deine Mutter hat dich bestimmt vermisst. Und David auch.“ „Als Zeuge ist es meine Pflicht, mich um die Ehrenjungfer zu kümmern. Nur ein Schluck Kaffee. Danach bringe ich dich nach Hause. Ich muss ohnedies zeitig schlafen gehen, weil ich morgen früh nach Phoenix zurückfliege.“ Sie zögerte, lächelte dann aber. „Also gut, eine Tasse. Ich sollte meinen Eltern allerdings Bescheid sagen.“ „Wie üblich die pflichtbewusste Tochter. Becky macht immer alles richtig.“ Sie erklärte ihrer Mutter nur, dass sie noch etwas unternehmen wollte, und ging Arm in Arm mit Carter zum Parkplatz. Er ließ sie in seinen Wagen steigen. „Was ist jetzt mit den Radierungen?“ fragte er. Sie schlug ihm spielerisch auf die Schulter. Früher hatte Carter sie entweder übersehen oder geneckt, aber wenn sie Kummer hatte, war es ihm stets gelungen, sie zum Lachen zu bringen. So war das auch jetzt, und es tat gut. „Ich sage dir was“, erklärte sie, als er einstieg. „Ich würde nur mit dir schlafen, wenn wir unterwegs wären und vor einem fürchterlichen Schneesturm Zuflucht in einem alten Stall suchen müssten und…“ Auf der Rückfahrt zu seiner Wohnung dachte Carter an den bewussten Abend. Während der Hochzeitszeremonie hatte er den Blick nicht von Becky wenden können. Bei der Feier hatte sie dann die Jacke ausgezogen. Die Frau in dem tief ausgeschnittenen Kleid war Davids kleine Schwester? Die dunklen Locken reichten bis zur schmalen Taille. Hinreißend. Während der Feier zeigte sie sich kaum, aber als das Fest beendet war, fing er sie ab. „Du solltest dich nicht so leise an jemanden heranschleichen“, sagte sie erschrocken. „Kann man sich anders an jemanden heranschleichen?“ erwiderte er. „Wieso dieses betrübte Gesicht?“ „Ich bin nicht betrübt, sondern blendender Laune.“ Sie wirbelte vor ihm herum, verlor das Gleichgewicht und fiel gegen ihn. „Hoppla! Ich glaube, die Dame braucht Koffein. Um die Uhrzeit ist bestimmt noch etwas offen.“ „Wir sind in Middlewood. Sogar Merlin’s Fine Diner hat schon geschlossen, obwohl ich dir den nicht empfehlen würde. So grausam bin ich nicht.“ Sie lehnte sich an ihn an und schloss die Augen. „Ich will noch nicht nach Hause“, sagte sie leise. „Ich kann nicht.“ „Ich mache fantastischen Kaffee“, bot er an. „Willst du mit zu mir kommen?“ Sie löste sich von ihm und strich die Aufschläge glatt. „Tut mir Leid, Carter, ich habe deinen Frack verknittert.“ Mit großen dunklen Augen sah sie ihn an. „Kaffee klingt nicht schlecht.“ Während der Fahrt zu seiner Wohnung schmiegte sie sich an ihn. „Habe ich dir schon gesagt“, fragte sie, „dass ich dich süß finde?“ Süß? Frauen hatten ihn schon viel genannt, aber nicht süß. Und süß fühlte er sich in dem Moment absolut nicht. Der Duft ihres Parfüms benebelte ihm die Sinne. Am liebsten hätte er auf der Stelle angehalten und Becky in die Arme gezogen. Im Aufzug von der Tiefgarage zum dritten Stock schlang sie ihm die Arme um den Hals. „Vielleicht fällt der Strom aus, und wir stecken stundenlang fest. Dann kannst du nicht abreisen. Ich hasse es, wenn Leute abreisen. Hier hätte ich dich unter Kontrolle.“ Er schob sie behutsam von sich. „Das willst du doch gar nicht, Becky. Du bist nur deprimiert, und du hast zu viel getrunken.“ „Aber, Carter Prescott“, sagte sie unschuldig, „was denkst du denn? Ich habe
doch schon gesagt, dass ich nur mit dir ins Bett gehen würde, wenn wir in einen schrecklichen Schneesturm gerieten…“ „Dann habe ich wohl kein Glück“, stellte er fest, als sich die Türen des Aufzugs öffneten. „Sieht nicht danach aus, als würde es bald schneien.“ Ihre Augen schimmerten verlockend. „Ich bin nicht betrunken“, versicherte sie leise. „Ich hatte etwas zu viel Sekt, aber ich weiß genau, was ich tue. Mein ganzes Leben liegt in Trümmern, und ich will nicht an morgen denken. Das Jetzt ist alles, was mir geblieben ist.“ Sie strich ihm über den Arm. „Und jetzt tue ich so, als ob wir tiefsten Winter hätten…“ Drei Monate später war Carter derjenige, der nur so tat, als ob… Er tat, als hätte jener Abend zwischen ihnen nichts bedeutet. Es war verrückt. Normalerweise war er derjenige, der davon redete, dass er nicht an morgen denken wollte. Hoffentlich glaubst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat. Er bog in die Elm Street und hielt den Atem an. Becky! Er wollte ihr folgen, aber die Sicht war schlecht, und als er die Stelle erreichte, an der er Becky entdeckt hatte, war sie verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich geirrt. Was sollte sie schon in einer solchen Nacht hier machen? Andererseits musste man bei ihr immer mit Überraschungen rechnen. Einen Moment glaubte Becky, Carters Wagen wäre in die Straße eingebogen, aber wegen des heftigen Schneetreibens war sie nicht sicher. Sie bog um die nächste Ecke und stand vor der Frühstückspension, die sie bereits gesehen hatte. Die Hilfsköchin wurde noch immer gesucht. Sie ging an der Tanne mit den Lichterketten vorbei und kehrte dieses Mal nicht um. Das ist nicht meine Welt, dachte sie, aber Arbeit ist Arbeit. Darum betätigte sie den schweren Türklopfer.
3. KAPITEL „Ich wusste, dass Sie kommen würden!“ Starr klatschte wie ein aufgeregtes Kind in die Hände. „Ich habe geträumt, dass der Wind Sie vor meine Tür weht. Sie sagten, Sie würden den Winter mitbringen und Zuflucht suchen. Und jetzt sind Sie wie in meinem Traum hier.“ „Tut mir Leid, aber ich glaube nicht an Träume“, entgegnete Becky. „Ich bin allerdings für alles aufgeschlossen“, fügte sie hinzu, weil Starr sichtlich enttäuscht war. „Das sind Sie bestimmt.“ Die Frau holte aus den Küchenschränken Tassen und Untertassen, Honig und Milch, Löffel und Servietten. Das lange geblümte Kleid schwang bei jeder Bewegung, und die weiten Ärmel flatterten wie Flügel. „Sie denken logisch, sind aber anpassungsfähig“, fuhr Starr fort und setzte sich zu Becky an den Tisch. „Eine interessante Kombination. Sternbild Zwilling.“ „Woher wissen Sie, dass ich Zwilling bin?“ fragte Becky verblüfft. „Ich lese in Karten und Teeblättern und sehe die Aura von Menschen“, erwiderte Starr amüsiert, „aber ich lese keine Gedanken. Ich habe Ihr Geburtsdatum im Führerschein gesehen. Tut mir Leid, dass ich einen Ausweis verlangt habe. Sogar eine Seherin wie ich muss vorsichtig sein, wenn jemand wie Mary Poppins vor der Tür steht. Das Sternzeichen Zwilling wird der Luft zugeordnet. Es ist, als hätte ich Sie aus der Luft heraufbeschworen. Ich wollte eine Köchin haben, und nun sind Sie hier.“ Becky hatte erwähnt, dass sie Vegetarierin sei, und Starr hatte sie auf der Stelle engagiert und von Schicksal gesprochen. „Wem unterstehe ich?“ fragte Becky, weil eine Hilfsköchin gesucht wurde. „Wir sind hier nicht in einem Büro, Becky. Sie sind meine Helferin, aber ich betrachte uns lieber als verwandte Seelen. Wir planen das Essen und kochen gemeinsam. Vorerst gibt es nur Frühstück, aber an den Feiertagen erwarte ich eine Gruppe Vegetarier. Dann servieren wir auch Abendessen. Wo sonst in dieser Stadt finden die Leute gutes vegetarisches Essen?“ Sie überlegte. „Wahrscheinlich hätte ich keine Helferin, sondern eine Sklavin suchen sollen. Ich kann nicht viel zahlen, doch Unterkunft und Verpflegung sind inklusive.“ „Geld ist kein Problem.“ Becky kreuzte die Finger wegen der Lüge. „Wenn ich für Essen und Miete nichts zahlen muss, kann ich fast jeden Cent sparen.“ Bis das Kind kommt… Starr schenkte den Tee ein. „Ich habe gar nicht gefragt, ob Sie Kräutertee mögen.“ „Gern“, erwiderte Becky. Starr war ihr ein Rätsel. Das Wohnzimmer war zwar mit Figuren und Puppen überladen, aber sehr gemütlich eingerichtet, hübsch und auch teuer. In der Küche benutzte sie jedoch ein Teeservice mit Sprüngen. „Ich will kein Koffein.“ Starr nickte. „Wir haben viel gemeinsam, aber ich warne Sie. Manche Vegetarier sind noch nicht so erleuchtet wie wir. Leider müssen wir daher Kaffee anbieten. Dabei sind wir nicht nur verpflichtet, der Erde nicht die Lebenskraft zu entziehen, sondern wir dürfen auch unsere Körper nicht vergiften. Immerhin sind wir Teil der Erde. So sehe ich das. Wie ist es mit Ihnen? Warum haben Sie auf Fleisch und Koffein verzichtet?“ Gertie hatte Becky vorgeworfen, sie wäre nur Vegetarierin geworden, um die Gesetze für koscheres Essen zu umgehen. Jordan war es egal gewesen, weil er selten zu Hause gegessen hatte. Wenn er nicht studiert oder im Krankenhaus gearbeitet hatte, war er mit seiner Rothaarigen unterwegs gewesen.
„Ja, also, das war wegen der Erde“, antwortete Becky. Bisher hatte sie sich keine Gedanken um die Umwelt gemacht. Sie hatte auf Tierisches verzichtet, weil sie den Geschmack von Fleisch und vor allem das Schlachten nicht mochte. Warum sollte ein Tier sterben, wenn man Brokkoli essen kann? Auf Koffein verzichtete sie erst seit heute, weil sie schwanger war. Über die Tasse hinweg betrachtete sie Starr verstohlen, eine seltsame Frau ohne Alter. Sie mochte zwischen vierzig und sechzig sein. Die Haut wirkte glatt und jugendlich, doch das lange dunkle Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Durch die Frisur mit dem Mittelscheitel wirkte Starr wie aus einer anderen Welt. Besonders auffällig waren die großen grünen und ungewöhnlich schimmernden Augen. Über dem Küchendurchgang hingen Ketten aus roten und blauen Perlen, an der Decke silberne Sterne. Überall gab es Puppen aller Arten und Größen – auf der Theke, dem Fußboden, den Regalen und sogar an den Wänden. Eine Puppe an einem goldenen Haken neben dem Kühlschrank fiel Becky sofort auf. Sie war etwa dreißig Zentimeter lang, aus Stroh gefertigt und trug ein langes weißes Kleid, dessen Saum über eine Schulter hochgezogen war. Unwillkürlich dachte Becky schaudernd an Voodoo. „Keine Sorge, sie hat nichts mit Schwarzer Magie zu tun“, sagte Starr, als hätte sie Beckys Gedanken erraten. „Das ist Hestia, meine Lieblingspuppe, die griechische Göttin der Erde und des Herdes. Ich habe sie auf Barbados gefunden, und sie erinnert mich an die Freiheitsstatue, obwohl sie keine Fackel trägt. Das Stroh irritiert die Leute, weil es nicht zu einer griechischen Göttin passt. Übrigens, ich habe etwas Perfektes für Sie zum Schlafen. Es ist ein Nachthemd, das ich letztes Jahr bei einer Handwerksausstellung gekauft habe. Wenn ich es Ihnen zeige, werden Sie wissen, was ich mit perfekt meine.“ Becky zögerte. „Ich sollte nach Hause gehen. Ich bin im Zorn weggerannt, und meine Eltern machen sich Sorgen. Ich rufe meinen Vater an. Er holt mich bestimmt ab.“ „Unsinn. Es schneit heftig, und die Straßen werden erst zum frühen Morgen geräumt. Dann fahre ich Sie, und Sie holen Ihre Sachen. Rufen Sie doch Ihre Mutter an. Sie haben Telefon im Zimmer. Jeder Raum hat einen eigenen Anschluss. Nehmen Sie Ihren Tee mit. Ich führe Sie.“ Becky folgte Starr durch einen langen Korridor und eine schmale Treppe hinauf. „Das Haus wurde Ende des neunzehnten Jahrhunderts erbaut“, erklärte Starr im zweiten Stock. „Es befindet sich seit Generationen im Besitz meiner Familie. Mein Ururgroßvater hat es gebaut, als er aus Holland kam. Hoffentlich langweile ich Sie nicht.“ Schön, wenn man die Familie so weit zurückverfolgen kann, dachte Becky bitter. Die meisten ihrer Vorfahren waren während des Zweiten Weltkriegs umgekommen. Bubbe war als Einzige von der Generation der Großeltern noch am Leben, aber sie sprach kaum über die Vergangenheit. Die Erinnerungen waren zu schrecklich. „Sie langweilen mich nicht“, versicherte Becky. „Bitte, weiter.“ „Dann langweile ich Sie mit den Nachbarn“, fuhr Starr fort. „Links wohnen die Davidsons, aber die werden Sie kaum zu sehen bekommen. Anwälte, die in New York arbeiten. Die Logans wohnen rechts von uns. Laura ist ein reizendes Mädchen und hat eine entzückende zwei Jahre alte Tochter namens Caroline. Ein weiteres Kind ist unterwegs.“ Sie reichte Becky den Schlüssel. „Das hier ist Ihr Zimmer.“ Becky öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Zu ihrer Freude war der Raum ähnlich elegant wie Starrs Wohnzimmer, allerdings frei von Puppen. Ein
Himmelbett mit weißen Bezügen und Stoffhimmel beherrschte den Raum. „Das ist ja wunderbar“, rief Becky beeindruckt aus. „Sind alle Zimmer so?“ „Freut mich, dass es Ihnen gefällt. Ja, alle Räume sind gleich. Ob Sie es glauben oder nicht, ich zwinge Gästen meinen Hokuspokus nicht auf.“ Starr lächelte trocken. „Darum kann ich Ihnen auch nicht mehr bezahlen. Ich bin wegen der teuren Renovierung knapp bei Kasse, und ich bin keine gute Geschäftsfrau. Vor den nächsten Entscheidungen befrage ich eine Kristallkugel.“ Becky sah sie zweifelnd an. „Ja, ich weiß, was Sie jetzt denken“, fuhr Starr fort, „aber eine Kristallkugel ist viel zuverlässiger als unsere Wirtschaft. So, genug vom Geld. Weiter! Bad ist da rechts. Jedes Zimmer hat übrigens ein eigenes Bad. Und hier in dem Erker können Sie wunderbar ein Kinderzimmer einrichten.“ Erneut bekam Becky den Mund kaum zu. „Das steht nicht im Führerschein. Haben Sie es an meiner Aura erkannt?“ „Nein, nein, keine Magie“, erwiderte Starr lachend. „Es liegt daran, dass schwangere Frauen sitzen, als wäre ihre Körpermitte aus dem Gleichgewicht geraten.“ „Die Schwangerschaft ist hoffentlich kein Problem? Ich kann bis zuletzt arbeiten, und nach der Entbindung brauche ich nur einen oder zwei Tage.“ „Sie wollen bis zur letzten Minute und gleich nach der Geburt wieder kochen? Kommt nicht in Frage. Die Bemerkung über Sklaven war nur ein Scherz. Wir sind nicht im antiken Griechenland. Nein, die Schwangerschaft ist kein Problem, im Gegenteil, ein Kind wirkt sich gut auf das Karma im Haus aus. Neues Leben bedeutet Verjüngung. Also, rufen Sie zu Hause an, und ich hole das Nachthemd.“ Becky zog die Schuhe aus und legte sich aufs Bett. Sie hatte Angst davor, ihrer Mutter zu sagen, dass sie bei Starr wohnen wollte. Dabei war das harmlos im Vergleich zu der anderen Neuigkeit. Doch schon jetzt hörte sie Gerties schrille Stimme: „Diese Frau ist nicht nur keine Jüdin, sondern auch noch meschugge! Willst du bei einer Verrückten wohnen?“ Starr kam gleich darauf mit dem Nachthemd zurück. Auf der Vorderseite war eine Frau in einem langen, weiten Umhang zu sehen. Darunter stand: Demeter rettet die Erde. „Ich habe Ihnen gesagt, dass es perfekt ist. Demeter war die Göttin der Ernte, und genau wie Sie in meinem Traum hat sie den Winter gebracht.“ „Demeter war einverstanden, dass ihre Tochter die Hälfte des Jahres bei Hades verbringt“, erzählte Becky die Mythologie weiter. „Während Persephone in der Unterwelt war, hat Demeter nicht erlaubt, dass auf Erden etwas wächst. So sind Winter und Sommer entstanden.“ Starr lachte begeistert. „Das wissen Sie? Wir sind eindeutig Seelenverwandte. Darum werden wir auch viel Spaß zusammen haben.“ Wenigstens ein Mensch findet mich amüsant, dachte Becky und griff zum Telefon. Demeter war auch die Göttin der Fruchtbarkeit. Vielleicht gefiel das ihrer Mutter. Sie vermutete jedoch, eher nicht. Carter legte einen schnellen und harten Aufschlag hin. David reagierte mit einer niedrigen Vorhand und schlug den Ball Richtung Decke. Carter ließ den Ball aufspringen, schlug mit voller Kraft zu und knallte ihn gegen die Wand. „Spiel an mich“, riet Carter, als David den Ball verfehlte. „Das Eheleben macht dich schwach, Kamerad.“ „Oder ich habe gestern Abend zu viel bei meiner Großmutter gegessen.“ David wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Vielleicht solltest du es mit der Ehe noch mal versuchen. Das würde dich menschlicher machen.“ Carter hob den Ball auf und folgte David in den Umkleideraum. „Und du solltest
lieber Federball spielen.“ David holte ein Handtuch aus dem Spind und schlug es Carter gegen die Beine. „Machst du das bei deinen Verabredungen? Rasenspiele? Du bist ganz schön tief gesunken.“ Lachend gingen sie unter die Dusche. Carter war früher fertig und wartete auf David im Vorraum. Es war schwierig gewesen, David zu überreden, weil der Samstag der jüdische Ruhetag war. Doch David hatte nicht aus religiösen Gründen gezögert, sondern wegen Hannah. Die Ehe verändert einen Mann eben doch, sinnierte Carter. Fünf Minuten später stieß David zu ihm. „Du bist noch hier, Pres? Keine Verabredung?“ „Dafür ist es zu früh.“ „Also keine Verabredung. Du lässt nach, nicht ich.“ Carter folgte seinem Freund ins Freie. „Du bist bloß neidisch, weil du praktisch schon immer mit Hannah zusammen warst. Im Ernst, Roth. Tut es dir nie Leid, dass du nicht mehr auf die Jagd gehen kannst?“ David zögerte. „Nach einem Streit mit Hannah vor einiger Zeit war ich in einer Bar. Ich kannte die Frau nicht. Sie war nur ein Gesicht in der Menge. Krankenschwester im Danbury Hospital.“ „Was ist passiert?“ wollte Carter wissen. „Nichts. Wir haben einige Gläser miteinander getrunken. Ich frage mich nur, ob sich etwas geändert hätte, wenn etwas passiert wäre. Jedenfalls tut es mir nicht Leid, nicht mehr auf die Jagd gehen zu können.“ Carter beneidete seinen Freund, der gefunden hatte, was den meisten Männern versagt blieb. „Wie wäre es mit einem Bier? Wir könnten über alte Zeiten reden.“ „Tut mir Leid, Pres, ich habe Hannah versprochen, das zweite Zimmer zu streichen.“ Carter schüttelte den Kopf. „Ja, du bist echt verheiratet.“ Und er selbst fühlte sich schrecklich leer. „Versuch es wieder“, drängte David. „Nein, danke. Zwei sind mir zu viel.“ David begann zu strahlen. „Bei uns werden es bald drei sein, Pres. Hannah ist schwanger.“ „Großartig.“ Carter schüttelte seinem Freund die Hand. „Wann bekomme ich meine Zigarre?“ „Erst in sechs Monaten, aber Hannah bereitet jetzt schon alles vor.“ „Und du bist begeistert. Na ja, du bist dafür auch wie geschaffen.“ Carter wartete auf eine schlagfertige Antwort. „Was ist?“ fragte er, als keine kam. „Hannah geht es doch gut?“ „Ja.“ Doch irgendetwas stimmte nicht. Das merkte Carter deutlich. An seinem Wagen angelangt, drehte David sich um. „Eigentlich sollte ich es dir nicht erzählen, aber es ist besser, du erfährst es von mir, als durch Klatsch und Tratsch. Nicht nur Hannah trägt zur Vergrößerung der Einwohnerzahl von Middlewood bei. Ich werde Onkel.“ Carter erstarrte. „Wie war das?“ „Du hast mich schon richtig verstanden. Becky ist schwanger.“ Carter traute seinen Ohren nicht. Schwanger? Ein Kind, das aber nicht von ihm war. Becky hätte ihm das sonst gesagt. Die brave Becky war also doch nicht so brav. „Deine Mutter ist bestimmt außer sich“, vermutete er. „Vorsichtig ausgedrückt“, antwortete David. „Sie hat mich heute Morgen angerufen, damit ich sofort komme. Ich dachte schon, es wäre was mit
Großmutter. Aber ich sollte nach oben gehen und mit Becky reden. Becky kam gerade die Treppe mit Starr DeVries herunter. Das ist die Irre, der die Frühstückspension Ecke Elm und Old Mill Street gehört. Becky wird bei ihr wohnen. Mutter wurde hysterisch und wollte die zwei aufhalten. Sie hat sich vor die Tür gestellt, aber Becky hat sich an ihr vorbeigedrängt. Ich glaube, meine Mutter stört nicht, dass Becky auszieht, sondern dass das Kind nicht von Jordan ist.“ „Wieso sollte es von ihm sein? Becky hat ihn doch seit der Trennung nicht wieder gesehen.“ Oder doch? Carter wusste, dass Becky ihren Exmann verachtete. „Von wem ist denn das Kind?“ „Das hat sie nicht verraten. Ich werde ungefähr gleichzeitig Vater und Onkel. Also ist es zirka drei Monate her. Da fällt mir der Abend meiner Hochzeit ein. Becky ist mit jemandem weggefahren. Mutter sagt, sie wäre erst um vier Uhr nachts heimgekommen. Du hast doch an dem Abend mit ihr gesprochen. Hast du eine Ahnung, mit wem sie zusammen war? Du glaubst doch nicht, dass es Nick Patterson war? Er hat sie angestarrt. Ich schwöre dir, falls er…“ „Es war nicht Nick“, erwiderte Carter tonlos. „Ich habe Becky während der Feier kaum gesehen. Wir haben sie auch für ein Familienfoto nicht gefunden. Nick war ebenfalls nicht da. Vielleicht waren die zwei auf dem Balkon. Oder im Zimmer der Braut. Dieser Mistkerl! Wenn ich den erwische…“ „Es war nicht Nick“, wiederholte Carter. „Glaubst du, deine Schwester würde mit einem solchen Schleimer losziehen?“ David öffnete die Wagentür. „Wieso bist du da so sicher? Weißt du etwas? Los, Pres“, drängte er, als Carter schwieg. „Sofort!“ „David, ich…“ Die Sache war alles andere als einfach. David fluchte, und im nächsten Moment hatte er Carter einen Haken verpasst. Carter stürzte, fing sich mit den Händen ab und sah einen Moment lang nur durcheinander wirbelnde Farben. „Lass es mich doch erklären!“ „Spar dir das!“ fauchte David und stieg in seinen Wagen. Die Reifen quietschten, und das Auto jagte davon. Carter stemmte sich hoch, stützte sich auf den nächsten Wagen und kämpfte gegen eine Ohnmacht an. Den Haken hatte er verdient. Er hatte Becky an jenem Abend in seine Wohnung mitgenommen, doch vorhin hatte er tatsächlich gedacht, sie könnte mit einem anderen zusammen gewesen sein. Ein Baby… Familie… Heirat… Völlig benommen ging er zu seinem Wagen. Ein Fehler bedeutete nicht, dass man einen zweiten beging. Allein stehende Frauen bekamen Kinder. Heutzutage heiratete man nicht mehr, weil ein Baby unterwegs war. Trotzdem, er war der Vater, und er wollte das Richtige tun. Er würde dafür sorgen, dass es Becky und dem Kind an nichts fehlte. Schon ein Mal war ihm die Chance entgangen, als Vater zu handeln, ein zweites Mal sollte das nicht passieren. Nach der Rückkehr von Gerties Haus machten Becky und Starr bis in den Nachmittag hinein Menüpläne und blätterten in Kochbüchern, bis ohrenbetäubendes Vogelgezwitscher die Küche erfüllte. „Was ist das?“ fragte Becky besorgt. „Türklingel wie im Regenwald. Ich mache auf.“ Starr kam rasch zurück und lächelte spöttisch. „Das Drama nimmt seinen Lauf. Der Vater ist hier, um seinen Anspruch anzumelden. Carter Prescott will Sie sprechen.“ „Woher wissen Sie, dass er der Vater ist?“ „Wegen seines merkwürdigen Gesichtsausdrucks. Man kann Schuldgefühle nicht
verbergen. Ich habe ihn im Wohnzimmer geparkt, aber wenn Sie wollen, schicke ich ihn wieder weg.“ „Nein, ich spreche mit ihm.“ Carter saß auf dem Sofa neben dem Fenster. Er hatte das Jackett geöffnet, darunter trug er einen Rollkragenpulli. Bei seinem Anblick bekam Becky trotz allem prompt Herzklopfen. Mutig ging sie näher – und stockte. „Das muss ja ein toller Kampf gewesen sein“, bemerkte sie, sobald sie das blaue Auge sah. „Was ist passiert?“ „Nennen wir es einen Sportunfall.“ Er sah sich um. „Warum bist du in dieser Hippie-Bude?“ „Das geht dich nichts an, und der Stil ist französisch rustikal, nur zu deiner Information.“ „Ich meine den Geruch. Sind das Räucherstäbchen?“ „Nein, Erdbeere und Kiwi.“ Sie zeigte auf die Kerzen im Bücherschrank. „Starr zündet überall im Haus Duftkerzen an. In unserem Haus. Ich wohne jetzt hier.“ „Das hat mir dein Bruder erzählt.“ Er stand auf, trat an den Kamin und griff nach einer grünen Statue aus Jade. „Was hat Buddha mit Frankreich zu tun? Und was ist das in dem Korb? Voodoo-Puppen? Hast du den Verstand verloren? Hier soll ein Kind aufwachsen?“ Das Herz rutsche ihr in die Hose. Er wusste Bescheid! Ihr Blick fiel erneut auf sein Auge. „Mein Bruder hat sich mit dir wohl nicht nur darüber unterhalten, wo ich jetzt wohne. Es war kein Sportunfall, sondern er hat dich geschlagen. Woher wusste er, dass du der Vater bist?“ „Spielt das eine Rolle? Aber vor allem, warum hast du es mir nicht gesagt, Becky? Warum musste ich es von ihm, erfahren?“ „Ich wollte es dir bald sagen. Ich selbst habe es erst gestern herausgefunden.“ „Gestern! Davids Hochzeit war vor drei Monaten. Du warst die ganze Zeit schwanger und hast es erst gestern herausgefunden?“ „Dreieinhalb.“ „Wie bitte?“ „Ich bin seit dreieinhalb Monaten schwanger.“ „Darum geht es nicht. Ich bin jedenfalls der Vater, und ich lasse mein Kind nicht in dieser Umgebung aufwachsen. Pack deine Sachen, ich bringe dich nach Hause.“ „Setz dich“, verlangte Becky. „Ich muss offenbar einiges klarstellen.“ Er ließ sich wieder aufs Sofa sinken. „Warum leihst du mir nicht einfach deine Kristallkugel?“ fragte er bissig, als sie sich in den Sessel neben dem Sofa setzte. Becky lächelte. „Ich bin hier zu Hause und gehe nirgendwohin. Ich bin die neue Köchin, das heißt die Assistentin, und die Bezahlung ist… großartig. Außerdem habe ich Kost und Logis frei. Starr ist wunderbar. Fühlst du die positiven Schwingungen in diesem Haus nicht auch?“ Carter betrachtete sie, als sei sie durchgedreht. „Schwingungen? Was soll das heißen? Willst du meine Hilfe nicht?“ „Volltreffer.“ „Es ist genauso mein Kind wie deines. Ich hätte für Schutz sorgen müssen. Also bin ich verantwortlich, und ich werde das Richtige tun.“ „Das Richtige“, wiederholte sie. „Nur darauf kommt es dir also an. Danke, dass du hier bist und mir Hilfe anbietest, aber das ist mein Problem.“ „Es ist auch meins. Du tust, als wäre es ein Verbrechen, wenn ich dir helfen möchte. Was ist denn falsch daran, das Richtige tun zu wollen?“ „Das sage ich dir. Mein Vater überlegt sich derzeit wahrscheinlich, wie er dich vor den Altar bekommt, und mein Bruder kauft vermutlich ein Gewehr. Meine Mutter
denkt verzweifelt darüber nach, wie sie Jordan davon überzeugen kann, dass das Kind von ihm ist. Ich will lieber gar nicht wissen, was er unter ,dem Richtigen’ versteht, aber eins ist klar, es hat mit einer Rothaarigen in einem Whirlpool zu tun. Das Richtige in wessen Augen? Ich bin es leid, dass mir alle sagen, wie ich leben soll. Ab sofort richte ich mich nur noch nach mir.“ „Du lebst nicht im luftleeren Raum“, erwiderte Carter ruhig, aber herablassend. „Es sind auch andere Menschen betroffen, vor allem das Kind. Du kannst es nicht allein großziehen.“ „Das ist mein Leben, und ich mache, was ich will!“ Plötzlich zeichnete sich Panik in seinem Gesicht ab. „Du wirst doch keine Dummheit begehen? Ich würde dir nämlich nicht erlauben…“ „Mir erlauben?“ Als sie begriff, was er meinte, wurde sie zornig. „Wofür hältst du mich? Ich bin schon im zweiten Drittel der Schwangerschaft. Das Kind hat bereits einen eigenen Herzschlag. Aber selbst wenn es nicht schon zu spät wäre, käme ein Abbruch gar nicht in Frage.“ „Ich wollte nicht andeuten…“ „Ich tue, was ich für richtig halte“, fiel sie ihm ins Wort. „Ich bin ein vernünftiger erwachsener Mensch, auch wenn alle Leute anderer Meinung zu sein scheinen. Übrigens übernehme ich die Verantwortung für jene Nacht. Du hattest keinen Grund anzunehmen, ich wäre nicht geschützt. Außerdem hätte ich darauf bestehen sollen, dass du ein Kondom benützt, wenn man deine und Jordans Vergangenheit bedenkt.“ „Mir geht es nicht um Schuld“, wehrte er ab. „Dafür ist es zu spät. Außerdem habe ich schon gesagt, dass sie mich trifft. Wieso bist du so schwierig? Ich will für dich und das Kind sorgen.“ Sie lehnte sich im Sessel zurück. „Wie soll ich es dir begreiflich machen?“ sagte Becky müde. „Ich habe zu Hause gewohnt, als ich zum College ging. Hinterher bin ich zu meinem Mann gezogen. Nachdem Jordan mich verlassen hat, bin ich zu meinen Eltern zurückgekehrt. Zum ersten Mal stehe ich auf eigenen Beinen. Niemand sagt mir, was ich tun soll, und das fühlt sich gut an. Darum will ich deine Hilfe nicht. Es ist mein Körper, Carter, und es ist mein Baby. Ich will es selbst aufziehen.“ „Ich störe ungern.“ Starr stand in der Tür. „Ihre Mutter ist am Telefon.“ „Das heißt wohl, dass ich entlassen bin“, stellte Carter eisig fest. „Gut, ich gehe, aber ich gebe nicht auf. Es ist auch mein Kind, und ich verlange ein Mitspracherecht.“ „Sie können von der Küche aus telefonieren“, sagte Starr zu Becky. „Ich bringe Carter zur Tür.“ „Ich finde die Tür allein“, erwiderte er und wandte sich noch mal kurz an Becky. „Wir sind nicht fertig. Es ist eine Tatsache, dass dieses Kind von mir ist.“ Becky ging an ihm vorbei. Auf in die nächste Runde, dachte sie.
4. KAPITEL „Was duftet da so wunderbar?“ fragte Starr, als sie am Montag den Kopf in die Küche steckte. „Kommen Sie her, und kosten Sie.“ Becky rührte am Herd in einem Topf und holte auf einem Löffel etwas von dem Eintopf heraus. „Wie finden Sie das?“ „Mm! Im alten Griechenland würde man von einer Götterspeise sprechen. Was ist das?“ „Mittagessen. Zucchini-Kräutersuppe und Tofu-Eintopf, beides eigene Rezepte.“ Becky holte zwei Teller aus dem Schrank und stellte sie auf die Arbeitsfläche. „Wir essen den Eintopf, weil die Suppe noch nicht fertig ist. Ich nenne ihn ,Napoleons Freude’.“ Starr holte Besteck und Servietten und setzte sich an den Tisch. „Wie kommen Sie denn zu diesem Namen?“ Becky füllte die Teller und setzte sich neben Starr. „Dieses Gericht wurde Napoleon angeblich nach seinem Sieg bei Marengo in Oberitalien serviert. Der Koch hat Zutaten aus der umliegenden Gegend verwendet. Ich habe die Zutaten geändert und nehme Tofu statt Fleisch.“ „Ich wusste, dass Sie vom Schicksal zu mir geführt wurden“, behauptete Starr, als sie fertig war. „Großartig. Sie brauchen aber nicht für mich zu kochen. Das gehört nicht zu Ihrer Arbeit.“ Becky winkte ab. „Das mache ich gern. Erstaunlich, wie schnell die Morgenübelkeit verschwunden ist, seit ich nicht mehr im Diner arbeite.“ „Dieses Gericht möchte ich auf die Speisekarte setzen“, erklärte Starr aufgeregt. „Ich habe eine tolle Idee! Schreiben Sie ein Kochbuch! Darin erwähnen Sie mein Haus. Ich wollte schon immer berühmt werden. Möchten Sie noch was?“ fragte sie und griff nach ihrem Teller. „Denken Sie darüber nach.“ „Ich möchte nichts mehr, danke. Es stimmt nicht, dass Schwangere für zwei essen.“ „Ich meinte, Sie sollten über das Kochbuch nachdenken.“ „Ich kann nicht mal richtig buchstabieren.“ Starr füllte den Teller und setzte sich. „Denken Sie nur positive Dinge. Ungeborene fühlen, was die Mutter empfindet. Es ist traurig, wenn eine Frau das Selbstvertrauen verliert.“ Becky hatte nie welches gehabt. „Vielleicht haben Sie Recht. Ich sollte nicht mehr daran denken, was ich nicht kann, sondern mich auf das konzentrieren, was ich kann.“ „Genau“, bestätigte Starr. „Wann haben Sie so gut kochen gelernt?“ „In der Zeit meiner Ehe. Mein Mann hat mich oft allein gelassen. Ich musste mich beschäftigen. Je mehr ich allein war, desto deprimierter wurde ich. Je deprimierter ich war, desto mehr habe ich gekocht. So ergeht es mir noch heute. Sie essen gerade das Ergebnis meines jüngsten Elends.“ „Es ist wirklich köstlich. Ich werde also dafür sorgen, dass Sie aus dem Elend nicht herauskommen.“ Unvermittelt kamen Becky die Tränen, was ihr derzeit zu den unmöglichsten Zeiten passierte. „Die Morgenübelkeit war schon schlimm, aber niemand hat mich vor den plötzlichen Stimmungswechseln gewarnt.“ Starr war sofort bei ihr. „Es tut mir Leid. Ich habe nur einen Scherz gemacht. Wieso haben Sie denn heute überhaupt gekocht?“ Becky sah sie betrübt an. „Meine Mutter hat mich stündlich angerufen. Es ist unglaublich. Sie hat für mich einen Termin bei Hannahs Ärztin gemacht!“ „Wo liegt das Problem?“ fragte Starr verwirrt.
„Ich kann selbst Termine absprechen. Und ich möchte mir den Arzt aussuchen. Hannah hat die fixe Idee, dass ein Arzt umso kompetenter ist, je älter er ist. Diese Dr. Boyd ist also vermutlich ein Dinosaurier.“ „Haben Sie sich denn schon einen Arzt gesucht?“ Becky griff nach einem Taschentuch und putzte sich die Nase. „Nein, noch nicht. Ja“, lenkte sie ein, „ich gehe zu dem Termin.“ Starr trug das Geschirr zur Spüle. „Sie sollten das Kochbuch schreiben. Wegen der Rechtschreibung machen Sie sich keine Gedanken. Ich habe schon mit dem Gedanken gespielt, in den sauren Apfel zu beißen und einen Computer zu kaufen. Ein Computer hat eine automatische Rechtschreibprüfung. Meine Buchhaltung wäre dann auch viel einfacher.“ „Sie wagen den Schritt in die Neuzeit?“ fragte Becky lachend. „Haben Sie es noch nicht gehört? Ich habe meinen Besenstiel gegen einen Roller mit Elektroantrieb eingetauscht. Übrigens muss ich jetzt Staub saugen.“ Carter stand vor der Haustür, klingelte, lauschte dem Vogelgezwitscher und überlegte, dass diese schräge Frau eigentlich Katzen haben sollte. Becky öffnete. „Tut mir Leid, dass es so lange gedauert hat“, sagte sie ein wenig atemlos. „Ich habe dich wegen des Staubsaugers nicht gehört.“ „Du hast Staub gesaugt? Bist du verrückt?“ „Ich bin schwanger, aber nicht behindert. Warum sollte ich nicht Staub saugen? Was willst du? Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ „Was glaubst du wohl? Ich will dich zur Vernunft bringen und gehe erst, wenn du mit allem einverstanden bist, was für das Baby gut ist. Also, keine Hausarbeit mehr.“ „Und wer putzt? Du vielleicht?“ erkundigte sie sich spöttisch. „Obwohl ein Mann mit Schürze einen gewissen Reiz hat.“ „Ich dachte, du wärst Köchin und nicht Hausmädchen“, wandte er ein. „Reg dich nicht auf. Starr hat gesaugt, nicht ich. Ich war in der Küche und habe gekocht, also genau das, was eine Köchin normalerweise macht. Jetzt bin ich zwar müde… Um Himmels willen, die Suppe!“ Carter folgte ihr, als sie in die Küche lief. „Was riecht hier so gut?“ „Zucchini-Kräutersuppe. Willst du kosten?“ „Nein, danke.“ „Was ist bloß mit Männern los? Ohne Fleisch und Kartoffeln ist es für sie kein richtiges Essen.“ Becky füllte einen Teller mit dem Eintopf. „Hier, probier das!“ Er setzte sich an den Tisch. „Das sieht schon besser aus. Du kannst ja wirklich kochen“, stellte er nach dem ersten Bissen fest. „Was ist das?“ „Ach, nichts Besonderes. Augen vom Wassermolch mit einem Eidechsenbein an einem Rand von Froschzehen.“ Carter lachte. „Ich dachte, du isst kein Fleisch.“ „Tue ich auch nicht, und kein Tier hat zu diesem Essen beigetragen. Es besteht aus Pilzen, Oliven, Tomaten, Gewürzen und Tofu.“ Bei dem Wort „Tofu“ stöhnte er auf. „Hast du noch nie gehört, dass echte Männer keinen Tofu essen?“ Sie pfefferte die Suppe, rührte um und warf einen Blick auf seinen leeren Teller. „Schon fertig? Dann haben dir die Wassermolchaugen also geschmeckt. Willst du mehr?“ „Ich möchte die Suppe kosten.“ „Löffel in der obersten Schublade. Und bring zwei Gläser mit aus dem Schrank hinter dir.“ Sie füllte einen Teller mit Suppe und nahm einen Behälter aus dem Kühlschrank. „Möhrensaft?“ „Treib es nicht zu weit.“
„Wenn du etwas nicht ausprobierst, weißt du nicht, ob es dir zusagt. Aber ich bin stolz auf dich, Carter. Du hast den Tofu überlebt. Was kommt als Nächstes?“ „Willst du andeuten, ich wäre nicht flexibel? Wenn man im Glashaus sitzt, soll man nicht mit Steinen werfen. Du bist doch die Starrsinnige.“ „Ach ja, wieso?“ fragte sie und setzte sich zu ihm. „Du weißt, was ich meine. Ich will dir nur mit dem Kind helfen, aber du stellst es dar, als wollte ich dein Leben kontrollieren.“ „Einverstanden.“ Er legte den Löffel aus der Hand. „Einverstanden?“ „Ich lasse mir von dir helfen, danke.“ Sie füllte ihr Glas mit Saft. „Willst du wirklich keinen?“ So einfach hatte sie ihre Meinung geändert? Misstrauisch betrachtete er seinen Teller. Vielleicht wollte sie ihn vergiften. Unwillkürlich fasste er sich an sein blaues Auge. Womöglich gab es in ihrer Familie Ansätze von Wahnsinn. Das Zeug, das er eben gegessen hatte, schmeckte nicht nach Tofu. Andererseits hatte er Tofu noch nie gekostet. „Möhrensaft? Warum nicht? Heute ist der Tag der Wunder. Du hast nachgegeben, und ich habe herausgefunden, dass ich Tofu mag.“ Carter ertappte sich dabei, dass er sie musterte, als sie nach dem Krug griff. Er betrachtete ihren schlanken Hals und ließ den Blick tiefer gleiten. Es sollte verboten werden, dass schwangere Frauen enge Pullis trugen. „Nun, wie schmeckt der Saft?“ erkundigte sie sich. „Ich lebe noch.“ „Und ich verständige sofort die Medien“, entgegnete sie. „Übrigens ist dieser Saft mein Geheimrezept.“ „Ich wusste nicht, dass man Möhren auf verschiedene Art auspressen kann.“ „Ich bin sehr erfinderisch. Starr meint sogar, ich sollte aus meinen Rezepten ein Buch machen. Weißt du, wo ich eine gebrauchte Schreibmaschine finde? Ich kann doch einem Verlag keine handschriftlichen Aufzeichnungen schicken.“ „Du ordnest deine Rezepte, und ich sehe mich nach einer Schreibmaschine um. Übrigens erstaunst du mich, Prinzessin. Ich wusste nicht, dass du so gut kochst, und jetzt bist du auch noch einverstanden, dass ich am Leben des Kindes teilnehme.“ „Davon war nicht die Rede“, widersprach sie. „Wenn du willst, kannst du zum Beispiel die Arztrechnung übernehmen, mehr aber auch nicht.“ Schon wieder eine Überraschung. „Toll, Becky, vielen Dank, dass ich die Brieftasche öffnen darf. Mir reicht das aber nicht. Ich will mich auch nach der Geburt um das Kind kümmern und zu seinem Leben gehören.“ „Du willst bei der Erziehung mitreden“, stellte sie gereizt fest. „Was heißt das? Möchtest du mich ständig überwachen? Tauchst du bei dem Kind auf und verschwindest, wann es dir passt? Wir reden nicht über ein Geschäft, sondern über ein Kind. Vaterschaft ist keine Teilzeitbeschäftigung, Carter. Alles oder nichts.“ „Was schwebt dir vor?“ fragte er alarmiert. „Willst du heiraten?“ „Wir und heiraten?“ entgegnete sie lachend. „Absurd! Wir kommen aus unterschiedlichen Welten und sind verschiedenen Glaubens. Das würde das Kind nur verwirren. Außerdem will ich nicht mehr heiraten, und du schätzt deine Freiheit.“ Das mit dem unterschiedlichen Glauben stimmte, doch das ließ sich lösen. Schließlich verehrten sie beide dasselbe höchste Wesen. Es ärgerte ihn jedoch, dass sie glaubte, seine Gefühle zu kennen. „Mein Leben wird nicht immer so bleiben“, hielt er ihr vor. „Sobald ich vollwertiger Partner im Büro bin, muss ich
nicht mehr so viel unterwegs sein. Dann entwerfe ich nur noch, und ein anderer überwacht die Baustellen. Ich könnte mich in Middlewood ansiedeln.“ „Bittest du mich, dich zu heiraten?“ fragte sie überrascht. „Wir sollten zumindest über die Möglichkeit nachdenken.“ „Übertreibst du jetzt nicht? Dein Motto ist, das Richtige zu tun, aber eine Ehe aus Pflichtgefühl ist keine Ehe. Was wäre das für meine Tochter denn für ein Vorbild? Und was ist außerdem mit Neuseeland?“ Hoffentlich sah man ihm nicht an, wie erleichtert er sich fühlte. Andererseits war er auch beleidigt, weil sie den Heiratsantrag ablehnte. „Danke“, sagte sie und drückte seine Hand, „du brauchst mich nicht zu heiraten.“ Sie lachte kurz auf. „Das hätte ich meinem Bruder nicht zugetraut. Ein tolles Veilchen hat er dir da verpasst.“ Wenn sie ihn noch lange berührte, fing er bestimmt an zu schmelzen. Er räusperte sich. „Wie fühlt es sich an?“ „Das Schienbein ist noch leicht geschwollen.“ Behutsam zog er ihre Hände auf ihren Bauch. „Nein, ich meine das Baby. Spürst du schon etwas?“ „Angeblich ist es noch zu früh, aber ich spüre deutlich, wie sie sich bewegt.“ Er merkte eine leichte Bewegung unter den Fingern und zog hastig die Hand zurück. „Siehst du?“ fragte Becky. „Sie kann es nicht erwarten.“ „Du sprichst immer von ,ihr’. Wieso bist du so sicher, dass es ein Mädchen ist?“ „Bin ich nicht, aber ich will nicht nur von ,dem Baby’ sprechen. Am Donnerstag bei der Ultraschalluntersuchung frage ich nach dem Geschlecht.“ „Ich begleite dich“, erklärte er. Gerade eben, bei dieser kleinen Bewegung unter seiner Hand, war die Welt stehen geblieben. Plötzlich freute er sich auf sämtliche Vorbereitungen, die Arztbesuche, die Einkäufe und die Schwangerschaftskurse. „Es wäre mir lieber, du begleitest mich nicht“, entgegnete Becky. „Wir sollten nicht zu viel miteinander zu tun haben. Schließlich gehst du bald nach Neuseeland.“ „Wir leben in derselben Kleinstadt. Was machst du denn, wenn ich nach Hause komme? Versteckst du dann das Kind?“ „Erstens kann ich nicht in Middlewood bleiben. Wenn du aus Neuseeland zurückkommst, stehe ich finanziell bestimmt auf eigenen Beinen. Ich möchte wieder nach New York. Die Stadt ist toll, und ich habe dort Freunde.“ Eine allein stehende Mutter ohne besondere Fähigkeiten in New York? Wie kam sie auf eine solche Idee? „Mach bloß keine Dummheiten.“ „Ich habe nicht die Absicht, jemals wieder eine Dummheit zu begehen“, erwiderte sie trocken und seufzte. „Also gut, du kannst mich zum Arzt begleiten, aber nur ein einziges Mal. Wie gesagt, Vaterschaft ist keine Teilzeitbeschäftigung.“ Er gab es nur ungern zu, aber Becky hatte Recht. Doch wieso kam ihm dann alles so falsch vor?
5. KAPITEL Am Donnerstagvormittag stand Carter mit einem großen Karton vor der Haustür. Obenauf lag ein dickes Buch. „Steh nicht so da“, meinte er fröhlich, „nimm das Buch.“ Becky tat es, woraufhin er sich an ihr vorbeidrängte und zur Treppe ging. „Was machst du?“ rief sie und folgte ihm. „Wir haben in knapp einer Stunde den Arzttermin.“ „Es dauert nicht lange.“ Er war bereits oben angelangt. „Wo ist dein Zimmer?“ „Dritte Tür auf der linken Seite, aber…“ „Machst du bitte auf?“ „Was hast du vor? Du kannst doch nicht einfach hereinstürmen und…“ „Ich stürme nicht herein.“ Als sie keine Anstalten machte, die Tür zu öffnen, stellte er den Karton ab und drehte den Türknauf. „Wieso schließt du nicht ab? Du weißt doch nicht, wer sich hier womöglich herumtreibt!“ warnte er. „Der letzte Wochenendgast ist am Dienstag abgereist, und morgen Abend kommt erst der nächste Gast. Außerdem solltest du bei mit nicht diesen Ton anschlagen. Ich bin kein Kind. Und ich mag keine Leute mehr, die mich beschützen wollen.“ Unwillkürlich fasste er sich ans Auge. Die Schwellung ging allmählich zurück. „Du hast natürlich Recht“, fuhr sie fort. „Offenbar hat man es hier mit allen möglichen Eindringlingen zu tun. Oder würdest du dich anders bezeichnen?“ Er hob den Karton wieder hoch und betrat das Zimmer. Sein Blick fiel auf den kleinen Schreibtisch in der Nische. „Der perfekte Platz für einen Computer“, stellte er fest und setzte den Karton ab. „Du hast mir einen Computer mitgebracht?“ fragte sie erstaunt. „Für dein Kochbuch. Der Monitor ist noch im Wagen. Ist doch besser als eine gebrauchte Schreibmaschine, oder?“ „Du hast den Verstand verloren, Carter. Das kann ich nicht annehmen.“ Damit hatte er schon gerechnet. „Ich habe die Geräte in meiner Wohnung erneuert. Wenn du meinen alten Computer nicht nimmst, steht er nur bei mir herum.“ „Du kannst ihn verkaufen oder spenden.“ „Für den alten Schrott zahlt niemand mehr etwas. Der ist langsamer als eine Schildkröte. Für deine Bedürfnisse jedoch reicht er.“ „Trotzdem ist es zu viel. Du sorgst für das Kind, okay. Schließlich ist sie deine Tochter. Aber ich kann keine Geschenke annehmen.“ Hartnäckig war sie, sogar stur. „Ich habe den Computer nicht gekauft, aber wenn du willst, leihe ich ihn dir, bis du dir einen besseren leisten kannst.“ Bewusst spielte er den Wert herunter. „Dann kannst du dieses Relikt spenden, und es steht nicht mit dem anderen Schrott bei mir herum.“ Becky runzelte die Stirn. „Na, gut, Carter, ich nehme den Computer, damit du keinen kostbaren Wohnraum verlierst. Da wir gerade von Raum sprechen. In dem Erker richte ich das Kinderzimmer ein, nicht den Arbeitsplatz. Stellst du den Schreibtisch also bitte ans Fenster?“ „Gern.“ Er hatte gewusst, sie würde das Geschenk nicht annehmen, und er hatte sich richtig verhalten. Doch dann begriff er, dass Becky ihn im Manipulieren sogar noch übertraf. Sie hatte es so eingerichtet, dass es ihm nun vorkam, als würde sie ihm einen Gefallen erweisen. „Das heißt“, fuhr sie fort, „du solltest den Computer im Arbeitszimmer im Erdgeschoss aufstellen, damit auch Starr ihn benützen kann. Sie hat Probleme mit der Buchhaltung.“ Er griff wieder zum Karton. „Bist du sicher?“
„Sicher bin ich sicher“, fauchte sie ihn an. „Hast du mir nicht zugehört?“ Hormone, dachte er, die kommenden Monate werden bestimmt schwierig. „Ich muss noch ein Buchhaltungsprogramm besorgen“, überlegte er laut, als sie das Arbeitszimmer betraten. „Im Moment ist nur ein Schreibprogramm installiert.“ „Wieso ist dein alter Computer denn nicht voll ausgerüstet? Wo sind die anderen Programme, zum Beispiel Schach? Ich brauche ein Schachspiel.“ „Meine alte Software war so unmodern, dass ich eine neue gekauft habe. Ich besorge dir, was du willst.“ Prompt hob sie drohend den Zeigefinger. „Du hast behauptet, dass dich das Ding nichts gekostet hat.“ „Damit habe ich den Computer an sich gemeint.“ „Was macht das für einen Unterschied? Du hast gelogen, Carter.“ Er hatte die Wahrheit etwas hingebogen, und sie stellte seine Moral in Frage? „Einen Moment, ich…“ „Wozu brauche ich neue Programme? Du hast außerdem behauptet, dass du zu Hause modernisiert hast. Wieso hast du dann nicht für mich eine Kopie deiner neuen Programme angefertigt?“ Jetzt hatte er sie. „Weil das verboten ist“, erklärte er. „Du willst doch nicht, dass ich etwas Ungesetzliches tue, oder?“ „Dann möchte ich, dass du alles zurücknimmst, was du gekauft hast. Ich kaufe mir die Software selbst.“ „Kein Rückgaberecht.“ Die Tatsache, dass sie daraufhin schwieg, legte er es als ihre Art von Dank aus. Er nahm Computer, Tastatur und Maus aus dem Karton. „Ich hole den Monitor. Fass nichts an!“ Als er zurückkehrte, lag Becky rücklings auf dem Boden und hatte den Kopf unter den Schreibtisch gesteckt. Ihr langer Rock rutschte gefährlich hoch, als sie wieder hervorkroch. „Die Anleitung war gut verständlich“, erklärte sie strahlend und stand auf. „Ich habe alles angeschlossen.“ Auch mit den dunklen Strümpfen wirkten ihre Beine verführerisch. „Du hättest dir wehtun können“, hielt er ihr vor und wusste nicht, ob er sich mehr über ihren Starrsinn oder über die Reaktion seines Körpers ärgerte. Nachdem er den Monitor angeschlossen hatte, setzt er sich an den Schreibtisch und schaltete das Gerät ein. Der Bildschirm erwachte zu Leben. „Ich stelle ihn dir noch ein, dann kannst du loslegen.“ Becky stand neben ihm. „Ich mache das. Ich habe schon mit Computern gearbeitet.“ Als sie sich vorbeugte, fing er den Duft ihres Haars auf – genau wie vor drei Monaten in seiner Wohnung, als er eine Haarnadel nach der anderen herauszog. Wie sollte er sich konzentrieren, wenn sie ihm so nahe war? Noch ein Stück näher, und sie landete auf seinem Schoß. „Du hast meinen Namen falsch geschrieben“, stellte sie fest, schob seine Hände beiseite und jagte damit eine Hitzewelle durch seinen Körper. Sie merkte aber selbst offenbar nichts von der starken Wirkung, die sie auf ihn hatte. „Ich soll hier meinen Drucker anmelden. Weißt du, wo ich ein billiges gebrauchtes Gerät finde?“ „Nein, aber ich weiß, wo du einen neuen Drucker gratis bekommst.“ Sie richtete sich blitzartig auf. „Oh nein, sag es nicht! Vergiss, dass ich einen Drucker überhaupt erwähnt habe.“ „Gut, ich sage es nicht, aber dieses Ding, das ich vergessen soll, steht auf dem Rücksitz meines Wagens.“
Becky merkte nur zu deutlich, dass Carter sie anstarrte, während sie im Wartezimmer Formulare ausfüllte. Das hatte er schon in der Woche zuvor in der Küche getan, und deshalb trug sie jetzt auch einen langen grauen Rock und einen weiten Pulli. Gertie hätte ihr Aussehen „schlampig“ genannt. Dennoch wuchs Carters Interesse sogar noch. Nun ja, sie war auch nicht ganz unschuldig. Da war zum Beispiel das Zusammenzucken bei der Berührung ihrer Hände auf der Tastatur gewesen. Wie ein elektrischer Schlag. Dabei war sie schwanger, und schwangere Frauen empfanden doch so etwas nicht, oder? Nun, es waren bestimmt die Hormone. Aber auch das ergab keinen Sinn. Vor drei Monaten war sie nicht schwanger, und ihre Hormone waren nicht in Unordnung gewesen. Sie hatte sich nur ein wenig schwach gefühlt, da sie zu viel Sekt getrunken hatte und mit einem sagenhaft aussehenden Mann den Abend verbrachte. Welche Erklärung hatte Carter für sein Verhalten, abgesehen davon, dass er ein unverbesserlicher Frauenheld war? Jahrelang war sie nur Davids kleine Schwester gewesen. Und hinterher hatte er sie mit der harten Bemerkung abgefertigt: „Hoffentlich glaubst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat.“ Sein neuerliches Interesse an ihr konnte also nur mit der Schwangerschaft zu tun haben. Ein primitiver männlicher Trieb. Das Männchen, das sein Territorium markieren will. „American Express“, sagte Carter. „Wie bitte?“ „Du hast das Feld für die Art der Bezahlung nicht ausgefüllt. Ich übernehme die Kosten. Wie oft muss ich dich daran erinnern, dass es auch mein Kind ist?“ „Und wie oft muss ich dich daran erinnern, dass du bei mir nicht diesen Ton anschlagen sollst?“ Becky seufzte. „Na gut, Name deiner Versicherung. Wenn wir schon versichert sind, können wir es auch ausnutzen.“ „Es gibt keine Versicherung. Ich kann dich in meine Police nur aufnehmen lassen, wenn wir heiraten.“ Aha, er hatte ihr den Heiratsantrag aus Sparsamkeitsgründen gemacht! „Aber selbst wenn wir morgen heiraten sollten, wärst du nicht abgesichert“, fuhr er fort. „Die Schwangerschaft fällt eindeutig unter bereits bestehende Zustände.“ Schön, dann hatte sie eben einen falschen Schluss gezogen. Sie brachte das ausgefüllte Formular der Arzthelferin, griff nach einer Zeitschrift und setzte sich wieder. „Was macht der denn hier?“ fragte Carter plötzlich. Becky entdeckte David und Hannah. Sie standen am Kleiderständer und hängten gerade ihre Jacken auf. „Höchste Zeit, dass ihr Jungs euch ein Küsschen gebt und euch wieder versöhnt“, meinte Hannah und warf Becky einen verschwörerischen Blick zu. „Haltet mir den Irren vom Leib“, verlangte Carter, als David näher kam. „Ich bin nicht für das verantwortlich, was gleich passiert.“ „Von wegen verantwortlich“, erwiderte David. „Wie ich sehe, stellst du dich deiner Verantwortung endlich. Freut mich, dass du hier bist, Carter. Und tut mir Leid wegen des Auges. Ich habe gehört, es war ein tolles Veilchen.“ Zu Beckys Überraschung lächelte Carter. „Die kleine Verfärbung würde ich nicht als Veilchen bezeichnen. Du musst noch an deinem rechten Haken arbeiten, Kumpel, oder soll ich dich Weichei nennen?“ Becky stellte zufrieden fest, dass der Plan funktionierte. Hannah hatte ihren Termin so verlegt, dass sie einander trafen. Doch obwohl Becky sich freute, fragte sie sich, wieso ihr Bruder so schnell einlenkte. Was war denn aus seiner
Bereitschaft geworden, ihre Ehre zu verteidigen? „Ich hätte nie erwartet, dich zu sehen“, sagte er zu Carter. „Ich wusste nicht mal, dass Becky hier sein würde. Dabei brauche ich sonst nur Hannah zu fragen, wenn ich etwas über meine Schwester erfahren will. Becky erzählt mir nie was. Bedeutet das vielleicht, was ich vermute? Wann ist es denn so weit?“ fragte er und strahlte ähnlich wie Carter. Toll, dachte Becky. David nahm an, sie und Carter würden heiraten. Kein Wunder, dass er sich so versöhnungswillig zeigte. Carter wollte schon etwas erwidern, aber sie warf ihm einen warnenden Blick zu. David sollte nicht ausgerechnet in der Arztpraxis merken, dass er sich irrte. Eine Schlägerei im Wartezimmer hätte ihr gerade noch gefehlt. „Keine Sorge, David“, meinte Carter ausweichend. „Becky hat mir auch einige wichtige Einzelheiten verschwiegen.“ „Mazel tov, Becky“, sagte Hannah. „Das ist eine Überraschung. Wieso hast du mir nichts gesagt?“ „Mrs. Roth, wir sind bereit für Sie“, kündigte eine Arzthelferin an. „Das bin ich“, sagte Hannah fröhlich. „Ausnahmsweise muss ich nicht warten.“ „Kommen Sie, Rebecca. Ich muss Ihren Blutdruck messen, bevor Sie zu Dr. Boyd gehen.“ „Offenbar meinen Sie meine Schwägerin“, sagte Hannah zu der Helferin. Die Helferin warf einen Blick auf den Terminkalender und sah dann Becky an. „Sie haben Rebecca Roth auf das Formular geschrieben, aber der Termin ist für Rebecca Steinberg.“ Becky stand auf. „Das bin ich, aber ich nenne mich nicht mehr Steinberg.“ Die Helferin machte einen Vermerk. „Gut für Sie. Viele Frauen behalten den Mädchennamen nach der Hochzeit bei. Das ist verwirrend für die Kinder, finden Sie nicht auch? Kommen Sie, Mrs. Roth. Und Sie auch, Mr. Roth“, forderte sie Carter lächelnd auf. „Wie wunderbar für Ihre Mutter. Zwei Söhne werden gleichzeitig Vater.“ Becky wollte die Helferin gerade aufklären, als Carter ihr zuflüsterte: „Wunderbar? Meine Mutter ist außer sich.“ Becky und Carter folgten der Helferin in den Vorraum des Untersuchungszimmers. „Du hast es deiner Mutter gesagt?“ fragte Becky ungläubig. „Warum?“ „Weil sie Großmutter wird und ein Recht hat, es zu erfahren.“ Daran hatte sie gar nicht gedacht. Nach Blutdruckmessen und Wiegen schickte die Helferin Becky in den Untersuchungsraum, in dem sie auf die Ärztin warten sollte. „Sie können mit ihr gehen, Mr. Roth, Ihre Frau will Sie bestimmt bei sich haben.“ „Nein, danke“, erwiderte Becky. „Er kann hier draußen warten, bis die Ärztin fertig ist. Übrigens ist sein Name Prescott.“ „Prescott“, wiederholte die Schwester. „Das ist ein schöner Name. Wenn es ein Junge wird, sollten Sie ihn vielleicht nach seinem Vater nennen.“ „Nein, Prescott ist sein Familienname, nicht sein Vorname.“ Zuerst war die Frau verwirrt, aber dann lächelte sie. „Verstehe. Mr. Roth ist der Mann im Wartezimmer. Da Mr. Prescott nicht sein Bruder ist, müssen Sie Mr. Roths Schwester sein. Und dann ist Roth Ihr Mädchenname“, fügte sie vorwurfsvoll hinzu und runzelte die Stirn. „Aber wer ist dann Steinberg?“ „Ihr Ehemann“, erklärte Carter, ohne eine Miene zu verziehen. „Exehemann“, stellte Becky klar. „Meine Mutter hat den Termin unter seinem Namen gemacht.“ Dann flüsterte sie Carter zu: „Benimm dich.“ „Ihre Mutter hat den Termin gemacht? Na, geht mich nichts an. Wollen Sie Ihren
Mann wirklich nicht bei der Untersuchung dabei haben?“ „Er ist nicht mein Mann.“ Die Helferin schüttelte den Kopf. „Wie gesagt, nicht meine Sache.“ Sie machte noch einige Notizen und ging hinaus. „Für wen hält sich diese Person eigentlich?“ fragte Becky. Carter lächelte amüsiert. „Sie hat sich benommen, als würde sie zu deiner Familie gehören.“ „Bitte, Carter, kein Scherze“, flehte Becky. „Für die Ultraschalluntersuchung brauche ich eine volle Blase.“ „Normalerweise setze ich diese Untersuchung erst an, wenn ich die Schwangerschaft bestätigt habe. Nach allem, was Sie mir erzählt haben, gehe ich jedoch davon aus, dass eine Schwangerschaft besteht.“ Die Ärztin lachte. „Soll ich nicht Ihren Freund hereinholen, damit auch er das Baby sehen kann?“ Becky war für die taktvolle Ausdrucksweise dankbar. Dr. Patricia Boyd wirkte warmherzig, einfühlsam und kompetent. Außerdem war sie Mitte dreißig und entsprach überhaupt nicht dem Bild, das Becky sich von ihr gemacht hatte. „Ja gut, er kann hereinkommen“, stimmte Becky zu, obwohl sie Bedenken hatte. Dr. Boyd deckte Beckys Unterleib mit einem Laken zu und zog das Untersuchungshemd höher. Dann verteilte sie kühles Gel auf der Haut, öffnete die Tür und rief Carter herein. Becky atmete tief durch und versuchte, sich zu entspannen, als das Bild des Babys auf dem Schirm erschien. „Sieht gut aus“, stellte die Ärztin fest und ließ den Schallkopf langsam über Beckys Bauch gleiten. „Da ist das Herz. Sehen Sie es schlagen?“ Becky stockte der Atem. Zum ersten Mal fühlte sie sich als Mutter. Ihr Baby besaß eine Gestalt. Ihr Baby war plötzlich real! „Diese Bewegung“, bemerkte Carter aufgeregt. „Strampelt das Baby? Das ist doch nicht möglich. Er ist noch keine vier Monate!“ Dr. Boyd lachte. „Er hat Füße mit Zehen und Hände mit Daumen. Praktisch ist alles schon vorhanden. Er ist eben noch winzig.“ „Sie sagen er. Ist es ein Junge?“ „Wir sagen immer er. Sollte ich lieber sie sagen?“ „Können Sie das Geschlecht feststellen?“ fragte Carter. „Es ist noch zu früh, um sicher zu sein, aber ich könnte eine ziemlich genaue Vermutung anstellen. Wollen Sie es wirklich wissen?“ „Ja“, antwortete er. „Nein“, erwiderte Becky. „Unlängst hast du das Gegenteil gesagt“, hielt Carter ihr vor. „Ich habe es mir anders überlegt und lasse mich überraschen.“ „Becky, noch mehr Überraschungen überstehe ich nicht.“ Wieder betrachtete er den Bildschirm. „Das ist ein Junge“, behauptete er. „Dr. Boyd, Sie müssen… etwas gesehen haben, sonst hätten Sie uns keine Prognose angeboten. Hätten Sie nichts gesehen, ließe sich das Geschlecht nicht erraten. Habe ich Recht?“ Die Ärztin stellte das Gerät ab. „Tut mir Leid, darauf falle ich nicht herein. Ich verrate das Geschlecht nur, wenn Becky es erlaubt.“ Sie drückte auf einen Knopf, und eine Schublade mit einer Videokassette öffnete sich. „Das ist für Sie. Carter, warten Sie bitte draußen, während ich Becky untersuche. Danach möchte ich mit Ihnen beiden in meinem Büro sprechen.“ Nach einer kurzen Untersuchung bestätigte Dr. Boyd, dass alles bestens war. Trotzdem war Becky beunruhigt, als die Ärztin sie allein ließ, damit sie sich anzog. Carter wartete schon im Sprechzimmer auf sie. Becky setzte sich neben ihn.
„Also, dem Baby geht es gut“, begann Dr. Boyd. „Gute Größe, gutes Gewicht, alles an der richtigen Stelle. Becky, das Kind kommt voraussichtlich in der letzten Maiwoche auf die Welt. Haben Sie noch Fragen?“ „Ich“, sagte Carter. „Wie lange können Becky und ich Sex haben?“ „Bis Sie müde werden“, erwiderte Dr. Boyd gelassen. Becky warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Sie müssen meinen Freund entschuldigen. Er ist offenbar verrückt. Hoffentlich ist das nicht erblich.“ Carter lächelte flüchtig. „Tut mir Leid, ich werde verrückt, wenn ich aufgeregt bin, und das bin ich. Ich bin noch nie Vater geworden.“ „Ihre Reaktion ist völlig normal, Carter“, meinte Dr. Boyd lächelnd. „Durch Scherze baut man Spannung ab. Außerdem kann man mich nicht leicht schockieren. Sie würden staunen, wenn Sie wüssten, was ich manchmal so gefragt werde.“ Sie wurde ernst. „Wir müssen leider über etwas Wichtiges sprechen.“ Becky wurde flau im Magen. „Ich wusste, dass etwas nicht stimmt!“ „Es ist diese idiotische Diät“, behauptete Carter. „Sie isst nur Gemüse. Dr. Boyd, sagen Sie ihr, dass sie anständig essen muss. Auf mich hört sie nicht.“ „Ich esse nicht nur Gemüse“, erwiderte Becky. „Manche Vegetarier essen gar keine tierischen Produkte, ich dagegen esse Eier und Milchprodukte. Sie enthalten Kalzium und Proteine.“ Dr. Boyd nickte. „Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich verschreibe Ihnen für die Schwangerschaft ohnehin zusätzlich Mineralien und Vitamine. Im Moment bereitet mir allerdings Ihr Blutdruck Sorgen. Er ist ziemlich hoch. Kein Grund zur Aufregung, doch das möchte ich im Auge behalten. Sie haben erwähnt, dass Bluthochdruck bei Ihnen in der Familie liegt.“ „Ja, meine Mutter hat ihn“, bestätigte Becky. „Es ist nicht ernst, und sie nimmt keine Medikamente. Sie ist nur leicht erregbar. Was hat das mit mir zu tun?“ „Wegen dieser Veranlagung und weil es Ihre erste Schwangerschaft ist, gilt für Sie erhöhtes Risiko einer Gestose.“ „Schwangerschaftsbedingte Hypertonie“, sagte Becky leise. „Ich hätte gleich daran denken sollen. Mein Exmann ist Arzt.“ „Ich bin kein Arzt“, warf Carter aufgeregt ein. „Kann mir das jemand erklären?“ „Bei einer Gestose kommt es zu einer Mangeldurchblutung des Mutterkuchens“, erläuterte Dr. Boyd. „Manchmal nur leicht, manchmal schwer, aber man bekommt es in den Griff. Bisher gibt es dafür keine Anzeichen, doch die treten meistens auch erst im weiteren Verlauf der Schwangerschaft auf.“ Die Ärztin lächelte beruhigend. „Bestimmt wird nichts passieren, aber es schadet nicht, vorsichtig zu sein.“ „Wie kann ich vorbeugen?“ fragte Becky besorgt. „Dafür gibt es keine Methode. Wenn wir die Veränderung jedoch rechtzeitig feststellen, können wir sie kontrollieren. Sie müssen wöchentlich zur Untersuchung kommen, damit wir den Blutdruck messen und den Urin auf Eiweiß untersuchen. Machen Sie sich aber keine Gedanken. Sie sollen nicht unter Stress stehen, sondern nur vorsichtig sein.“ Trotz der Ermahnung der Ärztin bekam Becky schreckliche Angst. Seit sie das Kind auf dem Monitor gesehen hatte, betrachtete sie es als fertigen Menschen, obwohl es noch so klein war. Und sie verspürte eine Bindung wie nie zuvor an ein anderes menschliches Wesen. Sie durfte es nicht verlieren. Eine Hand drückte ihre. Sie drehte den Kopf, sah Carter in die Augen und erkannte, dass er genauso viel Angst hatte wie sie.
6. KAPITEL „Das verändert alles.“ Becky und Carter saßen im Cafe St. Gabriel an einem Tisch beim Kamin. Das beliebte Restaurant mit den Holzbalken an der Decke und den farbenfrohen Tischtüchern war sehr gemütlich. In einer Ecke stand eine geschmückte Tanne mit einem Engel auf der Spitze. Kerzen flackerten auf den Tischen. „Wieso ändert sich alles?“ fragte Becky. „Ich will dich zu allen Arztterminen begleiten.“ Er deutete auf ihren Teller. „Mehr isst du nicht?“ Er hatte gebackenen Lachs mit Sauce bearnaise bestellt. „Das nenne ich essen“, behauptete er und schob sich einen ordentlichen Bissen in den Mund. „Ich habe keinen großen Hunger.“ Sie stocherte in ihrem Salat herum. „Das und der Orangensaft reichen mir. Ich weiß gar nicht, warum du mich hierher gebracht hast. Ich hätte uns bei Starr etwas machen können.“ „Ich verstehe ja, dass du dich über die Warnung der Ärztin aufregst, aber du musst an das Kind denken und anständig essen. Sogar die Superköchin der Frühstückspension hat Freizeit verdient. Übrigens, ich will dich zu allen Arztterminen begleiten.“ Becky griff nach dem Glas und betrachtete Carter. Er hatte sich im Laufe der Jahre verändert und war ein attraktiver Mann geworden. Schon immer war er freundlich und lustig gewesen, das hatte sie zu ihm hingezogen, obwohl er dickköpfig war, und daran hatte sich nichts geändert. Nach dem Tod seines Vaters war er aufbrausend gewesen, als wäre er auf die ganze Welt zornig. Dieses Verhalten hatte sich eindeutig geändert, doch da war noch etwas, was sie nicht richtig benennen konnte. Jedenfalls war er aufmerksam. Er hatte ihr den Computer geschenkt und führte sie jetzt zum Essen aus. „Hannah kann mich begleiten“, wehrte sie ab. „Starr macht das bestimmt auch, wenn ich sie bitte, und notfalls bleibt noch meine Mutter.“ „Nein, ich begleite dich. Wenn es ein Problem gibt, will ich das sofort erfahren. Hier geht es um mein Kind.“ „Du vergisst allerdings eine wichtige Kleinigkeit. Wie willst du mich denn in die Praxis bringen? Kommst du im Privatjet aus Colorado?“ „Du weißt über den Auftrag in Denver Bescheid?“ fragte er überrascht. „Natürlich. Du erzählst alles David, er erzählt es Hannah, und sie erzählt es mir.“ Becky musste über sein unglückliches Gesicht lachen. „Keine Angst, du hast schließlich keine dunklen Geheimnisse, oder doch?“ „Im Ernst, Becky“, er legte das Besteck aus der Hand, „ich werde Denver verschieben.“ Das hatte sie befürchtet. „Nein, du kannst dich deiner Verantwortung nicht entziehen.“ „Du und das Kind, ihr seid meine Verantwortung“, widersprach er. „Ich komme klar“, versicherte sie. „Die Welt wird nicht untergehen, während du fort bist. Und sollte etwas sein, kannst du mit der nächsten Maschine zurückfliegen.“ „Dann fliege ich in meinem Privatjet her“, scherzte er, doch sie sah ihm an, dass ihm gar nicht nach Scherzen zu Mute war. „Nach diesem Auftrag habe ich nicht die Absicht, bis zur Geburt des Kindes wegzugehen.“ „Ich sagte doch soeben, dass ich klarkomme.“ Sie nahm einen Schluck Saft. „Erzähl mir mehr über Denver. Wie lange wirst du dort sein? Eine Woche?“ „Fünf Wochen, wenn alles nach Plan läuft.“
„Fünf Wochen. Das hat Hannah nicht erwähnt.“ „Was ist, Prinzessin?“ fragte er. „Fühlst du dich schon jetzt einsam?“ „Das träumst du nur“, behauptete sie, obwohl er ihr fehlen würde. Sie dachte an das Bild ihres Babys bei der Untersuchung. Carter war so beeindruckt gewesen wie sie. Und im Sprechzimmer hatte er die gleiche Sorge gezeigt wie sie. Becky war ihm dankbar dafür. Dankbar? Nein, es war mehr. Einen Moment lang hatte sich das Band zwischen ihr und dem Kind auch auf den Vater übertragen. „Wenn du fünf Wochen fort bist, sind das fünf Arztbesuche“, überlegte sie laut. „Also kannst du mich nicht immer begleiten.“ Er seufzte, doch gleich darauf meinte er tief bewegt: „Erstaunlich. Wir haben heute unseren Sohn gesehen, die Hände und Füße und sogar die Zehen.“ Über den Tisch hinweg griff er nach ihren Händen. „Becky, ich möchte, dass du mich heiratest. Das wäre genau das Richtige.“ Sie zog die Hände wieder weg. „Darüber haben wir schon gesprochen. Keiner von uns will eine Ehe, und das Kind ändert nichts daran.“ „Das Kind ändert alles. Ich möchte, dass wir eine Familie werden.“ „Du wolltest nie Kinder“, stellte sie fest. „Warum jetzt?“ „Wie kommst du darauf, ich hätte mir keine Kinder gewünscht?“ „Du warst vier Jahre verheiratet, und darum habe ich angenommen…“ „Falsch.“ Sein Gesicht wurde zur Maske. „Wendy wurde sogar kurz vor der Trennung schwanger.“ „Was ist denn geschehen?“ fragte sie zögernd. „Nun, was denkst du? Siehst du vielleicht irgendwo ein Kind?“ Der Gedanke einer Fehlgeburt machte sie traurig. „Tut mir Leid, ich hatte keine Ahnung.“ Dieses Ereignis also hatte Carter verändert. Wie hätte sie das ahnen sollen? Das erklärte auch, warum er jetzt unbedingt Vater werden wollte. „Es ist lange her“, meinte er. „Aber wir sind vom Thema abgekommen. Warum sollten wir nicht heiraten?“ „Was ist mit deinen Reisen? Was ist mit Neuseeland? Du wirst zwei Jahre fort sein. Was sollte das für eine Ehe sein?“ „Ich habe dir schon gesagt, dass ich nicht mehr so viel reisen werde, sobald ich Partner in der Firma bin. Nach Neuseeland kannst du mit dem Kind mitkommen. Dann sind wir eine Familie.“ „Was soll ich denn in Neuseeland? Mein Leben findet in den Staaten statt.“ „Welches Leben?“ fragte er ernst. „Dein Beruf? Dein Ehemann?“ Eben noch hatte er ihr Leid getan, und jetzt kam er ihr so. „Ich habe bereits eine Familie und brauche keine andere. Ja, es geht um meinen Beruf“, bestätigte sie. „Ich möchte einen Partyservice gründen, sobald das Kind auf der Welt ist. Und dann ist da noch das Kochbuch. Ich habe Hunderte von Rezepten.“ „Freut mich. Aber du solltest nicht denken, dass du davon leben kannst. Und was den Partyservice angeht, wolltest du doch nach New York ziehen. Die Stadt ist teuer. Man braucht Geld, um dort ein Geschäft zu gründen.“ „Das hört sich an, als wolltest du, dass ich scheitere.“ „Es geht nicht um Erfolg oder Misserfolg“, widersprach er, „sondern um uns als Familie. Ich will mich um dich kümmern. Was ist daran falsch?“ „Du verstehst es noch immer nicht. Ich möchte nicht, dass sich jemand um mich kümmert. Es ist mein Leben, und es ist mein Kind.“ „Er ist auch mein Kind.“ Darauf lief es stets hinaus. „Ist es für dich wichtig, dass es ein Junge ist?“ „Was ist mit dir? Du hast deutlich gesagt, dass du dir ein Mädchen wünschst.“ „Nein, ich habe gesagt, ich glaube, es wird ein Mädchen. Das ist ein Unterschied.
Ich habe eine Vorahnung, aber du bist regelrecht besessen.“ Er lächelte leicht. „Es ist nur natürlich, dass ein Mann sich einen Nachfolger wünscht, der seinen Namen trägt.“ Einen Nachfolger, als wäre Carter ein König! Albern. Doch dann traf sie die Erkenntnis: Carter litt insgeheim. „War es ein Junge?“ fragte sie behutsam. „Wer?“ „Das Kind, das du verloren hast.“ Er senkte den Blick. „Ich weiß es nicht. Es war noch zu früh, um das festzustellen.“ „Erzähl mir mehr über Denver“, bat sie und wechselte das Thema. „Wann fliegst du denn hin?“ „Gleich nach Neujahr.“ „Wenigstens bist du zu den Feiertagen hier“, fuhr sie gezwungen fröhlich fort. „Du kommst doch zu Starrs Weihnachtsfeier am Sonntag vor Weihnachten, oder? Sogar David und Hannah werden da sein.“ „Weihnachten?“ fragte er amüsiert. „Willst du konvertieren?“ „Natürlich nicht. Du kannst von einer Party sprechen, wenn du willst. Ich mache alles. Zum Beispiel werde ich gebratene Kartoffelpfannkuchen servieren.“ „Du meinst Latkes. Ich kenne sie, weil ich praktisch in eurem Haus aufgewachsen bin.“ Der Kellner brachte die Rechnung, und Carter gab ihm seine Kreditkarte. „Du solltest dich nicht anstrengen.“ „Kochen fällt mir leicht.“ „Wie viele Leute erwartet ihr denn?“ fragte er zweifelnd. „Nur die Gäste und einige Freunde“, antwortete sie ausweichend. Er nickte. „Ich helfe dir. Du darfst dich nicht überanstrengen. Wann beginnt diese Gala?“ Jetzt beschützte er sie schon wieder. „Es fängt um sechs an.“ Der Kellner kam mit der Kreditkarte zurück. Carter unterschrieb die Rechnung, ging um den Tisch herum und legte die Hand an die Lehne von Beckys Stuhl. „Ich kann allein aufstehen“, erklärte sie gereizt. „Auch wenn du das glaubst, Prinzessin, ich will dein Leben nicht bestimmen. Diese Ehre nehmen schon genug Leute in deiner Umgebung für sich in Anspruch. Aber nur weil du mich nicht heiraten willst, heißt das nicht, dass ich mich nicht um dich kümmern darf. Und noch etwas.“ Er führte sie am Arm zur Garderobe. „Du hast mich abgewiesen, doch ich gebe nicht auf. Mich vertreibst nicht mal du so leicht.“ „Wahrscheinlich sollte ich Mazel tov wünschen“, sagte Gertie, „aber das ist wohl doch nicht angebracht.“ „Wovon redest du?“ fragte Becky und drückte den Hörer mit der Schulter ans Ohr, während sie den Teig in der Schüssel rührte. Sie probierte gerade ein neues Rezept für einen Ananaskuchen aus. Danach wollte sie Mandelbrot machen. „Ich bin sehr beschäftigt, Ma.“ „Hannah hat gleich nach dem Arzttermin angerufen. Es wäre nett gewesen, es von dir zu hören, aber nein, ich muss es von ihr erfahren. Wer bin ich schon? Nur deine Mutter, also eine Fremde.“ „Ma, reg dich nicht auf. Ich heirate nicht.“ Becky tat noch mehr Mehl an den Teig. „Was meinst du eigentlich mit ,nicht angebracht’?“ „Ich mische mich ja nicht ein, aber ich halte es nicht für richtig, wenn du einen Andersgläubigen heiratest.“ „Willst du, dass ich eine allein erziehende Mutter bin, nur um keinen Nicht-Juden zu heiraten?“ „Ich dachte eigentlich, du könntest Jordan sagen, dass das Kind von ihm ist.“
„Ma! Jordan und ich hatten seit fast einem Jahr keinen Sex mehr!“ „Nicht diese Ausdrücke mir gegenüber, Rebecca. Ich will nichts weiter als etwas Respekt, und dann redest du so daher.“ „Rufst du mich an, um mich aufzuregen?“ „Dich aufzuregen? Ist dir eigentlich klar, was du mir angetan hast? David hat behauptet, dass du heiratest.“ Gertie seufzte tief auf. „Ich habe eine Idee. Lade Jordan doch zum Abendessen ein. Du schminkst dich, machst hübsche Musik, und dann kommt das Baby eben etwas frühzeitig auf die Welt.“ Oje, dachte Becky und starrte in die Rührschüssel, in die sie das Öl für das Mandelbrot gegossen hatte. „Ich muss jetzt auflegen.“ „Gut, wie du meinst, aber ruf deinen Ehemann an.“ Glaubte ihre Mutter vielleicht, Jordan müsste nur die Stimme seiner Exfrau hören, um sich mit ihr zu versöhnen? Becky legte auf und schüttete den Teig weg. Nur ein Wunder hätte diesen Kuchen noch retten können. Und das Gleiche galt für ihre Ehe. Sie dachte an den jungen Mann, der voll von Träumen gewesen war, doch Jordans Bild wurde durch Carter ersetzt. Sie sah ihn vor sich, als er aufgeregt auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts blickte. Wie verstört er über die Warnung der Ärztin gewesen war. Und bei dem Antrag im Restaurant hatte er ganz reizend und auch absolut ernst gewirkt. Er war anständig und fürsorglich, doch das half nichts. Eine Ehe muss auf Vertrauen aufgebaut sein, und Becky glaubte nicht mehr an Versprechungen und ewige Liebe. Märchen gab es nicht. Aus Angst, Becky könnte sich überanstrengen, zeigte Carter sich an den folgenden Abenden in der Pension. Wenn er ihr geholfen hatte, im Speisezimmer das Büfett fürs Frühstück zu decken, setzten sie sich zusammen an den Küchentisch, gingen Rezepte durch und plauderten. Bald merkte Carter, dass er sich daran gewöhnen konnte. Und er stellte fest, dass Becky leider bestens ohne ihn auskam. An diesem Abend war es jedoch anders. Mindestens fünfzig Leute waren zu Starrs Weihnachtsfeier gekommen. „Das nennst du eine kleine Party?“ fragte er nach einem Blick auf die Menschenmenge im Gesellschaftsraum. Becky ging nicht darauf ein. „Danke für deine Hilfe. Wenn du nicht mehr als Architekt arbeiten willst, könntest du glatt in der Küche anfangen.“ „Du warst gestern bestimmt noch lange auf den Beinen. Denk daran, was die Ärztin gesagt hat.“ „Ach was, das sagt Dr. Boyd zu allen Patientinnen. Hier, nimm dir ein paar von den Futari.“ Sie drückte ihm einen Teller in die Hand. „Wir feiern heute gleich alle Festtage, obwohl Kwanzaa offiziell erst einen Tag nach Weihnachten beginnt.“ Er sprach vom Wohlergehen ihres Kindes, und sie redete vom Essen. Carter seufzte und betrachtete misstrauisch die gelbe Mischung. „Was ist Futari, und was ist Kwanzaa?“ „Kwanzaa ist die afrikanisch-amerikanische Feier des Lebens. Und du kostest gerade eine in der Pfanne zubereitete Mischung aus Kürbis, Süßkartoffeln und Kokosmilch. Gut, nicht wahr? Ich habe noch einige geheime Zutaten hinzugefügt.“ „Nicht schlecht“, meinte er, doch das war untertrieben. Sie machte ihn wahnsinnig, aber kochen konnte sie. Und das fanden offenbar auch die anderen Gäste. Die kulinarischen Köstlichkeiten verschwanden jedenfalls zusehends. Er warf einen Blick auf den. Tannenbaum. „Ich dachte, Starr achtet gewissenhaft auf die Umwelt. Das ist ja eine echte Tanne.“ „Echte Weihnachtsbäume sind umweltfreundlicher als künstliche. Sie sind
biologisch abbaubar, und die Baumfarmen geben Sauerstoff ab, der gegen die globale Erwärmung hilft.“ „Gut, gut, keine Vorlesung bitte.“ Doch Carter lächelte, weil ihr leidenschaftliches Engagement ansteckend wirkte. „Ach, da ist Maddie, eine Freundin aus New York!“ rief sie plötzlich. „Reichst du das bitte herum, während ich sie begrüße?“ Sie drückte ihm eine Platte mit Knisches in die Hände. Carter sah ihr nachdenklich hinterher. Das war nicht mehr die Becky von früher. Täglich entdeckte er neue Seiten an ihr. Eine Frau und ein Mann unterhielten sich mit ihr und scherzten offenbar. Ein kleines Mädchen zupfte an ihrem Rock, und Becky hob sie hoch. Carter bekam Herzklopfen, ohne den Grund dafür zu begreifen. Ein Stück weiter standen Hannah und David. Sie lachte, er legte den Arm um sie und gab ihr einen Kuss. Das Herzklopfen wurde von Einsamkeit abgelöst. Hannah winkte Carter zu sich. „Hallo“, begrüßte sie ihn und umarmte ihn herzlich. „Wo hast du dich versteckt?“ Dann merkte sie, dass David ein finsteres Gesicht machte. „Oh nein, nicht schon wieder! Was ist bloß mit euch beiden los?“ „Du hast mich nicht zurückgerufen“, sagte Carter zu David. „Was ist los, Roth?“ „Was los ist?“ herrschte David ihn an. „Spiel nicht den Unschuldigen, Pres. Du weißt verdammt gut, was los ist. Ich mag dir als Freund gut genug sein, aber meine Schwester ist dir offenbar nicht gut genug zum Heiraten.“ „Irrtum“, entgegnete Carter. „Ich bin nicht gut genug für sie.“ Er sah zu Becky, und ihre Blicke trafen sich. Becky drückte der Frau das Kind in die Arme und kam lächelnd zu ihnen. „Dein Freund ist ein toller Koch“, sagte sie zu David. „Er hat mir geholfen. Die Bliny, von denen du so geschwärmt hast, hat er gemacht. Ohne ihn wäre ich verloren gewesen.“ „Kaum“, widersprach Carter. „Du hattest alles unter Kontrolle.“ „Bist du blind?“ fragte David scharf. „Schau dich um, Pres! Schau dir diese Irren an. Mit solchen Leuten hat sie zu tun. Du lässt zu, dass dein Kind in diese Umgebung hineingeboren wird?“ „Becky kann sich ihre Umgebung selbst aussuchen“, entgegnete Carter ungeduldig. „Sie ist eine erwachsene Frau. Weißt du schon, dass sie einen Partyservice eröffnen will? Und dass sie ein Kochbuch schreibt?“ Becky blieb der Mund offen stehen, und Carter hätte beinahe laut gelacht, weil sie über seine Unterstützung dermaßen überrascht war. „Becky als Geschäftsfrau?“ fragte David geringschätzig. „Sie kann nicht mal für sich selbst sorgen. Soll das heißen, dass du ihr erlaubst zu arbeiten, sobald das Kind da ist?“ Hannah starrte ihren Mann an, als würde sie ihn das erste Mal sehen. „Wovon sprichst du? Du weißt, dass ich das Unterrichten nicht aufgeben werde. Nach dem Mutterschaftsurlaub arbeite ich wieder. Und was heißt hier überhaupt erlauben?“ Carter wollte in keinen Ehestreit hineingezogen werden, konnte aber auch nicht schweigen, wenn David Becky herabsetzte. „Deine Schwester ist eine tolle Köchin, und diese so genannten Irren sind die interessantesten Leute, mit denen ich mich seit langer Zeit unterhalten habe. Siehst du die Frau mit dem lila Haar? Das ist eine Bestsellerautorin. Und der Mann mit dem Nasenring ist Hubschraubertechniker. Es ist höchste Zeit, dass du keine voreiligen Schlüsse mehr ziehst, Roth.“ „Und ich glaube, es ist höchste Zeit, dass ich von hier verschwinde.“ David
stürmte zornig aus dem Raum und ließ seinen verärgerten Freund, seine verdutzte Schwester und seine genervte Frau zurück. „Manchmal ist er schrecklich“, klagte Hannah. „Entschuldigt mich. Ich glaube, mein erster Ehekrach steht bevor, und ich möchte dabei sein, wenn es losgeht.“ „Sie mag scheu und zurückhaltend wirken“, meinte Becky, nachdem Hannah gegangen war, „aber der Himmel stehe jedem bei, der sie provoziert. Das gilt auch für David. Was sagst du zu ihm?“ „Was für eine Chuzpe“, erwiderte Carter. Becky lachte und sah ihn mit leuchtenden Augen an. „Was ist?“ fragte er verwirrt. „Warum siehst du mich so an?“ Sie stellte sich auf die Zehen und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Mit der Weihnachtsmannmütze auf dem Kopf sah sie wirklich entzückend aus. Ihm wurde warm ums Herz. „Was macht eigentlich ein nettes jüdisches Mädchen wie du mit einer solchen Mütze?“ fragte er rau. Am liebsten wäre er der Weihnachtsmann gewesen, damit er sie auf seinen Schoß hätte ziehen können. Er nahm sie am Arm und führte sie durch den Korridor zum Arbeitszimmer. Hinter sich machte er die Tür zu, und dann zog er sie ungeduldig an sich, küsste sie, fuhr mit den Fingern durch ihr Haar, streichelte ihren Rücken und hielt sie fest. Sie hatten sich schon mal geküsst – ja, und noch mehr –, dennoch war dieser Moment unvergleichlich. Becky stöhnte leise auf und presste sich voll Verlangen an ihn. Carter hätte beinahe die Beherrschung verloren, so gut duftete sie, so herrlich war ihr Kuss, und so fantastisch schmiegte sie sich an ihn. Drei Monate, dachte er. Drei Monate hatte er allein in einem Hotelzimmer schlaflose Nächte verbracht und nicht gewusst, wieso er Becky nicht vergessen konnte. Jetzt wusste er es. „Heirate mich“, flüsterte er. Sie erstarrte auf der Stelle und zog sich zurück. „Wir sollten wieder zu den anderen gehen.“ Das war nicht die erste Abfuhr von ihr, doch jetzt lag Angst in ihrem Blick. Und diese Angst hatte er mit dem Kuss entfesselt. Er erinnerte sich an die Nacht, in der das Kind gezeugt worden war. Nachdem sie sich geliebt hatten, war Becky weggelaufen. Sie schien ständig vor jemandem zu fliehen – vor Jordan, vor ihrer Mutter, vor ihm. „Arme Prinzessin“, sagte er leise und streichelte sanft ihre Wange. „Wie lange willst du denn noch weglaufen?“ „Ich bin nicht diejenige, die wegläuft“, erwiderte sie gepresst. „Ich bin nicht diejenige, die es nicht an einem Ort aushält.“ „Das liegt an meinem Beruf“, widersprach er behutsam. „Du weißt das. Außerdem werde ich nur einige Wochen fort sein.“ Die Angst in ihren Augen wurde zu Zorn. „Seltsam, dass ein Mann sich alles erlauben kann, wenn es um seine Arbeit geht. Es ist in Ordnung, dass der Beruf für ihn an erster Stelle steht. Ruft aber eine Frau zu Hause an, weil sie länger arbeiten muss, beklagt er sich, weil sie sich nicht um die Wäsche kümmert. Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich will mein eigenes Leben führen.“ „Ja, wie oft?“ entgegnete er seufzend. „Es ist fast, als wolltest du dich selbst überzeugen. Wieso begreifst du nicht, dass ich nicht dein Leben bestimmen möchte? Ich will nur für dich da sein. Ich will, dass wir eine Familie sind.“ „Du willst keine Familie“, entgegnete sie heftig. „Du hast eine Idealvorstellung vom perfekten Leben: eine pflichtbewusste kleine Ehefrau, ein Sohn, der deinen Namen führt, vielleicht später eine Tochter, die du verwöhnen kannst. Ich verrate
dir was, Carter. Nichts ist perfekt, und man kann auf einem One-Night-Stand keine Familie aufbauen. Geh, Carter! Zu diesem Kuss hätte es nicht kommen dürfen. Zwischen uns hätte es nie zu etwas kommen dürfen.“ „Ich verschwinde ohnedies bald“, bemerkte er resigniert. „Ich fliege nach Denver, mit der ersten Maschine, die ich kriegen kann.“ Sie wich seinem Blick aus. „Du wolltest nach Neujahr abreisen.“ „Ich habe es mir anders überlegt. Der Zeitpunkt ist gut für einen Urlaub. Ich könnte Skilaufen fahren.“ „Und was ist mit Weihnachten? Das ist ein Familienfest, sogar für eine Familie wie deine“, fügte sie trocken hinzu. Was denn für eine Familie? Sein Vater war vor Jahren gestorben, seine Mutter unternahm eine Kreuzfahrt, und was Becky anging, wollte er nicht ständig an das erinnert werden, was er nicht haben konnte. „Ich bin nicht in der richtigen Stimmung zum Feiern.“ Er legte ihr die Hand unters Kinn. „Prinzessin, ich bewundere dich. Nach Jordan bist du nicht in Selbstmitleid versunken, sondern hast dir ein eigenes Leben aufgebaut. Du wirst bestimmt eine große Köchin, und dein Buch wird ein Erfolg. Pass gut auf dich auf.“ Er verließ den Raum und ging zum Schrank im Korridor, holte seine Jacke heraus und drehte sich um. „Denk daran, dass du meinen Sohn erwartest. Du kannst alles, was du brauchst, über meine Kreditkarte abrechnen.“ Er wandte sich ab, und dieses Mal drehte er sich nicht wieder um.
7. KAPITEL Seit einer Stunde versuchte Becky, Starr beizubringen, wie die Buchhaltung am Computer funktionierte. „Das ist keine Art, einen Sonntagnachmittag zu verbringen“, klagte Starr. „Ich sollte zum alten System zurückkehren.“ „Und wie sieht das aus?“ fragte Becky. „Sie werfen alle Unterlagen in eine Schublade und hoffen, dass die richtigen Zahlen herauskommen? Dabei ist es so einfach.“ „Machen Sie es doch, wenn es einfach ist. Und da Sie sich mit dem Computer auskennen, ernenne ich Sie hiermit zur Königin meiner Buchhaltung.“ „Meinetwegen, aber Sie müssen trotzdem Bescheid wissen. Was machen Sie denn, wenn ich weggehe?“ „Daran dürfen Sie nicht mal denken“, wehrte Starr entsetzt ab. „Ich weiß, dass Sie sich irgendwann selbstständig machen wollen, aber ich kann mir dieses Haus ohne Sie nicht mehr vorstellen. Ist Ihnen klar, dass sich mein Gewinn mehr als verdoppelt hat, seit Sie bei mir sind? Jetzt können wir samstags auch Gäste von auswärts bewirten.“ „Sklaventreiberin“, schimpfte Becky scherzhaft, freute sich jedoch über den Erfolg. „Ich habe Sie gewarnt“, protestierte Starr. „Und ich möchte eine Helferin für Sie einstellen.“ Eine Helferin! Becky hatte stets für andere gearbeitet. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass jemand für sie arbeitete. „Ich finde es gut, dass Sie expandieren, aber ich brauche keine Hilfe“, wehrte sie ab. „Ich kann es mir jetzt leisten, und Sie bekommen mehr Geld.“ Starr machte ein übertrieben strenges Gesicht. „Natürlich müssen Sie sich das alles erarbeiten.“ „Und deshalb soll ich die Buchhaltung übernehmen“, stellte Becky lachend fest. „Gut, aber Sie werden das auch noch lernen, weil Sie den Überblick behalten müssen.“ Sie wechselte vom Buchhaltungsprogramm ins Internet. „Zeit zum Entspannen. Hier, Computer-Horoskope. Mal sehen, was das Baby erwartet. Die Kleine kommt in der letzten Maiwoche auf die Welt. Also Zwilling wie ich.“ Starr schüttelte den Kopf. „Das klappt nicht. Für eine richtige Vorhersage brauchen wir den genauen Zeitpunkt der Geburt. Stellen Sie das Ding ab. Wir versuchen es mit Teeblättern.“ Becky folgte Starr in die Küche und setzte sich an den Tisch. Erstaunlich, wie sehr sie sich hier bereits zu Hause fühlte. Sollte sie irgendwann fortgehen, würde ihr das alles fehlen – sogar die Puppen-Starr stellte den Teekessel auf den Tisch, setzte sich neben Becky und füllte zwei Tassen. „Er hat heute Vormittag wieder angerufen“, berichtete sie übergangslos. „Wollen Sie wirklich nicht mit ihm sprechen? Mir fallen keine Ausreden mehr ein. Sie baden dermaßen oft, dass er Sie für eine Sauberkeitsfanatikerin halten muss.“ „Was gibt es denn zu sagen?“ erwiderte Becky. „Ich habe meinen Standpunkt klar dargelegt. Ich will nicht heiraten. Er weiß, dass ich unabhängig bleiben möchte.“ „Sagen Sie das oft genug, und irgendwann glauben Sie es selbst.“ „Was soll das heißen?“ fragte Becky betroffen. „Es geht weniger um Ihre Unabhängigkeit. Sie haben Angst, verletzt zu werden.“ „Ich kenne meine Gefühle, vielen Dank“, erwiderte Becky gereizt. „Jede Frau an meiner Stelle hätte Angst davor, verletzt zu werden. Haben Sie vergessen, dass mein Ehemann mich verlassen hat? Ich habe keine Bindungsangst, sondern muss
mich einfach bewähren. Stets haben mir andere gesagt, was mich glücklich macht. Es ist höchste Zeit, dass ich es selbst herausfinde.“ Sie stockte, weil Starr nur als Freundin zu ihr gesprochen hatte. „Tut mir Leid, ich wollte Sie nicht anfauchen. Es macht mich einfach verrückt, wenn mir jemand sagt, was ich tun soll.“ Starr winkte ab. „Fauchen Sie ruhig, wenn es hilft. Wozu hat man Freunde? Ich sage Ihnen nicht, was Sie tun sollen, Becky. Aber ich sage Ihnen, was ich denke. Selbst auf die Gefahr hin, dass Sie mir den Kopf abbeißen, finde ich, Sie sollten alle Optionen in Betracht ziehen.“ „Zuerst reden Sie wie eine Psychiaterin und jetzt wie eine Börsenmaklerin. Na gut, worauf läuft es hinaus?“ „Sie sind gerade dabei, sich nach der zerbrochenen Ehe neu aufzubauen. Im Moment sind Sie noch auf der Suche nach Antworten. Darum sollten Sie Carter nicht völlig ausschließen. Vielleicht ist er ja der Richtige.“ „Die Mystikerin ist obendrein noch eine hoffnungslose Romantikerin“, stellte Becky amüsiert fest. „Sagen Sie bloß, Sie glauben an die große Liebe für jeden von uns! Es gibt keine Prinzen auf edlen Rössern. Eins aber stimmt. Ich bin noch auf der Suche, allerdings nicht nach einem Prinzen, sondern nach mir selbst, und ich will keinen Fehler mehr begehen.“ „War Ihre Ehe wirklich ein Fehler?“ fragte Starr. „Ich habe den Eindruck, dass Sie die Person mögen, zu der Sie jetzt werden. Ohne die Ehe mit Jordan wären Sie heute wahrscheinlich nicht dieser Mensch.“ Becky wollte schon erklären, dass sie mit dem Fehler die Nacht nach Davids Hochzeit gemeint hatte, als sie zusammenzuckte, da sie eine ruckartige Bewegung in ihrem Bauch spürte. „Alles in Ordnung?“ fragte Starr erschrocken. „Sie hat mich getreten! Es ist noch sehr früh, aber ich habe es gespürt. Sie hat wirklich getreten.“ „Dafür ist es nicht zu früh. Sie mag klein sein, aber sie ist da. Manche Menschen glauben, der Geist würde erst bei der Geburt in den Körper eintreten, doch ich bin überzeugt, dass das schon bei der Empfängnis geschieht.“ Starr sah Becky mit ihren grünen Augen eindringlich an. „Ich glaube außerdem daran, dass es im Leben keine falschen Wege gibt, sondern alles aus einem bestimmten Grund geschieht.“ Als das Kind erneut zutrat, wusste Becky, dass sie jene Nacht nie wieder als Fehler betrachten würde. In jener Nacht hatte sie ihre Tochter empfangen. „Fertig mit dem Tee?“ fragte Starr. „Dann wollen wir mal sehen, was uns die Blätter sagen.“ Becky ließ ihre Tasse kreisen und reichte sie Starr. „Aha!“ „Was heißt 'aha’?“ „Alles, was Sie zum Glück brauchen, ist vorhanden. Wie bei einem Puzzle müssen Sie nur die Einzelteile zusammensetzen.“ „Sie glauben, ich sollte Carter heiraten“, stellte Becky fest. „Warum sollte ich so etwas sagen? Dass dieser tolle Kerl so verrückt nach Ihnen ist, dass er nicht geradeausgucken kann, und dass Sie für ihn genauso empfinden und nur zu dumm sind, es zuzugeben, heißt noch lange nicht, Sie sollen ihn heiraten. Nein, ich sage nur, was ich sehe.“ „Vielleicht sind das keine guten Teeblätter“, meinte Becky geringschätzig. „Oder Sie brauchen eine Brille. Was sehen Sie denn noch?“ „Oje.“ „Und was heißt nun ,oje’?“
„Sie haben Recht, die Blätter müssen schlecht sein. Sie sagen, dass das Baby im April auf die Welt kommt.“ Starr stellte die Tasse weg. „Dann wäre die Kleine ein Widder, der geborene Anführer, starrsinnig und mutig, allerdings auch aufbrausend. Das trifft übrigens alles auf Sie zu.“ „Ich bin Zwilling – wirr und unentschlossen.“ „Dann haben Sie den Widder als Aszendenten.“ „Alle halten mich für schwach“, widersprach Becky. „Vergessen Sie nicht, dass Sie als Zwilling zwei Seiten haben.“ Becky stand auf und trug die Tassen zur Spüle. „Gut, dass Sie nicht vom Wahrsagen leben müssen. Meine Tochter kommt in der letzten Maiwoche zur Welt. Hoffentlich hat sie als Aszendenten den Stier. In der Welt von heute muss eine Frau den Stier bei den Hörnern packen.“ Carter war zum Skilaufen nach Breckenridge gefahren, nur zwei Stunden von Denver entfernt. Im Moment erholte er sich nach einem Tag auf der Piste in einem schönen alten Chalet. Kalte Luft blies in die Bar herein, als neue Gäste eintraten. Eine Frau, die ihm gegenübersaß, betrachtete ihn. Er hatte sie schon am Sessellift gesehen. Hautenge silberfarbene Skihose, passende kurze Jacke. Sie kam zu ihm herüber und setzte sich neben ihn. „Sie sind ein echter Cowboy“, stellte sie lächelnd fest. „Ach ja?“ fragte er amüsiert. „Wieso das?“ „Sie fahren Ski, wie ein Rodeostar einen Bullen reitet. Ich würde sagen, Sie haben ein Problem.“ „Von dem Sie mich heilen wollen.“ Sie strich das lange blonde Haar zurück. „Ich habe keinen Ring gesehen.“ „Dann besitzen Sie den Röntgenblick. Ich habe auf der Piste Handschuhe getragen.“ „Jetzt tragen Sie keine.“ Sie hatte auch keinen Ring, aber ein verräterischer weißer Streifen deutete darauf hin, dass sie vielleicht ebenfalls ein Problem hatte. „Getrennt oder geschieden?“ fragte er. „Getrennt. Man sieht es mir vermutlich deutlich an. Verlassene Frau sucht Rache in Ski-Chalet.“ Sie rückte näher. „Wie lautet Ihre traurige Geschichte? Sie haben eine. Jeder kann eine erzählen.“ Plötzlich fühlte Carter sich müde und hatte keine Lust, sich mit dieser Fremden zu unterhalten. Er erinnerte sich an Davids Schilderung von dem Besuch in einer Bar. Es war nichts geschehen, aber David hatte damals überlegt, ob er Hannah betrügen sollte. Carter stand auf. „Ich muss noch heute Abend nach Denver zurück“, behauptete er. „Schon verstanden.“ Die Frau erhob sich. „Falls Sie es sich doch anders überlegen, wissen Sie, wo Sie mich finden.“ Als er wieder in seinem Zimmer war, dachte Carter erneut an David, dessen Freundschaft er nicht verlieren wollte. Er stellte den Laptop auf und schloss ihn an. Natürlich hätte er anrufen können, aber eine E-Mail war einfacher. Er überlegte einen Moment und begann zu schreiben. Hey, Weichei! Toll hier in Breckenridge. Am Kinderhang habe ich an Dich gedacht. Carter duschte und sah hinterher nach, ob David geantwortet hatte. Tatsächlich. Erstaunlich, dass Du Dir noch nicht das Genick gebrochen hast. Tut mir Leid, Schwesterchen hat das Missverständnis aufgeklärt. Muss ihr zugestehen, dass sie einen guten Geschmack hat, weil sie einen Typen wie Dich nicht heiraten will.
Übrigens surft sie neuerdings im Internet. Hier ist ihre E-Mail-Adresse. Vielleicht bist Du daran interessiert. Und ob Carter interessiert war, da Becky sich weigerte, mit ihm zu sprechen. Früher hatte er sie zum Lachen gebracht, wenn sie sich wehgetan hatte, damit sie den Schmerz vergaß. Jetzt war sie kein Kind mehr, und es war schwierig, ihr Vertrauen zu gewinnen, doch er musste es mit allen Mitteln versuchen. Als Erstes musste er sie zum Lächeln bringen, damit sie den Schmerz vergaß. Und das war bei einer E-Mail nicht so einfach wie am Telefon. Sobald das Frühstücksgeschirr sauber war, ging Becky ins Büro, um sich mit ihrem Kochbuch zu beschäftigen. „Besuch.“ Starr steckte den Kopf zur Tür herein. „Sie wartet im Wohnzimmer.“ Becky stöhnte. Ihre Mutter machte sie schon am Telefon verrückt, und nun tauchte sie auch noch hier in der Pension auf. „Bubbe!“ rief sie erleichtert, als sie ihre Großmutter auf dem Sofa neben dem Kamin sitzen sah. „Wen hast du denn erwartet?“ Becky lachte. „Wie bist du hergekommen?“ „Mit meinen zwei Beinen, wie sonst? Habe ich vielleicht einen Chauffeur?“ „Dir ist bestimmt kalt. Komm, ich mache uns in der Küche einen Tee.“ „Ich will keinen Tee, sondern ich bin deinetwegen hier.“ „Was ist denn los, Bubbe?“ fragte Becky betroffen. „Warum soll was los sein? Ist es eine Sünde für eine Bubbe, wenn sie ihr Enkelkind sehen will?“ Becky setzte sich zu ihr. „Ich weiß, ich hätte öfter nach Hause kommen sollen, aber Ma macht mich nervös, und die Ärztin hat mich vor Stress gewarnt. Keine Sorge“, fügte sie hastig hinzu. „Es ist alles in Ordnung. Das ist beim Ultraschall festgestellt worden.“ „Ultraschall. Das hat Hannah auch machen lassen. Zu meiner Zeit sind die Frauen nicht mal ins Krankenhaus gegangen. Du bist schließlich nicht krank.“ „Ultraschall ist großartig. Ein Arzt kann damit die Entwicklung des Kindes verfolgen und sogar feststellen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“ „Na und? Soll ich blaue oder rosa Strumpfchen häkeln?“ „Ich habe nicht gefragt, weil ich mich überraschen lasse.“ Becky beugte sich zu ihrer Großmutter. „Bubbe, ist es komisch, dass ich mir ein Mädchen mehr wünsche als einen Jungen? Versteh mich nicht falsch. Ich werde auf jeden Fall glücklich sein, aber…“ Sie verstummte verlegen. Die Großmutter lachte. „Meine Kleine, du kannst dir wünschen, was immer du willst. Sobald du das Würmchen siehst, wirst du alles vergessen. Was wünscht sich denn der Vater?“ „Carter will einen Jungen haben, der seinen Namen weiterführt.“ Bubbe nickte wissend. „Als deine Mutter David erwartet hat, da hat dein Vater jeden Abend gebetet, es möge ein Junge werden, der sein Geschäft übernehmen kann.“ „Warum hat Daddy denn nicht verlangt, dass ich das Geschäft übernehme?“ fragte Becky. „David ist Apotheker und wollte nichts von Teppichen wissen.“ „Ich erzähle dir was. Als David noch ein Kind war, wollte er wie euer Vater sein. Jeden Morgen wollte er seinen Vater zur Arbeit begleiten. Kleine Jungs möchten wie der Vater, kleine Mädchen wie die Mutter sein.“ Becky hatte nie den Wunsch verspürt, wie ihre Mutter zu sein. „Du hast nicht verstanden, worum es mir geht, Bubbe. Daddy hat mich nicht mal gefragt.“ „Soll das heißen, dass du ins Geschäft deines Vaters eintreten willst?“ „Nein, natürlich nicht. Teppiche interessieren mich nicht.“
„Wo ist dann das Problem?“ „Du hast Recht“, räumte Becky ein. „Es gibt kein Problem. Möchtest du nicht doch einen Tee? Zieh den Mantel aus, und bleib eine Weile.“ „Nein, ich wollte mich nur davon überzeugen, dass du nicht krank bist.“ „Tut mir Leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe“, entschuldigte sich Becky. „Nächte Woche besuche ich euch, aber nicht am Freitagabend. Da muss ich arbeiten.“ „Du arbeitest am Sabbat? Na ja, deshalb bin ich nicht hier. Ich wollte dich daran erinnern, dass du eine Familie hast.“ „Mutter behandelt mich wie ein Kind“, wandte Becky ein. „Wenn du mit Gottes Hilfe hundertfünf Jahre alt wirst, kannst du deiner Mutter sagen, dass sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern soll. Bis dahin bleibst du ihr Baby. Das wirst du bald verstehen. Eine Mutter will nur, dass ihre Tochter glücklich ist. Was ist daran falsch?“ „Nichts, Bubbe, aber sie nimmt mir die Luft zum Atmen.“ Die Großmutter sah sie ernst an. „Wenn du auf jemanden zornig sein willst, dann auf mich. Es ist meine Schuld, dass sie so ist. Ich habe sie so erzogen. Keinen Moment habe ich sie aus den Augen gelassen, weil ich immer Angst hatte… solche Angst…“ In ihre Augen trat ein entrückter Ausdruck. „Alle habe ich verloren, alle bis auf meinen Chaim. Sogar meine kleine Judith, die ältere Schwester deiner Mutter, haben sie mir weggenommen. Nach dem Krieg habe ich mir nur eine Familie gewünscht. Chaim wollte einen Jungen, der seinen Namen trägt. Auch er hatte alle verloren.“ Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Nach dem Krieg sind wir nach Amerika gekommen, und ich habe Gertie auf die Welt gebracht. Was war Chaim glücklich! Sie war sein kleines Mädchen, seine Prinzessin. Der Himmel hat uns nicht noch mehr Kinder geschenkt, doch wir waren dankbar, weil wir noch lebten und Gertie hatten. Aber die Angst… diese ständige Angst… sogar in Amerika…“ Bubbe verstummte. Becky drückte sanft die Hände ihrer Großmutter. „Junge oder Mädchen“, sprach Bubbe schließlich weiter, „wichtig ist, dass die Familie weiter besteht. Ich vertraue dir ein Geheimnis an. Dein Vater hat wegen des Geschäfts um einen Jungen gebetet, aber insgeheim hat er sich ein Mädchen gewünscht, eine Prinzessin, die er verwöhnen kann.“ Sie stand auf. „Jetzt gehe ich in die Synagoge. Es ist zwar nicht Samstag, aber in meinem Alter schadet ein kleines zusätzliches Gebet nicht. Du solltest mitkommen. Es ist wichtig, dass man seine Traditionen ehrt.“ „Ich weiß, Bubbe. Irgendwann bald.“ Becky wollte das Versprechen ihrer Großmutter zuliebe halten, doch an Wochenenden war sie zu beschäftigt. Sie brachte Bubbe zur Haustür. „Warte einen Moment. Ich hole Starr, damit sie dich fährt. Draußen ist es kalt.“ „Der Himmel ist klar, und die Straßen sind nicht vereist. Solange ich gesund bin, gehe ich zu Fuß.“ „Aber, Bubbe…“ „Kein Aber. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Ich hatte schon eine Mutter und brauche nicht noch eine.“ Sie küsste Becky auf die Wange. Becky kehrte ins Büro zurück, schaltete den Computer ein und stellte sofort fest, dass sie eine E-Mail hatte. Sie erkannte den Absender, weil Carters Name in der Adresse vorkam. Beinahe hätte sie die Nachricht gelöscht, aber warum sollte sie nicht lesen, was er ihr schrieb?
Sie rief die Nachricht ab und musste lächeln. Offenbar hatte er die Geschichte von dem Schneesturm und der Zuflucht im Stall nicht vergessen. Die Nachricht lautete: Es schneit!
8. KAPITEL „Beeilen Sie sich, Starr! Ich will den Zug nicht versäumen!“ „Komme gleich! Ich suche noch meine Handtasche.“ Becky warf einen Blick nach draußen. Es war ein schöner Tag. Das neue Jahr hatte gut begonnen. Sie hatten schon Februar, und seit den Feiertagen war kein Schneesturm mehr über Connecticut hereingebrochen. Letzte Woche hatte sich der Verlag gemeldet, dem Becky ihr Kochbuch angeboten hatte. Man hatte sie zu einem Geschäftsessen nach New York eingeladen, und sie sollte das fertige Manuskript mitbringen. Noch schöner war, dass Hannah sie am Vortag zur wöchentlichen Untersuchung gefahren hatte. Das Ergebnis war hervorragend ausgefallen. Alles lief perfekt. „Gefunden!“ rief Starr. „Wo sind meine Handschuhe?“ Ich hätte ein Taxi rufen sollen, dachte Becky. „Gehen wir.“ Starr tauchte hinter ihr auf. „Worauf warten Sie noch?“ Becky öffnete die Haustür und erstarrte, aber nicht wegen der kalten Luft. Carter stand mit einem Rosenstrauß vor ihr. „Du kannst offenbar hellsehen“, sagte er, trat ein und schloss hinter sich die Tür. „Woher hast du gewusst, dass ich hier bin?“ Becky bekam kaum Luft. „Ich wusste es nicht. Ich…“ Zum Jahreswechsel hatte sie sich vorgenommen, nie mehr Herzklopfen zu bekommen, wenn es um Carter ging. Der gute Vorsatz löste sich in Luft auf. Sie konnte den Blick nicht von ihm wenden. War er immer so groß gewesen? Hatte er schon immer so breite Schultern gehabt? Diese grauen Augen mit dem unterschwelligen Feuer konnte sie nicht vergessen. „Stell die Blumen ins Wasser“, riet er und wandte den Blick nicht von ihr. „Ich mache das“, entschied Starr. „Die Rosen sind längst verwelkt, bevor sich einer von euch rührt“, fügte sie hinzu und verschwand mit dem Strauß in der Küche. „Danke für die Blumen“, sagte Becky schließlich. „Was machst du hier? Laut deiner letzten E-Mail solltest du erst in zwei Tagen zurückkommen.“ „Die Arbeit war erledigt. Wozu sollte ich bleiben?“ Erst jetzt bemerkte er ihren Mantel. „Gehst du weg?“ „Ich bin zum Essen in New York verabredet. Eine alte Freundin ist bei Calyx Editions Redakteurin und will mein Manuskript sehen.“ „Bist du schon fertig?“ fragte er überrascht. „Ich brauchte nur die Rezepte in den Computer tippen. Jetzt muss ich aber los. Starr bringt mich zum Zug.“ „Zug? Das ist nicht dein Ernst. Du kannst in deinem Zustand doch nicht mit dem Zug fahren. Das ist viel zu gefährlich. Und wie willst du vom Bahnhof zu dem Treffen gelangen?“ „Mit einem Taxi, oder ist das auch zu gefährlich?“ „Ich fahre dich, wenn es unbedingt sein muss.“ „Carter, ich bin nur schwanger.“ „Kein Widerspruch, Becky, ich habe mich entschieden. Ich fahre dich. Bei der Gelegenheit kann ich meinen alten Freund und Kollegen Rob Parker besuchen. Er hat sich vor einigen Monaten selbstständig gemacht, und ich wollte ohnehin sein neues Büro sehen. Sobald du fertig bist, rufst du mich auf dem Handy an. Dann hole ich dich ab.“ „Klingt gut“, stellte Starr fest. Sie war in die Diele zurückgekehrt und hatte bereits den Mantel ausgezogen. „Verräterin“, murmelte Becky. Starr lachte. „Ich bin keine Verräterin. Ich habe nur gelauscht. Eines Tages
werden Sie es mir danken.“ Als Carter in zweiter Spur hielt und Becky aus dem Restaurant kam, fiel ihm sofort ihr Lächeln auf. Sie war glücklich, und das erinnerte ihn an die Vergangenheit. Früher war sie lieb und nett gewesen, fast wie eine kleine Schwester. Sie entdeckte ihn und winkte. Das dunkle Haar hatte sie zwar zum Knoten gebunden, doch bändigen ließ es sich nicht. Braune Löckchen kringelten sich ihr in die Stirn und ließen sie unbekümmert wirken. Das kleine Mädchen von damals war erwachsen geworden, und heute fühlte er sich nicht mehr als großer Bruder. „Es war wunderbar“, schwärmte sie, sobald sie im Wagen saß. „Sandra Meyers ist noch genau, wie ich sie in Erinnerung hatte, voll Leben und Begeisterung.“ „Seltsam“, bemerkte er leise. „Das Gleiche habe ich über dich gedacht.“ Becky lachte. „Ihr gefällt mein Buch. Ich nenne es übrigens Vegetarische Küche für Verliebte. Stell dir vor, es wird gedruckt! Na ja, wahrscheinlich… oder vielleicht. Aber es hat ihr gefallen, Carter!“ „Das wusste ich“, sagte er und fuhr los. Becky redete eine ganze Weile weiter. Plötzlich stockte sie. „Was ist los? Du sagst nichts.“ „Du lässt mich nicht“, entgegnete er amüsiert. „Nichts ist los.“ „Doch. Das merke ich.“ Sie hatte ihn durchschaut. „Es ist schon nach vier Uhr. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es so spät werden könnte.“ Sekundenlang herrschte Stille. „Tut mir Leid, dass ich dir zur Last falle.“ Ihre Stimme klang eisig. „Ich hätte doch den Zug nehmen sollen. Wieso muss sich eine Frau eigentlich immer nach den Zeitplänen des Mannes richten?“ Manchmal war es schwierig mit ihr. „Du fällst mir nicht zur Last“, entgegnete er geduldig. „Ein Unwetter zieht auf.“ „Was für ein Unwetter? In der Vorhersage war davon keine Rede.“ „Dieses Unwetter dort.“ Er deutete durch die Windschutzscheibe. „Schau dir die Wolken an.“ Als sie den Highway erreichten, schneite es bereits so heftig, dass die Autos nur noch dahinkrochen. „Verdammt“, schimpfte Carter, „bei dem Tempo sind wir nicht vor Mitternacht zu Hause.“ „Tut mir Leid, dass ich deine Pläne durchkreuzt habe“, entgegnete sie bissig. Er merkte, dass sie noch verkrampfter war als er. Dabei hatte Dr. Boyd vor jeglichem Stress gewarnt. Irgendwie musste er dafür sorgen, dass sie sich entspannte. Seine erste E-Mail an sie fiel ihm ein. „Becky, es schneit!“ „Der Witz wird allmählich alt. Konzentriere du dich aufs Fahren.“ „Mal sehen, ob ich mich recht erinnere. Du hast davon gesprochen, dass wir von einer Geschäftsreise zurückkommen. Das trifft zu.“ „Würdest du bitte auf die Straße sehen?“ „Wozu? Es geht nicht voran.“ Das stimmte. Der Verkehr war zum Erliegen gekommen. Nach einer Weile ging es dann langsam weiter, doch der Wind war stärker geworden. Carter konnte kaum etwas erkennen. Eine Stunde später hatten sie gerade mal zwei Kilometer zurückgelegt. Eine Ausfahrt wurde angezeigt. „Vielleicht ist es auf Landstraßen besser“, sagte er und führ vom Highway ab. Nach einigen Minuten auf der tief verschneiten Straße tauchten plötzlich in der einsetzenden Dunkelheit Augen im Licht der Scheinwerfer auf. Carter wich nach
rechts aus. Der Wagen kam ins Schleudern und rutschte, bis er mit einem Ruck in einer Schneeverwehung stecken blieb. Stille. Totale Stille. Carter konnte Becky im Schein der Instrumentenbeleuchtung kaum erkennen. „Alles in Ordnung?“ fragte er besorgt. „Ja“, antwortete sie bebend. „Und du?“ „Auch.“ Er startete den Motor und versuchte, rückwärts zu fahren, doch die Räder drehten durch. Nichts half. „Wunderbar. Was machen wir jetzt?“ fragte Becky. „Ich überlege. Du hast gesagt, dass wir von einer Geschäftsreise zurückkommen und im Schneesturm festsitzen.“ „Unglaublich. Wir bleiben in einem Schneesturm liegen, und du machst Scherze? Wir könnten erfrieren und erst im Frühling auftauen.“ Sie verschränkte die Arme. „Ich wollte ja den Zug nehmen, aber nein, das war zu gefährlich. Ist das hier vielleicht nicht gefährlich?“ „Könntest du dich bitte entspannen?“ Er holte sein Handy hervor und wählte den Pannendienst an, erreichte jedoch nur ein Tonband. „Offenbar müssen sämtliche Autos in der Gegend abgeschleppt werden. Ich habe meine Nummer hinterlassen, damit sie anrufen können. Das dauert aber vermutlich noch Stunden.“ „Wunderbar. Entweder bleiben wir im Wagen, heizen und sterben an den Abgasen, oder wir stellen den Motor ab und erfrieren.“ „Ich wähle die dritte Möglichkeit. Warte hier, während ich mich umsehe.“ „Du lässt mich doch nicht allein! Was ist, wenn ich überfallen werde?“ „Es geht nicht anders. Und wer sollte dich bei dem Wetter schon überfallen? Ein Schneemann?“ „Es ist dunkel. Nirgendwo gibt es Licht. Du siehst doch nichts.“ Er holte eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach. „Lass den Motor laufen und das Fenster einen Spalt offen. Bin gleich wieder da.“ „Sei vorsichtig“, bat sie leise. Ungefähr zwanzig Minuten später war er zurück. „Da vorne ist ein Motel!“ rief er gegen den heulenden Wind an. „Dort können wir auf den Abschleppwagen warten.“ „Du hast gesagt, das wird Stunden dauern. Ich gehe mit dir in kein Motel.“ „Wir haben kaum eine andere Wahl“, erwiderte er möglichst geduldig. „Ich kann aber nicht gehen. Ich habe ein Problem.“ „Becky, wenn du nicht aussteigst, hole ich dich eigenhändig aus dem Wagen.“ „Ich kann nicht. Mir taten die Füße weh, und ich habe die Stiefel ausgezogen.“ Er biss die Zähne zusammen. „Dann zieh sie wieder an.“ „Sie passen nicht mehr. Meine Füße sind geschwollen.“ Er öffnete die Tür, reichte Becky die Taschenlampe, wickelte seinen Schal um ihre Füße und hob sie aus dem Wagen. „Leuchte“, verlangte er. „Was machst du? Du kannst mich doch nicht tragen.“ „Was schlägst du denn sonst vor? Lieber Himmel, hast du zu Mittag Steine gegessen?“ „Nett“, erwiderte sie gepresst. „Falls du es vergessen hast – ich bin im sechsten Monat schwanger.“ Er ging sehr vorsichtig weiter. „Also, wir kommen von einer Geschäftsreise zurück und müssen uns vor einem Schneesturm in Sicherheit bringen. Wie geht es weiter? War da nicht ein Farmhaus?“ „Hör auf, Carter. Der Scherz ist wirklich nicht mehr lustig.“ „Lustig?“ fragte er keuchend. „Mir frieren Finger und Zehen ab, ich spüre die
Arme kaum noch, und wenn ich mir keinen Leistenbruch zuziehe, grenzt das an ein Wunder. Wenn du das lustig findest, bist du äußerst seltsam.“ „Warum lachst du dann?“ „Ich lache doch nicht“, behauptete er unschuldig. Vor ihnen tauchte das Motel auf. Auf einem hölzernen Schild stand der Name. The Red Barn – der rote Stall. „Ein Zimmer, bitte“, sagte Carter zu dem Mann an der Rezeption. „Zwei Zimmer“, verbesserte Becky. „Haben Sie reserviert?“ fragte der kahlköpfige Mann. „Sie machen wohl Witze“, entgegnete Carter. „Nein, Sir, bei diesem Wetter sind wir oft voll ausgebucht.“ Er beugte sich im Schein einer Laterne über das Pult. „Wir haben noch eine Hütte mit einem Holzofen. Die ist besser als ein Zimmer im Haus. Ohne Strom wird das heute Nacht hier sehr kalt.“ Auf Becky wirkte das Motel eher so, als hätte es Spiegel an den Decken, aber keine altmodischen Öfen. An der Wand hing ein Kalender, von dem ihnen Miss Februar zulächelte. An drei strategisch wichtigen Stellen trug sie ValentinsHerzen. „Wir nehmen die Hütte“, entschied Carter. „Aber…“ „Becky, ich will nicht in einem Kühlschrank schlafen. Wenn du denkst…“ „In der Hütte steht ein separates Bett“, warf der Mann ein. Becky wurde verlegen. Außerdem knurrte ihr der Magen. „Gibt es ein Restaurant?“ „Du hast gerade erst gegessen“, wandte Carter ein. „Das war vor Stunden.“ „Hier ist nichts in der Nähe, aber in der Hütte haben Sie eine winzige Küche mit Gas.“ „Perfekt“, stellte sie fest. „Wir haben eine Küche, aber kein Essen.“ „Ich sage meiner Frau Bescheid“, bot der Mann an. „Vielleicht kann sie Ihnen Brot und Käse geben. Die Hütte ist auf der linken Seite.“ Er reichte Carter den Schlüssel. „Gehen Sie schon vor. Essen und Handtücher kommen gleich. Warmes Wasser ist vorhanden. Das läuft auch mit Gas.“ Carter trug Becky durch den Schnee. Sogar durch die dicke Kleidung hindurch spürte sie die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Sie musste die Tür öffnen. Carter stellte sie drinnen ab und zündete eine Öllampe an. Die Hütte war hübsch und rustikal eingerichtet. Neben dem Bett stand ein gusseiserner Ofen. Davor lag ein dickes Kunstfell. Neben der Küchennische stand ein Sofa mit Kissen. Das war vermutlich das zweite Bett. Gleich darauf klopfte es. Die Ehefrau des Hotelbesitzers brachte Essen und Handtücher sowie Bademäntel. „Vielen Dank, sehr aufmerksam“, sagte Becky. „Sie brauchen sich nicht zu bedanken. Wir verkaufen die Bademäntel im Laden. Ich habe sie auf die Rechnung gesetzt. Das Essen übrigens auch.“ Sobald die Frau fort war, musste Carter lachen. „Was für ein Haus! Mach dich frisch, während ich mich um den Ofen kümmere.“ Das Bad war modern und hatte sogar einen großen Whirlpool, der allerdings wegen des Stromausfalls nicht funktionierte. Becky konnte jedoch zumindest duschen. Sie zog sich aus und betrachtete sich im Spiegel. Dabei dachte sie an den Kalender bei der Rezeption. Ich sehe nicht gerade wie Miss Februar aus, stellte sie mit einem Blick auf ihren runden Bauch fest.
Nach dem Duschen fand sie Carter vor dem Ofen kniend vor. Er fachte soeben das Feuer an. „Hi“, bemerkte sie scheu. „Hübsches Feuer.“ „Hi“, erwiderte er lächelnd. „Wenn deine Sachen feucht sind, trocknen sie hier schnell.“ Sie hängte ihren Rock über den Stuhl. „Das Wasser ist schön warm.“ „Das Telefon funktioniert nicht. Wenn du jemanden anrufen willst, musst du mein Handy benutzen. Bin gleich wieder da. Fang schon an zu essen.“ „Ich warte auf dich.“ Becky informierte Starr, dass sie erst am nächsten Tag zurückkommen würde, setzte sich vors Feuer und döste ein. „Gut geschlafen?“ fragte Carter, als sie aufschreckte. Er schürte gerade das Holzfeuer. „Ich habe nicht geschlafen“, erwiderte sie benommen und nahm den Teller entgegen, den er ihr reichte. Jetzt war sie schon so hungrig, dass Käse, Brot und Erdnussbutter besser schmeckten als ihr aufregendster Eintopf. „Ich könnte die ganze Nacht auf dem Fell vor dem Ofen bleiben“, sagte sie, nachdem er das Geschirr weggebracht hatte. Er streckte sich neben ihr aus. „Du musst erschöpft sein.“ Sie schloss die Augen. „Der Tag war anstrengend.“ „Bist du wirklich nur müde? Ich mache mir Sorgen um dich. Du übernimmst dich bestimmt bei der Arbeit.“ „Mir geht es gut“, versicherte sie und drehte sich auf die Seite. „Ich habe jetzt sogar eine Helferin.“ „Das freut mich.“ Er strich ihr das Haar aus der Stirn. „Die Pension läuft also gut.“ „Großartig. Erinnerst du dich an Christina im Piner? Merlin hat sie gefeuert.“ „Du meinst Chrissy, die mit den großen Augen?“ „Ich wusste, dass du sie nicht vergessen hast.“ „Höre ich da etwa eine Spur von Eifersucht mitschwingen?“ fragte er vergnügt. Becky drehte sich auf den Rücken. „Wieso denn das? Sie hat langes seidiges blondes Haar, die Beine reichen bis zu den Schultern, die Taille kann man mit Händen umfassen, und sie hat sehr große… Grübchen. Dagegen bin ich eine Schönheitskönigin mit den Maßen eines Wals.“ Aus heiterem Himmel lief ihr eine Träne über die Wange. Becky wischte sie verlegen weg. Warum spielten ihre Hormone ausgerechnet jetzt verrückt? Er streichelte ihre Wange. „Becky, sieh mich an.“ „Nein.“ „Hast du eine Ahnung, wie schön du bist? Es stimmt, dass schwangere Frauen förmlich strahlen.“ „Das hat nichts mit Strahlen zu tun, sondern mit Schweiß. Sogar wenn ich friere, schwitze ich. Schwangere schwitzen ständig, weil sie diesen Ballon mit sich herumschleppen, und red mir jetzt nicht ein, der wäre auch noch attraktiv. Ich sehe nicht nur aus, als hätte ich einen Basketball verschluckt, sondern ich habe auch noch den passenden Po bekommen. Wenn du mich schön findest, brauchst du eine Brille.“ „Dann melde ich mich gleich beim Augenarzt an, mich und alle anderen werdenden Väter.“ Er lachte leise. „Und Chrissy hat nichts, was du nicht auch hättest.“ Becky lächelte unter Tränen. „Das Problem ist im Moment eher, dass ich mittlerweile von allem das Doppelte habe. Jetzt habe ich zwar ein Tal zwischen den Brüsten, aber niemand hat mich gewarnt, dass sie schmerzen würden. Die Morgenübelkeit ist verschwunden. Dafür bin ich ständig hungrig und muss
dauernd ins Bad laufen. Außerdem scheint eine schwangere Frau öffentlicher Besitz zu sein. Wo ich mich zeige, wollen alle meinen Bauch betatschen. Man sollte meinen, die Leute hätten noch nie eine Schwangere gesehen. Es ist, als ob… oh!“ Carter setzte sich auf. „Was ist?“ „Das Baby hat getreten. Manchmal hält mich die Kleine die ganze Nacht wach, weil sie für die Olympiade trainiert. Damit soll man zwar jung anfangen, aber das geht doch zu weit. Du kannst es selbst spüren.“ „Möchtest du das?“ neckte er sie vorsichtig. „Ich will nicht, dass du dich als öffentlicher Besitz fühlst.“ Sie zog seine Hand auf ihren Bauch. „Ich habe geschwindelt. Es ist herrlich, wenn sie sich bewegt.“ „Was ist das?“ fragte er staunend, als unter dem Bademantel eine deutliche Ausbuchtung entstand. „Ihr Fuß“, erwiderte Becky lachend. „Sie treibt sehr regelmäßig Gymnastik.“ Becky war nicht sicher, warum sie plötzlich seine Hand unter den Bademantel auf ihren Bauch führte, aber er sorgte sich um sie und hatte sie durch den Schnee getragen. Eigentlich hätte sie nie an ihm zweifeln dürfen. „Wunderschön“, murmelte er und ließ die Hände auf ihrem Bauch kreisen, ehe er sie zu ihren Brüsten schob. „Sag mir, wenn ich dir wehtue. Das will ich auf keinen Fall.“ „Es ist wunderbar“, flüsterte sie. Ohne den Blick von ihr zu wenden, öffnete er ihren Bademantel und streichelte sie sachte und zärtlich, bis Becky ihr Verlangen kaum noch unterdrücken konnte. Der Wind pfiff um die Hütte, das Holz im Ofen knisterte und knackte. Becky stöhnte leise, als Carter seine Finger federleicht über ihre Haut gleiten ließ und sie ins Paradies entführte. Sie setzte sich auf, öffnete seinen Bademantel und schob ihn ihm von den Schultern. Arme und Brust glänzten im Feuerschein. Lächelnd zog er ihr den Bademantel an den Armen herunter und verschlang sie mit seinen Blicken. In seinen Augen fand sie die Bestätigung, dass er sie tatsächlich schön fand. Vorsichtig hob er sie auf seinen Schoß, und sie schlang die Beine um ihn. „Nur fürs Protokoll“, bemerkte er spielerisch, während sie sich an ihn schmiegte. „Wer verführt hier eigentlich wen?“ „Nur fürs Protokoll.“ Mit ihren Lippen berührte sie leicht seinen Mund. „Am Abend der Hochzeit habe ich dich im Aufzug verführt, aber solltest du mich jemals daran erinnern, werde ich es abstreiten.“ Er ließ die Lippen über ihren Mund gleiten. „Ich muss dir auch etwas gestehen. Ich wollte schon während der ganzen Feier mit dir zusammen sein. Die Hochzeit fand überhaupt nur statt, damit ich dich in meine Wohnung locken konnte.“ Becky lachte. „Und ich dachte, David und Hannah hätten aus Liebe geheiratet.“ Er sah sie eindringlich an. „Bist du dir dieses Mal sicher? Willst du es wirklich?“ Sie dachte an Jordan, der sie verlassen hatte, und an Carter, der nach Neuseeland gehen würde. Für sie gab es eben nichts von Dauer. Nein, sie war sich nicht sicher, aber das störte sie im Moment nicht. „Sag mir, wann ich aufhören soll“, flüsterte er. „Sag mir alles, was du willst, und ich mache es.“ Beinahe hätte sie gesagt, er sollte sie nie verlassen, doch das wagte sie nicht. Stattdessen zog sie ihn nur zu sich heran.
9. KAPITEL Becky kam zu der Erkenntnis, dass sie Schneestürme liebte. Es war schön, in einem warmen Zimmer in Sicherheit zu sein und das Knistern des Feuers zu hören, während draußen der Wind heulte. Zufrieden genoss sie das weiche Bett. Vielleicht fand sie für Carter ja doch einen Platz im Leben ihres Kindes. Sie konnte den Partyservice auch in Middlewood eröffnen, wenn er die Geschäftsreisen einschränkte. Jeder muss Kompromisse schließen. Aber nein, zu einer Beziehung gehörte mehr. Moment! Wieso denn Beziehung? Andererseits – wieso nicht? Vielleicht verzichtete Carter auf Neuseeland. Sie dachte daran, wie sie die ganze Nacht in seinen Armen gelegen hatte, zuerst vor dem Ofen und danach im Bett. Verträumt drehte sie sich auf die Seite und tastete nach Carter. Er war nicht da. Als sie die Augen öffnete, setzten schlagartig heftige Kopfschmerzen ein. Sonnenlicht fiel durch die Jalousien. Sobald Becky sich aufrichtete, wurde ihr schwindelig, und sie sank zurück in die Kissen. Die Wärme kam nicht vom Ofen. Wahrscheinlich war im Laufe der Nacht der Strom wieder eingeschaltet worden. Oder strahlte ihr Körper diese Hitze aus? Sie war schweißgebadet. Und nicht der Wind machte Geräusche, sondern in ihren Ohren hatte ein Summen eingesetzt. Sie legte den Arm über die Augen, und offenbar war sie wieder eingeschlafen, denn Carter stand plötzlich in der Tür. „Hey, Schlafmütze“, neckte er sie und zog die schneebedeckten Schuhe aus. „Es ist ein wunderbarer Morgen, und die Straßen sind geräumt worden. Hier habe ich deine Stiefel. Selbst wenn sie nicht passen, muss ich dich nicht wieder durchs halbe Land schleppen. Mein Wagen steht nämlich vor der Hütte.“ Er hängte den Mantel auf und setzte sich aufs Bett. „Das Baby“, sagte sie schwach. Er strich ihr das Haar aus der Stirn und zog entsetzt die Hand zurück. „Geht es dir nicht gut? Du fühlst dich heiß an.“ „Es… tut weh…“ „Um Himmels willen, was habe ich getan?“ stieß er hervor. „Nicht deine Schuld…“ Sie wollte ihm versichern, dass ihr Zustand nichts mit ihm zu tun hatte, doch sie konnte nicht sprechen und sich nicht bewegen. Während sie hilflos dalag, hörte sie ihn telefonieren. Dann half er ihr beim Anziehen. „Meine Beine“, stöhnte sie. „Ich bringe dich ins Krankenhaus. Wir sind in einer knappen Stunde in Danbury. Ich bringe deine Stiefel in den Wagen. Bleib liegen.“ „Die Rechnung“, murmelte sie, als er zurückkam. „Keine Zeit. Außerdem haben sie an der Rezeption meine Kreditkartennummer.“ Dafür hatte er schon am Abend gesorgt. Er wickelte ihre Füße in den Schal ein und hob Becky hoch. Sie legte den Kopf an seine Schulter. „Ich habe im Krankenhaus angerufen“, sagte er, während er sie auf den Beifahrersitz setzte. „Dr. Boyd ist dort und erwartet uns in der Notaufnahme.“ Das Tageslicht war für Becky unerträglich, und sie kniff die Augen zusammen. „Frühstück.“ „Wir warten, bis die Ärztin es erlaubt.“ „Nein, die Gäste… ich muss Frühstück machen…“ Tränen liefen ihr über die Wangen. „Warum tut das so weh? Du bist doch Arzt, Jordan. Hilf mir.“ Warum
antwortete er nicht? Dann fiel ihr ein, dass Jordan sie nicht wollte und fortgehen würde. Becky öffnete die Augen erst, als der Wagen auf einem Parkplatz hielt. Vor dem Gebäude stand ein Krankenwagen. Eine Sirene kam näher. „Becky!“ Das war Carters Stimme. Er beugte sich auf ihrer Seite in den Wagen. „Ich hole dich heraus. Bereit?“ Warum hat er sich nicht rasiert, dachte sie, als ihre Wangen sich berührten. Und dann fiel ihr schlagartig alles wieder ein. Das Kind! Um Himmels willen, sie durfte das Kind nicht verlieren! „Es wird doch gut gehen, oder?“ fragte sie panisch. „Ganz ruhig, nichts wird passieren.“ Er eilte mit ihr einen Korridor entlang. Erst nach drei Stunden durfte Carter sie wieder sehen. Sie lag in einem Krankenhauszimmer, den Rücken zur Tür gewandt. Als er das Bett umrundete, blieb ihm fast das Herz stehen. Becky war weiß wie das Laken. „Hey, Prinzessin. Eine üble Methode, sich um die Arbeit zu drücken.“ „Ich würde dir eine Tasse Tee anbieten, aber ich soll still liegen. Durch die seitliche Haltung fließt das Blut in die Plazenta.“ Er schluckte heftig. „Becky, es tut mir schrecklich Leid, ich…“ „Ich weiß“, versicherte sie, als er stockte. „Sie haben dich weggeschickt. Ich habe gesagt, dass du bei mir bleiben sollst, aber sie haben nicht auf mich gehört.“ „Nein, ich meine die letzte Nacht.“ „He, sieh mich nicht so betreten an. Ich weiß, was du meinst, aber du irrst dich. Die letzte Nacht hat nichts mit meinem Zustand zu tun.“ Er wich ihrem Blick aus. „Du solltest dich sehen, Carter. Du wirkst lächerlich. Tut mir Leid, aber die Schuldnummer steht dir nicht.“ „Hätte ich dich nicht…“ „Es reicht. Komm mal her!“ Vorsichtig trat er näher. „Du liegst im Krankenhaus, aber du tröstet mich.“ „Du bist wie ein Irrer gefahren, um mich herzubringen, und jetzt ist mein Blutdruck wieder normal. Das Fieber ist weg, und ich fühle mich besser.“ Sie griff nach seiner Hand. „Eine Schwester hat mir erzählt, dass alle Züge wegen des Sturms liegen geblieben sind. Was hätte ich ohne dich gemacht? Danke, Carter, dass du für mich da warst.“ Sie war unglaublich. „Du hättest es geschafft“, beteuerte er. „Du bist viel tüchtiger, als du denkst.“ Becky klopfte aufs Bett. „Ich muss dir was sagen.“ Sobald er sich gesetzt hatte, fuhr sie fort: „Ich habe nachgedacht. Du hast wiederholt bewiesen, wie fürsorglich und verantwortungsvoll du bist. Ich wollte das nur nicht zugeben.“ „Ich habe auch nachgedacht“, gestand er. „Über deine und meine Zukunft, nicht nur über das Kind. Du willst meinen Heiratsantrag noch nicht annehmen, aber du wirst es dir irgendwann anders überlegen. Ich bin geduldig und kann warten. Und du kannst dich auf mich verlassen. Ich werde immer da sein.“ „Was soll das heißen?“ „Dein Zustand hat sich stabilisiert. Wir bekommen eine zweite Chance. Darum werde ich wahrscheinlich nicht nach Neuseeland gehen. Wenn alles klappt, bleibe ich bei dir und dem Kind.“ Sie schwieg eine Weile. „Ach ja, wenn alles klappt. Großartig von dir, Carter. Wenn ich das Kind nicht verliere, werde ich an deine Worte denken.“ Mist, jetzt ging das schon wieder los! Sie verdrehte ihm absichtlich das Wort im Munde. „Becky, bitte, nicht so. Du weißt, was ich mir wünsche. Wir sollten eine
Familie werden. Nach der letzten Nacht…“ „ Hoffentlich glaubst du nicht, dass das etwas zu bedeuten hat“, unterbrach sie ihn nüchtern. „Wie bitte?“ „Erinnerst du dich nicht? Das hast du damals in deiner Wohnung zu mir gesagt, und jetzt sage ich es zu dir. Lass mich in Ruhe. Ich bin müde und möchte schlafen. Tut mir Leid, falls das dein Selbstwertgefühl kränkt, aber im Moment ist mir nur das Kind wichtig.“ Er sah sie irritiert an und begriff nicht, was los war. Eigentlich wollte er das klären, aber er dachte an die Warnung der Ärztin vor Stress. „Du hast Recht“, lenkte er widerstrebend ein. „Du musst dich ausruhen. Ich fahre nach Hause, ziehe mich um und komme dann wieder.“ Als er sich über sie beugte, drehte sie das Gesicht zur Seite. Dabei hatte Carter gedacht, nur er hätte Bindungsängste! Auf dem Korridor traf er Starr. „Carter!“ rief sie und überschüttete ihn mit Fragen. „Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als am Telefon“, erklärte er. „Es geht ihr jetzt gut. Sie schläft. Starr, sie hätte das Kind verlieren können. Sie hätte…“ „Sprechen Sie es nicht aus. Alles wird gut, hören Sie?“ Er rang sich ein mattes Lächeln ab. „Haben Sie das in den Teeblättern gelesen?“ „Lachen Sie ruhig, aber Sie werden feststellen, dass ich Recht behalte.“ „Das hoffe ich. Danke, dass Sie Beckys Sachen mitgebracht haben.“ „Haben Sie ihre Mutter schon angerufen?“ „Es war niemand zu Hause, und ich wollte keine Nachricht hinterlassen. Aber ich versuche es später noch mal.“ Er wandte sich um, als Dr. Boyd zu ihnen trat. „Wie geht es ihr?“ fragte er direkt. „Gut.“ Dr. Boyd lächelte aufmunternd. „Trotzdem möchte ich sie einige Tage im Krankenhaus beobachten. Bleibt ihr Zustand stabil, entlasse ich sie. Dann braucht sie allerdings absolute Bettruhe, vielleicht sogar bis zur Geburt. Kann sich jemand um sie kümmern?“ „Ich“, erklärten Carter und Starr gleichzeitig. „Sie haben einen Beruf“, wandte Starr ein. „Sie vielleicht nicht? Im Moment bin ich flexibel. Ich möchte Becky zu mir holen.“ „Sie müssen doch gelegentlich zu Besprechungen“, widersprach Starr. „Becky kann nicht allein bleiben.“ Carter wandte sich an die Ärztin. „Was ist mit einer Pflegerin?“ „Beckys Blutdruck muss täglich kontrolliert werden. In der Apotheke können Sie ein Gerät mieten. Abgesehen davon und von wöchentlichen Terminen in der Praxis braucht sie keine besondere Behandlung. Bettruhe und kein Stress, das sind die wichtigsten Punkte. Die Gestose ist nicht stark ausgeprägt. Darum kann Becky zu Hause bleiben, wenn sich jemand um sie kümmert. Wenn sie eine Pflegerin braucht, sorge ich dafür. Was ist mit ihrer Mutter? Vielleicht könnte Becky eine Weile bei ihr bleiben. Das müssen Sie natürlich mit Becky abklären.“ „Muss sie streng im Bett liegen?“ erkundigte sich Starr. „Oder darf sie ins Bad gehen oder sich zum Lesen aufsetzen?“ „Sie kann das Bett verlassen und das Bad aufsuchen, und sie muss in meine Praxis kommen, mehr nicht. Aufsetzen darf sie sich auch. Wenn sie das alles befolgt, stehen die Chancen gut.“ Als Dr. Boyd ihre Visite fortsetzte, lächelte Carter trocken. „Beckys Mutter? Lieber nicht. Die Frau erzeugt Stress pur.“ „Ernsthaft, Carter“, erwiderte Starr, „die Pension wäre für Becky das Beste. Wenn
ich weg muss, ist Christina da. Becky wäre nie allein.“ „Sie würde sich wie ein Schmarotzer fühlen. Schließlich ist sie Ihre Angestellte.“ „Sie ist meine Freundin.“ „Nun, letztlich entscheidet Becky, aber viel Auswahl hat sie nicht. Sie wird die Pension wählen.“ Er stand auf. „Bleiben Sie noch? Ich fahre nach Hause und komme bald wieder, doch vielleicht wacht sie auf, während ich fort bin.“ In der Wohnung stellte er den Anrufbeantworter an. Die erste Nachricht war von David, der sich Sorgen machte, weil er seine Schwester und Carter nicht erreichen konnte. Die zweite Nachricht stammte von seiner Mutter. Die Frau des Kollegen, den er in New York besucht hatte, kannte Wendy, und seine Exfrau hatte sich mit seiner Mutter in Verbindung gesetzt. „Warum hast du nicht auf ihre Anrufe reagiert?“ erklang vorwurfsvoll die Stimme seiner Mutter. „Übrigens habe ich hässliche Gerüchte über dich und die kleine Roth gehört. Hoffentlich begehst du keine Dummheit. Ruf mich an!“ Eine Dummheit? Leider schon zu spät. Becky saß im Bett und las in einer Zeitschrift. Am nächsten Tag sollte sie entlassen werden. Starr würde ihr frische Kleidung bringen, musste sich aber am Morgen mit Christina um die Küche kümmern. Carter hatte dafür gesorgt, dass er viel Zeit im Krankenhaus verbringen konnte. Im Moment war er allerdings bei einer Besprechung, zu der sie ihn gedrängt hatte. Morgen früh würde er sie jedoch in die Pension fahren. Dafür hatte sie sich entschieden. Was blieb ihr anderes übrig? Ihre Mutter kam nicht in Frage. „Was heißt, du musst die ganze Zeit im Bett bleiben?“ hatte Gertie gefragt. „So bist du doch erst in den ganzen Schlamassel geraten. Komm nach Hause. Ich mache dir Hühnersuppe und gehackte Leber. Du kommst im Handumdrehen wieder auf die Beine.“ Becky hätte die Wände hochgehen können. Durch Bubbe verstand sie ihre Mutter nun zwar besser, aber sie konnte trotzdem nicht mit ihr zusammenleben. Carter… In den letzten Tagen war er fast ständig bei ihr gewesen. Hoffentlich zog er nicht in die Pension! Sie sah schon, wie er sich mit Starr über Tarotkarten beugte, um die Zukunft vorherzusagen. Sie erinnerte sich daran, was er am ersten Tag im Krankenhaus gesagt hatte. Sie hatte ihm nicht erklärt, wieso sie sich so darüber geärgert hatte, dass er nicht nach Neuseeland gehen würde, falls alles gut ging. Erstens war ihr klar geworden, dass alles im Leben von etwas anderem abhängig war und sich ständig ändern konnte. Und der zweite Grund… Es klopfte. „Herein!“ rief sie. Der zweite Grund betrat soeben das Zimmer – und dabei ging es um Vertrauen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während sie ihn wortlos anstarrte. „Das ist neu“, stellte Jordan fest. „Du bist sprachlos.“ Es fiel ihr schwer, bei seinem Anblick ruhig zu bleiben. „Was machst du denn hier?“ „Du könntest wenigstens so tun, als würdest du dich freuen, mich zu sehen.“ Er zog sich den Stuhl ans Bett heran. „Was hast du denn so das letzte Jahr über gemacht?“ erkundigte er sich und betrachtete ihren runden Bauch. „Nein, du musst nicht antworten. Offenbar warst du sehr beschäftigt.“ „Was willst du, Jordan?“ „Du brauchst dich nicht gleich aufzuregen. Ich habe nur einige Neuigkeiten für dich.“ „Du wirst heiraten“, vermutete sie tonlos und sah ihm an, dass sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„Ich habe deine Mutter unten in der Halle getroffen. Ich habe mich um eine Anstellung hier im Danbury Hospital beworben, und heute war das Vorstellungsgespräch.“ Becky hätte sich denken können, dass ihre Mutter dahinter steckte. „Erinnere mich daran, mich bei ihr zu bedanken.“ „Sie wollte nicht, dass ich dich störe, so als würdest du auf dem Sterbebett liegen. Dann hat sie erzählt, dass du morgen entlassen wirst. Also bin ich hier. Wünschst du mir nicht Glück? Sollten sie mich einstellen, dann werden wir Nachbarn.“ „Bestimmt wirst du mit deiner neuen Frau sehr glücklich sein“, bemerkte Becky kühl. „Wie heißt sie doch? Bambi?“ „Barbie, aber ich bin nicht mehr mit ihr zusammen. Du hast trotzdem Recht, ich heirate. Du wirst lachen, wenn du den Namen hörst. Eine alte Freundin von dir. Carol Weinstein.“ Weinstein? Der Name kam ihr bekannt vor. Dann fiel es Becky ein. Sie hatten die letzte Schulklasse gemeinsam besucht, waren aber keine Freundinnen gewesen. Carols Vater war ein wichtiger Filmproduzent, und Carol hatte keinen Zweifel daran gelassen, wie hoch sie über Becky stand. „Carol wird Middlewood vermutlich nicht verlassen wollen“, bemerkte sie. Er zuckte mit den Schultern. „Warum sollten wir nicht da leben? Es ist eine nette Stadt, und bis Danbury ist es nicht weit. Das Krankenhaus hier ist großartig.“ „Bestimmt. Danke für deinen Besuch, Jordan. Hat mich gefreut, dich wieder zu sehen, aber jetzt möchte ich allein sein.“ „Komm schon, Rebecca, ich möchte mich mit dir versöhnen. Ich wollte dich anrufen, aber dann hat deine Mutter erwähnt, dass du hier bist. Ich bin nicht gekommen, um dir von der Heirat zu erzählen, sondern ich möchte alles zurückzahlen, was ich deinem Vater schulde. Und wer weiß, vielleicht können wir beide irgendwann sogar Freunde werden.“ Freunde? Das war wohl ausgeschlossen. „Wieder sprachlos“, meinte er lachend. „Zwei Mal am selben Tag, das ist ein Rekord. Was denkst du? Soll ich die Schecks an dich oder direkt an deinen Vater schicken?“ Sie betrachtete ihn misstrauisch. „Offenbar geht es dir um etwas sehr Wichtiges. Was ist es?“ Zum ersten Mal überhaupt fand sie in seinem Blick Bedauern. „Ich weiß, dass du mich verachtest, und das kann ich dir nicht verübeln. Ich habe mich scheußlich benommen, und es würde nicht ausreichen, wenn ich mich bis an mein Lebensende bei dir entschuldige. Aber ich möchte dich etwas fragen, und ich bitte dich, ehrlich zu antworten. Hast du mich jemals geliebt?“ Die Frage brachte sie aus dem Gleichgewicht. „Ich habe dich geheiratet.“ „Wir waren jung“, meinte er bedauernd. „Was wussten wir schon vom Leben und von der Welt? Wir haben getan, was man von uns erwartet hat. Unsere Eltern hatten unsere Zukunft schon festgelegt, bevor wir das zweite Mal miteinander ausgegangen sind.“ Er lachte. „Deine Mutter war nicht begeistert, dass mein Vater nur Metzger in einem koscheren Lebensmittelladen war. Dann habe ich ihr erzählt, dass ich Arzt werden will, und sofort hat sie die Hochzeit geplant.“ „Ich war glücklich“, gestand Becky. „Tatsächlich? Sei ehrlich! Du warst während der ganzen Ehe unglücklich.“ Als sie nicht antwortete, stand er auf. „Nun, ich habe alles gesagt. Jetzt liegt es bei dir. Was ist mit den Schecks?“ „Schick sie an meinen Vater.“ Sie wollte nichts mehr mit Jordan zu tun haben. Dennoch war sie über seinen Besuch froh, weil nun ein Kapitel abgeschlossen
war. Eine Frage hatte sie allerdings noch. „Warum jetzt, Jordan? Wieso zahlst du das Darlehen zurück?“ Er lächelte verhalten. „Meine Verlobte besteht darauf. Sie will aus mir einen ehrbaren Mann machen.“ Becky hätte beinahe gelacht. Ehrbar, dachte sie, ist für ihn etwas anderes als für mich. Es stimmte, dass sie in der Ehe nie glücklich gewesen war, aber sie hatte Jordan dennoch geliebt. Der Schmerz über die Trennung vor einem Jahr bewies das. Irritiert sah sie sich im Zimmer um. Alles sah noch so aus wie vor Jordans Besuch, und doch hatte sich etwas verändert. Irgendetwas fehlte. Und dann erkannte sie plötzlich, was es war. Der Schmerz war verschwunden.
10. KAPITEL Zufrieden betrachtete Becky den Bildschirm. Die Buchhaltung funktionierte großartig. Dr. Boyd hatte ihr erlaubt, einige kleine Tätigkeiten auszuführen, aber sie musste so viel wie möglich ruhen. Kochen durfte sie nicht, doch zumindest brauchte sie nicht mehr den ganzen Tag im Bett zu liegen. Carter hatte ihr den Computer in ihr Zimmer gebracht. Den Erker hatte er in ein kleines Wohnzimmer mit Fernseher und Videorecorder verwandelt. Seit Wochen verwöhnte er sie ständig. Angeblich hatte er nicht viel Arbeit. Und Starr und Christina kümmerten sich auch um sie. Wegen ihres riskanten Zustands war Becky für jeden Tag ohne Komplikation dankbar. Allerdings war sie ständig müde und hatte Rückenschmerzen. Das war angesichts ihres Leibesumfangs aber auch kein Wunder. Dr. Boyd meinte, alles wäre normal, doch das heiterte Becky auch nicht auf. „Becky?“ Starr stand in der Tür. „Könntest du ins Esszimmer kommen? Ich möchte dir etwas zeigen. Ich helfe dir die Treppe runter.“ Das weckte ihre Neugierde. Starr wusste, dass sie die Treppe möglichst meiden sollte, und war darin auch äußerst streng. „Überraschung!“ erklang es zahlreich, als Becky mit Starr das Esszimmer betrat. Am Tisch in der Mitte des Raums saßen Beckys Eltern, David und Hannah, Bubbe, Christina und Carter. Starr strahlte. „Was soll das denn?“ fragte Becky erstaunt. „Frag deinen Freund“, riet Christina. Carter stand auf und führte Becky zu dem Platz neben seinem Stuhl. „Willkommen bei der jährlichen Starr-DeVries-Oster-Passah-Feier.“ „Bei der vegetarischen Feier“, fügte Starr hinzu. „Vegetarisch aber nur in Amerika“, bemerkte Bubbe. „Jährlich?“ fragte Becky. „Seit wann besteht denn diese Tradition?“ „Seit jetzt“, erwiderte Starr. „Es gibt Matze-Klößchen-Suppe, Matze-Lasagne und Matze-Pizza. Ich hatte keine Ahnung, dass man mit dem Mehl so viel machen kann. Ich habe mein gutes Porzellan genommen. Deine Mutter hat mir erklärt, dass schönes Geschirr zu diesem Mahl gehört.“ Becky schüttelte den Kopf. „Damit hätte ich nie gerechnet.“ „Deine Mutter und deine Großmutter sind schon seit Stunden hier und haben das meiste gekocht. Übrigens hat Carter alles arrangiert und verlangt, dass wir dich überraschen, um dich aufzuheitern.“ Carter winkte ab. „Ich hatte Angst, du könntest zum Passahfest nach Hause gehen und dich überanstrengen.“ Becky lächelte dankbar, weil er wusste, wie viel ihr die Familie trotz aller Schwierigkeiten bedeutete. Gerührt sah sie sich um. Diese Menschen waren ihre Angehörigen und ihre Freunde, und alle hatten mitgeholfen. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ „Genug geredet“, entschied Bubbe. „Wann fangen wir an? Ich habe Hunger. Das Verlesen des Textes aus der Haggada sollte eine Stunde dauern, und wenn wir nicht bald anfangen, essen wir übermorgen noch immer nicht.“ Nach der rituellen Segnung des Weins las Aaron aus dem Gebetbuch für das Passahfest vor. „Da Christina die jüngste von uns ist, sollte sie die vier Fragen stellen“, entschied er. „Was für Fragen?“ erkundigte sich Christina besorgt. „Sie sollen zur Teilnahme ermuntern“, erklärte Becky, aber weil Christina nervös wirkte, meinte sie: „Dieses Mal können wir die jüngste Person übergehen, weil es
kein normales Passahfest ist.“ Sie zeigte auf die bunte Osterdekoration und griff nach dem Buch. „Warum unterscheidet sich dieser Tag von allen anderen?“ las sie vor. „Auf Hebräisch“, warf Bubbe ein. „Du hast das nicht umsonst gelernt.“ Becky erinnerte ihre Großmutter daran, dass nicht sie, sondern David die jüdische Schule besucht hatte. Trotzdem las sie vor, so gut sie konnte. Nach der Geschichte vom Auszug des Volkes Israel wurde das Essen serviert, und hinterher wurde gebetet. Danach saßen alle noch eine Stunde beisammen und redeten und lachten. Sobald Becky und Hannah gähnten, erklärte Gertie, es wäre Zeit zum Abräumen. Bis auf die beiden werdenden Mütter halfen alle mit. Die Familie wurde herzlich verabschiedet, und Becky versprach, ihre Mutter gleich am nächsten Morgen anzurufen. Carter half Becky die Treppe hinauf. „Müde, Prinzessin?“ „Ein wenig.“ Sie setzte sich mit ihm aufs Sofa und lehnte den Kopf an seine Schulter. „Man stelle sich das vor: Carter Prescott III. arrangiert ein Passahfest! Was würde deine Mutter dazu sagen?“ „Wahrscheinlich würde sie mir raten, mich gründlich untersuchen zu lassen“, scherzte er. „Ach, du!“ Sie schlug spielerisch nach ihm. „Warum war eigentlich deine Mutter nicht da?“ „Weil ich sie nicht eingeladen habe.“ „Und warum nicht? Das war eine Familienfeier, und sie ist die Großmutter des Kindes. Bald sind wir alle miteinander verwandt.“ „Meine Mutter wäre auch nicht gekommen, hätte ich ihr eine Einladung auf Büttenpapier mit Golddruck geschickt“, entgegnete er bitter. „Eltern können schwierig sein“, meinte Becky vorsichtig. „Aber man hat nur eine Mutter. Der heutige Abend hat mich überzeugt, dass du ähnlich denkst wie ich, was Familie angeht.“ Er streichelte ihren Bauch. „Ja, ich empfinde viel für meine Familie.“ Das hatte sie zwar nicht gemeint, aber sie widersprach nicht. Wenn sie den Kopf leicht anhob und ihm entgegenkam… Sie dachte an den Abend, an dem alles begonnen hatte, und an ihre Verführungskünste im Aufzug. Jetzt war es anders. Sie tat gar nichts. Verrückt, sagte sie sich, ich bin im achten Monat schwanger und denke an Sex! „Da wir von Familie sprechen“, bemerkte Carter amüsiert. „Seit wann bist du die pflichtbewusste Tochter?“ „Seit ich weiß, dass meine Mutter sich gar nicht anders verhalten kann“, erwiderte sie. „Ich bin nicht immer ihrer Ansicht – ich bin eigentlich nie ihrer Ansicht, aber sie meint es gut.“ „Du streitest ständig mit ihr. Warum ist sie eigentlich so gegen die Geschenkparty für das Kind am kommenden Sonntag?“ „Meine Mutter glaubt, dass es Unglück bringt, wenn man vor der Geburt des Kindes Geschenke bekommt. Das ist ein alter jüdischer Aberglaube. Weißt du, Traditionen und Überlieferungen waren mir früher nicht sonderlich wichtig, aber ich möchte, dass unsere Tochter alles lernt. Andererseits ärgert es mich manchmal, dass in der Religion die Männer dominieren. Trotzdem soll unsere Tochter ihre Herkunft und ihr Erbe genau kennen lernen. Wie sonst soll sie begreifen, wie wichtig die Familie ist?“ „Sie soll alles mitmachen – oder er?“ fragte Carter. „Überrascht dich das? Was ist los?“ fragte sie nach einem Blick in sein Gesicht. „Was denkst du jetzt?“ Er streckte sich genüsslich. „Ich denke, dass wir beide für heute genug Familie
hatten. Du musst dich jetzt ausruhen.“ Er küsste sie auf die Stirn und stand auf. „Morgen bringe ich dir neue Filme.“ Becky war enttäuscht. Beim Essen hatte sie sein Weinglas gefüllt, Andeutungen gemacht und gehofft, ihn aus der Reserve zu locken. Wie sollte sie nur für den Augenblick leben, wenn Carter nicht mitspielte? Für den Augenblick? Sie konnte ihre Gefühle für Carter herunterspielen, so viel sie wollte, aber eines stand fest. Sie war dabei, sich ernsthaft in ihn zu verlieben. Sicher, manchmal umsorgte er sie zu sehr, aber er tat es, weil ihm etwas an ihr lag. Täglich brachte er ihr Blumen, Bücher oder Filme und ertrug geduldig ihre häufigen Stimmungswechsel. Vor allem aber hatten sie in den letzten Wochen stundenlang über alles nur Erdenkliche gesprochen. Fast über alles. Seine Ehe fiel auch weiterhin unter den Tisch, doch das verstand Becky. Schließlich hatte sie keine Lust, über Jordan zu reden. Und wenn es nach ihr ging, war das Thema Ehe ohnedies tabu. Carter war gegen elf zu Hause und hängte gerade den Mantel auf, als der Türsummer ertönte. Sobald er die Stimme erkannte, die aus der Sprechanlage kam, fluchte er in sich hinein. Wendy hatte seit Monaten Nachrichten für ihn hinterlassen, aber er hatte nie zurückgerufen. Er ließ sie ins Haus und öffnete ihr die Wohnungstür. „Was führt dich nach Middlewood? Suchst du wildes Vergnügen?“ „Du hast deinen Sarkasmus nicht verloren. Darf ich hereinkommen?“ „Wie du willst.“ Er drehte sich um und ging ins Wohnzimmer. Sie zog die Handschuhe aus. „Nimmst du mir nicht den Mantel ab?“ „Nein. Du hast fünf Minuten.“ Sie öffnete den Mantel, unter dem sie einen tief ausgeschnittenen Pulli sowie einen kurzen engen Rock trug, und setzte sich auf die Couch. „Vermutlich fragst du dich, warum ich hier bin.“ Er ließ den Blick über ihre schlanke Gestalt und das glänzende blonde Haar gleiten. Mit einem Lächeln konnte sie einem Mann den Kopf verdrehen. Sie wollte etwas, und dafür fuhr sie schweres Geschütz auf. Er setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. „Du wirst es mir bestimmt verraten.“ „Ob du es glaubst oder nicht, ich bin hier, um dir zu sagen, dass es mir Leid tut. Es war falsch von mir, dich zu verlassen… aus vielen Gründen.“ Wendy hätte nie im Leben zugegeben, im Unrecht zu sein. „Nach so langer Zeit tut es dir plötzlich Leid? Komm schon, was willst du?“ „Aber, aber, nicht so feindselig. Ich dachte, darüber wärst du hinweg, und darum bin ich hier. Ich will nicht, dass wir uns hassen. Ich weiß, was du denkst und…“ „Du hast keine Ahnung, was ich denke“, fuhr er sie an. „Es mag dich schockieren, aber ich trauere dir nicht nach.“ Sie griff nach der Handtasche. „Ich sehe schon, dass das zu nichts führt.“ „Bleib sitzen.“ Er wusste, dass sie nicht zu gehen beabsichtigte, bevor sie nicht gesagt hatte, was sie wollte. Das war die Anwältin in ihr. „Tut mir Leid, der Tag war lang, und ich bin müde. Also, ich höre.“ „Dann komme ich gleich zur Sache. Ich will ein Kind.“ „Gratuliere“, bemerkte er trocken. „Denk daran, mir eine Zigarre zu schicken, wenn es so weit ist.“ „Bitte, Carter, sei ernst. Ich spreche von meiner biologischen Uhr.“ „Ich bitte dich, Wendy, du bist Mitte dreißig. Bist du vielleicht gekündigt worden?“ forschte er. „Man hat mir eine Beförderung angeboten“, entgegnete sie amüsiert. „Aber andere Dinge sind mir jetzt wichtig. Ich wünsche mir eine Familie mit allem, was dazugehört.“
Schlagartig begriff er. Sie strebte eine Versöhnung an. „Wendy…“ „Moment“, bat sie. „Ich habe gehofft, wir könnten es noch mal miteinander versuchen. Vielleicht brauchen wir nur einen Ortswechsel. Neuseeland soll sehr schön sein, perfekt für eine Familie. Carter Prescott IV. – wie klingt das?“ Einen Moment lang fand er etwas in ihrem Blick, was er bei ihr nicht kannte. Traurigkeit? Bedauern? Doch vermutlich hatte sie noch nie ein wirklich echtes Gefühl empfunden. „Das kann nicht dein Ernst sein“, erwiderte er tonlos. „Warum nicht? Ich wusste immer, dass wir irgendwann wieder zueinander finden werden. Wir verkehren in denselben Kreisen. Unsere Eltern sind zusammen aufgewachsen. Unsere Mütter gehören denselben Klubs an.“ „Wieso gerade jetzt?“ Sie schlug die Beine übereinander. „Jeder von uns hatte seine eigene Karriere, aber ich habe die Verbindung nie abreißen lassen. Jetzt ist es Zeit zum Handeln, weil du für zwei Jahre weggehst.“ „Vergiss es, Wendy, und such dir einen anderen, der sich um deine biologische Uhr kümmert.“ Sie schüttelte den Kopf. „Glaubst du, das ist so einfach? Ich bin wählerisch. Wir passen perfekt zusammen. Natürlich gehört zu einer Ehe mehr als Kinder. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir das Bett stets äußerst zufrieden verlassen.“ Jetzt erfand sie sogar noch etwas. Sie hatte offensichtlich den Verstand verloren. „Das ist alles lange aus und vorbei“, erklärte er. „Das glaube ich nicht“, behauptete sie zufrieden. „Ich habe gesehen, wie du mich betrachtest. Das hat sich nicht geändert, aber alles andere schon. Ich habe mich geändert, und du doch auch. Wir sind nicht mehr so jung, und wenn wir uns bemühen, wird es klappen.“ Irgendwie tat sie ihm sogar Leid, doch das war auch alles. „Nein“, erklärte er. „Ich bin aber bereit, mit dir wegzugehen. Und nach unserer Rückkehr hätte ich nichts dagegen, wenn du irgendwo auf einer Baustelle arbeitest.“ „Ich werde nicht nach Neuseeland gehen und meine Reisen überhaupt stark einschränken.“ Wann hatte er das eigentlich entschieden? Offenbar waren auch ihm mittlerweile andere Dinge wichtiger geworden. Ja, er wollte bei Becky bleiben, egal, wie es weiterging. „Was ist mit der Partnerschaft?“ fragte Wendy. „Deine Mutter sagte…“ „Meine Mutter sagt viel.“ „Ach, es geht um das Roth-Mädchen, das du geschwängert hast. Du willst sie heiraten, was? Tu das nicht, Carter, sondern zahle für das Kind. Sie ist keine von uns. Zerstöre nicht eines albernen Fehlers wegen dein und mein Leben.“ Ach, das ergab endlich einen Sinn. Wendy war wegen Beckys Schwangerschaft hier. Woher sie Bescheid wusste, war ja klar. Von wegen biologischer Uhr! „Ja, es geht um das Roth-Mädchen, wie du dich ausdrückst, und ich werde sie heiraten, sofern sie mich haben will.“ „Du hast dich nicht geändert“, erwiderte Wendy. „Du machst einen Fehler nach dem anderen.“ Carter stand auf. Sie folgte ihm. „Dann heirate sie doch!“ fauchte Wendy und stürmte zur Tür. „Aber sei wenigstens ehrlich mit dir selbst. Du fühlst dich nur zu ihr hingezogen, weil du glaubst, dass sie dich braucht. Durch sie fühlst du dich wichtig. Unsere Ehe ist gescheitert, weil ich mich nicht wie eine Schlingpflanze an dich geklammert habe. Wie lange wird es denn dauern, bis sie es leid ist, ständig dein Ego zu streicheln?“ Wendy zog ihre Handschuhe an.
„Und ich sage dir noch etwas. Wenn du nicht mehr vor Ort arbeiten kannst, wirst du innerlich eingehen. Es wird nicht lange dauern, bis du dich angekettet fühlst. Ich kenne dich, Carter. Du findest keine Ruhe. Du wirst die Kleine bald verlassen und erneut herumziehen.“ Carter tauchte am Sonntagvormittag mit einem großen Karton auf, der in Goldpapier eingeschlagen war und eine hellblaue Schleife trug. „Du musst aufhören, mir Geschenke zu machen“, verlangte Becky, freute sich jedoch insgeheim. „Das ist zwar groß, aber bestimmt kein neuer Computer, es sei denn ein Laptop.“ Er stellte den Karton auf den Boden und setzte sich zu Becky aufs Sofa. „Das ist mein Geschenk für die Babyparty. Mach es auf.“ „Wenn es für die Party ist, sollte ich warten.“ Das wollte sie im Grunde zwar nicht, aber sie ließ ihn gern zappeln. „Warum machst du bei der Party denn nicht mit?“ „Ich höre mir doch nicht an, wie ein Haufen Frauen über uns Männer herzieht“, wehrte er entsetzt ab. „Das macht ihr doch.“ „Nein, Starr hat Voodoo-Puppen von allen Partnern der anwesenden Frauen gemacht, und wir werden sie mit Nadeln spicken. Willst du nicht doch mitmachen?“ „Klingt verlockend, aber David und ich haben schon etwas vor. Während ihr Frauen uns Männer in der Luft zerreißt, lecken wir unsere Wunden in Max’s Bar.“ „Mittagessen in einer Bar?“ fragte Becky zweifelnd. „Voodoo ist gefährlich. Wir werden alle Hilfe brauchen, die wir bekommen können. Allerdings essen wir dort erst am frühen Abend. Nach der Party wirst du dich bestimmt ausruhen, und Hannah geht mit ihren Cousinen essen. Ich hole David in einer Stunde ab, und wir verbringen den ganzen Tag zusammen. Ich werde gegen acht wieder hier sein. Aber mach doch endlich auf“, verlangte er. Becky gab nach und riss die Verpackung auf. „Ein Papagei?“ fragte sie verblüfft. „Du hast mir einen Spielzeugpapagei gekauft?“ „Das ist nicht einfach ein Papagei, sondern ein Kakapo.“ Das erklärte natürlich alles. „Ungewöhnlich.“ „Es ist der einzige Papagei auf der Welt, der nicht fliegen kann. Verstehst du das?“ Nein, tat sie nicht. Und wieso war der Vogel so riesig, über einen halben Meter groß? „Der Kakapo lebt in Neuseeland“, fuhr er fort. „Er hat keine natürlichen Feinde, ist aber eine gefährdete Tierart, sehr selten und einmalig schön.“ Die meisten werdenden Väter hätten einen Teddybären gekauft, Carter nicht. „Wieso ist das nun das perfekte Geschenk?“ „Verstehst du denn nicht? Er fliegt nicht, genau wie ich. Und ich wollte dir ein Stück Neuseeland bringen, weil ich nicht hinfahren werde.“ Prompt erinnerte sie sich an den Tag im Krankenhaus, und es versetzte ihr einen Stich ins Herz. „Ich weiß. Sofern alles klappt. Du hast gesagt…“ Er legte ihr den Zeigefinger an die Lippen. „Alles wird klappen. Ich werde auf jeden Fall für dich da sein. Ich will nicht mehr mal hier und mal dort leben. Jetzt habe ich einen Grund, um zu bleiben, und damit meine ich nicht nur das Kind. Ich spreche von dir.“ „Kannst du denn so einfach aussteigen?“ fragte sie und bekam Herzklopfen. „Wer wird deinen Platz einnehmen? Und was ist mit deiner Beförderung?“ „Die Partnerschaft hängt nicht allein von dem Auftrag in Neuseeland ab. Ja, ich kann aussteigen. Mark Bradshaw möchte an meine Stelle treten.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Sieh unter dem Schnabel nach.“
In einem kleinen Täschchen fand sie einen schmalen Platinring mit einem zweikarätigen Diamanten. Sprachlos sah sie Carter an. „Lass mich das machen“, bat er zärtlich und schob ihr den Ring auf den Finger. „Ich habe ihn gleich nach deiner Entlassung aus dem Krankenhaus ausgesucht, aber du hast mich immer wieder abgewiesen. Dafür besteht kein Grund mehr, weil ich bleibe.“ Er hatte Recht. Sie hatte keinen Grund mehr – abgesehen von ihrer Angst vor der Zukunft. „Ich… ich weiß nicht, ob ich das annehmen kann.“ Zuerst war er verwirrt, dann schlug er sich an die Stirn. „Wie dumm von mir! Du willst dir den Verlobungsring selbst aussuchen. Keine Angst, der Juwelier tauscht ihn bestimmt. Wir beide machen es eben verkehrt herum. Wir heiraten so bald wie möglich, und wenn das Kind auf der Welt ist, suchen wir gemeinsam einen Ring aus. Was meinst du?“ „Nein, der Ring ist herrlich, und ich bin froh, dass du ihn als Symbol für dein Versprechen ausgesucht hast“, beteuerte sie und bewegte die Hand, damit der Stein glitzerte. „Wo liegt dann das Problem?“ fragte Carter. „Vielleicht passt er nicht. Das kann man ändern. Sag es mir, Becky. Bist du vielleicht noch immer nicht bereit?“ In seinem Blick entdeckte sie absolute Hingabe. Er verzichtete freiwillig auf Neuseeland, nicht aus Pflichtgefühl. Er wollte bei ihr sein. Der Ring passte perfekt, und ausnahmsweise waren ihre Finger nicht geschwollen. Starr würde wahrscheinlich sagen, dass das ein Zeichen war, welches ihr den richtigen Weg zeigte. Sie musste nur die Augen öffnen und ihrem Instinkt vertrauen. Vertrauen – das war wichtig. Aber was war mit Liebe? Sie kannte Carter mittlerweile besser als je zuvor einen anderen Menschen, und er hatte einen Platz in ihrem Herzen erobert. Doch liebte sie ihn? Sie war sich nicht sicher. Liebte er sie? Auch keine Ahnung. Er wollte jedenfalls ständig mit ihr zusammen sein, und ohne ihn fühlte sie sich verloren. Zeichen? Becky brauchte nicht noch mehr Zeichen. Carter saß neben ihr, hielt ihre Hand und wartete auf Antwort. Sie atmete tief durch. Gut, dann ging sie eben ein Risiko ein. „Ja“, sagte sie mit bebender Stimme. „Ich meine nein. Ja und nein.“ Lächelnd stellte sie klar: „Nein, ich will nicht sagen, dass ich nicht bereit bin, und ja, ich will dich heiraten.“ Ohne auf seine Antwort zu warten, schlang sie ihm die Arme um den Hals. Carter enttäuschte sie nicht. Der Kuss war zuerst sanft und zärtlich, nur ein leichtes Gleiten der Lippen, doch dann raubte er Becky den Atem. Leidenschaft und Verlangen erfüllten sie, ihre Zungen spielten miteinander, und Becky lehnte sich zurück, klammerte sich an Carter und zog ihn langsam mit sich. Unvermittelt gab er sie frei und setzte sich auf. „Wir können doch nicht…“ Lächelnd ließ sie sich in die Kissen sinken und sah ihn unschuldig an. „Kalte Duschen helfen angeblich.“ „Leicht fällt es mir nicht. Seit der Hochzeit deines Bruders kann ich es kaum erwarten, für das nächste Kind zu üben.“ „Langsam, langsam“, wehrte sie lachend ab. „Ein Kind nach dem anderen.“ Wieder nahm er sie zärtlich in die Arme. „Ich habe von üben gesprochen, aber mit den Taten sollten wir nicht allzu lange warten. Es wäre doch nett, wenn unsere Kinder alle ungefähr im gleichen Alter wären. Ein Mädchen für dich, ein Junge für mich.“ „Zu teuer“, meinte sie fröhlich. „Hast du eine Ahnung, was Bar Mizwa, unser jüdisches Fest zur Einführung der Jugendlichen in die Erwachsenenwelt, kostet? Zwei Kinder im gleichen Alter, und man braucht eine zweite Hypothek.“ Zufrieden
schmiegte sie sich an ihn. „Du hast Recht, ich will ein Haus voller Kinder haben. Wir könnten ja eine Bank überfallen.“ Als Carter nicht antwortete, blickte sie hoch. Sein Gesicht war wie versteinert. „Was ist denn?“ Er sprach nur zögernd. „Die Feier hat mir gefallen. Und ich war dankbar, dass Starr für mich den christlichen Osterschmuck verwendet hat.“ „Aber?“ Er seufzte. „Grundsätzlich ist es um das Passahfest gegangen.“ „Ich weiß. Im nächsten Jahr wird das anders sein. Dann stellen wir für unsere Tochter überall Körbchen auf, und sie kann die Ostereier suchen.“ „Das meine ich nicht. Ich finde es schön, dass du dein Erbe ehrst. Ich halte es auch für wichtig, dass unsere Kinder ihre Wurzeln kennen. Aber meinst du nicht, zwei Religionen wären ein wenig viel? Du legst doch so großen Wert darauf, die Kinder nicht zu verwirren.“ „Ich dachte, wir wären uns einig“, meinte Becky erstaunt. „Wir würden uns an beiden Religionen orientieren. Willst du, dass ich zum Christentum übertrete?“ „Nein, natürlich nicht, aber das Kind sollte mit einer Religion aufwachsen.“ „Mit deiner? Weißt du eigentlich, dass nach dem jüdischen Gesetz ein Kind stets in der Religion der Mutter erzogen wird? Das kommt daher, dass die Mutter immer feststand, der Vater dagegen nicht.“ „Becky, ich meine es ernst. Kinder sollten die Religion des Vaters haben. Das macht Sinn. Der Vater gibt auch den Namen weiter, wieso dann nicht den Glauben?“ Ihr war klar, dass es ihm nicht wirklich um Religion, sondern um sein Selbstbewusstsein ging. Ein Sohn sollte ganz nach ihm geraten. So war das letztlich in allen Kulturkreisen. Darin hatten Männer ihre eigenen Ansichten. Sie zog den Ring vom Finger. „Ich kann ihn nicht behalten.“ Carter sah sie ungläubig an. „Was soll das denn?“ Sie hätte wissen müssen, dass es zu schön war, um wahr zu sein. „Ich kann dich nicht heiraten, weil die Ehe eine Partnerschaft sein sollte, eine Verschmelzung. Du scheinst zu vergessen…“ Das Telefon klingelte, und Becky meldete sich. „Das war Starr“, sagte sie hinterher. „Meine Mutter und meine Großmutter bereiten alles in der Küche vor. Die anderen Gäste kommen bald.“ „Wir müssen das Gespräch später fortsetzen.“ Carter war blass. „Du wirst einsehen, dass ich Recht habe, Prinzessin. So lange behalte den Ring.“ Sie sah ihm zornig nach. Wie konnte er bloß so stur sein! Doch noch mehr ärgerte sie sich darüber, dass sie an ihn geglaubt hatte.
11. KAPITEL Die Geschenkparty hatte Becky aufgeheitert, doch nun saß sie in ihrem Zimmer auf der Couch und war deprimiert, weil sie keine Ahnung hatte, wie sie und Carter die letzte Hürde nehmen sollten. Sie war bestimmt keine beinharte Feministin, aber Carter ging einfach zu weit. Wieso sollte die Religion ihres Kindes vom Geschlecht bestimmt werden, noch dazu von Carters Geschlecht? Unruhig stand sie auf. Sie war zu müde, um sich auszuziehen, und legte sich aufs Bett. Dann träumte sie von Neuseeland. Es war wie ein Film. Plötzlich veränderte sich alles. Große grüne Papageien verwandelten sich in geheimnisvolle Wesen, und Neuseeland wurde zu einer fremdartigen Landschaft mit riesigen Farnen, gewaltigen Bäumen und Gletschern sowie Vulkanen in der Ferne. Becky lief vor etwas davon, wusste aber nicht, was es war und wohin sie wollte. Sie wusste nur, dass sie nicht stehen bleiben durfte, weil sie sonst für immer in diesem seltsamen Land verschwunden wäre. „Noch ein Bier!“ Carter gab der Kellnerin einen Wink. „Langsam“, warnte David, der ihm am Tisch gegenüber saß. „Bringen Sie lieber eine große Kanne Kaffee“, bat er die Kellnerin. „Warum sollte ich mich bremsen?“ fragte Carter. „Ich fahre nirgendwohin.“ „Stimmt, ich habe dir die Autoschlüssel abgenommen. Später bringe ich dich nach Hause, und morgen kannst du dir deinen Wagen bei mir abholen. Der Spaziergang wird dir gut tun.“ „Mir geht es bestens“, murmelte Carter. „Du bist schon weit über dein Limit, Kumpel. Was ist los? Hast du wieder Streit mit Becky?“ „Nein. Ja. Kann sein. Ich habe ihr den Ring gegeben.“ „Endlich.“ David nickte zustimmend. „Und?“ „Sie hat ihn angenommen.“ „Wo liegt dann das Problem?“ Davids Miene verdüsterte sich. „Sie hat doch keine Bedenken, oder? Wenn du ihr nämlich…“ „He, ganz locker. Ich will nicht noch ein blaues Auge.“ David hob die Hand wie zum Schwur. „Keine Gewalt. Also, was ist los?“ „Ich habe ihr den Ring an den Finger gesteckt, aber sie hat ihn wieder abgenommen. Sie ist deine Schwester, stur wie ein Maulesel.“ „Du sprichst in Rätseln. Heiratet ihr nun, oder nicht?“ Carter zögerte. Sie waren seit Jahren befreundet, aber er wusste nicht, ob er mit dem Bruder seiner Angebeteten über diese Probleme sprechen sollte. Dabei waren es nicht nur die Familienbande, sondern auch das Thema Religion, das ihm Unbehagen bereitete. Bislang hatte das nie eine Rolle gespielt, doch jetzt wollte Carter in diese jüdische Familie einheiraten. „Ich weiß nicht, ob ich ausgerechnet mit dir darüber sprechen sollte“, gestand er. „Wozu sind Freunde da? Becky ist meine Schwester, aber ich gebe zu, dass sie manchmal sehr schwierig ist.“ Die Kellnerin brachte den Kaffee, und Carter schenkte sich eine Tasse ein. „Sie möchte, dass es in unserer Familie zwei Religionen gibt.“ „Du willst das Kind als Christ erziehen“, stellte David fest. Carter räusperte sich. „Ja, so ungefähr.“ David explodierte nicht, sondern überraschte ihn. „Ich stehe ganz auf deiner Seite“, erklärte er und hob die Tasse, als wollte er Carter zuprosten. „Sicher, es würde mir gefallen, wenn mein Neffe oder meine Nichte im jüdischen Glauben heranwachsen würde, aber es ist deine Familie. Du bist das Familienoberhaupt.
Also triffst du die Entscheidungen.“ „Das klingt, als sollte Becky für mich arbeiten und nicht mich heiraten“, erwiderte Carter verunsichert. „Ich sehe uns als gleichberechtigt. Unser Kind soll mit einer Religion aufwachsen, bloß damit es nicht verwirrt wird.“ „Warum wählst du dann nicht Beckys Religion?“ fragte David. „Ich sagte doch, dass du der Haushaltsvorstand bist. Du bist der Mann. Wir leben in einer patriarchalischen Gesellschaft. So war es immer, und so wird es immer sein.“ „Ja, aber weiß Hannah das auch?“ scherzte Carter, obwohl er sich unbehaglich fühlte. Er wusste nur nicht, woran das lag. „Du kannst meinetwegen lachen, aber du weißt, dass ich Recht habe.“ David beugte sich zu ihm vor. „Betrachte die Ehe als Schiff. Es kann nur einen Kapitän geben.“ „Was ist denn so lustig?“ fragte Carter, als David plötzlich lachte. „Du hast eine gewaltige Aufgabe vor dir. Meine Schwester braucht einen guten Steuermann.“ „Also, Moment mal…“ „Komm schon, das hast du selbst gesagt. Sie ist stur wie ein Maulesel. Übernimm die Führung, und zeig ihr, dass du das Ruder in der Hand hältst. Nimm Hannah als Beispiel. Sie will nach der Geburt wieder arbeiten, aber das lasse ich auf keinen Fall zu. Eine Mutter sollte bei den Kindern zu Hause bleiben.“ Carter war Davids altmodische Ansichten allmählich leid. „Was soll das heißen? Soll ich Becky vielleicht Befehle erteilen? Die würde sie niemals befolgen.“ „Du kannst mich meinetwegen ein Weichei nennen“, sagte David kopfschüttelnd, „aber du begreifst mich offenbar nicht. Versuchen wir es auf eine andere Art. Du willst doch nicht auf Fleisch verzichten.“ „Nein, natürlich nicht. Worauf willst du hinaus, Roth?“ David lächelte vergnügt. „Ich spreche von Beckys Essgewohnheiten. Du lässt dir doch nach der Hochzeit von ihr nicht dieses vegetarische Zeug vorsetzen, oder?“ „Ich begreife noch immer nicht, was du eigentlich meinst.“ Carter verlor allmählich die Geduld. „Wenn Becky Vegetarierin bleiben will, soll mir das recht sein. Ich esse alles gern, was sie macht. Sie ist eine großartige Köchin. Allerdings muss sie mir nichts vorsetzen, wie du das nennst. Sie ist nicht meine persönliche Köchin. Sie sucht den Erfolg im Beruf und will vielleicht nicht auch noch zu Hause kochen. Ich werde ihr so weit wie möglich helfen.“ „Ich bitte dich“, meinte David geringschätzig. „Du und kochen? Hast du vorhin dein letztes Steak gegessen?“ „Sicher werde ich kochen, warum denn nicht? Und nein, das war nicht mein letztes Steak. Zu Hause werde ich vegetarisch essen, auswärts aber…“ Carter stockte. „Was ist?“ „Mir ist gerade klar geworden, dass ich mich wie ein Idiot aufgeführt habe.“ Plötzlich wusste er, was ihm an diesem Gespräch nicht gefiel. Er hatte begonnen, sich selbst in David zu erkennen, und das passte ihm nicht. „Ich verstehe dich nicht“, sagte David. „Das wirst du noch“, antwortete Carter. „Ich habe Hannah in den letzten Monaten gut kennen gelernt. Sie wirkt scheu und still, aber dir steht wahrscheinlich ein echter Schock bevor. Du glaubst doch nicht, dass sie bei deinem Unfug mitmacht, oder?“ „He, Vorsicht. Gut, dass du nicht nüchtern bist, sonst könnte ich dir das jetzt übel nehmen.“ Carter begriff nicht, warum er so mit Becky gesprochen hatte. Wann war er dermaßen intolerant geworden? Sie wollte ihr Kind frei und offen erziehen. Es
gab vielleicht nur eine Wahrheit, aber es gab viele Wege, die dorthin führten. Er dachte an Weihnachten und an das letzte Fest. Beide Male hatten sich zwei unterschiedliche Gruppen in Harmonie und Freude versammelt. Sollte er da bestimmen, welcher Weg nun der bessere war? Seit er wusste, dass er Vater wurde, ließ er sich von seiner Arroganz leiten. Ein Wunder, dass Becky ihn noch nicht weggejagt hatte. Andererseits wollte sie ihn auch nicht heiraten. Nun, sie hatte ihm den Ring nicht zurückgegeben, sondern ihn nur abgenommen. Noch bestand also Hoffnung. „Gehen wir“, drängte er und erhob sich. „Du fährst mich nicht nach Hause, sondern zu Becky. Ich muss mit ihr reden.“ „Vergisst du nicht etwas?“ fragte David. „Ich glaube, die wollen hier, dass wir bezahlen. Außerdem finde ich, dass es klug wäre, noch eine Weile zu warten. Meine Schwester soll doch nicht denken, dass sie einen Säufer heiratet.“ Da hatte David allerdings Recht. Carter war nicht betrunken, doch warum sollte er Becky einen Grund liefern, ihn abzuweisen? Also setzte er sich wieder. Anderthalb Stunden später war das Spiel im Fernsehen zu Ende, und Carter fühlte sich wieder nüchtern. Trotzdem bestand David darauf zu fahren. Er war trotz seiner seltsamen Ansichten ein guter Freund. Und in einem Punkt irrte David. Nicht vor Carter lag eine schwierige Aufgabe, sondern vor Hannah. „Becky!“ rief Christina durch die geschlossene Tür. „Wir sollten dich nicht wecken, aber Starr und ich dachten, dass du vielleicht Hunger hast. Dein Telefon funktioniert nicht. Darum bin ich heraufgekommen.“ Becky stöhnte. Das Telefon war nicht kaputt. Sie hatte den Hörer daneben gelegt. Verschlafen sah sie auf die Uhr. Himmel, fast acht! Sie stemmte sich vom Bett hoch und öffnete die Tür. „Danke, aber ich habe keinen Hunger.“ „Wenn du es dir anders überlegst, ruf einfach in der Küche an. Du hast Besuch. Sie sagt, sie hätte es nicht zur Party geschafft, aber sie hat ein Geschenk für dich. Soll ich sie heraufschicken?“ „Wer ist es denn?“ „Eleanor Prescott.“ Becky geriet in Panik. Eleanor Prescott! Becky hatte Starr gebeten, sie einzuladen, doch Eleanor hatte ohne Erklärung abgesagt. Warum war sie jetzt hier? „Lass mir einen Moment Zeit, damit ich mich frisch machen kann.“ Becky eilte ins Bad, kämmte ihr Haar und betrachtete sich im Spiegel. Ihre Sachen sahen aus, als kämen sie direkt aus einem zu voll gepackten Koffer. Bevor sie sich jedoch umziehen konnte, klopfte es. Bei Eleanors Anblick kam Becky sich noch unscheinbarer vor. Das silberblonde Haar der älteren Frau war zu einem eleganten Knoten geschlungen und ließ die glitzernden Diamantohrringe perfekt zur Geltung kommen. Zu teuren Stiefeln trug sie einen langen schwarzen Nerzmantel. Darunter hatte sie ein graues Tweed-Kostüm an. Der einzige Farbtupfer bestand in einem blauen Seidenschal. „Möchten Sie Platz nehmen?“ fragte Becky nervös und deutete zum Sofa. „Danke“, erwiderte Eleanor, „aber ich kann nicht lange bleiben.“ Becky schob den Schreibtischstuhl in den Erker und setzte sich. „Es tut mir Leid, dass Sie nicht zur Party kommen konnten.“ Eleanor reichte ihr eine kleine Schatulle. „Das ist für Sie. Öffnen Sie es später. Unter den gegebenen Umständen verstehen Sie sicher, warum ich es Ihnen nicht früher gebracht habe.“ Unter welchen Umständen? Ging es darum, dass Eleanor nichts mit der Mutter
des unehelichen Kindes ihres Sohnes zu tun haben wollte? „Danke“, sagte sie, nahm das Geschenk an und musterte Eleanor verstohlen. Wie konnten zwei Menschen einander so ähnlich und doch so verschieden sein? Eleanor hatte die gleichen grauen Augen wie Carter, aber ihre wirkten kalt. Außerdem war ihre Ausstrahlung streng und distanziert. „Sie fragen sich vermutlich, warum ich hier bin.“ Eleanor zog die Handschuhe aus. „Ich rede nicht lange um den heißen Brei herum. Ich bekam einen Anruf von meiner Schwiegertochter. Sie wissen, Carters erste Frau Wendy St. Claire. Sie stammt aus einer der besten Familien in New England. Sie vertraute mir an, Carter wolle sich wieder verheiraten. Mir gegenüber hat er sich nur sehr vage dazu geäußert, ob er der Vater Ihres Kindes sei. Es wäre aber immerhin möglich, dass er wirklich an Heirat denkt. Stimmt das?“ Becky zögerte. Carter hatte seiner Mutter von dem Kind erzählt, aber bestimmt nie angedeutet, er könnte nicht der Vater sein. Außerdem behauptete Eleanor, Carter und Wendy würden miteinander sprechen. Das war höchst unwahrscheinlich. Carter brachte kaum den Namen seiner Exfrau über die Lippen. „Carter und ich sprechen noch darüber“, erwiderte Becky vorsichtig. „Dann ist es gut, dass ich hier bin.“ „Und warum genau sind Sie hier, Mrs. Prescott?“ fragte Becky misstrauisch. „Ich möchte Sie an einem Fehler hindern, damit Sie nicht das Leben meines Sohnes zerstören.“ Eleanor redete tatsächlich nicht um den heißen Brei herum. „Mrs. Prescott, ich versichere Ihnen…“ „Ja, ich weiß, Sie denken nur an Carters Glück. Aber wenn das stimmt, wie können Sie ihm das antun? Ist Ihnen klar, dass er auf die Partnerschaft bei Sullivan & Walters verzichtet, wenn er das Projekt in Neuseeland aufgibt?“ „Die Beförderung hängt nicht von diesem Projekt ab“, erwiderte Becky und zwang sich zu Geduld. Eleanor nickte. „So ist Carter. Er erfindet etwas, um jemanden zu schonen. Darum hat er Ihnen das erzählt. Er gibt stets auf, was für ihn wichtig ist. Ich erzähle Ihnen jetzt etwas, meine Liebe, und danach sehen Sie bestimmt ein, wieso eine Ehe zwischen Ihnen und meinem Sohn nicht funktionieren kann.“ Becky erinnerte sich, dass Carter nicht ausdrücklich gesagt hatte, er würde als Partner in die Firma einsteigen können. Sie sollte Eleanor wegschicken und später mit Carter über alles sprechen. Sie liebte ihn, er liebte sie, und nur das zählte. „Bitte, sprechen Sie“, forderte sie die Besucherin dennoch auf. „Vermutlich hat er Ihnen nie erzählt, was zwischen ihm und Wendy geschehen ist.“ Becky wandte den Blick ab. „Wir sprechen nicht über unsere früheren Ehen.“ „Das dachte ich mir. Geheimnisse. Keine gute Grundlage für eine Ehe, finden Sie nicht auch? Es überrascht mich allerdings kaum, dass er nichts erzählt hat. Darauf ist er nämlich bestimmt nicht stolz.“ Becky wusste, dass sie sich das nicht anhören sollte. Hätte Carter gewollt, dass sie diese Dinge erfuhr, hätte er selbst darüber gesprochen. Dennoch hielt sie Eleanor nicht auf. „Und weiter?“ verlangte sie. „Nach der Hochzeit mit Wendy lehnte er das Angebot eines großen Architekturbüros in Los Angeles ab, damit sie in New York als Anwältin arbeiten konnte. Stattdessen trat er in Joe Sullivans Büro in Middlewood ein. Die Firma war damals noch klein. Wendy pendelte zwischen Middlewood und New York hin und her. Als es jedoch mit ihrer Karriere bergauf ging, ertrug Carter das nicht. Er
kam nicht voran und verübelte ihr das.“ Eleanor lachte verächtlich. „Genau wie sein Vater erträgt er keine starke Frau. Wendy sollte die Arbeit aufgeben und Kinder bekommen. Ständig gab es Streit. Als sie vermutlich durch ein Versehen doch schwanger wurde, war er begeistert. Er würde Vater werden! Wenn ihn schon die eigene Frau nicht respektierte, so würde es wenigstens ein Kind geben, vor dem er glänzen konnte.“ Wie konnte eine Mutter bloß so über ihren Sohn sprechen? Becky verkniff sich eine scharfe Bemerkung und wartete ab, was Eleanor noch zu sagen hatte. „Erneut kam es zum Streit“, fuhr Eleanor missbilligend fort, „weil er verlangte, dass sie sofort aufhören sollte zu arbeiten. Laut Wendy rannte er wie ein zorniges Kind aus dem Haus und kam die ganze Nacht nicht zurück. Am nächsten Tag erlitt sie eine Fehlgeburt. Es hatte einfach nicht sein sollen, aber er dachte, der von ihm verursachte Stress wäre daran schuld gewesen. Das war das Ende der Ehe, weil nun auch noch seine Schuldgefühle hinzukamen.“ „Und was hat das alles mit mir und Carter zu tun?“ fragte Becky möglichst ruhig, obwohl sie schon ahnte, was Eleanor gleich sagen würde. „Wenn Carter in Middlewood bleibt“, erklärte Mrs. Prescott, „ist es mit seiner Zukunft vorbei. Die Partnerschaft hängt einzig und allein von dem Auftrag in Neuseeland ab, ganz gleich, was er Ihnen gesagt haben mag. Und er wünscht sich den Aufstieg schon sehr lange. Glauben Sie ernsthaft, er könnte auf diese Weise glücklich werden? Im Moment findet er es richtig, Sie zu heiraten. Er sieht sich wohl als edler Ritter, aber das wird nicht anhalten. Er hat Wendy nicht verziehen, dass er ihretwegen auf die Stelle in Kalifornien verzichtet hat. Wie lange wird es dauern, bis er Ihnen seinen Karriereknick verübeln wird?“ Becky wünschte, die Zeit zurückdrehen zu können. Dann würde sie Carter sagen, dass sie ihn heiraten wollte, und gemeinsam mit ihm sämtliche Probleme lösen. Nun war es zu spät. Nun wusste sie Bescheid, und alles hatte sich geändert. Sie durfte nicht wissentlich sein Glück zerstören. „Ich kann ihn begleiten“, versicherte sie, aber konnte sie tatsächlich die nächsten zwei Jahre ihres Lebens opfern? „Sie denken nicht realistisch, meine Liebe. Ich weiß doch, wie verwurzelt Sie und Ihre Familie hier sind. Sie alle halten eng zusammen. Wollen Sie denn wirklich mit einem Neugeborenen durch die Welt reisen? Und selbst, wenn Sie das täten, was wäre später? Geben Sie es doch zu. Sie würden doch nie für längere Zeit von ihm getrennt sein wollen.“ Eleanor stand auf. „Nun, ich habe alles gesagt. Das Weitere liegt bei Ihnen. Ich bin sicher, dass Sie zur richtigen Entscheidung kommen, wenn Sie gründlich nachgedacht haben. Sie und Carter werden ein Arrangement finden, mit dem Sie beide zufrieden sein können. Sollte Ihnen sein Angebot allerdings nicht weit genug gehen, können Sie sich jederzeit an mich wenden. Wir beide einigen uns bestimmt.“ Becky stellte angewidert fest, dass Eleanor tatsächlich glaubte, sie würde sich kaufen lassen. Leider ergab das meiste, was Eleanor gesagt hatte, einen Sinn. Schließlich wollte sie ihre eigenen Träume nicht aufgeben und konnte daher auch von Carter nicht verlangen, auf seine Chancen zu verzichten. Während sie Eleanor zur Tut brachte, hielt sie verzweifelt die Tränen zurück. Vor dieser Frau wollte sie nicht weinen. Eine solche Genugtuung gönnte sie ihr nicht. Sobald Becky allein war, öffnete sie das Geschenk. In der Schatulle lag eine kleine silberne Rassel. Becky schüttelte sie. Nichts. Es war ein reiner Ziergegenstand, den sie in die Schublade neben den Ring von Carter legte. Sie sank aufs Bett und starrte zur Decke. Ausgeschlossen, Carter nach Neuseeland zu begleiten. Sie gehörte hierher zu Familie und Freunden. Und was
war mit ihrem Partyservice? Sollte sie darauf verzichten, nur weil Carter etwas gegen erfolgreiche Frauen hatte? Noch wichtiger aber war, dass sie sich nicht selbst verlieren durfte. Nie wieder wollte sie sich den Träumen eines anderen unterwerfen. Schon mal war sie dadurch fast untergegangen. Nie wieder! War sie selbstsüchtig? Vielleicht, sogar wahrscheinlich. Einerseits wollte sie auf ihr jetziges Leben und ihre Pläne verzichten, doch so gern sie mit Carter zusammen gewesen wäre, konnte sie nicht wieder zurückstecken. Das hatte sie ein Mal getan, und wohin das geführt hatte, wusste sie. Sie war zu einer leeren Hülle geworden. Kein Wunder, dass Jordan sie verlassen hatte. Wer respektierte schon ein Nichts? Sie drückte das Gesicht in die Kissen, damit niemand sie weinen hörte. Jetzt wusste sie, was zu tun war. Sie musste Carter dazu bringen, nach Neuseeland zu gehen. Ohne sie. Carter ging vor dem Sofa auf und ab. „Das ist völlig unverständlich. Ich habe dir gesagt, dass ich im Unrecht war, und ich meine es auch so. Du hast erklärt, eine Ehe sollte eine Partnerschaft sein, in der unterschiedliche Dinge miteinander verschmelzen. Ich verstehe nicht, wieso du deine Meinung geändert hast.“ „Weil ich erkannt habe, dass du Recht hast. Mehr als eine Religion wäre verwirrend. Tut mir Leid, Carter, aber ich kann dich nicht heiraten. Man braucht nicht nur ein gemeinsames Ziel, sondern auch einen gemeinsamen Hintergrund. Heutzutage gibt es für eine Ehe dermaßen viele Schwierigkeiten, dass wir doch gar keine Chance hätten, wenn wir uns darauf einließen. Zu viel spricht dagegen.“ Er blieb vor ihr stehen. „Dann wechsle ich den Glauben.“ „Das ist doch Unsinn. Man kann die Religion nicht wechseln wie ein Kleidungsstück. Das würde dich zum Heuchler machen.“ Dabei fühlte Becky sich im Moment wie eine Heuchlerin. Andererseits blieb ihr keine andere Wahl. Sie konnte ihm nicht den wahren Grund nennen, warum sie ihn abwies. Er hätte ihre Entscheidung nicht akzeptiert, sondern behauptet, nicht nach Neuseeland gehen zu wollen. Vermutlich hätte er sogar selbst geglaubt, was er sagte, doch wie ging es dann weiter? Bubbe sagte stets: „Ein Mann kann alles machen, was er will. Es liegt aber bei der Frau, dass er weiß, was er will.“ Und das traf jetzt genau zu. Carter mochte davon überzeugt sein, in Middlewood bleiben zu wollen. Becky wusste jedoch, dass er es bereuen würde. Carter setzte sich zu ihr aufs Sofa. „Ich verstehe dich nicht. Bist du noch wütend auf mich? Ich habe dir doch erklärt, dass ich im Unrecht war und dass dein Bruder mir auf die Sprünge geholfen hat. Du wirst es nicht glauben, aber auch Wendy hat mir die Augen geöffnet. Seit sie mich besucht hat…“ „Wie bitte?“ „Ich wollte es dir bei Gelegenheit erzählen.“ „Wann war das denn? Wann hast du Wendy gesehen, und wann wolltest du es mir erzählen?“ „Das ist doch unwichtig. Ich will dir begreiflich machen, dass zwei Menschen nicht den gleichen Hintergrund haben müssen, damit eine Ehe klappt. Sieh doch nur, was aus meiner Ehe geworden ist – oder aus deiner. Wendy und ich passten scheinbar großartig zusammen, aber wir sind geschieden, genau wie du und Jordan.“ „Wichtig ist, dass du mir dieses Zusammentreffen verschwiegen hast. Womöglich willst du auch noch, dass wir alle Freunde werden. Du sprichst schon wie Jordan. Genau das hat er mir nämlich vorgeschlagen. Was ist das bloß mit Männern und
ihren Exfrauen. Ihr versetzt uns einen Tritt, aber dann wollt ihr gute Freunde sein.“ „Wovon redest du? Und wann hast du mit Jordan gesprochen?“ „Ich… also…“ „Aber du wirfst mir vor, ich hätte dir etwas verschwiegen! Wann hast du ihn gesehen? Und warum hast du mir nichts davon erzählt? Ach, verstehe!“ „Wie bitte?“ fragte sie verwirrt. „Was verstehst du?“ „Seit dein Bruder mich bei dir abgesetzt hat, suchst du Streit. Du kannst es gar nicht erwarten, dass ich nach Neuseeland gehe. Jetzt verstehe ich alles. Jordan, nicht wahr? Du versöhnst dich mit deinem Ex.“ „Hast du den Verstand verloren?“ fragte sie ungläubig. „Ich bin von einem anderen Mann im achten Monat schwanger. Was sollte Jordan da von mir wollen?“ „Auf der Fahrt ins Krankenhaus, am Morgen nach dem Schneesturm, hast du nach ihm gerufen. Sicher, du hattest Fieber, aber du wolltest deinen Exmann und nicht mich. Gib zu, dass du ihn nicht vergessen hast. Deshalb willst du auch unbedingt zurück nach New York.“ Becky lag bereits eine scharfe Antwort auf der Zunge, doch seine Eifersucht gefiel ihr, weil sie sich dadurch sicherer fühlte. Moment! Sie wollte ihn doch freigeben und nicht an sich binden! Trotzdem durfte sie ihn nicht nach Neuseeland schicken in dem Glauben, sie und ihr Exmann hätten etwas hinter seinem Rücken abgesprochen. „Erstens nimmt Jordan eine Stelle am Danbury Hospital an. Zweitens heiratet er wieder. Hörst du, Carter, er wird heiraten, genau wie wir. Das heißt, wir werden nicht heiraten.“ Carter schüttelte den Kopf. „Na, wir sind vielleicht ein Paar, du und ich! Da streiten wir uns unserer Expartner wegen.“ Er wurde sehr ernst. „Was ist los, Becky? Worum geht es wirklich?“ Sie seufzte schwer. Der Versuch, ihn edelmütig freizugeben, war gescheitert. „Deine Mutter war hier und hat mir ein Geschenk für das Baby gebracht. Und dann hat sie mir erklärt, wieso du dich von Wendy getrennt hast. Außerdem hat sie mir die Wahrheit über deine Beförderung erklärt. Ich kann nicht zulassen, dass du auf Neuseeland verzichtest. Du würdest die Partnerschaft verlieren, für die du hart gearbeitet hast.“ „Meine Mutter?“ Er runzelte die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen. Sie ist unverbesserlich. Ich habe dir bereits erklärt, dass die Partnerschaft nicht davon abhängt, ob ich nach Neuseeland gehe oder nicht. Das ist aber nicht der Hauptpunkt. Wie soll ich dich davon überzeugen, dass du meine Zukunft bist? Du und das Kind. Ich will, dass wir eine richtige Familie werden, aber du suchst ständig nach Ausreden, um mich wegzustoßen.“ „Eine richtige Familie“, wiederholte sie. „Du hast bestimmt Vorstellungen von einer richtigen Familie, doch das sind Fantasien. Das bist nicht du, Carter. Du musst durch die Welt ziehen und vor Ort an deinen Projekten arbeiten. Du kannst nicht zu Hause bei Frau und Kind hocken. Irgendwann würdest du mir das verübeln und mich verlassen.“ „Ich gehe ohne dich nirgendwohin.“ „Jeder geht irgendwann weg“, behauptete sie erstickt. „Jordan hat mich verlassen, und du hast Wendy verlassen.“ Er lächelte betrübt. „Ich weiß, dass du denkst, ich hätte meine Ehe beendet, doch so war es nicht. Ja, wir haben, gestritten. Ja, ich bin weggegangen. Wendy hat mir erklärt, dass sie das Kind nicht will. Ich war so zornig, dass ich die Nacht bei David verbracht habe, aber ich bin zurückgegangen, Becky. Am nächsten
Vormittag wollte ich vernünftig mit ihr reden. Unseres Kindes wegen wollte ich, dass die Ehe klappt. Ich wäre bereit gewesen, nach New York zu ziehen und von dort aus hierher zur Arbeit zu fahren. Sie sollte sich keine unnötigen Belastungen aufbürden. Wäre ich bloß in jener Nacht bei David geblieben…“ Sekundenlang war nur das Ticken der Uhr auf der Kommode zu hören. „Was ist passiert?“ fragte Becky leise und entdeckte tiefe Trauer in seinem Blick. „Ich habe den ganzen Tag auf Wendy gewartet“, berichtete er, „aber sie ist nicht nach Hause gekommen. In ihrem Büro erfuhr ich, dass sie nicht zur Arbeit erschienen war. Ihre Freunde hatten nichts von ihr gehört. Ich war außer mir. Am nächsten Morgen rief sie mich aus einem New Yorker Hotel an. Sie erklärte, sie würde am Wochenende zu mir kommen und ihre Sachen packen. Die Ehe wäre beendet.“ „Weil sie eine Fehlgeburt hatte“, warf Becky ein. „Sie hatte keine Fehlgeburt“, erwiderte er tonlos, „sondern eine Abtreibung.“ Becky legte wie schützend die Hand auf ihren Bauch. „Um Himmels willen, Carter, ich…“ Im selben Moment durchzuckte sie ein heftiger Schmerz. „Becky, alles in Ordnung?“ „Es tut weh“, stieß sie hervor. „Oh, tut das weh!“ Der Schmerz war so heftig, dass sie sich krümmte. „Becky!“ drängte Carter. „Becky, was hast du?“ Sie konnte nicht antworten, weil sie keine Luft bekam. Im nächsten Moment wurde ihr schwarz vor Augen.
12. KAPITEL „Ich möchte wissen, welche Namen ihr ausgesucht habt.“ Carter blickte zu Gertie hoch. Sie stand im Wartezimmer vor ihm und stemmte die Hände in die Hüften. „Wie bitte?“ fragte er benommen. Die letzten Stunden waren für ihn wie ein verschwommener Traum gewesen. Becky war in der Pension gleich wieder zu sich gekommen und hatte behauptet, ihr ginge es gut. Ihr Gesicht und ihre Hände waren jedoch geschwollen. Darum hatte Carter sie sofort ins Krankenhaus bringen wollen. Er trug sie bereits zur Tür, als ihm einfiel, dass er keinen Wagen hatte. Starr und Christina waren außerdem ins Kino gegangen. Er wollte gerade einen Krankenwagen anfordern, als seine Mutter ihn auf seinem Handy anrief und etwas von Wendy erzählte. Er schnitt ihr das Wort ab und verlangte von ihr, sofort zu ihm zu kommen. Fünf Minuten später traf sie in der Pension ein. Carter übernahm den Wagen und raste mit Becky ins Krankenhaus. „Ihr müsst das Kind nach einem Verstorbenen nennen“, behauptete Gertie. „Das ist ein jüdisches Gesetz.“ „Das ist kein Gesetz“, widersprach David, „sondern eine Tradition.“ „Dann ist das also geklärt“, vermutete Gertie. „Wir nennen sie Judith nach meiner älteren Schwester, möge sie in Frieden ruhen.“ „Und wenn es ein Junge wird?“ fragte Eleanor. „Dann sollte er Carter heißen. Carter Prescott IV. Das ist unsere Tradition.“ Beckys Großmutter tat, als würde sie ausspucken. Carter wusste, dass das ein Brauch war, um böse Geister abzuwehren. „Er ist nicht tot.“ „Chaim“, sagte Gertie. „Wir nennen ihn nach meinem Vater. Der ist tot.“ Beckys Großmutter schüttelte den Kopf. „Ich habe meinen Chaim geliebt, aber willst du, dass die anderen Kinder den Jungen in der Schule auslachen? Wir sind nicht in der alten Heimat, sondern in Amerika. Einem Jungen könnten wir den hebräischen Namen Chaim zwar geben, aber wir werden ihn besser Charlie nennen.“ Gertie nickte. „Charles.“ „Chuck“, sagte David. „Habe ich denn gar kein Mitspracherecht?“ warf Eleanor ein. „Was ist denn gegen den Namen Carter einzuwenden? Carter I. und Carter II. sind bereits tot.“ „Aber Carter III. noch nicht“, bemerkte Carter spöttisch. „Hüte deine Zunge“, warnte Gertie, und Beckys Großmutter spuckte erneut. Carter traute seinen Ohren nicht. Wieso sprachen sie hier über sein Dahinscheiden und den Namen des Kindes, während Becky im OP lag? Jetzt wünschte er sich, seine Mutter in der Pension zurückgelassen und Gertie nicht angerufen zu haben. Andererseits war ihm nichts anderes übrig geblieben, als die Familie zu verständigen. Es lag eindeutig an der Anspannung. Deshalb benahmen sich Menschen seltsam. Seine Mutter war das beste Beispiel dafür. Sie weinte seit ihrem Eintreffen im Krankenhaus. Unheimlich, was so ein Kind bewirkt, dachte er. Es verwandelte sogar einen Stein in ein Herz. Er stand auf und ging nervös hin und her. Obwohl Dr. Boyd versichert hatte, alles würde gut gehen, hatte er Angst. Er hatte Dr. Boyd noch von der Pension aus verständigt, und sie war sofort in die Notaufnahme gekommen. Dort hatte sie bei Becky einen alarmierend hohen Blutdruck festgestellt, der eine sofortige Entscheidung nötig machte. Das Kind musste per Kaiserschnitt auf die Welt geholt werden. Die Krankenschwestern hatten ihm erklärt, bei einem normalen Kaiserschnitt
hätte er bei Becky bleiben können. Sie hätte eine Rückenmarksnarkose bekommen, so dass sie während des Eingriffs wach geblieben wäre. Es ging aber bei ihr um jede Minute, deshalb hatte man sofort eine Vollnarkose eingeleitet. Eleanor betupfte mit einem Taschentuch vorsichtig ihre Augen. „Das ist alles meine Schuld. Bestimmt hat Becky sich darüber aufgeregt, was ich mit ihr besprochen habe. Ich hätte mich nicht einmischen dürfen.“ „Ihr Zustand hat nichts mit dir zu tun“, erklärte Carter gereizt. „Aber es stimmt, du hättest dich nicht einmischen dürfen. Und ich sage dir etwas. Wenn du am Leben deines Enkelkindes teilnehmen willst, solltest du dich ab sofort zurückhalten.“ „Spricht man so mit seiner Mutter?“ fragte Gertie kopfschüttelnd. „Und du glaubst, es ist einfach mit Kindern? Warte nur, bis dein Kind älter wird. Dann wünsche ich dir die gleichen Probleme! Kann ja sein, dass deine Mutter komische Ideen hat, und es kann auch sein, dass sie ein wenig aufdringlich ist, aber ist es ein Verbrechen, dass sie das Beste für dein Kind will?“ „Das Beste für sich selbst“, widersprach Carter. „Zu meiner Zeit haben Kinder gemacht, was man ihnen gesagt hat“, hielt Gertie ihm vor. „Ich gebe ja zu, dass, ich etwas streng war.“ Eleanor schnauzte sich dezent die Nase. „Aber nachdem Carters Vater gestorben war, konnte ich nicht… wollte ich nicht…“ Carter seufzte. Seine Mutter lieferte heute ihre bisher beste Vorstellung. „Mutter, du hast Vater vertrieben. Ihr wart schon drei Jahre getrennt, als er starb.“ „Sag mal, was ist los mit dir?“ tadelte Gertie. „Wie viele Mütter hast du denn? Glaubst du, sie wird immer da sein? Na schön, vielleicht ist sie hochnäsig, aber da tun wir schon was dagegen. Schließlich wird sie auch zur Familie gehören.“ „Machetunim“, sagte Beckys Großmutter. „So nennen wir die angeheirateten Verwandten.“ Sie kam zu Carter und umarmte ihn. „Nenn mich Bubbe.“ Dann wandte sie sich an Eleanor. „Du auch. Nenn mich Bubbe.“ Eleanor erstarrte zuerst, doch dann ergriff sie zu Carters Erstaunen die Hände der alten Frau. „Entschuldigung.“ Eine hübsche junge Krankenschwester war hereingekommen. „Carter, du hier?“ sagte sie zu David. „Was machst du denn hier?“ „Sie irren sich.“ David zeigte zu Carter. „Sie meinen ihn.“ „Nein, nein, dich. Carter Prescott III. Diese Grübchen würde ich doch jederzeit wieder erkennen.“ Die junge Frau sah ihn fragend an. „Du erinnerst dich nicht an mich. Ich bin Maria, Maria Taylor. Wir haben uns in Snooky’s Lounge kennen gelernt.“ David lief rot an und blieb wie angewurzelt auf seinem Stuhl sitzen. „Du brauchst nicht aufzustehen“, bemerkte Maria kühl. „Überanstreng dich bloß nicht.“ Carter erinnerte sich an die Unterhaltung mit seinem Freund. David hatte erzählt, er hätte eine Frau in einer Bar kennen gelernt, aber es wäre nichts vorgefallen. „Ich sollte wütend auf dich sein“, sprach die junge Frau weiter. „Du hast mich nie angerufen.“ „Willst du uns nicht miteinander bekannt machen?“ fragte Hannah und sah ihren Mann scharf an. David seufzte nur. „Wer ist diese Frau?“ fragte Gertie. „David, was hast du angestellt?“ „Das geht uns nichts an“, warf Aaron ein. „Lass doch die Kinder…“ „Was ist los mit dir, Aaron? Eine fremde Frau bricht in die glückliche Ehe deines Sohnes ein, und du sagst, dass uns das nichts angeht? Tu was!“
„Maria, das ist meine Frau Hannah“, stellte David tödlich verlegen vor. „Und das sind meine Angehörigen. Wir sind hier wegen Becky Roth, die bald Becky Prescott heißen wird… vielleicht, vielleicht auch nicht. Meine Frau bekommt auch ein Kind.“ „Und mir hast du nicht mal gesagt, dass du verheiratet bist!“ rief Maria, warf ihm einen bösen Blick zu und wandte sich an Hannah. „Viel Glück, Mrs. Prescott. Ich glaube, Sie und die andere Mrs. Prescott werden es brauchen.“ Gertie fasste sich ans Herz. „Also wirklich! So etwas sollte keine Mutter sich mit anhören müssen.“ „Unglaublich, David!“ fuhr Carter seinen Freund an, nachdem die Krankenschwester den Raum verlassen hatte. „Du hast ihr meinen Namen genannt. Was hast du dir dabei bloß gedacht?“ „Was ist hier eigentlich los?“ fragte Hannah ziemlich energisch. „Nichts“, murmelte David. „Ich habe sie in einer Bar getroffen – vor unserer Hochzeit“, fügte er hastig hinzu. „Warum hast du mir das nicht erzählt? Und warum hast du ihr gesagt, du wärst Carter?“ David drückte Hannahs Hände. „Ach, Schatz, das war völlig unwichtig. Wir hatten gestritten, weil du mir ein Ultimatum gestellt hast. Es ist nichts passiert, ich schwöre es dir. Wir haben nur geredet und etwas getrunken, und danach bin ich sofort zu dir gekommen und habe dir den Heiratsantrag gemacht.“ „Und warum hast du nichts davon erzählt, wenn es völlig unwichtig war?“ Hannah zog die Hände zurück. „Die arme Hannah ist ja so süß und verständnisvoll! Die arme, naive Hannah hat keine Ahnung, was hinter ihrem Rücken vor sich geht. Es reicht mir, dass du mir sagst, was ich tun kann und was nicht, während du denkst, dass du dir alles erlauben kannst. Du spielst dich auf, aber das wird sich ändern. Erstens werde ich wieder arbeiten, wenn das Kind auf der Welt ist, mit oder ohne deinen Segen. Keine Angst, ich glaube nicht, dass du mit deiner Krankenschwester Doktor gespielt hast, aber ich begreife einfach nicht, warum du mir nichts erzählt hast!“ David sank in sich zusammen. „Da siehst du, was du angerichtet hast“, zischte er Carter zu. „Ich? Was habe ich denn getan?“ „Hannah ist erst durch Beckys Schwangerschaft auf solche Ideen gekommen. Das ist alles deine Schuld.“ „Du bist völlig durchgedreht“, stellte Carter amüsiert fest. „Was ist? Willst du mich wieder schlagen? Hannah hat Recht. Du spielst dich ziemlich auf.“ „Ich? Das sagst ausgerechnet du, ein Mann, der so mit seiner Mutter redet? Und von wegen völlig durchgedreht! Es ist gut, dass Becky dich nicht heiraten will. Du hast die ganze Familie schon genug durcheinander gebracht. Seit du sie geschwängert hast…“ Carter schoss auf David zu, packte ihn am Kragen und zog ihn vom Stuhl hoch. Er ballte schon die Faust und wollte zuschlagen, als ihn von hinten zwei dünne Arme festhielten. „Lass ihn los!“ befahl Gertie ihrem Mann. „Denk an dein Leiden!“ Aaron gehorchte nicht. „David, entschuldige dich, sonst lasse ich deinen Freund los. Ich würde dich ja zuschlagen lassen“, sagte er zu Carter. „Ich hätte dem Jungen schon längst die Leviten lesen sollen, aber dann hätte meine Frau nie wieder mit mir gesprochen. Nun, vielleicht wäre das ein Segen gewesen“, fügte er mit einem Seufzer hinzu. Carter hätte sich zwar mühelos von Aaron befreien und David niederschlagen können, doch er stellte sich schwach. In all den Jahren, die er diese Familie nun
schon kannte, zeigte Aaron das erste Mal Rückgrat. Außerdem lag alles nur an der Anspannung, mit der Menschen unterschiedlich umgingen. „Tut mir Leid“, sagte David und setzte sich wieder neben seine Frau. Hannah presste die Lippen aufeinander und blickte starr geradeaus. Aaron ließ Carter los und sagte zu den anderen: „Diese Streiterei muss aufhören. Ich werde Großvater, und was muss ich mir anhören?“ „Aaron, setz dich“, befahl Gertie. „Und du! Nur zu deiner Information – ich habe kein Leiden. Mein einziges Leiden bist du. Ständig höre ich von dir nur, dass du Großmutter werden willst. Jetzt ist es endlich so weit, und du machst eine Szene. Immer machst du Szenen! Also, ich verbiete dir zu sprechen, bis das alles vorbei ist, hast du gehört? Ich verbiete es dir!“ „Aaron, bitte, du machst dich zum Narren.“ „Still!“ schrie er und lief dunkelrot an. „Oh!“ Gertie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Mr. Roth?“ Eine Frau in einem grünen Kittel trat ein. David und Aaron blickten hoch. „Ja?“ Verunsichert betrachtete sie Aaron und wandte sich dann an David. „Gratuliere, Mr. Roth, Sie sind Vater geworden. Ich bin Sally Reynolds, eine der Geburtshelferinnen, und ich war bei der Entbindung dabei. Alles ist perfekt gelaufen. Becky kommt soeben aus dem OP. Mutter und Kind geht es blendend.“ „Ich bin der Mr. Roth, den Sie suchen“, erklärte Carter und trat aufgeregt näher. „Wann kann ich Becky sehen?“ „Sie muss erst noch in den Aufwachraum, aber Sie können auf die Neugeborenenstation gehen. Der Kinderarzt hat das Baby vor zehn Minuten nach oben gebracht. Ich bringe Sie hin.“ „Ist es ein Junge oder ein Mädchen?“ „Ein Mädchen“, erwiderte die Schwester lächelnd. „Ein gesundes Mädchen, eintausendneunhundertachtzig Gramm.“ Eine Tochter! Er stellte sich Becky als Baby vor und hatte das Gefühl, sein Herz würde zerspringen. „Nur zwei Kilo?“ rief Gertie. „Das ist ja ein Winzling!“ „Sie ist klein“, bestätigte die Schwester lachend, „aber völlig gesund. Sie liegt jetzt im Brutkasten.“ „Sie sagten doch, dass es ihr gut geht“, wandte Eleanor ein. „Wie lange muss sie denn im Krankenhaus bleiben?“ „Im Brutkasten wird nur ihre Temperatur konstant gehalten“, erklärte die Schwester. „Zur Vorsicht wird sie einige Wochen bei uns bleiben. Auch ein gesundes Frühchen kann erst nach Hause, wenn es fünf Pfund wiegt und der Sauginstinkt voll entwickelt ist.“ Endlich brach im Wartezimmer Freude aus. Alle riefen „Mazel tov“, lachten, weinten und redeten gleichzeitig. Gertie und Eleanor wischten sich glücklich die Tränen von den Wangen. David umarmte Hannah und entschuldigte sich gleichzeitig. Aaron schüttelte Carter die Hand. Carter stand wie benommen da. Eine Tochter. Er hatte eine Tochter! „Ein Mädchen!“ Gertie strahlte. „Komm, Eleanor, wir sehen uns unser Enkelkind an.“ „Nur der Vater darf in die Abteilung für Frühgeburten“, erklärte Schwester Reynolds. „Tut mir Leid, Vorschrift.“ „Aber wir sind doch die Familie!“ protestierte Eleanor. „Roth wird meine Schwiegertochter.“ Gertie wandte sich lächelnd an die Schwester. „Sie reden da von unserer
Enkeltochter Judith Roth.“ „Catherine Prescott“, widersprach Eleanor. „Nach eurer Tradition bekommt das Kind doch den Namen einer Verstorbenen. Catherine war meine Mutter.“ „Judith“, sagte Gertie entschieden. „Sie heißt Judith.“ „Ich sehe nicht ein, wieso…“ Carter folgte Schwester Reynolds auf den Korridor. Er hätte sich denken können, dass der Frieden nicht lange anhalten würde, doch er strahlte, und an seinem Glück änderten auch alle Familienkabbeleien nichts. Auf der Station musste Carter einen Kittel anziehen und sich die Hände waschen. Plötzlich ging ein Alarm los. Eine andere Schwester lief zu einem Brutkasten und rüttelte ihn behutsam. „Komm, Allan“, drängte sie. „Atmen, Allan!“ „Manchmal vergessen die Kleinen zu atmen“, erklärte Schwester Reynolds. „Das kommt oft vor und ist ebenfalls ein Grund, weshalb wir die Frühchen erst entlassen, wenn es mindestens achtundvierzig Stunden keinen Zwischenfall mehr gegeben hat.“ „Ich bin Candice Walker, die Nachtschwester“, stellte sich die andere Frau vor. „Ich kümmere mich um Ihr kleines Mädchen.“ Sie deutete auf den dritten Inkubator. „Und da ist sie.“ Carter hatte Herzklopfen, als er die Hand auf den Inkubator legte und das Baby einen Laut von sich gab. Candy lachte. „Sie ist lauter als die anderen. Ein gutes Zeichen, dass die Lungen gut entwickelt sind. Möchten Sie Ihre Tochter halten?“ „Geht das? Sie ist so klein.“ „Klein, aber kräftig“, beruhigte Candy ihn und deutete auf einen Schaukelstuhl. „Sie braucht die Berührung. Setzen Sie sich. Ich bringe sie Ihnen“, fuhr sie fort und reichte ihm gleich darauf das Neugeborene. „Wenn Sie mich brauchen, bin ich da drüben. Sie darf aber nur wenige Minuten außerhalb des Inkubators bleiben. Ansehen dürfen Sie die Kleine, solange Sie wollen. Manche Eltern singen ihren Babys etwas durch die Scheiben vor.“ Carter war tief berührt, öffnete behutsam die Decke und betrachtete die winzigen Händchen seiner Tochter. Sie hatte das hübscheste Gesicht, das er jemals gesehen hatte. Für ihn sah sie aus wie Becky. „Hallo, Schätzchen“, flüsterte er, „ich bin dein Daddy.“ In diesem Moment hätte er geschworen, dass sie ihn anlächelte. Die Schwestern hätten zwar behauptet, das wäre nicht möglich, aber sie hätten sich geirrt. Schließlich war sie sein Kind. Viel zu schnell legte Candy das Baby wieder in den Inkubator, doch Carter blieb, weil man ihn demnächst hoffentlich zu Becky lassen würde. Becky öffnete die Augen und blickte in Carters Gesicht. „Hast du sie gesehen?“ fragte sie benommen. „Geht es ihr gut?“ „Sie ist wunderbar“, versicherte er gerührt. „Ich kann es nicht erwarten, sie endlich zu halten. Als ich kurz wach wurde, hatten sie die Kleine schon weggebracht. Du bist doch nicht enttäuscht?“ „Wieso denn enttäuscht?“ „Weil es kein Junge ist.“ „Ich wollte von Anfang an ein Mädchen. Das war mir nur nicht klar. Sie ist perfekt, Becky, genau wie du.“ Er setzte sich auf die Bettkante. „Ich will, dass wir noch heute heiraten. Ich rufe einen Friedensrichter, und unsere Familie soll dabei sein.“ „Das geht nicht“, widersprach Becky betrübt. „Das Kind ändert nichts. Deine Mutter hat Recht, ich darf dich nicht anketten. Du kannst nicht alles aufgeben, weil du denkst, dass ich dich brauche. Darauf lässt sich keine Ehe aufbauen.“
„Es ist absolut in Ordnung, jemanden zu brauchen, vor allem, wenn das auf Gegenseitigkeit beruht. Und ich brauche dich auch. Ich liebe dich, Becky, merkst du das nicht? Ich liebe dich und will für den Rest meines Lebens mit dir zusammen sein. Wir beide und unser Kind, eine perfekte Familie.“ Endlich sagte er ihr, dass er sie liebte, doch auch das änderte nichts. „Du hast eine Vorstellung von einer perfekten Familie, aber ich bin keine Fantasie, sondern real, und das gilt auch für unsere Tochter.“ „Meinst du, das weiß ich nicht? Ich habe lange bei unserer Tochter gesessen. Ja, sie ist real, und ich kann mir schon jetzt ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen, aber auch nicht ein Leben ohne dich. Ich liebe dich, Becky, seit ich dich das erste Mal gesehen habe. Ihr wart gerade nach Middlewood gezogen. Du warst erst sieben, und ich habe David um seine niedliche kleine Schwester beneidet.“ „An den Tag erinnere ich mich“, erwiderte sie leise. „Wir waren im Park. David hat auf mich aufgepasst, während unsere Eltern ausgepackt haben. Ein großer Junge hat mich umgerannt. Du bist zornig geworden. Schon damals hast du mich beschützen wollen.“ Eine Träne lief ihr über die Wange. „Das kannst du aber nicht dein ganzes Leben lang machen, Carter. Außerdem kann ich für mich selbst sorgen. Ich bin schon ein großes Mädchen, falls du das nicht gemerkt haben solltest.“ „Ich habe es gemerkt.“ Er wischte ihr die Träne weg. „Ja, ich will dich beschützen, aber was ist falsch daran? Du hast dir eingeredet, jeder müsse für sich selbst einstehen, aber das heißt doch nicht gleichzeitig, dass man allein sein muss. Wir können füreinander da sein.“ „Was ist mit Neuseeland?“ fragte sie ängstlich. „Und was ist später? Ich kann nicht erwarten, dass du dein ganzes Leben veränderst.“ „Ich will nicht mehr von dir getrennt sein. In Wahrheit wollte ich dieses hektische Dasein gar nicht. Ich wollte nicht in der Großstadt leben und ständig reisen. Nach dem Scheitern meiner Ehe habe ich mich in die Arbeit gestürzt, doch jetzt ist alles anders. Heirate mich auf der Stelle. Ich hole einen Friedensrichter, einen Rabbi oder einen Geistlichen. Ach was, ich lasse einfach alle herkommen.“ Becky wollte es von ganzem Herzen, doch sie war schrecklich müde. „Es tut mir Leid“, flüsterte sie und schloss die Augen. Sogar im Schlaf fühlte Becky, dass er bei ihr war. Und als sie am Morgen wach wurde, saß Carter in einem Sessel neben dem Bett. Dr. Boyd kam zu ihnen, untersuchte Becky und erlaubte, dass Carter sie auf die Neugeborenenstation brachte. In dem Moment, in dem Becky ihre Tochter sah, verwandelte sich ihre Welt. Das Baby gab einen glucksenden Laut von sich, und Becky lachte glücklich. „Sie ist wunderschön!“ „Sie sieht genauso aus wie du“, meinte Carter lächelnd. Becky durfte im Schaukelstuhl sitzen und die Kleine im Arm halten. Carter war bei ihr. Eine Familie, dachte Becky und drückte das Kind an sich, das sie für immer miteinander verband. Nie zuvor hatte sie sich so lebendig gefühlt, nie zuvor so eng verbunden mit anderen Menschen. Wie hatte sie Carter von sich stoßen und glauben können, durch die Liebe zu ihm würde sie selbst verschwinden? Sie streichelte die Wange ihrer Tochter. „Es gibt ein altes jüdisches Sprichwort: ,Gott kann nicht überall sein, und darum hat er die Mütter geschaffen’.“ „Und die Väter“, ergänzte er lachend. „Wenn ich mich recht erinnere, warst du bei der Empfängnis nicht allein. Als ihre Eltern haben wir die Verpflichtung, ihr alles zu geben, was wir nur geben können.“
„Liebe und Anleitung. Sie wird das Beste aus beiden Welten bekommen.“ „Liebst du mich, Becky?“ „Mehr, als ich jemals für möglich gehalten hätte“, flüsterte sie. „Dann heirate mich.“ Er ging vor ihr auf die Knie. „Das ist ein offizieller Heiratsantrag… fast. Der Ring ist in der Pension. Kannst du einen knienden Mann abweisen?“ Sie versuchte, nicht zu lachen, und sah sich um. „Carter, steh auf, alle sehen her.“ „Die Babys? Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis du nicht Ja sagst, Prinzessin. Das heißt, du bist jetzt die Königin, und dieser Winzling ist die Prinzessin.“ „Dir ist doch klar, dass im Schachspiel die Königin die mächtigste Position hat“, neckte sie ihn. „Als ob ich das nicht wüsste“, bestätigte er lächelnd. Sie holte tief Atem. „Ja, ich werde dich heiraten.“ Das Baby quäkte, und Becky und Carter lachten. „Dann ist es offiziell bestätigt“, sagte Carter. „Unsere Prinzessin hat zugestimmt.“ Becky wartete mit dem Baby im Tragetuch zusammen mit Carter am Flughafenschalter. „Sie fliegen mit uns nach Neuseeland“, sagte die Angestellte nach einem Blick auf die Tickets. „Kein Rückflugdatum. Wandern Sie aus?“ Carter reichte ihr die Visa. „Es ist nur für zwei Jahre.“ Während die Angestellte tippte, dachte Becky an die vergangenen drei Monate zurück. Sechs Wochen nach der Geburt hatten sie in der Pension von Starr geheiratet. Ein Rabbi und ein Geistlicher hatten die Trauung vollzogen, und nach einem vegetarischen Festmahl fuhren Becky, Carter und die kleine Sarah ins The Red Barn. Es war zwar nur fürs Wochenende, aber sie flogen ohnehin bald nach Neuseeland. Die Hütte war genau so, wie Becky sie in Erinnerung hatte. Becky lächelte rückblickend. Dieses Mal hatten sie mehr getan, als nur das Ende eines Schneesturms abzuwarten. Und ihre kluge Tochter hatte gewusst, wann es angebracht war zu schlafen. „Sarah“, flüsterte Becky und streichelte ihre Tochter. Die ganze Familie hatte protestiert, dass die Kleine einen neutralen Namen bekam, doch Becky hatte den Namen schon immer geliebt, und Carter war sehr zufrieden. Vor allem, weil Sarah letztlich doch „Prinzessin“ bedeutete. Die ganze Familie war auf dem Flughafen versammelt, Starr und Christina waren auch gekommen. Beckys Vater hielt seinen Enkel Charles im Arm. Gertie und Eleanor weinten, und Bubbe versuchte, die beiden zu trösten. David und Hannah hielten einander liebevoll an den Händen. Das war die Familie, ihre Familie, die Becky sehr vermissen würde. Zwei Jahre waren eine lange Zeit, doch im Anschluss an ihren Aufenthalt in Neuseeland würden sie nach Middlewood zurückkehren. Becky war klar geworden, dass Neuseeland für sie eine großartige Erfahrung bedeuten würde. Sie wollte Skilaufen lernen, und dafür war das Land ideal. Darüber hinaus brachte Calyx Editions ihr vegetarisches Kochbuch heraus und hatte bereits ein weiteres Buch von ihr angefordert. Becky konnte es kaum erwarten, neuseeländische Rezepte zu sammeln. Später würde sie in den Staaten einen Partyservice eröffnen und vielleicht auch vegetarische Rezepte für Kinderfeste zusammenstellen. Vorerst jedoch freute sie sich auf das neue Land, das Aufregung in ihr Leben bringen würde. Außerdem sorgte auch ihr frisch angetrauter Ehemann für Aufregung, seit nämlich Dr. Boyd ihnen grünes Licht gegeben hatte. Sobald Sarah schlief, holten sie Versäumtes nach.
Eine tiefe Wärme erfüllte Becky, als Carter ihr den Arm um die Schultern legte. Sie lehnte sich an ihn und betrachtete ihr gemeinsames Kind. Die Reise in ein neues Leben konnte beginnen. - ENDE -